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German Pages [364] Year 2016
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Sabine Herrmann
Tomaso Rangone Arzt, Astrologe und Mäzen im Italien der Renaissance
Mit 34 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30098-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Jacopo Tintoretto, Venezianischer Senator mit Knabe, ca. 1560. Privatbesitz Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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In memoriam Carlo Malagola
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Inhalt
I.
Eine Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
II.
Ravenna: mia dolcissima patria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
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39 44 54 63
IV.
Rom: im Dienst des Kardinals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Eine aussichtsreiche Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Blatt wendet sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 67 75
V.
Padua: im Zentrum der Gelehrsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
81
III. Bologna: die Mutter der Wissenschaften . . 3.1 Student an der medizinischen Fakultät 3.2 Der Prognostikant . . . . . . . . . . . 3.3 Doktor der artes und der Medizin . . .
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113
VII. Mantua: am Hof der Gonzaga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Das annus horribilis und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . 7.2 Im Dienst Frankreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125 134 140
VIII. Venedig: auf dem Gipfel des Ruhms . . . 8.1 Ein repräsentativer Wohnsitz . . . . 8.2 Flottenarzt im Auftrag der Republik 8.3 Ratgeber der Gesundheitsbehörde . .
147 147 158 161
VI. Modena: am Hof des condottiere . . . . . . . . . . . . . 6.1 Der Astronom und Erfinder . . . . . . . . . . . . . 6.2 Der Philosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Eine Zeit des Umbruchs . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Die Sintflut von 1524: die erste ernsthafte Krise der Astrologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8
Inhalt
8.4 Ein universalgelehrter Arzt zwischen Tradition und Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Die diagnostischen Grundsätze . . . . . . . . . . . . . 8.5 Der Arzt und seine Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Die therapeutischen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Morbus gallicus: eine neue therapeutische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2.1 Guajak, Chinawurzel und Sarsaparilla: ein vielversprechendes Therapeutikum? . . . . . . 8.5.3 Makrobiotik oder die Kunst, 120 Jahre alt zu werden . 8.5.3.1 Makrobiotik in Venedig . . . . . . . . . . . . . 8.6 Der Mäzen und Stifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.1 Das Kollegium Palazzo Ravenna . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Ein Denkmal für die Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . 8.6.3 Ius imaginis, ius nobilitatis . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.4 Die Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Ein einflussreicher Bürger Venedigs . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1 Tomaso Rangone und die Scuola grande di San Marco 8.7.2 Das Collegium medicum . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.3 Unternehmer auf der Terraferma . . . . . . . . . . . . 8.8 Letzte Ehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.1 Der Portikus von San Sepolcro . . . . . . . . . . . . . 8.8.2 Eine Büste für San Geminiano . . . . . . . . . . . . . . 8.9 Die Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.10 Letzte Stationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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170 180 184 189
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194
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207 215 232 238 238 250 255 263 269 272 286 289 295 295 297 300 304
IX.
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tomaso Rangone und seine Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309 309 316
X.
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Archivalien und Handschriften . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Gedruckte Quellen (bis 1800) . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Werke Tomaso Rangones in chronologischer Auflistung 10.4 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Quellen im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . .
317 317 320 322 323 361 362 362
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I.
Eine Spurensuche
Nur wenige Besucher des im napoleonischen Flügel der Prokuratien untergebrachten Museo Correr schenken der in den Boden vor dem Eingang eingelassenen, eher unscheinbaren Gedenktafel noch ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Dort liest man, dass sich genau an dieser Stelle zwischen den alten und neuen Prokuratien die 1557 von Jacopo Sansovino (1486–1570) errichtete, neue Pfarrkirche von San Geminiano befand.1 Die Neugier des Besuchers gilt vielmehr der monumentalen Treppe, die zu den prunkvollen Räumlichkeiten des Museums führt. In diesen Räumen erwarten den Besucher die feinsinnigen Werke eines Gentile Bellini (1429–1507) oder Vittore Carpaccio (1465–1525/26), die klassizistischen Skulpturen Antonio Canovas (1757–1822) und die prachtvollen Säle der im 16. Jahrhundert im Zuge der renovatio urbis errichteten Biblioteca Marciana. Auf zeitgenössischen Karten wie dem um 1500 entstandenen monumentalen Plan des Kupferstechers Jacopo de’ Barbari (1440–1516) sind die Kirche San Geminiano in ihrer ursprünglichen, einfachen Gestaltung sowie die angrenzenden Häuser noch deutlich zu erkennen. Auch Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte die durch ihre neue Fassade charakterisierte Pfarrkirche, die dem überkuppelten Zentralbau der byzantinischen Basilika gegenüberlag, noch zum Stadtbild der Piazza und wurde von Künstlern wie Giovanni Antonio Canal (1697–1761), Antonio Visentini (1688–1787)2 oder Francesco Guardi (1712– 1793)3 in zahlreichen Stadtansichten verewigt. Den Auftrag zur Verschönerung des Bauwerks hatte der Architekt Jacopo Sansovino von der Signoria selbst erhalten, die auch sämtliche Kosten übernommen hatte, obwohl nur wenige Jahre zuvor einer der wohlhabendsten Bürger der Stadt, der ursprünglich aus Ravenna stammende Arzt und Astrologe Tomaso Rangone (1493–1577), der Regierung den Vorschlag unterbreitet hatte, 1 Die Inschrift lautet: Jacobo Sansovino qui eresse nel 1557 la chiesa nuova di San Geminiano demolita nel 1807. 2 Dario Succi, Canaletto & Visentini. Venezia & Londra, Venezia 1986. 3 Antonio Morassi, Guardi – I dipinti, Venezia 1975, Band 1, 375 und Nr. 342–344 sowie Band 2, Taf. 369ff.
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Eine Spurensuche
die Umgestaltung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Dieses Angebot war jedoch vom Senat abgelehnt worden, hatte der Arzt doch ein persönliches Denkmal in die Fassade integrieren wollen, was laut der Satzung auf der Piazza nicht zulässig war. Schließlich war diese Ehre nicht einmal dem verdienten condottiere Bartolomeo Colleoni (1400–1475)4 zuerkannt worden. Sein monumentales Reiterstandbild, das der Bronzegießer Alessandro Leopardi (1480– 1522) nach einem Modell Andrea di Verrocchios (1435–1488) nach dem Tod Colleonis angefertigt hatte, musste daher auch auf dem gleichnamigen Campo vor der Kirche SS. Giovanni e Paolo errichtet werden – immerhin vor der Scuola grande di San Marco. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der mittlerweile fast sechzig Jahre zählende Tomaso Rangone auf dem Gipfel des irdischen Ruhms: Nach einer kurzen Tätigkeit als Arzt und astrologischer Berater am Hof des Medici-Papstes Leo X. (1475–1521), Lehrtätigkeiten an berühmten Universitäten wie Bologna, Rom und Padua sowie Reisen zu den bekanntesten Höfen seiner Zeit, war er zu Beginn der 1530er Jahre wie viele Intellektuelle infolge der bitteren Erfahrungen des Sacco di Roma (1527) nach Venedig gekommen. Es war wohl das einzigartige Umfeld der Lagunenstadt, das Tomaso Rangone, wie er sich ab 1527 durch die Gunst des päpstlichen condottiere Guido Rangoni (1485–1539) nennen durfte, zu einer der interessantesten Figuren des italienischen Rinascimento machte. Erst in der isolierten Inselrepublik Venedig gelang es ihm im Lauf der Jahre entscheidenden gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen, sich als großzügiger Mäzen und Stifter zu betätigen und sich ausführlich dem Verfassen umfangreicher gelehrter Schriften zu widmen. Als universalgelehrter Humanist par excellence, der noch auf fast allen Wissensbereichen bewandert war, befasste er sich mit Mathematik, Astrologie, Moralphilosophie, Syphilistherapie, makrobiotischer Diätetik, der Anfertigung medizinischer enzyklopädischer Kompendien, Botanik und Zoologie. Viele dieser Schriften, insofern sie überhaupt noch erhalten sind, befinden sich heute in der Biblioteca Marciana, darunter auch eine Abschrift von Tomaso Rangones Testament und das Inventar seiner ehemals mehr als 800 Druckwerke und wertvolle Handschriften aus allen Wissensgebieten umfassenden Privatbibliothek. Das kulturelle Gedächtnis der Stadt hat die Erinnerung an Tomaso Rangone noch bewahrt, selbst wenn sich die Stätten seines Wirkens im Laufe der Zeit verändert haben. So steht heute das direkt neben der Kirche San Geminiano angrenzende Haus des Arztes, das einst mit erlesenen Kunstschätzen ausgestattet war, ebenfalls nicht mehr. Es wurde wie auch die Kirche selbst ein Opfer 4 Bortolo Belotti, La vita di Bartolomeo Colleoni, Bergamo 1923; DBI, s.v.a. Colleoni, Bartolomeo; Dietrich Erben, Bartolomeo Colleoni: Die künstlerische Repräsentation eines Condottiere im Quattrocento, Sigmaringen 1996.
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der napoleonischen Umgestaltung von 1807. Das Gebäude der ehemals einflussreichen Scuola grande di San Marco, als deren Guardian Tomaso Rangone in den 1560er Jahren zweimal fungieren sollte, beherbergt heute das städtische Krankenhaus, das Ospedale Civile. Ebenso erging es dem in den 1520er Jahren gegründeten Syphilitikerhospital nahe der Kirche Madonna della Salute an den Fondamenta degli Incurabili, dem Ufer der Verlorenen (Joseph Brodsky).5 Dieses ist erst zu einer Jugendstrafanstalt (Riformatorio) und dann zum Sitz der Akademie der Schönen Künste (Accademia delle belle arti) geworden. In den Sälen, in denen Mitte des 16. Jahrhunderts Hunderte von Menschen auf eine Heilung von der tückischen »Lustseuche« hofften, perfektionieren heute Studenten ihre Fähigkeiten in Primamalerei und Impastotechnik, Portrait- und Landschaftsmalerei und den Techniken der arte contemporanea.6 In situ zeugt heute nur noch ein für die Architekturgeschichte in und außerhalb Venedigs einzigartiges Denkmal von Tomaso Rangones Tätigkeit als Bauherr und Mäzen und nicht zuletzt auch von seinem Selbstverständnis als Arzt und Humanist. Es handelt sich um das beeindruckende Portal der dem Heiligen Julian gewidmeten Kirche auf dem die Piazza mit dem Rialto verbindenden gleichnamigen Campo San Giuliano (Zulian).7 Statt der zu erwartenden religiösen Skulptur über dem Eingang thront hier ein Denkmal des Auftraggebers in Form einer von Alessandro Vittoria (1525–1608) entworfenen Bronzestatue.8 In der sitzenden Haltung des Gelehrten, ausgestattet mit den Symbolen der von ihm studierten und gepflegten Wissenschaften, der Medizin und der Astrologie, zieht dieses Bildnis schon deshalb die Blicke der Passanten auf sich, da sich die dunkle Bronze klar von der strahlenden Fassade aus istrischem Stein abhebt. Die Kirche von San Giuliano war wegen ihrer Einzigartigkeit daher auch ein begehrtes Ziel von Bildungsreisenden, so dass Johann Caspar Goethe (1710–1782) während seiner Italienreise am 8. Juli 1740 von einem lohnenswerten Besuch dieser Kirche berichtete, die sich nicht nur durch die ausgestellten Kunstwerke, sondern auch durch ihre Fassade auszeichne, die von dem wohltätigen Arzt Tomaso in Auftrag gegeben worden sei: Die Kirche von S. Giuliano schmücken Malereien der besten und vortrefflichsten Meister : von Palma, Vicentino, Paolo und vielen anderen, die nicht weniger berühmt sind, so dass es niemanden gereuen wird, diese Kirche aufgesucht zu haben. Ihre weit5 Eigtl.: »Ufer der Unheilbaren«. 6 Laura McGough, Gender, Sexuality, and Syphilis in Early Modern Venice, Hampshire 2011. 7 Michel Hochmann, Peintres et commanditaires Vnise (1540–1628), Rome 1992, 187ff.; Martin Gaier, Facciate sacre a scopo profano: Venezia e la politica dei monumenti dal Quattrocento al Settecento, Venezia 2002, 207ff. 8 Norbert Huse/Wolfgang Wolters (Hrsg.), Venedig, die Kunst der Renaissance. Architektur, Skulptur, Malerei 1460–1590, München 1986; Bruce Boucher, The Sculpture of Jacopo Sansovino, New Haven/London 1991.
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Eine Spurensuche
gehende Umgestaltung wurde durch die Wohltätigkeit des Arztes Tomaso ermöglicht, der die Kosten trug; zum Dank dafür hat man ihm über dem Hauptportal eine Bronzestatue mit Inschrift gesetzt.9
Weitere, wenn auch nur vereinzelte Spuren des Gelehrten sind heute wie ein gigantisches Puzzle über die ganze Stadt verstreut: Im Seminario patriarcale befinden sich die Fragmente eines weiteren Stifterauftrags, des Portals des Konvents von San Sepolcro (1571) sowie die umgestürzte anthropomorphe Sargwanne des Stifters, die sich einst im Hauptschiff der Kirche von San Giuliano befunden hatte.
Abb. 1: Detailansicht der von Alessandro Vittoria entworfenen Bronzebüste Tomaso Rangones. Ateneo veneto, Aula magna.
Eine feingearbeitete Bronzebüste aus den Händen Alessandro Vittorias, die den alternden Gelehrten darstellt, ziert heute eine Nische im Ateneo Veneto in einer Reihe mit anderen denkwürdigen Persönlichkeiten der Serenissima, darunter dem Arzt und Zeitgenossen Tomaso Rangones, Niccol Mass (1485–1569) und einem der bedeutendsten Chirurgen des 18. Jahrhunderts, Giuseppe Perlasca (1766–1824).10 Die ehemals wohl als Modell für die Bronzebüste dienende, eindrucksvolle plastische Terrakottabüste befindet sich im Museo Correr und bewahrt noch heute die charakteristischen Züge des Arztes im fortgeschrittenen Alter von etwa sechzig Jahren: das ab der Stirn bereits schüttere Haar, das schlanke Gesicht mit der etwas unförmig wirkenden (nicht römischen!) Nase 9 Albert Meier/Heide Hollmer (Hrsg.), Johann Caspar Goethe. Reise durch Italien (Viaggio per l’Italia), 4München 1999, 382. 10 Giornale sulle scienze e lettere delle provincie venete, Band 6, Treviso 1824, 217–218.
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und der lange, den Konventionen der Zeit Rechnung tragende Bart. Das plastisch dargestellte Oberkleid lässt einen kostbaren Samtstoff in veluto basso/rasatoTechnik erahnen, für dessen Herstellung Venedig im 16. und 17. Jahrhundert bekannt war und der noch heute von der dortigen Traditionsweberei Bevilaqua hergestellt wird. Die Bibliothek des Arztes, in der laut dem Historiker Pier Paolo Ginanni nicht nur viele Kodizes in orientalischen Sprachen, sondern auch Medaillen, Portraits berühmter Männer, mathematische Instrumente, Globen, Landkarten und viele weitere Kostbarkeiten aufbewahrt wurden,11 ist heute nicht mehr erhalten, die Bestände in Museen und Sammlungen auf der ganzen Welt verstreut. Somit kam auch das testamentarisch verfügte Projekt des Gelehrten, eine öffentliche Bibliothek zu gründen, niemals zustande. Die Bestände waren Ende des 16. Jahrhunderts erst in den Besitz des Konvents der Kapuziner (Redentore) auf der Giudecca übergegangen, wobei zahlreiche wertvolle Manuskripte und Bücher jedoch im Laufe der Zeit verlorengingen. Es fanden daher nur noch wenige Druckwerke zu Beginn des 19. Jahrhunderts Eingang in die Bestände der Biblioteca Marciana, darunter ein kostbarer Folioband mit den gesammelten Werken des Anatomen Andreas Vesalius (1514–1564).12 Auch die zahlreichen Kunstschätze, Skulpturen und Gemälde, die einst den repräsentativen Wohnsitz des Arztes schmückten, gelangten in venezianische Museen und private Sammlungen. In den Gallerie dell’Accademia lässt sich neben dem Sklavenwunder, das Tomaso bereits 1547 als aufmerksam beobachtenden confratello der Bruderschaft zeigt, noch Tintorettos Meisterwerk, das Markuswunder, bewundern, das Tomaso Rangone 1562 als Stifter für die Scuola grande di San Marco in Auftrag gegeben hatte. Dieses sollte wegen seiner außergewöhnlichen Darstellung im Laufe der Jahre noch viele bekannte Dichter und Schriftsteller wie beispielsweise den Philosophen und Existenzialisten JeanPaul Sartre (1905–1980) inspirieren.13 Tatsächlich scheint der Gemäldezyklus noch heute jenes zähe Ringen widerzuspiegeln, zu dem es vor allem wegen der Wiedergabe des Stifters vor fast fünfhundert Jahren gekommen war. Zu gewagt
11 Pier Paolo Ginanni, Memorie storico-critiche degli scrittori ravennati, Faenza 1769, 230. 12 BMV, Misc. 2656; BMV, 221.D.20–1; BMV, 221.D.20–2; BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 (=3601); BMV, Ms. Lat. Cl. VIII, Nr. 26 (= 3268); BMV, Ms. Lat. Cl. VIII, Nr. 70 (= 2500); BMV, 225.D.49. Vgl. hierzu auch Dorit Raines/Simonetta Pelusi, Il fondo antico della »Biblioteca dei PP. Cappuccini SS. Redentore« di Venezia: per una storia documentata delle biblioteche cappuccine nel Veneto, Notiziario bibliografico. Periodico della Giunta Regionale del Veneto 16 (giu. 1994), 6–8. 13 Jean-Paul Sartre, Saint Marc et son double. Le Squestr de Vnise, Les temps modernes, 14. novembre 1957; ferner Heiner Wittmann, Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien von Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996. Zu Sartre und Tintoretto vgl. Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, München 1991, 9–10.
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Eine Spurensuche
erschien diese Darstellung letztendlich dem Kapitel der Scuola, weshalb sie die Annahme sogar verweigern sollte. In Venedig, als der letzten und zugleich ereignisreichsten Station in seinem wechselvollen Leben, ist Tomaso Rangone daher in vieler Hinsicht noch immer präsent und hat als Gelehrter, Mäzen und Stifter in den Institutionen der Stadt seine Spuren hinterlassen. Zugleich ist sein Leben und Wirken aber auch eng mit der wechselvollen Geschichte Italiens außerhalb der Republik Venedig verbunden, mit den Zentren der Bildung und Gelehrsamkeit wie Bologna und Padua oder mit den Metropolen der Kunst und des Mäzenatentums wie Rom und Mantua. Seine Wege kreuzten die bekanntesten Persönlichkeiten seiner Zeit: Päpste, Kardinäle, Dogen, Kriegsherren, Wissenschaftler und Schriftsteller. Und doch hat bei kaum einer Persönlichkeit des Cinquecento die Rezeptionsgeschichte so umfassend dazu beigetragen, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen zu lassen, ja vielmehr jedes zeitgenössischen Kontextes enthoben. Nicht, dass dem Gelehrten keine Aufmerksamkeit geschenkt, sein Handeln nicht entsprechend gewürdigt worden wäre: im Gegenteil. Bereits 1565 nannte der Arzt und Alchemist Leonardo Fioravanti (1517–1588), Verfasser der Capricci medicinali, in einer Übersicht bekannter Alchemisten und Ärzte (rarissimi huomini, et grandissimi medici) auch Tomaso Rangone.14 Als einer der ersten hatte sich nach dem Tod Tomaso Rangones (1577) Angelo Portinari in Della felicit di Padova (1623) mit dem aus Ravenna stammenden Arzt beschäftigt und ihn als einen der bekanntesten von auswärts kommenden Dozenten, die an der Universität von Padua lehren und gelehrt haben, bezeichnet.15 Es folgte mit einer Beschreibung von Leben und Werk etwa sechzig Jahre später Serafino Pasolino (1649–1715) in seiner Abhandlung zu den Lustri Ravennati dall’anno 1521 al 1588.16 Auch die Überlieferungslage des 18. Jahrhunderts präsentiert sich weitgehend als reichhaltig und fast durchgehend positiv. Der französische Frühaufklärer Pierre Bayle (1647–1706) erwähnte Tomaso Rangones Sintflutprognose in der 1702 erschienenen Auflage des Dictionnaire historique et critique17 und auch der Historiker Nicolaos Comnenos Papadopoli (1655–1740) beschäftigte sich in 14 Leonardo Fioravanti, De capricci medicinali, Venetia 1565, c. 175r, Kapitel XX (unter Tomaso filocolo ! da Ravenna): Di quanta grandezza sia l’arte dell’alchimia, & quanto sia necessaria nella medicina, & nella chirurgia. 15 Angelo Portinari, Della felicit di Padova, Padova 1623, 235: […] dei pi celebri dottori di nazione forestiera, li quali hanno letto, o leggono nello Studio di Padova. 16 Serafino Pasolino, Lustri Ravennati dall’anno 1521 al 1588, Forl 1684; Ders., Huomini illustri di Ravenna antica, Bologna 1703, Buch 3, Kap. 5, 70: Epistola ad sapientes antiquae civitatis Ravennae. 17 Zum Dictionnaire vgl. Hans Bots (Hrsg.), Critique, savoir et rudition la veille des Lumires. Le » Dictionnaire historique et critique « de Pierre Bayle (1647–1706), Amsterdam/ Maarsen 1998.
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der 1726 publizierten Geschichte der Universität von Padua intensiv mit Tomaso Rangones Biographie.18 Etwa zwanzig Jahre später verfasste dann der Lokalhistoriker Pier Paolo Ginanni eine Abhandlung über den venezianischen Arzt, in der mehrere bisher nicht identifizierte Werke des Gelehrten zitiert wurden.19 Ginanni äußerte sich zudem in den Memorie storico-critiche, »Tommaso Rangoni« sei nicht nur ein gelehrter Arzt, sondern auch ein gefeierter Mathematiker und Astronom gewesen und verweist in diesem Zusammenhang auf die Achtung, die dem Arzt von Seiten anderer Gelehrter seiner Zeit entgegengebracht worden sei.20 Mit der Geschichte des von Tomaso Rangone 1552 in Padua gegründeten Kollegiums setzte sich 1757 Jacobo Facciolati (1682–1769), Logikprofessor in Padua, auseinander.21 Dieser hatte die 1739 von Nicolaos Comnenos Papadopoli begonnene, umfangreiche Geschichte der Universität von Padua fortgeführt und 1757 unter dem Namen Fasti Gymnasij Patavini publiziert. Eine weitere, durchaus positiv konnotierte Biographie stammt von »Anonymus« Negri, Bischof von Parenzo, und liefert zahlreiche wichtige Details zum Leben und der Karriere Tomaso Rangones in Venedig.22 Mitte des 18. Jahrhunderts erheben sich schließlich zunehmend kritische Stimmen, die vor allem durch den aus Bergamo stammenden Girolamo Tiraboschi (1731–1794), ab 1755 Rhetorikprofessor in Mailand, vorangetrieben worden waren. Letzterer verfasste während seiner Tätigkeit als Bibliothekar des Herzogs von Modena, Francesco III. (1698–1780), die umfangreiche Storia della letteratura italiana (1771–1782), die einen umfassenden Überblick über die italienische Literatur von der Zeit der Etrusker bis zum Ende des 17. Jahrhunderts vermitteln und Tiraboschis Ruhm begründen sollte. Auch in diese Darstellung floss eine detaillierte Beschreibung von Tomaso Rangones Leben ein, dessen Ruhm Tiraboschi jedoch für unberechtigt hielt, seien seine Werke doch kompliziert und unverständlich.23 Durch Girolamo Tiraboschis mehrbändiges enzyklopädisches Kompendium, das von den folgenden Generationen – bis heute – stets als Referenzwerk konsultiert werden sollte, wurden Tomaso Rangones Leistungen erstmals expliziter Kritik ausgesetzt. Interessanterweise setzte 18 Nicolaos Comnenos Papadopoli, Historia Gymnasij Patavini, Patavij 1726, Band 1, 312, Nr. 58. 19 Pier Paolo Ginanni, Dissertazione epistolare nella letteratura ravennate, Faenza 1749; Ders., Memorie storico-critiche, Band 2, 227–237. 20 Pier Paolo Ginanni, Memorie storico-critiche, 228: Fu egli uomo rarissimo per le sue nobili qualit, e collo studio, e virt cristiane di tal sorta si distinse, che dagli storici, e scrittori con elogi particolari celebrato. 21 Jacobo Facciolati, Fasti Gymnasij Patavini, Patavij 1757, Band 3, 320. 22 Memorie venete per la biblioteca di Monsignore Illustrissimo e Reverendissimo Gasparo Negri vescovo di Parenzo (BCV, Ms. Cic. 1629, 193). 23 Girolamo Tiraboschi, Storia della letteratura italiana, Milano 1784, Band 8/2, 60: intralciate ed oscure […] e senza alcun di que’ pregi, che formano un dotto scrittore.
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sich diese Tendenz insbesondere bei den italienischen Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts fort: Bei Pompeo Molmenti,24 Giuseppe Tassini,25 Davide Giordano26 oder auch Grete de Francesco27 blieb bald nur noch das Bild eines zu Scharlatanerie und übersteigerter Hybris neigenden Kuriosums. Weder wurde Tomaso Rangones Leben und Werk innerhalb des sozialen Milieus, innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklungen und Tendenzen des Cinquecento noch vor dem Hintergrund des kulturellen Raums Venedig eingehend betrachtet. In seiner Geburtsstadt Ravenna, nicht zuletzt begünstigt durch die Regionalgeschichtsschreibung des 17. und 18. Jahrhunderts, wurde der bekannte Arzt jedoch noch lange in Ehren gehalten. Am 20. August 1817 wandte sich der Historiker Camillo Spreti (1743–1830) brieflich an Jacopo Morelli (1745–1819), den Bibliothekar der Biblioteca Marciana, der sich eingehend mit Tomaso Rangones Testament und seiner Biographie beschäftigt hatte,28 und erbat in seinem Schreiben weitere detaillierte Informationen zu Tomaso Rangone und den in der Bibliothek aufbewahrten Druckwerken des Arztes.29 In Frankreich wurde eine kurze Biographie des Arztes auch in das 1810 von Louis Mayeul Chaudon herausgegebene Dictionnaire universel, historique, critique, et bibliographique aufgenommen.30 Zeitgenössische Historiker wie Marino31 und Alvise Zorzi32 sowie der Kunsthistoriker Erasmus Weddigen33 ließen sich wiederum von den Aussagen der italienischen Kommentatoren beeinflussen. Marianne Stössl verglich 1983 Tomaso Rangone in ihrer medizingeschichtlichen Abhandlung Lo spettacolo della Triaca sogar mit einem der berüchtigsten Scharlatane des 18. Jahrhunderts, nämlich mit Giuseppe Balsamo (1743–1795) alias
24 Paolo Molmenti, La storia di Venezia nella vita privata, 4Bergamo 1906, 306–307; Ders., Un medico ciarlatano del secolo 16, Il Marzocco, 3. Dez. 1922. 25 Giuseppe Tassini, Curiosit veneziane, Venezia 2009, Band 1, 318: era uomo bizzarro ed assai vanaglorioso […]. 26 Davide Giordano, Un ospite dell’Ateneo di Venezia, Tomaso Rangone, Ateneo Veneto 128, 1941, 291–303. 27 Grete de Francesco, The Power of the Charlatan, New Haven 1939, 135. 28 Morellis Notizen befinden sich noch immer in der Biblioteca Marciana (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 282 (=4298), f. 63–67). Zu Morelli vgl. Marino Zorzi, La Libreria di San Marco. Libri, lettori, societ nella Venezia dei Dogi, Milano 1987, 285–318. Eine Liste der Briefe, die Morelli erhalten hatte, ist publiziert bei Alessia Giachery, Jacobo Morelli e la repubblica delle lettere attraverso la sua corrispondenza (1768–1810), Venezia 2012, 17–36. 29 BMV, Ms. Lat. XIV, Nr. 282 (=4298), f. 63–67. 30 Louis Mayeul Chaudon (Hrsg.), Dictionnaire universel, historique, critique, et bibliographique, Paris 1810, 568–569. 31 Marino Zorzi, La Libreria di San Marco, 518, Anm. 109. 32 Alvise Zorzi, La vita quotidiana a Venezia nel secolo di Tiziano, Milano 1990, 149–150: Tommaso Rangone doveva essere dotato di una vanit eccezionale. 33 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas. Gelehrter, Wohltäter und Mäzen, Saggi e memorie di storia dell’arte 9, 1974, 10–76.
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Cagliostro.34 2002 bezeichnete FranÅois Xavier Leduc Tomaso Rangone als un mdecin, en fait un charlatan, abondant polygraphe.35 Vergleichbare Äußerungen finden sich auch bei der Historikerin Paola Zambelli, die sich eingehend mit den italienischen und deutschen Sintflutprognosen des Cinquecento befasste.36 Während sich in literaturwissenschaftlichen Darstellungen durch die Storia della letteratura italiana Tiraboschis erstmals ein deutlicher Wendepunkt hinsichtlich der Wertschätzung Tomaso Rangones erkennen lässt, ergibt sich ein durchaus differenziertes Bild in den Abhandlungen medizinischer Fachgelehrter, wobei sich die vermehrte Lektüre von Tomaso Rangones Schriften auch auf die gesteigerte Aufmerksamkeit für »Syphilis«-Traktate der Frühen Neuzeit im 18. Jahrhundert zurückführen lässt. Als einer der ersten beschäftigte sich der paduanische Arzt und Anatom Giambattista Morgagni (1682–1771) in den Opuscula miscellanea37 mit dieser Abhandlung und vermerkte wohlwollend, Tomaso Rangone sei einer der ersten gewesen, der sich mit dieser schrecklichen Krankheit auseinandergesetzt hätte. Etwa zeitgleich bezog sich auch der bekannte französische Arzt Jean Astruc (1684–1766) in der zweiten Auflage seiner Schrift De morbis venereis libri novem (1740) auf Tomaso Rangone,38 bald darauf gefolgt von dem Berner Universalgelehrten Albrecht von Haller (1708–1777).39 Fünfzig Jahre später zog dann der Syphilologe Christoph Girtanner (1760–1800) in seiner Abhandlung über die venerische Krankheit (1793) das »Syphilis«Traktat Tomaso Rangones zu Rate und fasste dessen Inhalt in wenigen Sätzen zusammen: Rangonus nennt die venerische Krankheit nicht malum Gallicum, sondern malum Galecum, weil sie, wie er behauptet, in der spanischen Provinz Gallicien zuerst entstanden sei. Im Jahre 1537 hätten sich einige neue Zufälle der Lustseuche, nämlich das Ausfallen der Haare, Nägel und Zähne, gezeigt. Er erwähnt weder die Leistenbeulen, 34 Marianne Stössl, Lo spettacolo della Triaca. Produzione e Promozione della »droga divina« a Venezia dal Cinque al Settecento, Centro tedesco di studi veneziani, Quaderni 25, Venezia 1983. 35 FranÅois Xavier Leduc, Vnise, Merin Falier, l’ge au dbut du XIVme sicle: la vente de Ceos par les Ghisia Ruggiero Premarin (1325), Atti dell’Istituto Veneto di Scienze morali, lettere ed arti, 160/3–4, 2002, 597–739, hier 612. 36 Paola Zambelli, Profeti-astrologi nel medio periodo. Motivi pseudogioachimiti nel dibattito italiano e tedesco sulla fine del mondo per la grande congiunzione del 1524, in: Gianluca Potest (Hrsg.), Il profetismo gioachimita tra Quattrocento e Cinquecento, Genova 1991, 273–285, Anm. 280. 37 Giambattista Morgagni, Opuscula miscellanea, Venetijs 1763, Band 2, 9. 38 Jean Astruc, De morbis venereis libri novem, Parisijs 1740, 674–681, bes. 674: quamquam pauca, non sine difficili investigatione collecta. 39 Zitiert nach Johann Karl Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten, Bonn 1895, Band 2: Neuzeit, 109: Literati hominis, non quidem clinici, mirificium opusculum […]. Vgl. auch Stephanus Hieronymus di Vigilijs von Creutzfeld, Bibliotheca chirurgica in qua res omnes ad chirurgiam pertinentes […], Vindabonae 1781, 1530.
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noch den Tripper. Seine Kur besteht in Holztränken, aus Gujak, Sarsaparilla, Chinawurzel u.s.w.40
Besonders geschätzt wurden Tomaso Rangones Ausführungen zum Einsatz der Sarsaparilla als wirksames Antisyphilitikum: Noch 1860 wurde der Gelehrte im Journal für Pharmakodynamik, Toxologie und Therapie als erster genannt, der sich mit der Sarsaparilla und deren Verwendung als Therapeutikum in der Syphilistherapie beschäftigt habe.41 Doch nicht nur Tomaso Rangones Schrift zur Behandlung der »Syphilis« erregte im 18. und 19. Jahrhundert vermehrt Aufmerksamkeit, sondern auch seine diätetischen Abhandlungen und medizinischen Handbücher. Bereits 1759 hatte der Engländer James Mackenzie darauf hingewiesen, Tomaso Rangone sei der erste gewesen, der die Sitte, Friedhöfe in Städten anzulegen, kritisiert habe.42 Auch Domenico Antonio Mandini erwähnte um 1800 in seiner Abhandlung über das Altern43 Tomaso Rangones diätetische Schrift zur Makrobiotik und bezeichnete diese als ein außergewöhnliches, ja sogar wagemutiges Buch.44 Der Tübinger Medizinprofessor Guilielmus Godofredus de Ploucquet bezog sich 1814 in seiner diätetischen Abhandlung Literatura medica digesta sive Repertorium medicinae practicae, chirurgiae atque rei obsteticiae auf zwei weitere Schriften Tomaso Rangones,45 auf das 1535 entstandene Opusculum De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus und auf das medizinische Handbuch De microcosmi affectuum, maris, foeminae, hermaphroditi, gallique miseria (1575). Schließlich bedachte auch das Giornale Arcadico di Scienze, Lettere ed Arti Tomaso Rangone 1833 mit einer wohlwollenden Darstellung als hervorragenden Wissenschaftler,46 kritisierte jedoch wie bereits Tiraboschi seinen Schreibstil.47 Das medizingeschichtliche Interesse an diesem außergewöhnlichen Menschen geht vor allem auf den deutschen Mediziner und Botaniker Kurt Polycarp 40 Christoph Girtanner, Abhandlung über die venerische Krankheit, Göttingen 1793, 78. 41 Journal für Pharmakodynamik, Toxologie und Therapie, 1860, 37. 42 James Mackenzie, The History of Health, and the Art of Preserving It, Edinburgh 1759, 545– 546: […] and is the first physician, I know of, who censures the pernicious cult of having public burying places in populous cities, which taint the atmosphere with cadaverous steams, and frequently occasion fatal distempers. 43 Domenico Antonio Mandini, La vecchiezza, trattato, Bologna 1800, 290. 44 Ebd., 290: […] un libro di audace, e stravagante argomento […]. 45 Guilielmus Godofredus de Ploucquet, Literatura medica digesta sive Repertorium medicinae practicae, chirurgiae atque rei obsteticiae, Tubingae 1814, 239, s.v.a. Morbus. 46 Giornale Arcadico di Scienze, Lettere ed Arti 59, 1833, 222: […] con molta accuratezza and investigando; intantoch di quell’arte divent eccelentissimo dottore […]. 47 Ebd., 223: Per voler esser breve non ricorder gli altri volumi da questo eccelente uomo composti, ma non lascer gi di dire come sieno presso che tutti scritti nell’idioma latino, in stile non chiaro, n elegante; imperocch ei non manc di studi, ma l’arte di scrivere strascur.
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Joachim Sprengel (1766–1833) zurück, der einen biographischen Abriss in den Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde (1792–1799) aufnahm: Auch Thomas Gianozzi von Ravenna, mit dem Beynamen Philologus, suchte, wie Joh. Franz Pico von Mirandola, die Kabbalah mit der Medicin zu verbinden, und überdies die Astrologie zu empfehlen, wie dies seine Schriften beweisen. […] und {er} ging alsdann nach Venedig, wo er mit ungewöhnlichem Glück die Arzneykunst ausübte, und sich dadurch solchen Ruhm und so grosse Reichthümer erwarb, daß er Marcus-Ritter wurde […].48
Sprengels Beschäftigung mit dem venezianischen Arzt sollte jedoch für lange Zeit die einzige medizinhistorische und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung bleiben,49 denn erst der Historiker Lynn Thorndike (1882–1965) sollte sich wieder eingehend mit Tomaso Rangone in seiner ab 1923 erschienenen History of Magic and Experimental Science beschäftigen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Thorndike in diesem Zusammenhang der Sintflutprognose des Gelehrten für das Jahr 1524.50 Weit größeres Interesse als Tomaso Rangones Tätigkeit als Arzt und Wissenschaftler erregte hingegen sein Wirken als Mäzen berühmter Künstler wie Jacopo Sansovino, Alessandro Vittoria oder Jacopo Tintoretto. Dieser Umstand wurde, nicht zuletzt durch die detaillierte Studie des Schweizer Kunsthistorikers Erasmus Weddigen, der auch zahlreiche bisher unbekannte biographische Details hinzufügte, untermauert.51 Letztere basieren teilweise auf den Notizen des italienischen Historikers und Professors für Paläographie an der Universität von Bologna, Carlo Malagola (gest. 1910). Malagola, der von 1898 bis 1910 als Direktor des Archivio di Stato in Venedig tätig war, führte als erster Historiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts Recherchen zu Tomaso Rangones Leben und Werk in italienischen Archiven durch und hielt zahlreiche Vorträge, deren Abschriften
48 Kurt Polycarp Joachim Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde, Halle 1792–1799, Band 3, 304–305. 49 Giancarlo Schizzerotto, Un grande medico bibliografo ravennate: Tommaso Filologo e il suo »De modo Collegiandi«, Romagna medica 19/6, 1967, 590; Lisimaco Verati, Sulla storia teorica e pratica del magnetismo animale, Firenze 1845, Band 2, 264–265; Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro, Vom maßvollen Leben, oder die Kunst, gesund alt zu werden, Heidelberg 1997, 205–206. 50 Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, New York/London 1923– 1958 (14 Bände), Band 9, 204–206. 51 David Rosand, Painting in Sixteenth-Century Venice: Titian, Veronese, Tintoretto, Cambridge 1997, 134ff.; Thomas Martin, Alessandro Vittoria and the Portrait Bust in Renaissance Venice, Oxford 1998, 124–125, Taf. 80 und 81; Mauro Lucco/Davide Banzato (Hrsg.), La pittura nel Veneto: Il Cinquecento, Milano 1996; Manuela Morresi, Jacopo Sansovino, Milano 2000, 132–134; 262–264; 297–305; Jonathan Nelson/Richard Zeckhauser (Hrsg.), The Patron’s Payoff: Conspicous Commissions in Italian Renaissance Art, Princeton 2008.
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mit handschriftlichen Anmerkungen noch heute erhalten sind.52 Die geplante Biographie sollte Malagola jedoch nicht mehr fertigstellen: Er nahm sich, wohl aufgrund eines anonymen Briefes, der ihn des Diebstahls bezichtigte, im Alter von nur 55 Jahren am 23. Oktober 1910 in seiner Wohnung nahe des Archivio di Stato das Leben.53 Erst allmählich scheint Tomaso Rangone auch als Person des Cinquecento ins Zentrum des allgemeinen Interesses zu rücken: Das Dizionario biografico degli Italiani liefert eine Kurzbiographie von »Tommaso Gianotti Rangoni«. Franco Gbici und Fabio Toscano nahmen Tomaso Rangone in ihren 2006 erschienenen Sammelband Scienziati di Romagna auf,54 in dem Leben und Werk bedeutender Wissenschaftler der Emilia Romagna vorgestellt werden. Umfassend betrachtet wurde Tomaso Rangone bisher jedoch weder in den Geschichtswissenschaften noch in der Wissenschafts- und Medizingeschichte. Nicht einmal im Geburtsland des Arztes, der mittlerweile sogar durch den Romancier und Historiker Sebastiano Acquaviva in der Novelle La ragazza del ghetto55 eine kurze Würdigung erfahren hat, gibt es eine Untersuchung zu seinem Leben, geschweige denn zu seinen gelehrten Schriften oder seinem persönlichen Umfeld in Venedig. Die vorliegende Studie ist daher bestrebt, diese Lücke zu füllen. Erstmals wurden alle bekannten Dokumente zu Tomaso Rangones Leben und Werk zusammengeführt, einer erneuten Analyse unterzogen und durch weitere, neu erschlossene Quellen ergänzt. Dabei kann die Quellenlage durchaus als positiv bewertet werden, sind doch neben den von Tomaso Rangone verfassten Abhandlungen medizinischen, philosophischen und astrologischen Inhalts auch zahlreiche Einträge in den Notatorien der venezianischen Scuole und des Collegium medicum sowie notarielle Verfügungen, Berichte zeitgenössischer Chronisten und vereinzelte Briefe erhalten geblieben. Diese Dokumente geben einen weitaus differenzierteren Einblick in das Leben Tomaso Rangones und ermöglichen es, ein lebensnahes Portrait dieses außergewöhnlichen Gelehrten und Menschen vor dem Hintergrund seiner Zeit, einer Zeit fundamentaler politischer, wissenschaftlicher und kultureller Umwälzungen, zu skizzieren. Aus diesem Grund wurde diese Untersuchung auch interdisziplinär angelegt und vereint Elemente der Wissenschafts-,Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Im Gegensatz zu vielen medizin- und wissenschaftsgeschichtlichen Studien wurde in diesem Fall die Form einer Werkbiographie gewählt, können diese 52 Letztere befinden sich in der Biblioteca Classense in Ravenna, vgl. BCR, Mob. 3, 8 V, 2 (a,b,c), 3, 4, 5 (a,b,c,d). 53 Mario Isnenghi/Stuart Woolf (Hrsg.), Storia di Venezia. L’Ottocento e il Novecento, Roma 2002, 175. 54 Franco Gbici/Fabio Toscano, Scienziati di Romagna, Milano 2006, bes. 27–42. 55 Sebastiano Acquaviva, La ragazza del ghetto, Milano 1996, 222.
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beiden Elemente doch kaum voneinander getrennt werden und stehen, wie auch bei Tomaso Rangone, oft in einem deutlich erkennbaren Zusammenhang. Hinsichtlich des Aufbaus habe ich mich für eine Gliederung nach den Städten seines Wirkens entschieden, die jeweils auch bestimmte Entwicklungen in Tomaso Rangones Leben reflektieren. Diese Hauptteile verfolgen jeweils unterschiedliche Fragestellungen, die sich aufeinander beziehen und als Gerüst für die nächste Station dienen. Kap. I und II widmen sich der Kindheit und Jugend Tomasos, dem spezifischen intellektuellen Umfeld Ravennas und Bolognas und den historischen Ereignissen um 1500. Rom, Padua und Modena (Kap. III–V) waren bereits erste Stationen einer aussichtsreichen Karriere, geprägt von neuen Impulsen und positiven wie negativen Erfahrungen, die das weitere Leben Tomasos bestimmen sollten. Die am besten dokumentierte Zeit in Tomaso Rangones Leben bleibt jedoch sein Aufenthalt in Venedig, der daher auch den größten Teil dieser Untersuchung umfasst. Die vierzig Jahre, die er in Venedig verbringen sollte, dokumentieren den einzigartigen, durch Mühen und Hindernisse geprägten Aufstieg eines Mannes, dem es erst in reiferem Alter vergönnt sein sollte, die Früchte seines Erfolges zu ernten. Es entstand das beeindruckende und lebensnahe Bild eines Renaissance-Gelehrten, dessen Leben eng mit dem Schicksal Italiens und seiner Potentaten verbunden war. Aufgrund des langen Zeitraums und der Vielzahl der Schauplätze, die oft im Gegensatz zur lückenhaften Quellenlage stehen, war es zwar möglich, die wichtigsten Stationen und Geschehnisse seines Lebens zu rekonstruieren, viele Begegnungen, Erlebnisse und Beziehungen zu Zeitgenossen werden jedoch für immer unbekannt bleiben. Aus Sicht der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte gehörte Tomaso Rangone so lässt sich erahnen nicht zu den genialen Köpfen seiner Zeit. Er war kein Wegbereiter der anatomischen »Revolution« wie Andreas Vesalius oder gar ein exzellenter Botanist wie Pietro Andrea Mattioli (1501–1578) oder Luca Ghini (1490–1556). Die Ursache hierfür lag gewiss nicht an mangelndem Interesse oder fehlender Offenheit für die Ereignisse seiner Zeit. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass die äußeren Umstände diese Entwicklungen verhindert haben: Tomaso Rangones Aufenthalt am päpstlichen Hof war bereits durch die Vorboten der Krise des Papsttums gekennzeichnet und seine nur kurze Lehrtätigkeit mit der Wiedereröffnung der paduanischen Universität verbunden. Auch die Zeit in Venedig war durch Niederlagen, Krisen, Hindernisse und die Auswirkungen der Gegenreformation geprägt: Als Nicht-Venezianer und homo novus musste Tomaso Rangone sein ganzes politisches Geschick aufbieten, seine Position in der geschlossenen, vorwiegend durch den Adel dominierten venezianischen Gesellschaft zu festigen. Er musste sich gegen Intrigen zur Wehr setzen und entkam nur knapp mehreren Mordanschlägen. Für umfassende wissenschaftliche Studien und gelehrte Abhandlungen blieb weder Zeit noch Raum.
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Der mangelnden Akzeptanz, mit der sich Tomaso Rangone in Venedig konfrontiert sah, versuchte er daher durch ein umfassendes öffentliches Stifterprogramm zu begegnen, das ihn vor der damnatio memoriae bewahren und seinen Namen auf ewig mit der Geschichte Venedigs verbinden sollte. Somit ist es gerade diese außerordentliche Kombination von Arzt- und Mäzenatentum, verbunden mit dem Wunsch der individuellen Selbstbestimmung und Entfaltung, die Tomaso Rangone noch für den heutigen Betrachter so einzigartig macht.
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II.
Ravenna: mia dolcissima patria
Laut eines weitverbreiteten italienischen Sprichwortes gilt Florenz als die schönste unter den italienischen Städten (la pi bella), Padua als Ort der Gelehrsamkeit (la dotta), Rom als Zentrum der Spiritualität (la santa) und Ravenna als Metropole mit einer langen, bis weit in die Antike zurückreichenden Tradition (l’antica). In der Tat ist Ravenna, die heutige Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Emilia Romagna, eine der ältesten Städte Italiens, deren geschichtsträchtiger Vergangenheit man sich im 15. und 16. Jahrhundert zunehmend wieder bewusst wurde.1 Die ursprünglichen Bewohner der einst nur auf dem Wasserwege zugänglichen, durch Sümpfe geprägten Siedlung sind Tessaler, Etrusker und Umbrier gewesen. Kaiser Augustus verband den Po durch einen Kanal mit dem südlich von Ravenna gelegenen See und hatte auf diese Weise einen Hafen von militärischer und strategischer Relevanz geschaffen. Zu politischer Bedeutung gelangte Ravenna jedoch erstmals zwischen 402 und 476 n. Chr. als Hauptresidenz der weströmischen Kaiser. 493 n. Chr. wurde die Stadt von Theoderich dem Großen erobert, dessen Toleranz gegenüber dem christlichen Glauben auch den Bau zahlreicher christlicher Heiligtümer begünstigen sollte. Diese prägen noch heute das byzantinische Stadtbild, darunter das außergewöhnliche Mausoleum des Herrschers in Form einer Rotonde, das zu den eindrucksvollsten ostgotischen Bauten Ravennas zählt.2 Als autonome Republik stand Ravenna im Mittelalter an der Spitze eines Städtebundes, zu dem auch 1 Einen Überblick über die wechselvolle Geschichte Ravennas vermittelt insbesondere die mehrere Bände umfassende Storia di Ravenna, vgl. Mario Pierpaoli (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalle origini all’anno mille (Band 1), Venezia 1991; Antonio Carile (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dall’et bizantina all’et ottoniana (Band 2/1), Venezia 1991; Antonio Carile (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dall’et bizantina all’et ottoniana: ecclesiologia, cultura e arte (Band 2/2), Venezia 1992; Augusto Vasina (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dall’ anno mille alla fine della Signoria Polentana (Band 3), Venezia 1993; Lucio Gambi (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese (Band 4), Venezia 1994; Luigi Lotti (Hrsg.), Storia di Ravenna. L’et risorgimentale e contemporanea (Band 5), Venezia 1996. Zu Ravenna in der Antike vgl. Deborah Mauskopf Deliyannis, Ravenna in Late Antiquity, Cambridge 2010. 2 Giuseppe Bovini, Das Grabmal Theoderichs des Großen, Ravenna 1977.
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Ancona, Pesaro und Rimini gehörten. 1275 ging die Signoria in die Hände der Familie da Polenta über. Unter deren Herrschaft begann der aus Florenz vertriebene Dante Alighieri (1265–1321) mit der Abfassung der Divina Comedia, die er in Ravenna kurz vor seinem Tod 1321 vollenden sollte.3 Nachdem die politisch mittlerweile unbedeutende Provinzstadt 1441 unter die Oberherrschaft der expandierenden Republik Venedig geraten war,4 wurde sie verwaltungstechnisch zu den Stati del Mar gezählt und von venezianischen Patriziern verwaltet, die in der Serenissima regelmäßig über die politischen Entwicklungen berichteten.5 Diese im Vergleich mit der langen Geschichte Ravennas relativ kurze Zeit der venezianischen Herrschaft hinterließ im Stadtbild jedoch dauerhafte Spuren, da nicht nur die Verteidigungsanlagen ausgebaut, sondern insbesondere im Zentrum architektonische Veränderungen vorgenommen und vermehrt Palazzi im venezianischen Stil erbaut wurden.6 1502 rühmte ein Dichter aus Ravenna die venezianische Bautätigkeit: Hanno facto a Ravenna in tal beltade / Fossi, ponti, arce, muri, tecti o strade / Che luce come un culto argento e oro.7 Und doch hatte sich trotz der venezianischen Baumaßnahmen das Stadtbild der nicht mehr als 10.000 Bewohner zählenden einstigen Metropole, zu der auch weite Agrar- und Nutzflächen gehörten, seit dem 13. Jahrhundert kaum verändert.8 Nur ein Teil der rund 50.000 Hektar waren für die Landwirtschaft nutzbar, da sie bevorzugt aus weitläufigen Wäldern, Gestrüpp, unbegehbaren Sümpfen und Seen bestanden. Umgeben von einer durch Wehrtürme charakterisierten Mauer und den Flüssen Ronco und Montone wurde das Stadtbild
3 Im Inferno der Divina Comedia wird ebenfalls auf Ravenna Bezug genommen, vgl. Inf. V : 97ff.: su la marina dove ’l Po discende / per aver pace co’ seguaci sui und Inf. XXVII : 36ff.: (Ravenna) sta come stata molt’anni: / l’aguglia da Polenta la si cova, / s che Cervia ricuopre co’ suoi vanni. Zum Frühhumanismus in Ravenna (Dante und Boccaccio) vgl. Giuseppe Billanovich, Il primo umanesimo a Ravenna, in: Dante Bolognesi (Hrsg.), Ravenna in et veneziana, Ravenna 1986, 171–178. 4 Gino Benzoni/Antonio Menniti Ippolito (Hrsg.), Storia di Venezia. Il Rinascimento: politica e cultura, Roma 1996, 181ff. 5 Zur Verwaltung Ravennas durch die Venezianer vgl. Marino Berengo, Il governo veneziano a Ravenna, in: Lucio Gambi (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese, 11–38. 6 Zur Architektur unter venezianischer Herrschaft, vgl. Vincenzo Fontana, L’architettura nella citt e nel territorio, in: Lucio Gambi (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese, 179–216. 7 Vgl. Donatini Domini, La cultura tra letteratura ed erudizione, in: Lucio Gambi (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese, 347–371, hier 350. 8 Aus dem 16. Jahrhundert existieren lediglich zwei prospektivische Karten Ravennas, vgl. Giovanni Ricci, La lenta evoluzione del quadro urbanistico, in: Lucio Gambi (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese, 133–178, bes. 139; zum Territorium siehe Fiorenzo Landi, Le basi economiche: un sistema ad alta integrazione e bassa produttivit, in: ebd., 517–582.
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noch immer durch vier Klöster geprägt, die über einen Großteil des Landbesitzes und der Kunstschätze verfügten und Zentren des kulturellen Lebens waren.9 Die Venezianer gedachten jedoch auch der Dichter und Denker Ravennas und schätzten die Kunst der einstigen Metropole als Quelle der Inspiration.10 Zu Ehren Dantes gab daher Bernardo Bembo (1433–1519), podest e capitano Venedigs, 1483 bei Pietro Lombardo (1435–1515) ein Relief in Auftrag, das den poeta laureatus in die Lektüre vertieft vor einem leggio mit aufgeschlagenem Buch zeigt. Dieses Relief schmückt noch heute das Grab Dantes nahe der Basilica di San Francesco in Ravenna. Auch Künstler ließen sich von den architektonischen Monumenten inspirieren: Fra Giocondo (1433–1515) sammelte Kopien paganer und christlicher Inschriften, Giuliano da Sangallo (1443–1516) erforschte das Mausoleum des Theoderich und Giovanni Bellini (1430–1516) verewigte die Türme in der Trasfigurazione. Ende des 15. Jahrhunderts wurde das in zahlreiche Territorialstaaten geteilte Italien zunehmend mit den sich konsolidierenden Großmächten Europas konfrontiert. Als jene Kleinstaaten um ihre Macht zu festigen vermehrt Allianzen mit ausländischen Potentaten schlossen, wurde Ravenna für Venedig aus militärisch-strategischen Gründen immer bedeutender und schließlich sogar Zentrum des venezianischen Einflussgebiets in der Romagna.11 Der venezianische Chronist Marin Sanudo (1466–1536)12 schrieb daher am 20. Januar 1501, Ravenna sei hinsichtlich des Nachrichtenverkehrs in der Emilia Romagna von herausragender Bedeutung.13 Insbesondere die politischen Ereignisse der letzten Dekade des 15. Jahrhunderts sollten daher nicht nur die Zukunft Venedigs, sondern auch Ravennas langfristig bestimmen: Eine führende Rolle spielte im Machtgefüge Italiens Ludovico Maria Sforza (1492–1508), wegen seiner dunklen Hautfarbe auch il Moro genannt, der 1476 Herzog von Mailand geworden war. 1494 bot il Moro dem jungen und wagemutigen französischen König Charles VIII. (1470–1498)14 freien Durchzug bis Neapel an, um König Alfonso II. von Aragon (1448–1495) abzusetzen und Anspruch auf das Königreich zu erheben. Als Sforza jedoch bald darauf seine Position durch die französische 9 Giovanni Ricci, La lenta evoluzione del quadro urbanistico, 155–157. 10 Vincenzo Fontana, L’architettura nella citt e nel territorio, bes. 197. 11 Marino Berengo, Il governo veneziano a Ravenna, in: Dante Bolognesi (Hrsg.), Ravenna in et veneziana, 31–67, bes. 36. 12 Die Tagebücher Sanudos werden im Folgenden nach der Ausgabe von Rinaldo Fulin et al. (Hrsg.), I Diarii di Marino Sanuto, Venezia 1879–1902, zitiert. 13 I Diarij, 4 : 211–212: che la cit di Ravena di gran importantia, maxime per le novit occore in Romagna. Vgl. hierzu auch Marino Berengo, Il governo veneziano a Ravenna, in: Lucio Gambi (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese, 14. 14 Anne Denis, Charles VIII et les Italiens – Histoire et Mythe/Dmystification de Charles VIII, Genve 1979; Yvonne Labande-Mailfert, Charles VIII, Paris 1986. Zum Italienfeldzug Charles’ VIII. vgl. Ivan Cloulas, Charles VIII. Le mirage italien, Paris 1986.
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Politik in Gefahr sah, schloss er ein antifranzösisches Bündnis, das er 1594 durch die Heirat seiner Nichte Bianca Maria (1492–1510) mit dem deutschen Kaiser Maximilian I. (1459–1519) bekräftigte. Auch der seit 1492 auf dem päpstlichen Thron regierende Papst Alexander VI. (1431–1503)15 aus dem spanischen Geschlecht der Borgia hatte sich ursprünglich mit dem französischen König verbündet, jedoch aus Angst, für seine Kinder bestimmte Herrschaftsbereiche zu verlieren, bereits kurz darauf das Bündnis gebrochen und am 31. März 1495 mit dem Herzogtum Mailand, der Republik Venedig, Maximilian I. und Ferdinando II. d’Aragona die Heilige Liga gegen Frankreich geschlossen. Nach dem Tod Alfonsos II. am 25. Januar 1494 erhob der französische König verstärkt Ansprüche auf Neapel und rückte mit einer Armee von 25.000 Mann in Richtung Rom vor. Trotz verzweifelter Versuche, die Ewige Stadt wehrhaft zu machen, zog Charles VIII. im Dezember 1494 in Rom ein, wo er von dem 63jährigen Papst empfangen wurde. Im März eroberte der französische Potentat bereits Neapel, ohne dort auf ernsthafte Gegenwehr zu stoßen. Bereits ein Jahr später sollte Ludovico Sforza die Franzosen jedoch in der Schlacht bei Fornovo am 6. Juli 1495 vernichtend schlagen, wurde aber 1499 vom Nachfolger Charles’ VIII., König Louis XII. (1462–1515), wieder vertrieben. Obwohl der Feldzug Charles’ VIII. nur ein kurzes Intermezzo dargestellt hatte, sollte dieser Akt den Auftakt für die sechzig Jahre andauernde französische Vorherrschaft in Italien (1494– 1559) bedeuten, die 1527 im Sacco di Roma durch deutsche Landsknechte ihren Höhepunkt erreichen16 und die weitere bewegte Geschichte Italiens maßgeblich beeinflussen sollte. Die Geburt Tomasos fiel somit nur ein Jahr vor den Beginn der Italienischen Kriege. Gemäß der Taufregister der Kirche San Giovanni in Fonte,17 einem der ältesten und ehrwürdigsten Bauwerke Ravennas, wurde Tomaso am 18. August 1493 – also unter dem feurigen Sternzeichen des Löwen – als zweiter Sohn eines Mannes namens Pierpaolo Gianotti (Zanotti) geboren.18 Diesen Namen verdankte er möglicherweise dem Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274),
15 Susanne Schüller-Piroli, Die Borgia-Dynastie. Legende und Geschichte, München 1982. 16 Die Italienischen Kriege wurden ausführlich von dem Staatsmann Francesco Guicciardini (1483–1540) beschrieben und kommentiert, vgl. Sidney Alexander (Hrsg.), Francesco Guicciardini, The History of Italy, Princeton 1984. Zu den Italienischen Kriegen vgl. zusammenfassend Thomas F. Arnold (Hrsg.), The Renaissance at War, New York 2006; zur Kriegsführung vgl. Frederick Lewis Taylor, The Art of War in Italy, 1494–1529, Westport 1973 sowie Bert S. Hall, Weapons and Warfare in Renaissance Europe: Gunpowder, Technology, and Tactics, Baltimore 1997. 17 ABSGFR, Battesimi, n. 1, 1492–1518, agosto 18, c. 200r. Zum Baptisterium der Orthodoxen mit seinen berühmten Mosaiken vgl. Friedrich Wilhelm Deichmann, Ravenna: Hauptstadt des spätantiken Abendlandes, Stuttgart 1969, Band 2, 130–151. 18 Ebd.: 1493 – Augustus – die – xviii / Thomas: filius m.r petripauli d(e) genotis. Der Name der Mutter wird im Taufregister nicht genannt.
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der durch sein Hauptwerk, die Summa theologica, im 16. Jahrhundert wieder populär geworden war,19 und auf den die Entstehung einer einflussreichen philosophisch-theologischen Richtung zurückging, den Thomismus.20 Der Vater Tomasos zählte bei der Geburt seines Kindes wohl bereits sechzig Jahre, bezeichnete ihn der Sohn doch in einem 1514 verfassten Prognostikon als »achtzigjährig«.21 Über die Herkunft der Familie Gianotti, die Mutter Tomasos oder gar den Beruf des Vaters ist jedoch nichts weiter bekannt. Aus Marc’ Antonio Ginannis Handbuch L’arte del blasone dichiarata (1756) erfahren wir jedoch, dass es in Ravenna eine Familie namens Zanotti gab, die zu den Bürgern (cittadini) gehörte und ein Hauswappen besaß, das ein Wortspiel mit dem Namen Gianotti/Zanotti wiedergab ( gi notte = es ist bereits Nacht) und auf dem drei Fledermäuse und drei goldene Lilien zu sehen waren.22 Sollte Tomaso Rangone tatsächlich mit der Familie Gianotti/Zanotti verwandt sein, könnte er beim Entwurf seines eigenen Hauswappens einzelne Elemente aus dem Wappen der Gianotti/Zanotti entlehnt und diese mit dem Wappen der Familie Rangoni kombiniert haben: Das Hauswappen Tomaso Rangones setzt sich nämlich aus insgesamt drei Balken zusammen, wobei über dem obersten ebenfalls drei Lilien wie beim Wappen der Gianotti/Zanotti zu erkennen sind. Über dem zweiten Balken befinden sich drei Raben, welche die schwarzen Fledermäuse abgelöst haben könnten (aus dem ersten und letzten Balken ragt jedoch noch jeweils ein Flügel hervor). Über dem Wappen an der Fassade von San Giuliano ist zudem ein einfach geschlossener Helm zu erkennen, was oft als Zeichen jungen Adels gedeutet wird.23 Es gibt bisher zwar keine Hinweise, dass die Familie Gianotti/ Zanotti auch politisch in Ravenna aktiv war,24 jedoch müssen die Gianotti/ Zanotti über ein nicht unbeträchtliches Vermögen verfügt haben, das es erlaubte, Tomaso eine fundierte Ausbildung und ein teures Studium zu ermöglichen. Der Immobilienbesitz der Familie befand sich, abgesehen von mehreren Häusern in Portioli und bei San Pietro in Vincoli, vor allem im Stadtteil Girotto, in dem der sogenannte Theoderichpalast stand, wovon ein Teil nach dem Tod 19 David Berger, Thomas von Aquins »Summa theologiae«, Darmstadt 2004. 20 Romanus Cessario, A Short History of Thomism, Washington D.C. 2005. 21 BCS, 12–1–15 (50): Juditio de Thomaso Philologo Gianotho Ravennate de lo anno 1514: […] padre mio de anni ottanta, e piu el dilectissimo fratello. 22 Marc’ Antonio Ginanni, L’arte del blasone dichiarata per alfabeto, Venezia 1756, 195 (Fabrizio di Montauto, Manuale di araldica, Firenze 1999, 106): Famiglia dell’ordine dei cittadini di Ravenna con azurro con un capriolo d’oro, accompagnato da tre bisanti del medesimo, abbassato sotto una riga di rosso, e tre pipistrelli neri, uscenti da essa, sormontati da tre gigli d’oro, ordinati del capo. Il volgo Ravennate, in vece di dire, gi notte, l’ z not; onde l’autore di questa insegna, vollendo alludere al proprio cognome de Zanotti, vi pose i pipistrelli, uscenti dalla riga; poich questi escono, solamente e si fanno vedere, quando gi note. 23 Fabrizio di Montauto, Manuale di araldica, 177. 24 Allerdings sind die Akten des Stadtrats aus der venezianischen Besatzungszeit heute vollständig verloren.
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des Vaters in den Besitz Tomasos übergehen sollte.25 Von diesem Gebäude ist heute nur noch eine etwa zwanzig Meter lange Fassade erhalten, welche am Rand des kaiserlichen Areals gelegen ist, auf dem sich auch der Palast der Galla Placidia befand. Der eigentliche Zweck des Gebäudes ist jedoch noch nicht geklärt, möglicherweise handelte es sich um Teile der nun verschwundenen Kirche San Salvatore. Tomaso selbst nimmt auf dieses Gebäude auch in seinem Testament Bezug und bezeichnete es als ein weitläufiges Haus (domus vastus).26
Abb. 2: Das Baptisterium der Orthodoxen in Ravenna. Hier wurde Tomaso als zweiter Sohn eines Mannes namens Pierpaolo Gianotti (Zanotti) getauft. Rechts: Die Fassade des sogenannten Theoderichpalastes. Auf dem Areal befanden sich Besitzungen der Familie Gianotti.
Als Tomasos betagter Vater im Herbst 1516 verstarb, wurde das Erbe nicht unmittelbar, sondern laut einer Akte des Notars Nicol Cecchi erst am 18. Mai 1528 unter den verbleibenden Nachkommen aufgeteilt, möglicherweise aufgrund der politischen Entwicklungen in Ravenna.27 Aus diesem Schriftstück gehen weitere interessante Details über Tomasos Familie hervor, die durch die Taufbücher der entsprechenden Jahre bestätigt werden können.28 Demnach hatte Tomaso noch zwei weitere Brüder, den etwa um ein Jahr älteren, wohl dem 25 Vgl. zu den Besitzungen der Gianotti/Zianotti Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 22. 26 ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 6v : Ravennae vastum vulgo domus meae regiae olim facies sedis regni Theoderici Ostrogothorum regis nunc turpius dejectae et absorptae catagrapha. 27 ASR, Notarile, Prot. 148, c. 34 r/v : […] venerint ad divisionem bonorum inter se comunium. 28 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 22; Die Informationen zu Tomasos Familie stammen zudem aus zwei Geburtsregistern (APSGFR, Battesimi, n. 1, 1492–1518 und n.2, 1507–1550).
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geistlichen Stand zugehörigen venerabilis Simone (Symon)29 und den zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Giovanbattista (geb. am 28. August 1498),30 dessen Kinder (pupilli) nun an seiner Stelle das Erbe antreten sollten. Giovanbattista war zwar der jüngste der drei Brüder gewesen, hatte aber bereits mehrere Kinder, zu der die Töchter Anastasia (geb. am 13. Dezember 1517)31 und Giovanna (geb. am 31. August 1518),32 die Drillinge Maria, Ioanna und Camilla (geb. am 15. Dezember 1519),33 eine weitere Tochter namens Giovanna (geb. am 10. Juli 1521),34 zwei (?) Söhne namens Giulio (geb. am 6. Dezember 1522)35 und Pierpaolo (geb. am 13. November 1525)36 sowie eine weitere Tochter namens Giulia37 gehörten. Giulia sollte später einen Adeligen der ebenfalls in Ravenna ansässigen Familie Zapparuschi heiraten, die zeitweise auch im Stadtrat vertreten war.38 Anscheinend hatte Tomaso auch noch eine weitere Schwester namens Grazia (geb. am 5. November 1496),39 die bei der Erbteilung nicht berücksichtigt worden war, möglicherweise da sie geheiratet und ihren Erbteil in Form einer Mitgift bereits erhalten hatte. Jener Giulia und ihren Nachkommen brachte Tomaso besondere Zuneigung entgegen und sollte sie auch als einzige in seinem Testament berücksichtigen. Die letzte Dekade des 15. Jahrhunderts war eine unruhige Zeit, die bereits durch die Vorboten der umfassenden politischen Unruhen und Umwälzungen des Cinquecento charakterisiert war. In den folgenden Jahren sollte insbesondere die Emilia Romagna, nicht zuletzt durch die Mitgliedschaft Venedigs in der Heiligen Liga, stets von militärischen Auseinandersetzungen gegen die französischen Truppen durchzogen sein, die in der Schlacht von Ravenna Anfang April 1512 ihren Höhepunkt erreichen sollten. Zur Zeit der venezianischen Herrschaft stellte Ravenna eine Enklave dar, umgeben von verschiedenen kleineren Herzogtümern, die sich zunehmend gegen den expandierenden Kirchenstaat behaupten mussten. Im Norden lag das Herzogtum Ferrara mit Comacchio, die 29 Der Name dieses Bruders ist allerdings nicht in den Geburtsregistern belegt. 30 ABSGFR, Battesimi, n. 1, 1492–1518, c. 107r. 31 Ebd., c. 16r. Allerdings steht im Taufregister : 1517-Decembr/Anastasia f(ilia) […] Tho(masi) d(e) Zanotis 13. Handelt es sich gar um ein uneheliches Kind Tomasos, das von seinem Bruder adoptiert wurde? 32 Ebd., c. 122r. 33 ABSGFR, Battesimi n. 2, 1507–1550: Maria Camila et Ioan(n)a. 34 Ebd. 35 Ebd.: Mensis dece(m)bris […] – 1522 die 6 – filia Io(annis) Bap(tiste) de Zanotis Iulia. Insofern kann die Identität nicht eindeutig geklärt werden. 36 Ebd. 37 Möglicherweise ist jene Giulia auch mit dem in Anm. 90 genannten »Giulio« identisch. 38 Zur Familie Zapparuschi vgl. Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie e forme di governo, in: Lucio Gambi (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese, 39–129, bes. 120, Anm. 118. 39 ABSGFR, Battesimi n. 1, 1492–1518, c. 69v.
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beide Einflussgebiet der mächtigen Familie der Este waren. Im Westen lag Bologna, das noch bis 1506 unter der Tyrannis der Bentivoglio stehen sollte, sowie das ebenfalls unter der Herrschaft der Este befindliche Modena und Reggio. Daran schlossen sich die Städte Carpi und Mirandola an, die von der Familie Pico regiert wurden, gefolgt von Parma und Piacenza, dem Herrschaftsgebiet der Familie Farnese. Diese kleinen Herzogtümer wurden nach und nach vom Kirchenstaat annektiert und Ravenna geriet 1509 infolge der Schlacht von Agnadello, bei der die Venezianer vernichtend geschlagen worden waren, ebenfalls unter die Ägide der päpstlichen Macht. Jedoch wurde auch Ravenna zeitweise zum Zentrum politischer Ränkespiele: Am 24. Mai 1511 ermordete der Neffe von Papst Julius II. und neue Herr von Urbino, Francesco Maria della Rovere, dort mit eigener Hand den unbeliebten Kardinal Francesco Alidosi (1460–1511), auch bekannt unter dem wenig schmeichelhaften Namen »Ganymed« Julius’ II.40 Die unliebsame Verteidigung della Roveres wurde Baldassare Castiglione (1478– 1529) übertragen, der zu dieser Zeit bereits vier Jahre in Urbino weilte, bevor er 1516 an den Hof von Mantua zurückkehren sollte.41 Im Gegensatz zu den umgebenden kleinen Herzogtümern, an deren Höfen sich ein blühendes intellektuelles Leben hatte entwickeln können, fehlten in Ravenna die sozialen Voraussetzungen für die Entwicklung einer litteratura corteggiana.42 Aus ökonomischen Gründen wurde das Verfassen von Gedichten und gelehrten Traktaten für viele gebildete Bürger, insbesondere Notare, Anwälte oder Ärzte, lediglich zu einer Nebenbeschäftigung, weshalb auch nur ein einziges Ritterepos in Ravenna entstehen sollte, Giovanni Battista Pescatores (gest. 1588) Morte di Ruggiero (1567).43 Nur der Mönch Tommaso Garzoni (1549–1589) kam mit seinem Buch Piazza universale di tutte le professioni del mondo, einer lehrreichen, feinsinnigen und durchaus auch amüsanten Beschreibung der zeitgenössischen »Berufswelt«, auch außerhalb Ravennas zu Ruhm. Weniger bekannt wurde hingegen Garzonis L’hospidale dei pazzi incurabili, ein medizinisch-moralisches Traktat über die Verrücktheit.44 Auch für Reisende des Cinquecento war ein Aufenthalt in Ravenna wenig reizvoll. Mit Ausnahme von Künstlern, welche die antiken 40 Vgl. DBI, s.v.a. Alidosi, Francesco; Peter G. Bietenholz/Thomas B. Deutscher (Hrsg.), Contemporaries of Erasmus: A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, Toronto 2003, 36; zu della Rovere vgl. Sebastian Becker, Dynastische Politik und Legitimationsstrategien der della Rovere: Potenziale und Grenzen der Herzöge von Urbino (1508– 1631), Berlin/Boston 2015, 39–40. 41 Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 5Stuttgart/Berlin 1910, Band 8, 76. 42 Donatini Domini, La cultura tra letteratura ed erudizione, 347–371. 43 Ebd., 348. 44 Zu Garzoni vgl. Donatini Domini, La cultura tra letteratura ed erudizione, 352; Daniela Pastina/John W. Crayton (Hrsg.), The Hospital of Incurable Madness. L’Hospedale de’pazzi incurabili (1586), by Tomaso Garzoni, Turnhout 2010.
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Denkmäler studierten, machten nur wenige Besucher in der Stadt länger als ein paar Tage halt. Einer von ihnen, ein deutscher Jurist namens Johann Fichard (1512–1581), besuchte 1537 während einer Italienreise Ravenna und konnte der Stadt nichts abgewinnen: Nur wenig Schönes sei dort zu bewundern, der Markplatz sei zu klein und kaum repräsentativ zu nennen, und in den Kirchen befinde sich kaum Sehenswertes. Einzig der Reichtum der Klöster und die dortige üppige Verköstigung versetzten Fichard in großes Erstaunen.45 Außerhalb des Mikrokosmos Ravennas befand sich die Welt um 1500 in einer Zeit epochaler Veränderungen, einer Zeit kulturellen und wirtschaftlichen Aufbruchs, nicht zuletzt ausgelöst durch die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (1451?–1506) am 12. Oktober 1492, nur ein Jahr vor Tomasos Geburt.46 Neue geographische Erkenntnisse führten nicht nur zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Weltbild des ausgehenden Mittelalters, sondern auch zu komplexen kulturellen Veränderungen. Exotische Tiere und Pflanzen, unbekannte Mineralien und wertvolle Edelsteine gelangten im Zuge der Entdeckungsreisen in den folgenden Jahren nach Europa. Dadurch verlagerten sich die Handelswege vermehrt auf den Schiffsverkehr, was mediterrane Seemächte wie die Republik Venedig, insbesondere nach der Entdeckung des Seeweges nach Indien (1500), in ökonomische Schwierigkeiten bringen sollte. Die Entdeckung der Neuen Welt begünstigte jedoch nicht nur die Entwicklung der Wissenschaft, sondern auch die Ausbreitung eines Erregers, gegen den die traditionelle Medizin machtlos war : die »Syphilis«. Zeitgenössische Chroniken vom Ende des 15. Jahrhunderts berichten von starken Unwettern und Erdbeben in ganz Italien, Ausbrüchen von Seuchen (peste) und Hungersnöten kurz vor und nach dem Auftreten der Krankheit und deuteten dies als untrügliche Zeichen einer drohenden apokalyptischen Katastrophe.47 Die Schilderungen der
45 Zahlreiche Reisebeschreibungen befinden sich im Anhang der von Lucio Gambi herausgegebenen Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese, 681ff. Zu Fichard siehe Esther Sophia Sünderhauf, Von der Wahrnehmung zur Beschreibung: Johann Fichards »Italia« (1536/37), in: Hartmut Böhme et al. (Hrsg.), Übersetzung und Transformation, Berlin 2007, 425–453; Dies., Wissenstransfer zwischen Deutschland und Italien am Beispiel des Frankfurter Italienreisenden Johann Fichard (1512–1581), in: Kathrin Schade et al. (Hrsg.), Zentren und Wirkungsräume der Antikenrezeption. Zur Bedeutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechisch-römischen Antike. Festschrift für Henning Wrede, Münster 2007, 99–109. 46 Horst Gründer, Eine Geschichte der europäischen Expansion: von Entdeckern und Eroberern zum Kolonialismus, Leipzig 1998; Florian Borchmeyer, Die Ordnung des Unbekannten. Von der Erfindung der Neuen Welt, Berlin 2009. 47 Zu den lokalen Chroniken vgl. Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox. The French Disease in Renaissance Europe, New Haven/London 1997, 20–21; Alfonso Corradi (Hrsg.), Annali delle epidemie occorse in Italia dalle prime memorie fino al 1850, compilati con varie note e dichiarazioni, Bologna 1865–1892, insb. Band 1, 338ff.; Band 4, 212ff.; Band 5, 265ff.
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Symptome48 überschneiden sich bei fast allen Zeitzeugen: sehr starke Schmerzen, Fieber, unangenehme Ausschläge, die den Körper überziehen und erst rot, dann schwarz werden, Verstümmelungen und entsetzlicher Gestank. Die »Syphilis« wurde seit ihrem Auftreten mit vielen Namen bezeichnet, darunter bevorzugt als morbus gallicus oder als mal de Naples. Sie soll nämlich erstmals unter den Söldnern des französischen Königs Charles VIII. (1470–1498) während der Belagerung Neapels grassiert haben.49 Die heutige Bezeichnung dieser Infektionskrankheit wurde erst Jahre später von dem italienischen Arzt Hieronymus Fracastoro (1478–1553)50 im dritten Buch seines Lehrgedichts Syphilis sive Morbus Gallicus (1531) geprägt, habe doch der Hirte Syphilos zur Zeit der Herrschaft des Königs Alcithous als erster an dieser vom Sonnengott als Strafe gesandten peste gelitten. In eleganten Versen im Stil der Georgica Vergils beschrieb Fracastoro in diesem auf insgesamt drei Bücher angelegten »Lehrgedicht« die Ätiologie, Pathologie, Prophylaxe und die zeitgenössischen Therapien dieser seltsamen und hochinfektiösen Krankheit. Ein wirksames Therapeutikum gegen die »Syphilis« zu finden, sollte in den folgenden Jahren das oberste Ziel und eine der größten Herausforderungen für die europäischen Ärzte werden. Über die ersten vierzehn Jahre im Leben Tomasos, die Eindrücke, mit denen er in einer Welt der ständigen Veränderung konfrontiert war, dem Verhältnis zu seiner Familie oder frühen Erlebnissen, die ihn maßgeblich geprägt haben könnten, können wir heute nur noch Vermutungen anstellen. Abgesehen von der erst 1521 entstandenen Oratio gibt auch der reifere Tomaso nur wenig von seinem Werdegang preis – ganz im Gegensatz zu seinem nur zehn Jahre jüngeren Zeitgenossen, dem Arzt und Astrologen Girolamo Cardano (1501–1576), der durch seine Autobiographie De vita propria liber ein umfassendes Zeugnis seiner Herkunft, seines bewegten Lebens und seiner innersten Gedanken hinterlassen hat.51 Auch der Goldschmied Benvenuto Cellini (1500–1571), der wie
48 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 20ff.; Claudia Stein, Die Behandlung der Franzosenkrankheit in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs, Stuttgart 2003. 49 Claude Qutel, Le mal de Naples. Histoire de la syphilis, Paris 1986; Folke Gernert, Francisco Delicados Retrato de la Lozana Andaluza und Pietro Aretinos Sei giornate. Zum literarischen Diskurs über die käufliche Liebe im frühen Cinquecento, Genf 1999; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, passim; Ernst Bäumler, Amors vergifteter Pfeil. Kulturgeschichte einer verschwiegenen Krankheit, Frankfurt a. M. 1997; Tilmann Walter, Die Syphilis als astrologische Katastrophe. Frühe medizinische Fachtexte zur »Franzosenkrankheit«, in: Dieter Groh et al. (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen 2003, 165–187, bes. 167 (Anm.3). 50 Syphilidis, sive Morbi Gallici libri tres, Verona 1530; Georg Wöhrle (Hrsg.), Girolamo Fracastoro, Lehrgedicht über die Syphilis, Bamberg 1988. 51 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror : Girolamo Cardano and Renaissance Medicine,
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Tomaso ebenfalls am päpstlichen Hof wirken sollte, berichtete in seiner Autobiographie ausführlich über seine Eltern, seine überaus glückliche Kindheit in Florenz und sein ausgesprochen gutes Verhältnis zu seinem Vater und Großvater sowie über seinen beruflichen Werdegang.52 Jedoch soll es zu Tomasos Lebzeiten laut der heute in der Biblioteca Marciana aufbewahrten Statuten (1569) des von Tomaso Rangone gegründeten paduanischen Kollegiums eine Biographie des Arztes gegeben haben, die von seinem Bibliothekar und Freund, dem Philologen Natale de Conti (1520–1582), verfasst worden war.53 Vermutlich wurde Tomaso, wie die meisten Kinder gutsituierter Familien, nach der Geburt einer Amme anvertraut, welche im Hause ihres Zöglings dessen Pflege übernahm und meist auch ein eigenes Kind hatte. Da Kinder im zarten Alter noch als »formlose Masse« (rudis massa) galten,54 die es entsprechend ihrer Anlage nach dem Ideal der humanitas zu erziehen galt, waren beide Elternteile mehr oder weniger in die Kindererziehung involviert, wobei dem Vater (entsprechend dem römischen Ideal des pater familiae) die moralische Bildung, die Förderung von individuellen Talenten und die Vorbereitung auf das spätere Leben oblagen.55 Dieses Bildungsideal beschreiben eingehend die Ricordi des Notars Bernardo Machiavelli, der für die Erziehung seiner Söhne, darunter den späteren Staatsmann Niccol, auf Ciceros De officiis oder die Ethik des Aristoteles zurückgriff.56 Viele Renaissancehumanisten heben jedoch auch die Bedeutung der Mutter für die frühkindliche Erziehung hervor.57 Einen Einblick in das (idealisierte) Familienleben dieser Zeit liefern insbesondere die in vier Büchern angelegten Dialoge I libri della famiglia von Leon Battista Alberti (1404–1472), nach denen das oberste Ziel der Familie in der Erziehung zur
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Princeton 1997; Anthony Grafton/Jean Stoner (Hrsg.), G. Cardano, The Book of my Life, New York 2002. Jacques Laager (Hrsg.), Benvenuto Cellini, Mein Leben. Die Autobiografie eines Künstlers aus der Renaissance, Zürich 2000. Vita Thomae Philologi Ravennatis physici equitis, per Natalem Comitem Venetum composita; foglia illigita pergameno. Weder das Original noch eine Abschrift konnten bisher gefunden werden. Zu dem Humanisten Natale de Conti vgl. DBI, s.v.a. Conti, Natale. Zu Tomaso Rangones Kollegium und den Statuten siehe hier Kap. 8.6.1. Nach Erasmus von Rotterdam, vgl. hierzu Jean-Claude Margolin (Hrsg.), Erasme, Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis, Genve 1966, 494a. Louis Haas, The Renaissance Man and His Children. Childbirth and Early Childhood in Florence, 1300–1600, Hampshire/London 1998, 133–137. Cesare Olschki (Hrsg.), B. Machiavelli, Libro dei ricordi, Firenze 1954; Catherine Atkinson, Debts, Dowries, Donkeys. The Diary of Niccol Machiavellis Father, Messer Bernardo, in Quattrocento Florence, Frankfurt a. M. 2002; Dirk Hoeges, Kindheit und Erziehung in der Renaissance – von der Erziehung Machiavellis zur Erziehung eines Principe: Castruccio Castracani, in: Klaus Bergdolt et al. (Hrsg.), Das Kind in der Renaissance, Wiesbaden 2008, 221–237, bes. 222–223. Monika Rener, Unordnung und frühes Leid, in: Klaus Bergdolt et al. (Hrsg.), Das Kind in der Renaissance, 11–26, bes. 20.
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Tugend (virtus) besteht, die als einzige die wankelmütige Fortuna in ihre Schranken verweisen kann.58 Das Privileg, eine Schule59 besuchen zu dürfen, war wegen der hohen Kosten nur für etwa vierzehn Prozent der Knaben möglich. Schulmeister wurden wegen der weit verbreiteten Bestrafungsmethoden im Klassenraum und der anachronistischen Lehrinhalte nicht selten auch zum Objekt von Kritik und Satire. Noch weit geringer war jedoch der Anteil der Mädchen, der sich auf gerade einmal 0, 2 Prozent belief. Das Eintrittsalter variierte und lag wie noch heute zwischen fünf und sieben Jahren.60 Sollte Tomaso zu dieser privilegierten Schicht gehört haben, besuchte er vielleicht regelmäßig die Lateinschule in Ravenna, an der zu diesem Zeitpunkt die humanistischen Gelehrten und Philologen Niccol Ferretti und Giovanni Francesco Berti da Forli (1468–1516) unterrichteten.61 Beide waren für ihre herausragenden pädagogischen Qualitäten bekannt. Allerdings gab es auch die Möglichkeit, privat oder zuhause durch einen Hauslehrer (praeceptor) unterrichtet zu werden,62 weshalb nach der Hochrechnung des Historikers Paul Grendler wohl etwa ein Drittel der Knaben und ein Zehntel der Mädchen lesen und schreiben konnten.63 So erfahren wir auch aus den Essais Michel de Montaignes (1533–1592), dass man die Wahl des Hauslehrers für überaus wichtig erachtete, da davon der Erfolg der Erziehung und auch die Ausbildung der Fähigkeiten des Zöglings zum großen Teil abhingen.64 Eine Einführung in die Arithmetik übernahmen nach der Schule meist die Abakus58 Julian Vitullo, Fashioning Fatherhood: Leonardo Battista Alberti’s Art of Parenting, in: Albrecht Classen (Hrsg.), Childhood in the Middle Ages and the Renaissance, Berlin 2005, 341–354. 59 Über seinen (eher erfolglosen) Schulbesuch verfasste Johannes Butzbach einen ausführlichen Bericht, vgl. Andreas Beriger (Hrsg.), J. Butzbach, Odeporicon, Weinheim 1991; zu den oft leidvollen Erfahrungen der Renaissancehumanisten mit der Schule und Schulmeistern vgl. Monika Rener, Unordnung und frühes Leid, 11–26; Andreas Tönnesmann, Schüler und Schule in der Renaissance, in: Klaus Bergdolt et al. (Hrsg.), Das Kind in der Renaissance, 269–282, bes. 272 (Anm. 8); Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice. Researches on Aretino and His Circle in Venice (1527–1556), Firenze 1985, 55ff.; Eugenio Garin, L’educazione in Europa 1400–1600, 3Roma/Bari 1976, 152–159. 60 Monika Rener, Unordnung und frühes Leid, 19. 61 Zu Ferretti vgl. Giorgio Montecchi, Autori ravennati ed editoria tra XV e XVI secolo, in: Dante Bolognesi (Hrsg.), Ravenna in et veneziana, 199; 200–201; John N. Grant (Hrsg.), Lilio Gregorio Giraldi, Modern Poets, Harvard 2011; zu Berti siehe Julia Haig Gaisser (Hrsg.), Pierio Valeriano, On the Ill Fortune of Learned Men. A Renaissance Humanist and His World, Michigan 1999, 268. 62 Louis Haas, The Renaissance Man and His Children, 137–138; der Arzt Girolamo Cardano etwa wurde von seinem Vater zuhause privat unterrichtet, vgl. Anthony Grafton/Jean Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 126. 63 Paul F. Grendler, Schooling in Renaissance Italy : Literacy and Learning, 1300–1600, Baltimore 1989; Brian Richardson, Printing, Writers and Readers in Renaissance Italy, Cambridge 1999, 109–112. Noch im Jahr 1861 konnten nur 22 % der Italiener lesen und schreiben. 64 Arthur Franz (Hrsg.), Michel de Montaigne, Essais, Köln 2005, 86.
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lehrer, während die Grammatiklehrer (grammaticus) den Schüler in die Grundzüge der Grammatik, Rhetorik und Literatur einführten, meist mithilfe der von Aelius Donatus (ca. 310–380) verfassten Elementargrammatik.65 Nur wenige Schüler setzten danach den Unterricht in den artes liberales fort, die als Vorbereitung für die Universität unerlässlich waren, bildeten diese doch die unentbehrliche Grundlage für die darüberstehenden theologischen, medizinischen und juristischen Fakultäten, die allein berechtigt waren, den prestigeträchtigen Doktortitel zu verleihen. Zugleich galten Kinder auch als die sensibelsten Elemente der Gesellschaft, waren sie doch täglich mit zahlreichen Gefahren konfrontiert, die von Unfällen, Bissen von Gifttieren oder tollwütigen Hunden, die auf den Straßen herumstreunten,66 zahlreichen Kinderkrankheiten67 bis hin zu Missbrauch reichten. Aufgrund der harten Lebensbedingungen, oft schlechter medizinischer Versorgung und mangelnder Hygiene war die Kindersterblichkeit in der Renaissance ausgesprochen hoch und lag bis zum vierzehnten Lebensjahr bei über fünfzig Prozent: Von der Familie Dürer erreichten aus diesem Grund von 18 lebend geborenen Kindern nur drei das Erwachsenenalter.68 Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis sind in dieser Hinsicht die Lebenserinnerungen des Arztes Girolamo Cardano:69 Letzterer war aufgrund seiner eher schwächlichen Statur als Kind mehrmals so krank gewesen, dass man ihn oft an der Schwelle des Todes glaubte. Besonders belastend waren für das Kind anscheinend ein Umzug und die Tatsache, seinen Vater täglich begleiten zu müssen. Cardano erkrankte nach eigenen Angaben an Dysenterie und Fieber und bald darauf auch an einer lebensbedrohlichen Seuche. Doch damit nicht genug: Infolge eines Unfalls mit einem Hammer trug der Achtjährige lebensgefährliche Verletzungen im Schädelbereich davon und wurde kurz darauf noch an der gleichen Stelle von einem herabfallenden Balken verletzt. Im Gegensatz zu Girolamo Cardano, der seine Existenz nur der Unwirksamkeit von Abortiva zu verdanken hatte, war die Geburt des Bildhauers Cellini ein lang ersehntes Ereignis gewesen. Der robuste
65 Zum Beispiel Machiavellis vgl. Dirk Hoeges, Kindheit und Erziehung in der Renaissance, 224. In einer scuola dell’abaco wurde jedoch bevorzugt praktisches Wissen gelehrt (kaufmännisches Rechnen, Grundsätze der praktischen Geometrie), vgl. Peter Burke, Die Renaissance in Italien, Berlin 1992, 63. 66 Anthony Grafton/Jean Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 23, 92. 67 Zur Behandlung von Kinderkrankheiten in der Renaissance vgl. Daniel Schäfer, Regimina infantium. Die Sorge um die Gesundheit der Kinder in der Renaissance, in: Klaus Bergdolt et al. (Hrsg.), Das Kind in der Renaissance, 71–100; Iris Ritzmann, Kindermedizin in frühneuzeitlichen Hospitälern, in: Arndt Friedrich et al. (Hrsg.), Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reformen in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte, Petersburg 2004, 253–262. 68 Daniel Schäfer, Regimina infantium, 74–75. 69 Anthony Grafton/Jean Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 10–12, 20.
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Cellini scheint daher auch (abgesehen von einem aus einem Wasserrohr herauskriechenden Skorpion, der den Knaben um ein Haar gebissen hätte) seine Kindheit nahezu gefahrlos verbracht zu haben. Seine größte Furcht galt vielmehr dem Wunsch seines Vaters, aus dem nur mäßig begabten Knaben einen Flötisten zu machen.70 Seuchen rafften nicht zuletzt oft den Großteil einer Familie hinweg, entsprechend hoch war daher die Zahl der Waisen.71 Bereits im Geburtsjahr Tomasos hatte es in der Emilia Romagna eine Reihe von Fieberkrankheiten mit Todesfolge gegeben,72 aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen und Missernten kam es auch in den folgenden Jahren immer wieder zu Hungersnöten und Seuchen.73 Die verheerende Hungersnot von 1505 soll so schwer gewesen sein, dass Ratten und Katzen der Bevölkerung als Nahrung dienten, wie der milanesische Chronist Ambrogio da Paullo (geb. 1470) in der Barzeletta sopra la carestia dell’anno 1505 ausführlich beschrieb.74 Tomaso und seine Familie scheinen diese unruhige Zeit, zumindest in physischer Hinsicht, ohne größere Verluste überstanden zu haben. Im Alter von achtzehn Jahren, ein Jahr nach der Schlacht von Agnadello am 14. Mai 1509, in deren Folge auch Ravenna an den expandierenden Kirchenstaat fallen sollte, verließ Tomaso seine Heimatstadt, um an der Universität von Bologna Medizin zu studieren. Wir wissen allerdings nicht, was Tomaso bewogen haben mag, sich der Heilkunst zu widmen, da er selbst vermutlich nicht aus einer Arztfamilie oder gar Ärztedynastie stammte, zu der oft auch die Instruktion und Examinierung durch den Vater gehörte.75 Jedoch hatte in Ravenna die Heilkunst eine lang zurückreichende Tradition, da es dort mehrere Hospitäler gab, die sich der Pflege der Kranken und Hilfsbedürftigen widmeten.76 Zudem hatte die Medizin im 15. Jahrhundert auch einen spürbaren Prestigegewinn erfahren und stellte längst nicht mehr die von den Frühhumanisten so verachtete ars mechanica dar. Bekannte Humanisten interessierten sich vermehrt für medizinische Fragen und auch Ärzte
70 Jacques Laager (Hrsg.), Benvenuto Cellini, 14ff. 71 Louis Haas, The Renaissance Man and His Children, 155–176. In Florenz erreichten schätzungsweise nur die Hälfte der Kinder ihren zehnten Geburtstag, vgl. Ann G. Carmichael, Plague and the Poor in Renaissance Florence, Cambridge 1986, 41. 72 Alfonso Corradi (Hrsg.), Annali, Band 1, 345ff. 73 Diese Seuchen sollen 1494, 1496 und 1497 stattgefunden haben, vgl. ebd., 350ff. 74 Zur Hungersnot von 1505 vgl. ebd., 273. Zu dem Chronisten Paullo vgl. DBI, s.v.a. Ambrogio da Paullo; Die Cronaca ist publiziert bei Antonio Ceruti, Cronaca milanese dall’anno 1476 al 1515 di maestro Ambrogio da Paullo, Miscellania di storia italiana 13, 1871, 91–378; zum Thema vgl. ferner Piero Campresi, Das Brot der Träume. Hunger und Halluzination im vorindustriellen Europa, Frankfurt a. M./New York 1999. 75 Gadi Algazi, Eine gelernte Lebensweise: Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30, 2007, 107–118. 76 Romano Pasi, La millenaria storia ospedaliera di Ravenna, Longo 2006.
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widmeten sich entsprechend Paolo dal Pozzo Toscanellis (1397–1482) »neuer Bildung« den studia humanitatis.77 Obwohl Tomaso den Großteil seines Lebens außerhalb seiner Heimatstadt verbringen sollte, blieb er Ravenna sein ganzes Leben lang eng verbunden. Dem Rat der Stadt widmete er diverse Schriften, darunter ein Prognostikon und die 1521 erschienene philosophische Schrift De optuma ! felicitate. Zudem fungierte er selbst zweimal als Mitglied des Rats (1523 und 1525). In notariellen Dokumenten aus Venedig verzichtete Tomaso daher nie auf den stolzen Beinamen Ravennas, also auf die territoriale Erwähnung »aus Ravenna«. Darüber hinaus sollte das 1552 gegründete Kollegium in Padua anfangs ausschließlich jungen Männern aus seiner Heimatstadt offenstehen. Auch den ererbten Immobilienbesitz, den die Familie Zapparuschi an sich gerissen hatte, versuchte Tomaso sein Leben lang mit Hilfe städtischer Eliten zurückzugewinnen. Selbst an seinem Totenbett soll noch die 1572 bei Paolo Manuzio erschienene Geschichte seiner Heimatstadt, die Historiarum Ravennatum libri decem des Arztes Girolamo Rossi (1539–1607),78 aufgeschlagen gelegen haben79 und die immer präsente Geschichte seiner Heimatstadt80 damit stets eine Antithese zum Allmachtsanspruch Venedigs bilden.
77 Klaus Bergdolt, Naturwissenschaften und humanistisches Selbstverständnis, in: Thomas Maissen/Gerrit Walther (Hrsg.), Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, Göttingen 2006, 103–124, bes. 115 78 Girolamo Rossi, der 1561 in Padua sein Studium der Medizin beendet hatte, publizierte neben medizinischen Traktaten wie De destillazione (1582) und De melonibus (1607; postum) auch eine umfassende Geschichte seiner Heimatstadt. Vgl. zu Rossi Donatini Domini, La cultura tra letteratura ed erudizione, 354–355. 79 ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 4v : libri autem sint aperti sic defferendi Historia magna urbe Ravena cartis 142 a capite […]. Dieser Titel wird im Bibliotheksverzeichnis jedoch noch nicht genannt, da dieses vor 1577 fertiggestellt worden ist. Aufgrund der Seitenangabe kann es sich auch nicht um die 1574 bei Aloisio Gregorio in Pesaro erschienene Geschichte Ravennas aus der Feder des Arztes Tomaso Tomai handeln (Historia di Ravenna dell’eccelente Sig. Thomaso Tomai fisico. Diviso in quattro parti […], Pesaro 1574). Zum geschichtlichen Interesse von Ärzten in der Renaissance vgl. Nancy Siraisi, History, Medicine, and the Traditions of Renaissance Learning, 2Ann Arbor 2008. 80 Zum ravennatischen Nationalstolz im 16. Jahrhundert vgl. Donatini Domini, La cultura tra letteratura ed erudizione, 351.
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III.
Bologna: die Mutter der Wissenschaften
1510 begann Tomaso mit dem Studium der Medizin1 im siebzig Kilometer entfernten Bologna. Dieses stand zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren unter der Ägide des Kirchenstaates, nachdem Papst Julius II. (1443–1513) 1506 den lokalen Potentaten, den condottiere Giovanni II. Bentivoglio (1443–1508),2 nach vierzigjähriger Herrschaft aus Bologna vertrieben hatte. Julius II. vollendete dadurch ein Ziel, das bereits sein Vorgänger Alexander VI. seit langem angestrebt hatte, um das Einflussgebiet seines Sohnes Cesare Borgia (1476–1507) zu vergrößern. In der Nacht vom ersten auf den zweiten November 1506 verließen die Bentivoglio und ihre Anhänger Bologna durch die Porta San Mamolo, unter ihnen auch der erst 22 Jahre zählende Guido Rangoni (1485–1539), Sohn des 1500 verstorbenen Niccol Maria Rangoni (1435–1500).3 Auf den Schultern von Guido Rangoni il zovene, dessen Mutter Bianca (gest. 1519) die Tochter Giovanni II. Bentivoglios (1443–1508) war, sollte in den folgenden Jahren auch die schwere und letztlich unerreichbare Aufgabe lasten, Bologna zurückzugewinnen. Zu diesem Zeitpunkt wusste der junge condottiere noch nicht, dass sich sein Schicksal fünfzehn Jahre später mit dem nur wenige Jahre jüngeren Tomaso Gianotti verbinden sollte. Mit der Vertreibung der Familie Bentivoglio endete jedoch auch eine Zeit, die in der wechselvollen Geschichte Bolognas einen Höhepunkt des Mäzenatentums dargestellt hatte. Bologna hatte sich in der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts nämlich zu einer glanzvollen Metropole entwickelt, da Giovanni Bentivoglio nicht nur großzügig die lokalen Künstler, sondern auch die Entwicklung der Bologneser Universität gefördert hatte.4 1 Laut dem Juditio studierte Tomaso 1513/1514 Medizin (BCS, 12–1–15 [50]). Die Ausbildung in den septes artes liberales, deren Tradition auf die Antike zurückgeht (Trivium [Grammatik, Dialektik, Rhetorik] und Quadrivium [Arithmetik, Geometrie, Astronomie/Astrologie, Musik]), hatte er wohl noch in Ravenna abgeschlossen. 2 Cecilia M. Ady, I Bentivoglio, Varese 1965. 3 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, un condottiero fra Evo Medio e Moderno, Modena 2005, 19–20. 4 Giorgia Clarke, Magnificence and the City : Giovanni II Bentivoglio and Architecture in Fi-
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Bologna: die Mutter der Wissenschaften
Als Zeichen seines Triumphes ließ Papst Julius II. am Freitag, den 18. Februar 1508, eine von Michelangelo Buonarrotti (1475–1564) entworfene Bronzestatue mit seinem Bildnis über dem Portal der Kirche von San Petronio auf der Piazza maggiore anbringen, nachdem der ideale Zeitpunkt hierfür von den Astrologen errechnet worden war.5 Der modensische Chronist Tomasino de’ Bianchi (1473– 1554) berichtet, das fast drei Meter hohe Bildnis habe mehr als 12.000 Dukaten gekostet.6 Der Platz über dem Hauptportal hätte nicht besser gewählt sein können, da die Basilika von San Petronio die wichtigste Kirche Bolognas darstellte und noch heute mit 132 Metern Länge und 60 Metern Breite zu den größten Kirchenbauten der Welt zählt. Der Grundstein für das dem Schutzpatron der Stadt, dem Heiligen Petronius, geweihte Gotteshaus war im Auftrag der Kommune bereits 1388 gelegt worden und die Kirche wurde nicht nur ein Symbol des bolognesischen Nationalstolzes, sondern auch der Mittelpunkt wichtiger Feierlichkeiten der Universität. Jedoch währte der Triumph des Papstes nur kurze Zeit, denn bereits am 22. Mai 1511 gelang es den beiden Söhnen Giovanni II. Bentivoglios, die sich mit dem Haus Este verbündet hatten, kurzfristig die Herrschaft über die Stadt wiederzuerlangen. Jegliches Zeichen der päpstlichen Herrschaft wurde vollständig getilgt und am 30. Dezember 1511 fiel auch das monumentale Bildnis Michelangelos dem Restaurationswillen der neuen Potentaten zum Opfer und wurde durch ein Heiligenbildnis ersetzt. Der kriegerische Papst Julius II. setzte sich umgehend gegen die Usurpatoren zur Wehr und ließ bereits am 26. Januar 1512 Bologna unter dem Befehl von Rmon de Cardona (1467–1522) erneut belagern. Nach nur wenigen Tagen konnte der Widerstand gebrochen werden, und die päpstlichen Truppen nahmen die Stadt am 5. Februar ein. Bei dem zu diesem Zeitpunkt neunzehnjährigen Studenten Tomaso muss die beeindruckende Bronzestatue des Kirchenoberhauptes und nicht zuletzt dessen Wagemut jedoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, da er sich vierzig Jahre später als wohlhabender und angesehener Arzt in Venedig an den Entwurf erinnern sollte und sein eigenes Bildnis über dem Hauptportal der Kirche von San Giuliano anbringen ließ. In Italien gab es zu dieser Zeit zwar mehrere Universitäten mit einer renommierten medizinischen Fakultät, doch hatte sich Tomaso vermutlich bewusst für Bologna als Studienort entschieden. Die Universität war trotz dieser ereignisreichen Zeit nämlich nicht nur die älteste (gegr. 1088), sondern nicht fteenth-Century Bologna, Renaissance Studies 13/4, 1999, 397–411; Marzia Faietti/Konrad Oberhuber (Hrsg.), Humanismus in Bologna, 1490–1510, Bologna 1988. 5 Paolo Barocchi (Hrsg.), G. Vasari, La vita di Michelangelo nelle redazioni del 1550 e del 1568, Milano/Napoli 1962, Band 2, 389ff.; Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Parma 1862–1884, Band 2, 26. 6 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 2, 26. Dies entspricht etwa 4, 5 Kilo Gold, eine sehr hohe Summe. Zu Tomasino de’ Bianchi vgl. DBI, s.v.a. Bianchi, Tomasino.
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zuletzt durch die Förderung Giovanni Bentivoglios auch die bekannteste Bildungseinrichtung der Renaissance geworden, wobei ihr internationaler Ruf insbesondere auf dem Bereich der Medizin- und Rechtswissenschaften begründet war.7 Die Medizin war jedoch anfänglich in Bologna nicht einmal in einer eigenen Fakultät untergebracht gewesen, sondern vor 1150 noch mit den artes zusammengefasst und auf diese Weise mit Chirurgie und Pharmazie in den naturwissenschaftlichen Fächern des Quadriviums organisiert gewesen.8 Da die Universität im 15. und 16. Jahrhundert auch vom Kirchenstaat großzügig gefördert und von der Kommune mittels Steuereinkünften regelmäßig unterstützt wurde, waren die Lehrstühle entsprechend gut ausgestattet und verfügten über weitreichende finanzielle Ressourcen.9 Als 1507 die Pest in Bologna ausbrach, war auch der Universitätsbetrieb kurzfristig für vier Monate zum Erliegen gekommen. Wegen der Pest gibt es hier nichts Erwähnenswertes, notierte ein Schreiber in den libri secreti der Alma mater.10 Nach der Schließung der paduanischen Universität infolge der Niederlage der Venezianer gegen die Liga in der Schlacht von Agnadello (1509) war man bemüht, namhafte Köpfe an der Bologneser Universität zu halten. Dazu gehörten insbesondere der Aristoteliker Pietro Pomponazzi (1462–1525), der im akademischen Jahr 1511/1512 erstmals in Bologna unterrichtete, oder die Rechtsgelehrten Carlo Ruino aus Reggio (1456–1530) und Andrea Alciato aus Mailand (1492–1550).11 Bereits im 14. und 15. Jahrhundert hatten berühmte Mediziner in Bologna gelehrt, darunter die Anatomen Tadeo Alderotti (1215–1295), Mondino dei Liuzzi (1275–1326),12 Andrea Benzi (1410–1472) sowie der Arzt und Archäologe Giovanni Marcanova (1418–1467), der eine Privatbibliothek von 600 Bänden mit wertvollen Folio-
7 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio di Bologna durante il Rinascimento, Geneva 1930; Carlo Calcaterra, Alma mater studiorum. L’universit di Bologna nella storia della cultura e della civilit, Bologna 1948; Paul F. Grendler, The University of Bologna, the City, and the Papacy, Renaissance Studies 13, 1999, 475–485; Ders., The Universities of the Italian Renaissance, Baltimore/London 2002, 14–21. Zur Organisation der Universitäten und zum internationalen Vergleich siehe Hilde de Ridder-Symoens (Hrsg.), A History of the University in Europe: Universities in the Middle Ages, Cambridge 1992. 8 Konrad Rückbrod, Universität und Kollegium. Baugeschichte und Bautyp, Darmstadt 1977, 25. 9 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 16–17. 10 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 150: Nihil memoria dignum actum est in collegio, causa fuit pestis. 11 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 15–16 (letztendlich mussten die Riformatori dello Studio Pomponazzi 600 Golddukaten bezahlen, um sich gegen Florenz und Pisa durchzusetzen). Vgl. zu Alciato auch David S. Russel, Alciato, Andrea (1492–1550), in: Colette Nativel (Hrsg.), Centuriae latinae. Cent une figures humanistes de la Renaissance aux Lumires offertes Jacques Chomarat, Genve 1997, 51–56. 12 Wolfgang Uwe Eckart/Christoph Gradmann (Hrsg.), Ärzte Lexikon: von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2001, 223–224.
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handschriften zu seinem Besitz zählte.13 Auch die illustren Namen von Francesco Benci (1542–1597), Stefano della Torre, Baverio de’ Bonetti da Imola, Giovanni und Bernardo Garzoni und nicht zuletzt von dem bekannten Arzt und Astronomen Luca Gaurico (1476–1558), der 1506/07 in Bologna unterrichtete, sind in den rotuli der Universität verzeichnet.14 Im Laufe des 16. Jahrhunderts sollten noch viele weitere Mediziner in Bologna studieren, beispielsweise der Chirurg und Anatom Giulio Cesare Aranzio (1530–1589), Gaspare Tagliacozzi (1546– 1599), der Pionier der plastischen Chirurgie,15 oder auch der Astrologe und Arzt Girolamo Cardano.16 In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab es etwa 1.500 bis 2.000 Studenten in Bologna, wobei die örtliche Bevölkerung etwa 50.000 betrug.17 Bologna hatte jedoch nicht nur als Bildungsstätte einen weit über Italien hinausreichenden Ruf, sondern galt auch als schöne Stadt mit hoher Lebensqualität und war bekannt für ihre architektonischen Denkmäler, wie beispielsweise die Kirche von San Domenico, die sechstgrößte Kirche Europas, die Basilika von San Petronio, die beiden Türme oder auch die schattigen Bogengänge (portici), die während der heißen Monate zum Flanieren und Verweilen einluden. Bologna wurde daher auch von Reisenden gerne besucht, etwa von Michel de Montaigne (1522–1592), der 1580 in der Universitätsstadt ankam, die Sehenswürdigkeiten besichtigte und, beeindruckt von ihrer Schönheit, in seinen Reisebeschreibungen schrieb: Wir zogen ohne Zwischenhalt weiter und erreichten zum Abend Bologna, dreißig Meilen, eine große, schöne Stadt, die an Umfang und Einwohnerzahl Ferrara weit übertrifft. […] In der Stadt beschauten wir einen alten viereckigen Glockenturm, der sich so sehr neigt, dass er jeden Augenblick einzustürzen droht. Weiter sahen wir uns die Universität an – das schönste der Wissenschaft geweihte Gebäude, das ich je zu sehen bekam. […] Bologna ist reich an schönen, breiten Bogengängen und birgt eine ungeheure Zahl prächtiger Paläste.18
Noch im 18. Jahrhundert war die Universitätsstadt auch Johann Caspar Goethe (1710–1782) eine Reise wert. Der Vater des Dichters Johann Wolfgang (1749– 13 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 24–44. 14 Ebd., 105–132. 15 Zu Tagliacozzi vgl. ausführlich Mariacarla Gadebusch-Bondio, Medizinische Ästhetik: Kosmetik und plastische Chirurgie zwischen Antike und früher Neuzeit, München 2005. 16 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 18; 320–323; Gian Paolo Brizzi et al. (Hrsg.), L’universit di Bologna. Maestri, studenti e luoghi dal XVI al XX secolo, Bologna 1988; Andrea Cristiani, I lettori di medicina allo Studio di Bologna nei secoli XV– XVI, Bologna 1989; zu Padua als Vergleich siehe etwa Jerome J. Bylebyl, The School of Padua: Humanistic Medicine in the Sixteenth Century, in: Charles Webster (Hrsg.), Health, Medicine and Mortality in the Sixteenth Century, Cambridge 1979, 355–370. 17 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 19. 18 Ulrich Bossier/Wilhelm Weigand (Hrsg.), Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland, Zürich 2007, 160–161.
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1832) berichtete am 11. März 1740 ausführlich über die üppigen Wonnen Bolognas, den florierenden Seidenhandel, die prachtvollen Paläste und die zahlreichen Sehenswürdigkeiten.19 Mit einem Studium, insbesondere im begehrten Bologna, waren daher auch sehr hohe Kosten von mehr als 100 Dukaten pro Jahr verbunden,20 insbesondere für die Lebenshaltung und die Unterkunft, sei es nun in einer pensionsähnlichen Herberge (hospitium), der Burse, einer Art Internat für eine begrenzte Anzahl von scholares, oder dem klosterähnlichen Kollegium. Oft schlossen sich auch mehrere Studenten zusammen, um ein größeres Haus zu mieten und sich die entstehenden Kosten zu teilen.21 Zudem konnte man privat bei einem Professor der Universität gegen ein entsprechendes Entgelt logieren, der manchmal bis zu zwanzig Schüler auch im voruniversitären Alter aufnahm und einen Hilfslehrer (repetitore) beschäftigte, der die Zöglinge auf die Universität vorbereitete.22 Ein Stipendium ermöglichte auch Kindern aus weniger bemittelten Familien ein Studium und damit verbundene Aufstiegschancen,23 obwohl nur ein geringer Teil eine so erstaunliche Karriere machen sollte wie Nikolaus von Kues (1401– 1464), der Sohn eines Moselschiffers, welcher nach dem Studium der Rechte und der Theologie die vielversprechende kirchliche Laufbahn eingeschlagen hatte und durch diplomatisches Geschick sogar Reichsfürst werden sollte.24 Zu den Lebensunterhaltskosten kamen die teuren und oft unerschwinglichen Lehrbücher,25 weshalb sich am 1. Januar 1507 in Bologna einige Buchhändler zu einer Kooperation zusammenschlossen, um die Studenten jederzeit mit nicht zu kostspieligen Büchern versorgen zu können.26 Das Leben in einer hauptsächlich durch das studentische Leben geprägten Stadt hatte jedoch auch seine Schattenseiten. Zuweilen kam es wie in anderen Universitätsstädten27 auch in Bologna zu Unruhen, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und sogar zu Übergriffen gegen Mitglieder der Kommune, was von der Obrigkeit mit 19 Albert Meier/Heide Hollmer (Hrsg.), Johann Caspar Goethe, Reise durch Italien (Viaggio per l’Italia), 4München 1999, 100ff. 20 Ein Student in Padua kostete 100 bis 125 Dukaten im Jahr, vgl. Angelo Martini, Tentativi di riforma a Padova prima del Concilio di Trento, Rivista di Storia della Chiesa in Italia 3, 1949, 66–94, bes. 74. 21 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 167. 22 Auch der Humanist Gasparino Barzizza und Galileo Galilei erwarben sich auf diese Weise ein Zubrot, vgl. ebd., 168. 23 Tilmann Walter, Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert: Einkünfte, Status, Praktiken, MedGG 27, 2008, 31–73, bes. 45. 24 Erich Meuthen, Nikolaus von Kues 1401–1464. Skizze einer Biographie, 7Münster 1992. 25 Tilmann Walter, Ärztehaushalte, bes. 44–45. 26 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 139. 27 Francesco Piovan, Studenti e citt nel diario di Giovanni Antonio da Corte, in: Francesco Piovan/Luciana Sitran Rea (Hrsg.), Studenti, universit, citt nella storia padovana, Trieste 2001, 317–345.
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strengen Strafen bis hin zu Hinrichtungen geahndet wurde.28 Das akademische Jahr, das im Oktober begann, wurde zudem durch diverse Festtage und Feierlichkeiten unterbrochen, etwa die vorlesungsfreien Tage vom 13. Dezember bis zur Quaresima oder den Karneval, währenddessen maskierte Studenten bewaffnet durch die Straßen zogen.29 Ein Gesetzesentwurf von 1562, der die vorlesungsfreie Zeit beschränken sollte, trat jedoch nie in Kraft.30
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Die medizinischen Lehrveranstaltungen fanden zur Zeit Tomasos noch in verschiedenen Gebäuden meist im Stadtzentrum Bolognas statt, da erst 1562 mit der Konstruktion vom Archigymnasium begonnen wurde, in dem sich auch ein anatomisches Theater befinden sollte.31 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts folgte der medizinische Unterricht an der Bologneser Alma mater noch einem einheitlichen Schema, bei dem insbesondere auf die theoretische Wissensvermittlung medizinischer Inhalte Wert gelegt wurde. Diese umfasste sowohl die Grundzüge von Gesundheit und Krankheit (Physiologie und Pathologie) als auch eine Einführung in Hygiene und Therapie. Dabei kommentierte der unterrichtende Professor für Medizin drei grundlegende medizinische Textgruppen, nämlich die Werke des arabischen Arztes Avicenna (980–1037), des römischen Arztes Galen (129–200/ 216 n. Chr.) und des griechischen Arztes Hippokrates (460–370 v. Chr.).32 Im ersten Unterrichtsjahr wurde als Einführung das erste und zweite fen aus dem Canu¯n des Avicenna sowie ausgewählte Schriften aus der ars medica Galens behandelt.33 Im zweiten Unterrichtsjahr wurden unter anderem Galens Tegni und die hippokratischen Schriften Prognostica und De morbis acutis sowie Avicennas De viribus cordis referiert. Es folgten weitere galenische Schriften34 und weitere Exzerpte aus dem Canu¯n des Avicenna. Im dritten Unterrichtsjahr mussten sich die Studenten den Aphorismen des Hippokrates, dem enzyklopädischen Werk Colliget des 28 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 19–20; Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 187–191. 29 Francesco Piovan, Studenti e citt nel diario di Giovanni Antonio da Corte, 337–338. 30 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 184. 31 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 18–19; Valeria Roncuzzi Roversi Monaco (Hrsg.), L’ Archiginnasio di Bologna: un palazzo per gli studi, Bologna 2010. 32 Zu den behandelten Texten vgl. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 320–322. 33 Darunter insbesondere die Schriften De differentiis febrium, De simplicibus medicinis, De diebus criticis, De complexionibus, De mala complexione, die semiotische Schrift De locis affectis und De regimine sanitatis, Galens Handbuch zur Diätetik. 34 Unter anderem De accidenti et morbo, De crisi, De diebus criticis aus der Schrift Ad Glauconem De medendi methodo und De utilitate respirationis.
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Averroes und weiteren grundlegenden galenischen Schriften (Liber terapeutice bzw. De medendi methodo) widmen.
Abb. 3: Anatomische Darstellung des geöffneten Thorax aus der Anatomia Mondino dei Liuzzis (Anatomia Mundini ad vetustissimorum, erundemque aliquot manuscriptorum, codicum fidem collata, iustoque suo ordini restituta, Marpurgi 1541).
Da die im vierten Unterrichtsjahr vermittelten Inhalte größtenteils auf bereits behandeltem Unterrichtsstoff beruhten, wurden im Verlauf eines Medizinstudiums die gleichen Texte bis zu dreimal referiert. Diese Rotation erlaubte es den Studenten, zu jedem beliebigen Zeitpunkt mit dem Studium zu beginnen und an eine andere Universität wechseln zu können, ohne Lehrinhalte aufholen zu müssen. In zeitgenössischen Quellen ist auch überliefert, welche Qualitäten ein »idealer Professor« nach damaliger Vorstellung haben sollte. So musste dieser die referierten Texte nicht nur zufriedenstellend, sondern auch kritisch kommentieren können und fähig sein, aus dem Gedächtnis zu referieren. Die Unterrichtssprache war ausschließlich Latein, das der Professor selbstverständlich
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fließend beherrschen musste.35 Die Lehrenden der Universität mussten sich laut der Statuten zudem strengen Regeln unterwerfen, nach denen etwa das Tragen von farbigen Talaren oder Togen verboten war. Darüber hinaus gab es einen minutiös geregelten Verhaltenskodex, der fast alle Bereiche des täglichen Lebens bis hin zum persönlichen Umgang regelte.36 Trotz einer Konzentration auf theoretische Wissensvermittlung fanden bereits zu dieser Zeit gelegentlich Fallstudien und Krankenbesuche statt, da die meisten Professoren allein aus finanziellen Gründen als praktische Ärzte tätig waren und ihren Patienten regelmäßig Hausbesuche in Begleitung von Studenten abstatteten. Bei diesen Besuchen wurden den Studenten die Grundlagen der Chirurgie vermittelt, etwa im Hinblick auf die Behandlung von Brüchen und Wunden.37 Eine Einführung in die Anatomie erhielten Studenten vor allem durch öffentliche anatomische Sektionen, an denen auch Honoratioren der Stadt teilnahmen.38 Diese öffentlichen Untersuchungen fanden jedoch nur einmal im Jahr statt, bevorzugt zwischen Weihnachten und Karneval über einen Zeitraum von bis zu sechs Wochen. Dazu wurden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausschließlich für diesen Zweck anatomische Theater aus Holz errichtet, die mit den Insignien der Universität und mit Bannern oder Fahnen geschmückt wurden. Begleitet wurden derartige Spektakel nicht selten von Musik. Die Plätze wurden pro dignitate vergeben, wobei die besten für Professoren und Honoratioren reserviert wurden. An der Sektion waren stets ein lector, der die relevanten Passagen aus der Anatomia Mondino dei Liuzzis, Galens oder Avicennas verlas, der demonstrator bzw. ostensor, der diese am Körper zeigte, sowie der incisor beteiligt, der die jeweiligen Schnitte vornahm. Während bei diesen öffentlichen Sektionen weniger Anomalitäten als vielmehr der Aufbau des menschlichen Körpers beispielhaft demonstriert wurde, wandte man sich bei privaten Obduktionen spezifischen Interessen zu, etwa um die Todesursache herauszufinden.39 Diese Untersuchungen fanden im Gegensatz zu den öffentlichen Sektionen mehrmals jährlich in Hospitälern, Kirchen, Apotheken oder auch Privathäusern unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Obwohl der Unterricht zu Tomasos Studienzeit noch einem traditionellen Vorbild folgte, wurde er bereits Zeuge eines zaghaft beginnenden Umwälzungs35 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 159. 36 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 136–137. 37 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 323. Die Lehre am Krankenbett wurde jedoch erst 1542 in Padua fest in das medizinische Curriculum aufgenommen, vgl. Jerome J. Bylebyl, The School of Padua, 335–370, hier 339. 38 Cynthia Klestinec, Theaters of Anatomy. Students, Teachers, and Traditions of Dissection in Renaissance Venice, Baltimore 2011, 20–24; 52–54; zu Bologna vgl. Giovanna Ferrari, Public Anatomy Lessons and the Carnival: the Anatomy Theatre of Bologna, Past and Present 117/1, 1987, 50–106. 39 Cynthia Klestinec, Theaters of Anatomy, 27–30.
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prozesses an den italienischen Universitäten, als die Kritik an den nur rudimentär erhaltenen griechischen Klassikern immer lauter geworden war, die es umfassend zu edieren, zu übersetzen und insbesondere zu kommentieren galt.40 Vor allem der Ferrareser Arzt und Humanist Niccol Leoniceno (1428–1524) attackierte in De Plinij, et plurium aliorum medicorum in medicina erroribus (1509)41 die mittelalterlichen arabischen Gelehrten Avicenna und Averroes wegen ihrer mangelhaften Übersetzungen der griechischen Originaltexte, sprach sich für eine verbesserte wissenschaftliche Methode und Demonstration abseits der aristotelischen Logik aus und kritisierte vehement die mangelnde Praxis seiner Zeitgenossen. Der seit dem Mittelalter geschätzte arabische Arzt Avicenna geriet daher im Laufe des 16. Jahrhunderts in Kritik, nicht zuletzt durch die zunehmend kritische Auseinandersetzung mit der galenischen Medizin und die Türkenkriege.42 Viele dieser neuen Ansätze konnten jedoch durch die Folgen der Italienischen Kriege zu diesem Zeitpunkt noch nicht umgesetzt werden, da nach der Schlacht von Agnadello (1509) auch die Universität von Padua verödet war und der Lehrbetrieb lediglich auf ein Mindestmaß beschränkt wurde. Erst fast zehn Jahre später, am 28. August 1517, sollte die Republik Venedig drei Reformatori allo Studio di Padova einsetzen, um die Wiederaufnahme der Lehre zu beschleunigen.43 Fundamentale Entwicklungen an den italienischen Universitäten konnten daher erst lange nach der Studienzeit Tomasos in den 1530er und 1540er Jahren stattfinden, insbesondere im Bereich der Anatomie, der klinischen Medizin und der Botanik:44 So kam es 1538 in Bologna zu einer weitreichenden Auseinandersetzung zwischen dem Medizinprofessor Matteo Corti (1475–1545) und dem fast vierzig Jahre jüngeren Anatomen Andreas Vesalius (1514–1564), ab 1537 Professor für Chirurgie und Anatomie in Padua, der öffentliche anatomische Sektionen an Hingerichteten durchführte.45 Vesalius publizierte 1545 in Basel die anatomi40 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 324–328; Jerome J. Bylebyl, The School of Padua, 341. 41 De Plinij, et plurium aliorum medicorum in medicina erroribus, Ferrariae 1509, c. 85r ; Jerome J. Bylebyl, The School of Padua, 341. 42 Nancy Siraisi, The Changing Fortunes of a Traditional Text: Goals and Strategies in Sixteenth-Century Latin Editions of the Canon of Avicenna, in: Andrew Wear et al. (Hrsg.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 1985, 16–41; Dies., Avicenna in Renaissance Italy : the Canon and Medical Teaching in Italian Universities after 1500, Princeton 1987; Dies., Taddeo Alderotti and His Pupils: Two Generations of Italian Medical Learning, Princeton 1981. 43 Die Universität war erst zu Beginn des Jahres wieder geöffnet worden, vgl. Ambiente scientifico veneziano tra cinque e seicento. Testimonianze d’Archivio. Mostra documentaria 27 luglio-6 ottobre 1985, 16/4; Giuseppe Ongaro, La medicina nello studio di Padova e nel Veneto, in: Girolamo Arnaldi/Manlio Pastore Stocchi (Hrsg.), Storia della cultura veneta: Dal primo quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1981, 75–134, bes. 77–78. 44 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 328–351. 45 William Eamon, The Professor of Secrets. Mystery, Medicine and Alchemy in Renaissance
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sche Studie De humani corporis fabrica libri septem,46 in der er sich kritisch mit den errata Galens auseinandersetzte, dem er im Vorwort zur Fabrica vorwarf, ausschließlich Tierkadaver seziert zu haben. Dies war ein durchaus gewagtes Unterfangen, galt Galen doch in der Zeit der galenischen Renaissance noch immer als unanfechtbare Autorität auf dem Gebiet der Anatomie, und nur wenige Ärzte hegten Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit. Die nur einmal im Jahr stattfindende anatomische Vorlesung wurde infolge dieser Debatte fest in das medizinische curriculum aufgenommen, die Funktion des ostensor auch vom lector übernommen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden im Zuge dieser Entwicklungen in den italienischen Universitätsstädten nach und nach feste anatomische Theater (in Padua 1583–1584 und 1595)47 und auch das Hospital wurde nun zunehmend fest in den Unterricht über Nosologie und Therapie eingegliedert.48
Abb. 4: Im 1562 erbauten Archiginnasio in Bologna befindet sich das 1637 errichtete anatomische Theater. Italy, Washington 2010, 41–47; Renate Wittern, Die Gegner Vesals, in: Florian Steger/Kay Peter Jankrift (Hrsg.), Gesundheit – Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit, Köln 2004, 167–201, bes. 173. 46 Die Anatomie des Vesalius wurde durch eine neue Physiologie William Harveys (1578–1657) ergänzt, der 1628 in Frankfurt a. M. seine Studie über den Blutkreislauf (Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus) veröffentlichte, vgl. Charles Joseph Singer, The Discovery of the Circulation of the Blood, London 1956. Der Fabrica folgten die Tabulae Anatomicae sex: epitomae (1543), eine für Studenten vereinfachte Fassung der Fabrica. 47 Cynthia Klestinec, Theaters of Anatomy, 55ff. 48 Jerome J. Bylebyl, The School of Padua, 342; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 328–351.
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Allerdings blieben die Naturvorstellungen an den italienischen Universitäten im 16. Jahrhundert noch weitgehend durch die Schriften des Aristoteles geprägt, die von dem venezianischen Verleger Aldo Manutius (1449–1515) um 1500 erstmals vollständig gedruckt worden waren.49 Dies hatte mehrere Gründe: Die aristotelische Logik und Philosophie war in Italien bereits durch die einflussreiche Schule von Salerno und Neapel gelehrt, verbreitet und fest etabliert worden und daher noch ein wichtiges Element des Studiums der artes an den traditionell orientierten Universitäten. Bereits Petrarca hatte den Aristotelismus seiner Zeitgenossen kritisiert und die durch Marsilio Ficino (1433–1499) im 15. Jahrhundert vorgenommene Übersetzung zahlreicher bisher unbekannter Werke Platons ins Lateinische50 führte zu einer vehement geführten Debatte zwischen Aristotelikern und Platonisten, wobei zunehmend versucht wurde, beide Richtungen sowohl untereinander als auch mit den Standpunkten der katholischen Theologie zu versöhnen. In Italien ging der Aristotelismus zudem eine enge Verbindung mit den Ideen des arabischen Philosophen und Aristoteles-Kommentators Averroes ein.51 Durch diese enge Bindung des Aristotelismus an die Universitäten wurde die Autoriät der aristotelischen Naturphilosophie somit zwar herausgefordert, letztendlich aber nicht beschnitten. Ähnliches galt auch für den Einfluss der medizinischen Theorien Galens, insbesondere der Humoralpathologie, die noch bis ins 18. Jahrhundert als Erklärungsmodell für Krankheiten dienen sollte.52 Zu Tomasos Studienzeit war auch die Astrologie53 noch ein fester Teil des medizinischen Studiums. An so bedeutenden Lehrstühlen wie Bologna, Ferrara und Neapel sah man in ihr für den zukünftigen Arzt einen mehrfachen Nutzen: Der Zeitpunkt der Geburt erlaube Rückschlüsse auf die jeweiligen Krankheits-
49 Eckhard Kessler et al. (Hrsg.), Aristotelismus und Renaissance: in memoriam Charles B. Schmitt, Wiesbaden 1988. 50 Cristopher Montague Woodhouse, George Gemistos Plethon. The Last of the Hellenes, Oxford 1986; Walter Pagel, Religion and Neoplatonism in Renaissance Medicine, London 1985. 51 Friedrich Niewöhner/Loris Sturlese (Hrsg.), Averroismus im Mittelalter und der Renaissance, Zürich 1994; Raif Georges Khoury, Averroes (1126–1198) oder der Triumph des Rationalismus, Heidelberg 2002; Andr Bazzana et al. (Hrsg.), Averros et l’averrosme, XIIe– XVe sicle, un itinraire historique du Haut Atlas Paris et Padoue, Lyon 2005. 52 Rudolf Siegel, Galen’s System of Physiology and Medicine, New York 1968. 53 Die Faszination für die Astrologie mag nicht zuletzt durch ihr stimmiges System und ihre ästhetische Qualität begründet sein, vgl. Wolfgang Hübner, Astrologie in der Renaissance, in: Klaus Bergdolt/Walther Ludwig (Hrsg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, 241–279. Zur Rolle der Planeten und ihrer Konstellationen vgl. Reiner Reisinger, Historische Horoskopie. Das iudicium magnum des Johannes Carion für Albrecht Dürers Patenkind, Wiesbaden 1997. Grundlegend zur Renaissance und Astrologie vgl. WolfDieter Müller-Jahncke, Astrologisch-Magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit, Stuttgart 1985.
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dispositionen des Menschen und Therapien und Medikationen könnten mithilfe der Astrologie optimiert werden. Die kritischen Tage einer Krankheit wurden nach damaliger Auffassung ebenfalls anhand der Konstellation von Mond und Gestirnen ermittelt, ebenso wie sich Seuchen und Epidemien durch astrologische Zeichen ankündigten.54 In der Humoralpathologie, die die konstituierende Grundlage der menschlichen Gesundheit bildete, wurden die vier Säfte zu den vier Triplizitäten des Tierkreises in Relation gesetzt.55 Zu den wichtigsten Schriften, mit denen sich auch zukünftige Mediziner auseinandersetzen sollten, gehörte das astrologische Grundlagenwerk Tetrabiblos des Ptolemäus, das bereits 1484 in lateinischer Übersetzung gedruckt56 und in der Frühen Neuzeit oft kommentiert wurde.57 Ebenfalls auf Ptolemäus ging der Almagest zurück, ein umfassendes Kompendium der griechischen Astronomie, das auf dem geozentrischen Weltbild beruhte.58 Ptolemäus hatte damit das bereits von Eudoxos von Knidos entwickelte und von Aristoteles erweiterte geozentrische Sphärenmodell zu universeller Gültigkeit gebracht,59 nach dem der Kosmos aus sieben Sphären, also konzentrischen Kugelschalen, bestand, auf denen die Planeten lagen. In mittelalterlichen Vorstellungen wurde der Fixsternhimmel durch einen bis drei konzentrische Kreise erweitert, die den Kristallhimmel, Feuerhimmel und Gott symbolisieren sollten.60 Die Schwäche dieses äußerlich durchaus stimmigen ptolemäischen Systems bestand jedoch in den tatsächlichen Umlaufzeiten der Planeten und deren Stillständen und Rückläufen. Zudem hatte man bereits in der Antike beobachtet, dass Venus und Merkur in einem geringeren Winkelabstand zur Sonne stehen mussten, da diese nur als Abend- und Morgenstern zu sehen waren.61 Allerdings war das ptolemäische Weltbild aufgrund seiner genauen Berechnungen dem Weltbild des Nikolaus Kopernikus (1473–1543) noch bei weitem überlegen und sollte erst um 1600 durch das tychonische System abgelöst werden, das auf der Verwendung von Ellipsenbahnen beruhte, die von Johannes Kepler (1571–1630) propagiert werden sollten. Unter den Schriften lateinischer Autoren war auch die zwischen 335 und 337 n. Chr. entstandene Mathesis des römischen Senators und Astrologen Julius Firmicus Maternus weit 54 Klaus Bergdolt, Petrarca und die Astrologie, in: Ders./Walther Ludwig (Hrsg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, 281–291, bes. 288. 55 Erich Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Wiesbaden 1964. 56 Liber Ptholomei quattuor tractatuum cum centiloquio eiusdem Ptholomei: et commento Haly (1484); Liber quadripartitus. Ptolemaei in IV. tractatus distinctus: [. . .], Ptolemaei centiloquium […] (1493). 57 Wolfgang Hübner, Astrologie in der Renaissance, 245. 58 Paul Kunitzsch, Der Almagest. Die Syntax mathematica des Claudius Ptolemäus in arabischlateinischer Überlieferung, Wiesbaden 1974. 59 Rudolf Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter, München 1992, 16ff. 60 Ebd., 19–21. 61 Ebd., 26.
Student an der medizinischen Fakultät 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
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verbreitet, ein acht Bände umfassendes Handbuch zur Astrologie.62 In Bologna und Padua gehörten zum Lernstoff der werdenden Mediziner zudem die im 13. Jahrhundert entstandenen Alfonsinischen Tafeln, die aus Tabellen zur Berechnung der Stellung von Sonne und Mond sowie der Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn bestanden.63 Besonderer Beliebtheit erfreute sich das in zahlreiche Sprachen übersetzte vier Bücher umfassende astronomische Handbuch Liber de Sphaerae des Johannes von Sacrobosco (1195–1256),64 in dem der sphärische Aufbau der Erde gemäß dem ptolemäischen Weltsystem, die Planetenbewegungen sowie der Auf- und Untergang von Sonne und Mond unter der Berücksichtigung der Klimazonen beschrieben wurden.65 Johannes von Sacrobosco bezog sich darin auch auf die von Ptolemäus entwickelte Epizykeltheorie, nach der die Planetenbahnen als Kreise gedeutet wurden.66 Zu den wichtigsten Lehrbüchern gehörte bis zum 15. Jahrhundert zudem die Theorica planetarum des Kaplans Papst Urbans IV. (1194–1264), Campanus da Novara (1220–1296), die in Padua als Einführung in die Kosmologie des Ptolemäus benutzt wurde67 und weitgehend auf dem Liber de Sphaerae des Sacrobosco beruhte, jedoch auch wertvolle Ergänzungen hinsichtlich der Kontinente und astronomischer Fragen lieferte.68 Besondere Wertschätzung genossen an den italienischen Universitäten noch immer die arabischen Autoren, darunter Abu¯ Ma‘sˇar (787–886), bekannt durch seine in De magnis coniunctionibus vertretene Konjunktionenlehre, die bereits im 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt worden war.69 Diese Grundzüge der Astrologie stellten damit auch eine Einführung in die Arithmetik, Geometrie und Astronomie dar, deren Inhalte im ersten Studienjahr der Medizin vermittelt wurden.70 Insbesondere in Bologna wurde die Astrologie überaus geschätzt, und die Bologneser Astrologen genossen in ganz Italien einen ausgezeichneten Ruf.71 Bereits im 15. Jahrhundert lehrten berühmte Vertreter ihres Faches an der Bologneser Universität, darunter Joannes de Fundis oder Giovanni Garzoni (1419– 62 Wolfgang Hübner, Astrologie in der Renaissance, 246–247; Hagall Thorsonn/Reinhard Stiehle (Hrsg.), Die Acht Bücher des Wissens – Mathesos libri VIII, Tübingen 2008. 63 Jos Chbas, The Diffusion of the Alfonsine Tables. The Case of the Tabulae resolutae, Perspectives on Science 10, 2002, 168–178. 64 Klaus Bergdolt, Petrarca und die Astrologie, 281–291, bes. 289–290. 65 Rudolf Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter, 28–30. 66 Ebd., 30–31. 67 Nancy Siraisi, Arts and Sciences at Padua. The Studium at Padua before 1350, Toronto 1973, 84f. 68 Rudolf Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter, 29. 69 Weiterführende Literatur bei Wolfgang Hübner, Astrologie in der Renaissance, 246 und 252. 70 Pearl Kibre/Nancy Siraisi, The Institutional Setting: the Universities, in: David C. Lindbergh (Hrsg.), Science in the Middle Ages, Chicago 1978, 135f. 71 Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos. Kunst und wissenschaftliches Ambiente in italienischen Städten des Mittelalters und der Renaissance, München 2010, 157–160.
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1505), der den Nutzen der Astrologie bei der Verhinderung von Katastrophen hervorhob. Ihre Berechnungen galten als besonders fortschrittlich und die jährlich vorgelegten Prognostika als äußerst präzise.72 In diesen Jahresprognosen wurden meist allgemeingültige Voraussagen mit Hinweisen auf Seuchen, Hungersnöte oder die zu erwartende Ernte gegeben, ohne dass ein persönlicher Bezug hergestellt wurde. Individual- oder Partikularprognosen berücksichtigten hingegen, oft auf dem Geburtsjahr, der Geburtszeit und dem Geburtsort beruhend, die individuelle, mikrokosmische Struktur des Menschen, wie etwa Körpersäfte und gesundheitliche Risiken aufgrund von Sternenkonstellationen zum Zeitpunkt der Geburt. Dafür berief sich der Astrologe auf den zwölf Symbole zählenden Zodiakus, also den Weg, den die Sonne durch die Sterne zurücklegte. Zusätzlich musste der genaue Stand der “Häuser”, denen eine bestimmte Funktion zugeschrieben wurde, zum gewünschten Zeitpunkt bestimmt werden. Da diese zwölf Häuser jedoch nicht vollständig die zwölf Tierkreiszeichen überschneiden, musste der Astrologe mithilfe von speziell konstruierten Hilfsmitteln, etwa Almanachen, exakt bestimmen, welcher Punkt des Tierkreises sich zum gegebenen Zeitpunkt erhob.73 Solche Prognosen74 hatten auch Einfluss auf die therapeutische Praxis in Form von Aderlasskalendern und die Wahl des Therapeutikums. Durch die lückenlos erhaltenen rotuli wissen wir noch heute, welche Professoren zur Zeit Tomasos in Bologna artes et medicinam unterrichteten und die Entwicklung des jungen Mannes beeinflussten.75 Den anatomischen Unterricht prägte von 1502 bis 1527 vor allem der kritische, und nicht zuletzt auch für seine Gewalttätigkeit bekannte Chirurg und Anatom Berengario da Carpi (1460– 1530), der in seiner 1552 postum erschienenen Schrift Commentaria cum additionibus super anatomiam Mundini davor warnen sollte, den antiken Autoritäten blindlings zu vertrauen und bereits 1530 verlauten ließ, er folge nur seiner experientia sensualis.76 1510 waren zudem der Aristoteliker und Averroist
72 Walther Ludwig, Zukunftsvoraussagen in der Antike, der frühen Neuzeit und heute, in: Klaus Bergdolt/Ders. (Hrsg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, 9–64; Daniel Schäfer, Hora incerta – Die Prognose des Todes in der Medizin der Renaissance, in: ebd., 223–240; Wolfgang Hübner, Astrologie in der Renaissance, 241–280; Klaus Bergdolt, Petrarca und die Astrologie, 281–292. 73 Anthony Grafton, Cardano’s Cosmos. The Worlds and Works of a Renaissance Astrologer, Cambridge/London 1999, 22–37. 74 Ebd., 38–55. 75 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 215ff. 76 Zu da Carpi vgl. Klaus Bergdolt, Zwischen “scientia” und “studia humanitatis”. Die Versöhnung von Medizin und Humanismus um 1500, Paderborn 2001, 36; Luigi Belloni, Jacopo Berengario da Carpi chirurgo e anatomico del Rinascimento, in: Paolo Rossi (Hrsg.), Il Rinascimento nelle corti padane : Societ e cultura : interventi, Bari 1977, 379–388.
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Alessandro Achillini (1461/63–1512)77 und der Astronom Ludovico Vitali (1475– 1554)78 an der medizinischen Fakultät tätig. Alessandro Achillini, dessen Bruder Giovanni Filoteo (1466–1538) ein bekannter Antikenkenner und begeisterter Sammler war,79 hatte in Bologna studiert, 1484 dort sein Studium abgeschlossen und lehrte abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Padua (1506–08), wohin er nach der Vertreibung der Bentivoglio geflohen war, in Bologna von 1487 bis 1512 Logik, medizinische Theorie und Naturphilosophie. Als Arzt und Anatom – er verfasste die Corporis humani anatomia (1516–1524) und die Anatomicae annotationes (1520)80 – bemühte sich Achillini um die Rekonstruktion authentischen antiken Textmaterials, vertrat in seiner Schrift De orbibus (1494) die These von der zentralen Stellung der Erde und favorisierte die homozentrische Sphärentheorie. Als überzeugter Averroist und Aristoteliker grenzte Achillini den Empiriker Aristoteles von dem “weltabgewandten” Platon ab. Zwischen dem jugendlichen, hochgewachsenen und bei Studenten äußerst beliebten Achillini und dem strengen Aristoteliker Pietro Pomponazzi (1462–1525), der ab 1511 ebenfalls an der Bologneser Alma mater lehrte, kam es in Bologna oft zu öffentlichen Disputen, an denen vielleicht auch der junge Tomaso teilgenommen haben mag. Achillini war für seine Argumentationsschärfe bekannt, weshalb in Bologna auch das Sprichwort kursierte: Aut diabolus aut Achillinus – Entweder der Teufel oder Achillini.81 1511 kommentierte Achillini Aristoteles’ De physico auditu, musste die Vorlesung jedoch wegen der kriegerischen Unternehmungen, die mit der kurzen Rückkehr der Bentivoglio einhergingen, unterbrechen. Als er
77 Umberto Dallari (Hrsg.), I rotuli dei lettori legisti ed artisti dello Studio bolognese dal 1384 al 1799, Bologna 1888, Band 1, 208: 1508–1511 (ad philosophiam ordinariam de sero); 1500– 1512 (ad lecturam medicinae ordinariam de mane). Zu Achillini vgl. Ladislao Münster, Alessandro Achillini anatomico e filosofo professore dello Studio di Bologna (1463–1512), Rivista di studi di scienze mediche e naturali 24, 1933, 7–22 und 54–77; Gabriele Baroncini, Forma e ruolo dell’esperienza nel sapere di un medico e filosofo naturale dello studio bolognese. Alessandro Achillini (1465–1512), in: Paolo Rossi (Hrsg.), Il Rinascimento nelle corti padane, 439ff.; Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 5, 37–49; Bruno Nardi, Saggi sull’aristotelismo padovano dal sec. XIV al XVI, Firenze 1958, 179–279; Andrea Cristiani, I lettori di medicina allo Studio di Bologna nei secoli XV e XVI, Bologna 1989, 5–6; Paul F. Grendler, The University of Bologna, the City, and the Papacy, 478– 479; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 156–157; Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 254–262. Zu einem zeitgenössischen Portrait Achillinis vgl. Marzia Faietti/Konrad Oberhuber (Hrsg.), Humanismus in Bologna, Taf. 27. 78 Umberto Dallari (Hrsg.), Rotuli, Band 1, 208. 79 Zu Giovanni Filoteo Achillini vgl. Marzia Faietti/Konrad Oberhuber (Hrsg.), Humanismus in Bologna, bes. 32–33. 80 Klaus Bergdolt, Zwischen “scientia” und “studia humanitatis”, 13. Die postum erschienenen Anatomiae annotationes orientierten sich jedoch an den traditionellen anatomischen Schriften Galens und Mondinos. 81 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 262.
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im August 1512 verstarb, wurde der Verlust mit dem Tod Cäsars oder Ciceros verglichen.82 Ludovico Vitali gehörte wie der Astrologe Giacomo Pietramellara (gest. 1536), der bis 1536 den Lehrstuhl für Astrologie in Bologna innehaben sollte, zu den herausragenden Bologneser Astrologen, der aktuelle astrologische Probleme wie die Planeteneinflüsse oder die Nativitäten kommentierte.83 Nach dem Studium der Philosophie und Medizin war Vitali 1504/05 Domenico Maria Novara auf den Lehrstuhl der Astronomie in Bologna nachgefolgt und sollte an diesem fünfzig Jahre lang wirken. Im Zuge der wachsenden Astrologiekritik von Seiten der Florentiner Gelehrten wie Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) versuchten die Bologneser Professoren ihre Traditionen zu verteidigen, darunter auch Agostino Nifo (1473–1538) in seiner 1504 erschienenen Schrift De nostrarum calamitatum causis, in der er für eine Reform der astrologischen Theorien plädierte, oder Pietro Pomponazzi (1462–1525), der 1517 im Tractatus de immortalitate animae die Unsterblichkeit der Seele in Frage stellte, wobei er deren Zusammensetzung auf einen sterblichen vegetativen und einen unsterblichen intellektuellen Teil zurückführte.84 Göttliche Wunder wurden auch in der kurz darauf erschienenen Schrift über die Verzauberungen, De naturalium effectuum admirandorum causis sive de incantationibus liber (1520), einer kritischen Prüfung unterzogen. Pomponazzi sprach sich für eine empirische Forschungsperspektive aus und betonte, dass sich christlicher Glaube und wissenschaftliche Betrachtungen nicht ausschließen müssten. Gegen Mitte des 16. Jahrhunderts sah die Astrologie jedoch auch in Bologna einem schleichenden Niedergang entgegen und bereits 1557 wurde ein Lehrstuhl für praktische Mathematik eingerichtet, in dem diese zwischen 1569 und 1572 aufgehen sollte.85
3.2
Der Prognostikant
Tomasos Studienzeit in Bologna fiel noch in die Blütezeit der Astrologie und mag daher auch erklären, weshalb die ersten belegbaren schriftlichen Hinterlassenschaften des jungen Arztes ausschließlich astrologischer Natur sind und das 82 AAB, Liber secretus, 1504–1575, n. 3, c. 19 (Nekrolog von Federico Gambalungis); Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 263; Gabriele Baroncini, Forma e ruolo dell’esperienza nel sapere di un medico e filosofo naturale dello studio Bolognese, 439–440. 83 Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 5, 241–244; Fabrizio Bnoli/Daniela Piliarvu, I lettori di Astronomia presso lo Studio di Bologna dal XII al XX secolo, Bologna 2001, 130; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 158. 84 Jill Kraye, Pietro Pomponazzi. Weltlicher Aristotelismus in der Renaissance, in: Paul Richart Blum (Hrsg.), Philosophen der Renaissance, Darmstadt 1999, 87ff.; Jürgen Wonde, Subjekt und Unsterblichkeit bei Pietro Pomponazzi, Stuttgart 1994. 85 Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 160.
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Interesse für astrologische Phänomene noch lange seine Schriften prägen sollte. Ein erstes Prognostikon für das Jahr 1513 verfasste der erst Neuzehnjährige laut des 1516 publizierten Pronosticon anni 1517 wohl bereits 1512.86 Am 13. März 1513 publizierte Tomaso zudem einige conclusiones, die er unter der Leitung von Panfilo Monti, einem der bekanntesten Schüler Alessandro Achillinis, angefertigt hatte.87 Bei der conclusio handelte es sich um einen wichtigen öffentlichen Disput, der meist einem Lehrauftrag an der Universität voranging und bereits einige Tage vorher per Manifest angekündigt wurde.88 In der Tat sollte Tomaso noch im gleichen Jahr auch eine eigene lectura philosophiae unter dem Namen philologus halten, möglicherweise, um die notwendige Summe für die kostspielige Promotion aufzubringen.89 Nach einem zeitgenössischen Bericht von 1572 gehörte Bologna nach Padua mit 45 bis 50 Scudi zu den teuersten Universitäten,90 während in Siena der Doktorhut bereits für 34 Scudi zu haben war und in Ferrara sogar für nur 28 Scudi. Aufgrund dieser hohen Kosten verließen die meisten Studenten die Universität schon als baccalaurij oder sogar ohne ihr Studium je beendet zu haben.91 Bereits 1514 sollte Tomaso ein weiteres Prognostikon vorlegen, das er dem Magistrato dei Savi widmete, dem Stadtrat von Ravenna, der nach Ende der venezianischen Herrschaft wieder an Einfluss gewonnen hatte.92 Die Zahl von sieben Mitgliedern des Stadtrats war während der venezianischen Besatzung konstant geblieben, erhöhte sich jedoch 1513 auf zwölf Mitglieder und bestand aus vier Rangstufen, wobei die letzte aus dem Volk gestellt wurde. 1517 sollte der 86 BMV, Misc. 507 (6): […] attamen velut in nostri pronostici anni 1513 diximus. 87 ASB, Riformatori dello Studio, b. 35, f. 4, c. 1157: Permissu invictissimi artistarum et medicorum Studij Bononiensis domini magistri Stephanij Strutij Parmensis rectoris carissimi sub egregio d. magistro Pamphilo Monte artium et medicine doctore. Thomas Philologus Ianothus Rhavennas de conclusionibus his dissertabit, Bononiae 1513. Die Präsentation fand am 10. März 1513 statt. Vgl. zum Text Alberto Serra Zanetti, L’arte della stampa in Bologna nel primo ventennio del Cinquecento, Bologna 1959, 258. 88 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 181–182. 89 Umberto Dallari (Hrsg.), Rotuli, Band 1, 6: Lecturae universitatis: unam lecturam philosophiae: M. Thomas Philologus Janothus ravennas. Zu den Kosten für eine Promotion vgl. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 178–180; zu alternativen Wegen, etwa durch einen Comes palatinus vgl. ebd., 180–186. 90 Biagio Brugi, Una descrizione dello Studio di Padova in un Ms. del secolo XVI del Museo Britannico, Nuovo Archivio Veneto 14, 1907, 72–88, bes. 75. Zu Kosten einer Promotion in Padua vgl. Richard Palmer, The Studio of Venice and Its Graduates in the Sixteenth Century, Trieste 1993, 31–34. 91 Konrad Rückbrod, Universität und Kollegium, 15. 92 BCS, 12–1–15 (50): Al munificentissimo et dela patria sua uno altro invictissi. senato romano genitor suo benemeritissimo. Vgl. zum Drucker Giustiniano Rubiera Frederick John Norton, Italian Printers 1501–1520. An Annotated List, with an Introduction, London 1958, 5–13, bes. 12; zur Funktion des Magistrato dei Savi vgl. Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie e forme di governo, in: Lucio Gambi (Hrsg.), Storia di Ravenna. Dalla dominazione veneziana alla conquista francese, 39–129, bes. 75ff.
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Vorsitzende Bernardo Rossi die Kompetenzen und den Einfluss des Rates jedoch wieder verringern und die Mitgliederzahl auf neun herabsetzen. Dieses in Bologna bei dem Drucker Giustiniano Rubiera 1514 publizierte Prognostikon trug den Titel Juditio de Thomaso Philologo Gianotho Ravennate de lo anno 1514 und umfasste nur zwei mit gotischen Lettern bedruckte Seiten. Bereits in diesem frühen Prognostikon nannte sich der junge Arzt “Thomas Philologus” – ein Name, den er sein ganzes Leben sowohl bei notariellen Dokumenten als auch in Druckwerken bevorzugen wird. Selbst nachdem er sich durch die Gunst des päpstlichen condottiere Guido Rangoni (1485–1539) “Rangone” hatte nennen dürfen, sollte er stets “Thomas Philologus Ravennas” den Vorzug geben.93 Die Verbindung der Begriffe philologus, philosophus und medicus wurden im Humanismus insbesondere auf die aristotelische Schrift De sanitate et morbo zurückgeführt. Im Disputa delle arti wurde das Verhältnis der artes zu den anderen Fakultäten, also der Jurisprudenz und der Medizin, erörtert94 und diskutiert, ob die Heilkunst nun eine Kunst (ars) oder vielmehr eine Wissenschaft (scientia) sei.95 Tomaso sollte sich zu diesem Punkt im Vorwort seiner diätetischen Schrift De vita hominis ultra 120 annos protrahenda96 äußern, wobei er beide Richtungen traditionell miteinander zu vereinbaren suchte.97 Sowohl ars als auch scientia seien, so Tomaso, dem Menschen in seinem Leben am meisten von Nutzen (quae vitae hominum praecipue conferunt), würden jedoch nur selten in einem Menschen gleichzeitig gefunden.98 In der zweiten Hälfte des 15. und insbesondere im 16. Jahrhundert bedeutete “Iatrophilie” die aktive Bemühung und sorgfältige Erschließung medizinischer Texte, die in der gattungsgemäß erforderlichen Argumentationsform verfasst worden waren.99 Tomasos Bemühen um eine kritische Quellenanalyse im Sinne des Arzt-Humanisten100 spiegelt
93 Zum medicus philologus vgl. Herbert Jaumann, Iatrophilologia. Medicus philologus und analoge Konzepte in der frühen Neuzeit, in: Ralph Häfner (Hrsg.), Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher Philologie, Tübingen 2001, 150–176. 94 Ebd., 154; zur Disputa delle arti vgl. Eugenio Garin (Hrsg.), La disputa delle arti nel Quatrocento. Testi editi ed inediti, Firenze 1947; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 128. 95 Nancy Siraisi, Renaissance Critiques of Medicine, Physiology, and Anatomy, in: Dies. (Hrsg.), Medicine and the Italian Universities, 1250–1600, Leiden/Boston/Köln 2001, 185– 202. bes. 190–192. Die Heilkunst wurde noch oft als ars mechanica verunglimpft, vgl. Klaus Bergdolt, Zwischen “scientia” und “studia humanitatis”, 21. 96 Zitiert wird im Folgenden aus der 1550 erschienenen Ausgabe. 97 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror : Girolamo Cardano and Renaissance Medicine, Princeton 1997, 50. 98 De vita hominis (1550), c. 1; zum Thema vgl. Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 50. 99 Herbert Jaumann, Iatrophilologia, 158ff. 100 Zum Bezug zwischen Arzt, Philologie und Humanismus vgl. Klaus Bergdolt, Venedig und die Wissenschaftssprachen, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 17, 1994, 69–78, bes. 73; Ders., Zwischen “scientia” und “studia humanitatis”, 10–11.
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sich auch in den zahlreichen Wörterbüchern wider, die sich in seiner Bibliothek befanden, darunter die linguistischen Werke von Herodian, Johannes Grammaticus Hispanus und Censorin sowie Werke des renommierten Lexikographen Ambrogio Calepino (1435–1510), der 1502 das erste lateinische Wörterbuch im modernen Sinn geschaffen hatte.101 Bologna galt noch zur Studienzeit Tomasos als Zentrum des Humanismus und viele Lehrstühle waren mit renommierten Philologen wie etwa mit den Gräzisten Paolo Bombace (1476–1527), Pietro Ipsilla da Egina, Romolo Amaseo (1489–1552) oder dem Bologneser Sebastiano Corradi da Arceto (1510–1556) besetzt worden.102 Im Juditio befasste sich der junge Tomaso, der darin auch auf seinen Lehrauftrag an der Universität Bezug nahm,103 insbesondere mit der Zukunft seiner Heimatstadt Ravenna, die nur zwei Jahre zuvor nach der Schlacht von Ravenna (1512) von den Franzosen geplündert worden war. Die Republik Venedig hatte sich unter dem Dogen Francesco Foscari (1423–1457)104 zunehmend auf ihre Ausdehnung auf die Terraferma konzentriert und war im 15. Jahrhundert zur aggressivsten und dynamischsten Macht Italiens geworden. Um diesem Expansionsstreben Einhalt zu gebieten, hatte sich wie bereits erwähnt 1508 eine europäische Allianz um Frankreich, den Kaiser und den Papst gegen Venedig gebildet. Nachdem die Liga von Cambrai in der Schlacht von Agnadello (1509) einen Großteil der venezianischen Armee vernichtend geschlagen hatte, wurde das gesamte Gebiet der Romagna von militärischen Auseinandersetzungen durchzogen, bei denen Venedig schwerwiegende Verluste hinnehmen und letztendlich auch seine Vormachtstellung in Oberitalien verlieren sollte. Schließlich bildete sich durch das Eingreifen Papst Julius’ II. 1511 die Heilige Liga mit den Verbündeten England, Spanien und dem Heiligen Römischen Reich und wandte sich gegen die Vormachtstellung der Franzosen in Oberitalien. Auch Ravenna, die letzte Bastion des Kirchenstaates, sollte von den feindlichen Übergriffen nicht verschont bleiben: Nach der Eroberung Bolognas zogen die Franzosen mit dem Herzog von Ferrara, Alfonso I. d’Este (1476–1534), im März des Jahres 1512 Richtung Ravenna und begannen mit der Belagerung der Stadt, die von den Truppen Julius’ II. verteidigt wurde. Verstärkt wurde die päpstliche Streitmacht wieder durch die Soldaten des Vizekönigs von Neapel, Rmon Folch de Cardona (1467–1522). Während der Belagerung wurde die Verteidigung 101 DBI, s. v. a. Calepino, Ambrogio, detto il Calepino. 102 Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 272–299; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 229–231; Marzia Faietti/Konrad Oberhuber (Hrsg.), Humanismus in Bologna, 19–22. 103 BCS, 12–1–15 (50): Facto in Bologna dal erudite delle scientie e medicina // professore Thomaso Philologo Gianotho da Ravenna delle future cose. 104 Dennis Romano, The Likeness of Venice. A Life of Doge Francesco Foscari, 1373–1457, New Haven 2007.
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Abb. 5: Juditio de Thomaso Philologo Gianotho Ravennate delo anno 1514. Tomaso beschäftigt sich in diesem Prognostikon mit der Zukunft seiner Heimatstadt Ravenna, die 1512 von den Franzosen geplündert worden war.
Ravennas von den mächtigen und einflussreichen Familien Rasponi und Grossi organisiert, wobei die alten Konflikte zeitweise zum Erliegen kamen, sich aber in den folgenden Jahren wieder verschärfen sollten.105 Nach schweren Gefechten schlug die französische Armee unter dem Herzog von Nemours, Gaston de Foix (1489–1512), die spanische Armee am 11. April 1512 bei Ravenna vernichtend.106 Die Schlacht gehörte damit zu den blutigsten der Italienischen Kriege: Mehr als 13.000 spanische und französische Soldaten starben auf dem Schlachtfeld, 105 Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 39–129, bes. 42ff. 106 Ebd., 39ff.; Giovanni Ricci, La lenta evoluzione del quadro urbanistico, 147–148.
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darunter auch Gaston de Foix, dessen mit goldenen Bändern geschmückte Totenbahre von Fanfarenklängen, den Insignien des Papstes und jenen des Vizekönigs von Spanien begleitet wurde.107 Die spanische Armee wurde vollständig aufgerieben, Ravenna geriet kurzzeitig unter französische Herrschaft und wurde von den feindlichen Truppen geplündert. Die vier Abteien wurden ihrer Nutztiere, Gerätschaften, Vorräte, Wertgegenstände und Kunstschätze beraubt und Chronisten berichteten, sogar die Sonne habe durch das Gemetzel, dem auch Tausende von Zivilisten zum Opfer gefallen waren, blutgetränkt geschienen.108 Bereits am 19. April zog sich die französische Armee, wahrscheinlich auf Betreiben Kardinal Giovanni de’ Medicis (1475–1521), Richtung Mailand zurück,109 jedoch waren die Folgen für die lokale Bevölkerung dramatisch und lassen sich noch heute an den Taufbüchern ablesen. Waren die Geburten vorher relativ stabil geblieben, so nahmen diese nach der Schlacht um fast siebzig Prozent ab.110 Da viele tausend Leichen nicht rechtzeitig begraben worden waren, kam es zu einer verheerenden Epidemie, der viele der Überlebenden zum Opfer fielen, und zu einer dramatischen Hungersnot aufgrund von Engpässen in der Versorgung.111 Auch für Tomasos Familie hatte dieses Ereignis weitreichende Auswirkungen,112 da sein alter Vater von den feindlichen Übergriffen der plündernden Franzosen nicht verschont blieb und Giovanbattista, Tomasos geliebter Bruder (dilectissimo fratello), bei den Auseinandersetzungen ebenfalls schwer verletzt wurde.113 Auch die Reorganisation des öffentlichen Lebens gestaltete sich in Ravenna nach diesem Ereignis als schwierig, denn die öffentlichen Kassen waren leer. Die Klöster sowie die meisten wohlhabenden Bürger waren fast vollständig ihrer finanziellen Ressourcen beraubt. Aus Geldmangel wurden daher nur die notwendigsten Restaurierungsarbeiten durchgeführt. Noch 1572 waren die erlittenen Schäden nicht vollständig behoben worden, weshalb der Dominikanermönch Serafino Razzi, der zu diesem Zeitpunkt Ravenna bereist hatte, in seinem Tagebuch vermerkte: Die Bauten Ravennas bestechen durch ihr Alter und ihre Größe, und doch beseitigt man (noch immer) die Schäden des Sacco, den ich oben erwähnt hatte.114 107 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 2, 153. 108 Alfonso Corradi (Hrsg.), Annali, Band 2, 23–24. 109 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 2, 133; Dante Bolgnesi (Hrsg.), Ravenna in et veneziana, 31–67. 110 Dante Bolognesi, Demografia e popolamento nel territorio ravennate (secoli XVe XVI), in: Ders. (Hrsg.), Ravenna in et veneziana, 139–154, bes. 152; Ders., Le vicende demografiche, 637–653, bes. 638–639. 111 Giovanni Ricci, La lenta evoluzione del quadro urbanistico, 148. 112 Thomas F. Arnold (Hrsg.), The Renaissance at War, New York 2006; zur Stellungnahme Tomasos vgl. BCS, 12–1–15 (50). 113 BCS, 12–1–15 (50). 114 Guglielmo di Agresti (Hrsg.), Serafino Razzi, Diario di viaggio di un ricercatore (1572),
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Im Februar 1513 war der amtierende Papst Julius II. gestorben, worauf Venedig umgehend ein Bündnis mit dem ehemaligen Gegner Frankreich schloss. Am 19. März bestieg Giovanni de’ Medici115 im Alter von 37 Jahren als Papst Leo X. den Stuhl Petri und die florentinische Familie der Medici, die erst 1512 nach ihrer Vertreibung (1494) infolge der Intrigen Girolamo Savonarolas (1452–1498) wieder in ihre Heimat zurückgekehrt war, sollte dadurch fast zwei Jahrzehnte das politische Geschehen Italiens bestimmen. Am 6. Juni 1513 schlugen die Schweizer die Armee des französischen Königs Louis XII. bei der Schlacht von Novara, worauf die Franzosen vorübergehend die Vormachtstellung in Oberitalien verloren. Im gleichen Jahr wurde die italienische Bevölkerung auch von mehreren Naturkatastrophen mit dramatischen Folgen bedroht.116 Im Juditio kündigte Tomaso daher auch für das folgende Jahr 1514 Seuchen, Überschwemmungen, Trockenheit und Erdbeben an, die sich laut Tomaso jedoch bereits im August unter dem Tierkreiszeichen des Löwen und dem Pontifikat des neuen Papstes in dauerhaften Reichtum (permanente richezze) verwandeln sollten.117 Kurz darauf veröffentlichte Tomaso in Bologna noch ein weiteres bedrucktes Flugblatt mit dem Titel Pronostico sopra la significatione del mostro nato a Bologna: e nel Judicio suo del presente anno da lui pronosticato, das er dem seit 1512 fungierenden Erzbischof von Bologna widmete, Kardinal Achille Grassi (1456–1523).118 Der gebürtige Bologneser Grassi war seit 1506 Bischof von Citt del Castello und hatte sich seit 1508 für den Papst auf diplomatische Missionen nach Frankreich, in die Schweiz und nach Ungarn und Böhmen begeben. 1511 war er von Julius II. zum Kardinal von Santa Maria in Trastevere erhoben worden. Durch eine Widmung an einflussreiche Eliten wie Grassi erhoffte sich Tomaso wohl Vergünstigungen und Fürsprachen für eine zukünftige Karriere,
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Pistoia 1971, 83: gli edifici di Ravenna rattengono della loro antichit e grandezza, e tuttavia si vanno riparando le rovine del sacco sopra nominato. Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance und der Glaubensspaltung von der Wahl Leos X. bis zum Tode Klemens’ VII. (1513–1534). 1. Abteilung: Leo X. (Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters 4/1), 5Freiburg 1923; Jonathan W. Zophy, A Short History of Renaissance and Reformation: Europe Dances over Fire and Water, Englewood Cliffs 1996. Alfonso Corradi (Hrsg.), Annali, Band 2, 23–24. BCS, 12–1–15 (50). Alberto Serra-Zainetti, L’arte della stampa in Bologna nel primo ventennio del Cinquecento, 258; zur lateinischen Fassung vgl. Ottavia Niccoli, Profeti e popolo nell’ Italia del Rinascimento, Bari 1987, 79ff., 195 und 209ff.; zu Achille Grassi vgl. Lambert Surhone et al. (Hrsg.), Achille Grassi, Saarbrücken 2010; BBKL, s.v.a. Grassi, Achille. Bereits im Juditio hatte sich Tomaso auf Grassi bezogen. Auch in den folgenden Prognostika wird Grassi bei den Vorhersagen stets berücksichtigt.
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vielleicht sogar eine Professur oder eine vielversprechende Laufbahn im Dienst einer hochgestellten Persönlichkeit des Klerus.119 Der Anlass für Tomasos Prognostikon war eine reale “Monstergeburt” gewesen, die sich kurz zuvor in Bologna ereignet hatte. Nachrichten von Monsterund Wundergeburten, also Beschreibungen von Neugeborenen mit seltenen körperlichen Abnormitäten, erfreuten sich im 16. und 17. Jahrhundert wachsender Beliebtheit und wurden nicht selten als göttliche eschatologische Zeichen interpretiert.120 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden diese Naturphänomene auch auf hoffärtiges Verhalten oder sogar die Kleidermode der Gegenreformation zurückgeführt.121 Bereits 1512 hatte es eine Monstergeburt in Ravenna gegeben, 1513 in Rom und im Januar des Jahres 1514 auch in Bologna:122 Die Tochter eines Gärtners namens Domenico Malatendi in Marano, einem Landsitz vor den Toren Bolognas, war nach Aussage von Chronisten mit zwei Gesichtern, zwei Mündern, drei Ohren und keiner Nase zur Welt gekommen. An der Spitze des Kopfes befand sich eine rötliche Kruste, die einer Vulva geglichen haben soll.123 Am 9. Januar wurde das Mädchen, das bereits vier Tage später sterben sollte, in der Kirche von San Pietro in Bologna auf den Namen Maria getauft. Die Geburt Maria Malatendis war gemäß der Chronisten von schrecklichen, unheilverkündenden Vorzeichen begleitet gewesen, darunter einem verheerenden Brand am Fondaco di Rialto am 10. Januar 1514 in Venedig, unmittelbar gefolgt von rätselhaften Himmelserscheinungen am 11. Januar. Tomaso selbst sah diese Monstergeburt in Verbindung mit einer ungünstigen Konjunktion von Saturn und Jupiter ebenfalls als unheilverkündendes Vorzeichen, ja sogar als das letzte Zeichen drohender Katastrophen, die er bereits im Juditio angekündigt hatte: Epidemien, Erdbeben und Kriege.124 Das Flugblatt enthielt jedoch auch eine Aufforderung an den neu gewählten Papst Leo X. und den Kaiser, Italien vor den Gefahren des immer bedrohlicher werdenden Os119 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 222–225. 120 Janis L. Pallister (Hrsg.), Ambroise Par, On Monsters and Marvels, Chicago 1982; Lorraine Daston/Katharine Park, Wonders and the Order of Nature, 1150–1750, New York 1998; Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007, 191; Robert Jütte, Im Wunder vereint: eine spektakuläre Mißgeburt im Ghetto (1575), in: Uwe Israel et al. (Hrsg.), Interstizi. Culture ebraico-cristiane a Venezia e nei suoi domini dal medioevo all’et moderna, Roma 2010, 512–540. 121 Gundula Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel. Modekritik in Wort und Bild 1150–1620, Marburg 2002. 122 Ottavia Niccoli, Profeti e popolo, passim. 123 Ottavia Niccoli, Profeti e popolo, 78–86; Lorraine Daston/Katharine Park, Wonders and the Order of Nature, 188–252; Ottavia Niccoli, Il mostro di Ravenna: teratologia e propaganda nei fogli volanti del primo Cinquecento, in: Dante Bolognesi (Hrsg.), Ravenna in et veneziana, 245–277. 124 Lateinische Fassung (vgl. Ottavia Niccoli, Profeti e popolo, 79ff., 195 und 209ff.): strages malignas […] gravissimam pestem […] lue […] terremotus […] bella.
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manischen Reichs zu schützen, sowie die Hoffnung auf ein wiederkommendes goldenes Zeitalter (aurea aetas):125 Fixa manet summo si nunc clementia caelo, u vertant in o, p ac gemino vel a sidera iungant, ut sacro una horum is fungi diademate posit: aurea tunc aes; in pace et cuncta regentur.
Im vorlesungsfreien August und September 1514 kehrte Tomaso nach Ravenna zurück, wo er ein weiteres Prognostikon für das kommende Jahr (Pronosticon anni 1515) verfasste und noch im gleichen Jahr bei dem Drucker Giustiniano Rubiera in Bologna publizierte. Eine Ausgabe in volgare mit dem Titel Pronostico del anno 1515, die Tomaso ebenfalls in Ravenna am 4. September 1514 niedergeschrieben hatte, erschien bei Pecin Rubiera im Oktober 1514.126 Diese Prognostika waren nun nicht mehr Achille Grassi, sondern Kardinal Giulio de’ Medici (1478–1534) gewidmet, dem späteren Papst Clemens VII. (Pontifikat 1523–1534),127 der auch den polemischen Satiriker Pietro Aretino (1492–1556) fördern und ihm 1517 in Rom zu einer Beschäftigung und Zugang zum päpstlichen Hof verhelfen sollte.128 Das vorliegende Prognostikon ist diesmal in Form eines fiktiven Dialogs zwischen dem Philologus (d. h. Tomaso selbst), dem delischen Apoll und der Seherin Sibylle von Erythrai (Erithrea) verfasst. Im Zuge der Platonrezeption hatte sich diese Form der Gestaltung zunehmender Beliebtheit erfreut, blieb jedoch für Prognostika ungewöhnlich.129 Erstmals war sie 1495 von Antonio Maniglio und Luca Gaurico (1476–1558) für das Prognostikon Apollinei spiritus axiomaticum pronosticum ab anno 1515 usque ad annum 1520 gewählt worden.130 In inhaltlicher Sicht befasste sich Tomaso mit den Qualitäten der vier Jahreszeiten, der Luft und den Auswirkungen bevorstehender Kriege, wobei er Monstergeburten als untrügliches Zeichen interpretierte und sich schließlich unter bestimmten astrologischen Konstellationen (Mars, Sol, Venus, Merkur, 125 Ottavia Niccoli, Profeti e popolo, 80. Die Herrschaft Leos X. stand nach damaliger Auffassung unter einer besonders günstigen Sternenkonstellation, was auch durch das bildliche Programm verdeutlicht wurde, vgl. Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 335–336. 126 BCS, 12–1–15 (55): Allo illustr. et uno altro: come referira delio: // divino Iove di Bologna e dello exarchato de Ravenna Iulio di // Medici dignis.mo legato. Statt “1514” heißt es jedoch fälschlicherweise “1515”. Vgl. zu den Druckern Francesco und Pecin de Rubiera Frederick John Norton, Italian Printers, 12–13. 127 BCS, 12–1–15 (56). 128 Giulio de’ Medici widmete Tomaso auch das folgende Prognostikon für das Jahr 1516, in dessen Anhang sich eine Tabelle mit Angaben zum Mondstand befindet, vgl. BCS, 12–1–15 (57). Das Prognostikon wurde im Oktober 1515 in Bologna gedruckt. 129 Bodo Guthmüller/Wolfgang G. Müller (Hrsg.), Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance, Wiesbaden 2004, bes. 18, 165. 130 Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 5, 481.
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Luna) geborenen Menschen zuwandte, die mit bestimmten Berufsgruppen verbunden wurden. Er beschäftigte sich mit der Zukunft der bedeutenden Städte Italiens (Rom, Venedig, Bologna, Florenz, Ferrara und Ravenna) und der Potentaten, die augenblicklich das politische Geschehen bestimmten. Tomaso prophezeite Unwetter, Quartan- und Terzianfieber, Seuchen und kriegerische Auseinandersetzungen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dabei einer aufstrebenden Persönlichkeit am päpstlichen Hof, der er eine glänzende Zukunft und langwährenden Ruhm vorhersagte: dem venezianischen Kardinal Domenico Grimani (1461–1523), der in Tomasos Leben noch eine entscheidende Rolle spielen sollte.131
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Doktor der artes und der Medizin
Das Jahr 1516 sollte für Tomaso tiefgreifende Veränderungen bereithalten. Sein Vater war im Alter von über achtzig Jahren verstorben und seine Studienzeit neigte sich dem Ende zu. Bevor sich Tomaso jedoch medicus nennen durfte, musste er sein Wissen in einer mehrtägigen Prüfung unter Beweis stellen: der Promotion, die er am 21. August 1516 im Alter von 23 Jahren ablegte.132 Dies entsprach den 1502 erneuerten Statuten der Universität, nach denen der Prüfling mindestens fünf Jahre studiert haben musste und bei der Examinierung nicht jünger als zwanzig Jahre sein durfte.133 Die Prüfungen zogen sich über mehrere Tage hin und folgten einem genau festgelegten Rhythmus. Zuerst musste der Kandidat, der in den artes und der Medizin promoviert werden wollte, das Collegium medicum über das gewünschte Prüfungsthema unterrichten. Während der Vorbereitungen wurde er von drei bis zehn promotores unterstützt, die er entweder selbst gewählt hatte oder die ihm vom Collegium zur Seite gestellt worden waren. Einer von Tomasos promotores war laut des liber doctorum der Bologneser Astrologe und Mediziner Ludovico Vitali (geb. 1475), mit dem der junge Arzt bezüglich einer Sintflutprognose acht Jahre später noch in Konflikt geraten sollte.134 Als weitere promotores wirkten drei Professoren für Medizin, 131 BCS, 12–1–15 (55), c. 6r. 132 ASB, Liber doctorum, 1518, c. 2: Die vigesimo primo augusti 1516. Fuit doctoratus d. magister Thomas philologus Janothus filius de ravena in artibus et medicina. Vgl. auch Giovanni Bronzino, Notitia doctorum, sive Catalogus doctorum qui in Collegijs philosophiae et medicinae Bononiae laureate fuerunt ab anno 1480 usque ad annum 1800, Milano 1962, 5; zum Doktorat an der Universität vgl. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 172–180; Francesco Piovan, Lauree edite e inedite in un diario padovano della prima met del Cinquecento, Quaderni per la storia dell’Universit di Padova 30, 1997, 95– 109, bes. 98–99; zu Bologna vgl. Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 177–178. 133 Ebd., 135–136. 134 Fabrizio Bonoli/Daniela Piliarvu (Hrsg.), I lettori di astronomia presso lo studio di Bologna
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die bereits 1510, als Tomaso sein Studium begonnen hatte, an der Fakultät der artes unterrichtet hatten: Federico de Gambalungis, der den Nekrolog auf Alessandro Achilleni gehalten hatte, Hieronymus de Bombice und Galeotis de Becadellis.135 Als Rektor fungierte im Jahr 1516/17 Octavianus Buderius de Carpo.136 Diesen promotores oblag auch die Aufgabe, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem der Kandidat für die Prüfung bereit war. Dabei musste der Prüfling darlegen, die geforderte Zeit studiert zu haben und, insbesondere im Bereich der Medizin, bescheinigen, mit einem Arzt zusammengearbeitet zu haben. Die Examinierung bestand letztendlich aus zwei Prüfungen, die in Bologna erst in der Kirche von San Pietro und danach in San Petronio stattfanden. Zuvor erhielt der Kandidat die innerhalb von 24 Stunden zu bearbeitenden Prüfungsfragen, im Fall der artes und der Medizin aus Texten des Aristoteles, dem Canu¯n des Avicenna, den Werken Galens oder den Aphorismen des Hippokrates. Am nächsten Tag musste der Kandidat in einer disputatio seine These gegenüber dem Collegium medicum verteidigen, welches sich schließlich zur eingehenden Beratung zurückzog. Nach der zweiten Examinierung folgte eine feierliche öffentliche Zeremonie, bei der der angehende Arzt in Anwesenheit von illustren Persönlichkeiten wie dem Bischof, seinen promotores, Mitgliedern des Collegiums, seiner Familie und Freunden die Insignien seiner neuen Würde erhielt, darunter Bücher, einen Goldring und das charakteristische schwarze Doktor-Barett. Danach wurde er von den doctores und Studenten feierlich nach Hause begleitet. Beschlossen wurden diese Feierlichkeiten oft durch ein aufwendiges Festbankett, an dem bis zu 400 Personen teilnehmen konnten.137 Auch wenn eine universitäre Ausbildung mit sehr hohen finanziellen Kosten verbunden war, stellten Bildung und Gelehrsamkeit in der Renaissance wichtige Karriereressourcen dar, und eine universitäre Ausbildung war somit der erste Schritt für eine erfolgreiche berufliche Zukunft: Fortan stand so auch Tomaso, nun philosophus et medicus, sowohl eine vielversprechende Karriere als praktizierender Arzt offen als auch die Möglichkeit, diese Tätigkeit mit einer Lehre der artes an der Universität zu verbinden, die ihn nach einer eher mäßig bedal XII al XX secolo, Bologna 2001, 130; Hubertus Fischer, Grammatik der Sterne und das Ende der Welt. Die Sintflutprognose von 1524, in: Hans-Georg Soeffner/Jo Reichertz, Kultur und Alltag, Göttingen 1988, 191–228, bes. 203, 209. Zu Tomaso Rangones Sintflutprognose vgl. Kap. VI, 6.4. 135 Umberto Dallari (Hrsg.), Rotuli, Band 2, 14. Hieronymus de Bombice (vgl. Andrea Cristiani, I lettori di medicina allo Studio di Bologna nei secoli XVe XVI, 11–12) hielt 1505–1527 medizinische Vorlesungen, Galeotis de Becadellis (ebd., 10) lehrte von 1503–1511 (ad lecturam medicinae in nonis) und von 1512–1520 (ad lecturam medicinae ordinariam). Als weiterer promotor wird noch der Pole Matthias Sepravicius (Matteo Polono) genannt, der 1509–1518 Chirurgie unterrichtete (ebd., 41). 136 Umberto Dallari (Hrsg.), Rotuli, Band 2, 14. 137 Francesco Piovan, Studenti e citt nel diario di Giovanni Antonio da Corte, 342.
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zahlten Lehre der Logik und Moralphilosophie vielleicht an einen der renommierten Lehrstühle für medizinische Theorie und Praxis geführt hätte. Alternativ konnte er auch ausschließlich als Professor für Moralphilosophie an der Fakultät der artes wirken.138 Insbesondere Absolventen der Medizin übten ihren Beruf jedoch meist einige Jahre aus, bevor sie sich ausschließlich der Lehre widmeten,139 denn ein studierter Arzt genoss ein außergewöhnliches Sozialprestige und zählte insbesondere die zahlungskräftige Mittel- und Oberschicht zu seinen Patienten. Durch sein weitreichendes Wissen, das über die Grenzen seiner Spezialisierung hinausreichte, konnte er Mäzene und Patienten beeindrucken, weshalb viele Ärzte daher auch oft als Berater an Höfen tätig waren. Weniger solvente Bevölkerungsschichten nahmen dagegen meist die Dienste eines Handwerkschirurgen oder Empirikers in Anspruch, der jedoch in praktischer Hinsicht oft dem studierten Arzt überlegen sein konnte.140 Trotz dieser vielversprechenden Aussichten war eine universitäre Ausbildung keine Garantie für beruflichen Erfolg: Der Arzt Giovanni Battista Pelegrini etwa, der aus einer Bologneser Adelsfamilie stammte und seine gesamte akademische Karriere in seiner Heimatstadt verbringen sollte, konnte laut Aussage seines Freundes Girolamo Cardano kaum seine Familie ernähren.141 Auch Tomaso sollte sich für die praktische Ausübung seiner Tätigkeit entscheiden und beschloss daher, der Universität vorerst den Rücken zu kehren. Bereits wenige Tage nach seiner Promotion kehrte er für kurze Zeit in seine Geburtsstadt zurück, möglicherweise, da nach dem Tod seines Vaters noch Nachlassangelegenheiten zu regeln waren. Eine vielversprechende Zukunft sah Tomaso jedoch nicht in der Provinzstadt Ravenna, wo die politischen Unruhen zwischen Guelfen (guelfi) und Ghibellinen (ghibellini) wieder zugenommen hatten und sich der Konflikt durch die Intrigen der skrupellosen Familie Rasponi verschärft hatte, die keine Umwege scheute, ihr Vermögen durch Morde zu vermehren.142 Tomaso begab sich vielmehr in jene Stadt, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts als Zentrum des Mäzenatentums galt und bereits die Karriere zahlreicher berühmter Künstler, Dichter, Historiker, Astrologen und Ärzte begründet und befördert hatte: nach Rom. 138 Jerome J. Bylebyl, The School of Padua, 335–370; Carlo Maccagni, Le scienze nello studio di Padova e nel Veneto, in: Girolamo Arnaldi/Manlio Pastore Stocchi (Hrsg.), Storia della cultura veneta: Dal primo quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1981, 155–171. 139 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 160; Nancy Siraisi, History, Medicine, and the Traditions of Renaissance Learning, 6–7. 140 Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1991, 18–19; Sabine Sander, Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe, Göttingen 1989. 141 Nancy Siraisi, History, Medicine, and the Traditions of Renaissance Learning, 8. 142 Zur politischen Situation in Ravenna ab 1516 vgl. Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 85ff.
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IV.
Rom: im Dienst des Kardinals
4.1
Eine aussichtsreiche Position
Noch in Ravenna schloss Tomaso am 17. September 1516 einen Vertrag mit einem Mann namens Cesare de Franchini ab,1 der ihn auf dem beschwerlichen und nicht ungefährlichen Weg2 nach Rom begleiten sollte. Die fast 300 Kilometer lange Strecke legte der junge Arzt vermutlich zu Fuß oder zu Pferd zurück. Nach Rom gelangte der Reisende zu dieser Zeit über die gut befestigten römischen Konsularstraßen, die Via Appia, Flaminia oder Aurelia, die noch heute das Verkehrssystem der italienischen Hauptstadt bestimmen.3 Von Ravenna aus reiste Tomaso erst an der Küstenlinie der Adria entlang bis nach Rimini, dem einstigen Herrschaftsgebiet der Familie Malatesta, das 1509 ebenfalls unter die Ägide des Kirchenstaats gefallen war. Danach musste sich der Reisende landeinwärts wenden und seinen Weg auf der Via Flaminia4 fortsetzen. Von Loreto aus führte der Weg durch hügelige und pittoreske ländliche Landschaften5 über die kleinen Ortschaften Foligno, Spoleto, Castelnuovo und Narni und vereinigte sich kurz nach dem Ort La Storta mit der geruhsameren Via Cassia, die bevorzugt von Reisenden aus dem Norden genutzt wurde. Wir können heute nicht mehr sagen, auf welche Weise Tomaso diese fast zwei Wochen dauernde Reise wahrnahm. Betrachtete er die vorbeiziehende Natur vielleicht mit der gleichen 1 ASR, Notarile, Prot. 127, c. 27v : […] spect. et exc. Dominus Thomas philologus filius q. Ser Petri Pauli de Zanottis civis Ravennae secum acciperit pro famulo et servitore Cesarem de Franchinis pro ducendo eum, secum Romam, et ubi voluerit, dictus Cesar promisit indemnem conservare ipsum Dominum Thomam de quacumque ablatione, et damnis etc. 2 Hermann Wiedmann, Montaigne und andere Reisende der Renaissance, Trier 1999. 3 Jürgen Krüger/Martin Wallraff, Luthers Rom. Die Ewige Stadt in der Renaissance, Darmstadt 2010, 14. 4 Gerhard Binder, Von Rom nach Rimini. Eine Reise auf der Via Flaminia, Mainz 2008; Giuseppe Tomassetti, La campagna romana, antica, medioevale e moderna, Firenze 1979, 255– 441; Arnold Esch, Wege nach Rom: Annährungen aus 10 Jahrhunderten, München 2004. 5 Die charakteristische Landschaft um Rom wurde 1547 auf der von Eufrosino della Volpaia gestochenen Karte La campagna Romana detailgetreu dargestellt.
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Hingabe wie fünfzig Jahre zuvor Papst Pius II. (1405–1464) in seinen Commentarij6 und zeigte er sich interessiert an efeubewachsenen Bogengängen, römischen Zisternen und den Ruinen römischer Gutshöfe, die die Wegesränder säumten? Oder war Tomaso vielleicht gewillt, aus Angst vor Räubern wie Michel de Montaigne so schnell wie möglich die Ewige Stadt zu erreichen? Vielleicht befiel ihn auch wie dreihundert Jahre später Johann Wolfgang von Goethe (1749– 1832) oder Johann Gottfried Seume (1763–1810) eine rätselhafte Unruhe, die stetig zunahm, je näher der Reisende der Hauptstadt kam.7 Wie Tomaso hatten sich zu dieser Zeit viele ehrgeizige Astrologen, Ärzte und Gelehrte in der Hoffnung auf eine lukrative Position oder Beschäftigung nach Rom begeben, da sich dort keine eigene städtische Gelehrtenschicht hatte ausbilden können.8 Als Zugezogene waren diese Gelehrten oft ausschließlich von der Gunst der jeweiligen Dienstherren abhängig und mussten ihr Wirkungsfeld nach deren Tod oft verlassen, wenn sich keine andere Beschäftigung finden ließ.9 Tomaso hatte bereits einen einflussreichen neuen Förderer gefunden: den venezianischen Kardinal, Patriarchen von Aquileia und Diplomaten am Hof Leos X. (1475–1521), Domenico Grimani (1461–1523).10 Möglicherweise war eine erste Begegnung zwischen dem jungen Arzt aus Ravenna und dem Kardinal bereits während Tomasos Studienzeit, vielleicht sogar durch die Vermittlung Giulio de’ Medicis, in Bologna erfolgt. Grimani befand sich nämlich als einer von 22 Kardinälen Ende des Jahres 1515 im Gefolge des neuen Papstes, der am 1. September den französischen König in der Universitätsstadt getroffen hatte.11 Der aus einem vornehmen venezianischen Kaufmannsgeschlecht stammende Grimani war wie Tomaso selbst ein überzeugter Aristoteliker12 und Thomist und
6 Arnold Esch, Landschaften der Frührenaissance. Auf Ausflug mit Pius II., München 2008. 7 Vgl. zu Seume Inge Stephan, Johann Gottfried Seume. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Spätaufklärung, Stuttgart 1973. 8 John F. d’Amico, Renaissance Humanism in Papal Rome. Humanists and Churchmen on the Eve of the Reformation, Baltimore/London 1983, 62f.; Peter Partner, Renaissance Rom, 1500–1559: a Portrait of a Society, Berkeley/Los Angeles 1976; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 343; Richard Palmer, Medicine at the Papal Court in the Sixteenth Century, in: Vivian Nutton (Hrsg.), Medicine at the Courts of Europe, London 1990, 49–78. 9 John F. d’Amico, Renaissance Humanism in Papal Rome, 38ff.; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 343. 10 Viele Ärzte waren im Dienst eines Kardinals tätig, dessen Hausstand im Durchschnitt mehr als 100 Personen umfasste, vgl. Richard Palmer, Medicine at the Papal Court in the Sixteenth Century, 49–78, bes. 51. Zu Grimani siehe auführlich die umfassende Studie von Pio Paschini, Domenico Grimani cardinale di S. Marco (1523), Roma 1943; ferner Luca Bianchi (Hrsg.), G. Burcardo, Alla corte di cinque papi. Diario 1483–1506, Milano 1988, 226, 407, 431, 465ff. Zum Kardinal in der Renaissance vgl. Massimo Firpo, Der Kardinal, in: Eugenio Garin (Hrsg.), Der Mensch der Renaissance, Essen 2004, 79ff. 11 Pio Paschini, Domenico Grimani, 82–83; Guido Zaccagnini, Storia dello Studio, 152. 12 Nach dem Zeugnis der Opuscula (1490) des Pizzamano gehörte Grimani zu den gelehrtesten
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hatte in Padua die artes studiert. Nach seiner Promotion am 23. Oktober 1487 bei Pietro Pomponazzi und Nicoletta Vernia (1420–1499) hatte er sich zu Studienzwecken nach Florenz begeben und dort mit Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) über cose physice disputiert. Schließlich entschied sich Grimani doch für eine kirchliche Laufbahn und wurde am 20. September 1493 durch Alexander VI. (1431–1503) zum Kardinal von San Marco ernannt. Domenico Grimani galt als ein begeisterter Anhänger der Antike, als ein ausgesprochener Förderer der Künste und als einer der berühmtesten Sammler seiner Zeit.13 Seine kostbare Sammlung umfasste nicht nur klassische antike Skulpturen, sondern auch zahlreiche Werke bedeutender Künstler wie Giorgione (1477–1510), Tiziano Vecellio (1488/90–1576), Hans Memling (1430–1494) und Hieronymus Bosch (1450–1516) sowie Zeichnungen von Leonardo da Vinci (1452–1519), Michelangelo Buonarroti (1475–1564)14 und Raffael (1483–1520). Nach seinem Tod sollten große Teile dieser umfangreichen Sammlung den testamentarischen Verfügungen entsprechend an die Republik Venedig fallen.15 Grimani stand in engem brieflichem Kontakt mit den bekanntesten Literaten und Philosophen seiner Zeit, darunter auch mit Erasmus von Rotterdam (1466–1536), der sich jedoch geweigert hatte, in die Dienste des Kardinals zu treten, da er den Lebenswandel der römischen Geistlichkeit verurteilte.16 Weit über die Grenzen Italiens hinaus wurde auch seine mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek gerühmt.17 Als sich der italienische Humanist Gianfrancesco Pico della Mirandola (1470–1533), der Neffe des florentinischen Philosophen Giovanni Pico, bei Johannes Reuchlin (1455–1522) nach hebräischen Manuskripten erkundigte, entgegnete dieser : Eher werdet Ihr hebräische Bücher in Rom beim hochwürdigsten Kardinal Grimani unter den Büchern finden, die früher Eurem Onkel (d. h. Giovanni Pico) gehörten. Wenn ich die doch besichtigen könnte! Doch nicht
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Aristotelikern seiner Zeit. Vgl. zum Paduaner Aristotelismus Eckhard Kessler, Die Philosophie der Renaissance, München 2008, 139ff. Michel Hochmann, Peintres et commanditaires Vnise (1540–1628), bes. 229ff. Gemäß Sanudo, I Diarij, 40 : 758. Im Museo archeologico in Venedig befinden sich heute 11 antike Köpfe und 5 Statuen aus dem ehemaligen Besitz Grimanis. Pio Paschini, Domenico Grimani, 127ff.; Matilde de Angelis d’Ossat, Le collezioni Barbo e Grimani di scultura antica, in: Maria Giulia Barberini et al. (Hrsg.), La storia del Palazzo di Venezia: dalle collezioni Barbo e Grimani a sede dell’ambasciata veneta e austriaca, Roma 2016, 23–66, bes. 60. Zur Bibliothek Grimanis vgl. Theobald Freudenberger, Die Bibliothek des Kardinals Domenico Grimani, Historisches Jahrbuch 56, 1936, 15–45; Aubrey Diller et al. (Hrsg.), Bibliotheca Graeca manuscripta cardinalis Dominici Grimani (1461–1523), Venezia 2003. Domenico Grimani hatte 1498 auch die berühmte Bibliothek von Giovanni Pico della Mirandola erworben, der am 17. November 1494 verstorben war, vgl. Pearl Kibre, The Library of Pico, New York 1936; Giovanni Mercati, Note per la storia di alcune biblioteche romane, Citt del Vaticano 1952. In seinem Testament verfügte Grimani die Gründung einer öffentlichen Bibliothek.
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wenige hebräische Bücher muss auch ich unter Schwierigkeiten und Verdruss entbehren.18 Teile davon, etwa das in Flandern um 1510 hergestellte Brevier Grimani, gelangten nach dessen Tod in den Bestand der Biblioteca Marciana in Venedig.19 Als uomo universale tat sich Domenico Grimani auch als Autor theologischer Werke wie etwa einer Übersetzung der Homilien des heiligen Giovanni Chrisostomos hervor.
Abb. 6: Der venezianischen Kardinal Domenico Grimani (1461–1523). Sala del Consiglio, Universität Bologna.
In Rom herrschte in den ersten Dekaden des Cinquecento noch immer eine euphorische Aufbruchsstimmung, nachdem Mitte des 15. Jahrhunderts die
18 Heidelberger Akademie der Wissenschaften/Stadt Pforzheim (Hrsg.), Johannes Reuchlin, Briefwechsel, Stuttgart-Bad-Cannstatt 1999, Band 1, 226, Nr. 314. Vgl. zu den hebräischen Manuskripten Giuliano Tamani, I libri ebraici del cardinale Domenico Grimani, Annali di Ca’Foscari 34, 1985, 5–52. 19 Mario Salmi, Breviario Grimani, Milano 1970.
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Metropole wieder Zentrum des europäischen Mäzenatentums und der Gelehrsamkeit geworden war. Als die Päpste nach dem langen Exil in Avignon (1305– 1378) und dem Schisma bis 1417 wieder nach Rom zurückgekehrt waren, hatten sie eine Stadt vorgefunden, die hauptsächlich aus Ruinen bestand. Ein fast neues Rom, dessen Baumaterial aus den antiken Monumenten, Tempeln und Wohnhäusern gewonnen wurde, sollte zwischen 1417 und 1527 entstehen. Auf den tausendjährigen Fundamenten wurden moderne Plätze, aufwendig gestaltete Kardinalsresidenzen und prachtvolle Palazzi errichtet und eine verbesserte Infrastruktur und Wasserversorgung für die wachsende Bevölkerung geschaffen. Bereits Papst Nikolaus V. (1397–1455) hatte Gelehrte und Künstler an seinen Hof gezogen, etwa den Humanisten Lorenzo Valla (ca. 1405–1457) oder den Architekten Leon Battista Alberti (1404–1472). Einen regelrechten architektonischen Aufschwung erlebte Rom jedoch unter Papst Sixtus IV. (1414–1484) aus der Familie della Rovere, der 1471 nicht nur mit dem Bau der Vatikanischen Bibliothek begann, sondern auch zahlreiche Kirchen und das Spital von Santo Spirito erneuerte sowie Straßen pflastern und eine steinerne Brücke über den Tiber errichten ließ. Auf Sixtus IV. gehen auch erste Ausschmückungen an der Sixtinischen Kapelle zurück, zu der der Papst die bekanntesten Künstler seiner Zeit wie Sandro Botticelli (1445–1510) oder Mino da Fiesole (1429–1484) an den päpstliche Hof berufen hatte. Die Ausmalung der Kapelle sollte jedoch erst im 16. Jahrhundert durch Michelangelo Buonarroti vollendet werden.20 In der letzten Hälfte des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten mit dem steigenden Wohlstand auch der päpstliche Nepotismus, die moralischen Ausschweifungen und Gewaltexzesse ungeahnte Ausmaße angenommen. Die Ewige Stadt galt mittlerweile längst nicht mehr als die religiöse Hauptstadt der Christen. Frivole Feste, Prunk und überbordender Luxus waren unter Papst Alexander VI., dem Nachfolger Sixtus’ IV. mittlerweile alltäglich geworden.21 Auch für viele mittellose Frauen bot das liberale Rom daher vielversprechende Perspektiven, da die Gesellschaftsstrukturen die Prostitution begünstigten. Jedoch gelang nur wenigen nach dem Vorbild der griechischen Hetäre der gesellschaftliche Aufstieg zur Kurtisane (cortigiana), der gebildeten, geistreichen und wohlhabenden Begleiterin eines einflussreichen und generösen Kardinals.22 20 Pierluigi di Vecchi, Die Sixtinische Kapelle, München 2007. 21 Die Berichte über die ausschweifenden Feste der Familie der Borgia beruhen insbesondere auf dem Savelli-Brief (1501) und den Aufzeichnungen (Liber notarum) von Johannes Burchardus, dem Zeremonienmeister Alexanders VI., der über den sogenannten Kastanien-Ball am 31. Oktober 1501 berichtete. Die Glaubwürdigkeit dieser Quellen wird allerdings auch diskutiert, vgl. etwa Elisabeth Schraut (Hrsg.), Die Renaissancefamilie Borgia. Geschichte und Legende, Sigmaringen 1992; Joachim Brambach, Die Borgia. Faszination einer Renaissance-Familie, 2München 1995. 22 Giorgina Masson, Cortigiane italiane nel Rinascimento, Roma 1981; Monica Kurzel-Runtscheiner, Töchter der Venus. Die Kurtisanen Roms im 16. Jahrhundert, München 1995.
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Auch Leo X. war wie sein Vorgänger Julius II. (1503–1513) für seinen luxuriösen Lebensstil und vor allem seine verschwenderische Hofhaltung bekannt (sein Haushalt umfasste gemäß der ruoli 683 Personen)23 und die Kardinäle sollten dem Papst nicht nachstehen, galt doch eine aufwendige und kostspielige Haushaltsführung und ein standesgemäßer Wohnsitz nicht erst seit Paolo Cortesis (1465–1510) De cardinalatu (1510) als Zeichen der Amtswürde.24 Die jährlichen Ausgaben für den Unterhalt eines Kardinals beliefen sich je nach Aufwand auf mindestens 3.200 Dukaten, wobei der Kaufpreis eines Palazzo unter Leo X. zwischen fünf und sechstausend Dukaten lag.25 Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte die Kritik am päpstlichen Hof daher immer größere Ausmaße angenommen. Erasmus von Rotterdam verfasste das Laus stultitiae (1509), worin er die europäische Gesellschaft und den päpstlichen Hof parodierte.26 Nur acht Jahre später (1517) soll ein Augustinermönch namens Martin Luther (1483–1546) in Wittenberg 95 Thesen veröffentlicht haben, in denen er den weit verbreiteten Ablasshandel der katholischen Kirche scharf kritisierte, nachdem er von einer enttäuschenden Reise in die Ewige Stadt zurückgekehrt war.27 Der Widerstand gegen den Lebensstil des Klerus wurde immer stärker : In zeitgenössischen Flugblättern und Kupferstichen wurde das Kirchenoberhaupt mit dem Antichristen verglichen, die personifizierte Superbia trug die päpstliche Tiara und Rom wurde mit Babylon gleichgesetzt.28 Kaum ein Zeitgenosse hat das Intimleben der Medici-Päpste, der Kardinäle und der kirchlichen Würdenträger derart bissig parodiert, wie der aus Arezzo stammende Toskaner Pietro Aretino (1492–1556). Pietro Aretino gelangte 1517 fast zeitgleich mit dem jungen Tomaso in diesem für die Zukunft des Papsttums so bedeutungsschweren Jahr nach Rom. Dort wurde er von dessen ehemaligem Mäzen Giulio de’ Medici durch Vermittlung des einflußreichen Bankiers Agostino Chigi (1466–1520) protegiert.29 Der ursprünglich aus Siena stammende 23 Richard Palmer, Medicine at the Papal Court, 55. 24 DBI, s.v.a. Cortesi, Paolo; Kathleen Weil-Garris/John F. D’Arnico, The Renaissance Cardinal’s Ideal Palace: A Chapter from Cortesi’s De cardinalatu, Studies in Italien Art History 1, Roma 1980, 45–123. 25 Richard Partner, Renaissance Rome, 138–139. 26 Josef Lehmkuhl (Hrsg), Erasmus – Machiavelli. Zweieinig gegen die Dummheit, Würzburg 2008. 27 Helga Schnabel-Schüle, Die Reformation 1495–1555, Stuttgart 2006; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M. 2009; Martin H. Jung, Reformation und Konfessionelles Zeitalter (1517–1648), Göttingen 2012. 28 Andre Chastel, The Sack of Rome, 1527, Princeton 1977, 67–90. 29 Vgl. zum Mäzenatentum Agostino Chigis Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 338; Mary Hollingsworth, Patronage in Sixteenth-Century Italy, London 1996, 37ff. Zum Wirken Leos X. als Mäzen und Kunstförderer vgl. Max-Eugen Kemper, Leo X. – Giovanni de’ Medici 1513– 1521, in: Petra Kruse (Hrsg.), Hochrenaissance im Vatikan. Kunst und Kultur im Rom der Päpste 1503–1534, Ostfildern/Ruit 1999, 30–47.
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Chigi hatte es in Rom durch kaufmännisches Geschick zu außergewöhnlichem Wohlstand und zum Berater der päpstlichen Kurie gebracht. Chigis Unternehmen verfügte über Handelsverbindungen in den Orient, nach London und Lyon. In der prächtigen, mit Fresken Raffaels ausgeschmückten Villa Farnesina im Stadtteil Trastevere traf sich die Crme de la Crme der römischen Gesellschaft: Künstler, Dichter und Humanisten wie die päpstlichen Sekretäre Pietro Bembo (1470–1547) und Bernardo Bibbiena (1470–1520), Kurtisanen und selbst der Papst waren gerngesehene Gäste bei Chigis berühmten Gastmählern.30 Der Satiriker Pietro Aretino imponierte Leo X. durch sein poetisches Geschick und seine Fähigkeit, mit witzigen und kurzweiligen Spottversen (pasquinate) zu unterhalten und wurde innerhalb kürzester Zeit zu einer gefragten Persönlichkeit am päpstlichen Hof.
Abb. 7: Blick auf den Quirinalspalast von Giovanni Battista Piranesi (1720–1778). Im Vordergrund die Skulpturen von Castor und Pollux. Der Palazzo der Familie Grimani lag unweit des Quirinals.
Zu den wenigen Quellen, aus denen wir detaillierte Informationen über Tomasos kurzen Aufenthalt am päpstlichen Hof erhalten, gehört die 1521 in Modena publizierte Oratio, aus der hervorgeht, dass sich Tomaso als Leibarzt Domenico
30 Christoph Luitpold Frommel, La Villa Farnesina a Roma, Modena 2003, 63ff.
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Grimanis und Papst Leos X. betätigte.31 Während dieser Zeit wohnte er im Haus seines Förderers, der neben dem offiziellen Amtssitz, dem Palazzo San Marco (Palazzo Venezia),32 einem prachtvollen, bereits von Paul II. (1464–1471) errichteten und als Kardinalsresidenz geplanten Gebäude, im Palazzo der Familie Grimani33 nahe des Quirinals residierte. Während dieser Zeit hielt Tomaso an der Universität La Sapienza, die durch die Päpste Alexander VI. und Leo X. reorganisiert worden war,34 ein Jahr lang Vorlesungen über Astronomie.35 Insbesondere in den ersten zwei Dekaden des Cinquecento hatte die Begeisterung für Astrologie und Astronomie in Rom stetig zugenommen und unter Leo X. schließlich ihren Höhepunkt erreicht.36 Der amtierende Papst ließ in der Sala dei Pontefici sein Geburtshoroskop bildlich darstellen und sogar politische und militärische Entscheidungen, Empfänge von Gesandten oder die Gestaltung von Festlichkeiten wurden vermehrt von astrologischen Vorhersagen abhängig gemacht.37 Erfolgreiche Astrologen erhielten daher zu dieser Zeit an den Höfen Italiens auch ein bedeutend höheres Salär als gewöhnliche Ratgeber.38 Leo X. ehrte auf diese Weise den neapolitanischen Astrologen Agostino Nifo und richtete für diesen 1520 sogar einen Lehrstuhl für Astrologie an der Sapienza zu einem Gehalt von 300 Golddukaten ein.39 1520 wurde Nifo zum Marchese er31 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]): […] medicus reverendiss. ac excellentiss. Car. Grimani Romae existerim […]. 32 BMV, Misc. 507 (6): Pronosticon anni 1517: nunc Romae in domo reveren. cardinalis Grimani existentis memento. Vgl. zum Palazzo Venezia Christoph Luitpold Frommel, Der Palazzo Venezia in Rom, Kleve 1982; Carlo Cresti et al. (Hrsg.), Palazzi of Rome, Hagen 1998, 58–65; Maria Giulia Barbarini et al. (Hrsg.), La storia del Palazzo di Venezia, passim. 33 Matilde de Angelis d’Ossat, Le collezioni Barbo e Grimani di sculture antice, in: Maria Giulia Barbarini et al. (Hrsg.), La storia del Palazzo di Venezia, 23–66, bes. 58–59. 34 Vgl. zur Reorganisation der Sapienza Max-Eugen Kemper, Leo X. – Giovanni de’ Medici 1513–1521, 30–47, bes. 42; Marion Hermann-Röttgen, Alessandro VI. Borgia e l’Umanesimo. Crisi, conflitti e conseguenze, in: Stefano Colonna (Hrsg.), Roma nella svolta tra Quattro e Cinquecento, Roma 2004, 261–268, bes. 262; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 56–64, bes. 59ff.; zur Verbindung von päpstlichem Hof und Universität siehe Richard Palmer, Medicine at the Papal Court, 56–57; zur Geschichte vgl. Filippo Maria Renazzi, Storia dell’Universit degli Studi di Roma, Roma 1803–1806. 35 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]): […] doctoreo tunc Flamine insignitus in sapienti romana achademia astronomiam publicam docens per annum versaverim. Tomaso Rangones Tätigkeit an der Sapienza ist aufgrund der fehlenden rotuli für diese Zeit nicht mehr nachvollziehbar. 36 Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 360ff. 37 Ebd., 247. 38 Gregory Lubkin, A Renaissance Court: Milan under Galeazzo Maria Sforza, Los Angeles 1994, 132. 39 Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 5, 74; 185; 205; Janet Cox-Rearick, Dynasty and Destiny in Medici Art. Pontormo, Leo X. and the two Cosimos, Princeton 1984, 178; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 363; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 59; Eckhard Kessler, Die Philosophie der Renaissance, 157–171.
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hoben, wobei er das Recht erhielt, sich fortan Medici nennen zu dürfen.40 Auch die naturphilosophischen Lehrstühle waren infolge dieser Tendenz nach und nach mit Astrologen wie Lorenzo Bonincontri (1410–1491) oder Bartolomeo (da) Serravezza besetzt worden.41 Unter Leo X. waren auch vermehrt die Naturwissenschaften und die Botanik gefördert worden, weshalb bereits am 4. November 1513 im Zuge der Erneuerung der Universität ein entsprechender Lehrstuhl (Cattedra dei Semplici) geschaffen worden war.42 Die Universität bildete in Rom jedoch nicht wie in Bologna oder Padua das Zentrum des intellektuellen Lebens: Viele Professoren dienten, wie auch Tomaso, einem Kardinal oder dem Papst selbst als Leibarzt sowie als persönlicher Berater und verfügten durch ihre Lehrtätigkeit über eine zusätzliche Einnahmequelle. Der Arzt und Historiker Paolo Giovio (1486–1552) unterrichtete von 1514 bis 1516 ebenfalls zeitweise an der Universität, verbrachte aber einen Großteil seiner Zeit auf Reisen mit seinem Dienstherren und ließ sich in der Lehre vertreten.43
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Das aufregende, vielversprechende und luxuriöse Leben in Rom war jedoch auch durch viele Gefahren und Intrigen gekennzeichnet, Mordanschläge waren beinahe an der Tagesordnung.44 Auch Tomaso, der sich am päpstlichen Hof wohl nicht nur Freunde gemacht hatte berichtet in seiner diätetischen Schrift De vita hominis ultra 120 annos protrahenda von einem gescheiterten Mordversuch. Rolando Marchio Palavicini,45 ein Mitglied der einflussreichen und mächtigen Familie Palavicini, habe hinterhältig versucht, ihn durch Gift zu töten,46 ein in der Renaissance äußerst beliebtes Mittel, unliebsame Zeitgenossen aus dem Weg
40 Ebd., 159. 41 Bonincontri war der Verfasser diverser astrologischer Schriften: Rerum naturalium (1469); Rerum naturalium et divinis ad Laurentium Medicem (1475); De rebus coelestibus, aureum opusculum (1526); Vaticinium (Prognostika für 1486/87 für 1488/89). Zum Autor vgl. Stephan Heilen, Lorenzo Bonincontri, De rebus naturalibus et divinis: zwei Lehrgedichte an Lorenzo de’ Medici und Ferdinand von Aragonien, Stuttgart 1999. 42 Dietrich von Engelhardt, Luca Ghini (um 1490–1556) und die Botanik. Leben. Initiativen. Kontakte, Medizinhistorisches Journal 30, 1995, 3–49, bes. 13–14. 43 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 60; zu Giovio vgl. Barbara Agosti, Paolo Giovio. Uno storico lombardo nella cultura artistica del ’500, Firenze 2008. 44 Peter Blastenbrei, Kriminalität in Rom, 1560–1585, Tübingen 1995, 281–301. 45 Ob Olando Palavicini gemeint ist? Vgl. zur weitverzweigten Familie Palavicini DBI, s.v.a. Palavicini. 46 De vita hominis (1550), c. 62r: […] quemadmodum D. Rolandus Marchio Palavicinus olim me veneno necare tentavit, qui postea divina permittente iustitia carcre Faventiae Castro veneno ut existimatur interiit.
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zu räumen.47 Der Übeltäter wurde für seine Machenschaften laut Tomaso schließlich mit einer Kerkerhaft bestraft, die er nicht überlebte. Auch in der 1521 erschienenen Schrift über das Glück, De optuma ! felicitate, lässt Tomaso einfließen, er habe Rom verlassen, da Würden, Ehren und sonstige Vergünstigungen bei Hofe nicht denen, die es eigentlich verdienten, übertragen werden würden. So äußerte sich der Philologus dort vielsagend: Die Unwissenden erhalten bei Königen und Prinzen die höchsten Ehren, werden von diesen mit den größten Belohnungen, Würden und jeglichen Wohltaten beschenkt. Daher herrschen diese über Staaten, ja selbst Königreiche, Provinzen und Städte. […]. Aus diesem Grund habe ich die römische Kurie verlassen.48 Aus diesen Zeilen spricht zugleich auch die Enttäuschung Tomasos, am päpstlichen Hof wohl nicht die Karriere gemacht zu haben, die er sich anfangs erhofft hatte, als er als junger und motivierter Arzt aus Ravenna aufgebrochen war. In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch die anschließende Warnung vor dem falschen Wesen von »Freunden« zu verstehen, wohl zugleich eine Anspielung auf die weitverbreitete Bestechlichkeit und den Opportunismus bei Hofe, den auch der Chronist und florentinische Staatsmann Francesco Guicciardini (1483–1540) in den Ricordi am Beispiel der Botschafter kritisiert hatte.49 Baldassare Castiglione kommt in seinem Leitfaden für den erfolgreichen Hofmann, dem Cortegiano (1528), ebenfalls auf den skrupellosen Schmeichler zu sprechen, der lediglich auf den eigenen Vorteil bedacht sei: Ohne weiteres fiel hier Pietro Napoli ein: »Von dieser Gattung sind die Hofleute heutzutage allzu häufig; nach meiner Meinung habt ihr mit den paar Worten einen richtigen Schmeichler gekennzeichnet.« – »Ihr täuscht Euch. Denn die Schmeichler hegen weder für ihren Fürsten noch für ihre Freunde Liebe, die ich doch am Hofmann in erster Linie verlange; jemand gefallen und seinen Wünschen nachkommen kann man auch ohne Schmeichelei, meine ich doch nur billige und ehrenhafte Wünsche oder solche, die an sich weder gut noch schlecht sind, wie zum Beispiel ein Spiel betreffende oder eine Übung, die einer anderen vorzuziehen sei.50
Die Schmeichelei war an den Höfen derart verbreitet, dass der Arzt und Astrologe Agostino Nifo (1473–1538) nach dem Vorbild des Cortegiano eigens ein 47 Thomas H. Cohen, Love and Death in Renaissance Italy, Chicago 2009, 276; John Addington Symonds, Renaissance in Italy, New York 2009, Band 2, 376; Anthony F. d’Elia, A Sudden Terror! The Plot to Murder the Pope in Renaissance Rome, Harvard 2009. 48 De optuma ! felicitate (BMV 2697, [35]), Opinio 9: Ignorantes apud reges et principes primos sociuntur honores, maximisque premiis, dignitatibus, omnique generi boni ab his illustrantur. Demum hi res publicas, ipsia regna, provintias et urbes regunt. […] Qua de re romam curiam dereliqui. 49 Ricordi, 2 : 153. Auch Machiavelli nimmt im Principe auf die Schmeichler Bezug und rät dem Fürsten, nur weise Ratgeber zu beschäftigen (Buch 23: Quomodo adulatores sint fugiendi). 50 Albert Wesselski/Andreas Beyer (Hrsg.), Baldassare Castiglione, Der Hofmann, 4Berlin 2004, 70–71.
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humorvolles Handbuch für (erfolgreiche) Schmeichler mit dem Titel De re aulica ad Phausinam libri duo (1534) vorlegte, in dem alle Kunstgriffe geliefert werden, mithilfe von Schmeichelei die gewünschte Position zu erhalten.51 Schließlich bemerkte auch Giovanni della Casa (1503–1556) im postum publizierten Galateo, dass lediglich Schmeichlern Reichtümer und Wohlstand gesichert sei.52 Von dem Polemiker Pietro Aretino wurden nicht zuletzt die kriminellen Machenschaften des intriganten Klerus im Ipocrito (1542) und in La Talanta (1542) parodiert:53 So verweist in der erstgenannten Komödie die Kupplerin Gemma darauf, ursprünglich Äbtissin gewesen zu sein, wobei sich die Zuhälterei doch als wesentlich lukrativer erwiesen hätte. Auch für Tomasos Dienstherrn Domenico Grimani hatte sich die anfangs günstige Lage in Rom verändert. Nachdem Leo X. im März 1513 den Stuhl Petri bestiegen hatte, war Grimani noch in all seinen Würden bestätigt worden. Als er sich jedoch am 18. August 1516 weigerte, eine Bulle zu unterzeichnen, die den Nepotismus Leos X. unterstützt hätte, legte sich erstmals ein Schatten über das bisher exzellente Verhältnis zum Papst. Bereits am 9. November 1516 hatte Tomaso ein Prognostikon für das Jahr 1517 mit astrologischen Voraussagen unter Angabe der glücklichen und unglücklichen Tage publiziert, das Domenico Grimani gewidmet war.54 Am Ende der kleinen Schrift befindet sich eine Liste, die den genauen Eintritt der Planeten nach Monat, Tag, Stunde und Minute berechnet und den Stand von Sonne und Mond (luna cum sole imperatrix) sowie die guten und schlechten Tage des Jahres nennt. Für die Erstellung dieses Horoskopes hatte Tomaso unter anderem die Blanchinischen Tafeln benutzt, die sich laut des Bibliothekskatalogs auch in mehrfacher Ausführung in seinem persönlichen Besitz befanden.55 Im Zentrum stand eine Prognose für den Beginn des neuen Jahres, die Interpretation diverser Sternenkonstellationen (De praeterita Saturni et Jouvis in Cancro copula; De praelapso falsiferi et enciferi coitu in Sagittario), eine Prognose für die vier Jahreszeiten und allgemeingültige Aussagen zu Gesundheit und Krieg (De aegritudinibus; De bellis; De statu hominum in universali). Vor dem Hintergrund einer unsicheren Zukunft wandte sich 51 Manfred Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmannes: Studien zu italienischen Hofmannstraktaten des 16.–17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, 222ff. 52 Ebd., 288. 53 Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice, 162–202. 54 BMV, Misc. 507 (6): Ad Reveren. Sacrosanctae Ecclesia [sic] sidus fulgentiss. D.D. suum observandiss. D.D. Grimanum cardinalem S. Marci patriarcham Aquileiensem et Episcopum Por. Digniss. Thomae Philologi Ianothi Rha. artium et medicinae doctoris eiusdem humill.mi familiaris Pronosticon anni 1517 datum Romae anno 1516 nonis novembris. 55 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 33v : Pronosticon anni 1517: Coniunctiones et oppositiones luminarium ad inclyte Romae meridianum per Janothum Thomam philologum Rhavennatem artium et medicinae doctorem calculatae secundum blanchinum ad horas horologij.
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Rom: im Dienst des Kardinals
Tomaso dem Schicksal der bedeutenden Städte Italiens56 und jenem der europäischen und italienischen Potentaten zu, darunter dem »großherzigen« Herzog von Ferrara (Ad ducem Ferrariae magnanimum), Alfonso I. d’Este, und dem »strahlenden« Herzog von Mantua, Federico I. Gonzaga (Ad Mantuavi marchionem clarississimum). Das Jahr 1517 stand auch für Leo X. unter keinem guten Stern: Kardinal Alfonso Petrucci (1491–1517) zettelte eine Verschwörung gegen den Papst an und hatte dessen Leibarzt bestochen, um den Papst zu vergiften. Das Komplott wurde jedoch aufgedeckt, die Schuldigen in der Engelsburg festgesetzt und am 16. Juli 1517 hingerichtet.57 Domenico Grimani hatte allerdings bereits am 2. Juli Rom verlassen und war Richtung Norden gereist.58 Da Tomasos Zukunft vom Wohl seines Arbeitgebers abhing und es ihm auch nicht gelungen war, am päpstlichen Hof Fuß zu fassen, hatte er sich dem Kardinal angeschlossen. Grimani erreichte im Oktober Padua, logierte bei seinem Neffen Marino (1488– 1546) im Prato della Valle59 und reiste anschließend nach Venedig weiter. Im Juni des folgenden Jahres 1518 hielt sich Grimani noch einmal kurz in Padua auf,60 bevor er im August zur Unterstützung des Papstes wieder nach Rom zurückkehrte. In der Tibermetropole war die bevorstehende fundamentale Krise jedoch nicht mehr abzuwenden: 1520 legte Luther die drei reformatorischen Hauptschriften, die Grundlage des späteren Luthertums vor, in denen nicht nur die Abschaffung des Zölibats und des Kirchenstaats propagiert, sondern auch die katholische Sakramentenlehre kritisiert und die evangelische Freiheit, also das Leben im Hinblick auf Gott und die Welt, verteidigt wurde. Am 15. Juni 1520 drohte Leo X. dem Reformator mit der Exkommunikation den Kirchenbann an und im Reichstag zu Worms (1521) wurde dieser für vogelfrei erklärt, da er sich weigerte, seinen Schriften abzuschwören. Von Kaiser Karl V. war Luther jedoch eine 21 tägige Frist gewährt worden, während der er sich vor Verfolgern in Sicherheit bringen konnte. Die sich anbahnende Krise des Papsttums sollte Domenico Grimani aber nur noch am Rande erleben. Bereits im Dezember 1518 erkrankte er schwer und verstarb nur eineinhalb Jahre später in Rom.61 Damit überlebte er seinen Dienstherren Leo X. nur kurz, denn dieser erlag ganz un56 BMV, Misc. 507 (6): Rom (De Roma urbium regina), Venedig und Bologna (De invictiss. Venetorum imperio, De Bononia litterarum alumna), Florenz (De Florentia felicissima), Ferrara (De Ferraria vetustissima) und Ravenna (De Rhavenna urbe praeclarissima). 57 Fabrizio Winspeare, La congiura dei cardinali contro Leone X, Firenze 1957; Claudio Rendina, I papi. Storia e segreti, Roma 1990, 613. 58 Pio Paschini, Domenico Grimani, 91–92. 59 So der Chronist Marin Sanudo (I Diarij, 25 : 33). 60 Pio Paschini, Domenico Grimani, 95. 61 Domenico Grimani wurde in der Basilica dei SS. Giovanni e Paolo in Rom beigesetzt und später in seine Heimatstadt Venedig überführt, wo er heute in der Kirche San Francesco della Vigna im Stadtteil Castello begraben liegt.
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erwartet am 1. Dezember 1521 einer »fiebrigen Erkrankung«.62 Die Todesursache konnte nie eindeutig geklärt werden, hatte sich das Kirchenoberhaupt doch nur wenige Tage zuvor bei dem feierlichen Einzug in Rom nach der Eroberung von Parma und Piacenza noch bester Gesundheit erfreut. Bereits am 9. Januar 1522 bestieg der Flame Adriaan Florenszoon Boeyens (1459–1523), einst Tutor Karls V., als neuer Papst unter dem Namen Hadrian VI. den Thron. Die überraschende Entscheidung für den als streng und äußerst sparsam geltenden Niederländer, der sich zum Zeitpunkt der Wahl noch in Utrecht befand, sorgte für Unruhe unter den luxusverwöhnten Kardinälen.63 Nach einer Amtszeit von nur einem Jahr und 280 Tagen verstarb das von den Römern nie akzeptierte Kirchenoberhaupt, worauf wieder ein Mitglied der Familie der Medici als Sieger aus dem Konklave hervorging: Kardinal Giulio de’ Medici alias Clemens VII.
62 Zu Leo X. als Patienten siehe Anonymus, Note on the Attempt to Poison Pope Leo X., Journal of the History of Medicine 13, 1958, 101–102; Claudio Rendina, I papi, 612–618. 63 Die gespannte Atmosphäre in Rom, das sich bis zum Eintreffen Hadrian VI. in einem Ausnahmezustand zu befinden schien, hat nicht zuletzt der bekannte italienische Schriftsteller Luigi Malerba (1927–2008) in seinem mehrfach ausgezeichneten Roman Le maschere (1995) meisterhaft dargestellt.
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V.
Padua: im Zentrum der Gelehrsamkeit
Für den venezianischen Markt hatte Tomaso 1517, während er sich noch im Gefolge Domenico Grimanis befand, ein weiteres Prognostikon mit dem Titel Pronostico de lo anno 1518 verfasst, das wie das vorhergehende ebenfalls auf seinen Dienstherren Bezug genommen hatte.1 Darin erstellte er nicht nur Zukunftsprognosen für Rom, Bologna oder Ferrara, sondern äußerte sich auch zur politischen Situation in Ravenna, die zunehmend durch gewalttätige Auseinandersetzungen der feindlich gesinnten Parteien der Guelfen und Ghibellinen geprägt war. Bemerkenswert ist hierbei, dass Tomaso bei der Angabe des Publikationsdatums erstmals die lateinische, hebräische und griechische Zeitrechnung berücksichtigte, ein Verfahren, das er 40 Jahre später wieder bei den Inschriften auf der Fassade von San Giuliano anwenden sollte.2 Dies erlaubt den Schluss, dass sich Tomaso unter dem Einfluss Domenico Grimanis bereits vermehrt mit hebräischen und griechischen Schriften beschäftigt haben könnte.3 Bereits im folgenden Pronostino de lo anno 1519, das bei dem venezianischen Drucker Mathaeus de Vitalibus erschienen ist,4 bezeichnete sich Tomaso als publico lectore nel preclarissimo studio di Padua de lo anno 1519,5 hatte er doch fast zeitgleich mit der Abreise Grimanis, dem er eine ruhmreiche Zukunft prophezeite6 eine lettera ducale aus Venedig erhalten. Darin wurde ihm am 24. August 1518 ein einjähriger Lehrauftrag für Astronomie und Mathematik (privatim tum publice) in der bekannten Universitätsstadt erteilt.7 Etwa zeit1 BCS, 12–1–15 (81). 2 Ebd., c. 4v. 3 Domenico Grimani beschäftigte auch einen hebräischen Arzt, Abraham de Balmes (1440– 1523), vgl. DBI, s.v.a. Abraham ben Meir de Balmes. 4 Frederick John Norton, Italian Printers, 160–161. 5 BCS, 12–1–15 (71). Anthony Grafton machte mit einem Hinweis auf Cardano darauf aufmerksam, dass Prognostika von Ärzten auch bewusst als Werbung eingesetzt wurden, um Kunden zu gewinnen, vgl. Anthony Grafton, Cardano’s Cosmos, 48. 6 BCS, 12–1–15 (71): di la chiesa glorioso decore & stella delo human genere preclarissima. 7 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [= 3601]), c. 1: Nam mense augusti ab illustriss. Venetorum senatu universa suffrogante achademia ad astronomiae lecturam in famosiss. Patavino
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Padua: im Zentrum der Gelehrsamkeit
gleich lehrte dort auch der Pole Baldassare Sanossarmo (1519/1520), da zum 27. Juni 1506 die Lehrstühle für Mathematik und Astronomie zusammengelegt worden waren.8 Neben diesen Disziplinen unterrichtete Tomaso, dessen Lehrauftrag am 22. Januar noch um ein weiteres Jahr (1519/1520) erneuert worden war, zwei Jahre lang Logik und Moralphilosophie.9 Logik galt im Universitätsbetrieb jedoch lediglich als Einführung, also »Werkzeug« für andere Wissensbereiche oder Vorstufe einer Professur.10 Auch ein Lehrauftrag für Moralphilosophie,11 der vor allem der Nikomachischen Ethik des Aristoteles gewidmet war, wurde in Padua nur mit einem geringen Entgelt entlohnt (um 1509 mit etwa 15 Florin12). Von 1518 bis 1561 gab es daher in Padua einen Lehrstuhl für Moralphilosophie, dessen Inhaber jährlich wechselte.13 Für junge Professoren wurden dadurch einige schlecht bezahlte und zeitlich begrenzte Positionen für eine medizinische Vorlesung über das dritte Buch des Canu¯n Avicennas und für Logik oder Moralphilosophie freigehalten, ohne dass eine Verlängerung in Aussicht gestellt wurde.14 Die Universität von Padua, der »Bo«,15 an dem Tomaso für insgesamt zwei Jahre wirken sollte, galt stets als eine Konkurrenz zur Universität von Bologna. Beide Universitäten versuchten in einem harten Wettbewerb, die bekanntesten Köpfe ihrer Zeit durch großzügige Verträge zu halten. Viele Gelehrte hatten daher in Padua Rechtswissenschaften oder Medizin studiert.16 Nicht zuletzt
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museo publice conductus. Vgl. zum wissenschaftlichen Ambiente in Padua zu dieser Zeit Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 163ff.; Emilio Morpurgo, Lo Studio di Padova, le epidemie e i contagi durante il governo della Repubblica veneta, Padova 1922. Rektor der artistischen Fakultät war zu dieser Zeit der Udinese Giovanni Antonio Azio (1519–1520), dem 1520 Matteo Leopardi di Candia nachfolgte, vgl. Francesco Piovan, Studenti e citt nel diario di Giovanni Antonio da Corte, 342–343. Antonio Favaro, I lettori matematiche nell’Universit di Padova dal principio del secolo XIV alla fine del XVI, Memorie e documenti per la storia dell’Universit di Padova 1, 1922, 1–70, bes. 60–61; zum Lehrstuhl für Astronomie vgl. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 408–419. Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 4: biennio logicalia adeptus fuerim. In Padua betrug der Verdienst eines Logikers um 1509/1510 ca. 20–35 Florin. Erst Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der Logik in Padua größere Bedeutung beigemessen, vgl. hierzu Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 251–253, zum Stoff ebd., 257–266. Zu Professorengehältern der medizinischen Fakultät Ende des 15. Jahrhunderts vgl. Giuseppina de Sandre, Il collegio dei filosofi e medici e le prime vicende del monte di piet in Padova, Quaderni per la storia dell’universit di Padova 1, 1986, 83–89. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 394–398. Der Florin (Abkürzung: fl.; ursprünglich eine Goldmünze aus Florenz) entspricht 1 Gulden (3,34 Gramm Gold) bzw. 5 Lire. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 399–400 sowie Anm. 32. Ebd., 160. Ebd., 21–40. Darunter Francesco Guiccardini, Giovanni Pico della Mirandola, Ulisse Aldrovandi, Girolamo Cardano und Torquato Tasso, vgl. ebd., 37–38.
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aufgrund des internationalen Klientel, etwa an Polen, Franzosen und Engländern, insbesondere aber an deutschen Studenten, wurde die oberitalienische Universitätsstadt zwischen 1400 und 1600 zu einem Mittelpunkt von Gelehrten aus ganz Europa.17 Mit einer Einwohnerzahl von etwa 25.000 war Padua allerdings wesentlich kleiner als Bologna und finanziell abhängig von Venedig. Die Bevölkerung war überdurchschnittlich arm18 und allein der Universitätsbetrieb garantierte regelmäßige Einnahmen durch die oft nur modesten Ausgaben der Studenten.19 Die Schwerpunkte der Universität lagen allerdings auf den naturphilosophischen Disziplinen, insbesondere dem Aristotelismus, was Padua zum »Gegenpol« der neuplatonischen Akademie in Florenz machte.20 Das Medizinstudium war durch eine auf den Einfluss Pietro d’Abanos (1257–1315) zurückgehende starke Praxisnähe gekennzeichnet21 und seit dem Quattrocento war erstmals eine zweigleisige Ausbildung in der humanistischen Methodik und den naturphilosophischen Disziplinen entstanden, wobei Humanismus und Scholastik miteinander verbunden worden waren.22 Im Gegensatz zu astrologischen Zentren wie Bologna, Rom oder auch Florenz genoss die Astrologie in Padua jedoch wesentlich weniger Aufmerksamkeit,23 war nach der Vertreibung der Dynastie der Carrara im 15. Jahrhundert doch kein berühmter Astrologe mehr dort ansässig gewesen.24 Stattdessen war Padua Ende des 15. Jahrhunderts zum Zentrum homozentrischer Diskussionen geworden, als dort der Bologneser Alessandro Achillini wirkte, der 1494 sein Traktat De orbibus vorgelegt hatte. Dieser war 1506 aus Bologna geflohen, für 17 Francesco Piovan, Studenti e citt nel diario di Giovanni Antonio da Corte, 343; Biagio Brugi, Gli studenti tedeschi e la S. Inquisizione a Padova nella seconda met del secolo XVI, Atti del R. Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti 5, 1894, 1015–1033; Melanie Bauer, Die Universität Padua und ihre fränkischen Besucher im 15. Jahrhundert. Eine prosopographischpersonengeschichtliche Untersuchung, Nürnberg 2012. 18 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 38. 19 Allerdings kostete ein Student in Padua ca. 100–125 Dukaten im Jahr, vgl. hierzu Angelo Martini, Tentativi di riforma a Padova prima del Concilio di Trento, Rivista di Storia della Chiesa in Italia 3, 1949, 66–94, bes. 74. 20 Zur Geschichte der Paduaner Universität vgl. Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 163ff.; zu Padua als Ausbildungsort der kulturellen Elite vgl. Peter Burke, Die Renaissance in Italien, Berlin 1992, 56f. 21 Melanie Bauer, Die Universität Padua und ihre fränkischen Besucher im 15. Jahrhundert, 69– 73; zum Medizinstudium vgl. Loris Premuda, Le conquiste metodologiche e tecnico-operative della medicina nella scuola padovana del secolo XV, in: Ders. (Hrsg.), Da Fracastoro al Novecento. Mezzo millenio di medicina tra Padova, Trieste e Vienna, Padova 1996, 9–28; Giuseppe Ongaro, Medicina, in: Piero del Negro (Hrsg.), L’universit di Padova. Otto secoli di storia, Padova 2002, 153–193. 22 Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 165; Klaus Bergdolt, Einleitung zu Lorenzo Ghiberti, Der dritte Kommentar, Weinheim 1988, XXIff. 23 Zu Giovanni da Fontana vgl. Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 166. 24 Der Einfluss der Horoskopsteller auf politische Entscheidungen ist in Venedig auch nicht nachweisbar, vgl. ebd., 167.
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zwei Jahre in Konkurrenz zu Pomponazzi Professor für Naturphilosophie in Padua geworden und hatte gemeinsam mit Federico Delfino und Giovanni Battista della Torre innovative kosmogonische Modelle diskutiert.25 Nach der Niederlage der Venezianer bei der Schlacht von Agnadello am 14. Mai 1509 hatte in Padua eine kurze Zeit des Niedergangs stattgefunden, da die kulturellen Eliten der Terraferma entweder getötet worden oder wie der Aristoteliker Pietro Pomponazzi und der Arzt Girolamo Fracastoro (1476–1553) geflohen waren.26 Als auch die Studenten zunehmend ausblieben, wurde die Zahl der Lehrveranstaltungen auf ein Mindestmaß beschränkt und der Universitätsbetrieb erst 1517 offiziell wiederaufgenommen. Zu diesem Zweck hatte der venezianische Senat die Lehrtätigkeit an vier Professoren der Rechte und an fünfzehn Professoren für artes und Medizin übertragen, wobei es sich allerdings, wohl aus Kostengründen, um »zweitklassige« Professuren handelte, deren finanzielle Mittel sich gemäß der Aussage der Chronisten lediglich auf etwa 2.500 Dukaten beliefen.27 Der Beginn der Lehrtätigkeit Tomasos fiel damit genau in diese Zeit der verstärkten Wiederaufnahme des Lehrbetriebs und auch er gehörte wohl zu jenen eher günstigen Professoren, auf die die Regierung in dieser Zeit bevorzugt zurückgriff. Insbesondere im Bereich der Mathematik und Astronomie hatte Tomaso so großen Erfolg, dass sein Name laut der 1521 verfassten Oratio für Tage in aller Munde war.28 Er hielt anschauliche Vorlesungen über die Libri Ellementorm (Stoiwe?a) des aus Alexandria stammenden hellenistischen Mathematikers Euklid (um 360 v. Chr.),29 in dem das gesamte ma-
25 Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 168, sowie hier Anm. 713; Mario di Bono, Le sfere omocentriche di Giovan Battista Amico nell’astronomia del Cinquecento, Genova 1990, 62ff.; John North, Cosmos: an Illustrated History of Astronomy and Cosmology, Chicago 2008, 299. 26 Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 191ff.; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 31–40. 27 Antonio Favaro, Lo Studio di Padova nei Diarii di Marino Sanuto, Nuovo Archivio Veneto 36, 1918, 65–128, bes. 95–97. In Venedig selbst gab es keine eigenständige Universität, da die venezianische Regierung Padua als einzige Universität des Territoriums bestimmt hatte, vgl. Fernando Lepori, La Scuola di Rialto dalla fondazione alla met del Cinquecento, in: Girolamo Arnaldi/Manlio Pastore Stocchi (Hrsg.), Storia della cultura veneta. Dal primo Quattrocento al Concilio di Trento, 539–605; Patricia H. Labalme/Laura Sanguineti White (Hrsg.), Cit excelentissima. Selections from the Renaissance Diaries of Marin Sanudo, Baltimore 2008, 452; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 32. 28 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 4: In Patavino quoque celeberrimo musaeo biennio logicalia adeptus fuerim, ubi astronomiam, medicinam, philosophiam, et ceteras disciplinas tum privatim tum publice interpretabar. Presenti rursus anno ad astrologiam fueram tali favore conductus, ut omnibus scholarum universitas per totam urbem et cuncta fora me super humeros deportaverit. Nilque nisi Philologi nomen diebus pluribus aer resonaverit. Philologique nomine toti patavi parietes et palatia descripta fuerint. 29 Ebd., c. 2. Vgl. zur Rezeption Euklids Max Streck, Bibliographia Euclideana. Die Geisteslinien der Tradition in den Editionen der »Elemente« des Euklid (um 365–300). Hand-
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Abb. 8: Tomaso Rangones Pronostino ! de lo anno 1519. Tomaso nimmt hier erstmals auf seinen Lehrauftrag an der Universität von Padua Bezug (publico lectore nel preclarissimo studio di Padua). In der Vignette links ist ein Astrologe dargestellt, der mit Hilfe eines Astrolabiums den Lauf von Mond und Gestirnen bestimmt.
thematische Wissen der Antike gesammelt war. Euklid hatte sich in diesen dreizehn Lehrbüchern mit Geometrie, Zahlen und deren Eigenschaften beschäftigt, wobei die Darstellung des mathematischen Wissens durch eine strenge Beweisführung gekennzeichnet war. In der Renaissance galten die Elemente daher als fundamentale Einführung in die Mathematik für all jene, die eine schriften, Inkunabeln, Frühdrucke (16. Jahrhundert). Textkritische Editionen des 17.– 20. Jahrhunderts. Editionen der Opera minora (16.–20. Jahrhundert), Hildesheim 1981; Peter Schreiber/Sonja Brenjes (Hrsg.), Euklid, Stuttgart 1987; Christoph J. Scriba/Peter Schreiber (Hrsg.), 5000 Jahre Geometrie, Berlin/ Heidelberg/New York 2001, 49ff.; 247ff.
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höhere Ausbildung anstrebten. Auch Girolamo Cardano war von seinem Vater mithilfe der Elemente mit der Mathematik vertraut gemacht worden.30 Durch seine öffentlichen Vorlesungen hoffte Tomaso auf sich aufmerksam zu machen und vielleicht an die weniger als eine Dekade zurückliegenden Erfolge des Mathematikers Luca Pacioli (1445–1517) von 1508 anknüpfen zu können, der durch eine öffentliche Vorlesung zu Euklid in der gleichnamigen Kirche am Campo San Bartolomeo bei Rialto nahezu 500 Zuhörer in seinen Bann gezogen hatte.31 Nur ein Jahr später publizierte Pacioli in Venedig auch eine lateinische Übersetzung der Elemente sowie eine Ausgabe der bereits 1494 erschienenen De divina proportione. In Tomaso Rangones Bibliothek befand sich ein Exemplar der Summa de arithmetica, geometria, proportiani, et proportionalit (1523) Paciolis, das nicht nur das mathematische Wissen der Zeit zusammenfasste, sondern auch zum ersten Mal die Buchhaltung venezianischer Kaufleute, die doppelte Buchführung, ausführlich beschrieb.32 Wenngleich Tomasos Tätigkeit an der Universität von Padua nur von kurzer Dauer sein sollte, wird sie doch von fast allen Historikern hervorgehoben, darunter insbesondere von dem Chronisten Jacobo Facciolati,33 nach dessen Zeugnis Tomaso ab 1518 Moralphilosophie und Astronomie in Form einer einjährigen Professur zu einem Salär von zwanzig Florin (Dukaten)34 gelehrt habe. Ähnlich äußerte sich auch ein weiterer Biograph des 18. Jahrhunderts, Pier Paolo Ginanni,35 der Tomasos Lehrtätigkeit in Bologna und Rom (Medizin)36 30 Anthony Grafton/Jean Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 12. 31 Bodo Guthmüller et al. (Hrsg.), August Buck, Studia humanitatis. Gesammelte Aufsätze 1973–1980, Wiesbaden 1981, 16. 32 Grahame Thompson, Early Double-Entry Bookkeeping and the Rhetoric of Accounting Calculation, in: Anthony G. Hopwood/Peter Miller (Hrsg.), Accounting as a Social and Institutional Practice, Cambridge 1994, 40–66. 33 Jacobo Facciolati, Fasti Gymnasij Patavini, Patavij 1757, Band 3, 136 (De Astronomia et Mathematica): Hoc ipso anno medicinam profiteri in Gymnasio coepisse Thomam Philologum Ravennateum argenteis sexagenis, nec sane verisimile puto, cum anno 1518 ad primam sophisticam scholam conductus sit florinis non amplius vicentis. 34 Die Rechnungsaufstellungen zur Bezahlung der Professoren von Padua wurden zwar in Dukaten verzeichnet, in Padua jedoch in Florin ausgezahlt, vgl. hierzu Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 22, Anm. 55. Jedoch gab es auch Ärzte, die sich mit einem weitaus geringeren Gehalt zufrieden geben mussten. So erhielt 1531 der Arzt Alvise Bellacato (1501–1575) für eine lectura universitatis zum dritten Buch Avicennas lediglich 10 Florin, vgl. Cristina Marcon, Intorno ad Alvise Bellacato (1501–1575), medico e docente: carriera, famiglia, testamento, Quaderni per la storia dell’universit di Padova 41, 2008, 151– 170, bes. 151. 35 Pier Paolo Ginanni, Dissertazione epistolare, 70–71; Ders., Memorie storico-critiche, Band 2, 227–237. 36 Pier Paolo Ginanni, Dissertazione epistolare, 73 und 99: essendo cesato per le guerre lo studio di Padova fu egli chiamato a leggere nelle famose universit della sapienza, e di Bologna. Die rotuli für diesen Zeitraum sind nicht erhalten, vgl. Emanuele Conte (Hrsg.), I maestri della Sapienza di Roma dal 1514 al 1787: I rotuli e altre fonti, Roma 1991.
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ebenfalls bestätigte und vermerkte, der junge Arzt sei in Padua publico lettore di medicina im Alter von etwa 30 Jahren gewesen. Auch der Philosoph Giovanni Marinelli,37 Vater der bekannten Dichterin Lucrezia Marinelli (1572–1653), hatte in einer Widmung an Tomaso den herausragenden Erfolg des jungen Professors hervorgehoben, der in Rom, Bologna und Padua mit allerhöchstem Lob und zu aller Bewunderung unterrichtet habe.38 Ginanni bermerkte zudem, Tomaso habe möglicherweise einen Lehrauftrag für Mathematik abgelehnt, um Medizin lehren zu können.39 Schließlich erwähnte Nicolaos Comnenos Papadopoli eine Professur für Medizin und Philosophie in Padua zu einem Salär von 20 Florin.40 Lediglich der Chronist Papadopoli machte noch auf eine kurze Lehrtätigkeit für Astrologie und Mathematik an der eher unbedeutenden Universität von Ferrara aufmerksam,41 was durch die Darstellung Borsettis bestätigt wird, der anscheinend zeitgenössische Akten studiert hatte.42 Ferrara hatte sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Zentrum der Astrologie entwickelt,43 jedoch sind die rotuli dieser Zeit nicht mehr erhalten, weshalb die Aussagen Papadopolis und Borsettis nicht mehr überprüft werden können. Möglicherweise befanden sich die Dokumente, in denen auch Tomaso erwähnt wurde, unter jenen, die am 28. August 1834 einem Diebstahl zum Opfer gefallen 37 DBI, s.v.a. Marinelli (Marinello), Giovanni und Marinelli (Marinello), Lucrezia. 38 Giovanni Marinelli, Practica Ioannis Arculani Veronensis […], Venetijs 1560 (Thomae Ravennati Philologo doctiss. ac celeberrimo artium, atque medicinae doctori Ioannes Marinellus medicus s.d.): cum summa tua laude, et omnium audiorum admiratione […]. 39 Pier Paolo Ginanni, Dissertazione epistolare, 72, 98, 101. 40 Nicolaos Comnenos Papadopoli, Historia Gymnasij Patavini, Venetijs 1726, 312: Fessus assiduo labore, et sumptibus faciendis magnifice par, ad gymnasticam gloriam respexit, jusque docendi medicinam obtinuit in lycaeo patavino mercede minimum sexaginta nummorum […]. Solitus proinde obligatione muneris publici, quod reliquum vitae fuit, medicinae privatis iterum mercedibus exercendae patavii dedit. Vgl. zu vergleichbaren Gehaltsangaben für Padua im 15. Jahrhundert Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 24 (Tabelle). Zu den Professorengehältern der medizinischen Fakultät in Padua Ende des 15. Jahrhunderts vgl. Giuseppina de Sandre, Il collegio dei filosofi e medici, 83–89. 41 Zur Universität von Ferrara vgl. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 99–106; zur dortigen medizinischen Fakultät siehe Fabio Raspadori, La Facolt medica di Ferrara, in: Patrizia Castelli (Hrsg.), La rinascita del sapere. Libri e maestri dello studio ferrarese, Venezia 1991, 264–273. 42 Ferrante Borsetti, Almi Gymnasij Ferrariensis historia, Ferrariae 1735, 290 (unter : Scholarium nonnullorum illustrium exterorum almi Ferrarensis Gymnasij nec non aliquorum ex viris doctissimis qui Ferrariae sunt diu versati): Thomas Filologo Ravennas, vir insignis, qui astrologiam, mathematicisque disciplinas in celeberrima universitate nostra fuit institutus, claruitque circa saeculi XV initium: Philosophiae et medicinae doctor fuit, obiitque octogenario maior, ut scribit Joannes Jacobus Mangeti in sua medica biblioteca. Jedoch gibt es keinen Eintrag in den rotuli, vgl. Adriano Franceschini, Nuovi documenti relativi ai docenti dello studio di Ferrara nel sec. XVI, Ferrara 1970. Zum wissenschaftlichen Ambiente in Ferrara vgl. Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 280ff. 43 Cesare Vasoli, L’astrologia a Ferrara tra la met del Quattrocento e la met del Cinquecento, in: Paolo Rossi (Hrsg.), Il Rinascimento nelle corti padane, 469–494.
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waren, der nie aufgeklärt werden konnte. Allerdings scheint Tomaso selbst dieser kurzen Lehrtätigkeit keine besondere Bedeutung beigemessen zu haben, da Ferrara weder in der Oratio noch in der griechischen Inschrift an der Fassade von San Giuliano erwähnt wird.44 Einen vergleichbaren Höhepunkt wie einst im 15. Jahrhundert sollte die Universität von Padua erst wieder erleben, nachdem Tomaso den Bo schon längst verlassen hatte. Die Gelehrten kehrten allmählich nach Padua zurück und die Universität wurde wieder zu einer der bedeutendsten und einflussreichsten Bildungsstätten Europas: So berichtete 1549 der venezianische Botschafter und Kardinal Bernardo Navagero (1507–1565) enthusiastisch in einer relazione, noch nie so hervorragende Gelehrte wie den Mediziner Giovanni Battista del Monte (1498–1551),45 den Naturphilosophen und Averroisten Marc’ Antonio de’ Passeri (1491–1563),46 den Logiker Bernardino Tomitano (1517–1576)47 oder den Latinisten und Gräzisten Lazzaro Bonamico (1479–1552)48 gehört zu haben.49 Auch im medizinischen Unterricht fanden tiefgreifende Veränderungen statt. Ab 1543 wurden Studenten regelmäßig am Krankenbett unterrichtet und bezogen dadurch ihre Wissensinhalte nicht mehr ausschließlich aus Büchern.50 Trotz seiner nur kurzen Lehrtätigkeit sollte sich Tomasos Aufenthalt am Bo in seiner schriftstellerischen Tätigkeit niederschlagen und die Grundlage für zwei opuscula darstellen, die er 1521 in Modena publizieren sollte. Die intensive Beschäftigung mit der Nikomachischen Ethik des Aristoteles führte zur Publikation einer philosophischen Schrift über das Glück (De optuma ! felicitate) und die öffentlichen Vorlesungen über die Elemente des Euklid zu einer Reflexion über das Alter der Astrologie und Mathematik, der bereits erwähnten Oratio.
44 Zudem zeigen Quellen der Zeit, dass Ferrara nicht so angesehen war wie etwa Bologna oder Padua, vgl. Gian Paolo Brizzi et al. (Hrsg.), L’universit di Bologna. Maestri, studenti e luoghi dal XVI al XX secolo, Bologna 1988, 114. 45 DBI, s.v.a. da Monte, Giovanni Battista; Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 5, 524; 641; Band 6, 224–228; 231; 365. 46 Alba Paladini, La scienza animastica di Marco Antonio Genua, Congedo 2006. 47 Vittore Branca (Hrsg.), Dizionario critico della letteratura italiana, Torino 1973, Band 3, 507–512. 48 DBI, s.v.a. Bonamico, Lazzaro; Francesco Piovan, Per la biografia di Lazzaro Bonamico. Ricerche sul periodo dell’insegnamento padovano (1530–1552), Trieste 1988. 49 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 40. 50 Loris Premuda, L’ Ospedale di Padova nella storia, in: Angelo Lorenzi et al. (Hrsg.), L’Ospedale civile di Padova. Il suo rinnovamento, la sua storia, le sue attrezzature al servizio dell’uomo, Padova 1986, 19–46.
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1521 scheinen sich Tomasos Hoffnungen auf eine akademische Karriere zerstreut zu haben und er sah einer zweifelhaften Zukunft ohne geregeltes Einkommen entgegen. Für diese Annahme spricht die Tatsache, dass gemäß der rotuli (noviter confirmatus et deputatus ad lecturam astronomiae et mathematicae) und des Chronisten Tomasini1 der Astronom Federico Delfino (1477– 1547) Tomaso umgehend auf dem Lehrstuhl für Mathematik nachfolgte2 und diesen schließlich für 26 Jahre innehaben sollte. Zwar erhielt auch Delfino3 anfangs lediglich ein Gehalt von 40 Florin, doch steigerte sich dieses nach und nach auf die respektable Summe von 120 Florin im Jahr 1542. Während der folgenden Jahre, die Delfino in Padua unterrichten sollte, festigte er seinen hervorragenden Ruf als Astrologe: Zu seinen Schülern gehörten der Philosoph und Naturwissenschaftler Bernardino Telesio (1509–1588), der Astronom Giovanni Battista Amico (1511–1538) und der Humanist und Philosoph Alessandro Piccolomini (1508–1579). Für Tomaso bedeutete die Berufung Delfinos eine schwerwiegende Niederlage, weshalb er in der Oratio die Situation in Padua auch in einem anderen Licht darstellte: 1521 habe sich der päpstliche condottiere Guido Rangoni (1485– 1539)4 in der Universitätsstadt aufgehalten und Tomaso davon überzeugt, ihn zum Sitz der Familie Rangoni nach Modena zu begleiten und als Astrologe und 1 Giacomo Filippo Tomasini, Professores mathematicarum disciplinarum ab anno 1500 usque ad 1653, 338: Huic [d. h. Thomas Philologus] sucessit Fridericus Delphinus patavinus, et per annos 26 mathematicam disciplinas et praecipue astrologiam summa cum laude explicavit. 2 Antonio Favaro, I lettori di matematiche, bes. 61. Darauf könnte auch Tomasos Aussage verweisen, er sei in Padua »ein unerwünschter Gast« (insalutato hospite) gewesen, vgl. Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 1: Celebratissimo itaque toto terrarum orbe urbis Patavine Gymnasio insalutato hospite nullo viro nostri discessus conscio facto. 3 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 417–418; DBI, s.v.a. Delfino, Federico; Antonio Favaro, I lettori di matematiche, bes. 60–61. 4 J. Friedrich Gauhe, Historisches helden- und heldinnen-lexicon: in welchem das leben und die Thaten derer Generalen, Admiralen (…), Leipzig 1716, 1348; ausführlich Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni un condottiero fra Evo Medio e Moderno, Modena 2005.
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Leibarzt für eine großzügige Summe in dessen Dienste zu treten.5 Die wirklichen Gründe werden lediglich angedeutet, wobei Tomaso jedoch verlauten ließ, dass auch er, Thomas Philologus, wie alle gelehrten Männer seiner Zeit auf einen Mäzen angewiesen sei und diesen nun in der Person Guido Rangonis gefunden habe: So (ist) auch der Philologus wie alle gelehrten Männer unserer Zeit […] nichts ohne dich, du überaus großzügiger Guido, unser Wohltäter.6 Vermutlich ging die Bekanntschaft der beiden Männer aber bereits auf Tomasos Aufenthalt am päpstlichen Hof oder sogar noch auf seine Studienzeit in Bologna zurück, da die Mutter Guidos aus dem Geschlecht der Bentivoglio stammte.7 Seit dem 15. Jahrhundert standen die italienischen Söldnertruppen, darunter auch jene des Papstes, unter dem Kommando von condottieri.8 Diese meist sehr geschäftstüchtigen Männer waren oft Feudalherren und gelangten durch günstig abgeschlossene Verträge oder auch infolge von Plünderungen im Zuge von Feldzügen zu großem Reichtum, Macht und Einfluss. Von Zeitgenossen wurde aber auch der Wankelmut der condottieri und ihrer bezahlten Söldner kritisiert, die keinem Herrn wirklich die Treue hielten. Machiavelli schrieb daher vielsagend im Principe: Söldner und Hilfstruppen sind nutzlos und gefährlich. Wer nämlich seine Herrschaft auf Söldner stützt, wird niemals einen festen und sicheren Stand haben; denn sie sind uneinig, herrschsüchtig, undiszipliniert und treulos; mutig unter Freunden und feige vor dem Feind; ohne Furcht vor Gott und ohne Treue gegenüber den Menschen.9
Jedoch war die ehemals scheinbar unbesiegbare Macht der condottieri zu diesem Zeitpunkt bereits im Schwinden begriffen. Die Ursache lag vor allem in der neuen Kriegsführung der spanischen Infanterie, der Schweizer Fußtruppen und der deutschen Landsknechte der ausländischen Großmächte. Diese Landsknechte waren in ihrer bunten und auffälligen Schlitzmode, die weitaus mehr Bewegungsspielraum bot, den archaischen gepanzerten Lanzenreitern10 der 5 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 1: Nam obligatus reccedere non poteram: de elicto destitutoque ad tuos praeclarissimos tuaeque familiae generosos atque munificentiss. lares me ibi perpetuo permansurorum nuperrime contuli. […] in super visum est superis ut ad te me conferrerem ill. princeps […], a quo primo pede fui maximis muneribus ingenti salario, et promissis fere innumerabilibus. 6 Ebd., c. 1: Ita et nostri temporis omnes viri docti et Philologus […] nil sine te, munificentissimo Guido maecenato nostro. 7 Guido Rangoni hielt sich zur Studienzeit Tomasos im Oktober 1510, im Februar 1514 und im März 1516 in Bologna auf. 8 Geoffrey Trease, Die Condottieri. Söldnerführer, Glücksritter und Fürsten der Renaissance, München 1974; John Rigby Hale, War and Society in Renaissance Europe (1450–1620), London 1985. 9 Philipp Rippel (Hrsg.), Niccol Machiavelli, Il Principe, Stuttgart 2001, 94–95. 10 Eine Lanze (lance) bestand aus einem Korporal, einem Knappen und einem Pagen, wobei ein Fähnlein (bandiera) von 25 Lanzen gebildet wurde.
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italienischen Söldner bei weitem überlegen. Der gesellschaftliche Aufstieg eines condottiere war somit umso mehr von Glück (fortuna) und Tapferkeit (virtus) abhängig. Als päpstlicher condottiere war Guido Rangoni auf politischem Gebiet zu dieser Zeit bereits eine einflussreiche Persönlichkeit mit weitreichenden Kontakten. Bisher war die wankelmütige Glücksgöttin noch auf seiner Seite gewesen, hatte ihm durch erfolgreich abgeschlossene Verträge Reichtum und Macht geschenkt. Erste militärische Erfahrungen hatte der junge Conte bereits im Dienst der Bentivoglio in Bologna gesammelt, als er nach dem überraschenden Tod seines Vaters Niccol am 28. Oktober 1500 den Titel eines condottiero d’armi di Bologna verliehen bekommen hatte. Nach der Vertreibung der Bentivoglio (1506) trat Guido il zovene in den Dienst des Herzogs von Ferrara, Alfonso I. d’Este,11 und nahm zwischen 1508 und 1515 laut Guicciardini im Auftrag Venedigs an mehreren bedeutenden militärischen Unternehmungen wie der Schlacht bei Marignano (13. September 1515) teil.12 Ab 1514 stellte er seine Dienste dem neu gewählten Papst Leo X. zur Verfügung, einem Freund und engen Vertrauten seiner Familie.13 Unter dem Medici-Papst begann daher auch die beispiellose Karriere des aufstrebenden condottiere, die mit dem Sacco di Roma im Mai 1527 jedoch ein vorzeitiges Ende finden sollte. Viele condottieri, darunter auch der universalgebildete Federico da Montefeltro (1422–1482) und spätere Herzog von Urbino, widmeten sich der Literatur und Poesie und umgaben sich gerne mit humanistisch gebildeten Gelehrten.14 Den Pasquillanten Pietro Aretino verband etwa eine enge Freundschaft mit Giovanni dalle Bande Nere (1498–1526), der ihm nach seiner Flucht aus Rom Schutz gewährte.15 Eine Schlüsselrolle spielte der Hofastrologe, der meist auch als Ratgeber (consiliarius) und persönlicher Leibarzt eines condottiere fungierte.16 Die Aufgabe dieses Spezialisten war es, für seinen Dienstherren die Planetenkonstellationen zu bestimmen, Prognostika zu erstellen und Ephemeriden anzufertigen sowie mithilfe der Nativitäten anderer Potentaten politische Handlungsanweisungen zu ermitteln. Zwar war der Hof der Rangoni nicht mit jenem der Sforza in Mailand, der Este in Ferrara oder gar der Gonzaga in Mantua vergleichbar, doch galt auch die Familie Rangoni, die bevorzugt in einem in 11 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 25–40. 12 Storia d’Italia, 12 : 14–15. 13 Zur Beziehung der Familie Rangoni und Giovanni de’ Medicis (Leo X.) vgl. Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 30–31. 14 Kerstin Kühnast, Studien zum Studiolo zu Urbino, Köln 1987; Robert Kirkbride, Architecture and Memory. The Renaissance Studioli of Federico da Montefeltro, Columbia 2008. 15 Klaus Thiele-Dohrmann, Kurtisanenfreund und Fürstenplage. Pietro Aretino und die Kunst der Enthüllung, München 2000, 45–55. 16 Zu diesem »Berufsbild« vgl. Barbara Bauer, Die Rolle des Hofastrologen und Hofmathematicus als fürstlicher Berater, in: August Buck (Hrsg.), Höfischer Humanismus, Weinheim 1989, 93–117.
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Modena liegenden Palazzo logierte, als äußerst aufgeschlossen gegenüber Kunst und Literatur. Unter den Höflingen befand sich zeitweise auch Bernardo Tasso (1498–1569), der Vater des Dichters Torquato Tasso (1544–1595).17 Guido selbst war wie auch sein Bruder Annibale (1486–1523) ein ausgesprochener Förderer von Künstlern und Literaten.18 Am Hof der Rangoni verkehrten zeitweise bedeutende Persönlichkeiten, darunter der seit dem 25. Januar zum französischen König gekrönte FranÅois I., der im Dezember 1515 in Modena logiert hatte, bevor er in Bologna mit dem Papst zusammentreffen sollte. Guido Rangoni war mit Argentina Pallavicini (ca. 1500–1550)19 verheiratet, die sich ebenfalls durch ihre Bildung und Belesenheit auszeichnete. Zudem zeigte die Gattin des condottiere großes Interesse an der Erforschung der Natur, Zoologie und Botanik. Um Tiere für ihr Naturalienkabinett optimal konservieren zu können, führte sie auch eigenhändig wissenschaftliche Experimente durch: In einem vermutlich in den 1530er Jahren verfassten Brief, der von Ortensio Landi (1510–1558) in den Lettere di molte valorose donne (1548) publiziert worden war, beschrieb Argentina die Herstellung eines Destillats, um Schauobjekte wie Tiere und Pflanzen haltbarer zu machen.20 In Form eines Balsams soll dieses erste Destillat zudem hilfreich gegen Falten sein und zu einer rosigen Haut verhelfen, wobei das zweite und alle weiteren bei gesundheitlichen Beschwerden von großem Nutzen seien. Auch nach dem Tod ihres Mannes umgab sich Argentina Pallavicini in Venedig mit gelehrten Humanisten, zu denen auch Pietro Aretino und Tizian21 gehörten. Tomaso scheint mit Argentina ebenfalls freundschaftlich verbunden gewesen zu sein, da sie ihn in seinen astronomischen Untersuchungen unterstützte und ihm sogar einen beweglichen Himmelsglobus schenkte.22
17 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 53. 18 Ebd., 14–15. 19 Das Paar hatte vier Kinder (Baldassarre, Niccol, Isabella und Lavinia). Zeitgenössische Portraits von Argentina Pallavicini sind selten. Erwähnenswert ist eine Stiftungs-Medaille von Antonio Vicentino, die auf dem Verso ein Dreiviertelportrait Argentinas in der charakteristischen Kleidung der Hochrenaissance (ARGENTINA.RANGONA.PA:DICAVIT) zeigt. Auf dem Recto krönt die personifizierte Fama die Stifterin, die neben einem Fluss (symbolisiert durch Neptun) sitzt (zu einer Abbildung vgl. Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 69). Vgl. auch Philip Attwood, Italian Medals, ca. 1530–1600, in British Public Collections, London 2003, 226–227; Raymond B. Waddington, Aretino’s Satyr. Sexuality, Satire, and Self-Projection in Sixteenth-Century Literature and Art, London 2004, 93–94; speziell zu Argentina Pallavicini als Kunstförderin vgl. Katherine A. McIver, Women, Art, and Architecture in Northern Italy, 1520–1580; Negotiating Power, Aldershot 2006, 153–154. 20 Ortensio Landi, Lettere di molte valorose donne, nelle quali chiaramente appare non esser ne di eloquentia ne di dottrina alli huomini inferiori, Vinegia 1548. 21 Hans Tietze, Titien, London 1949, 321. 22 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl., Nr. 105 [=4282]), c. 1: Sphaera coelestis corpore solido […] ab illustrissima Argentina comitis Guidonis Rangoni dono recepta.
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Guido Rangoni selbst galt auch als unterhaltsamer und gebildeter Gastgeber : Der Erstgeborene hatte neben dem Handwerk des Kriegsgottes Mars eine fundierte humanistische Ausbildung erhalten, wie seine Geschwister Annibale, Ginevra (1488–1540), Ercole (1491–1524)23 und Costanza (geb. 1496) Latein und Griechisch erlernt und erfreute sich an der schönen Literatur und Dichtkunst, insbesondere den eleganten Versen Petrarcas. Zu seinen Lehrern gehörten Demetrio Moscopulo, der Mythenforscher Giglio Gregorio Giraldi (1479–1552) und der Arzt und Dichter Guido Postumo (1479–1521).24 Als zukünftiger condottiere war er in militärischen Fragen und dem Umgang mit Waffen bereits früh von Guido Antonio da Lucca unterrichtet worden.25 Guido Rangoni entsprach damit dem von Baldassare Castiglione so lebensnah beschriebenen Bild des tapferen Kriegsherren, der den platonischen Kampf der Worte ebenso verinnerlicht hatte wie das Handwerk des Kriegsgottes. Die wenigen erhaltenen Portraits26 betonen jedoch vorwiegend seine martialische Seite und zeigen ihn stets mit zielstrebigem, nach rechts gerichtetem Antlitz in voller Kampfausrüstung. In der zu Beginn des 16. Jahrhunderts vollendeten Camera dei Capitani im Palazzo der Gonzaga-Guerrieri in Volta-Mantovano befindet sich in der Deckenmalerei ein Bildnis des noch jungen condottiere, der, umgeben von Giovanni de’ Medici (Leo X.), Francesco Gonzaga und Niccol d’Este, dem Großvater Isabella d’Estes (1474–1539), dargestellt ist.27 Das 1523/24 von einem unbekannten Künstler für die Confraternit di San Geminiano angefertigte Stifterportrait zeigt hingegen einen reiferen, leicht ergrauten Kriegsherren, während sich in dem postum von Tizian um 1543 fertiggestellten Bildnis, in dem der condottiere mit Marschallsstab, Schwert und Prunkrüstung dargestellt ist,28 das ereignisreiche Leben des gealterten Kriegsherren widerspiegelt.
23 Ercole wurde später Kardinal, vgl. Girolamo Garimberti, La prima parte delle vite o vero fatti memorabili d’alcuni Papi et di tutti, Venezia 1817, 255. 24 Girolamo Tiraboschi, Biblioteca Modenese, Band 4, 282. Zum Mythenforscher Giraldi vgl. Elliott M. Simon, The Myth of Sisyphus: Renaissance Theories of Human Perfectibility, Madison 2007, 97–98. 25 Darüber berichtete 1536 der Fechtmeister Achille Marozzo (1484–1533) in den Guido Rangoni gewidmeten Opera nova chiamata duello, o vero fiore dell’armi de singulari abattimenti offensivi, & diffensivi, [ohne Ort] 1536. 26 Zu Medaillen mit dem Bildnis Guido Rangonis vgl. Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 68 sowie Historisches Museum Basel, Inv. 2006.205 (Niccol Cavallerino; auf der Vorderseite ist eine gepanzerte Büste Guido Rangonis zu erkennen, auf der Rückseite reicht Victoria von links einer weiblichen Figur [Europa?] auf einem Stier einen Palmzweig, darunter eine Amphore und ein Füllhorn). Für die Medaille wurde ein echter Sesterz überprägt. 27 Mariano Vignoli, Il Palazzo Gonzaga-Cavriani di Volta Mantovana. Una villa fancelliana nel Risorgimento, in: Ders. (Hrsg.), Quanta schiera di gagliardi. Uomini e cose del risorgimento dell’Alto Mantovano, Citt di Castel Goffredo 2011. 28 Versteigert im April 2008 bei Sothebys (Old Master Paintings, Los 161). Die Beischrift lautet: Guido Rangone Cap. Generale di Fran. Re di Francia / .. della Ser Rep Veneta.
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Abb. 9: Der päpstliche condottiere Guido Rangoni (um 1523/24?). Das Stifterbildnis (GUIVDVS COMES RANGONVS FVNDATOR) befindet sich in der Sakristei der Kirche delle Grazie der Confraternit di San Geminiano von Modena, die von Guido Rangoni großzügig unterstützt wurde.
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Der Astronom und Erfinder
Unter dem Schutz des ebenso astrologiebegeisterten29 wie großzügigen Guido Rangoni konnte sich Tomaso neben seiner Tätigkeit als Leibarzt und astrologischer Berater vermehrt auch als Erfinder mechanischer Himmelsmodelle betätigen. Tomasos große Dankbarkeit – und Abhängigkeit – gegenüber Guido Rangoni kommt auch in der Oratio zur Sprache, habe der condottiere dem Gelehrten doch erst die Grundlage geboten, sich zu entfalten: Gleichsam wie ein Grundstoff ohne Form, der Himmel ohne Bewegung […] und die Lebewesen ohne Seele kann auch ich ohne dich und deine Zuwendung weder existieren noch gut leben. Genauso wie es sich bei diesen Dingen verhält, so entsteht, vergrößert sich und wird auch in mir durch dich jegliche Ruhe und die absolute Perfektion der Gestalt vollendet.30
Noch unter dem Einfluss des paduanischen Wissenschaftsbetriebes und der kosmogonischen Diskussionen betätigte sich Tomaso als Konstrukteur innovativer mechanischer Himmelsmodelle. In der ersten Hälfte des Cinquecento war das Interesse der paduanischen Astronomen insbesondere auf die Erfindung immer neuer komplizierter kosmologischer Modelle gerichtet gewesen, die die Laufbahnen der Wandelsterne durch eine Rotation der Sphären simulieren sollten. Im Zentrum der Diskussionen hatte insbesondere die durch Ptolemäus eingeführte Epizykeltheorie gestanden, die dazu dienen sollte, die scheinbaren Bewegungen von Mond, Sonne und den Planeten zu erklären. Basierend auf der Lehre des Aristoteles glaubte man, dass sich die Planeten gleichförmig auf perfekten Kristallsphären um den Mittelpunkt Erde bewegten, während die Planeten in östlicher Richtung entlang eines kleinen Kreises ziehen würden, der sich wiederum entlang eines größeren Kreises (Deferent) mit der Erde als Mittelpunkt drehte.31 Laut der Oratio entwarf Tomaso als erster in und außerhalb Italiens ein Modell der Wandelsterne (Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn), also der Planeten, die sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne bewegen, wobei 29 Auch in De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [35]), c. 3, spielt Tomaso Rangone auf Guido Rangonis Begeisterung für die Astrologie an: Tu denique astrologia reliquasque disciplinas ita cales, ut nemini secundus locus admittatur. 30 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 1: Nam velut materia sine forma et coelum sine motu […] et absque anima animal, ita et nos sine te et tua absque cura omni et esse et bene esse deficimus. Et sicuti in his ex his, ita in me ex te omnis quies et ultima formae felicitas exoritur augetur perficiturque. Vgl. auch ebd., c. 3v ; c. 4r : Tecum […] senescere volo. 31 Nach 1530 taten sich in dieser Hinsicht insbesondere Giovanni Battista Amico und Girolamo Fracastoro hervor: Fracastoro verfasste zu diesem Thema die Abhandlungen Homocentricorum sive De stellis, de causis criticorum dierum libellus (1535) und die Homocentrica (1538). Vgl. hierzu Mario di Bono, Le sfere omocentriche di Giovan Battista Amico nell’astronomia del Cinquecento, Genova 1990, 76ff.; Enrico Peruzzi, La nave di Ermete. La cosmologia di Girolamo Fracastoro, Firenze 1995, 33 sowie 74f.
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er die Bahnen von Merkur und Venus mittels eines Modells rekonstruierte. Dabei orientierte sich Tomaso möglicherweise an den Thesen antiker Astronomen wie Macrobius und Martianus Capella, die bereits die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatten, dass Merkur und Venus nicht um die Erde, sondern um die Sonne kreisten,32 eine Theorie, die um 1500 wieder von Giorgio Valla (1447– 1500) vertreten worden war :33 Als erster in und außerhalb Italiens habe ich alle Bewegungen sowohl der Fix- als auch der Wandelsterne durch ein (gemeint ist: plastisches bzw. dreidimensionales) Modell dargestellt. Die transversalen Pole der drei oberen (d. h. der Wandelsterne Mars, Jupiter und Saturn) im Epizykel habe ich gefunden. Die schwer vorstellbare Bewegung von Merkur und Venus in Form einer ovalen Figur […] habe ich neulich ebenfalls entdeckt. Und die Bewegung der verschiedenen einzelnen Achsen und die Proportionen der gegenüberliegenden habe ich ebenfalls entsprechend den wirklichen Verhältnissen am Himmel gefunden.34
Die 1521 publizierte Oratio,35 eine schmeichelhafte laudatio an Guido Rangoni,36 enthält auch ein euphorisches Lob der Mathematik und der Astrologie, da letztere doch für eine genauso berechenbare Wissenschaft wie die erste galt. Die Zusammenfassung der mathematischen Wissenschaften ging zwar bereits auf die Antike durch Hippias von Elis (5. Jahrhundert v. Chr.) zurück, die Festlegung des Kanons in Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie erfolgte jedoch erst durch den Kirchenvater Augustinus.37 Bei dieser 32 Sabine Grebe, Martianus Capella »De nuptiis Philologiae et Mercurij«. Darstellung der Sieben Freien Künste und ihrer Beziehung zueinander, Stuttgart/Leipzig 1999, bes. 566; Rudolf Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter, München 1992, bes. 26f.; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 170. 33 So in seinem postum erschienenen Werk De expetendis et fugiendis rebus opus, Venetijs 1501. Vgl. zu Valla Edward Rosen, Nicholas Copernicus and Giorgio Valla, Physis 23, 1981, 449–457, bes. 455ff.; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 170–171. 34 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]): Primus in Italia et extra Italiam omnes et singulos tam fixarum quam errantium stellarum motus solidis corporibus adaptavi. Transversales trium superiorum polos in epicicli inveni. Motum Mercurij et Veneris figure ovalis inimaginabilem fere penes quoscumque ab intelligentia sui ipsius directus nuper repperi. Et varium singulorum axium motum augium et oppositorum proportiones, velut in coelis sunt, adinveni. 35 Das Exemplar in der Biblioteca Marciana ist mit den kleinen Schriften De morbo epidemico und Depilativa, Dentativaque zusammengebunden. Obwohl kein Datum genannt wird, kann diese Schrift aufgrund der inhaltlichen Angaben auf das Jahr 1521 datiert werden. Dieses Exemplar stammt noch aus dem persönlichen Besitz Tomasos und trägt den vielsagenden Titel Oratio mathematices philologi Thomas auf dem Frontispiz. Auf der Rückseite ist der Untertitel Sermo astrorum. E. C. E. C. Ravenna Thomas zu erkennen. 36 Ebd., c. 1: Ad illustrem et munificentiss. principem dominum comitem Guidum Rangonem. […] et benefactore singulariss. Thomae Philologi Ianothi Ravenn. artium et medicinae doctoris in praeclarissimo Patavino gymnasio ad astrologiam ordinariam publice conducti. 37 Jutta Tezmen-Siegel, Die Darstellung der septem artes liberales in der Bildenden Kunst als Rezeption der Lehrgeschichte, München 1985, 18ff.; Wolfgang Hübner, Die Begriffe
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Schrift orientierte sich Tomaso wohl an Luca Gauricos im Oktober 1507 in Ferrara gehaltenen Verteidigung der Astrologie De astronomiae seu astrologiae inventoribus, utilitate, fructu et laudibus oratio, die Gaurico später in den Spherae tractatus (1537) publizierte. Darin beschrieb der Astrologe eine lückenlose Entwicklung der Astrologie über die Autoritäten der Antike und Gegenwart.38 Es folgten noch zwei weitere Publikationen mit vergleichbarer Thematik, darunter die Centum sententiae di Tolomeo (1540) und De primis spherae sideralisque disciplinae inventoribus laudes (1557). Auch der kroatische Philosoph, Arzt und Mathematiker Federicus Chrysogonus hatte in den Speculum astronomicum terminans intellectum humanum in omni scientia Federici (1507) eine Oratio integriert, die dem Lob der Mathematik und der einzelnen Disziplinen gewidmet war,39 und am Anfang eine Kurzbiographie eingefügt. Ein Exemplar dieses heute äußerst seltenen Speculum befand sich ebenfalls im Besitz Tomasos. Wie Luca Gaurico vor ihm lieferte Tomaso einen kurzen historischen Abriss der Mathematik,40 die bereits in Ägypten erfunden worden sein soll, habe sich doch bereits der ionische Philosoph Thales (624–546 v. Chr.) dort mit den Grundfragen der Geometrie vertraut gemacht.41 Als Höhepunkt dieser Entwicklung galten in der Renaissance nach der athenischen Periode die in Alexandria zur Zeit Ptolemaios’ II. Philadelphos (309–246 v. Chr.) entstandenen Elemente des Euklid, die Tomaso bereits in Padua in öffentlichen und privaten Vorlesungen behandelt hatte. Schließlich widmete sich der Gelehrte der Geschichte der Mathematik nach Euklid und den angeschlossenen mathematischen Wissenschaften wie der Arithmetik, der Geometrie, der Astrologie und der Musik, insbesondere der Sphärenharmonie.42 Bereits die vom Pythagorismus beeinflussten Naturphilosophen hatten zu beweisen versucht, dass der Kosmos mathematischen Gesetzen folgte und eine harmonische Einheit bildete, weshalb Zahlen und Zahlenverhältnisse in der Sphärenharmonie eine entscheidende Rolle spielten. Diese von Aristoteles abgelehnte Hypothese hatte sich in der Antike vor allem unter den Platonikern und Stoikern verbreitet. Der bekannteste Vertreter war der römische Schriftsteller Marcus Terentius Varro
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»Astrologie« und »Astronomie« in der Antike. Wortgeschichte und Wissenschaftssytematik mit einer Hypothese zum Terminus Quadrivium, Stuttgart 1989, bes. 51ff.; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 30. Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 249. Mihaela Girardi-Karsˇulin, Federik Grisogono und der Begriff der nützlichen theoretischen Wissenschaft, Prolegomena 6/2, 2007, 279–294. Einführend Helmuth Gericke, Mathematik in Antike und Orient, Mathematik im Abendland, Wiesbaden 2005. Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 2r/v ; Georg Wöhrle (Hrsg.), Die Milesier. Band 1: Thales, Berlin 2009. Ebd., c. 6r/v.
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(116–27 v. Chr.) gewesen, der in Ciceros Somnium Scipionis die Theorie der Sphärenharmonie ausführlich beschrieben hatte.43 In der Renaissance war diese Theorie von dem Humanisten Coluccio Salutati (1331–1406) zwar mit physikalischen Argumenten bekämpft, von Marsilio Ficino im Zuge neuplatonischer Tendenzen jedoch wiederaufgegriffen worden. Am Beispiel der Mathematik kommt Tomaso dabei auch auf die platonische Methode der Erkenntnisgewinnung zu sprechen, beruhe die Mathematik doch auf der Verstandeserkenntnis, da sie auf hinterfragten und »erprobten« Grundlagen basiere und außerhalb von Meinungen liege, wobei jede Erkenntnis als Wiedererinnerung (!m\lmgsir) an Ideen zu verstehen sei (Nihil aliud esse discere quam recordari).44 Die menschliche Seele soll diese Ideen nach platonischer Vorstellung vor dem Eintritt in den Körper »geschaut« haben und sich an diese nun im Prozess der Erkenntnis(gewinnung) mittels Gesprächen (Dialektik) erinnern. Die Medizin ist daher mit der Astronomie und der Mathematik verbunden,45 lässt sich doch auch die Gesundheit durch ein Zahlenverhältnis ausdrücken, welches das harmonische Verhältnis der vier Körpersäfte widerspiegelt.46 Insofern besticht die Oratio zwar nicht durch neue innovative Ideen, verrät jedoch interessante Details über Tomasos persönliche Entwicklung unter dem Einfluss der Familie Rangoni. Denn zum ersten Mal scheint sich der junge Arzt kritisch mit den naturphilosophischen Theorien des Aristoteles auseinanderzusetzen, dessen errata er mittels kosmogonischer Modelle aufklären möchte:47 Er widerlegte Theorien (rursum multa errata) in Aristoteles kosmologischer Schrift De coelo, beschäftigte sich eingehend mit der platonischen Philosophie, vor allem der Ideen- und der Erkenntnislehre, und widmete sich den platonischen Schriften wie der Politeia, den Dialogen Memnon oder Timaios und den Schriften des Neuplatonikers Plotin. Vermutlich hatte diese Hinwendung zum Platonismus auch mit der Tätigkeit Guido Rangonis zu tun, der von April 1522 bis Juli 1523 nach dem Tod Leos X. am 1. Dezember 1521 mit seinem Bruder Ludovico als capitano generale in den Dienst der Florentiner treten und Siena gegen den condottiere Renzo da Ceri (1475/76–1536) verteidigen sollte.48 In der im gleichen Jahr erschienenen philosophischen Schrift De optuma ! felicitate sollte Tomaso ebenfalls versuchen, diverse philosophische Richtungen wie Py43 Lukas Richter, »Tantus et tam dulcis sonus«. Die Lehre von der Sphärenharmonie in Rom und ihre griechischen Quellen, in: Konrad Volk/Frieder Zaminer (Hrsg.), Geschichte der Musiktheorie, Darmstadt 2006, 505–634. 44 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 6r/v ; H. Otto Seitschek, Wiedererinnerung, in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, 330–333. 45 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 8r/v. 46 Erich Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Wiesbaden 1964; EM, s.v.a. Humoralpathologie. 47 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 7v. 48 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 50–52.
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thagorismus, (Neu)Platonismus und Aristotelismus miteinander zu verbinden. Ein Blick in das Bibliotheksverzeichnis bestätigt jedoch, dass Tomasos Interesse für den Platonismus nur von kurzer Dauer sein sollte und vor allem auf den Schriften des Aristoteles und ihrer Rezeption lag. So ist unter der Kategorie philosophici latini lediglich ein einzige, wenn auch kostbar gebundene Ausgabe von Platons Werken bezeugt (Platonis opera Venetijs impressa 1507 a Pineio in folio corio rubro aureo filo ac litteris), während die Werke des Aristoteles, seiner Schüler und seiner Kommentatoren am meisten vertreten sind, darunter insbesondere Averroes, Alexander von Aphrodisias, Chrysosthomos Javellus, Alessandro Achilleni und Walter Burley. Tomasos verhaltene Beschäftigung mit dem Platonismus beruhte jedoch auch auf dem Einfluss des italienischen Universitätssystems, das bis ins 17. Jahrhundert hauptsächlich aristotelisch geprägt sein sollte und die philosophischen Schriften Platons auch nicht in das Curriculum aufnahm, waren doch die meisten Professoren nicht vom pädagogischen Nutzen dieser Schriften überzeugt.49 Von der in kritischer Auseinandersetzung mit dem Platonismus entstandenen »Neuen Philosophie«50 eines Bernardo Telesio (1509–1588), Giordano Bruno (1548–1600), Tommaso Campanella (1568– 1639) oder Girolamo Cardano sollte Tomaso deshalb noch weitgehend unbeeindruckt bleiben. Auch der Hof der Rangoni war kein Elysium, an dem sich Tomaso ungehindert philosophischen Reflexionen und der Konstruktion astronomischer Himmelsmodelle widmen konnte. Nach dem Tod Kaiser Maximilians I. (1519) ging die Kaiserwürde an den Habsburger Karl V. (1500–1558) über, wodurch eine Machtverschiebung entstanden war und sich die Franzosen in ihrer Vorherrschaft in Europa bedroht fühlten. Die folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten wurden nun zunehmend in Italien ausgetragen, wobei sich die italienischen Staaten mal mit der einen, mal mit der anderen Großmacht verbündeten. Bereits 1521 schloss Kaiser Karl V. mit dem Papst und Henry VIII. (1491–1547) ein Bündnis gegen den französischen König, der seinerseits mit der Unterstützung Genuas, Venedigs und Ferraras rechnen konnte. Als astrologischer Berater und Leibarzt Guido Rangonis wurde Tomaso daher unmittelbar Zeuge der militärischen Auseinandersetzungen, denn nachdem 1521 das antifranzösische Bündnis zustandegekommen war, waren Guido Rangoni weitreichende Kompetenzen als Militärkommandant zugesprochen 49 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 308–309. Zur Rezeption Platons in der italienischen Renaissance vgl. auch James Hankins, Plato in the Italian Renaissance, 3 Leiden 1994; Marcel van Ackeren, Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam 2003; Andrew Gregory, Plato’s Philosophy of Science, London 2000. 50 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 310–313; DBI, s.v.a. Telesio, Bernardino.
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worden und Tomaso begleitete seinen Dienstherren auch bei militärischen Kampagnen nach Rieti und Fermo.51 Im Mai 1521 befand sich Guido Rangoni mit 100 Lanzen und 100 Reitern in Latium, im Juli des gleichen Jahres musste er Modena vor der Bedrohung durch die Este schützen und bereits im August und September belagerte er zusammen mit dem päpstlichen condottiere Prospero Colonna (1452–1523) Parma, das von den französischen Truppen verteidigt wurde. Tomaso befasste sich in den folgenden Jahren intensiv mit militärischen Fragen, weshalb sich in seinem Besitz auch mehrere bedeutende Werke zur Kriegsführung befanden, darunter die Schrift De re militari des Vegetius,52 die Stratagemata des Frontinus,53 Werke von Aelianus und Modestus54 sowie Vallos 1529 erschienene Abhandlung über den Festungsbau.55 Als unmittelbarer Augenzeuge militärischer Konflikte wird Tomaso schnell klar geworden sein, wie abhängig die condottieri von virtus und fortuna waren, wie schmal der Grad zwischen Sieg und Niederlage oft war.56 1490 – Guido Rangoni zählte gerade fünf Jahre – war diese Frage gleich einem Prodigium bereits einmal in seiner Familie aufgeworfen worden: Im Sommer dieses Jahres hatte der Großvater Guidos bei einer festlichen Mahlzeit zur Diskussion gestellt, ob eigentlich Fortuna oder Sapienza dem Menschen mehr von Nutzen sei.57 Als Tomaso Guido Rangoni von Juli bis September 1521 bei der Belagerung Parmas begleitete, fertigte er die Niederschrift der philosophischen Schrift De optuma ! felicitate an, die er nach der Rückkehr Guido Rangonis am 31. Oktober 1521 bei dem Drucker Rocociolo in Modena publizierte.58 Darin widmete er sich dem
51 Oratio (BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 [=3601]), c. 1: […] et me praesente tibi soli evenit quod Timoleoni corinthio syracusis accidisse […] 52 Die ersten gedruckten Ausgaben von De rei militari waren in Utrecht (1473), Köln (1476), Paris (1478), Rom (1487) und Pisa (1488) erschienen. Noch im 18. Jahrhundert wurden die Grundsätze des Vegetius befolgt. 53 Die Strategematicon libri III sind eine Sammlung von militärischen Kriegslisten aus der griechischen und römischen Geschichte (Maßnahmen vor dem Kampf bzw. nach dem Kampf, Maßnahmen bei der Erstürmung von Städten, Tugenden des Feldherrn (Buch IV, Frontinus zugeschrieben). Behandelt werden auch der richtige Zeitpunkt des Kampfes, der geeignete Ort und die Aufstellung der Truppen. 54 Aelianus Tacticus (Taktika); Modestus, De rei militaris. 55 Libro continente appertinentie Capitani, Venetijs 1529. 56 Zum Verhältnis von fortuna und virtus des Feldherren in der Antike vgl. Harry Erkell, Cäsar und sein Glück, in: Detlef Rasmussen (Hrsg.), Caesar, Darmstadt 1967, 48–60. 57 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 15. 58 BMV, 2697 (35). Der vollständige Titel lautet: Thomae philologi Ianothi Ravennatis De optuma ! hominum felicitate contra Aristotelem et Averoim ceteros necnon philosophos impressum Mutinae per Antonium Rocociolum anno Domini incarantionis 1521 die 31 Octobr. Diese Schrift nannte Tomaso Rangone auch in seinem Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]) unter dem Titel Thomae Philologi Ravenna Physici Parmae impressa De optuma ! felicitate (ebd., c. 69r).Von dem Verleger Antonio Rocociolo (et fratres) sind nur noch wenige Drucke bekannt, darunter die postum herausgegebenen Clarissimi
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Erreichen der Glückseligkeit (eqdailom¸a) oder des obersten Guten (summum bonum) und beschäftigte sich nach dem Vorbild Marsilio Ficinos mit den Grundlagen des platonischen Denkens und der Tugendlehre.
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Obwohl es kritische Stimmen gab, die lediglich Logik und Naturphilosophie als für Mediziner relevante Bereiche der Philosophie betrachteten, war die Beschäftigung mit moralphilosophischen Inhalten im Italien des 16. Jahrhunderts für viele Ärzte gemäß dem galenischen Grundsatz quod optimus medicus sit philosophus ein wesentlicher Bestandteil ihrer Tätigkeit geworden.59 Dazu gehörte vor allem die Beschäftigung mit der Nikomachischen Ethik des Aristoteles,60 welche die Definition des summum bonum (!cahºm) als letzten Zweck des moralischen Handels ansah und nachhaltig prägte: Ziel der dianoetischen (verstandesmäßigen) und ethischen Tugenden61 ist demnach die sich selbst genügende Glückseligkeit (eqdailom¸a),62 die durch ein Tätigsein der Seele gemäß der Vernunft, auf eine »vollendete Weise« (!qet¶) und »in einem vollen Leben« erreicht werden kann. Gemäß dieser Grundsätze der Nikomachischen Ethik besteht jedoch eine Trennung in äußere, körperliche (innere) und seelische Tugenden, wobei die äußeren Reichtum, Freundschaft, Herkunft, Nachkommen, Ehre oder Schicksal umfassen. Die körperlichen Tugenden definieren sich durch Gesundheit, Schönheit, physische Stärke oder auch Sportlichkeit und die seelischen durch vernunftbegabtes Handeln. Während die äußeren Tugenden durch zufälliges Glück (eqtuw¸a bzw. fortuna) erreicht werden können, beruhen die körperlichen teilweise auch auf eigenem Engagement, wohingegen die seelischen nur »wahrhaft guten« Menschen zuteil werden. Insofern ist der Mensch nur Herr über die seelischen Tugenden, weshalb zwangsläufig ein zweistufiger Begriff der eqdailom¸a entsteht: eine begrenzte, durch die Verwirklichung der seelischen Tugenden (minimalistisch) und eine vollkommene
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poete Bartholomeo Paganelli Mutinensis opus grammatices editum post ipsius mortem (1516) und Li septi salmi penitentiali in octava rima (um 1521; Verfasser unbekannt). Carl B. Schmitt, Aristotele Among the Physicians, in: Andrew Wear et al. (Hrsg.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 1985, 1–15. Michael Pakaluk, Aristotle’s Nicomachean Ethics: An Introduction, Cambridge 2005; Nancy Siraisi, Tadeo Alderotti and His Pupils, Princeton 1981, bes. Kapitel 3; ferner Jon Miller, The Reception of Aristotle’s Ethics, Cambridge 2012; Eckhard Kessler, Die Philosophie der Renaissance, München 2008, 140–142. Während der griechische Ausdruck aret eigentlich die Tüchtigkeit/Tauglichkeit definiert, leitet sich der lateinische Begriff virtus von vir »Mann« ab, der als Träger der Tugenden Kraft, Stärke, Tapferkeit etc. galt. Vgl. zur virtus als auf die essentia wirkendes Moment bei Ficino Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt a. M. 1972, 112–113. Nikomachische Ethik 1097 b 20.
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(maximalistisch) durch das Erreichen der Güter aller drei Gruppen. Aristoteles offeriert in der Nikomachischen Ethik daher zwei Lebensentwürfe, die zur eqdailom¸a führen: das b¸or ¢eyqgtij|r, das kontemplative Leben, mit dem Ziel der Erlangung von Weisheit, und das b¸or pqajtij|r, das praktische Leben, in dem Klugheit in Verbindung mit den ethischen Tugenden zur Glückseligkeit führen soll. Während gemäß der Nikomachischen Ethik das Gute folglich in einem glückseligen Leben besteht, das durch Tugenden ethischer und dianoetischer Natur im richtigen Maß erreicht wird, bestand es für Platon lediglich in einem guten, edlen und gerechten Leben.63 Die spätere, dreiteilige Gliederung der Tugenden war erst von Xenokrates und Aristoteles vorgenommen worden, weshalb es mit der Stoa,64 die sich gegen die Drei-Güter-Lehre des Peripatos richtete, zu vehementen Diskussionen über die Qualität der eqdailom¸a kam. Die Stoa ging nämlich davon aus, dass vollkommenes Glück nur in der Gesamtheit der Tugenden bestünde und nicht nach und nach oder teilweise erworben werden könnte. Der antike Philosoph Epikur (341–270 v. Chr.), der Begründer des Hedonismus, sah dagegen vor allem in der Lust (Bdom¶) das eigentliche Lebensziel65 und der römische Rhetoriker und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), der sich in der fünfbändigen Schrift De finibus bonorum et malorum mit den Zielen des menschlichen Handelns und den grundlegenden Philosophierichtungen (Epikurismus, Stoa, Peripatos) auseinandergesetzt hatte, wandte sich wiederum ausdrücklich gegen den epikureischen Hedonismus (1./2. Buch) und die eqdailom¸a-Lehre der Stoa (3./4. Buch), kritisierte jedoch auch die Unvollkommenheit des Begriffs beim Peripatos (5. Buch). Seneca verteidigte in seiner Schrift De vita beata schließlich die Lehre der Stoa, nach der das höchste Gut in der Tugend zu finden sei.66 Für den italienischen Dominikanermönch Thomas von Aquin (1225–1274), der den Aristotelismus schließlich mit christlich-augustinischem Gedankengut verband, bestand das höchste Gut ausschließlich in der ewigen Glückseligkeit, die erst im jenseitigen Leben durch das Schauen Gottes erreicht werden kann. Voraussetzung dafür sei das rechte Maß der Kardinaltugenden in Verbindung mit den drei christlichen Tugenden Liebe, Glaube und Hoffnung.67 Im Zuge der Renaissance war die antike Diskussion um die eqdailom¸a wie63 Platon, Politeia 509b; Zur Idee des Guten bei Platon vgl. auch Damir Barbaric´ (Hrsg.), Platon über das Gute und die Gerechtigkeit, Würzburg 2005. 64 Erhard Hobert, Stoische Philosophie. Tradition und Aktualität. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Frankfurt a. M. 1992; Wolfgang Weinkauf, Die Philosophie der Stoa. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2001. 65 Katharina Held, He¯done¯ und Ataraxia bei Epikur, Paderborn 2007. 66 De vita beata, 16 : 1; Vronique Laurand (Hrsg.), Snque, De la vie heureuse, Paris 2005. 67 Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 1998.
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deraufgenommen worden,68 und die Lehre der aristotelischen Ethik (Ad philosophiam Aristotelis) wurde grundlegender Lehrstoff auf dem Gebiet der Moralphilosophie, vor allem in Bologna oder Padua, da durch die Erziehung zur (moralischen) Tugend die zukünftige Elite auf ihre Laufbahn vorbereitet werden sollte.69 Und doch gehörte dieses grundlegende Problem der Moralphilosophie zugleich zu den am meisten diskutierten Fragen der Renaissancegelehrten. Nach der Utopia (1515) von Thomas Morus (1478–1535) beschäftigten sich daher sogar die Bewohner dieser Phantasiewelt mit jenem Teil der Philosophie, welcher von der Tugend und den Sitten handelt, wobei ihre Ansichten und Vernunftgründe mit den unseren übereinstimmen.70 Bereits der italienische Humanist Lorenzo Valla (1405–1457) verfasste eine Schrift mit dem vielsagenden Titel De voluptate (1431), die zwei Jahre später in einer überarbeiteten Fassung mit dem Titel De vero falsoque bono erschienen war.71 Darin treffen ein Stoiker, ein Epikureer und ein Christ in einem philosophischen Disput über das Wesen des Glücks aufeinander, wobei der Christ zwar gewinnt, der Autor jedoch seine Sympathie für den Epikurismus nicht versteckt. Während der Averroismus nach dem Vorbild des Aristoteles noch die intellektuelle Betätigung, das b¸or ¢eyqgtij|r, als ausschließliches summum bonum betrachtet hatte, erhielt die Diskussion dieser philosophischen Frage durch den Platonisten Marsilio Ficino Ende des 15. Jahrhunderts neue Impulse. In seiner frühen Schrift De virtutibus moralibus vel De magnificentia (1457) unterschied Ficino die Tugenden empirisch, während sie in der Theologia Platonica (1474) auf die beiden Gattungen der spekulativen und moralischen Tugend zurückgeführt wurden und dadurch den Dualismus von Intellekt und Willen ausdrücken sollten.72 Über diverse Tugendstufen sollte die Seele schließlich zur Einigung mit Gott gelangen. Im Argumentum de summo bono und noch ausführlicher in der Epistola de felicitate (1473), die im Wettstreit mit Lorenzo de’ Medicis (1449–1492) Altercazione (1473/74) entstanden war,73 vertiefte Ficino diese Thematik, wobei die Glückseligkeit auf der inneren Erhebung, dem jenseitigen Aufstieg der Seele und dem 68 Jill Kraye, Moral Philosophy, in: Carl B. Schmitt et al. (Hrsg.), The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge 1990, 303–386; Antonio Poppi, Il problema della filosofia morale nella scuola padovana del Rinascimento, Platonismo e Aristotelismo nella definizione del metodo dell’etica, in: Platone et Aristote la Renaissance, Paris 1976, 105– 146. 69 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 403–407. 70 Horst Günther (Hrsg.), Morus, Utopia, Frankfurt a.M./Leipzig 1992, 131. 71 Peter M. Schenkel/Eckhard Kessler (Hrsg.), Lorenzo Valla, Von der Lust oder Vom wahren Guten/De voluptate sive De vero bono, München 2004. 72 Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, 272–273. 73 Ebd., 273. Wie in der Theologia Platonica kommt Ficino hier zu dem Ergebnis, dass die menschliche Liebe zu Gott vorzüglicher sei als die Erkenntnis (ebd., 255). Vgl. auch Michael Allen/Valery Rees (Hrsg.), Marsilio Ficino: His Theology, His Philosophy, His Legacy, Leiden 2002, 107, 206.
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Begriff der Gotteserkenntnis bestehen solllte. Dabei griff Ficino die Diskussion um den Intellektualismus und Voluntarismus auf, entschied sich jedoch nicht für den Intellekt, sondern für den Willen, der den Geist bis zur angestrebten Vereinigung mit Gott erweitern sollte (Der Intellekt dient lediglich der Fokussierung des Willens auf das angestrebte Objekt!).74 Auch der florentinische Humanist und Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) beschäftigte sich in einer Abhandlung mit dem Erreichen der Glückseligkeit, wobei er wie Ficino betonte, es gäbe nur ein einziges übernatürliches Glück, das in der Vereinigung mit Gott besteht.75 Tomaso widmete diese nur wenige Seiten umfassende Schrift über das Wesen des Glücks Guido Rangoni,76 pries dessen Taten und militärische Siege, seine empfangenen Ehren und Würden sowie seine Verdienste für die Republik Venedig und Papst Leo X., nahm im Vorwort jedoch auch auf den Rat seiner Heimatstadt Ravenna Bezug,77 der bei der Widmung ebenfalls berücksichtigt wurde. In diesem Zusammenhang verwies er insbesondere auf die Problematik, das summum bonum zu erreichen, was nur sehr wenigen Menschen wirklich gelänge: Denn dies ist jene Glückseligkeit, Grenze der menschlichen Dinge und das allerhöchste Gut von allem, was alle Sterblichen von Natur aus haben möchten, sehr selten jedoch (auch) erreichen.78 Auch hier wählte Tomaso – wie bereits in seinem in Bologna fast zehn Jahre zuvor verfassten Prognostikon – die Form des fiktiven Dialogs,79 die infolge der Platon-Rezeption eine populäre Methode zur Erziehung der Jugend geworden war und durch Petrarca und Machiavelli nicht zuletzt zu einem Topos der humanistischen Literatur wurde. Neben dem Philologus (Tomaso selbst) tritt als Disputant diesmal der vorsokratische Philosoph und Mathematiker Pythagoras (ca. 570–510 v. Chr.) auf, eine der wohl rätselhaftesten Persönlichkeiten der Antike, deren Lehren in der Renaissance wieder vermehrt auf Interesse gestoßen waren.80 Gemäß der ma74 Eckhard Kessler, Die Philosophie der Renaissance, 111–112. 75 Ebd., 121. 76 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]): Philologus illustrissimo domino comiti Guido Rangono armorum duci et peditum romanorum imperatori. Weitere Ausgaben sind belegt in der Biblioteca universitaria in Bologna (BO0098), der Biblioteca Estense Universitaria in Modena (MO0089), der Biblioteca universitaria in Padua (PD0158) und der Biblioteca Palatina in Parma (PR0072). 77 Ebd.: […] ad generosum collegium viginti quatuor, et duodecim viros urbis Ravennae. 78 Ebd.: Nam ea est illa foelicitas et rerum finis humanarum optumus summumque omnium bonum, quod mortalium cuncti natura assequi desideravere, rarissime attamen ad id pervenerunt. 79 Ebd.: Dialogus de optuma ! felicitate Thomae philologi. Interloqutores. Pythagoras et Philologus. 80 Christoph Riedweg, Pythagoras: Leben, Lehre, Nachwirkung. Eine Einführung, München 2007; zur Rezeption vgl. Christiane L. Joos-Gaugier, Pythagoras and Renaissance Europe, Cambridge 2009.
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thematischen Lehre des Pythagoras zeigte sich in der Harmonie der Natur und insbesondere in den Kreisbewegungen der Gestirne die göttliche Allmacht. Auch die Seelenwanderung und Reinkarnation spielte bei den Pythagoreern eine wichtige Rolle, wobei keine Unterschiede zwischen menschlicher und tierischer Seele gemacht wurden. Platons Dialoge, insbesondere Timaios und Phaidon, waren daher wesentlich vom Gedankengut der Pythagoreer beeinflusst worden.81 Im Römischen Reich wurde der Pythagorismus vor allem im 1. Jahrhundert v. Chr. wiederbelebt und ging eine Verbindung mit älteren und jüngeren Legenden sowie (neu)platonischen Lehren ein. Die Pythagoreer favorisierten zudem eine maßvolle, einfache Lebensweise ohne Luxus und bevorzugten Vegetarismus. Diese, sich vor allem am Neupythagorismus und Neuplatonismus orientierende Pythagoreische Lebensweise war in der Renaissance nicht zuletzt wegen der Erschließung zusätzlicher Quellen, etwa Ambrogio Traversaris (1386– 1439) Publikation von Diogenes Laertios Philosophenbiographien um 1433, wieder ins Zentrum des Interesses gerückt. Bekennende Pythagoreer waren der Platonist Marsilio Ficino, Giovanni Pico della Mirandola und Johannes Reuchlin (1455–1522), wobei letzterer eine Verbindung zwischen pythagoreischem Gedankengut und der jüdischen Kabbala zog. Die Disputation über das Wesen des Glücks bildet daher eine Art göttliche und geheime Offenbarung des klugen Pythagoras an den unwissenden Philologus.82 Gleich zu Beginn seiner philosophischen Abhandlung spielte Tomaso auf den schwierigen Weg der Erkenntnis an, wobei er sich auf die von Xenophon in den Memorabilien83 überlieferte Geschichte von Herakles am Scheideweg bezog, ebenfalls ein Gleichnis für das Erreichen des summum bonum, das stets durch Entbehrungen gekennzeichnet ist:84 Eines Tages war Herakles an eine Weggabel gekommen, an der dem jungen Mann zwei Frauen von sehr unterschiedlicher Gestalt entgegenkamen: die eine in kostbare Gewänder gehüllt, die andere bescheiden und mit schlichter Kleidung angetan. Die erste Frau, eine Verkörperung der voluptas, versprach Herakles Genuss und unbegrenzten Reichtum, sollte er sich für ihren Weg entscheiden. Die andere Frau, eine Personifikation 81 Einführend zum Timaios und Phaidon vgl. Thomas Paulsen/Rudolf Rehn (Hrsg.), Platon, Timaios, Stuttgart 2003; Christoph Quarch, Sein und Seele: Platons Ideenphilosophie als Metaphysik der Lebendigkeit. Interpretationen zu PHAIDON und POLITEIA, Münster 1998; Klaus Röhring (Hrsg.), Dialog über die (Un-)Sterblichkeit: Symposion zu Themen aus Platons »Phaidon«, Hofgeismar 1989. 82 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]): Soli autem tibi voce non sermonibus (velut ceteris post mortem) felicitatem illam ostentabo. 83 Memorabilien 2 : 1, 21–34. 84 Vgl. zu diesem Gedanken in den philosophischen Schriften Ficinos Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie Marsilio Ficinos, 181. 1512 publizierte auch Johannes Pinicianus ein Traktat mit dem Titel Virtus et voluptas: carmen de origine ducum Austrie, aegloga Coridon et Philetus rustici.
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der virtus, stellte dagegen Lohn, Achtung, Verehrung und Liebe der Menschen in Aussicht, sollte der Held bereit sein, Mühen und Leid auf sich zu nehmen. Herakles entschied sich laut Xenophon letztendlich für den entbehrungsreichen Weg der virtus, der auch zum Erfolg führen sollte. In jeder opinio widmen sich die Gesprächspartner Pythagoras und Philologus einer anderen virtus, wobei Tomaso nach dem Vorbild Ficinos ausgehend von der antiken aristotelischen Einteilung in äußere, körperliche und seelische Tugenden, die unvollkommenen nach und nach ausschließt.85 Folglich entspricht weder die Lust (voluptas) nach der Definition Epikurs noch das damit verbundene genussorientierte Leben dem höchsten erreichbaren Gut86 und auch das vielversprechende Glück (bona fortuna), stets wankelmütig, wird nicht als erstrebenswert angesehen.87 Die Metapher der unsteten Fortuna (t¼wg) war im Rückgriff auf die Antike ein allgegenwärtiges Thema der Renaissance, was sich in zahlreichen Allegorien, Sinnsprüchen und philosophischen Abhandlungen widerspiegelte.88 Nicht zuletzt beschäftigte sich auch Niccol Machiavelli im Principe, auf welche Weise der Fürst der wankelmütigen Fortuna entgegentreten soll.89 Fortuna, so Machiavelli, sei jedoch nur zur Hälfte Herrin über unsere Taten und überlasse die andere Hälfte oder beinahe soviel unserer Entscheidung.90 Zu den meistgelesenen Büchern gehörte vor allem Francesco Petrarcas zwischen 1360 und 1366 erschienene De remedijs utriusque fortunae libri 2, eine Sammlung von kurzen allegorischen Dialogen zwischen der personifizierten Freude, Hoffnung, Vernunft, Schmerz und Furcht. Diese erhalten zugleich mehrere Ratschläge, wie man sich gegenüber dem wankelmütigen Schicksal verhalten soll. Ein Exemplar dieses Buches in einer Auflage von 1515 befand sich auch in der privaten Bibliothek Tomaso Rangones und mag durchaus als Anstoß zum Verfassen von De optuma ! felicitate gesehen werden. Ausgeschlossen werden von Tomaso schließlich auch äußerliche Tugenden wie Reichtum (divitiae),91 Ehre (honor),92 Tapferkeit (fortitudo),93 Adel (nobilitas)94 und Schönheit (pulchritudo)95 sowie innere wie die Gesundheit (corporis
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Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, bes. 273ff. De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]), Opinio 1/2. Ebd., Opinio 3: Fortuna estuaria et volubilis. DNP, s.v.a. Fortuna; Alfred Doren, Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Vorträge derBibliothek Warburg Bd. 2/1 (1922/1923), Leipzig/Berlin 1924; Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, 280. Principe, Kap. 25: Quantum fortuna in rebus humanis possit, et quomodo illi sit occurendum. Übersetzung nach Philipp Rippel (Hrsg.), Niccol Machiavelli, Il Principe, Stuttgart 2001, 193. De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]), Opinio 4. Ebd., Opinio 6. Ebd., Opinio 10. Ebd., Opinio 20.
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sanitas)96 und seelische wie die Klugheit (prudentia).97 Über die Rolle der Gesundheit als Glücksfaktor waren die Gelehrten jedoch oft gegensätzlicher Meinung. So hatte insbesondere Petrarca in De remedijs utriusque fortunae auch die moralischen Vorteile von Erkrankungen beschrieben, regten diese doch zur Kontemplation über den Sinn des Lebens an. Dagegen sah Thomas Morus (1478–1535) in der Utopia das höchste Glück in der Gesundheit, die nicht nur ausschlaggebend für Lust, sondern auch für Kraft und Schönheit sei.98 Schließlich wenden sich die Diskussionspartner dem Glück der Ehe zu: Obwohl der Mensch nach Platons Definition ein genus sociale ist, vertritt der eifrige und durchaus im Sinne der Zeit zur Misogynie neigende Philologus vehement ein zölibatäres Leben (vita celibe), sei doch der Hochzeitstag der Beginn allen Übels.99 Pythagoras belehrt ihn jedoch eines besseren, indem er auf die Frau als treue und zuverlässige Verwalterin des Hausstandes und auf die entscheidende weibliche Rolle bei der Zeugung von Nachwuchs verweist. Vermutlich bezog sich Tomaso hier auf eine weit verbreitete These, nach der insbesondere Astrologen und Humanisten davon abgeraten wurde, zu heiraten. So empfahl auch der Dichter Ludovico Domenichini (1515–1564) in seiner Schrift Nobilit delle donne (1549) insbesondere diesen beiden Berufsgruppen, unverheiratet zu bleiben.100 Schließlich wird von Tomaso das Glück der Unwissenden (stulti) thematisiert.101 Diesen wird eigentlich jegliches Glück vorenthalten, muss der Mensch nach Aristoteles doch stets gemäß der ratio leben.102 Nach aristotelischer Lehre galt die Betätigung der Charakter- und Verstandestugenden (bes. der Klugheit) als ein wesentliches Element der eqdailom¸a, da äußere oder körperliche Tugenden nur Mittel zum Erreichen des wahren Glücks sind. Dieses liege im
95 Ebd., Opinio 11; zur Definition der Schönheit nach Marsilio Ficino vgl. Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, 249. 96 Ebd., Opinio 7: sanitas attamen non est ens perfectus. Jedoch trägt die bona complexio einen Teil dazu bei (ebd., Opinio 11). 97 Ebd., Opinio 14. 98 Klaus Bergdolt, Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens, München 1999, 198–199; zu Morus’ Utopie vgl. Thomas Schölderle, Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff, Baden-Baden 2011. 99 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]), Opinio 16: Dies nuptiarum multorum malorum initium. 100 Paul F. Grendler, Five Italian Occurences of »Umanista«, Renaissance Quarterly 20, 1967, 317–325, bes. 320; Ders., Culture and Censorship in Late Renaissance Italy and France, London 1981, 320; zu diesem Aspekt siehe auch Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice, 53. Auch Erasmus von Rotterdam lehnte im Laus stultitiae (1509) die Heirat ab, vgl. Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice, 204. 101 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]), Opinio 8/9 und Opinio 15. 102 Ebd.: Opus hominis est animi operatio secundum rationem. Für Platon (Timaios 44b-c) ist die Dummheit die »schlimmste Krankheit«.
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kontemplativen Leben, weshalb die Vernunft (ratio) ausschließlich als ein Kennzeichen der menschlichen Spezies zu werten sei, die den Menschen vom Tier unterscheide. Insofern fragt sich folgerichtig der Philologus, ob denn nicht das Wissen bzw. die Wissenschaft (scientia) das höchste Gut sei, worauf Pythagoras ihn belehrt, dass das Wissen ausschließlich in Verbindung mit den (aristotelischen) intellektuellen Tugenden ars, prudentia, intellectus und sapientia wahres Glück bedeutet: Wissen, Kunst, Klugheit und Verstand: und Weisheit. Daraus besteht die ganze Glückseligkeit, und nicht nur aus Wissen.103 In diesem Zusammenhang kommt auch die platonische Ideenlehre am Beispiel des Höhlengleichnisses zur Sprache, eine Einführung in die Erkenntnistheorie,104 nach der die vom Menschen wahrgenommenen Dinge in Wirklichkeit nur Schatten des wirklich Seienden sind. Der beschwerliche Weg des Höhlenbewohners steht damit für den Weg der menschlichen Seele bis zur Erkenntnis der Idee des Guten (Gleichnis von der Sonne). Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit der Disputanten auch auf die jüdische Kabbala, also auf die von Gott geschickte Weisheit,105 in deren Zentrum das unmittelbare Erfahren Gottes stand, wobei in Anlehnung an die Erschaffung des Menschen durch Gott auch dieser einen Anteil am Göttlichen hat. Somit kommen die Diskussionspartner einvernehmlich zu dem Schluss, dass der menschliche Geist göttlich sein muss und widmen sich einem in den ersten beiden Dekaden des Cinquecento vieldiskutierten Thema: der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Als die Schriften Platons und der Neuplatoniker durch Marsilio Ficino ediert und kommentiert wurden, diskutierten die Humanisten auch die durch Platon ver103 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]), Opinio 8: Scientia, ars, prudentia, intellectus: et sapientia. Ex his omnis et non tantum ex sola scientia felicitas constat. Während bei den älteren Humanisten Dante oder Petrarca scientia (naturalis) und sapientia noch als unüberbrückbarer Gegensatz betrachtet worden waren, stellten sie im 15. Jahrhundert gleichwertige Wege zur menschlichen Erkenntnis dar. Vgl. hierzu ausführlich Klaus Bergdolt, Naturwissenschaften und humanistisches Selbstverständnis, in: Thomas Maissen/Gerrit Walther (Hrsg.), Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, Göttingen 2006, 103–124, bes. 120. 104 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]), Opinio 12; zur Ideenleere vgl. Platon, Politeia (7. Buch), 514a–517a; Rudolf Rehn (Hrsg.), Platons Höhlengleichnis. Das Siebte Buch der Politeia, Mainz 2005. 105 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]), Opinio 22. Im Frühhumanismus war die Kabbala vor allem durch Giovanni Pico della Mirandola rezipiert worden (Conclusiones philosophicae, kabbalisticae et theologicae sive theses CM 1496 und die 1496 postum herausgegebene Oratio de hominis dignitate). Christentum, Pythagorismus und Neuplatonismus wurden von dem jüdischen Gelehrten Johannes Reuchlin in De verbo mirifico (1494) und De arte cabalistica (1517) verbunden. Zur Rezeption der Kabbala vgl. umfassend Eva-Maria Thimme, Maritare Mundum. Cabala im Werk von Giovanni Pico della Mirandola, Johannes Reuchlin und Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, Berlin 2006; Gerda Necker, Humanistische Kabbala im Barock: Leben und Werk des Abraham Cohen de Herrera, Berlin 2011.
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tretene Reinkarnationslehre. Die Seelenwanderungslehre der Pythagoreer zeigte viele Gemeinsamkeiten mit dem Platonismus, wurde doch das Schicksal der Menschen entsprechend der zyklischen Bewegung der Himmelskörper als vorbestimmt aufgefasst. Da die Reinkarnationslehre jedoch mit dem christlichen Glauben als unvereinbar angesehen wurde, traf sie entweder auf Ablehnung oder wurde allegorisch umgedeutet, weshalb erst Giordano Bruno (1548–1600) wieder an die Reinkarnationslehre des Pythagoras anknüpfen sollte.106 Im Gegensatz zu Platon war die menschliche Seele nach aristotelischer Auffassung107 jedoch nicht vom Körper trennbar und konnte daher auch nicht ohne diesen existieren, wohingegen der aktive Intellekt unvergänglich und unsterblich gedacht wurde. Aufsehen erregte 1516 Pietro Pomponazzis108 in Bologna publizierter Tractatus de immortalitate animae, in dem sich der Autor sowohl gegen Platon als auch gegen Aristoteles richtete und den bisher unangefochtenen Glauben an eine Unsterblichkeit der menschlichen Seele kritisierte, diese auf einen sterblichen und unsterblichen Teil reduzierte und die Aufgabe des Menschen im diesseitigen tugendhaften Handeln sah. Gegen Pomponazzi richtete sich umgehend Agostino Nifos 1518 erschienene Gegenschrift De immortalitate animae libellus adversus P. Pomponacium, in der der Gelehrte die menschliche Seele als unzerstörbar verteidigte, gehe diese doch nach dem Tod eine Einheit mit dem absoluten Intellekt ein. Der Arzt und Astrologe Girolamo Cardano sollte in den Contradictiones 1545 noch einmal an diese Diskussion um die Unsterblichkeit der menschlichen Seele aus medizinischer Sicht anknüpfen, wobei er sich insbesondere auf die naturalistische Argumentation der hippokratischen Schriften berief.109 Der Philologus hält die menschliche Seele laut der oratio für unsterblich,110 wird jedoch wieder von dem weisen Pythagoras belehrt, dass in nichts absolute Gewissheit bestehe (neque certitudo in omnibus est) und der Gerechte daher aus dem Glauben lebe (justus autem ex fide vivit). Letztendlich stünde der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele auch gar nicht im
106 Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute, Darmstadt 1999; zur Renaissance vgl. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 281–297. 107 Gemäß der aristotelischen Seelenlehre besteht die menschliche Seele aus einem vernunftlosen, vegetativen Teil, den Pflanzen und Menschen gemeinsam haben, und einem animalischen Teil, den der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat. Zu diesem Bestandteil gehören auch die Affekte, die jedoch durch den vernunftbegabten Teil gesteuert werden können. Zur Seelenlehre vgl. etwa Hubertus Busche, Die Seele als System: Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche, Hamburg 2011; Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 66– 69; zu Aristoteles’ Abhandlung siehe auch Abraham P. Bos, The Soul and Its Instrumental Body : a Reinterpretation of Aristotle’s Philosophy of Living Nature, Leiden 2003. 108 Marco Sgarbi, Pietro Pomponazzi. Tra tradizione e dissenso, Firenze 2010. 109 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 67–68. 110 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]), Opinio 23.
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Gegensatz zu Aristoteles,111 der den aktiven menschlichen Intellekt schließlich für unzerstörbar halte (Quod intellectus materialis est abstractus a corpore). Auch die Frage nach dem höchsten Glück wird im letzten Dialog gelöst: Nach dem Gesprächspartner Pythagoras besteht es in einem maßvollen Leben und dem Glauben und Vertrauen112 auf Gott, was vor allem durch Kontemplation erreicht werde: Der Rechtschaffene aber lebt aus dem Glauben. Die Heiligen haben durch den Glauben Reiche erobert.113
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Eine Zeit des Umbruchs
Mit dem Tod Leos X. sollte sich auch die politische Situation Guido Rangonis verändern, der noch im Dezember 1521 Modena befestigen und die Ein- und Ausgänge kontrollieren ließ, da er einen Angriff der feindlich gesinnten Este befürchtete. In Rom, jener Stadt, die auch für Tomaso einst das Zentrum der Welt bedeutet hatte, sahen sich nach dem überraschenden Tod des Papstes viele Künstler und Literaten, die bisher ausschließlich vom päpstlichen Hof gelebt hatten, in einer existenzbedrohenden Lage. Zu diesen gehörte auch der Satiriker Pietro Aretino, der unter dem flämischen Papst Hadrian VI. kurzzeitig Rom verlassen hatte, da er dem Vetter des verstorbenen Papstes und kaiserlich gesinnten Kardinal Giulio de’ Medici vielversprechende Aussichten auf das Papstamt eingeräumt hatte. Als sich der amtierende Papst 1522 mit Karl V. verbündete, geriet Guido Rangoni zunehmend in ökonomische Schwierigkeiten und musste noch im August Teile seines Besitzes verkaufen, um seine Soldaten entlohnen zu können. Mit seinen Brüdern zog er sich schließlich auf sein Landgut Spilamberto zurück und überließ Francesco Guicciardini (1483– 1540)114 die Verwaltung der Stadt, der 1517 von Leo X. zum Kommandanten über Modena und Reggio ernannt worden war.115 Gemeinsam mit Guicciardini hatte 111 Hierzu bes. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 282–291. 112 Zur Bedeutung des Glaubens bei Pomponazzi vgl. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 291. 113 De optuma ! felicitate (BMV, 2697 [37]): Justus autem ex fide vivit. Sancti per fidem vicerunt regna. 114 Volker Reinhardt, Francesco Guicciardini. Die Entdeckung des Widerspruchs, Göttingen/ Bern 2004; Christiane Coester, Francesco Guicciardini (1483–1540), in: Heinz Durchhardt et al. (Hrsg.), Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, Göttingen 2007, Band 3, 1– 28. Laut Niccol Machiavelli (1469–1527) war das Verhältnis von Guicciardini und Guido Rangoni weniger durch eine enge Freundschaft, denn durch gegenseitige Akzeptanz geprägt, vgl. Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 46–49, 54; Niccol Capponi, An Unlikely Prince. The Life and Times of Macchiavelli, Cambridge 2010, bes. 283. 115 Zu Francesco Guicciardini und Modena vgl. Piero/Luigi Guicciardini (Hrsg.), Opere inedite di Francesco Guicciardini, Firenze 1866; Mark Phillips, Francesco Guicciardini: The Historian’s Craft, Toronto 1977, 13; 116.
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Guido Rangoni bereits 1517 den Schutz Modenas übernommen und die Verteidigungsanlagen ausgebaut. Alfonso d’Este ritt am 20. September 1523 mit einer riesigen Streitmacht von 8. 000 Lanzen und 3.000 Reitern Richtung Modena, um die Stadt im Sturm zu nehmen, zog sich jedoch zurück und belagerte stattdessen Reggio.116 Als Giulio de’ Medici alias Clemens VII. (1523–1534) am 19. November 1523 zum neuen Papst gewählt wurde, kam es in Modena zu Unruhen und Guido Rangoni, der sich in Begleitung Guiccardinis befand, musste Truppen zu dessen Schutz aufstellen. Auch in Ravenna war es in den vorausgegangenen Jahren durch die Familie Rasponi wieder zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen,117 die sich bevorzugt gegen die päpstliche Macht gerichtet hatten, weshalb nach dem Tod Leos X. in der Emilia Romagna ein gefährliches Machtvakuum entstanden war. Die Mitgliedslisten des Stadtrates (Consiglio) von 1522 zeigen, dass zu diesem Zeitpunkt 35 Guelfen nur noch 9 Ghibellinen gegenüberstanden.118 Im Februar 1522 wurde zwar zwischen den Rasponi und den Guelfen Lunardi, Grossi und Aldrobandi vorerst Frieden geschlossen, doch wurden am 4. Juli 1522 durch die Initiative Ostasio und Raspone Rasponis alle Mitglieder der gegnerischen Partei bis auf Agostino Ruboli, der später einen detaillierten Bericht des Überfalls liefern sollte, durch einen Hinterhalt getötet. Zwischen Juli und September 1522 wurden daraufhin 25 neue Mitglieder auf die vakanten Plätze gewählt, die nun das Gleichgewicht zugunsten der kaisertreuen Ghibellinen verändern sollten. Darunter waren auch Girolamo, Ludovico und Giovanni Rasponi, wobei letztere 1527 auf Betreiben Guiccardinis jedoch hingerichtet werden sollten. Die politische Situation in Ravenna wurde damit zunehmend unkontrollierbar, und es lag vermutlich im Interesse Guido Rangonis und Francesco Guicciardinis, durch einen Vertrauten im Rat stets über die dortigen politischen Entwicklungen unterrichtet zu werden. Am 25. April 1523 wird erstmals der Name Tomasos in den Akten erwähnt, die über die jährliche Wahl der Mitglieder des Rates Auskunft geben.119 Mit der Wahl Clemens’ VII. zum neuen Kirchenoberhaupt beruhigte sich die politische Lage in Ravenna etwas und zwischen 1524 und 1526 fungierte Francesco Guicciardini, der im Auftrag des Papstes die kirchlichen Einflussgebiete jenseits des Apennins verwaltete, als Präsident des Rates. Guicciardini sah sich dabei vor eine schwierige Aufgabe gestellt, war er doch um das Gleichgewicht der Parteien bemüht und wollte zusätzlich auch die Zahl der Anhänger des Papstes zu erhöhen. Jedoch musste er behutsam vorgehen, da er 116 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 55. 117 Zur politischen Situation Ravennas zwischen 1522 und 1524 vgl. Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 39–129, bes. 42ff.; 90ff. (Rasponi). 118 Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 57. 119 BCR, Mob. 3,3H2 (Elezione Senato Consiglio del Magistrato dei Savi di Ravenna, 1512ff.).
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sich der wachsenden Macht der Rasponi bewusst war, die vor Mord, Vergewaltigung und Folter nicht zurückschreckten, um ihre politischen Ziele zu erreichen.120 Im Juni des Jahres 1524 kam es zu Zivilprozessen gegen die Ghibellinen, und Guicciardini schrieb an seinen Vertrauten, den modensischen Adeligen Cesare Colombo, die Wahlen des Rates annulliert zu haben.121 Durch diesen Schachzug blieben viele der Sitze vakant, so dass Guicciardini diese nach und nach mit Personen seines Vertrauens füllen konnte:122 Am 17. September 1525 wurde somit auch Tomaso aufgrund seiner Verdienste erneut in den ravennatischen Rat aufgenommen123 und am 5. August 1526 wurde noch ein Guelfe namens Pietro Giacomo Arrigoni zum Ratgeber gewählt. Dieser war der Bruder Giacomo Arrigonis, der Ravenna zeitweise verlassen hatte, um in Venedig als Arzt tätig zu sein.124 In den 1570er Jahren sollte Arrigoni, der von der einflussreichen Familie Rasponi protegiert wurde, Tomaso bei seinen Bemühungen unterstützen, seinen verlorenen Immobilienbesitz in Ravenna zurückzugewinnen. Arrigoni war in Ravenna jedoch nicht nur für seine medizinischen Fachkenntnisse bekannt, sondern auch für seine intime Beziehung zu Felice Rasponi, als deren Leibarzt er zeitweise fungierte (In zwei Sonetten lobte er die blonden Haare, die schwarzen Augen und die Brüste Felices).125 Aber auch Guicciardini sollte es langfristig nicht gelingen, sich gegen die skrupellose Familie der Rasponi durchzusetzen, die die Protektion der mächtigen Este in Ferrara genoss und bereits in den folgenden Jahren wieder das politische Leben Ravennas bestimmte. Das politische Gleichgewicht veränderte sich zunehmend zu Ungunsten des Papstes und Venedig konnte sich, wenn auch kurz, noch einmal seines ehemaligen Herrschaftsgebietes bemächtigen.
120 Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 92. 121 Piero/Luigi Guicciardini (Hrsg.), Opere inedite, 40 (Brief vom 8. Juni 1524): ho annulato […] le elezioni del consiglio che avevano fatto dalli omicidii in qua. Siehe auch Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 57; 92–93. Der Prozess gegen Ostasio und Raspone Rasponi wurde am 2. August 1525 mit der Auflage abgeschlossen, dass die Beschuldigten sich in allen Gebieten der Kirche abgesehen von der Romagna bewegen durften. 122 Piero/Luigi Guicciardini (Hrsg.), Opere inedite, 40 (Brief vom 8. Juni 1524): n per [ho] supplito tutto il numero che mancava, ma riservatone in mano mia una parte per poter sempre contrapesare, quando bisogni, e tenerli pi obbedienti con questa speranza. Vgl. auch Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 57. 123 BCR,Mob. 3,3H2: Die XVII 7bris 1525 […] fosse conumerato nel numero del maggior consiglio di questa citt M. Thomaso Philologo […]. Allerdings waren von 33 Stimmen 15 gegen die Aufnahme Tomasos, siehe Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 119, Anm. 72. Interessanterweise sind außer Tomaso keine Neuzugänge für diese Zeit verzeichnet. Zur Geschichte des Senats vgl. Dante Bolgnesi (Hrsg.), Ravenna in et veneziana, 31–67; 40–47. 124 Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 57; zu Arrigoni vgl. auch Serafino Pasolino, Huomini illustri di Ravenna antica, Bologna 1703, 72. 125 Cesarina Casanova, Potere delle grandi famiglie, 99.
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Trotz zahlreicher Befürworter wie Lucio Bellanti,126 Professor für Astrologie und Medizin in Siena, oder Giovanni Gioviano Pontano (1426–1503)127 gab es bereits früh erbitterte Gegner der strengen Astrologie-Gläubigkeit ihrer Zeitgenossen. Zwar hatte die Wertschätzung der Astrologie anfangs in Florenz, das in der Entwicklung des italienischen Humanismus eine Führungsrolle übernommen hatte,128 kontinuierlich zugenommen und Raum für himmelswissenschaftliche Fragen geschaffen, doch war gleichzeitig in der Stadt am Arno durch die Diskussion um die Würde des Menschen und das anthropozentrische Weltbild auch eine vermehrte Ablehnung der Himmelskunde entstanden.129 Eine Vorreiterrolle spielten die florentinischen Gelehrten Francesco Petrarca (1304–1374),130 Giovanni Pico della Mirandola131 und Girolamo Hieronymus Savonarola (1452– 1498).132 Letztere133 beriefen sich insbesondere auf das Problem der Willensfreiheit, wobei die menschliche Maßlosigkeit und Hybris kritisiert wurden und man auf die Fehlerhaftigkeit mancher Prognosen verwies, was die Astrologen bisher nämlich stets mit mangelhaften Berechnungskünsten zurückgewiesen hatten. Nach Ansicht der humanistischen Kritiker ignorierten die astrologischen Prognostikanten den freien Willen des Menschen und seine durch die Bibel festgesetzte Sonderstellung, nach welcher der Mensch gerade nicht den Einflüssen des Himmels und der Gestirne unterworfen sei. Die von Petrarca bereits vorgebrachte singuläre These, nicht die Sterne, sondern nur Gott allein könne über das Wohl des Menschen entscheiden, wurde von einzelnen Humanisten des 15. Jahrhunderts übernommen, darunter von Giovanni Pico della Mirandola in den Disputationes versus astrologiam.134 Ab Mitte des 16. Jahrhunderts sollte sich das Verhältnis zur Astrologie grundlegend ändern, als die 1542 neuorganisierte römische Inquisitionsbehörde 1559 unter Papst Paul IV. (1478–1559) erstmals einen Index der verbo126 Liber de astrologica veritate: et in disputationes Ioannis Pici adversus astrologos responsiones. Der Druck erschien erstmals in Florenz (1498), dann in Venedig (1502) und Basel (1554?); DBI, s.v.a. Bellanti, Lucio. 127 De rebus coelestibus libri 14 (1475–1477; 1494–1495; gedruckt postum 1503 in Basel, 1519 in Venedig und nochmals in Basel 1530 und 1566). 128 Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 127ff. 129 Ebd., 147ff. 130 Klaus Bergdolt, Petrarca und die Astrologie, in: Klaus Bergdolt/Walther Ludwig (Hrsg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, 282–292. 131 Disputationes adversus astrologiam divinatricem (Bononia 1496, Venetijs 1498; spätere Ausgabe [Straßburg] 1594). 132 Opera singulare contra l’astrologia divinatrice, Vinegia 1536. 133 Wolfgang Hübner, Astrologie in der Renaissance, 241–279, bes. 257; Klaus Bergdolt, Petrarca und die Astrologie, 282–292. 134 Ebd., 282–292, bes. 292.
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tenen Bücher zusammenstellte, den Index auctorum et librorum prohibitorum.135 1564 trat durch das Tridentinische Konzil dieses Gesetz in Kraft, wobei statt einer konkreten Verbotsliste zehn Regeln festgelegt wurden, gemäß derer nach verbotenem Schrifttum gefahndet werden sollte. Ein endgültiges Verbot der Astrologie wurde schließlich durch die Bulle Coeli et terrae Papst Sixtus’ V. (1521–1590) im Jahre 1586 untermauert.136 Aus der Astrologie sollte sich so nach und nach die (exaktere) Wissenschaft der Astronomie entwickeln. Trotz all dieser Regulationsversuche wurden jedoch noch immer Bücher magischen und astrologischen Inhalts gedruckt, vor allem die Werke Luca Gauricos (1476– 1558), Girolamo Cardanos (1501–1576) und Giovan Battista della Portas (1535– 1615).137 Erste Risse hatte die Astrologie-Gläubigkeit jedoch bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts erhalten. Als die Astronomen errechneten, dass am 19. Februar 1524 alle Planeten außer dem Mond im Wasserzeichen der Fische zusammentreffen würden, wurde das gesamte Abendland von einer Weltuntergangshysterie erschüttert. Mit dieser angsteinflößenden Thematik setzten sich in den folgenden Jahren die bekanntesten Gelehrten auseinander,138 wobei sich die astronomischen Werke der arabischen Autoren Ma¯ˇsa‘alla¯h139 und al-Kindi als richtungsweisend erwiesen hatten, die von Abu¯ Ma‘sˇar in De magnis coniunctionibus weiterentwickelt worden und durch Pietro d’Abano (1257–1316/17) und Pierre d’Ailly (1350–1420) im Westen bekannt geworden waren. Diese Konjunktionenlehre,140 die der griechisch-römischen Sterndeutung noch fremd gewesen war, avancierte zum Kerngedanken der persisch-arabischen Astronomie: Demnach konnte das Werden und Vergehen ganzer Dynastien und Reiche 135 Hubert Wolf, Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher, München 2007. 136 Barbara Mahlmann-Bauer, Die Bulle contra astrologiam iudiciariam von Sixtus V., das astrologische Schrifttum protestantischer Autoren und die Astrologiekritik der Jesuiten. Thesen über einen vermuteten Zusammenhang, in: Klaus Bergdolt/Walther Ludwig (Hrsg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, 151–222. 137 Ebd., 172–177. Zu Cardano vgl. Anthony Grafton/Nancy Siraisi, Between the Election and My Hopes: Girolamo Cardano and Medical Astrology, in: William R. Newman/Anthony Grafton (Hrsg.), Secrets of Nature. Astrology and Alchemy in Early Modern Europe, Cambridge 2001, 69–132. Zur Bedeutung der Astrologie für die Medizin vgl. Allan Chapman, Astrological Medicine, in: Charles Webster (Hrsg.), Health, Medicine, and Mortality in the Sixteenth Century, Cambridge 1979, 276–300. Zu Astrologie und Gesellschaft siehe zusammenfassend Brendan Dooley (Hrsg.), A Companion to Astrology in the Renaissance, Leiden/Boston 2014. 138 Krzystof Pomian, Astrology as a Naturalistic Theology of History, in: Paola Zambelli (Hrsg.), Astrologi hallucinati. Stars and the End of the World in Luther’s Time, Berlin 1986, 29–43, bes. 32. Der Maler Albrecht Dürer hielt die Sintflut im »Traumgesicht« (1525) fest. 139 Ma¯sˇa‘alla¯h war der älteste bedeutende arabische Astrologe vor Abu¯ Ma‘sˇar (787–886). 140 Stephan Heilen, Lorenzo Bonincontris Schlußprophezeiung in De rebus naturalibus et divinis, in: Klaus Bergdolt/Walther Ludwig (Hrsg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, 309–328.
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insbesondere durch die langsamen Planeten Saturn und Jupiter angezeigt werden, die nur alle zwanzig Jahre im selben Grad des Tierkreises (Konjunktion) standen. Sollte nun der »wohltätige« Planet Jupiter, der mit dem Königtum und der Religion verbunden wurde, auf den »Übeltäter« Saturn treffen, waren umfassende gesellschaftliche Veränderungen zu erwarten. Die Folgen hingen jedoch von mehreren Faktoren ab, beispielsweise von der Position bei der Zusammenkunft (elevatio unius super alterum), von der Lage der anderen Tierkreiszeichen und von deren Einfluss auf die anderen Zeichen des Zodiak. Ein wesentlicher Faktor war dabei, mit welchem der vier Elemente – Feuer, Wasser, Erde und Luft – dieses Zeichen assoziiert ist (triplicitates). Saturn-JupiterKonjunktionen ereigneten sich nämlich nahezu zweihundert Jahre lang innerhalb desselben Dreiecks, bevor sie in die nächste Konjunktion übergingen. Als nun errechnet wurde, dass sechs der sieben bekannten Planeten im Februar 1524 im Zeichen der Fische zusammentreffen sollten, befürchtete man eine apokalyptische Katastrophe.141 Bereits Johannes Stöffler (1452–1531)142 und Jakob Pflaum hatten 1499 an diese astrologischen Geschichtskonstruktionen des Mittelalters angeknüpft und die erste Katastrophenprognose für das Jahr 1524 im deutschsprachigen Raum in Umlauf gebracht.143 Die Ankündigung einer Apokalypse in den von Stöffler und Pflaum gemeinsam verfassten Ephemeriden (1499), die unklare politische Lage und der ungewöhnlich trockene Februar brachten daher ganz Europa in Aufruhr. Obwohl in den Ephemeriden gar keine Sintflut erwähnt worden war,144 kam es zu einer europaweiten Krisenprophetie in
141 Umfassend zur Sintflutprognostik vgl. Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528, Tübingen 1990; ferner Paola Zambelli, Astrologia, magia, e alchimia, in: Firenze e la Toscana dei Medici nell’Europa del Cinquecento, Firenze 1980, 400–418 und Gustav Hellmann, Aus der Blütezeit der Astrometeorologie. J. Stöfflers Prognose für das Jahr 1524, in: Ders. (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Meteorologie, Berlin 1914, Band 1/1, 3–102. Vgl. zu Prophetien in Italien im 15. und 16. Jahrhundert Giampaolo Tognetti, Note sul profetismo nel Rinascimento e la letteratura relativa, Bulletino dell’Istituto storico italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 82, 1970, 129–157. 142 Der aus einer verarmten Adelsfamilie stammende Stöffler studierte an der Universität von Ingolstadt. Seine mathematischen und astronomischen Kenntnisse verhalfen ihm bald zu großem Ansehen. 1511 übernahm Stöffler eine Mathematikprofessur in Tübingen, wo er ab 1522 Rektor war. Zu seinen Schülern gehörten Sebastian Münster und Philipp Melanchthon. Neben mehreren astronomischen Werken und Kommentaren verfasste Stöffler auch ein Werk zur Kalenderreform (Calendarium Magnum Romanorum, Oppenheim 1515). 143 Johannes Stöffler/Jakob Pflaum, Almanach nova plurimus annis venturis inservienta, ab anno 1521 ad annum 1531, Venetijs 1521; Paola Zambelli, Many Ends for the World. Luca Gaurico Investigator of the Debate in Italy and in Germany, in: Dies. (Hrsg.), Astrologi hallucinati. Stars and the End of the World in Luther’s Time, Berlin/New York 1986, 239– 263. 144 Vgl. zum Abdruck der relevanten Passage Heike Talkenberger, Sintflut, 161.
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Form von Sintflutprognosen,145 die zwischen 1521 und 1525 den Markt astrologischer Flugschriften dominieren sollten. Als ausdrückliche Vorboten einer drohenden Sintflut galten auch die seltsamen Himmelserscheinungen, die über Wien zwischen dem 3. und 7. Januar 1520 beobachtet worden waren. Parallel zu diesen Sintflutprognosen kam in Italien und Deutschland die Prognose vom Kleinen Propheten in Umlauf, dessen Auftreten zunehmend auf Martin Luther bezogen werden sollte. Etwa 59 Autoren veröffentlichten mindestens 69 Schriften zu einer bevorstehenden Sintflut im europäischen Raum,146 wobei sich insbesondere der Arzt und Mathematiker Luca Gaurico (1475–1558)147 als Verfasser von Prognostika zu diesem Thema hervortat. Warnende Perspektiven wurden 1501, 1507, 1512 und wahrscheinlich auch 1522 veröffentlicht: In seinem Prognostikon für das Jahr 1502 publizierte Gaurico erstmals Verse mit einer Sintflutvorhersage,148 bevor ein weiteres Prognostikon, konzipiert für die Periode von 1507–1535, das gleiche Thema noch einmal aufgriff.149 Dabei unterstützte Gaurico die These Stöfflers und Pflaums, wobei der prognostizierten Sintflut Blitz, Donner, Brände, Erdbeben, Krankheiten und eine Hungersnot vorangehen sollten. 1516 und 1517 sollte zudem ein Komet verheerenden Schaden über die Herrschenden bringen, anschließend ein Pseudoprophet Wunder vollbringen, zahlreiche Anhänger um sich scharen, neue Gesetze erlassen150 und zwischen 1530–1533 große Veränderungen innerhalb der Kirche durchsetzen. Danach folgte nach Gauricos Prognose ein goldenes Zeitalter, in dem ein gesegneter Papst und ein göttlicher Kaiser das Schicksal der Menschen bestimmen würden, nachdem fast zwei Drittel der Menschheit durch Hungersnöte, Kriege und Pest gestorben waren.151 1522 wiederholte Gaurico seine apokalyptische Prognose in einem weiteren
145 Sintflutsagen haben ihre Vorläufer bereits im Alten Orient und wurden in der Antike in zahlreichen Versionen überliefert. Zumeist handelte es sich um Sagen mit Lokalcharakter. Von den Gelehrten der Renaissance wird häufig die von Aristoteles in seiner Meteorologie (32a/b) behandelte Theorie erwähnt, die von einem langen Winter und großen Regengüssen in schicksalsbestimmten Zeitabschnitten ausgeht. Censorin (18,11) belegt für Aristoteles ein Goßes Jahr (Sommer = Weltbrand; Winter = Sintflut). Lukrez (5, 98; 392–405) geht von beiden Katastrophen als Ursache für die Auflösung des Kosmos aus. Eine Verbindung zwischen Astrologie, Weltbrand und Sintflut ist bei dem babylonischen Gelehrten Berossos bezeugt (FGrHist 680 F 21). Vgl. zum Großen Jahr und seiner Bedeutung Gian Andrea Caduff, Antike Sintflutsagen, Göttingen 1986, 145–153. 146 Heike Talkenberger, Sintflut, 155. 147 Zu Gaurico vgl. umfassend DBI, s. v. a. Gaurico, Luca. 148 Luca Gaurico, Prognosticon anni 1502, Venetijs 1501; Paola Zambelli, Many Ends of the World, 239–263. 149 Luca Gaurico, Prognosticon 1507–1535, Bononiae o. D. 1507. 150 Luca Gaurico, Prognosticon 1513–1535, Basilea o. J.; Heike Talkenberger, Sintflut, 164. 151 Luca Gaurico, Prognosticon, Basilea 1522; Heike Talkenberger, Sintflut, 164.
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Prognostikon152 und wies Ende 1524 (nachdem die angekündigte Sintflut nun doch nicht eingetreten war) seine Autorenschaft an allen Schriften zurück.153 Jedoch sollte Luca Gaurico durch seine Schriften die grundlegenden Topoi der Sintflutprognosen prägen, nachdem er die astrologische Aussage Stöfflers um den Sintflutgedanken erweitert und mit apokalyptischen Vorstellungen und Reformhoffnungen nach dem Thesenanschlag Martin Luthers kombiniert hatte.154 Statt sich auf die große Konjunktion von 1484 zu beziehen, verwendete er aber das Motiv der Planetenkonjunktion für das Jahr 1524. Neben Gaurico verfasste auch der Konsensphilosoph Agostino Nifo eine Sintflutprognose,155 der dazu möglicherweise durch die am 18. März 1519 von dem holländischen Gelehrten Albertus Pighius (Pigghe) verfasste Prognose angeregt worden war.156 Als Anhänger der Eklipsentheorie leugnete Pigghe die Bedeutung der großen Konjunktion zwischen den Planeten Jupiter und Saturn, die von den Befürwortern vorausgesetzt wurde. Dabei betonte der Gelehrte, die verschiedenen Planeten würden sich einerseits relativieren, jedoch würden auch zwei Mondfinsternisse im Jahr 1523 deren Wirkung verstärken.157 Das Prognostikon Nifos, das am 24. Dezember 1519 erstmals veröffentlicht und dem am 28. Juni 1519 zum römisch-deutschen Kaiser gewählten Karl V. gewidmet wurde, ist die mit der höchsten Zahl an Ausgaben überlieferte Schrift.158 Dieser in scholastischer Argumentationsform verfasste Text behandelt im ersten Buch die Argumente für eine Sintflut – die Häufung der Konjunktionen, die große Konjunktion von Jupiter und Saturn, die beiden Mondfinsternisse von 1523, das Zusammentreffen im wässrigen Zeichen der Fische, die Sündhaftigkeit der Menschen, die Kritik am zeitgenössischen Lebensstil –, widerlegte diese jedoch im zweiten Buch mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Eigenschaften der Planeten. Im dritten Buch verfasste Nifo schließlich eine eigene Vorhersage, wobei er wie Pigghe vor ihm die griechische Astrologie gegenüber der arabischen verteidigte und sich für eine partielle Sintflut (provinciale diluvio) aufgrund der Mondfinsternisse von 1523 aussprach. Jedoch war Nifo der Ansicht,
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Paola Zambelli, Many Ends of the World, 261–263. Luca Gaurico, Judicio, Venetijs [1524]. Heike Talkenberger, Sintflut, 165. Paola Zambelli, Fine del mondo o inizio della propaganda?, in: Scienze, credenze occulte, livelli di cultura, Firenze 1982, 291–368, bes. 325; 326. In seinen frühen Schriften bekannte sich Nifo noch zu Averroes und publizierte 1495 eine kommentierte Ausgabe von dessen Werken. Später näherte er sich dem Florentiner Neuplatonismus an. 156 Albertus Pigghe, Adversus prognosticatorum vulgus (…), Parisijs 1518. 157 Heike Talkenberger, Sintflut, 169. 158 Agostino Nifo, De falsa diluvij prognosticazione, Napoli [1519]; Heike Talkenberger, Sintflut, 169–172.
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dass sich eine Sintflut umgehend ereignen müsse, sollte die Ursache wirklich in der Sündhaftigkeit der Menschen zu suchen sein.159 Auch Tomaso wollte sich der aktuellen Debatte zwischen Sintflut-Befürwortern und -Gegnern nicht entziehen und verfasste umgehend eine gegen Agostino Nifo gerichtete Prognose, die in Rom am 15. September 1522 gedruckt wurde und wie jene Nifos ebenfalls Kaiser Karl V. gewidmet war.160 Diese Reaktion lässt sich nicht zuletzt auf die zunehmende Kaiserfreundlichkeit des päpstlichen Umfeldes zurückführen: Clemens VII. war im Konflikt zwischen dem römischdeutschen Kaiser und dem französischen König FranÅois I. anfangs zwar neutral geblieben, hatte sich jedoch in den folgenden Jahren der Seite Karls V. angenähert. Auch Guido Rangoni machte daher als päpstlicher condottiere aus seiner Neigung zu den Imperialen keinen Hehl. Am 20. August 1524 erwähnt daher Grard de Plaines (1480–1525), der Vorsitzende des Geheimen Rates Karls V., im Rahmen einer Mission in Italien neben nicht erfolgsversprechenden Friedensvermittlungen des Papstes, diversen Nachrichten vom Kriegsschauplatz und Uneinigkeiten der Feldherren des Kaisers auch Guido Rangoni, der zwar ein überaus enger Vertrauter des Papstes, jedoch den Imperialen keineswegs feindlich gesinnt sei: Er möchte immer ein guter Imperialer bleiben. Er hat ein gutes Verhältnis zum Papst und möchte nichts von Eurer Majestät. Wenn Ihr wünscht, könnt Ihr ihm einen Brief zukommen lassen, der über die guten Beziehungen und Verbindungen spricht, die Ihr vielmehr durch ihn als durch mich habt.161
Auf dem Frontispiz der lateinischen Ausgabe von Tomasos Prognostikon ist ein untergehendes Schiff zu sehen, auf der letzten Seite ein sich an einen Baum lehnender Philosoph. Eine weitere Ausgabe in volgare, laut des Bibliotheksinventars 1522 und 1523 in Modena gedruckt, zeigt hingegen auf dem Titel Christus, der über den drei Ständen thront.162 In der Widmung bekräftigte Tomaso, er sei von Guido Rangoni zum Verfassen dieser Flugschrift angeregt 159 Ottavia Niccoli, Profetismo e popolo, 193–195. 160 BMV, Misc. 2322 (3). Vollständiger Titel: Thom(a)e philologi Rave. De vera diluvij pronosticatione anni 1524 ad Karolum max. imp. Der Druckort verweist auf einen weiteren Aufenthalt Tomasos in Rom, möglicherweise in Begleitung Guido Rangonis. 161 Karl Friedrich Wilhelm Lanz, Correspondenz Kaisers Karl V. Aus dem königlichen Archiv und der Bibliothque de Bourgogne zu Brüssel, Leipzig 1844, Band 1, 139: Il se offre a tousjours demorer bon Imperial; il a bon traitement du Pape et ne demande aulcune chose a votre majeste. Si cest votre plaisir, luy pourrez faire escripre une bonne lettre sur les bons rapports et relations quavez euz de luy tant dautres que de moy. 162 BMV, Misc. 249 (9). De la vera Pronosticatione del Diluvio del mille et cinquecento et vintiquatro composto per lo excelle(n)tissimo Philosopho Thomado ! da Ravenna. Intitulato al christianissimo imperado. Zum Druckort siehe auch Tomaso Rangones Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 69r: Diluvium a Philologo Rangono Mutinae.
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worden und habe eigenhändige (und daher besonders glaubwürdige!) Berechnungen durchgeführt (ut probatissimi authores, et nostris instrumentis nos ipsi exploravimus). Die für den 1. Februar 1524 angesetzte Sintflut163 soll nicht nur Teile Italiens, sondern auch der weiteren christlichen Welt überfluten, wohingegen Agostino Nifo noch eine leichte, nur lokal begrenzte Überschwemmung angekündigt hatte. Tomaso äußert dabei den Wunsch, Karl V. werde Land und Bevölkerung vor der Katastrophe bewahren können.164 Der scholastischen Tradition folgend ist der erste Teil von Tomasos Druckschrift den Ausführungen anderer Astrologen zur Sintflut gewidmet, wobei die Ansichten des Ptolemäus, Albertus magnus, Aristoteles, des biblischen Buches Genesis, Agostino Nifos und auch Guido Rangonis165 vorgestellt und diskutiert werden. Tomaso richtete sich verächtlich an Nifo (iste philosophus), der durch sein Traktat so viele renommierte Astrologen in Misskredit gebracht habe.166 Obwohl Nifo sich letztendlich für eine partielle Sintflut ausspreche, würde er dies doch zugleich im Titel (De falsa …) negieren! Doch sein Verdienst sei es zumindest, dadurch die Welt vor einer apokalyptischen Angst befreit zu haben (a tam anxietate et langore vere liberasset). Er selbst, Thomasus Philologus, sähe sich dagegen in seinen Aussagen ausschließlich der Wahrheit verpflichtet (sed sola veritate et humani generis commodo promoti), müsse jedoch eingestehen, dass weder die Gelehrten der Antike, die arabischen Astrologen, die Interpretatoren der Septuaginta, die Kirchenväter Augustinus und Hieronymus, noch die Gelehrten Leon Battista Alberti und Alphonsius das exakte Datum der Sintflut bisher hätten bestimmen können, und dass die Schwierigkeiten, die mit der genauen Berechnung verbunden sind, bereits unter den antiken Schriftstellern zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten geführt hätten. So habe der antike Meteorologe Theophrast eine erneute Sintflut bestritten, da die Sonne alle anderen Sterne an Kraft überrage, die quasi zu ihrem »Schmuck« vorhanden seien. Ptolemäus war schließlich der Ansicht gewesen, dass der Planet Mars in den Fischen durch die Konjunktion von Jupiter und Saturn die Feuchtigkeit abhalte (Mars in Piscibus Iovis et Saturni coitu humiditatem remittet) und Aristoteles sah in seinen meteorologischen Schriften in vorangehender Trockenheit eine Voraussetzung für eine erneute Sintflut. 163 BMV, Misc. 249 (9): 1524 die primo Februarij post meridiem hor. 3 M. 50. S. 24 luna orbis regina […]. 164 Ebd.: Quatenus ammoto Suessani improbi iam impresso errore (d. h. am 15. September 1522). […] Te unum igitur in terra adorabimus et venerabimur, a quo in Italia in tuae coronationis proxima illustratione cum Guidone nostro principe dignitatum et quietis ornamenta speramus. Vale invictiss. Cesar, et diu felix. Vale. 165 Ebd.: Guido Rangonus, et est argumentum in nostra vera astrologia repertum in diluvij reprobatione potissimum, et fortissimum […]. 166 Ebd.: […] iste philosophus, qui libello De falsa diluvij pronosticationem (velut appellat) tot gentes imoque plurimos excellentes viros a tam gravi errore securos reddere vellit.
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Auch die Argumentation Agostino Nifos versucht Tomaso mit astronomischen Argumenten zu entkräften: Letzterer halte die Kraft und den Einfluss der Sterne für gering, glaube an die austrocknende Wirkung des Planeten Mars und daran, dass die große Konjunktion nur mäßigen Einfluss habe, da Jupiter über Saturn herrsche. Zudem sei Nifo der Ansicht, eine Überschwemmung trete nur in natürlichen Regionen auf.167 Die Sintflut kündigt sich laut Tomaso durch mehrere untrügliche Zeichen an: reichhaltige Regenfälle (pluviarum excessum) und Seuchen (unde ignes quoque pestis mortis false crudeli nos lacerabit). Zuerst soll es gemäß der Berechnungen Tomasos daher die am Meer gelegenen Regionen treffen, insbesondere Provinzen, die im Wasserzeichen des Fisches liegen (Palästina und Ägypten), sowie Gebiete, die im Zeichen des Wassermanns, des Skorpions, des Krebses oder im Zeichen der Jungfrau stehen. Nach der vernichtenden Sintflut, so Tomaso, wird ein neues Volk hervorgebracht werden und ein neuer Prophet kommen.168 Neben der bedeutungsvollen Konstellation der Himmelskörper kündigt sich dieses neue Zeitalter wie bei Luca Gaurico auch durch einen Kometen an.169 Tomasos Sintflutprognose rief bei den Gelehrten unterschiedliche Reaktionen hervor. Umgehend meldete sich der angegriffene Agostino Nifo zu Wort und wies in der 1523 in Neapel erschienenen De liberatione a metu futuri diluvij contra nonnullos iuniores die Argumente Tomasos entschieden zurück und beschäftigte sich mit der Ankündigung eines (Pseudo-)Propheten. Der Ansicht Nifos schloss sich 1524 auch der spanische Astronom Juan Lpez de Zfflniga in der Epistola super significationibus 16 coniunctionum in signo piscium an, der eine Identifizierung des Kleinen Propheten mit Martin Luther jedoch vehement ausschloss.170 Gegen Tomasos Prognostikon richtete sich auch der Humanist Francesco Brusoni (1465/70–1536) in De futuro diluvio vaticinium,171 einer Papst Hadrian VI. gewidmeten, 1524 in Venedig erschienenen Gegenschrift in Form des gelehrten Hexameters. Diese orientierte sich stilistisch an Ovids Metamorphosen und setzte daher an den Anfang auch eine Sintflut. Brusoni gesteht darin, er könne sowohl dem Prognostikanten Thomasus Philologus als auch den Ankündigungen der anderen Astrologen bezüglich einer drohenden
167 BMV, Misc. 249 (14), (17). 168 BMV, Misc. 249 (9): Et, ut certe credo permitente deo, quod multas regiones, et animantia anihilabit, praenuntiare, et minari tenemur, et sic ex Meshala nova lege multas gentes, et populos ad se alliciens. Novus propheta e septentrione veniet. 169 Ebd.: Erunt ergo haec signa […]cometa stella. 170 Zur Verbindung von Reformation und Sintflut siehe Ottavia Niccoli, Profetismo e popolo, 194–195; zur Epistola siehe Maria Grazia Blasio, Cum gratia et privilegio: programmi editoriali e politica pontificia (Roma, 1487–1527), Roma 1988, 35. 171 BMV, Misc. 2243. Zu Brusoni vgl. John L. Flood, Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-Biographical Handbook, Berlin/New York 2006, Band 1, 256–257.
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Abb. 10: Frontispiz der 1522/23 in Modena gedruckten volgare-Ausgabe De la vera pronosticatione del Diluvio. Im Gegensatz zur lateinischen Ausgabe, auf der ein untergehendes Schiff zu sehen ist, wählte Tomaso hier eine Darstellung von Christus, der über den drei Ständen thront.
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Katastrophe keinen Glauben schenken.172 Der Astronom Ludovico Vitali (1475– 1554), einst promotor Tomasos in Bologna, opponierte ebenfalls gegen seinen ehemaligen Schüler und publizierte 1523 eine Abhandlung mit dem Titel Dialogus de diluvij falsa pronosticatione medijs naturalibus et astronomicis refertus, die er Bischof Ottaviano Maria Sforza (1475–1545) widmete. In diesem fiktiven Dialog besiegt ein Schüler des Astrologen Agostino Nifo den Gelehrten Gianotti:173 Im ersten Teil des Prognostikons begeben sich zwei angehende Gelehrte, der discipulus und der socius, nach Bologna, um Thomasus Philologus zu seinem Werk zu befragen, dessen Wahrheitsgehalt sie nach eingehender Lektüre in Zweifel gezogen haben. Durch den Pedell der Universität informiert, gelangen die beiden nach Spilamberto, wo der Astrologe Tomaso tätig ist. In Spilamberto174 besaß die Familie Rangoni zwei Wohnsitze, den mittelalterlichen Stadtpalazzo Rangoni »Del Bargello« und die mit Wachtürmen versehene, auf das 13. Jahrhundert zurückgehende Burganlage Rocca Rangoni, wohin sich Guido Rangoni ab Ende 1522 vermehrt mit seinem Gefolge zurückgezogen hatte. An einem dieser Wohnsitze findet laut Vitali der Disput zwischen dem Philologus und dem discipulus statt, wobei letzterer die Argumente des Gegners durch eine ausschließlich auf naturwissenschaftlichen Argumenten nach aristotelischer Tradition fußende Diskussion entkräftet. So bezweifelt der discipulus die Bedeutung des Regenbogens als Zeichen Gottes nach der Sintflut,175 auf das Tomaso in seiner Prognose hingewiesen hatte, und erklärt dessen Zustandekommen lediglich auf Basis von Aristoteles’ meteorologischen Schriften. Nach dem Sieg über Thomasus Philologus kommt es noch zu einem weiteren fiktiven Gespräch zwischen dem Astrologen Agostino Nifo, dem discipulus, und Ptolemäus, der den Schüler zu seinem Sieg beglückwünscht, Partei für den Suessaner ergreift und dem Besiegten Gianotti jegliche Grundkenntnisse im Bereich der Astronomie abspricht:
172 BMV, Misc. 2243: Ut vero sensus alia parte reflexi / Pervegetos: coepique virum praedicta priorum / Voluere: quaeque recens legi prognostica Thomas / Phylologi humani generi minitantia certam / Ac tutum morem pelagi exuberantibus undis, / Fluminibus lacubusque vagis stagnantibus atque / Fontibus irriguis et fluxu nubis aquosae: / Indolui gemitusque graves ex pectore traxi / Suspensus: totoque luit de corpore sudor: […] / Sunt mala confiteor scelera: et capitalia multa […] / Credere nihil ausim stellarum vatibus atque / Thomae Philologo indubitata pericula mundo / Iuranti exitiumque viris mortesque ferenti. 173 Vgl. hierzu Henry Mchoulan et al. (Hrsg.), La formazione storica della alterit: studi di storia della tolleranza nell’et moderna offerti a Antonio Rotond, Firenze 2001, 25. Das hier zitierte Exemplar befindet sich in der Welcome Library in London (WLL, Nr. 3365). 174 WLL, Nr. 3365, c.1v. Das Schloss Rocca Rangoni befindet sich in Spilamberto und ist seit einigen Jahren im Besitz der Kommune. Vereinzelte Malereien des Cinquecento sind noch erhalten. Zu Spilamberto vgl. Crisseide Sassatelli, Che ogn’un si guardi. Un castello e la sua Signora. Spilamberto e Bianca Rangoni (1594–1622), Modena 2001. 175 1 Mos. 9, 12–16.
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Ich habe die gelehrten Dispute zwischen dir und jenem Philologus aus Ravenna gehört, der sich eher durch Wagemut und Unsicherheit denn durch Gelehrsamkeit auszeichnet. Denn er kann nicht durch die Lehre ausgezeichnet (preditum), sondern verloren (perditum) genannt werden, ist er doch nicht einmal fähig, die Berechnungen des unbedeutendsten Professors dieser Fakultät (d. h. Bolognas) zu erfüllen. Und er war nicht einmal des Tadels würdig, verfügt er doch nicht einmal über die absoluten Grundlagen der Astronomie.176
Abb. 11: Spilamberto: Im Hintergrund die mittelalterliche Festung Rocca Rangoni aus dem 13. Jahrhundert.
Obwohl Tomasos Prognostikon durch Vitali kritisiert worden war, löste es in Modena ähnlich wie die Thesen Luca Gauricos in anderen Städten eine vergleichbar große Panik unter der Bevölkerung aus.177 Der modensische Chronist Tommasino de’ Bianchi (1503–1554) berichtet, Guido Rangonis Bruder Ercole und der Vikar des Bischofs, Gian Domenico Sigibaldi, hätten aus Angst vor der Sintflut öffentliche Gebete und Prozessionen angeordnet, um göttlichen Beistand für die Bevölkerung Modenas zu gewinnen.178 Viele, darunter auch Tomaso selbst, sollen Schutz in den nahen Bergen gesucht haben. Nach dem Zeugnis der Chronik Tomasino de’ Bianchis organisierte die örtliche Bevölkerung einen Karneval und am 2. Februar 1524 fand auf der Piazza in Modena ein satirisches Maskenspiel zwischen misser diluvio de terra e loco sotto pena de rebelion und misser Thomaxo astrologo del signor conto Guido Rangon per essere fugito in montagna per paura del diluvio statt.179 Diese Satire richtete sich jedoch vornehmlich an Guido Rangoni, den Kommandanten der päpstlichen Truppen,
176 WLL, Nr. 3365, 9r/v : Audivi et litterarias contradictiones inter te et Philologum illum ravenatem audacia potius et temeritate quam doctrina preditum qui tamen non preditum doctrina, sed perditum vocari potest, qui non est dignus solvere calciamenta minimi professoris huius facultatis. Neque erat dignus reprehensione, cum careat fundamentis etiam exilibus astronomicis. 177 Ottavia Niccoli, Profetismo e popolo, 190–191. 178 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 2, 274–275; Ottavia Niccoli, Profetismo e popolo, 208. 179 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 2, 276; Ottavia Niccoli, Profetismo e popolo, 210.
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der in einer gefährlichen Situation aus der Stadt geflohen war.180 Nur wenige Tage später kursierten weitere Satiren. Am 4. Februar wurde ein erneutes Lustspiel zwischen zwei maskierten Astrologen vorgetragen, von denen der eine seinen Hintern und der andere sein Geschlechtsteil entblößte und mit einer vulgären Geste die Zukunft vorhersagte (alz suxu li pani et ge mostr il culo et lo compagno astrologava il suo culo con el sexto).181 Letztendlich sollte sich die Furcht vor einer drohenden Sintflut jedoch als unbegründet erweisen. Aus dem Tagebuch von Andrea Pietramellara, dem Sohn des bekannten Astrologen und Professors an der Universität von Bologna, Giacomo Pietramellara, kann man entnehmen, dass das Jahr 1524 in Italien entgegen aller Vorhersagen sogar außergewöhnlich trocken, wenn auch immer wieder durch reichhaltige Regenfälle gekennzeichnet war.182 Aber in Modena selbst hätte das Wetter in dieser Zeit nicht besser sein können: Es ist wunderschönes Wetter, gute Luft und es ist friedlich wie im Frühling, nichts von dem, was manche Personen verkünden (ist zu spüren), vermerkte der Chronist de’ Bianchi am 2. Februar in der Cronaca.183 Der italienische Arzt und Astrologe Girolamo Cardano klagte Stöffler schließlich der Inkompetenz an, nachdem sich herausgestellt hatte, dass dessen Prognose sich als falsch erwiesen hatte.184
180 Ebd., 210. 181 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 2, 277. 182 De qualitatibus mensis Februarij … Vigessima dies fuit tota serena, nulla apparente nube et fuit in mane et in sero frigida, in meridie vero fuit calida propter eurum flanten … Haec sunt qui isto mense Bononie fuerunt praeter profecto multorum spem, quoniam multi dubitabant de terremotu, pluvia superflua, et alijs humani generi odiosis. Vgl. zum Zitat Nerio Malvezzi, Il Diario meteorologico di Andrea Pietramellara per l’anno 1524, Atti e Memorie della R. Deputazione di Storia Patria per le Provincie di Romagna, Bologna 1885, 453–454; Zum Thema siehe Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 9, 193; Ottavia Niccoli, Profetismo e popolo, 142; Gerd Mentgen, Astrologie und Öffentlichkeit im Mittelalter, Stuttgart 2005, bes. 150. 183 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 2, 276: un belissimo tempo, bona aiara, et tranquilla como de primavera, niente de mancho questo d asai persone dezunano. 184 Girolamo Cardano, Opera Omnia, tomus quintus, Lugduni 1663, 76: haec est illa syderum constitutio (Cardano bezieht sich hier auf die Planetenkonstellation vom 20. Februar 1524), in qua Stoflerinus vituperio exposuit astrologos.
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VII. Mantua: am Hof der Gonzaga
Als Kommandant der päpstlichen Truppen wurde Guido Rangoni zunehmend in die Allianzkriege verwickelt. An kleinen, nicht beweglichen Höfen war trotz der politischen Unruhen in dieser Zeit hingegen ein blühendes kulturelles Leben entstanden, das viele Künstler und Intellektuelle angezogen hatte und daher mehr Sicherheit bot als das aufregende, unstete und vor allem gefährliche Leben an der Seite eines Kriegsherren. Vor diesem Hintergrund hatte sich eine verfeinerte Lebensart entwickelt, die sich durch kodifizierte Benimmregeln auszeichnete, wie sie 1528 von Baldassare Castiglione (1478–1529) im Libro del Cortegiano zusammengefasst worden waren. Dabei handelt es sich um einen in Form eines fiktiven Dialogs zwischen namhaften Renaissancepersönlichkeiten in Urbino verfassten Leitfaden, in dem nicht nur die charakteristischen Eigenschaften des idealen, universell gebildeten und gelehrten Hofmannes und der Hofdame abgehandelt werden, sondern auch seine physischen und moralischen Anforderungen sowie das Verhältnis von Höfling und Fürst.1 Dem Bemühen um die Erforschung und um das Verständnis der menschlichen Anatomie in den medizinischen Wissenschaften wurde an den Höfen somit das Streben um die äußere Perfektionierung des menschlichen Körpers entgegengesetzt, wozu es im Italien des Quattro- und Cinquecento nicht zuletzt umfassender Tanz- und Benimmtraktate bedurfte, die im Sinne des Humanismus die vollständige Beherrschung der Affekte zugunsten der Harmonisierung des Körpers anstrebten.2 So beschäftigte sich bereits der frühe Tanzmeister Guglielmo Ebreo da Pesaro (geb. 1420) mit der harmonischen Ausführung der passenden musikalischen Formate wie der schnellen piva, dem fröhlichen saltarello oder der würdevollen 1 Albert Wesselski/Andreas Beyer (Hrsg.), Baldassare Castiglione, Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, 2Berlin 2004; Manfred Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; Peter Burke, Die Geschichte des »Hofmann«. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996. 2 Rebecca von Mallinckrodt (Hrsg.), Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, Braunschweig 2008.
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bassadanza.3 Fabritio Caroso da Sermoneta (geb. 1535) fügte seinem hundert Jahre später verfassten Traktat Il ballerino (1581), das 1600 in einer überarbeiteten Fassung als Nobilit di dame publiziert werden sollte, auch eingehende Benimmregeln zur angemessenen Reverenz oder Sitzposition bei Hofe hinzu.4 Bewusst wollte man sich durch Selbstdisziplinierung gegen die wilde Körperlichkeit der unteren Gesellschaftsschichten abgrenzen,5 weshalb der Höfling gemäß den Anforderungen der Zeit nicht nur im Tanzsaal eine ausgezeichnete Figur machte, sondern auch in der hohen Kunst des Reitens oder Waffenhandwerks versiert war.6 Bei seinem Auftreten verzichtete der Höfling jedoch stets auf übertriebenen Putz und bevorzugte angemessene, dem Ereignis entsprechende Kleidung: Es gefällt mir auch besser, wenn sie nach Ernst und Würde zielt, als nach Eitelkeit; daher dünken mich schwarze Kleider schöner als alle anderen, und wenn sie schon nicht schwarz sind, sollten sie nach meiner Ansicht wenigstens in dunklen Farben gehalten werden. Dies gilt natürlich nur für den gewöhnlichen Anzug, da es außer allem Zweifel steht, dass zu den Waffen besser helle und heitere Farben stehen, ebenso schmucke, bestresste und prächtige Röcke.7
Diese Entwicklungen an den italienischen Höfen wurden von den Chronisten jedoch auch kritisch gesehen und Pietro Aretino (1492–1556) verspottete in der Komödie La cortigiana (1525) und im Marescalco (1534) die Gesellschaft an den Höfen seiner Zeit, wobei er die Sitten der Höflinge und die weit verbreitete Heuchelei denunzierte und die herrschenden literarischen und philosophischen Moden wie Platonismus und Petrarkismus parodierte.8 Zu den einflussreichsten Familien und Kunstförderern gehörte seit dem 14. Jahrhundert das in Mantua ansässige Geschlecht der Gonzaga,9 das durch
3 Dorion Weickmann, Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580–1870), Frankfurt a. M./New York 2002, 50–53; Daniel Jütte, Preliminary Notes and Perspectives Toward a History of Jewish Musicians and Dancing Masters in Renaissance Italy, in: Leonard J. Greenspoon (Hrsg.), I will sing and make Music. Jewish Music and Musicians throughout the Ages, Lincoln/Nebraska 2008, 123–147. 4 Dorion Weickmann, Der dressierte Leib, 53–57; Julia Sutton (Hrsg.), Fabritio Caroso, Courtly Dance of the Renaissance: A New Translation and Edition of the Nobilt di Dame (1600), New York 1995. 5 Marie-Thrse Mourey, Galante Tanzkunst und Körperideal, in: Rebecca von Malinckrodt (Hrsg.), Bewegtes Leben, 85–103, bes. 89–95; 99 (Affekte). 6 Pia F. Cuneo, Das Reiten als Kriegstechnik, als Sport und als Kunst: die Körpertechnik des Reitens und gesellschaftliche Identität im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Rebecca von Mallinckrodt (Hrsg.), Bewegtes Leben, 167–188. 7 Albert Wesselski/Andreas Breyer (Hrsg.), Baldassare Castiglione, 69. 8 Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice, 31ff. 9 Giuseppe Coniglio (Hrsg.), Mantova, Mantova 1958–1963; Charles M. Rosenberg (Hrsg.), The Court Cities of Northern Italy. Milan, Parma, Piacenza, Mantua, Ferrara, Bologna, Urbino,
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umfassenden Landbesitz, geschickte (Heirats-)politik, Handelsverbindungen mit Venedig und erfolgreich durchgeführte condotte zu Macht und Einfluss gekommen war. Unter der Regentschaft von Isabella d’Este,10 die am 12. Februar 1490 Francesco Gonzaga (1466–1519) geheiratet hatte, entwickelte sich Mantua zu einem bedeutenden kulturellen Zentrum. Viele Intellektuelle und Künstler begaben sich an den mantuanischen Hof, der in den folgenden Jahren zu einem Vorbild aristokratischer Lebensart für ganz Europa wurde. Andrea Mantegna (1431–1506), der bereits die Camera degli Sposi im Palazzo Ducale mit Wandfresken versehen hatte, wurde zum bevorzugten Hofmaler Francesco Gonzagas.11 Bekannte Künstler wie die Maler Pietro Perugino (1446/50–1523) und Antonio da Correggio (1489–1534), der Komponist Bartolomeo Tromboncino (1470–1535), der Lautenist Marchetto Cara (1470–1525), die Dichter Ludovico Ariosto (1474–1533) und Baldassare Castiglione (1478–1529) sowie der Mathematiker Luca Paccioli (1445–1517) prägten mit ihrem Wissen den Hof von Mantua. Isabella d’Este förderte jedoch nicht nur die Entwicklung des kulturellen Lebens, sondern verfügte auch über politisches Einfühlungsvermögen. So übernahm sie nicht nur für ihren Mann, der als condottiere in den Diensten Venedigs gestanden hatte (1489–1498), mehrfach die Regierungsgeschäfte, sondern auch für ihren noch unmündigen Sohn Federico II. (1500–1540).12 Der junge Marchese, den Ludovico Ariosto im Versepos Orlando Furioso verewigen sollte,13 hatte eine ausgezeichnete Ausbildung genossen und war zwischen dem französischen und päpstlichen Hof aufgewachsen. Nach dem Tod seines Vaters am 29. März 1519 gewann er zunehmend an politischem Einfluss, erhielt unter Papst Leo X. die vielversprechende Position eines Capitano della chiesa und sollte 1530 von Karl V. zum Herzog erhoben werden. Im Zuge von Federicos II. Volljährigkeit schwand jedoch der politische Einfluss seiner Mutter Isabella. Die Emanzipation Federicos II. zeigt sich insbesondere in der herzoglichen Kulturpolitik, was dazu führte, dass in der Stadt zahlreiche bauliche Veränderungen vorgenommen werden sollten. Bereits 1524 rief der junge
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Pesaro, and Rimini, Cambridge 2010, bes. 138–195; ferner auch Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 231–237. DBI, s.v.a. Isabella D’Este; George Marek, The Bed and the Throne: the Life of Isabella d’Este, New York 1976; Sylvia Ferino-Pagden (Hrsg.), »La prima donna del mondo«. Isabella d’Este: Fürstin und Mäzenatin der Renaissance, Wien 1994; Daniele Bini (Hrsg.), Isabella D’Este. La Primadonna del Rinascimento, Mantova 2001; Giovanni D’Onofrio, Isabella d’Este Gonzaga, Mantova 2002; ferner Alessandro Luzio/Rodolfo Renier, Mantova e Urbino. Isabella d’Este ed Elisabetta Gonzaga nelle relazioni famigliari e nelle vicende politiche, Torino 1893; Dies., La cultura e le relazioni letterarie d’Isabella d’Este Gonzaga, Torino 1903. Mauro Lucco (Hrsg.), Mantegna a Mantova 1460–1506, Milano 2006. Giuseppe Coniglio, I Gonzaga, Milano 1967; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 271ff.; Sarah D. P. Cockram, Isabella d’Este and Francesco Gonzaga. Power Sharing at the Italian Renaissance Court, Aldershot 2013. Canto XXIII, 46 : 1–6 und Canto XXVI, 49 : 5–6.
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Marchese den Bildhauer, Architekten und Schüler Raffaels, Giulio Pippi (1499– 1546), genannt Giulio Romano, an den Hof von Mantua. Dieser war nicht nur ein bedeutender Künstler, sondern erfüllte, so lässt uns Vasari in den Vite wissen, alle Eigenschaften des idealen Höflings, war nicht nur unversell gebildet, sondern auch versiert in höfischer Konversation.14
Abb. 12: Der von Giulio Romano zwischen 1525 und 1534 errichtete Palazzo Te prägte das Stadtbild Mantuas nachhaltig. Der Palazzo ist mit prächtigen Malereien geschmückt (rechts: Deckenfresko der Sala dei Giganti).
Kaum ein Künstler prägte in den folgenden Jahren das Stadtbild Mantuas so sehr wie Giulio Romano: Zwischen 1525 und 1534 verwandelte er das sumpfige Gebiet des Te in eine riesige Baustelle und errichtete und dekorierte den Palazzo Te mit aufwendigen Fresken wie der Darstellung des Olymp, der Sala dei Cavalli oder der Sala dei Giganti. Bereits als junger Mann hatte Federico II. auch die Bekanntschaft des Astrologen Luca Gaurico gemacht, interessierte sich verstärkt für die Himmelskunde und gab Freskenzyklen mit astrologischer Thematik in Auftrag.15 14 Vgl. zu Giulio Romano Stefania Massari et al. (Hrsg.), Giulio Romano pinxit et delineavit: opere grafiche autografe di collaborazione e bottega, Roma 1993. In Tomaso Rangones Besitz befand sich laut des Bibliotheksinventars eine Zeichnung Giulio Romanos. 15 Zu Luca Gaurico in Mantua vgl. Alfonso Silvestri, Luca Gaurico e l’astrologia a Mantova nella prima met del Cinquecento, L’Archiginnasio 34, 1939, 299–315; Marco Pecoraro, Lettere di Luca Gaurico ai Gonzaga di Mantova e agli Estensi. Divinazioni astrologiche e testimonianze autobiografiche, Quaderni per la Storia dell’Universit di Padova 37, 2004, 119–138; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 233ff., 247ff.
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Guido Rangoni pflegte, nicht zuletzt aus politischen Gründen, ebenfalls enge Kontakte zur Familie der Gonzaga. Als er im Januar 1525 im Rahmen des Karnevals zahlreiche Empfänge gegeben hatte, befand sich unter den Gästen auch der Bruder des Marchese und spätere Kardinal, Ercole Gonzaga (1505–1563), der dafür bekannt war, vielversprechende junge Talente zu fördern. Ercole selbst hegte ein leidenschaftliches Interesse für die scientia naturalis, bevorzugt die medizinischen Wissenschaften und besuchte auch regelmäßig anatomische Vorlesungen.16 Vermutlich war im Rahmen dieser Feierlichkeiten die Sprache auf Tomaso gekommen, den Hofastrologen und Berater Guido Rangonis. In einem eigenhändig geschriebenen Geleitbrief vom 8. Januar 1525 empfahl der condottiere Tomaso daher ausdrücklich an den Hof von Mantua. Er habe, so Guido Rangoni, durch den Schriftsteller Nicol degli Agostini17 vernommen, Mario Equicola18 habe signalisiert, der Marchese wünsche den Astronomen Tomaso unbedingt kennenzulernen.19 Vermutlich hatten Guido Rangoni auch politische Gründe dazu bewogen, Tomaso an den Hof von Mantua zu vermitteln, war Modena im Vergleich zu Ferrara und Mantua doch nur eine kleine, eher unbedeutende Grafschaft, und die Familie Rangoni musste stets darauf bedacht sein, das politische Gleichgewicht nicht zu gefährden. So war das Verhältnis Guido Rangonis zu den Gonzaga in dieser Zeit – dies zeigt sich deutlich in den erhaltenen Briefen Guido Rangonis aus dem Jahr 1525 – nicht zuletzt auch durch politische Abhängigkeiten geprägt. Der condottiere versicherte den Marchese in diesen Schriftstücken daher stets seiner Loyalität, verfasste Empfehlungsschreiben, bat um Unterstützung für Untergebene, Befreiung von Gefangenen oder auch nur um Handelslizenzen.20 16 Paul Murphy, Ruling Peacefully. Cardinal Ercole Gonzaga and Patrician Reform in SixteenthCentury Italy, Baltimore 2007, 11; 18ff. 17 Mit »Zoppino« ist wohl der Schriftsteller Nicol degli Agostini gemeint (DBI, s.v.a. Degli Agostini, Niccolo). Zoppino wird noch in einem weiteren Brief Guido Rangonis genannt (ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c. 127 (22. Februar 1526). 18 Gemeint ist der Philosoph, Humanist und Sekretär des Marchese von Mantua, der Philosoph und Schriftsteller Mario Equicola (1470–1525). Vgl. zu Equicola DBI, s.v.a. Equicola, Mario; Domenico Santoro, Della vita e delle opere di Mario Equicola, Chieti 1906; Stephen Kolsky, Mario Equicola. The Real Courtier, Ginevra 1991. 19 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c. 5 (hierzu auch Antonino Bertolotti, Variet archivistiche e bibliografiche, Il Bibliofilo 5, 1885, 103): Perche scio che la Ecellentia Vostra ha qualche desiderio de conoscer lo excellente M. Thomaso astronomo presente ostensore, secondo che Zoppino dice haverlo inteso per parte di M. Mario (Equicola). Et io che penso per ogni tempo di satisfare alla predetta Excellentia Vostra subito l’ho indirizato da epso con animo che l’abbia arestare de lui ben satisfacto: cosi ge lo racomando et la prego che ultra le virtute sue per amor mio lo vogli haverlo sommamente grato: Che di tutto mi restaro obbl.mo alla prelibata Excellentia V. alla quale di nuovo ricordo del officio del p. Zoppin come me rendo certo lo habbi in memoria et alla sua bona gratia per sempre mi ricomando. 20 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292 (Brief Guido Rangonis vom 12. Juni und 24. Juni) und b. 2929 (Brief Guido Rangonis vom 26. November 1525).
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Noch im Januar muss sich Tomaso in das etwa sechzig Kilometer entfernte Mantua begeben haben, wo er sich wohl fast zwei Monate aufhielt. Nach seiner Rückkehr verfasste er am 25. März ein euphorisches Dankesschreiben an Mario Equicola21 und übermittelte anliegend ein Prognostikon mit dem Titel De Liberatione Francisci regis christianissimi,22 worin er sich auf ein aktuelles Ereignis bezog, die Gefangennahme des französischen Königs FranÅois I. durch die kaiserlichen Truppen bei der Schlacht von Pavia am 24. Februar 1525. Dieses opusculum hatte Tomaso zwar bereits seinem Dienstherren Guido Rangoni zugeeignet,23 ließ es jedoch auch in volgare übersetzen und widmete diese Ausgabe dem Marchese. In dessen Dienste wolle er nämlich überaus gerne treten, hätten sich doch weitere aussichtsreiche Optionen nicht ergeben.24 Zudem machte er dem Marchese diverse Geschenke, darunter eine Flasche mit Pinienwasser, die man nur in der Romagna auf diese Weise herzustellen verstehe,25 sowie einen kleinen Pinienbaum, war die Umgebung Ravennas doch bekannt für ihren reichen Bestand an Pinienwäldern, die sich größtenteils im Besitz der vier Klöster befanden.26 Jene pignoli di Ravenna galten als besondere Köstlichkeit, die noch Giuseppe Maria Mitelli (1634–1718) in seinem Gioco della cuccagna che mai si perde e sempre si guadagna (1691) unter die italienischen Stereotypen zählte. Anscheinend erfolgte keine umgehende Reaktion auf Tomasos Schreiben, weshalb sich der junge Arzt am 30. Oktober 1525 erneut brieflich an Federico II. Gonzaga wandte und ihn daran erinnerte, er habe ihn doch nach seinem letzten Aufenthalt in Mantua in seine Dienste nehmen wollen und ihm ein Haus, die stattliche Pension von 200 Dukaten, zusätzliches Kostgeld, eine eigene Dienerschaft und sogar ein Pferd in Aussicht gestellt.27 Aus diesem 21 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c. 39. 22 Ebd., c. 39. 23 Ebd., c. 39; in Auszügen publiziert bei Antonino Bertolotti, Variet archivistiche e bibliografiche, Il Bibliofilo 5, 1885,103. Ein Exemplar des angekündigten Prognostikons befindet sich in der Bibliotheca Apostolica vaticana (EX0001). Der vollständige Titel lautet: Thomae Philologi De liberatione Francisci Francorum Regis Christianissimi ad Guidomagnum Rangonum. Impressum Mutinae per D. Antonium Bergollum. Anno Domini 1525 Die. 14. Octobris. 24 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c.39r : […] e dedicarlo al mio Ill. et desideratissimo mecenate Signor Marchese, che per ci sono desideroso di servirlo, che cosa mai desiderasse ad altro non espetto cha esser ricerchato al servitio suo ogni altra speranza mi manchata et questa sola mi resta per benignit di S. S. et per ogni modo vuora esser al suo servizio. 25 Ebd., c. 39r: […] una fiascha d’acqua di pigne che solo in Romagna la scia cos preparare et un alberello di pigne confetto a ci ne faci uno presente al amico et conoscendo li sia grato nel prossimo magio non faro fare quantita. 26 Zu den Pinienwäldern um Ravenna vgl. Giovanni Ricci, La lenta evoluzione del quadro urbanistico, 160 und Fiorenzo Landi, Le basi economiche, 530–531. 27 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c. 85. Federico II. war bekannt für die Haltung und Züchtung von Rassepferden. Ursprünglich befanden sich auf dem Gebiet des Palazzo Te weitläufige Stallungen.
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Schreiben geht hervor, dass Tomaso nicht ausschließlich als Astrologe und Arzt in die Dienste des Marchese treten wollte, sondern auch als Ratgeber in politischen Angelegenheiten: […] und ich bin ein Mann, der Euch auf jegliche Weise dienen kann […] sei es beim Verhandeln, Schreiben, als Arzt oder bei anderen Tätigkeiten […].28 Zu welchem Einfluss ein Arzt in einer vergleichbaren Position kommen konnte, zeigt die beeindruckende Karriere des Arztes Marcello Donati (1538–1602),29 dessen Funktionen ebenfalls weit über jene eines Leibarztes hinausgehen sollten. Donati hatte am 17. Juli 1560 sein Studium in Padua abgeschlossen und wurde bereits am 12. Oktober 1560 ins Collegium medicum von Mantua aufgenommen und im Alter von 26 Jahren Vizedirektor der Accademia degli Invaghiti. Er pflegte ein enges Netzwerk mit bekannten Persönlichkeiten, darunter mit Juan Valverde de Hamusco (geb. 1525), dem Autor der Historia de la composicin del cuerpo humano (1560), dem Naturforscher Ulisse Aldrovandi (1522–1605) oder dem Direktor des botanischen Gartens von Ferrara, Alfonso Pancio.30 Am 26. Oktober 1574 wurde er zum herzoglichen Arzt ernannt, wobei er zudem als Erzieher des Sohnes Vicenzo, sowie als Staatssekretär und Ratgeber tätig war. 1587 erhielt Donati einen Adelstitel und das Castello di Ponzano in Monferrat. Seine Stelle könne er, so Tomaso, möglichst bald antreten, wobei er wiederum betonte, dass er sich bereits erfolglos um andere Beschäftigungen bemüht habe und daher der Marchese auch die einzige Hoffung für ihn darstelle (restatomi sol la speranza di V.S.). Auf dieses Schreiben erhielt Tomaso nun umgehend Antwort, denn nur wenige Tage später, am 2. November 1525, dankte ihm der Marchese höflich für sein Angebot, lehnte es jedoch ab, Tomaso in seine Dienste zu nehmen, da er sich aus finanziellen Gründen nun doch nicht dazu in der Lage sähe, ohne andere Bedienstete entlassen zu müssen: Maestro Tomaso, wir haben Euren Brief vom 30. (Oktober) erhalten, aus dem wir entnommen haben, dass Ihr guten Willens seid und gern in unsere Dienste treten würdet, wofür (wir) Euch sehr dankbar sind. Darauf antworten wir Euch, dass wir aus 28 Ebd., c. 85: […] e io sono homo per servirla in qualuncti […], si in negociar, come in scriver, medicar, e altre virtu […]. 29 DBI, s.v.a. Donati, Marcello; Luigi Francesco Castellani, Vita del celebre medico mantovano Marcello Donati, Conte di Pozzano, segretario e consiglier, Mantova 1788; Pompilio Pozzetti, Elogio di Marcello Donati, Modena 1791; Attilio Zanca, Notizie sulla vita e sulle opere di Marcello Donati da Mantova (1538–1602), medico, umanista, uomo di Stato, Pisa 1964; Dario A. Franchini et al. (Hrsg.), La scienza a corte. Collezionismo eclettico, natura e immagine a Mantova fra Rinascimento e Manierismo, Roma 1979, 57–62; Guido Rebecchini (Hrsg.), Private collectors in Mantua, 1500–1630, Roma 2002, bes. 185ff. 30 Gina Luzzato, Un botanico ferrarese ben noto agli studiosi dei suoi tempi, Alfonso Pancio, Archives internationales de l’Histoire des sciences, Paris 1952; Paula Findlen, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley/Los Angeles/London 1994, 19, 63, 248, 269.
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finanziellen familiären Verpflichtungen heraus weder erfüllen können, was jemand wie Ihr verdient und Euren Fähigkeiten entspricht, ohne viele unserer langjährigen Diener entlassen zu müssen.31
Die Antwort des Marchese scheint zumindest hinsichtlich der Höhe des geforderten Salärs (200 Dukaten) verständlich, wenn man bedenkt, dass selbst Marcello Donati lediglich ein Jahresgehalt von 50 Dukaten erhielt. Ein Brief Guido Rangonis vom 22. Oktober 152532 legt zudem nahe, dass diese Zurückweisung auch seinem Dienstherren gegolten haben könnte, da Guido Rangoni darin über einen Edelmann aus dem Gefolge des Marchese berichtete, der gegen ihn intrigiert habe und die Hoffnung äußerte, der Marchese werde dessen Worten kein Gehör schenken. Somit waren die Chancen Tomasos, Ende 1525 eine Anstellung in Mantua zu finden, äußerst gering, und es erschien in diesem Fall zunächst opportun, die politischen Entwicklungen der nächsten Monate genau zu beobachten. Nach dem Waffenstillstand von Toledo am 11. August 1525 war es zu Verhandlungen gekommen, die am 14. Januar 1526 im Frieden von Madrid besiegelt werden sollten. Der Friedensvertrag sah vor, dass Frankreich auf Mailand, Genua und Burgund verzichten sollte, doch nach seiner Freilassung aus der spanischen Gefangenschaft sollte FranÅois I. die Erklärungen allesamt für ungültig erklären. Im April 1526 begab sich Tomaso auf Wunsch Guido Rangonis noch einmal nach Mantua, wobei er sich wieder auf ein eigenhändiges Empfehlungsschreiben des condottiere stützen konnte.33 Aber auch diesmal scheint sein Aufenthalt nicht zum gewünschten Ergebnis geführt zu haben, möglicherweise, da sich Federico II. Gonzaga zu diesem Zeitpunkt bereits um einen anderen Astrologen bemühte. Denn laut eines Briefes vom 9. April 1526 bedankte sich der gerade in Venedig ansässige Luca Gaurico für die großzügige Einladung des Marchese, einige Tage in Mantua zu verbringen (di venir qua in Mantua per alcuni giorni).34 Fast ein Jahr später, am 9. Januar 1527, wandte sich Tomaso persönlich in einem Schreiben an die Gonzaga, wobei er auf seinen Besuch im zurückliegenden Jahr sowie auf die Widmung einer weiteren Publikation (una mia operetta della 31 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 2929, c. 53v (vgl. hierzu auch Antonino Bertolotti, Variet archivistiche e bibliografiche, Il Bibliofilo 5, 1885, 104): M.o Thomaso havemo recevuto la vostra lettera del 30 del p.to per la quale havemo inteso il bon animo et gran desiderio che havete di venire alli servitii nostri il che ne stato molto grato. In risposta vi dicemo che, essendo noi tanto carichi de famiglia como semo, non vi potressimo accetare, secondo che merita un vostro paro, ne con le conditioni convenienti alle virtu vostre se prima non licentiassemo molti de li nostri antichi servitori. 32 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c. 83r : per le parole di mala natura che l’ha detto di me. 33 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c. 136r ; Antonino Bertolotti, Variet archivistiche e bibliografiche, Il Bibliofilo 5, 1885, 104. 34 ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1460, c. 302r/v. Vgl. hierzu Marco Pecoraro, Lettere di Luca Gaurico ai Gonzaga di Mantova e agli Estensi, bes. 126.
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discordia del Pontefice et di Cesare) Bezug nahm und auf die »Richtigkeit« seiner Prognosen für das Jahr 1526 verwies (non havere molto deviato dalla verit).35 Dabei hoffte er anscheinend, das Wohlwollen des Herrschers zu gewinnen, der zu dieser Zeit vor der schwierigen Entscheidung stand, der Heiligen Liga von Cognac (1526)36 beizutreten, die sich gegen die Vormachtstellung der Imperialen richtete. Von ganzem Herzen (Con tutto il cor) empfahl sich Tomaso noch einmal den Diensten des Marchese und unterzeichnete diesen Brief erstmals mit Thomaso Rango(ne) nicht zuletzt als Beweis für die Gunst, die ihm von Seiten Guido Rangonis zuteil geworden war.37 Vergleicht man die im Archiv von Mantua erhaltenen Briefe Tomasos, wird vor allem die wachsende Zurückhaltung spürbar, die in den vorangegangenen Jahren der Hoffnung auf ein neues Betätigungsfeld gewichen war. Die ablehnende Haltung, die Tomaso am Hofe der Gonzaga 1526 und 1527 entgegengebracht worden war, insbesondere, nachdem der Astrologie-begeisterte Marchese anfangs durchaus ernsthaftes Interesse signalisiert hatte, mag in dieser Zeit jedoch auch auf den Einfluss Pietro Aretinos zurückzuführen sein. Dieser hatte sich 1523 erstmals während der Herrschaft des flämischen Papstes Hadrian VI. nach Mantua zu den Gonzaga begeben und der acht Jahre jüngere überaus gebildete Federico II. war von Pietro Aretinos literarischem Talent umgehend begeistert gewesen. Er ersuchte diesen, für längere Zeit in Mantua zu verweilen, was Aretino jedoch abgelehnte. Nach dem Tod Hadrians VI. kehrte der Dichter kurzfristig nach Rom zurück, musste die Stadt jedoch, nachdem er die obszönen sonetti lussuriosi veröffentlich hatte, nach einem misslungenen Attentat am 13. Oktober 1525 endgültig verlassen und begab sich nun unter den Schutz des päpstlichen condottiere Giovanni de’ Medici (1498–1526), der nach dem Tod Leos X. den Beinamen Giovanni dalle bande nere angenommen hatte. Als letzterer jedoch bereits am 23. November 1526 einer Verletzung erlag,38 kehrte Aretino zu seinem ehemaligen Gönner Federico II. nach Mantua zurück, wo man ihm eine lukrative Position anbot. Pietro Aretino sah seinen Einfluss am Hofe der Gonzaga durch das Intervenieren Tomasos womöglich bedroht und ver35 ASMn, Fondo Gonzaga, b.1374, 69–1–1527v. Vgl. hierzu auch Antonino Bertolotti, Variet archivistiche e bibliografiche, Il Bibliofilo 5, 1885, 104. Tomasos Prognostika für das Jahr 1526 konnten bisher nicht gefunden werden. Guido Rangoni selbst befand sich zu dieser Zeit bei der Verteidigung von Piacenza und sollte erst Ende Februar 1527 nach Modena zurückkehren. Darüber unterrichtete er auch Federico II. Gonzaga in mehreren Briefen, vgl. etwa ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c. 167r. 36 Der Liga von Cognac gehörte Papst Clemens VII., FranÅois I., der Herzog von Mailand, Francesco II. Sforza, die Republik Venedig und einige kleinere oberitalienische Herzogtümer an. 37 ASMn, Fondo Gonzaga, b.1374, 69–1–1527v ; Antonino Bertolotti, Variet archivistiche e bibliografiche, Il Bibliofilo 5, 1885, 104. 38 Klaus Thiele-Dohrmann, Kurtisanenfreund und Fürstenplage, 89–93.
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suchte daher, Federico II. davon abzubringen, den jungen Gelehrten und Konkurrenten für längere Zeit in seine Dienste zu nehmen. Aus diesem Grund machte er sich insbesondere nachdem fehlerhafte Prognostika eine Sintflut angekündigt hatten, die nie eingetroffen war über die Mode der astrologischen Berater lustig und verunglimpfte Tomaso in dem scherzhaften Judizio over pronostico de mastro Pasquino als diesen Dummkopf, der beim Conte Rangone ist.39 Der wankelmütige Marchese sollte aber auch Aretino nicht auf ewig die Treue halten: Nach einem missglückten Anschlag, der wohl von Federico II. selbst angestiftet worden war, floh der Pasquillant nach Venedig. Einen weiteren Einblick in das Verhältnis zwischen Aretino und Tomaso vermittelt nur noch ein einziger Brief, der jedoch fast zwanzig Jahre nach diesem Intermezzo in Mantua verfasst wurde. Pietro Aretino wandte sich darin an seinen einstigen Rivalen, den er (wiederum mit beißender Ironie) als Universalgelehrten rühmte,40 und machte sich über die mittlerweile zahlreich erschienenen Schriften des Arztes lustig.41 Die Intrigen Aretinos sollten jedoch nicht mehr auf fruchtbaren Boden fallen, denn die gesellschaftliche Stellung Tomasos war zu diesem Zeitpunkt bereits zu gefestigt, als dass ihn diese Schmähschrift hätte beeindrucken können.
7.1
Das annus horribilis und seine Folgen
In Oberitalien brauten sich in der Zwischenzeit weitere Unruhen zusammen, deren Folgen nichts Gutes bedeuten konnten. Seit der Schlacht von Pavia am 24. Februar 1525, bei der der französische König FranÅois I. gefangengenommen 39 BMV, Ms. It. Cl. XI, Nr. 66 (=6730), c. 255v : Al S. Marchese de Mantova Pero Aretino // signore, la castronaria del Gaurico et di quell bestiolo che sta col conte Rangone et gli altri giotti ribald, vituperio de le prophetie, m’hanno questo anno fatto diventare philosopho: a la barbaccia di quella pecora de Abumasar et di Ptolomeo io ho compost il judicio del 1527 et non sar bugiardo come son li sopraditi manigoldi, che la minore et di meno importanza mezogna che habino ditto stato il diluvio, per cui dubitando il focho s’aparechi a diffendere l’honor suo nel Cardinale de Monte e Rangone et omnium prelatorum. Vgl. hierzu auch Alessandro Luzio, Pietro Aretino nei primi anni a Venezia alla corte dei Gonzaga, Firenze/Roma 1888, 8f.; Danilo Romei (Hrsg.), Scritti di Pietro Aretino nel codice Marciano It. XI 66 (= 6730), Firenze 1987, 54–55. 40 Francesco Flora (Hrsg.), P. Aretino, Lettere: il primo e il second libro, Milano 1960, Band 1, Brief 361 (684–686). Zur Interpretation der Briefe Aretinos als literarisches Werk vgl. Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice, 126–128. 41 Francesco Flora (Hrsg.), P. Aretino, Lettere, Band 2, Brief 361 (684–686): Quando io, eccelentissimo M. Tommaso, veggo i prati, a la bellezza de i suoi fiori simiglio il ci che avete scritto de la medicina palese ed occulta, e del medico e de lo infermo e de l’uomo e de la donna, comparando il trattato al Sommo Pontefice circa il vivere oltra i cento anni e venti, a un cespuglio di gihli candidi e rossi […].
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worden war, waren die deutschen Landsknechte Karls V., nicht zuletzt durch den ungültig gewordenen Vertrag von Madrid, nicht mehr regelmäßig entlohnt worden. Ein Söldneraufstand war die unmittelbare Folge. Unter der Führung des Herzogs von Bourbon, Charles III. (1490–1527), rückte die Armee 1527 zuerst nach Florenz vor, wo sie auf Truppen der Liga von Cognac stieß, doch ließen die Landsknechte von der Belagerung der Stadt ab, da die Versorgungslage auch in den umliegenden Ländereien nicht ausreichend war. Währenddessen hatte der kaiserfreundliche Kardinal Pompeo Colonna (1479–1532) auf Weisung Karls V. einen Aufruhr gegen den Papst angezettelt und 5.000 Soldaten mobilisiert, die bereits im September 1526 nach Rom marschierten. Diese Truppen vereinigten sich mit den deutschen Landsknechten, rückten gemeinsam nach Rom vor, um den Papst persönlich für ihre prekäre Situation zur Verantwortung zu ziehen und erreichten am 4. Mai 1527 die Ewige Stadt. Durch weitere Bündnisse mit spanischen Söldnern und papstfeindlichen condottieri war das Heer mittlerweile auf 24.000 Mann angewachsen, eine riesige Streitmacht, der der Papst nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Als päpstlicher condottiere hatte sich auch Guido Rangoni mit seinen Truppen etwa zur gleichen Zeit wie die Imperialen nach Rom begeben, während sein Bruder Ludovico in Modena zurückgeblieben war. Dieser wollte die Stadt vor feindlichen Übergriffen durch die Este schützen42 und einen Aufstand der Bevölkerung verhindern, da es auch in Modena wie in vielen italienischen Städten zu einer schweren Hungersnot gekommen war und die Getreidepreise immer höher stiegen.43 Bereits im März und April 1527 hatte Guido Rangoni daher Federico II. Gonzaga um eine Getreidelieferung ersucht, um sein Haus (caxa) vor der drohenden Hungersnot zu schützen.44 Als die feindlichen Truppen Rom erreichten, befand sich Guido selbst vor den Toren der Stadt. Er rückte jedoch dort nicht ein, da er von dem condottiere Renzo da Ceri eine Depesche erhalten hatte, dass seine Hilfe nicht notwendig sei, sich die Bevölkerung Roms in Sicherheit fühlte und keine weiteren Verteidigungsmaßnahmen ergriffen werden müssten.45 Mittlerweile hatte jedoch Clemens VII. die Unausweichlichkeit der Situation erkannt und war mit seinem Gefolge, in dem sich auch Guidos Bruder
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Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 221. Ebd., 218–220. ASMn, Fondo Gonzaga, b. 1292, c. 236r ; c. 338r, c. 244r. Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 59; Francesco Guicciardini, Storia d’Italia 5, 18 : 8: Arriv, il d medesimo che gli imperiali preseno Roma, il conte Guido co’ cavalli leggieri e ottocento archibusieri al ponte Salara, per entrare in Roma la sera medesima; ma inteso il successo si ritir a Otricoli, dove si congiunse seco il resto della sua gente; perch, non ostante le lettere avute di Roma che disprezzavano il suo soccorso, egli, non volendo disprezzare la fama di essere quello che avesse soccoso Roma, aveva continuato il suo cammino.
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Ercole befand,46 in die Engelsburg geflohen. Während sich das Kirchenoberhaupt mit wenigen Getreuen auf der gut zu verteidigenden Festung verschanzt hielt, gelangten am 6. Mai die ersten plündernden Truppen in das vatikanische Stadtviertel und stürmten die Stadt.47 Die Truppen Guidos, des Herzogs von Urbino und Oberbefehlshabers der Liga, Francesco Maria della Rovere (1490– 1538), Michele Antonio di Saluzzos (1495–1528) und der Franzosen befanden sich jedoch viel zu weit entfernt, um dem Morden und Zerstören Einhalt gebieten zu können.48 Dem Goldschmied Benvenuto Cellini, der den Angriff von der Stadtmauer aus beobachtet hatte, gelang es gerade noch rechtzeitig, in die Engelsburg zu fliehen, bevor die feindlichen Truppen die Mauern gestürmt hatten. Über seine bewegenden Eindrücke berichtete er später ausführlich in den Ricordi: Wir erreichten die Stadtmauer beim Campo Santo, wo wir jenes erstaunliche Heer sahen, das sich bereits mit ganzen Kräften anschickte, in die Stadt einzudringen. An jener Stelle der Mauer, der wir uns genährt hatten, lagen bereits viele erschlagene junge Soldaten unter den Angreifern. Ein erbitterter Kampf tobte, außerdem kam ein so dichter Nebel auf, wie man es sich nicht vorstellen kann. […] Nur unter größten Schwierigkeiten erreichten wir das Portal des Kastells, denn die Signori da Ceri und Orazio Baglioni verwundeten und töteten alle, die sich vom Kampf bei den Mauern abgesetzt hatten. Als wir das Tor erreichten, war ein Teil der Feinde bereits in Rom eingedrungen, wir hatten sie also unmittelbar im Rücken. Weil man im Kastell das Fallgitter des Tores herunterlassen wollte, war dort ein wenig Platz, so dass wir vier gerade noch hineinkommen konnten.49
Die Bevölkerung Roms, die sich nicht wie Cellini in Sicherheit hatte bringen können, war nach dem Eindringen des Feindes den Plünderern schutzlos ausgeliefert. Fast die Hälfte fiel den mordlustigen Soldaten zum Opfer. Häuser und Kirchen wurden geplündert, die päpstlichen Archive weitgehend vernichtet und die kostbaren Kunstschätze gerieten in die Hände der Feinde.50 Isabella d’Este und einige tausend Adelige, die zur Zeit des Sacco im Palazzo Colonna Zuflucht gefunden hatten, blieben jedoch wie durch ein Wunder von den Übergriffen verschont. Umgehend verbreitete sich daher das Gerücht, Isabella habe sich für diese Gunstbezeugung wertvoller Kunstschätze bemächtigt.51 Ludovico Rangoni hielt in Modena einstweilen die Stellung und musste sogar 46 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 220–221; Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 62–63. 47 James Harvey McGregor (Hrsg.), L. Guicciardini, Historia del Sacco di Roma, New York 1993; Andr Chastel, The Sack of Rome, bes. 31ff. 48 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 220; Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 58–60. 49 Jacques Laager (Hrsg.), Benvenuto Cellini, 104–105. 50 Andr Chastel, The Sack of Rome, 91ff. 51 Alessandro Luzio, Isabella d’Este e il Sacco di Roma, Milano 1908, 10, 5–107; 361–425.
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Abb. 13: Der Sacco di Roma (1527) in einer Darstellung des niederländischen Künstlers Marteen van Heemskerck (1498–1574).
ein Landgut aus seinem Besitz verkaufen, um die Soldaten entlohnen und die Stadt auch in den folgenden Wochen vor Angriffen schützen zu können.52 Aus Sicherheitsgründen wurden die Wassergräben gefüllt, die Stadttore geschlossen und die Ein- und Ausgänge durch strenge Lizenzen geregelt.53 Auch nach Venedig gelangten Neuigkeiten über die Ereignisse in Rom, doch der Chronist Marin Sanudo berichtete in den Diarij,54 anfangs habe niemand die Neuigkeiten glauben wollen und es sei schließlich über die Bereitstellung von 100.000 Dukaten für eine militärische Unterstützung beraten worden. Am 7. Juni 1527 kapitulierte Clemens VII. nach mehrwöchiger Belagerung und wurde gezwungen, die Festungen Ostia und Civitavecchia sowie die Städte Parma, Piacenza und auch Modena an die Imperialen abzugeben. Am 6. Dezember verließ er die Engelsburg und zog sich nach Orvieto zurück. Der Sacco di Roma und seine Folgen sollten im kollektiven Gedächtnis der Menschen jedoch unauslöschliche Spuren hinterlassen. Roma non pi Roma schrieb aus dem fernen Modena der Chronist Tomasino de’ Bianchi: Zuerst verwüsteten sie den Palast des Papstes, verbrannten alle Schriftstücke, zerstörten alles, schlachteten Priester und Mönche ab, darunter ziemlich viele Bischöfe […] auf diese Weise lagen in den Häusern, Palazzi, Straßen und Geschäften unzählige Leichen. Man nimmt an, dass es sich um 30.000 Personen handelt.55
Nie hätte man es für möglich gehalten, dass die bedeutendste Stadt der christlichen Welt erobert, bis auf die Grundfesten zerstört und geplündert werden konnte und sich ihr Oberhaupt, erniedrigt und gedemütigt, vor der weltlichen Macht beugen musste. Von Chronisten wurde dieses Ereignis mit der Feder festgehalten und von Poeten empathisch besungen. Pietro Aretino, der ewige Satiriker, verfasste nach dem Fall Roms im fernen Mantua zu Ehren der Spanier 52 53 54 55
Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 226. Ebd., 229–231. Sanudo, I Diarij, 45 : 77–78. Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 237: […] e prima havevano sachegiato el palazo del Papa e brusato tute le scriture e ruinato ogni cosa e amazati preti e frati, vescovi asai […] in modo tale in tute le case, palazi, stale, botege strate e altri lochi erano corpi morti asaisimi deli quali non sa dire el numero, ma dice asaisimi che se po estimare dele persone 30.000.
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und Deutschen dagegen eine humorvolle Canzone auf Rom, den Schwanz der Welt (coda mundi per gratia de li Spagnoli et dei Tedeschi):56 Il d sexto di maggio, ohim l’orrendo Giorno infelice, paventoso e crudo Che fa scrivendo sbigotir gl’inchiostri. In mezzo al fuoco e drento al ferro nudo, In preda al temerario ardir tremendo D’Alemagna e di Spagna, a gli occhi nostri In man di cani e di spietati mostri Del universo la diletta donna Trovasi inerme di consigli e d’armi.
Für die Familie Rangoni, die Signori di Modena, hatte dieses Ereignis weitreichende Konsequenzen: Ludovico Rangoni war im Juni noch immer in Modena und hatte die Sicherheitsmaßnahmen erhöht, da er einen Angriff des Herzogs von Ferrara befürchtete,57 der sich mit seinen Truppen bereits auf dem Weg befand. Um die Plünderung der Stadt zu verhindern, kam es jedoch zu Verhandlungen mit Alfonso d’Este, so dass Modena schließlich zum Einflussgebiet der Imperialen wurde und Renzo di Capri am 25. Oktober die Verwaltung der Stadt übernahm.58 Noch im Juni zog Alfonso d’Este in einem unvergleichlichen Triumphzug in die Stadt ein und nahm kurzfristig Quartier auf dem Landsitz Guido Rangonis, in Spilamberto, das dieser ihm »bereitwillig« mit seinem ganzen Interieur zur Verfügung gestellt hatte.59 Tomaso, der sich möglicherweise in Begleitung Guido Rangonis ebenfalls vor den Toren Roms befunden hatte, reagierte auf die Ereignisse umgehend mit einem astrologischen Prognostikon, von dem jedoch nur die handschriftliche Fassung bekannt ist.60 Darin gestand Tomaso, dass astrologische Prognosen letztendlich doch nicht unfehlbar seien, deutete die unsichere Zukunft Italiens jedoch wieder vor dem Hintergrund der Sternenbilder. Nach einer Beschreibung der Auswirkungen des Sacco61 beschäftigte sich der Gelehrte vor allem mit den Antworten, die er sich von der Astrologie erhoffte: Sind die Bündnisse der neuen Potentaten nun dauerhaft? Besteht zwischen ihnen eine gespielte oder doch eine 56 57 58 59 60
Alessandro Luzio, Pietro Aretino, 64ff.; Andr Chastel, The Sack of Rome, 23–24. Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 259. Ebd., 245. Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 62–62. BCV, Cod. Cic. 2612, Band 2, c. 45–60, op. 9/10: De pace universali, victu, et sanitate ac futuri belli eventu, Thomae Philologi ad comitem Guido Rangonum. Vermutlich handelte es sich um ein Jahresprognostikon für das Jahr 1529, worauf diverse Bezüge auf Sternenkonstellationen zu bestimmten Daten verweisen (ebd., c. 2r : 25. Mai 1529; c. 6r : 21. Juli 1529). 61 Ebd., c. 1r : Et Barbarorum multitudine diversarum quam nationum in Italia adventu maxime adeo ubique contagionis praevaluerunt ut de vita etiam anima in corpore nulla spes existat. Et miseri mortales miserrima morte, ut fame mori, miserime semper timeant.
Das annus horribilis und seine Folgen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
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wirkliche Zuneigung? Denn auch für Tomasos Dienstherren Guido Rangoni war die Lage mittlerweile problematisch geworden. Letzterer hatte sich, möglicherweise wiederum in Begleitung Tomasos, im Juni vorerst mit wenigen Getreuen auf sein Schloss Savignan62 in der Emilia Romagna zurückgezogen, um über die neue Situation zu reflektieren.63 Als erfahrener, mittlerweile 42 Jahre zählender condottiere musste er sich nun noch einmal einer veränderten politischen Lage anpassen und sich einen neuen, mächtigen und einflussreichen Dienstherren suchen, um nicht das Wohl seiner Familie und den Verlust seines ganzen Besitzes sowie seiner Lehen zu riskieren. Nach Modena konnte Guido Rangoni im Augenblick nicht zurückkehren, da sich die Stadt noch immer unter dem Einfluss der Imperialen befand, zudem eine Seuche ausgebrochen war und der augenblickliche Verwalter strenge Verordnungen erlassen hatte.64 Nach der Chronik Giovanni Negris war auch das Wetter von Mai bis August 1527 überdurchschnittlich kalt und regnerisch gewesen, was wieder zu dramatischen Überschwemmungen und Ernteausfällen in ganz Italien geführt hatte.65 In Modena kam es in dieser Zeit zu einer der schwersten Hungersnöte seit langem.66 Auch Ravenna, die Geburtsstadt Tomasos, war von einer Seuche betroffen und aufgrund der grassierenden Hungersnöte stieg der Kornpreis um 600 Prozent.67 Schon einmal hatte sich Guido Rangoni jedoch im Dienst der Serenissima bewährt und begab sich daher bereits im Juli 1527 nach Venedig, um mit dem seit 1523 amtierenden Dogen Andrea Gritti (1455–1538)68 über eine condotta zu verhandeln. Gritti hatte gleich nach seiner Wahl einen Vertrag mit Karl V. geschlossen, dadurch Venedigs Beteiligung an den Italienischen Kriegen beendet und in den folgenden Jahren stets versucht, die Neutralität der Republik gegenüber den rivalisierenden Großmächten zu erhalten. Die politische Situation in Venedig war im Augenblick jedoch angespannt, da die Lagunenstadt ebenfalls von den Auswirkungen des Sacco betroffen und daher vor allem die Gesundheitsbehörde (Magistrato alla sanit) vor neue Herausforderungen gestellt
62 Die Provinz Savignano war ursprünglich venezianisches Einflussgebiet, geriet dann unter die Ägide des Kirchenstaates und gehörte ab 1521 zu Urbino. Es handelt sich wohl um die mittelalterliche Festung Savignano sul Rubicone. 63 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 258; Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 63. 64 Ebd., 258. 65 William Eamon, The Professor of Secrets. Medicine and Alchemy in Renaissance Italy, Washington 2010, 325, Anm. 30. 66 Alfonso Corradi (Hrsg.), Annali, Band 2, 38. 67 Dante Bolognesi, Demografia e popolamento nel territorio ravennate (secoli XV e XVI), in: Ders. (Hrsg.), Ravenna in et veneziana, 139–154, bes. 153–154. 68 Zu Gritti vgl. DBI, s.v.a. Gritti, Andrea; Robert Finlay, La vita politica nella Venezia del Rinascimento, Milano 1982, 52ff.; Manfredo Tafuri, Renovatio urbis. Venezia nell’et di Andrea Gritti (1523–1538), Roma 1984.
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worden war.69 Im Frühjahr war es bereits zu einer schweren Hungersnot gekommen, gefolgt von einem katastrophalen Kälteeinbruch im November. Der venezianische Chronist Marin Sanudo berichtete am 19. Mai 1527, dass die Bevölkerung Venedigs den Dogen Gritti auf dem Weg zur Messe entlang des Kanals begleitet und dabei geschrien habe: Abundantia, Abundantia! Die Preise für Mehl waren mittlerweile unerschwinglich geworden, Fleisch war bereits nicht mehr vorhanden und ein Schiff, das Nachschub an Getreide aus Zypern hätten bringen sollen, möglicherweise untergegangen.70 Als im Dezember 152771 Sterbende sogar im Portikus des Dogenpalastes gefunden worden waren, stellten die Scuole 6.000 Dukaten zur Verfügung, um wenigstens eine Grundversorgung zu gewährleisten.72 Aufgrund der hohen finanziellen Forderungen Guido Rangonis kamen die Parteien nicht überein und der condottiere entschied sich, nachdem das politische Gleichgewicht zwischen Papst, den Franzosen und den Este wiederhergestellt worden war, im Oktober 1527 in französische Dienste zu treten. Es kam schließlich zu Unterredungen mit Alfonso d’Este, der Guido Rangoni im Dezember 1527 seinen vollständigen Besitz und seine Lehen zurückerstattete.73
7.2
Im Dienst Frankreichs
Bereits zu Beginn des folgenden Jahres führte Guido Rangoni diverse militärische Kampagnen gegen die Imperialen in der Emilia Romagna, in Appulien, Kampanien und Latium durch, wobei vermutlich auch Tomaso während dieser kämpferischen Auseinandersetzungen wieder stets an der Seite seines Dienstherren war. Die Voraussetzungen für kriegerische Unternehmungen und Kampfhandlungen hätten zu dieser Zeit jedoch ungünstiger nicht sein können, denn in ganz Italien war es zwischen 1527 und 1528 durch die massiven Bevölkerungsbewegungen nach dem Sacco nicht nur zu Hungersnöten, sondern auch zu einer verheerenden Epidemie gekommen, die tausende von Menschen das Leben kostete.74 Zahlreiche Chronisten, darunter auch der Bologneser Arzt Nicol Fioravanti sowie die venezianischen Ärzte Girolamo Fracastoro (1476/ 78–1553) und Niccol Mass (1485–1569), berichteten über die rätselhafte Seuche, die sich langsam von Süden nach Norden ausbreiten sollte.75 Sie war 69 70 71 72 73 74 75
Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi della Serenissima, Vicenza 1995, 27ff. Sanudo, I Diarij, 45 : 141. Ebd., 46 : 380. Ebd., 46 : 413: et vien trov la matina morti alcuni soto i portegi del palazo. Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 75ff. Alfonso Corradi (Hrsg.), Annali, Band 2, 33ff. Girolamo Fracastoro stellte 1546 in De contagione e contagiosis morbis als einer der ersten
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durch einen linsenförmigen Ausschlag gekennzeichnet, wie er für Typhus oder Fleckfieber charakteristisch ist.76 Die Epidemie wütete in einem Maße, dass in Florenz sogar das Decamerone in einer neuen, edlen Ausgabe wiederaufgelegt wurde.77 Ende April 1528 verstarb Guido Rangonis Bruder Francesco, er selbst überlebte die Infektion nur knapp. Man sagt, der Conte Guido sei krank in Capua, berichtete auch der modensische Chronist Tomasino de’ Bianchi,78 wobei er am 31. Mai 1528 hinzufügte, viele Soldaten unter dem Kommando Guidos seien entweder am mal mazuche verstorben oder sogar vergiftet worden.79 Noch in seiner diätetischen Schrift De vita hominis ultra 120 annos protrahenda, die fast zwanzig Jahre nach diesem Ereignis verfassten werden sollte, erinnerte sich Tomaso Rangone an die Epidemie von 1527, noch immer im Ungewissen, um welche Krankheit es sich dabei gehandelt habe: Wer von den alten oder neueren Griechen, Arabern oder Römern hat denn die Seuche, die 1527 aufgetreten ist, […] beschrieben, da auch ihr Name bisher unbekannt ist und von manchen »Exanthemata«, »Impetigines« von den einen, von manchen auch »Pulicares«, oder »Macule« und wie auch immer genannt wird?80
1529 publizierte Tomaso ein weiteres Prognostikon in volgare,81 von dem bisher nur die lateinische handschriftliche Fassung von 1528 mit dem Titel De victu, et hominum salute bekannt ist.82 In diesem Prognostikon, das dem französischen Adeligen FranÅois de Bourbon (1491–1545), dem späteren Herzog von Estoue-
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fest, dass diese Epidemie nicht so letal war wie die Pest (c. 101–103). Er beschrieb auch das charakteristische Exanthem sowie die Abhängigkeit der Krankheit von Armut und Krieg. Niccol Mass bezog sich 1540 im Liber de febre pestilentiali, ac de petechijs, varolibus et apostematibus pestilentialis ebenfalls auf diese Epidemie, vgl. Richard Palmer, Nicol Mass, His Family and His Fortune, Medical History 25, 1981, 385–410, bes. 396. Zu Fioravanti vgl. William Eamon, The Professor of Secrets, 29. Ebd., 29–30. Bereits 1505 kam es in Bologna zu einer Seuche, die vom Volk als mal mazuche bezeichnet wurde, vgl. Alfonso Corradi (Hrsg.), Annali, Band 2, 9. Il Decameron di Messer Boccaccio. Del 1527. Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 359–360, bzw. 363: El se dice che el Conte Guido Rangon sta male in Capua. Ebd., 371; Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 78. Interessanterweise bezeichnete auch Francesco Campi in seinem 1586 erschienenen Traktat De morbo arietis libellus eine 1580 grassierende Epidemie als Mazuccum (ebd., c. 14r), vgl. Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 10, 212. De vita hominis (1550), c. 17r : Quis n(e) antiquorum, seu recentiorum graecorum, arabum, vel romanorum pesticulas nostro hoc praesenti tempore anno 1527 […] conscripsit, cum et illarum nomen adhuc ignotum sit, a quibusdam exanthemata, impetigines ab aliis, et pulicaris ab aliquibus, vel macule, et ut libet appellentur morbus? Del vivere e de la sanit de gli huomini contra la opinione de tutti gli astrologi a consolatione di ciascuno. Der Hinweis auf den Titel befindet sich im Prognostikon für das Jahr 1531 (BCS 12–1–15 [62]). BCV, Cod. Cic. 2612, Band 2, c. 45–60, op. 9/10. Am Ende des Manuskripts befindet sich ein Eintrag vom 8. August 1863 mit dem Hinweis auf die hygienische Schrift Tomaso Rangones, De repentinis mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis temporis aegritudinibus.
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ville in der Haute-Normandie, gewidmeten ist, beschäftigte sich Tomaso mit den astrologischen Einflüssen auf die Kriegs-, Hunger- und Seuchenjahre (De recolectu et victus abundanter, De pestilentia, et mortalium salute) und machte Vorhersagen zur Verbreitung von Seuchen (Epidemia, endemia et pestilentia). Auch in Venedig verschärfte sich die Situation zunehmend, als hungernde Menschen aus dem Umland in die Stadt flüchteten und die Zahl der Bettler stetig zunahm.83 Nicht ohne Bitternis berichtete Sanudo von dem prunkvollen Bankett, das der Prokurator und spätere Kardinal Marco Grimani (1494–1544) am 20. Februar 1528 für wichtige geistige Würdenträger gegeben hatte: Noch an diesem Abend gab der Prokurator Grimani in den Prokuratien ein festliches Bankett. Anwesend waren: der Kardinal di Trani, der Kardinal Grimani, der englische Botschafter, der Botschafter von Mailand, der Erzbischof von Split, Corner, der Erzbischof von Nicosia, Podacataro, der Erzbischof von Basso, Pesaro, der Erzbischof von Cenada, Grimani, der »primocierio« und einige andere … die alle feierlich speisten. Schließlich wunderschöne Frauen … verheiratete und unverheiratete junge Leute, etwa achtzig an der Zahl. […] und man tanzte bis um 11 Uhr (m.V.). Man bedenke, dass man jeden Abend in den Prokuratien tanzt, seit er zum Kardinal gewählt wurde! Wer möchte, geht dorthin. Besser wäre es gewesen, Almosen zu spenden.84
Erst am 13. März 1528 sollte der Senat schließlich entscheiden, Notunterkünfte für die Armen und Bedürftigen zu errichten,85 wohingegen Bettler und Wohnsitzlose in den örtlichen Gefängnissen untergebracht wurden. Diese provisorisch eingerichteten Unterkünfte in SS. Giovanni e Paolo, S. Giovanni in Bragora, S. Antonio oder S. Don auf der Giudecca waren jedoch bald mit über tausend Menschen überfüllt.86 Die mangelhaften hygienischen Voraussetzungen begünstigten nicht nur die Verbreitung von Typhus, sondern auch einer anderen, bei weitem gefährlicheren Infektionskrankheit: der Pest. Der Schwarze Tod löste Ende 1528 und 1529 die grassierenden Infektionskrankheiten fast vollständig ab und forderte zahlreiche Todesopfer :87 Allein in Venedig starben 1528 fast 2.500 Menschen an der Pest, im folgenden Jahr etwa 900. 83 Sanudo, I Diarij, 46 : 612; Bronislaw Geremek, La piet e la forca. Storia della miseria e della carit in Europa, Bari 1986, 99; Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 27–35. 84 Sanudo, I Diarij, 46 : 612: Ancora in questa sera in la Procuratia el procurator Grimani fu fatto un bel banchetto; et vi fu il cardinal di Trani, il cardinal Grimani, l’orator di Anglia, l’orator di Milan, l’arziepiscopo di Spalato Corner, l’arziepiscopo di Nicosia Podacataro, lo episcopo di Basso Pexaro, lo episcopo di Ceneda Grimani, il primocierio et alcuni altri, i quali manzono in camera uno solenne pasto. Poi donne numero … bellissime, et altri zoveni et mariti zerca 80. […] et si ball, n altro si fece fin hore 11. Et nota. Ogni sera in ditta Procuratia, poi st fatto cardinal, si balla; chi vol andar va; tamen meglio era a far elemosine. 85 ASV, Senato, terra, reg. 25, c. 8. Vgl. hierzu Difesa della sanit a Venezia secoli XIII–XIX. Mostra documentaria 23. Giugno-30 settembre 1979, 69, Nr. 18 und Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 31. 86 Ebd., 33. 87 Ebd., 33.
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Zwar kam es auch 1529 noch zu Hungersnöten und Seuchen und 1530 in Rom zu einer Überschwemmung, doch schien sich die Lage allmählich etwas zu beruhigen.88 1531 verfasste Tomaso ein weiteres Prognostikon mit dem vielsagenden Titel Del vivere, del racolto e de la abondantia, das er erneut Guido Rangoni widmete89 und in dem er vielversprechende Vorhersagen für reiche Ernteerträge machte, etwa von Getreide, Bohnen, Öl, Reis, Melonen, Eiern und Honig. Guido Rangoni war im September 1528 in der Gegend von Neapel in die Gefangenschaft der Imperialen geraten, hielt sich aber bereits im November und Dezember 1528 zusammen mit seiner Frau Argentina in Venedig in seinem Palazzo bei San Stae auf.90 Er befand sich nun wieder in einer fast ausweglosen Lage: Obwohl er seine Lehen zurückerhalten hatte, konnte er nach Modena im Augenblick noch nicht zurückkehren, gehörte die Stadt doch noch immer zum Einflussgebiet Karls V. und wurde augenblicklich von dem Spanier Pedro Zapata de Cardenas verwaltet, dem 1531 nach der Eroberung von Florenz Enea Pia nachfolgte. Vielleicht erhoffte sich Guido Rangoni daher Unterstützung von Seiten Pietro Aretinos, der dort gesellschaftlich mittlerweile Fuß gefasst hatte und über einflussreiche Kontakte verfügte.91 Dieser bedankte sich nämlich am 12. September 1529 bei dem condottiere für diverse Geschenke.92 Pietro Aretino hatte in der Tat nicht das Schicksal vieler Intellektueller geteilt, die durch den Sacco völlig ihrer Existenzgrundlage beraubt worden waren, und oft nur im Suizid die einzige Lösung sahen, wie es 1529 der Humanist Pierio Valeriano Bolzani (1477–1558) in den De litteratorum infelicitate libri duo ausführlich beschreibt.93 Pietro Aretino hatte zeitweise im Palast der mächtigen Familie Cornaro Zuflucht gefunden, bevor er zu der Familie Bollani am Canale Grande mit Blick auf den belebten Rialtomarkt gezogen war. Von dort aus schuf er sich in den folgenden Jahren ein einflussreiches Netzwerk, zu dem mächtige Vertreter der Kirche, Adelige, Gelehrte und Künstler gehörten. Nach reiflicher Überlegung entschied sich Guido, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich auf die Seite des Siegers zu stellen. Kaiser Karl V. hatte am 29. Juni 1529 mit Clemens VII. den Frieden von Barcelona geschlossen und der Papst hatte Provinzen für den Kirchenstaat erhalten. Am 5. August 1529 war schließlich ein Friede ausgehandelt worden, der den Kampf zwischen Karl V. und dem französischen König FranÅois I. endgültig beenden sollte. Karl V. wurde von Clemens VII. am 24. Februar 1530
88 Alfonso Corradi (Hrsg.), Annali, Band 2, 93ff. 89 BCS 12–1–15 (62). In diesem Prognostikon bezeichnete sich Tomaso als Clarissimo Dottor Physico Thomaso Philologo da Ravenna. 90 Carlo Borghi/Luigi Lodi (Hrsg.), Cronaca modenese, Band 3, 406. 91 Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice, passim. 92 Francesco Flora (Hrsg.), Pietro Aretino, Lettere, Band 1, 24. 93 Andr Chastel, The Sack of Rome, 123, Anm. 34; 123–128.
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in Bologna zum Kaiser gekrönt und bereits im Oktober 1530 verließ Guido Rangoni die französischen Dienste. Am 28. Mai 1532 berichtete der modensische Chronist de’ Bianchi, Guido befinde sich im Auftrag der Imperialen in Parma.94 Kurz darauf kämpfte er für die Kaiserlichen in Ungarn gegen die Türken und noch einmal sollte ihm ein vergleichbarer, wenn auch nur kurzer Aufstieg als erfolgreicher Feldherr gelingen. 1531 widmete ihm Agostino Nifo sein divinatorisches Werk De augurijs, in dem er sich mit der Unzulässigkeit des Glaubens an Omen und der Zuverlässigkeit der Traumdeutung beschäftigte.95 Jedoch sollte es ihm versagt bleiben, langfristig an vergangene militärische Erfolge anzuknüpfen. Guido Rangoni verließ nämlich bereits wenige Jahre später auch den Dienst der Imperialen und kehrte im Januar 1536 noch einmal für ein Jahr an die Seite der Franzosen zurück, da sich die politische Lage nun wieder zugunsten des Papstes verändert hatte. Er wurde zum Capitano Generale Italiens ernannt, wozu ihn auch Pietro Aretino in einem kurzen Brief vom 20. November 1536 beglückwünschte.96 Damit zog sich der condottiere jedoch den Zorn des Kaisers auf sich, quittierte erneut den Dienst und kehrte nun endgültig nach Venedig zurück. 1538 wurde er zwar noch einmal zum Capitano delle armi Venete ernannt, sollte aber nur ein Jahr später, am 9. Januar 1539, in der Lagunenstadt versterben, nicht ohne dass sich der Verdacht auf Gift erhob.97 Der reich geschmückte Leichnam wurde nach der Aufbahrung im Familienpalast bei San Stae in der Kirche von SS. Giovanni e Paolo beigesetzt, jenem Gotteshaus neben der Scuola grande di San Marco, in der die meisten condottieri, die im Dienst der Serenissima gestanden hatten, begraben wurden. Heute sind keine Spuren des Grabes mehr zu erkennen, das sich wohl unter einer der Bodenplatten befand. Die eindrucksvollen Begräbnisfeierlichkeiten am 10. Januar 153998 würdigten noch einmal die ruhmreichen Taten Guido Rangonis: Voran gingen 500 venezianische Kleriker und 400 Mitglieder der Scuole, jeder mit einer brennenden Fackel in der Hand. Vier Standarten kündigten von Guido Rangonis Verdiensten: eine für die Kirche, eine andere für den Kaiser, eine weitere für den französischen König und eine für die Republik Venedig. Flankiert wurden diese Standarten von vier schwarz verhüllten Pferden und vier schwarz gewandeten Knaben. Es folgten 50 Soldaten, begleitet von 50 Jesuiten, von denen jeder wieder 94 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 88–102: (Guido) piccolo s’ assoldato con la M.t del Imperatore con bona provixione e soldo per 100 homini d’arme et 300 cavalli lezeri et 4000 lanze e che el se parte da Venezia e vene a stare a Parma fra pochi d. 95 Claire Gantet, Der Traum in der Frühen Neuzeit. Ansätze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2010, 133. 96 Francesco Flora (Hrsg.), Pietro Aretino, Lettere, Band 1, 99. 97 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 107–109. 98 Ebd., 107–108.
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eine brennende Fackel in der Hand hielt. Der Leichnam selbst war mit prunkvollen Waffen und Goldbrokat geschmückt, ein Kreuz auf der Brust und einen Generalsstab in der Hand. Begleitet wurde der tote Kriegsherr von 300 Höflingen, Botschaftern und Würdenträgern, alle in Kapuzen als Zeichen der Trauer gehüllt. Unter dem Licht von 1.400 Fackeln wurde der Leichnam unter einem Baldachin in der Kirche von SS. Giovanni e Paolo sechs Meter hoch aufgebahrt, die Messe gelesen und der in kostbaren karmesinfarbenen Samt gehüllte Körper um drei Uhr nachts (m.V.) in ein tiefes Loch herabgelassen, wo er seine letzte Ruhe finden sollte. Gewiss hatte sich auch Tomaso der Prozession und den Begräbnisfeierlichkeiten seines langjährigen Mäzens angeschlossen, ging mit dem Tod Guidos doch auch für den mittlerweile 45 Jahre alten Tomaso eine wichtige Ära seines Lebens zu Ende. Zwar hatte er sich bereits in Venedig fest als Arzt etabliert und schon mehrere medizinische Schriften verfasst, doch hatte er Guido Rangoni, an dessen Seite er fast zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, Wesentliches zu verdanken. Seines langjährigen Freundes und Gönners gedachte Tomaso daher noch in den folgenden Jahren und widmete diesem alle vier Auflagen seiner Syphilisschrift, von denen die letzte erst 1575, also nahezu 37 Jahre nach dem Tod des condottiere, erscheinen sollte.
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VIII. Venedig: auf dem Gipfel des Ruhms
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Ein repräsentativer Wohnsitz
Am 27. Mai 1532, kurz nachdem Guido Rangoni in kaiserliche Dienste getreten war und Venedig verlassen hatte, bezog Tomaso eine Wohnung in den von Jacopo Sansovino neu errichteten eleganten Häusern am Markusplatz.1 Das komfortable Wohnhaus lag fast gegenüber der Basilika in unmittelbarer Nähe zu der kleinen Pfarrkirche San Geminiano, die ebenso wie die anderen zwischen 1532 und 1538 fertiggestellten Häuser der napoleonischen Neugestaltung zum Opfer fallen sollten.2 1532 musste Tomaso als jährlichen Mietpreis noch die Summe von 25 Dukaten und 12 Lire entrichten,3 während 1566 die Miete auf mittlerweile 31 Dukaten angestiegen war,4 eine in Anbetracht der Lage noch immer moderate Summe im Verhältnis zum Mietpreis, den Vettor Garbignan, der Guardian der Scuola grande di San Marco, entrichten musste.5 1 ASV, Procuratori di Supra, Atti amministrativi, b. 173, c. 108: affitanza di una delle case nuove sopra la piazza a Tommaso filologo da Ravenna medico fisico; ASV, Procuratori di Supra, reg. 124, c. 145r (6. September 1532). In seiner Steuererklärung von 1566 vermerkte Tomaso, ab 1546 Steuern bezahlt zu haben, was ebenfalls für einen dauerhaften Aufenthalt ab 1531/ 1532 spricht. Die Literatur zur architektonischen Gestaltung der Piazza San Marco ist zahlreich. Einen Überblick bietet etwa Manuela Morresi, Piazza San Marco. Istituzioni, poteri e architettura a Venezia nel primo Cinquecento, Mochigan 1999 sowie Iain Fenlon, Piazza San Marco, London 2009; ferner Alban Janson/Thorsten Bürklin, Auftritte/Scenes: Interaction with Architectural Space: the Campi of Venice, Basel 2002. 2 Der Prior wohnte ebenfalls neben der Kirche, vgl. Jürgen Schulz, La piazza medievale di San Marco, Annali di Architettura 4, 1992/1993, 134–156, bes. 140 und Anm. 53. Zu den neuen, von Sansovino erbauten Häusern vgl. Manuela Morresi, Piazza San Marco, 67ff. 3 ASV, Procuratori di supra, Cassier chiesa, reg. 2 (microfilm, bobina 79). 4 ASV, Dieci savi sopra le Decime in Rialto, Condizione di Decima, 1566, San Marco, b. 336, c. 241: una casa tien D. thomaso philologo medico […] ducati trentuno. – Duc. 31. Zu den affitanze vgl. auch Manuela Morresi, Piazza San Marco, 53–54; 17 (Aufstellung der Kosten für die sieben Häusern der Prokuratoren nahe der Kirche San Geminiano). 5 Vettor Garbignan wohnte im nahegelegenen Haus Nr. 1060 und bezahlte fünfzig Dukaten Miete. Auch Baldassare Fiume, der spätere Notar Tomaso Rangones, entrichtete bereits für eine bottega sotto il campanil 38 Dukaten und der Notar Vettor Maffei für eine bottega sotto la
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Am 6. September 1532 erwarb Tomaso Rangone eine private Brunnenlizenz,6 ein besonderes Privileg, da der Brunnenbau und dessen Finanzierung von den Behörden streng überwacht wurden. Viele dieser oft kunstvoll gestalteten Brunnen (pozzi), die bis ins 19. Jahrhundert genutzt wurden, prägen daher noch heute das Stadtbild Venedigs und sind auf den öffentlichen Plätzen, wenn auch aus Sicherheitsgründen nun mit einem Bronzedeckel versehen, nicht zu übersehen. Erst in den 1320er Jahren war der Bau von solchen Brunnen staatlich gefördert worden: Der Große Rat ordnete 1322 wegen der zunehmenden Knappheit von Trinkwasser, das ansonsten vom Festland in einem aufwendigen Verfahren von Wasserträgern (acquaroli) transportiert werden musste, den Bau von 50 Zisternen an, deren Aufsicht der Verwaltungsbehörde der Avogadori del comun oblag. Im 18. Jahrhundert gab es schließlich 157 öffentliche und hunderte private Brunnen. Da man in der Lagune nicht auf süßes Grundwasser zurückgreifen konnte, verfügte ein pozzo über ein ausgeklügeltes Filtersystem für Regenwasser, das sich den tonhaltigen und damit undurchlässigen Untergrund zunutze machte. Die Konstruktion war jedoch sehr aufwendig und dadurch entsprechend teuer. Zu diesem Zweck musste die Fläche um einen pozzo weitläufig sein, um möglichst viel Regenwasser aufzunehmen, weshalb die meisten Brunnen auch in Höfen (cortili) oder auf Plätzen (campi) gebaut wurden. Nachdem der Boden in einer Tiefe von fünf bis sechs Metern mit wasserundurchlässigem Ton abgedichtet und mit Flussand unterschiedlicher Konsistenz als Filter aufgefüllt worden war, konnte das Regenwasser durch zwei bis vier Löcher (pilelle) aus istrischem Stein aufgenommen werden, welche das Wasser direkt in den filternden Sand leiteten. Der Brunnen selbst befand sich dadurch genau in der Mitte des Wasserreservoirs und bestand innen aus speziellen durchlässigen Ziegelsteinen, welche das Wasser in den Brunnenschacht fließen ließen. An der Außenseite war der Brunnen oft aus dekoriertem istrischem Stein fabrica nova 35 Dukaten, vgl. ASV, Dieci savi sopra le Decime in Rialto, Condizione di Decima, reg. 367 (1566); Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 67. 6 ASV, Procuratori di Supra, reg. 124, c. 145r (6. September 1532): Licentiam aptandi putheum in domo habitationis Domini Thomae philologi medici. Zu den pozzi vgl. ausführlich Comune di Venezia (Hrsg.), I pozzi di Venezia, 1015–1906, Venezia 1910; Maria Bugno Renier, I pozzi veneziani, Venezia 1981; Nelli-Elena Vanzan Marchini, Venezia. La salute e la fede, Vittorio Veneto 2011, 18–29; Massimo Constantini, L’acqua di Venezia. L’approvvigionamento idrico della Serenissima, Venezia 1984. Zur Trinkwasserversorgung vgl. Christian Mathieu, Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2007, 82; Albrecht Hoffmann (Hrsg.), Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit, Mainz 2000, bes. 20; Donatella Calabi/Ludovica Galeazzo (Hrsg.), Acqua e cibo a Venezia. Storie della Laguna e della Citt, Milano 2015. Zu Brunnen außerhalb Venedigs im Stadtbild der Frühen Neuzeit siehe Katharina Simon-Muscheid, Städtische Zierde – gemeiner Nutzen – Ort der Begegnung. Öffentliche Brunnen in mittelalterlichen Städten, in: Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich (Hrsg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag Leipzig 2001, 699–720.
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gehauen, der manchmal das Wappen der Spender trug, welche die Herstellungskosten übernommen hatten. Die gesundheitlichen Vor- und Nachteile des Regenwassers wurden jedoch auch von vielen Zeitgenossen diskutiert: Einige, wie etwa der Arzt Andrea Marini (1523–1570), sprachen sich ausdrücklich für die gesundheitsfördernden Eigenschaften des Regenwassers aus (dolcissima e leggerissima), wohingegen andere, wie etwa der Botanist Pietro Andrea Mattioli (1500–1577), Regenwasser für überaus schädlich hielten, da es aus einer Mischung von verschiedenen Wassersorten bestand (vischiosa per essere una mescolanza di diverse acque piovute in diversi tempi dell’anno).7 Tomaso selbst riet in seiner diätetischen Schrift De vita hominis ultra 120 annos protrahenda, stehendes Wasser nach Möglichkeit zu meiden, da fließendes der Gesundheit zuträglicher sei.8 Im 16. Jahrhundert galt es vor allem, Venedig vor der zunehmenden Versandung und dem Eintritt von Salzwasser in die Lagune zu schützen, was auch die Wasserversorgung in der Lagunenstadt vor neue Aufgaben stellen sollte.9 Hydrologische Experten aus dem In- und Ausland sowie interessierte Privatiers wie Alvise Cornaro (1464–1566), Daniele Barbaro (1514–1570), Girolamo Fracastoro (1476/78–1553), Andrea Marini (1523–1570) oder Benedetto Castelli (1577/78–1643) beschäftigten sich daher intensiv mit hydrologischen Fragen und entwarfen Lösungsansätze, die die Wasserversorgung verbessern sollten. Ab 1565 sollte sogar eine fünfprozentige Steuer auf Erbschaften für den Gewässerschutz erhoben werden.10 Tomaso hatte seinen Wohnsitz mit Bedacht gewählt. In der 1535 erschienenen medizinischen Schrift De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus, in der sich der Gelehrte mit den Ursachen einer Epidemie beschäftigte, nannte er dafür vorwiegend gesundheitliche Gründe, da er stets offene Plätze wegen der besseren Luft bevorzuge.11 Zudem gab es auch 7 Nelli-Elena Vanzan Marchini, Venezia. Luoghi di paure e volutt, Mariano 2005, 35–37; Christian Mathieu, Inselstadt Venedig, 134ff. 8 De vita hominis (1550), c. 57r. 9 Giuseppe Fiocco, Alvise Cornaro: il suo tempo e le sue opere, Vicenza 1965, 101, 145ff.; Sergio Escobar, Il controllo delle acque. Problemi tecnici e interessi economici, in: Giuseppe Micheli (Hrsg.), Storia d’Italia. Scienza e tecnica nella cultura e nella societ dal Rinascimento a oggi, Torino 1980, 104–153, bes. 117–118; Paolo Selmi, Politica lagunare della veneta repubblica dal secolo XIVal secolo XVIII, in: Franco Mario Colasanti (Hrsg.), Mostra storica della laguna veneta, Venezia 1970, 105–115; Christian Mathieu, Inselstadt Venedig, 59ff.; 115ff. 10 Zum Gesetz von 1565 vgl. Paolo Selmi, Politica lagunare, 105; Christian Mathieu, Inselstadt Venedig, 52–54. Zu ausländischen Experten siehe Roberto Berveglieri, Le vie di Venezia: Canali lagunari e rii a Venezia. Inventori, brevetti, tecnologia, e legislazione nei secoli XIII– XVIII, Sommacampagna 1999. 11 De repentinis, mortiferis (1535), c. 4r : libentius foribus publicis semper habitaverim. Zitiert wird im Folgenden aus einem Exemplar der Countway Library der Medical School in Harvard (CML, Rare books fAY81.A8R16).
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keinen vielversprechenderen Ort für den Beginn einer aussichtsreichen Karriere als im Herzen der Serenissima. An keinem anderen Ort hätte der junge Gelehrte so schnell die Aufmerksamkeit einflussreicher Persönlichkeiten auf sich lenken, nirgendwo bereits beim täglichen Flanieren mit zukünftigen Kunden in Kontakt kommen können. Die Piazza war nicht nur ein belebter Ort, an dem Händler, Barbiere und Quacksalber ihre Fertigkeiten anboten, sondern auch das politische Herz der Stadt, von dem aus sich Neuigkeiten in die anderen Stadtteile verbreiteten. Seit dem 15. Jahrhundert zog Venedig Schaulustige an,12 die ausführlich über das gesellschaftliche Leben am Markusplatz berichteten, welches noch im 18. Jahrhundert gleichsam einem Theaterstück genauso eingespielt war wie vierhundert Jahre zuvor: Morgens gehörte die Piazza vor allem den Geschäftsleuten oder den Advokaten, die sich eifrig ihren täglichen Aufgaben im Dogenpalast widmeten. Nachmittags flanierten Neugierige und Fremde aus allen Ländern der Erde über die Piazza, erfreuten sich an Schaustellern, Akrobaten oder Künstlern, erwarben bei Horoskopstellern für fünf Soldi Horoskope oder ein zweifelhaftes Wundermittel am Verkaufsstand eines Scharlatans. An Fest- und Feiertagen sammelten sich die Schaulustigen, um feierlichen Prozessionen beizuwohnen oder bei Wettkämpfen die Teilnehmer anzufeuern. Der französische Diplomat und Alchimist Alexandre Toussaint Limojon de SaintDidier (1630–1689) beschrieb 1680 in seiner in Paris erschienenen kurzweiligen Reisebeschreibung La ville et la Rpublique de Vnise vor allem ein Ereignis besonders eingehend: den täglichen broglio am Fuß des zwischen 1537 und 1540 errichteten Campanile.13 Während auf den verbleibenden zwei Dritteln der Piazza das tägliche Leben ungehindert seinen Lauf nahm, regelten die Patrizier dort ab dem frühen Morgen ihre öffentlichen und privaten Aufgaben und pflegten ihre persönlichen, oft auch geheimen Interessen. Man kann sagen, dass der Broglio ein regelrechter Markt ist, auf dem man öffentlich mit Stimmen handelt, bemerkte Toussaint daher in seiner Reisebeschreibung.14 Die Piazza war zudem Zentrum fast aller wichtigen Staatshandlungen: Gesetze und Verordnungen wurden vor der Basilika von einer Säule aus verlesen, und auf der von 12 Eine Übersicht über Reiseberichte der Frühen Neuzeit bieten Alberto Tenenti, Venezia e il Veneto nelle pagine dei viaggatori stranieri (1650–1790), in: Ders. (Hrsg.), Venezia e il senso del mare: Storia di un prisma culturale dal XIII al XVIII secolo, Milano 1999, 599–634; Klaus Bergdolt, Deutsche in Venedig. Von den Kaisern des Mittelalters bis zu Thomas Mann, Darmstadt 2011; Brigitta Cladders, Französische Venedig-Reisen im 16. und 17. Jahrhundert. Wandlungen des Venedig-Bildes und der Reisebeschreibung, Genf 2002; John Eglin, Venice Transfigured: The Myth of Venice in British Culture, 1660–1797, New York 2001; Christian Mathieu, Inselstadt Venedig, 202–212. 13 Alexandre Toussaint Limojon de Saint-Didier, La ville et la Rpublique de Vnise, Paris 1680, 37ff. 14 Ebd., 38: On peut dire, que le Broglio est un veritable march, o il se fait un traffic public des suffrages.
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den beiden Säulen dominierten Piazzetta, dem Teil zwischen dem Dogenpalast, der ab 1537 von Jacopo Sansovino errichteten Biblioteca Marciana und der Lagune, wurden Staatsgäste empfangen und Hinrichtungen durchgeführt. Links davon lag das heute nicht mehr erhaltene Gebäude der Gesundheitsbehörde, die streng die Ein- und Ausfuhr von Waren kontrollierte. An der Nord-, West- und Südseite befanden sich die Prokuratien, die Verwaltungsgebäude der Stadt. Der zwischen 1496 und 1499 von Mauro Codussi (1440–1504) errichtete, gegenüber der Piazzetta liegende Uhrenturm (Torre dell’Orologio), öffnete schließlich den Blick in die Merceria, das belebte Geschäftsviertel der Stadt und Zentrum der Buchdrucker, das die Piazza mit dem Rialto verband.
Abb 14: Blick auf die Piazza San Marco und die Kirche San Geminiano nach Antonio Visentini (1688–1782). In der Lücke zwischen der Kirche und den alten Prokuratien wurden von Jacopo Sansovino zwischen 1532 und 1538 neue Häuser errichtet, in denen sich auch die Wohnung Tomaso Rangones befand.
Tomaso sollte bis zu seinem Tod in diesem Haus am Markusplatz wohnen, das sich auch in unmittelbarer Nähe zur Wohnung des befreundeten Baumeisters Sansovino befand.15 Über die sorgfältig ausgewählte Einrichtung von Tomasos Haus, die nicht zuletzt den anspruchsvollen Geschmack ihres Bewohners reflektiert, erfahren wir aus einer umfangreichen Liste in seinem Testament. Diese nennt nicht nur die inventarisierten Gegenstände, sondern teilweise auch deren 15 Pietro Aretino rühmte die Wohnung in einem Brief vom 20. November 1537 wegen ihrer erlesenen Kunstschätze: Guardi la casa che abitate come degna prigione de l’arte […]. Vgl. hierzu Francesco Flora (Hrsg.), Pietro Aretino, Lettere, Band 1, 298.
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Verkaufswert:16 Demnach besaß Tomaso wertvolle Teppiche, kostbare Stoffe als Wandschmuck, Kunstgegenstände, geschnitzte Möbel, Kristallspiegel in Ebenholzrahmen, vergoldete Kandelaber und wertvolles silbernes Tafelgeschirr.17 Es ist jedoch anzunehmen, dass diese Liste nicht vollständig war,18 sondern lediglich den Hausrat umfasste, der verkauft werden und dessen Erlös den Stiftungen Tomaso Rangones und der Einrichtung einer geplanten öffentlichen Bibliothek zukommen sollte. Im Haus befand sich auch ein Studiolo, in das sich der Hausherr zu Studienzwecken zurückziehen konnte. Seit dem 15. Jahrhundert diente solch ein Raum der Organisation der eigenen Interessen gemäß eines von Petrarca kodifizierten Ideals, in dem sich neben einer Privatbibliothek auch Objekte befanden, die das persönliche Interesse des Besitzers unterstrichen.19 Mit dem aufstrebenden Sammlungswesen des 16. Jahrhunderts hatte das Studiolo gerade in Venedig wieder eine besondere Bedeutung gewonnen,20 weshalb Tomaso als Portallünette der Fassade von San Giuliano auch die Darstellung eines Studiolos gewählt hatte, die an das Dante-Relief Pietro Lombardos in Ravenna erinnert. Eine treffende Beschreibung dieses Studier- und Arbeitszimmers haben wir dem italienischen Gelehrten und Ökonomen Benedetto Cotrugli (1416–1469) zu verdanken, der in seinem vierbändigen Werk Della Mercatura et del Mercante perfetto, einem Vorläufer der allgemeinen Handelslehre, diesen Raumtypus ausführlich beschreibt: Und wer sich an den Wissenschaften erfreut, sollte die Bücher nicht im gemeinsamen Skriptorium aufbewahren, sondern ein getrenntes Studiolo besitzen, an einem entfernten Ort im Haus, am besten in der Nähe des Schlafzimmers gelegen, was auch gesund ist, um bequemer studieren zu können, wenn die Zeit fortschreitet. Dies ist eine ruhmreiche und lobenswerte Beschäftigung.21
16 ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 9r–10r ; c. 18rff. 17 Vgl. zu einer Übersicht solcher Gegenstände in Inventaren der Zeit Isabella Palumbo Fossati Casa, Dentro le case. Abitare a Venezia nel Cinquecento, Venezia 2013, 49ff. (Küchengeräte), 52ff. (Bilder, religiöse Gegenstände), 57ff. (Portraits), 61ff., 110–113 (Waffen und Bücher), 160 (Spiegel); zu Ärztehaushalten vgl. ebd., 101ff. 18 In dieser Liste fehlen etwa die in vergleichbaren Arztinventaren genannten Betten, Schränke oder Wäschestücke. 19 Wolfgang Liebenwein, Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600, Berlin 1977; Klaus Minges, Das Sammlungswesen der Frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung, Münster 1998. 20 Carla Ferrari, Per la storia del collezionismo a Venezia. Nuove figure dei cultori dell’antico tra XVI e XVII secolo, Ateneo Veneto 37, 1999, 65–112, bes. 72. 21 Ugo Tucci (Hrsg.), Benedetto Cotrugli, Il libro dell’arte di mercatura, Venezia 1990, 86: E chi si diletta di lettere non dee tener i libri nello scrittoio comune, dee havere uno studiolo a parte, in pi remoto loco della casa, il quale potendo essere vicino alla camera dove dorme cosa ottima, e salubre, per poter pi comodamente studiare quando tempo gl’avanza, e questo glorioso e laudabile esercizio.
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Im Studiolo Tomasos befand sich auch eine umfangreiche, mehr als 900 Bände umfassende Bibliothek, die zu den größten Privatbibliotheken des venezianischen Cinquecento zählte und nur übertroffen wurde von der auf 7.000 Werke geschätzten Büchersammlung des Dogen Nicol Contarini (1553–1631) oder der 2.000 Bücher umfassenden Bibliothek Girolamo Corners (gest. 1625).22 Viele dieser Bände waren in kostbares rotes Leder gebunden und trugen die Insignien des Besitzers in Golddruck, war diese Bibliothek doch nicht nur ein Zeichen der Gelehrsamkeit ihres Besitzers, durch die sich der akademische Arzt gegenüber anderen Heilerberufen abgrenzte, sondern auch ein Statussymbol.23 Vergleichsweise klein fallen hingegen die Bestände anderer Arztbibliotheken in Venedig aus: Die Ärzte Girolamo da Salis, Giovanni Andrea Benindi, Carlo da Famo oder der Chirurg Giorgio de Agaris besaßen laut der erhaltenen Inventarlisten nur sehr wenige Bücher,24 und lediglich die Privatbibliothek des 1588 verstorbenen Arztes Benedetto Rini, die mehr als 600 Titel umfasste, konnte sich mit jener Tomasos messen.25 Einen Großteil der Bestände erwarb Tomaso im Laufe der Jahre bei dem renommierten Verleger Melchior Sessa, der auch als einer der drei Prokuratoren von San Giuliano fungieren sollte, die dem Vorschlag für eine Erneuerung der Kirchenfassade zustimmten.26 Aus dem wenn auch unvollständigen27 Bibliotheksverzeichnis, das Tomaso eigenhändig angefertigt hatte, geht hervor, dass er diese Bücher in besonderen Truhen aufbewahrte,28 darunter in sieben abschließbaren mit den Insignien des Besitzers, die für be22 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 44–45; Marino Zorzi, La circolazione del libro a Venezia nel 500: biblioteche private e pubbliche, Ateneo veneto 28, 1990, 117–189, bes. 130–134; Sabine Herrmann, Tomaso Rangone (1493–1577): ein venezianischer Arzt und seine Bibliothek, Sudhoffs Archiv 97, 2012, 145–158. 23 Offensichtlich entlieh Tomaso auch Bücher aus seinem Besitz, etwa an Einrichtungen wie die Bibliothek der Scuola grande di San Marco, vgl. Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 21r. 24 ASV, Cancelleria inferiore, Miscellanea, notai, b. 36, b. 39 und b. 40. Der Chirurg de Agaris besass als einziger über 250 medizinische Bücher. 25 IRE, DER E 189, b. 3 (1581–1607). Die Bibliothek wurde daher von Sansovino auch zu den bedeutendsten Bibliotheken Venedigs gezählt, vgl. Francesco Sansovino-Martinioni, Venetia, citt nobilissima et singolare, Venetia 1663, 258. 26 Martin Gaier, Facciate sacre a scopo profano, 219. 27 Das Bibliotheksverzeichnis kann in Einzelfällen durch Einträge des Testaments ergänzt werden, welches die Lücke zwischen 1561 und 1577 füllt. Am Ende des Verzeichnisses befindet sich ein Hinweis auf die Handschrift Tomasos (Questo il carattere originale di Tommaso da Ravenna). Auch der Arzt und Naturforscher Ulisse Aldrovandi verfasste Kataloge seiner Bibliotheksbestände, Verzeichnisse der entliehenen Bücher und machte sich Gedanken über den Fortbestand seiner Bibliothek, vgl. Aldo Adversi, Nuovi appunti su Ulisse Aldrovandi bibliofilo, bibliotecario e bibliografo e sulla inedita bibliologia, La Bibliofilia 68, 1966, 51–90, bes. 64. 28 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 2r. Zur Truhe (cassone) als gebräuchliches Möbelstück in der Renaissance vgl. Peter Thornton, The Italian Renaissance Interior, New York 1991, 192ff.
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sonders kostbare Folianten bestimmt waren. Eine weitere große, durch einen gesonderten Eintrag hervorgehobene Truhe mit Löwenfüßen war in sieben Sektionen geteilt und diente auch der Unterbringung kostbarer Kunstgegenstände wie der Medaillen, die Tomaso ab den 1550er Jahren hatte anfertigen lassen.29 Vermutlich verwahrte Tomaso im Studiolo auch seine umfangreiche Sammlung an astrologischen und astronomischen Instrumenten, Globen, Landund Himmelskarten und führte dort astronomische Berechnungen durch. Neben einer reichhaltigen Büchersammlung zu diesem Thema30 verfügte er über diverse bewegliche Erd- und Himmelsgloben.31 Dazu kamen ein Astrolabium aus Messing, ein astronomisches Gerät in Form einer drehbaren Scheibe, mit dem man Sterne identifizieren und die Orts- und Uhrzeit genau bestimmen konnte,32 Karten von Sternenkonstellationen,33 ein hölzernes Instrument zur Bestimmung der ungünstigen Tage34 sowie ein großer und ein kleiner hölzerner Quadrant.35 Das Bibliotheksverzeichnis Tomaso Rangones liefert jedoch nicht nur Details über die wissenschaftlichen Interessen des Besitzers, sondern verrät auch, mit welcher Literatur sich der Gelehrte in seinen Mußestunden beschäftigte. Dazu gehörten neben den lateinischen Elegikern Tibull, Catull und Properz auch die Werke Ovids,36 die humorvollen Stücke von Plautus,37 die Satiren Martials38 oder die Werke des burlesken Dichters Teofilo Folengo (1491–1544).39 Neben Büchern und wissenschaftlichen Instrumenten befanden sich in Tomaso Rangones Haus auch diverse, teilweise äußerst kostbare Kunstgegenstände.40 Erwähnenswert sind insbesondere drei plastische Marienbildnisse aus Stuck 29 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 45–46. 30 Vergleicht man das Inventarverzeichnis mit anderen Arztbibliotheken Venedigs, fällt in der Tat auf, dass das Interesse Tomasos an der Astrologie außergewöhnlich groß gewesen sein muss. Die Liste der astronomischen Geräte im Bibliotheksverzeichnis deckt sich größtenteils mit der Inventarliste des Testaments. 31 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 1ff. Einen Überblick über die Gestaltungsprinzipien zeitgenössischer Globen liefern Jan Mokre/Peter Allmayer-Beck (Hrsg.), Das Globenmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 2005. 32 Ebd., c. 1: Astrolabium ex aurichalcho cum suis latitudinum tabulis no 7. Zu Beispielen von Astrolabien vgl. Burkhard Stautz, Die Astrolabiensammlungen des Deutschen Museums und des Bayerischen Nationalmuseums, München 1999. 33 Ebd., c. 1: Spherae omnes seu theoricae in plano ex carthone primi mobilis […]. 34 Ebd., c. 1: Instrumentum pro diebus criticis ligneum. 35 Ebd., c. 1. 36 Ebd., c. 13r. 37 Ebd., c. 10v/11r. 38 Ebd., c. 12r. 39 Ebd., c. 12r. 40 Carla Ferrari, Per la storia del collezionismo a Venezia, Ateneo Veneto 37, 1999, 65–112, bes.72; zu Kunstgegenständen in Privathaushalten der Renaissance vgl. Peter Thornton, The Italian Renaissance interior, 268ff.
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Abb. 15: Plastisches Marienbildnis aus Stuck, möglicherweise aus dem Besitz Tomaso Rangones.
und Bronze, Portraits des Arztes von bekannten Künstlern wie Tintoretto oder Domenico Molino sowie mehrere antike Vasen.41 Eine Marienfigur aus Bronze war von dem befreundeten Architekten Jacopo Sansovino angefertigt worden und soll 400 Dukaten gekostet haben.42 Zudem befanden sich im Besitz des
41 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 51ff.; Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 4: Altera stuchea, Sansovini opus; Testament (ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172), c. 18v : altera stuchea aureata, tellario columnis nuceo in maiestate maior. Zur Identifizierung der Madonnen vgl. M. Elisa Avagnina/Vittorino Pianca (Hrsg.), Jacopo Sansovino a Vittorio Veneto, Treviso 1989; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 54; Enrico Maria del Pozzolo/Lionello Puppi (Hrsg.), Splendori del Rinascimento a Venezia. Schiavone tra Parmigiano, Tintoretto e Tiziano, Milano 2015. Tomaso Rangone scheint sehr gläubig gewesen zu sein, wofür nicht zuletzt die zahlreichen libri sacri und theologici im Bibliotheksverzeichnis sprechen. 42 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 4: Gloriosissima virgo semper Maria mater D.N. Y.u X.i cum filio cuprea sansovini opus; Testament (ASV, Notarile,
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Gelehrten eine Zeichnung von Giulio Romano, die er in Mantua erworben hatte43 sowie diverse Waffen, darunter ein Schwert und ein kostbarer ziselierter Schild, der ursprünglich dem französischen König FranÅois I. gehört haben soll.44 Nachdem Tomaso 1532 in dieses repräsentative Haus am Markusplatz gezogen war, scheint er sich vermehrt der Ausübung der ärztlichen Tätigkeit gewidmet zu haben. Bereits im 1531 publizierten Prognostikon Del vivere, del racolto e de la abondantia hatte sich Tomaso bewusst als dottore bezeichnet.45 Auch der Mietvertrag wurde laut der Akten mit Tommaso filologo da Ravenna medico fisico abgeschlossen. Diese bewusste Konzentration auf die Heilkunst betonte Tomaso auch in einem Brief an Federico II. Gonzaga vom 8. Februar 1538, dem er diesmal nun kein astrologisches Prognostikon, sondern eine Ausgabe seiner ein Jahr zuvor erschienenen Syphilisschrift (1537) beilegen sollte.46 Die Ursache für diese verstärkte Hinwendung zur Heilkunst mag zumindest teilweise in den Entwicklungen der letzten Jahre zu suchen sein, da sich wohl auch Tomaso im Zuge der fälschlich angekündigten Sintflut mehr und mehr der Grenzen der Astrologie bewusst geworden war. Auch das wissenschaftliche Milieu der Lagunenstadt bot im Gegensatz zu Rom Astrologen in dieser Zeit kaum vielversprechende Zukunftsperspektiven, da trotz vereinzelter astrologischer Traktate oder Büchersammlungen das Interesse an der Himmelskunde in Venedig eher gering war.47 Entsprechend negative Erfahrungen machte daher bereits der Arzt Giovanni da Fontana (1395–1455), der trotz seiner fundierten Kenntnisse in Astrologie, Mathematik und sogar Hydraulik keinen Erfolg in Venedig haben sollte.48 Auch dem Astrologen Leonardo Qualea blieb der gesellschaftliche Aufstieg in der Lagunenstadt versagt, obwohl er umfangreiche Publikationen zu astronomischen Themen verfasst hatte.49 Astrologische Prognostika scheint Tomaso daher nur noch vereinzelt angefertigt und sich
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testamenti, b. 421, Nr. 1172), c. 18v : quadringentorum / 400 / Ducatorum. Vgl. hierzu auch Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 53–54. Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 5r : cathagrapha i. designium a Julio Romano picture celeberrimo apud Federicum i. Ducem i. Mantuae depicta. Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 4r : ensis sparba pugio seu sparbula arma offensiva per eodem designata cum Iconio et [..] Antonij Bononiensis gladiatoris famosissimi; ebd., c.1r : scutum Francisci gallorum regis […]. Im Testament werden diese Gegenstände ebenfalls erwähnt, vgl. ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 18v. Waffen sind in den Inventaren der Zeit jedoch relativ selten vgl. hierzu Peter Thornton, The Italian Renaissance Interior, 269. BCS 12–1–15 (62). Antonino Bertolotti, Variet archivistiche e bibliografiche, Il Bibliofilo 8, 1887, 78. Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 166. Marshall Clagett, The Life and Works of Giovanni Fontana, Annali dell’Istituto e museo di storia della scienza di Firenze 1, 1976, 5–28; Oliver Götze, Der öffentliche Kosmos, 165–166. Ebd., 165–166.
Ein repräsentativer Wohnsitz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
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stattdessen bevorzugt dem Verfassen von medizinischen Traktaten zu aktuellen Themen wie der Syphilistherapie oder der Diätetik gewidmet zu haben.50 Auch wenn nicht-venezianische Ärzte mindestens 25 Jahre in Venedig ansässig sein mussten, um das Bürgerrecht de intus et extra und die damit verbundenen Privilegien zu erhalten, war Venedig für Mediziner überaus attraktiv, da die Lagunenstadt über eine solvente Kundenschicht aus vermögenden Kaufleuten und eine starke Kommune verfügte. Bis zum 16. Jahrhundert genossen Ärzte in Venedig zudem diverse Steuererleichterungen.51 Der Chronist Girolamo Priuli (1476–1557) vermerkte daher in seinen Tagebüchern, dass es in Venedig stets zahlreiche gutverdienende Ärzte gebe, die zu den bekanntesten Medizinern Italiens gehörten.52 Viele Professoren aus Padua wie beispielsweise Girolamo della Torre, Gabriele Zerbi oder Nicoletta Vernia waren aufgrund der guten Einnahmequellen ebenfalls während der vorlesungsfreien Zeit in der Lagunenstadt tätig. Im Januar 1499 protestierte daher das venezianische Collegium medicum gegen die unliebsame Konkurrenz und beantragte, auch diese Ärzte sollten sich an den Kosten für den medico d’armata beteiligen.53 Die Signoria hatte sich zwar bereits ab dem 14. Jahrhundert gegenüber der aufstrebenden Ärzteschicht geöffnet, jedoch hatte der Adel noch immer alle Führungspositionen inne und erschwerte Medizinern im Gegensatz zu Padua den gesellschaftlichen Aufstieg und den Zugang zu bestimmten Ämtern. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und insbesondere ab Mitte des 16. Jahrhunderts fanden in Venedig jedoch umfassende gesellschaftliche Veränderungen statt. Von der Krise des venezianischen Adels profitierten daher auch die Ärzte, die sich zunehmend adelige Privilegien aneignen sollten. Dazu gehörte als einer der ersten Giacomo Surian (gest. 1499),54 der ursprünglich aus Rimini stammte. Surian verband seine Familie mit den städtischen Eliten und erwirtschafte in Venedig ein riesiges Vermögen. Dazu gehörten zwei Häuser, ein Palazzo in San Giuliano und ein weiteres Haus in San Trovaso sowie Geldanlagen in
50 Lediglich eine einzige, nur einseitige Jahresprognose für das Jahr 1544 erschien bei Agostino di Bidone. 51 Giulio Bistort, Il magistrato alle pompe nella Repubblica di Venezia, Venezia 1912, 292; 301– 302. 52 Arturo Segre (Hrsg.), I Diarij di Girolamo Priuli, Firenze 1912–1938, Band 2, 414: Sempre in la citade veneta ne sonno medici assai convenienti et deli pi celebri d’Itallia, perch avadagnanno molto summa de denari. Zu Priuli vgl. Achille Olivieri, Un momento della sensibilit religiosa e culturale del Cinquecento veneziano: »I diarii« di Girolamo Priuli e gli orizzonti della »esperientia«, Critica storia 10, 1973, 397–414. 53 Sanudo, I Diarij, 2 : 314; Levi Robert Lind, Studies in pre-Vesalian anatomy. Biography, Translations, Documents, Philadelphia 1975, 145. 54 Gino Benzoni/Antonio Menniti Ippolito (Hrsg.), Storia di Venezia. Il Rinascimento: politico e cultura, Roma 1996, 482.
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Mirano und Asolo.55 Noch heute ist das Wappen der Surian an der Flusseite (Rio della Guerra) des Palazzo zu sehen, der sich auf die Corte del Forno blickend in der heutigen Corte del Banchetto n. 306 befindet. Surian ließ sich zudem in der Kirche von Santo Stefano, der er ein Bronzerelief gestiftet hatte, ein prachtvolles Grabmonument nach dem Vorbild der Dogenwandgräber errichten.56 Neben dem Grab befindet sich eine kleine Bronzepaletta, die Surian und seine Frau betend vor dem Thron der Mutter Gottes darstellt, das einzige bekannte Beispiel vor der Pala Pesaro.57 Die Voraussetzungen für eine vielversprechende Arztkarriere in der Lagunenstadt hätten für Tomaso zu diesem Zeitpunkt folglich nicht besser sein können. Zuerst galt es jedoch, nicht nur durch medizinische Schriften zu aktuellen Themen auf sich aufmerksam zu machen, sondern auch Kontakte zu einflussreichen Organen wie der Gesundheitsbehörde zu knüpfen.
8.2
Flottenarzt im Auftrag der Republik
Obwohl sich das Osmanische Reich bereits vor dem Untergang von Byzanz im Jahr 1453 bedrohlich nach Norden und Westen ausgebreitet hatte,58 konnte Venedig, innerliche Konflikte bei den Osmanen ausnutzend, sein Einflussgebiet 1489 noch um Zypern erweitern, musste jedoch schon wenige Jahre später mehrere griechische Städte aufgeben und sogar Tribut entrichten. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts verschärfte sich die Bedrohung durch die Gefahr aus dem Osten, als die Osmanen am 26. Juni 1522 Rhodos eroberten und den dort ansässigen Johanniter-Orden vertrieben. Bereits am 29. August 1526 griff Sultan Süleyman der Prächtige (ca. 1495–1566) das Königreich Ungarn an, welches das geforderte Tribut verweigert hatte und schlug in der Schlacht bei Mohcs die ungarischen Streitmächte vernichtend. Im Laufe der folgenden drei Jahre drangen die Türken allmählich bis nach Wien vor und belagerten die Stadt vom 26. September bis zum 14. Oktober 1529 fast drei Wochen lang. Lediglich die schlechte Versorgungslage zwang die türkische Armee schließlich zum Rückzug, worauf Kaiser Karl V. aktiv die Verteidigungsmaßnahmen in Ungarn verstärkte, 55 ASV, Notarile, testamenti, b. 878, Nr. 184 (Testament von Giacomo Surian vom 3. November 1499); ASV, Dieci Savi sopra le Decime a Rialto, b. 127, Nr. 702. 56 Francesco Paganuzzi, Cenni storici del celebre monumento a Giacomo Suriano medico nella chiesa di Santo Stefano, Venezia 1903; Ferdinando Apollonio, La chiesa e il convento di Santo Stefano in Venezia, Venezia 1911, 22ff. 57 Hans Aurenhammer, Künstlerische Neuerung und Repräsentation in Tizians »Pala Pesaro«, Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 40, 1987, 13–44. 58 Josef Matuz, Das Osmanische Reich: Grundlinien seiner Geschichte, 4Darmstadt 2006; zu den Türkenkriegen vgl. Klaus-Peter Matschke, Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege, Düsseldorf 2004; zu Süleyman siehe Andr Clot, Soliman Le Magnifique, Paris 1983.
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1532 mit den protestantischen Reichsfürsten den Nürnberger Religionsfrieden schloss und Sultan Süleyman in Anbetracht dieses nunmehr starken Gegners zum Rückzug zwang. Guido Rangoni kämpfte zu dieser Zeit im Auftrag Karls V. an der Seite von Pietro Rosso, Aloisio Gonzaga, Gian Battista Savelli und dem Marchese di Vigevano in Ungarn erfolgreich gegen die Türken.59 Auch für einen jungen Arzt bot eine Tätigkeit als Militär- oder Flottenarzt60 zu dieser Zeit gleichfalls vielversprechende Karrierechancen und wurde von bekannten Ärzten ausgeübt.61 Tomaso wollte daher diese Gelegenheit nutzen, um auf sich aufmerksam zu machen und auf diese Weise einflussreiche Persönlichkeiten für sich zu gewinnen. Vermutlich hatte er bereits Kontakte zur venezianischen Gesundheitsbehörde geknüpft, Interesse an dieser Tätigkeit signalisiert und sich laut der Akten der Provveditori alla sanit 1534 für vier Monate als Flottenarzt unter dem Capitano generale del Mar, Vicenzo Capello (gest. 1541), verpflichtet.62 Capello63 war nicht nur ein erfahrener Feldherr, der bereits 1504 zum Capitano delle galere di Fiandra e di Londra ernannt worden war und zwischen 1512 und 1515 an bedeutenden militärischen Unternehmungen wie der Verteidigung Paduas und Zyperns teilgenommen hatte, sondern war am 11. Juni 1532 sogar zum provveditore d’armata ernannt worden, einer äußerst verantwortungsvollen Position: Capello erhielt den Auftrag, einen Frieden zwischen dem Osmanischen Reich und dem Kaiser zu vermitteln, der dann am 23. Juli 1533 auch geschlossen wurde. 1534 waren die Auseinandersetzungen damit bis auf kleinere Scharmützel in den folgenden Jahren vorerst beendet, und ein Flottenarzt musste in dieser Zeit nicht befürchten, in lebensgefährliche militärische Konflikte verwickelt zu werden. Doch war das Leben an Bord eines Segelschiffes in dieser Zeit durch viele weitere Unannehmlichkeiten gekennzeichnet, da es unter der Mannschaft nicht nur zu Verletzungen beim Verrichten der täglichen Arbeiten kam, sondern auch zu Mangelerkrankungen wie Skorbut oder Infektions59 Gian Carlo Montanari, Guido Rangoni, 88–90. 60 Das Amt des Flottenarztes war vom Maggior Consiglio bereits im 14. Jahrhundert eingerichtet worden (unus medicus physicus mittatur cum istis galeis pro servitio mercatorum et hominum galearum), vgl. hierzu Hans Schadewaldt, Der Schiffsarzt, Ciba-Zeitschrift Wehr 76/7, 1955, 2508. Zur medizinischen Versorgung auf Schiffen vgl. David Boyd Haycock/Sally Archer (Hrsg.), Health and Medicine at Sea: 1700–1900, Woodbridge 2009. 61 So wurde es 1539 sogar von dem paduanischen Medizinprofessor Niccol Sanmichele (gest. 1578) ausgeübt, vgl. ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, reg. 12, c. 93r ; Richard Palmer, Physicians and Surgeons in Sixteenth Century Venice, Medical History 23, 1979, 451–460, bes. 454; Andrew Wear et al. (Hrsg.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 1985, bes. 288; zum Beruf des Schiffsarztes siehe ferner Peter Michael Moll, The Surgeons Mate (London 1617) von John Woodall, Düsseldorf 1968. 62 ASV, Collegio, notatorio, reg. 22, c.129r/v. Auf seine Tätigkeit nimmt Tomaso auch in dem 1535 publizierten Hygienetraktat Bezug, vgl. De repentinis, mortiferis (1535), c.25. 63 DBI, s.v.a. Cappello, Vincenzo.
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krankheiten wie Typhus, Fleckfieber, Tuberkulose oder diversen Dermatosen.64 Dazu kamen die beengten Verhältnisse, der Mangel an sanitären Anlagen, da die Fäkalien oft einfach in die Bilge65 geworfen wurden, die stickige Luft, die schlechte Versorgungslage und nicht zuletzt die unvorhersehbaren Launen des Wetters. Laut einer Anweisung des Collegium medicum erhielt Tomaso für seinen viermonatigen Dienst eine Entlohnung von 100 Dukaten,66 das Maximum der nach den Statuten zulässigen Summe für Flottenärzte.67 Selbst das Gehalt eines erfahrenen Ingenieurs des Schiffsbaus betrug um 1560 nur etwa 63 Dukaten jährlich, jenes eines Verwalters immerhin bereits 97 Dukaten.68 Ein Notar wurde mit einem monatlichen Gehalt von vier Dukaten, ein einfacher Schreiber mit drei und ein Kapitän mit elf Dukaten entlohnt.69 Das Durchschnittsgehalt eines den Capitano generale del Mar begleitenden Chirurgen betrug zehn Dukaten monatlich, konnte jedoch bei besonderen Leistungen erhöht werden, weshalb dem aus Burano stammenden Zuan Francesco Strata 1538, also ein Jahr, nachdem Venedig aktiv in den Krieg gegen die Türken eingetreten war, zwölf Dukaten pro Monat ausgezahlt wurden, nachdem er zuvor bereits dreimal erfolgreich gedient hatte.70 Der aus einer Arztfamilie stammende Strata war nicht nur Mitglied des venezianischen Collegium chirurgicum und wirkte insgesamt sieben Mal als dessen Prior, sondern fungierte gleichzeitig auch als medico per la terra der Gesundheitsbehörde.71
64 Zum Skorbut vgl. Sabine Streller/Klaus Roth, Von Seefahrern, Meerschweinchen und Citrusfrüchten. Der lange Kampf gegen Skorbut, Chemie in unserer Zeit 43/1, 2009, 38–54. Über Krankheiten an Bord sind auch die Bordjournale der Royal Navy zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufschlussreich, vgl. Ute Linke, Beobachtungen von Schiffsärzten der Royal Navy über die häufigsten Erkrankungen zur See, dargestellt an ausgewählten Bordjournalen des beginnenden 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987; ferner auch Oivind Larsen, Schiff und Seuche, 1795–1799: ein medizinischer Beitrag zur historischen Kenntnis der Gesundheitsverhältnisse an Bord dänisch-norwegischer Kriegsschiffe auf den Fahrten nach Dänisch-Westindien, Oslo 1968. 65 Die Bilge bezeichnet den untersten Bereich des Schiffes, der direkt oberhalb des Kiels liegt. 66 ASV, Collegio, notatorio, reg. 22, c.129r/v : […] che immediate debiate dar ducati 100 allo ex. D.r M.ro Thomaso da Ravenna che va phisico cum il clarissimo messer Vinzenzo Capello capitanio generale da mar per sua sovention de mesi quatro secundo il consueto […]. Vgl. auch die entsprechende Stelle in den Notizie […] da libri de cancellieri des Collegium medicum (BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 2342 (=9695), c. 54r), worin für das Jahr 1534 der Lohn von d. 25 (pro Monat) für Tomaso Filologo med. di Vic. Capello verzeichnet ist. 67 BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 2369 (=9667), c. 19v. 68 Jörg Reimann, Venedig und Venetien 1450 bis 1650, 153. 69 ASV, Compilazione Leggi, serie 1, b. 337, c. 281 (15. Dezember 1509 in Pregadi); Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 26. 70 ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla Sanit, reg. 12, c.87r/v, 90r ; Richard Palmer, Physicians and Surgeons in Sixteenth-Century Venice, Medical History 23, 1979, 451–460, bes. 451. 71 Der Aufgabenbereich des medico per la terra umfasste die Untersuchung von Todesfällen in
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Am 28. September 1538 sollte die venezianische Flotte unter dem erfahrenen Admiral Andrea Doria (1466–1560) bei der Seeschlacht von Prevasa vernichtend geschlagen werden. Venedig schloss daher am 1540 mit den Türken einen Separatfrieden, der vorsah, dass bestimmte Gebiete in der Ägäis, auf der Peloponnes und in Dalmatien abgetreten werden mussten. In den folgenden Jahren kam es jedoch wieder vermehrt zu kriegerischen Auseinandersetzungen: 1552 mussten sich die Österreicher bei Palast geschlagen geben, Ungarn wurde in drei Teile geteilt, und Kaiser Ferdinand I. (1503–1593) musste einen jährlichen Tribut von 30.000 Dukaten an das Osmanische Reich entrichten. Nachdem die Türken 1570 schließlich auch Zypern erobert hatten, schlossen sich Venedig, Spanien und der Kirchenstaat am 20. Mai 1571 zur Heiligen Liga zusammen und schlugen unter dem Oberbefehl von Don Juan de Austria (1547–1578) am 7. Oktober 1571 die Osmanen in der Seeschlacht von Lepanto, wodurch die Bedrohung, zumindest vorerst, abgewendet werden konnte.72
8.3
Ratgeber der Gesundheitsbehörde
Nach Beendigung seines Dienstes als Flottenarzt kehrte Tomaso nach Venedig zurück und betätigte sich beim Magistrato alla sanit als Ratgeber (consigliere) in Gesundheitsfragen. Der heute nicht mehr erhaltene gotische Bau, in dem die Gesundheitsbehörde ab 1486 ihren Sitz hatte, befand sich einst im Fondaco delle Farine mit Blick auf das Bacino di San Marco. Ursprünglich waren in diesem Gebäude tatsächlich die Getreidevorräte der Stadt untergebracht, da es durch die zentrale Lage möglich war, ankommende Waren und Personen zu kontrollieren, bevor entsprechende Maßnahmen wie die Einlieferung in die lazzaretti getroffen werden konnten. Auch die Erlaubnis, in die Stadt einreisen zu dürfen, wurde von der Verwaltung des Magistrato erteilt, weshalb die Tätigkeitsbereiche dieser einflussreichen Instanz fast alle Bereiche des täglichen Lebens von der Müllentsorgung bis zur Kontrolle von Bettelei und Prostitution umfassten.73 Seit 1489 bestand diese übergeordnete Kontrollinstanz aus drei Provveditori alla sanit, die für ein Jahr im Amt blieben. Neben einem medico del lazzaretto vecchio beschäftigte der Magistrato ab dem 20. September 1524 auch einen speziellen Arzt (Protomedico), der zwar als Seuchen- und Stadtarzt angestellt war, jedoch der Lagunenstadt auf Pestsymptome, wobei er der Gesundheitsbehörde täglich Bericht erstatten musste. 72 Niccol Capponi, Victory of the West. The Story of the Battle of Lepanto, London 2006. 73 Über die umfassende Tätigkeit der Gesundheitsbehörde geben noch heute die Akten der Sopraprovveditori e provveditori alla sanit (ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, b. 725–789) Auskunft. Vgl. zur Gesundheitsbehörde ausführlich Nelli-Elena Vanzan Marchini, Venezia. Luoghi di pare e volutt, Mariano 2005, 51–53; Dies. (Hrsg.), I mali e i rimedi, 65–102.
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keine eigenen Befugnisse hatte und dessen Pflichten Besuche der lazzaretti und die Untersuchung der Leichen umfassten. Da sich die Befugnisse des Pestarztes aber gelegentlich mit jenen des medico del lazzaretto vecchio überschnitten, wurde das Amt des Protomedico ab 1527 von ein und derselben Person ausgefüllt.74 1535 kam es in Venedig erneut zu einer Epidemie, worauf strenge Auflagen für alle in Venedig praktizierenden Ärzte und für die Durchführung von Bestattungen erlassen wurden und die Provveditori eine Reihe anatomischer Untersuchungen anordneten.75 Sektionen von Leichen, die in Venedig gesetzlich bereits seit 1368 erlaubt waren, fanden in vor-vesalischer Zeit im Gegensatz zu den öffentlichen Anatomievorlesungen an den Universitäten meist in kleinerem Rahmen statt, etwa im Spital von SS. Pietro e Paolo, im Karmeliterkonvent, in der Scuola di San Teodoro, im Kloster S. Stefano oder im Dominikanerkonvent bei der Frarikirche.76 Ende des 15. Jahrhunderts hatte es auf Veranlassung des Arztes Alessandro Benedetti (1450–1512)77 zwar bereits ein bewegliches hölzernes anatomisches Theater gegeben, jedoch sollte das erste (feste) anatomische Theater erst fast zweihundert Jahre später (1669) in der Nähe von S. Giacomo dell’Orio entstehen.78 Auch der aus einer wohlhabenden Familie von Kaufleuten stammende venezianische Arzt und Chirurg Niccol Mass (1485–1569)79 war vom Magistrato ausgewählt worden, die Ursachen der Epidemie anhand von Veränderungen der inneren Organe zu untersuchen.80 Mass hatte bereits 1515 eine Ausbildung als Chirurg abgeschlossen, wurde 1521 in Venedig in Medizin promoviert und war danach drei Jahre lang als Arzt auf San Giorgio und im Kloster von San Sepolcro tätig. Bereits seit 1526 hatte er erfolgreich Sektionen, unter anderem auch an »Syphilis«-Patienten, durchgeführt und 1527 eine Schrift mit seinen Untersu-
74 Vgl. zu den Stellungnahmen des Protomedico bis Ende des 18. Jahrhunderts ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, b. 587–591. 75 ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, reg. 727, c. 293r–306v. 76 Levi Robert Lind, Studies in Pre-Vesalian Anatomy, 167–202; 325–327; Nelli-Elena Vanzan Marchini, Il teatro anatomico di S. Giacomo dell’Orio, in: Dies. (Hrsg.), Dalla scienza medica alla pratica dei corpi. Fonti e manoscritti marciani per la storia della sanit, Padova 1993, 61– 70; Marie-Thrse d’Alverny, Avicenne et les mdecins de Vnise, in: Medioevo e Rinascimento. Studi in onore di Bruno Nardi, Firenze 1955, Band 1, 175–198; Giorgio Cosmacini, Storia della medicina e della sanit in Italia: dalla peste europea alla guerra mondiale (1348– 1918), Roma/Bari 1987, 102. 77 Zu Benedetti vgl. DBI, s.v.a. Benedetti, Alessandro; Giorgio Ferrari, L’esperienza del passato. Alessandro Benedetti filologo e medico umanista, Firenze 1996. 78 Nelli-Elena Vanzan Marchini, Il teatro anatomico di S. Giacomo dell’Orio, 63–70. 79 Richard Palmer, Nicol Massa, 385–410; DBI, s.v.a. Mass, Niccol. 80 ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, reg. 727, c. 293r–306v, bes. 395r; Richard Palmer, Nicol Mass, 394.
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chungsergebnissen publiziert.81 Im Dezember des Folgejahres fungierte Mass laut der Akten der Gesundheitsbehörde erneut als demonstrator bei einer weiteren anatomischen Untersuchung.82 Im gleichen Jahr (1536) publizierte er die Erkenntnisse seiner anatomischen Forschungen in einer Einführung in die Anatomie (Liber introductorius anatomicae),83 in dem er genaue Anweisungen zur Durchführung von Sektionen gab und sich auf Galen, Avicenna und Mondino dei Liuzzi berief. Mass favorisierte zudem die anatomia sensata und wandte sich gegen die öffentlichen »theatralischen« anatomischen Untersuchungen, an denen oft auch Honoratioren teilnahmen, um die Geheimnisse (arcana) der Natur zu verstehen. Zum Stab der untersuchenden Ärzte, die von der Gesundheitsbehörde beauftragt worden waren, gehörte auch Tomaso Rangone. Laut eines Protokolls vom 4. April 1535 führte er eine anatomische Untersuchung am Körper eines toten Soldaten (uomo d’armi) durch, an dem er alle Kennzeichen der grassierenden Epidemie zu erkennen glaubte.84 Im gleichen Jahr publizierte Tomaso bei dem bekannten Drucker Agostino di Bindone die Schrift De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus.85 Darin schilderte er ausführlich die in der Gesundheitsbehörde durchgeführte anatomische Untersuchung, an der auch venezianische und paduanische Ärzte teilgenommen hätten:86 Bei dem Toten habe es sich um einen gewissen Paolo Beretteri gehandelt, der im letzten Viertel seines Lebens verstorben sei (in ultimo quarti mortuus est). Der ganze Körper sei mit einem Ausschlag überzogen gewesen, Lunge und Bauch infiziert und in der Kehle habe sich ein Apostem (apostema) befunden.87 Wie bereits Mass sprach sich auch Tomaso für eine anatomia sensata aus.88 Gewidmet war diese kleine Schrift, die auf dem Fron81 Dino Casagrande, Errore o falso in piena regola? Il Liber de morbo Gallico di Nicol Massa, Charta 3, 2005, 24–29. 82 Richard Palmer, Nicol Mass, 395. 83 Andrea Carlino, La fabbrica del corpo. Libri e dissezione nel Rinascimento, Torino 1994, 237–240; Cynthia Klestinec, Theaters of Anatomy, 30–31. 84 ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, reg. 727, c. 296r. 85 Girolamo Tiraboschi, Storia della letteratura italiana, Band 7/2, 58–61. Auch der Syphilologe Jean Astruc hatte zu Beginn des 18. Jahrhunderts diese Abhandlung gelesen und äußerte sich kritisch aus der Perspektive der Frühaufklärung, vgl. De morbis venereis libri novem, Paris 1740, 675: In illo Rangonus, pro more aetate sua recepto, astrologiae, et quod forte turpius, cabalae deliramentis nimium tribuit, in utroque aniliter credulus. 86 De repentinis, mortiferis (1535), c. 2v–3r: […] primo exterius totum corpus videbatur flagellis affectum, sicut eorum qui percussi sunt. 87 De repentinis, mortiferis (1535), c. 3r ; ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, reg. 727, c. 296r. Zu einer zeitgenössischen Definition des Apostem, vgl. Tomaso Rangones Schrift De microcosmi affectuum (1575), c. 31r/v. Der Begriff apostema wurde auch für die Bezeichnung von Pestbeulen verwendet. 88 De repentinis, mortiferis (1535), c. 3r : deridendi sunt medici quicumque iudicium eorum quae apparent non sensiteriis, sed demonstratione aliqua tentant facere.
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tispiz einen Lehrenden am Katheder zeigt, den drei amtierenden Provveditori Lorenzo Loredan, Giovanni Corner und Andrea Trevisan.89 Die Ursache der Epidemie lag nach Ansicht Tomasos vor allem in der schlechten Luft- und Wasserqualität Venedigs. Bereits am 30. März 1515 hatte der Rat der Zehn dem Senat die Oberaufsicht über die Gewässer sowie diverse Umweltschutzaufgaben und die Wasserversorgung der Stadt übertragen.90 Die Reinhaltung der Luft bildete hingegen bereits seit fast zweihundert Jahren einen Schwerpunkt in der venezianischen Gesundheitspolitik, was nicht zuletzt an der ökonomischen Ausrichtung der Lagunenstadt auf rohstoffverarbeitenden Betrieben beruhte (Glas, Spiegel, Farben, Metallurgie).91 In Venedig wurden zahlreiche chemische Stoffe für den Export hergestellt, darunter Terpentin und Cremor tartaro, der in der Pharmazie und als Färbemittel eingesetzt wurde, sowie Salzsäure und diverse rote (litharge) Bleioxide und Menninge.92 Diese Betriebe und ihre oft toxischen Produkte bildeten bereits sehr früh die Lebensgrundlage der Stadt, hatten jedoch auch negative Folgen für die Umwelt, etwa die Verunreinigung des Wassers und der Luft durch übermäßigen Gestank sowie vermehrte Rauchentwicklung. Bereits 1291 war die Glasproduktion daher nach Murano verlegt worden.93 Es folgten zahlreiche weitere Verordnungen von Seiten des Magistrato alla sanit, sei es nun hinsichtlich der Gewinnung von Blei (1294), der Luftverschmutzung in Wohngebieten (1308), der Herstellung von Quecksilbersublimat, der Gerberei, der Färberei oder auch der Tierhaltung.94 Zu den unangenehmen Gerüchen kam die Angst vor krankmachender, bis ins 19. Jahrhundert physikalisch als Flüssigkeit wahrgenommener Luft, die insbesondere auf der vollkommen anderen Interpretation dieses Elements gemäß der
89 ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, b. 727. Laut der Leggi di sanit della Repubblica di Venezia übte Lorenzo Loredan das Amt seit dem 19. November 1534, Giovanni Corner ab dem 18. Dezember und Andrea Trevisan ab dem 28. Juli 1535 aus, vgl. Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), Leggi di sanit della Repubblica di Venezia, Vicenza 1995, Band 1, 52. 90 Karl Heller, Venedig. Recht, Kultur und Leben in der Republik 697–1797, Wien 1999, 237– 238. 91 Domenico Sella, L’economia, in: Gaetano Cozzi/Paolo Prodi (Hrsg.), Storia di Venezia. Dal Rinascimento al Barocco, Roma 1994, 653–675; Stephan R. Epstein (Hrsg.), Town and Country in Europe, Cambridge 2001, 293ff.; zur Glasherstellung siehe Francesca Trivellato, Fondamenta dei vetrai. Lavoro, tecnologia e mercato a Venezia tra Sei e Settecento, Roma 2000. 92 Aldo Gaudiano, Storia della chimica e della farmacia in Italia dalle pi lontane origini ai primi anni del Duemila. Gli uomini, le idee, le realizzazioni scientifiche e industriali, Roma 2008, 93–94 und 117–121 (Liste der in Venedig produzierten Substanzen). 93 ASV, Avogaria di comun, deliberazioni del Maggior Consiglio, b. 19, f. 11r.; Michael Stolberg, Wolken über der Serenissima. Eine kleine Geschichte der Luftverschmutzung in Venedig, Centro tedesco di studi veneziani, Quaderni 51, Venedig 1996, 12. 94 Michael Stolberg, Wolken über der Serenissima, 12ff. und 23ff.
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damaligen medizinischen Vorstellungen beruhte.95 Demnach wurde die Haut als poröse, durchlässige Substanz empfunden, durch die schädliche Miasmen in der stinkenden Luft Krankheiten auslösen und nicht zuletzt auch über die Atemluft unmittelbar bis ins Gehirn und zum Herzen vordringen konnten, was physiologische Veränderungen im ganzen Körper hervorrief. Da basierend auf dem Naturverständnis der Vorsokratiker die Luft bereits im Corpus Hippocraticum eine wesentliche Bedeutung für die Gesundheit eingenommen hatte,96 stellte sie für Tomaso auch das wichtigste Element der sex res non naturales dar, da diese in alle Bestandteile des Körpers einzudringen vermag.97 Je nach Temperament war daher auch eine andere Luftbeschaffenheit für den Patienten geeignet, wobei sich ein trockenes und warmes Klima für den Phlegmatiker als günstig erwies, für den Choleriker dagegen ein kaltes und feuchtes Klima. Das Frühjahr wurde für den Melancholiker und der Herbst für den Sanguiniker als gesundheitsfördernd erachtet. Die Beschaffenheit der Luft war nach Ansicht Tomasos zwar zu einem großen Teil von bestimmten Sternenkonstellationen abhängig,98 wurde jedoch auch durch die verschmutzten Kanäle der Lagunenstadt begünstigt. Aus diesem Grund forderte er die amtierenden Provveditori eingehend auf, die Kanäle reinigen zu lassen, um auf diese Weise die Luftqualität zu verbessern.99 Als vorbeugende Maßnahmen riet Tomaso zu einem diätetisch sinnvollen Lebenswandel, der körperliche Reinigungsmaßnahmen, bestimmte Speisen und Getränke sowie sportliche Betätigung umfasste.100 Die Publikation des kleinen Hygienetraktats De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus bildete den Beginn für Tomasos langjährige schriftstellerische Tätigkeit und nahm bereits einzelne Elemente seiner späteren Schriften vorweg. Möglicherweise war auch in ihm der Wunsch entstanden, sich dauerhaften Ruhm durch die Feder zu sichern, und 95 Ebd., 19–31; Jacques Jouanna, Greek Medicine from Hippokrates to Galen. Selected Papers, Leiden 2012, bes. 121–136. 96 Zur Rolle der Luft als Krankheitsquelle in der Antike vgl. Armelle Debru, L’air nocif chez Lucrce. Causalit picurienne, hippocratisme et modle de poison, in: Carl Deroux (Hrsg.), Maladie et maladies dans les textes latins antiques et mdivaux, Bruxelles 1998, 85–104. Die Bedeutung der Luft war insbesondere in den hippokratischen Schriften vertieft worden, in denen ihre grundsätzliche Bedeutung neben Speise und Trank mehrfach hervorgehoben wurde, wobei bereits die Vorsokratiker Anaximenes von Milet und Diogenes von Apollonia alle Dinge durch Verdünnungs- und Verdickungsformen der Luft erklärt hatten. Nach der hippokratischen Schrift Peq· ¦us_m galt die Luft daher auch als Ursache für fast alle Krankheiten sowie für Fieber, Leibschmerzen, Rupturen, Wassersucht, Schlaganfälle und auch Epilepsie, vgl. hierzu Jeanne Ducatillon, Le trait des vents et la question hippocratique, in: Coll. Hipp. IV (Lausanne 1981), Genve 1983, 263–276. 97 De modo collegiandi (1565), c. 6v/7v. 98 De repentinis, mortiferis (1535), c. 1v. 99 Ebd., c. 4r. 100 Ebd., c. 4v.
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vielleicht fragte er sich wie später sein Zeitgenosse Girolamo Cardano, auf welche Weise er die Leserschaft dauerhaft für sich interessieren könnte, ohne im Lauf der Zeit vergessen zu werden: Wie, sagte ich mir, wirst du schreiben, was auch gelesen werden wird? Und was kennst du für bemerkenswerte Dinge, um die sich die Leser kümmern? In welchem Stil wirst du schreiben, oder in welcher Form, so dass du die Aufmerksamkeit der Leser erhältst? Wird wirklich alles gelesen werden, und mag es nicht sein, dass sich im Lauf der Zeit derart viele Bücher anhäufen, dass jene frühen Bücher verschwinden, ja vergessen werden? Werden sie überhaupt für ein paar Jahre Bestand haben?101
Um eine möglichst große Leserschaft in und außerhalb Venedigs für sich zu interessieren, beschäftigte sich Tomaso daher bevorzugt mit aktuellen medizinischen Fragestellungen wie der Umweltpolitik, der Syphilistherapie, der Diätetik oder der Makrobiotik. Pietro Aretino schrieb im Januar 1546 nicht ohne einen ironischen Unterton, die Publikationsliste des Arztes habe zu diesem Zeitpunkt bereits die unbegrenzte Zahl der Sterne überschritten, weshalb die Menschen Italiens keine Angst vor Krankheiten mehr haben müssten.102 Dabei konnte es ein eifriger Schriftsteller durchaus zu einem Vermögen bringen, da viele Mäzene einen nicht unerheblichen Teil der Druckkosten übernahmen und den Verfasser großzügig entlohnten.103 Wie für den Pasquillanten scheint das Publizieren auch für Tomaso ein strategisches Werbemittel dargestellt zu haben, da er seine Schriften bevorzugt wichtigen Persönlichkeiten aus Adel und Klerus widmete und sich so ein einflussreiches Netzwerk schuf.104 Tomasos Vorgehen beim Verfassen seiner Schriften unterschied sich in dieser Hinsicht kaum von dem seiner Zeitgenossen:105 Oft benutzte er das gleiche Material in verschiedener Ausführung, überarbeitete es ständig und publizierte identische Arbeiten zum gleichen Thema in mehr oder weniger differierenden Versionen unter einem anderem Titel oder mit einer anderen Widmung. In ihrer Gestaltung sind diese Arbeiten daher meist konventionell akademisch geprägt. Nur gelegentlich kommen persönliche Eindrücke und Erfahrungen zur Sprache. Allerdings führen die erhal101 Zum lateinischen Text vgl. Girolamo Cardano, De vita propria liber (1576), Kap. 9. 102 Francesco Flora (Hrsg.), Pietro Aretino, Lettere, Band 1, 684–686: […] le genti d’Italia non hanno pi timor di morbo alcuno […]. Certo, il numero d’infiniti groppi di stelle trapassano i libri che fate, che avete fatto, e che farete […]. 103 Brian Richardson, Printing, Writers and Readers in Renaissance Italy, 51; 55–56, 63. Zu welchem Reichtum ein eifriger Schreiber kommen konnte, zeigt sich am Beispiel Pietro Aretinos, der im Januar 1544 schrieb, er habe seit seiner Ankunft in Venedig bereits 25.000 Scudi für seine Werke erhalten, vgl. Francesco Flora (Hrsg.), Pietro Aretino, Lettere, Band 1, 768; Brian Richardson, Printing, Writers and Readers in Renaissance Italy, 93. 104 Zu einem ähnlichen Vorgehen Pietro Aretinos vgl. F. Massimo Bertolo, Aretino e la stampa. Strategie di autopromozione a Venezia nel Cinquecento, Salerno/Roma 2003, bes. 12. 105 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 17–18.
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tenen Schriften auch diverse Schwachpunkte vor Augen, welche die Lektüre erschweren, da es Tomaso – abgesehen von linguistisch-stilistischen Problemen – anscheinend schwerfiel, den »roten Faden« nicht zu verlieren, und er sich oft in langen Exkursen und Demonstrationen seines enzyklopädischen Wissens erschöpfte. Letztendlich zeigen diese Traktate aber auch, dass es sich um einen Menschen mit großem wissenschaftlichem Interesse handelte, der sich nicht nur für Medizin und Astrologie, sondern auch für Geographie, Botanik, Zoologie und Mineralogie interessierte. Polemische Äußerungen zu Tomasos Schaffenskraft kamen aber nicht nur von Seiten Pietro Aretinos, denn bereits 1540 ließ der Paduaner »Ruzzante« Angelo Beolco (1502–1542), ein protg Alvise Cornaros, in der in Venedig uraufgeführten Komödie Rhodiana einen Arzt namens Messer Demetrio alias Teophilo auftreten, der sich lediglich in einer unverständlichen Mischung aus Griechisch und Latein auszudrücken vermochte.106 Venedig bot zu dieser Zeit noch immer ideale Voraussetzungen für einen ehrgeizigen Schriftsteller. Bereits 1469 hatte es in der Lagunenstadt die erste Druckerwerkstatt gegeben, und fast bis zum Ende des 16. Jahrhunderts galt die Markusrepublik als das wohl bedeutendste und liberalste Zentrum der Buchdruckerkunst.107 Als gängiger Schrifttyp wurde wie in allen romanischen Ländern die Antiqua verwendet, die 1467 erstmals in Straßburg geschnitten und in Venedig perfektioniert worden war, wobei sich insbesondere die von Francesco Griffo (1450–1518) auf Veranlassung von Aldo Manutius (1449–1515) geschnittenen Typen als stilbildend erwiesen hatten.108 Das Zentrum der venezianischen Buchproduktion lag vor allem bei Rialto, San Salvador, entlang der Merceria, der Frezzeria und bei San Mois.109 Allerdings waren die Druckkosten noch immer erheblich und konnten nur durch Übersetzungen in volgare oder Neuauflagen, bei denen allein das Format geändert wurde, gering gehalten werden. Bevor ein Buch gedruckt werden konnte, musste zudem ein Druckprivileg beim Collegium oder beim Senat beantragt werden.110 Im Zuge der 106 Rhodiana. Comedia stupenda ridiculosissima piena d’argotissimi moti, & in vari lingue recitata, ne mai pi stampata, Venetia 1553, bes. c. 9r/v und c. 64ff.; Martin Gaier, Facciate sacre, 211. 107 Giovanni Acquilecchia, Pietro Aretino e altri poligrafi a Venezia, in: Girolamo Arnaldi/ Manlio Pastore Stocchi (Hrsg.), Storia della cultura veneta. Dal primo Quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1980, 61–98; Claudia di Filippo Bareggi, Il mestiere di scrivere. Lavoro intellettuale e mercato librario a Venezia nel Cinquecento, Roma 1988; Angela Nuovo, Il commercio librario nell’Italia del Rinascimento, Milano 1998; Aulo Chiesa/Simonetta Pelusi (Hrsg.), L’editoria libraria in Veneto, Milano 2010; Laura Lepri, Del denaro o della gloria. Libri, editori e vanit nella Venezia del Cinquecento, Milano 2012. 108 Zu Manutius vgl. Martin Lowry, The World of Aldus Manutius: Business and Scholarship in Renaissance Venice, Oxford 1979. 109 Horatio F. Brown, The Venetian Printing Press, 100; Brian Richardson, Printing, Writers and Readers in Renaissance Italy, 36. 110 Aufgrund der hohen Kosten wurden in Venedig jährlich jedoch nicht mehr als 60–80
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Gegenreformation sollten noch strengere Maßstäbe angelegt werden und ab 1562 musste jedes Buch vor dem Druck von einem Kleriker und zwei Laien gelesen werden, um mögliche Verstöße gegen die Religion auszuschließen.111 Bereits früh knüpfte Tomaso Kontakte zu einflussreichen Verlegern und Druckern, bei denen er bevorzugt die lateinischen Fassungen seiner Abhandlungen in Auftrag gab, während bei weniger bekannten oft die volgare-Fassungen erschienen. 1537 publizierte Tomaso bei Giovanni Antonio de Nicolinis de Sabio, der auch eng mit dem renommierten Verleger Melchior Sessa (1505– 1555)112 zusammenarbeitete, seine erste umfassende medizinische Schrift: ein Handbuch zur Syphilistherapie. Sessa, dessen vielsagendes Markenzeichen eine Katze war, die eine Maus im Maul hielt, gehörte damals zu den bekanntesten und einflussreichsten Verlegern Venedigs und hatte 1508 auch Marco Polos Reisebericht De le maravegliose cose del mondo veröffentlicht. Bei de Sabio wurden auch Werke bekannter Schriftsteller verlegt, etwa von Ludovico Ariost (1474– 1533), Pietro Aretino, Michelangelo Biondo (1500–1565), Lorenzo Bonincontri (1410–1491), Antonio Brucioli (1498–1566), Teofilo Folengo oder von Tomasos späterem Sekretär und Bibliothekar, dem Gräzisten und Humanisten Natale Conti.113 Nach dem Tod Sessas wurde das Unternehmen erfolgreich von seinen Erben weitergeführt, bei denen auch Nicol Fioravanti (1517–1588) diverse medizinische Schriften drucken liess. Die Druckerdynastie der Bindone genoss ebenfalls einen exzellenten Ruf,114 weshalb Tomaso dort bereits 1535 De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus in Auftrag gegeben hatte. Bei Agostino de’ Bindone, der neben Reiseberichten, Gedichtbänden und Schriften bekannter zeitgenössischer Schriftsteller auch antike Klassiker wie Ovid, Äsop oder Marcus Aurelius im Angebot hatte, gab Tomaso 1541 noch ein einseitiges Prognostikon mit dem Titel Ne denuo humanum defraudetur genus heraus. Bei Dominico und Petrus de Franciscis, ebenfalls Mitglieder der Druckerdynastie der Bindone, erschienen im Laufe der Jahre diverse medizinische Schriften Tomasos.115 Den Druck der volgare-Fassung der diätetischen Schrift De vita
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Druckprivilegien beantragt, vgl. Horatio F. Brown, The Venetian Printing Press, 235ff.; Brian Richardson, Printing, Writers and Readers in Renaissance Italy, 40–41; zu Venedig und Rom siehe ausführlich Christopher Witcombe, Copyright in the Renaissance. Prints and the Privilegio in Sixteenth-Century Venice and Rome, Leiden 2004. Brian Richardson, Printing, Writers and Readers in Renaissance Italy, 45. Zu Sessa vgl. Christopher Witcombe, Copyright in the Renaissance, 86. DBI, s.v.a. Conti, Natale. Conti war insbesondere für seine poetischen Werke im Stil der antiken Klassiker bekannt. Er verfasste eine Myrmicomyomachia, eine Schlacht zwischen Heuschrecken und Mäusen, angelehnt an den antiken Klassiker der Batrachyomachie, die bei Melchior Sessa verlegt wurde. Frederick John Norton, Italian Printers, 130. Dominico verlegte De vita principis, et Venetorum commoda semper : consilium (1570). Petro de Francisis gab De microcosmi affectuum, maris, foeminae, hermaphroditi, gallique
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hominis ultra 120 annos protrahenda übergab Tomaso hingegen dem Kartographen Matheus Paganus, der für den Gelehrten auch eine Gedenkmedaille anfertigen sollte.116 Der Verleger und Drucker Francesco de Patriani117 bot die populäre Schrift Come i venetiani possano vivere sempre sani auf der noch hölzernen Rialtobrücke zum Kauf an. Bei Camillo und Rutilio Borgomineri, die 1566 auch Francesco Sansovinos Origine dei cavalieri verlegten, publizierte Tomaso 1565 das medizinische Handbuch De modo collegiandi.118 Jedoch muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass heute nur noch ein kleiner Teil von Tomaso Rangones umfassenden Schriften bekannt ist, da bei mehreren Chronisten noch weitere Bücher erwähnt werden, die bisher noch nicht identifiziert werden konnten. Nicolaos Comnenos Papadopoli berichtet etwa, Tomaso habe noch eine Schrift mit dem Titel Scholia in Aetium,119 ein Traktat über die antiken Botaniker Dioskurides und Theophrast (Observationes in Dioscuridem, et Theophrastum) sowie einen Hippokrates- und Galen-Kommentar (Commentarius in librum Hippocratis De dieta, in librum Galeni De diebus criticis) verfasst.120 Auch der Historiker Pier Paolo Ginanni machte diverse bibliographische Ergänzungen und fügte unter Berufung auf die Biblioteca classica von Giorgio Durandio noch eine Abhandlung über die Chirurgie (De chirurgia tractatus) sowie ein astrologisches Traktat (Del cativo aspetto dei Pianeti ad Antonio Rola) hinzu.121 Pietro Aretino müssen 1546 ebenfalls noch weitere Schriften Tomasos bekannt gewesen sein, die er zwar nicht mit ihrem ursprünglichen Titel nennt, jedoch inhaltlich in seinem bereits zitierten Brief erwähnt.122 Eine Übersicht der bis 1561 erschienenen Schriften liefert jedoch Tomaso selbst in seinem Bibliotheksverzeichnis: Demnach hatte er anscheinend
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misera (1575) und die im gleichen Jahr erschienene Neuauflage der Syphilisschrift Malum Gallecum, depilativam, unguitivam, dentativam, nodos, ulcera […] modos omnes, et facultates heraus. Come l’huomo puo vivere piu di 120 anni (Venetijs: apud Matheum Paganum a Fide: die 25. Iulij 1557). Zu Paganus vgl. Leo Bagrow, Matheo Pagano: a Venetian Cartographer of the 16th Century : a Descriptive List of His Maps, Jenkintown 1940. Come i venetiani possano vivere sempre sani (Stampato in Venetia: appresso Francesco de’Patriani. Si vende sul ponte di Rialto: al segno dell’Ercole). Patriano verlegte alle Auflagen von 1565, 1570 und 1572. Venetijs: apud Camillum, et Rutilium Borgominerij fratres, ad signum divi Georgij 1576. Ein Druck mit dem Titel Scholia in Aetium ist bisher nicht belegt, jedoch erschienen ab 1549 die Sermones des Aetius von Aemida von Hugo Soleria (Autor). Nicolaos Comnenos Papadopoli, Historia gymnasij patavini, Band 1, 312. Tomaso Tomai, Historia di Ravenna, Ravenna 1580, Teil 4, Kap. 2. Francesco Flora (Hrsg.), Pietro Aretino, Lettere, Band 1, 684–686: Ma prima contrarieno gli acini di tutte le melograne del mondo, che si annoverassero i di voi discorsi, e de i giorni erotici, e de la crisi, e de la Cabala, e del proprio genio, e de l’armi da offesa, e de le defensive, e del trovare le figure, e de le infirmitadi non tocche da Ipocrate. A i raggi, che si sparge d’intorno il lume del sole, confaccio quell che dite de le ispirazioni, e de le indovinazioni, e del mondo, e del cielo, e di ci che c’ ne lo ingi, e ne lo ins, nel di qua, e nel di l […].
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auch Werke mit dem Titel Materno sermone, Confessiones, Papae Electio, Imperatoris Ducis venetorum und ein Receptarium secretorum (1552) verfasst und sich intensiv mit Tier- und Pflanzenkunde beschäftigte. Nach dem Vorbild Conrad Gesners (1516–1565) soll Tomaso eine umfangreiche Abhandlung über die Tierkunde geschrieben haben, welche, wie viele andere Manuskripte, nach seinem Tod verschollen bleiben sollte.123
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Ein universalgelehrter Arzt zwischen Tradition und Fortschritt
In der medizinischen Forschung hatte es ausgehend von den oberitalienischen Städten Bologna und Padua insbesondere in den Jahren 1520–1550 entscheidende Fortschritte gegeben, welche die weitere Entwicklung der Medizin und die damit verbundenen naturwissenschaftlichen Disziplinen nachhaltig beeinflussen sollten.124 Zu wesentlichen neuen Erkenntnissen war es vor allem in der anatomischen Grundlagenforschung und der medizinischen Botanik gekommen, weshalb im Anschluss an Pietro d’Abanos Conciliator vermehrt die Beziehung zwischen Philosophie und Medizin, Theorien zur Embryologie und die Verwendung exotischer materia medica diskutiert wurde. Erstmals standen einem Arzt Mitte des 16. Jahrhunderts nicht nur eine große Auswahl antiker, arabischer und scholastischer Quellen zur Verfügung, sondern auch zahlreiche zeitgenössische Kompendien, die sich kritisch mit dem Wissen ihrer Vorgänger auseinandersetzten.125 Der venezianische Arzt Niccol Mass riet seinen Studenten daher bezeichnenderweise, optimalen Nutzen aus allen Autoren zu zie123 Es handelt sich um ein Manuskript mit dem Titel Tomas Philologus Ravena avium volatilium, quadrupedum, piscium aquatilium, simplicium, vgl. Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 13r. Noch in seinem Testament sollte Tomaso seinen Bibliothekar Natale Conti beauftragen, die Arbeit an einem nicht genauer beschriebenen Manuskript zu vervollständigen. In Venedig waren Tomasos Kenntnisse auf dem Gebiet der Naturkunde anscheinend sehr geschätzt, weshalb Natale Conti dem acutissimo ac peritissimo naturae investigatori Thomae Philologo Ravennati auch eine lateinische Übersetzung des Menander Laodicense widmete (De genere demonstrativo libri duo, a Natale de comitibus veneto nunc primum e graeco in latinum ad omnium utilitate translati, et multis in locis partim erroribus purgati, partim ubi fuerant corrupti, in integrum restitui, Venetijs 1558). 124 Klaus Bergdolt, Zwischen »scientia« und »studia humanitatis«, passim; Katharine Park, Doctors and Medicine in Early Renaissance Florence, Princeton 1985; Walter Pagel, From Paracelsus to van Helmont: Studies in Renaissance Medicine and Science, London 1986; Ian MacLean, Logic, Signs and Nature in the Renaissance: the Case of Learned Medicine, Cambridge 2007. 125 Nancy Siraisi, Renaissance Critiques of Medicine, Physiology, and Anatomy, in: Dies. (Hrsg.), Medicine and the Italian Universities, 1250–1600, Leiden/Boston/Köln 2001, 185– 202.
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hen.126 Masss Haltung reflektiert auch die Einstellung Tomasos, der sich wie viele Ärzte angesichts dieser Entwicklungen mit einer Vielzahl von neuen Erkenntnissen und Therapiemöglichkeiten konfrontiert sah. Der medizinische Fortschritt stellte für den Gelehrten jedoch keine epochenspezifische Entwicklung dar127 und hatte auch nicht den von Andreas Vesalius oder Jean Fernel (1497–1558) beschworenen Umbruchscharakter,128 sondern war vielmehr bereits seit der Antike als Prozess erkennbar.129 Der Gelehrte war sich bewusst, dass auch seine Zeit nur eine Übergangsphase im Entwicklungsprozess der Heilkunst darstellte und schrieb daher noch als über achtzig Jahre alter Mann in der vierten Auflage seiner Syphilisschrift (1575): Sicher ist, dass von den Alten nicht alles beschrieben worden, sondern vielmehr übersehen worden war. […] Darüber hinaus hat man später durch sorgfältiges Reflektieren vieles herausgefunden, und vieles mehr kann noch herausgefunden werden. Vieles war bei den Älteren zudem vorhanden und ist den Heutigen unbekannt.130
Der Nutzen des (medizinischen) Experiments, das in der Antike fast ausschließlich auf der Bestätigung der eigenen Ansichten oder der Widerlegung fremder beruht hatte,131 war für Tomaso mit dem medizinischen Fortschrittsgedanken dieser Zeit untrennbar verbunden. Die Notwendigkeit experimenteller Forschungen beruhte dabei vor allem auf der Erkenntnis der täuschenden Sinneswahrnehmung, da der Mensch als »Krone der Schöpfung« nach damaliger Vorstellung zwar über eine höhere Intelligenz verfügte, jedoch bei weitem nicht alles durch seine Sinne erfassen konnte.132 Bereits im 12. Jahrhundert hatte Hugo 126 Epistolarum medicinalium tomus alter, Venetijs 1558, c. 1–8. 127 De vita hominis (1550), c. 33r: Hip. quidem primus omnium quos scimus cognovit et principia demum demonstrationum, quae postea Aristoteles tractavit ab illo primo scripta est invenire […]; ebd., c. 33v : Asserit enim Galenus aliquem post eum inveniri posse […]. 128 Zum Umbruchscharakter der medizinischen »Achsenzeit« vgl. Klaus Bergdolt, Zwischen »scientia« und »studia humanitatis«, bes. 6–8. 129 De vita hominis (1550), c. 32v ; ebd., c. 40v : […] nam musculum supra plamam manus expansum solus cognovit Gal. […]; ebd., c. 33v : Galenus primus per somnum invenit cum curaret quendam hepatis, ac lienis oppilationem habentem facilem, seu salvatellam venam inter auricularem et medicum tendentem magis versus medium digitis flobotomare. 130 De morbo epidemico (1575), Vorwort: Certum enim est, non omnia fuisse ab antiquis descripta, vel potius a veteribus multa fuisse oblita. […] De quibus diligentius prudentissima consideratione, multa post antiquos inventa sunt, et plura inveniri posse, multaque nunc extare veteribus, ac presentibus ignota. Auf diesen Punkt ging Tomaso bereits in dem Zusatz De Depilativa, Dentativa (1538) ein: Multa enim post scripta, tum ab antiquioribus, tum a neotericis, nobisque ipsis, ac coeteris adhuc viventibus inventa sunt et plura invenientur. 131 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 27; zum Experiment in der Antike vgl. ausführlich Geoffrey Ernest Lloyd (Hrsg.), Methods and Problems in Greek Science, Cambridge 1993. 132 Bereits in der Antike war der (täuschende) Einfluss der Sinne und ihre Unzuverlässigkeit auf die Erkenntnislehre diskutiert worden, vgl. Geoffrey Ernest Lloyd, Observational Error in Later Greek Science, in: Ders. (Hrsg.), Methods and Problems, 299–332; Wolfgang Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart
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von Sankt Viktor (1097–1141) die Unzulänglichkeit der äußeren menschlichen Sinnesorgane für die Erkenntnis größerer Zusammenhänge erkannt und aus diesem Grund eine Form des inneren Sehens und Reisens empfohlen.133 Dabei spielten die grundlegenden antithetischen Begriffe der menschlichen ratio (Vernunft) und des sensus (Sinn) eine wichtige Rolle.134 Wie bereits in der Oratio verdeutlichte Tomaso auch in seinen medizinischen Schriften, dass die mit den Sinnen gewonnenen Eindrücke oft der Vernunft widersprechen.135 Diesem täuschenden Sinneseindruck muss folglich die Vernunft hinzugefügt, die Ursache stets hinterfragt und diese für den Menschen unfassbaren Dinge durch Werkzeuge und Experimente untersucht werden, um ein stichhaltiges Ergebnis zu erzielen.136 Im Zuge dieser Forschungen griffen Gelehrte nun wieder vermehrt auf die mittelalterlichen naturwissenschaftlichen Autoren wie John Peckham (1230–1292) oder Roger Bacon (1214–1249) zurück,137 die bereits Ansätze wissenschaftlichen Experimentierens propagiert hatten, von Petrarca und seinen Schülern138 jedoch noch kritisiert worden waren.
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1987. Dass die Sinne täuschend sind zeigt sich auch darin, dass manche Tiere schärfere Sinne haben (De vita hominis (1550), c. 12r). Hierzu Christel Meier, Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter, in: Wolfgang Harms (Hrsg.), Text und Bild, Bild und Text, Stuttgart 1990, 35–65; Ralf W. M. Stammberger, Die Theorie der Sinneswahrnehmung bei Hugo von Sankt Viktor und Bernhard von Clairveaux, Revista portuguesa di Filosofia 60, 2004, 687–706. De vita hominis (1550), c. 10r : Et de quo fit investigatio, duobus modis experitur, et declaratur experimento, et ratione, vel de per se separatim, vel insimul; ebd., c. 12r : Certificamur autem ratione, quae nos ad certam exploratamque disciplinam tantum trahit […]. Ebd., c. 12r : Nam si res omnes caderent sensibus nostris manifeste non dubitaretur in aliquo […]. Ebd., c. 9v : Inest enim animis nostris quaedam vis perspicua, et capax rerum omnium. […] Si autem res sint, quae sensum effugiant, necesse est nobis addamus ad sensum ratiocinationem […]; ebd., c. 33v : Multa enim nos in dies invenimus ratione, ac experimento, quae forte ab aliis inventa fuere, sed a nulla scripta quem noverimus; ebd., c. 34r : Contingere nempe solet quod in una aetate venustum, et lepidum cernitur, in altera incultum, et sine gratiis existimetur. Zur scholastischen Medizin vgl. Danielle Jacquart, Die scholastische Medizin, in: Mirko Grmek (Hrsg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, München 1999, 216–259; zur Rezeption in der Frühen Neuzeit siehe Klaus Bergdolt, Naturwissenschaften und humanistisches Selbstverständnis, in: Thomas Maissen/Gerrit Walther (Hrsg.), Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, Göttingen 2006, 103–124, bes. 123–124; Ders., Zwischen »scientia« und »studia humanitatis«, bes. 18–19. Zu Belegen in Tomasos Bibliothek vgl. das Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 13vff. unter LOGICI LATINI seu DIALECTICI. Klaus Bergdolt, Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frühhumanismus, Weinheim 1992, 41–76; Ders., Naturwissenschaften und humanistisches Selbstverständnis, bes. 110–114; Ders., Der Dialog mit Ärzten aus Sicht Petrarcas, in: Bodo Guthmüller/Wolfgang G. Müller (Hrsg.), Dialog
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Den Ausgangspunkt für diese vermehrten medizinischen und naturwissenschaftlichen Forschungen hatte vor allem die durch den Humanismus ausgelöste Erkenntnis der Mangelhaftigkeit antiker Quellen geliefert, nachdem bisher unbekannte Werke Galens und Hippokrates’ übersetzt und ediert worden waren, darunter die bedeutende Hippokratische Schrift Über Lüfte, Gewässer und Ortsanlagen.139 Exemplarisch hatte bereits Niccol Leonicenos 1492 in Ferrara erschienener Plinius-Kommentar Plinij et aliorum autorum, qui de simplicibus medicamentibus scripserunt die Mangelhaftigkeit antiker Quellen vor Augen geführt, dessen Ansichten sich bald bekannte Gelehrte wie Gianfrancesco Pico della Mirandola, Henricus Cornelius Agrippa von Nettesheim, Juan Luis Vives oder Girolamo Cardano anschließen sollten.140 Diese Arzt-Humanisten bemühten sich neben der Erschließung unbekannter griechischer Quellentexte jedoch auch um eine philologisch korrekte Bearbeitung und Übertragung bereits bekannter Texte ins Lateinische: Vier Übersetzungen allein des Corpus Hippocraticum sollten im Verlauf des 16. Jahrhunderts erscheinen141 und zwischen 1530 und 1570 setzte unter Mitarbeit des Anatomen Andreas Vesalius eine intensive Auseinandersetzung und editorische Bearbeitung der Schriften Galens unter Berücksichtigung seiner Kommentatoren ein.142 Auch Tomaso kritisierte die ausschließliche Lektüre der antiken Schriftsteller, da dies zu keinen aussagekräftigen Ergebnissen mehr führen könnte,143 weshalb ein guter Arzt stets erfinderisch (ingeniosus) sein musste, die Quellen nach bestem Vermögen ergänzen (suppleat), seiner Erfahrung (Empirie) folgen und die Schriften der Antike kritisch reflektieren sollte, statt diese vorbehaltlos zu übernehmen.144 Allerdings führte Tomaso die Mangelhaftigkeit der Quellen nicht ausschließlich auf fehlendes Verständnis von Seiten der antiken Ärzte zurück, sondern auch auf die Tatsache, dass nicht alle Schriften erhalten waren
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und Gesprächskultur in der Renaissance, Wiesbaden 2004, 47–58; Ders., Zwischen »scientia« und »studia humanitatis«, 17–18. Horst Rüdiger, Die Wiederentdeckung der antiken Literatur im Zeitalter der Renaissance, Stolberg 1961, 511–580; Genevieve Miller, »Airs, Waters and Places« in History, Journal of the History of Medicine 17, 1962, 129–140; Jacques Jouanna, Greek Medicine from Hippokrates to Galen, 155–172. Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 28. In Venedig erstmals 1526; zur Rezeptionsgeschichte vgl. Werner Golder, Hippokrates und das Corpus Hippocraticum, Würzburg 2007, 201–205. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 325; zu Vesalius’ Beitrag siehe Klaus Bergdolt, Zwischen »scientia« und »studia humanitatis«, bes. 9 und Anm. 26. De vita hominis (1550), c. 10r ; ebd., c. 30v : Non debet itaque solum omnino scriptis ab antiquis medicus insistere […]. Ebd., c. 33v : Hoc enim est necessarium nobis propter artis magnitudinem, cum non possumus uti unius hominis vita ad inventionem omnium, accervamus enim ea, et ab omnibus colligimus; ebd., c. 41r : Imitari igitur eos potius debemus de aliqua de optime sentientes quam usum aliquem sine ratione factum […]; ebd., c. 41r : […] hoc enim vere esset alienis oculis videre, alienis auribus audire, alienis naribus odorari […].
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und auch nicht jeder Bereich der Medizin von den antiken Ärzten behandelt worden war.145 Und doch sollten die Kompendien der antiken Ärzte trotz der Kritik der Renaissancegelehrten noch bis ins 18. Jahrhundert geschätzte medizinische Referenzwerke bleiben, weshalb auch Tomaso die Schriften des Hippokrates, Celsus und vor allem Galens konsultierte, von denen er fünf verschiedene Editionen besaß. Zur Ergänzung der antiken Quellen zog er jedoch häufig die arabischen Kommentatoren (Rhazes, Avicenna, Albukazis etc.) heran, die er im Gegensatz zu den anti-arabischen Tendenzen vieler Humanisten als vollwertige Quellen und Ergänzungen der abendländischen Medizin schätzte.146 Bereits im 15. Jahrhundert war vor allem das Körperliche vermehrt ins Zentrum künstlerischer und humanistisch-medizinischer Diskussionen gerückt, stellte doch die Perfektion des menschlichen Körpers durch die Relation von Makro- und Mikrokosmos Gottes Schöpfungskraft unter Beweis.147 Künstler wie Andrea del Verrocchio (1436–1488), Antonio Pollaiuolo (1432–1498), Leonardo da Vinci (1452–1519) oder Michelangelo Buonarotti (1575–1664) widmeten sich vermehrt anatomischen Studien, um die Beschaffenheit und Funktion von Sehnen und Muskeln zu verstehen.148 Für Tomaso hatte die anatomische Forschung große Bedeutung, da man die Wunder der Seele nur dann verstehen könne, wenn man genau den anatomischen Aufbau des Körpers kenne.149 Als Grundlage für Sektionen hatte Medizinern lange nur Mondino dei Liuzzis Anathomia und durch die Überlieferungslage fragmentarisch erhaltene GalenExzerpte zur Verfügung gestanden, weshalb die quellenkritischen Arbeiten der Humanisten auch die Zergliederungskunst vor neue Herausforderungen stellen sollten. Bereits der Bologneser Arzt und Chirurg Berengario da Carpi (1460– 1530) hatte wichtige Beiträge zur menschlichen Anatomie vorgelegt, darunter De fractura cranei (1518), einen Kommentar zu Mondino (1521), die Isagogae (1530) und das postum erschienene anatomische Handbuch Anatomia Carpi (1535), welches erstmals durch detaillierte Illustrationen gekennzeichnet war. In Tomasos Bibliothek befanden sich in mehrfacher Ausführung alle wichtigen Fachbücher zur Anatomie und Chirurgie wie beispielsweise die Chirurgia (1534) Johannes de Vigos’ sowie der Mondino-Kommentar und die Isagogae da Car145 Ebd., c. 31r–32r. 146 Ebd., c. 31r ; 33r; c. 37v. 147 Klaus Bergdolt, Naturwissenschaften und humanistisches Selbstverständnis, 117–118; Ders., Zwischen »scientia« und »studia humanitatis«, 8–9; 13ff.; 25–26. 148 Klaus Bergdolt, Naturwissenschaften und humanistisches Selbstverständnis, 122–123; Domenico Laurenza, De figura umana. Fisiognomia, anatomia e arte in Leonardo, Firenze 2001. 149 De vita hominis (1550), c. 8v : Humanum dein corpus de anathomia viventium cum sit compositum ad hoc, ut substentaculum motuum, et operationum diversarum ex multis, ac diversis instrumentis coniungitur nobilissime animae. Zu Entdeckungen in der Anatomie seit der Antike vgl. ebd., c. 32vff.
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pis.150 Vor allem die Leistungen des Flamen Andreas Vesalius beeindruckten Tomaso so sehr, dass dessen gesammelte Werke laut der Testamentsverordnung an seinem Totenbett liegen sollten.151 Das noch heute erhaltene Buch aus kostbarem rotem Leder mit vergoldetem Druck und Besitzervermerk152 sollte dabei eine Doppeltafel mit dem Aufbau des Muskelskeletts zeigen.153 Im Besitz Tomasos befanden sich auch mehrere anatomische Tafelwerke, die zum Verständnis des menschlichen Körpers beitragen sollten, etwa zum Lauf der (Herz-)Venen, dem Knochenbau oder den Augenkrankheiten (Oculorum morbi tabulae due Fuchsij).154 Auch die zahlreichen neuen Erkenntnisse in ärztlicher Botanik155 und Zoologie156 faszinierten Tomaso und regten ihn zur intensiven Beschäftigung an.157 In der Tradition der antiken Enzyklopädistik gab der Gelehrte daher in seinen diätetischen Schriften einen Überblick über außergewöhnliche Tiere und Pflanzen, bisher unbekannte Fischarten, seltene Obst- und Gemüsesorten und bisher unbekannte Gewürze (herba nova). Er beschäftigte sich mit der antiparasitären Wirkung der Koralle oder der Tormentilla bei Magen-Darm-Beschwerden, den Heilkräften von Aloe und Rosenblättern und hob die Entdeckung des Kermes hervor, eines bereits in der Antike geschätzten, besonders kostbaren Farbstoffes, der aus der Kermes-Schildlaus gewonnen wurde. 1540 150 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 35v und c. 38v (GiuntaEdition). 151 Testament (ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172), c. 5r/v. 152 BMV 221.D.10–1–2. Der Band umfasst De humani corporis fabrica libri septem und De humani corporis fabrica librorum Epitome. 153 ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 5r/v : Libri autem sint aperti sic defferendi Historia magna urbe Ravena cartis 142 a capite, Anatome Vesalijque Epitome tertia et secunda humana figura masculos [sic] demontrante bini complete […]. Es handelt sich folglich um die Tafel (Tertia) musculos ostendentium figura und die gegenüberliegende Tafel (Secunda) commonstrandis musculis paratarum figura, die ebenfalls die Muskeln des menschlichen Körpers zeigt. 154 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 7v. Es handelt sich um die 1538 publizierte Tabelle der Augenkrankheiten von Leonhard Fuchs. 155 Einen Überblick bietet Dietrich von Engelhardt, Luca Ghini (um 1490–1556) und die Botanik des 16. Jahrhunderts. Leben, Initiativen, Kontakte, Resonanzen, Medizinhistorisches Journal 30, 1995, 3–49; Richard Palmer, La botanica medica nell’Italia del Nord durante il Rinascimento, in: Di sana pianta: erbari e taccuini di sanit. Le radici storiche della nuova farmacologia, Modena 1988, 55–60; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 344–345. 156 Einen Überblick liefert Änne Bäumer, Geschichte der Biologie: Zoologie in der Renaissance, Renaissance der Zoologie, Frankfurt a. M. 1991; Karel A. Enenkel/Paulus Johannes Smith (Hrsg.), Early Modern Zoology. The Construction of Animals in Science, Literature and Visual Arts, Leiden 2007. 157 De vita hominis (1550), c. 34rff. Auch Girolamo Cardano nannte lexikographisch Tiere und Pflanzen in der Tradition des Tacuinum sanitatis und Galens, vgl. Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 88ff.
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war in Venedig das erste wichtige Buch zur Färberei erschienen, Giovanni Ventura Rosettis Plictho De l’arte de tintori, in dem auch die Scharlachfärbung mit Kermes behandelt worden war, die nach und nach jedoch von Cochenille verdrängt werden sollte.158 Tomaso widmete sich ausführlich den gesundheitlichen Vor- und Nachteilen neu eingeführter exotischer Gemüsesorten wie der Tomate, die im Zuge von Hernan Cortez’ Eroberung (1519–1521) des Aztekenreiches Mitte des 16. Jahrhunderts aus Amerika nach Europa gekommen war. Erwähnt wurde das Nachtschattengewächs von dem Botaniker Mattioli zwar bereits in den Discorsi della medicina materiale (1544), die Bezeichnung pomi d’oro erhielt die Tomate jedoch erst in der überarbeiteten Edition von 1554.159 Tomaso konnte diese Entwicklungen aus nächster Nähe verfolgen, da durch die weitreichenden Handelsverbindungen Venedigs in die Neue Welt und nach Nordafrika viele dieser seltenen oder noch unbekannten Waren zuerst in die Lagunenstadt gelangten.160 Bereits Ende der 1530er Jahre schlossen Giovanni Battista Ramusio und Fernndez de Oviedo mit dem Venezianer Antonio Priuli einen Vertrag für eine Handelsniederlassung amerikanischer Importwaren in Italien.161 Die Patrizier Pietro Bembo (1470–1547) und Pietro Antonio Michiel (1510– 1576) unterhielten Privatgärten zu Forschungszwecken162 und 1545 wurde in 158 Wolfgang Müller, Textilien. Kulturgeschichte von Stoffen und Farben, Landsberg 1997, 51; 89–91; 97–99; 124. 159 Wie Mattioli klassifizierte auch der venezianische Botaniker Pietro Antonio Michiel, der in San Trovaso einen Privatgarten angelegt hatte, die Tomate in seinem botanischen Handbuch als Eierpflanze, vgl. hierzu David Gentilcore, Pomodoro! A History of the Tomato in Italy, New York/Cichester 2010, 1–2; 8–9; Maurizio Sentieri/Guido N. Zazzu, I semi dell’Edorado. L’alimentazione in Europa dopo la scoperta dell’America, Bari 1992, 121. 160 De vita hominis (1550), c. 39r/v : Sal naphticum non habemus. Sycomorum Venetijs invenimus ac Romae. Costo caremus, adhuc facile tamen ex Arabia facilius ex India facillimum ex Syria Venetias ferri. Von Venedig aus gelangten viele Drogen auch nach Deutschland, vgl. etwa Karl-Heinz Bartels, Drogenhandel und apothekenrechtliche Beziehungen zwischen Venedig und Nürnberg, Frankfurt a. M. 1966. 161 Jos Pardo Toms, Obras espanolas sobre historia natural y materia mdica americanas en la Italia del siglo XVI, Asclepio 43, 1991, 51–84, 65. Eine Übersicht bietet auch Annerose Menninger, Genuss im Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.– 19. Jahrhundert), Stuttgart 2004, 99–116. 162 Dietrich von Engelhardt, Luca Ghini (um 1490–1556) und die Botanik, 3–49, 18. Zu Michiel und seinem Garten vgl. Giovanni Marsili, Di Pier Antonio Michiel, botanico insigne del secolo XVI e di sua opera manoscritta, Venezia 1845, 22; zur Bekanntschaft von Michiel und Ulisse Aldrovandi siehe Giovanni Battista de Toni, Contributo alla conoscenza delle relazioni del patrizio veneziano Pietro Antonio Michiel con Ulisse Aldrovandi, Memorie dell’ Accademia di Scienze, Lettere ed Arti in Modena 9, 1910, 21–70. Der erste medizinische Garten entstand in Venedig bereits 1330, als der Arzt Gualteri die Erlaubnis erhielt, Medizinalpflanzen anzupflanzen (BMV, Ms. It. Cl. II, Nr. 23–60 [=4860–4864]). 1581 gab es in Venedig mehr als 200 Privatgärten, vgl. J. Dixon Hunt, The Venetian City Garden. Place, Typology, and Perception, Basel 2009, 52.
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Padua der erste botanische Garten Europas an der medizinischen Fakultät angelegt, in dem viele exotische Pflanzen zu Lehrzwecken angepflanzt wurden.163 Tomaso, der ebenfalls über einen Privatgarten in Padua verfügte, betonte daher stets das lückenhafte Wissen der antiken Botaniker Theophrast von Eresos (373– 288 v. Chr.), Plinius (23–79 n. Chr.) oder Dioskurides und hielt es für möglich, dass letzterer nicht einmal den hundertsten Teil der Pflanzen beschrieben hatte, die es auf der Welt gäbe.164 Hinter den spanischen Entdeckungsreisen hatte jedoch nicht nur wissenschaftliches Interesse gestanden, sondern auch die Suche nach einem universellen Heilmittel, was sich in zeitgenössischen utopischen Städtebildern niederschlagen sollte, etwa den Mondi (1552) von Anton Francesco Doni (1513–1574). Nach dessen Vorstellungen sollte sich jeder Bewohner der Idealstadt im Fall einer Krankheit in die Straße der Hospitäler begeben und innerhalb einer Stunde von jedem Leiden durch fähige Ärzte geheilt werden.165 Die Entdecker waren auf dem neuen Kontinent bei ihrer Suche nach wertvollen Metallen und Gewürzen auch auf zahlreiche bisher unbekannte Drogen gestoßen, und die Erkenntnis um die hochentwickelte Kultur und therapeutische Praxis der einheimischen Indianerstämme wie der Azteken und Inkas hatte die Conquistadores in ihrem Glauben bestärkt, in der einheimischen Fauna und Flora ein universelles Heilmittel zu finden.166 Jedoch wurden diese Drogen, die sich zunehmend durch die gut vernetzten Handelsströme über Spanien nach Frankreich, England, Deutschland und vor allem nach Italien ausbreiten sollten,167 anfänglich nur schleppend von der vorwiegend galenisch geprägten europäischen Medizin akzeptiert.168 Viele dieser Entdeckungen schlugen sich jedoch bereits zwischen 1540 und 1570 in wissenschaftlichen Publikationen der Zeit nieder, welche die Werke des 163 Alessandro Minelli, The Botanical Garden of Padova (1545–1995), Venezia 1988. 164 De vita hominis (1550), c. 32v : Certissimum est centesimam herbarum partem universo orbe constantium non esse descriptam a Dioscoride […]. 165 Zu Utopien in der Renaissance vgl. Carlo Curcio (Hrsg.), Utopisti e riformatori sociali del Cinquecento: A. F. Doni – U. Foglietta – F. Patrizi da Cherso – L. Agostini, Bologna 1941; Ders., Doni’s »New World«, in: Paul F. Grendler (Hrsg.), Culture and Censorship in Late Renaissance Italy and France, London 1981, 479–494. 166 Francisco Guerra, Aztec Medicine, Medical History 10, 1966, 315–338; Ders., Maya Medicine, Medical History 8, 1964, 31–43; Annerose Menninger, Genuss im Wandel, 114. 167 Francisco Guerra, Drugs from the Indies and the Political Economy of the Sixteenth Century, in: Marcel Florkin (Hrsg.), Materia Medica in the XVIth Century, Oxford/New York 1966, 29–54; Marcy Norton, Sacred Gifts, Profane Pleasures: a History of Tobacco and Chocolate in the Atlantic World, Ithaca 2008; William Eamon, The Professor of Secrets, 74– 76, 270–276; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 187–190. 168 Joseph Ewan, The Columbian Discoveries and the Growth of Botanical Ideas with Special Reference to the Sixteenth Century, in: Fredi Chiappelli et al. (Hrsg.), First Images of America: the Impact of the New World, Berkeley 1976, Band 2, 807–812; Teresa HuguetTermes, New World Materia Medica in Spanish Renaissance Medicine: From Scholary Reception to Practical Impact, Medical History 45, 2001, 359–376, bes. 361.
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Dioskurides ergänzen sollten und auch von Tomaso regelmäßig konsultiert wurden. Dazu gehörten Kräuterbücher und botanische Enzyklopädien, die sich nun vermehrter Beliebtheit erfreuten und sich nicht nur durch genaue Beschreibungen, sondern erstmals auch durch detaillierte Illustrationen in bestechender Qualität auszeichneten. Dazu gehörten insbesondere Jean Ruels (1474–1537) De natura stirpium libri tres, Pietro Andrea Mattiolis (1501–1577) Commentarij in sex libros Pedacij Dioscoridis oder Leonhard Fuchs’ (1501–1566) De historia stirpium commentarij.169 Vor allem die Leistungen Mattiolis würdigte Tomaso, da er in seinem Testament anordnete, die Seiten 914 und 915 der 1565 in Venedig erschienenen Ausgabe der Commentarij an seinem Totenbett aufgeschlagen zu plazieren. Diese zeigten eine Darstellung der weiblichen und männlichen Peonie (Peonia mascula et foemina),170 nach damaliger Vorstellung ein Zeichen der Vornehmheit und des Reichtums. Besondere Verdienste in der Erschließung neuer Drogen sollten dem aus Sevilla stammenden Arzt Nicols Monardes (ca. 1493–1588) zukommen, der ausländische Heilpflanzen nicht nur in einem eigens angelegten Privatgarten anpflanzte, sondern auch ein eigenes Drogenmuseum unterhielt.171 Monardes publizierte zwischen 1565 und 1571 in drei erweiterten Auflagen sein bekanntes Kräuterbuch, das in mehrere Sprachen übersetzt werden sollte. Darin befand sich auch eine lange Liste amerikanischer Pflanzen, die zur »Syphilis«-Therapie eingesetzt wurden. Eine umfassende Erschließung aztekischer Heilpflanzen sollte jedoch erst Francisco Hernandez (1514–1587), dem Leibarzt König Philipps II. (1527–1598), gelingen, der 1570 die erste wissenschaftliche Expedition in die Neue Welt unternahm.172 Auch viele bisher unerforschte Tierarten erregten im 16. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Naturforscher, weshalb sich die Zoologie und Ornithologie mehr und mehr als eigenständige Disziplinen zu etablieren begannen. Außer 169 Jan de Koning, Development of Botany in the Sixteenth Century, in: Alessandro Minelli (Hrsg.), The Botanical Garden of Padua (1545–1595), Venezia 1995,11–31; Karl Eugen Heilmann, Kräuterbücher in Bild und Geschichte, 2München/Allach 1973; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum. Zur therapeutischen Verwendung des Guajak vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990, 45–51; zu Mattioli vgl. Sara Ferri (Hrsg.), Pietro Andrea Mattioli, Siena 1501-Trento 1578. La vita e le opere con l’identificazione delle piante, Perugia 1997. In Tomasos Bibliothek fanden sich neben den Klassikern wie Theophrasts De Plantijs, dem 6. Band der Opera omnia des Aristoteles (Venetijs 1551–1553), der Naturalis Historia des Plinius (Venetijs 1536–38) auch der Dioskurides-Kommentar Mattiolis und die Werke von Ermolao Barbaro, Jean Ruel oder Marcello Virgilio. 170 Die seit der Antike bekannten Pfingstrosenarten wurden in eine weibliche Blume (echte Pfingstrose) und eine männliche Pfingstrose (Korallen-Pfingstrose) eingeteilt. 171 Zu Monardes vgl. Annerose Menninger, Genuss im Wandel, 113–114; Walter Sneader, Drug Discovery. A History, Chichester 2005, 33f. 172 Hernadez’ Werk erschien jedoch erst postum unter dem Titel Plantas y Animales de la Nueva Espana, y sus virtudes por Francisco Hernandez, y de Latin en Romance por Fr. Francisco Ximenez, Mexico 1615.
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dem Züricher Naturforscher Conrad Gesner (1516–1565)173 tat sich auf diesem Gebiet insbesondere der Italiener Ulisse Aldrovanti (1522–1605) hervor, der in Bologna Jura, in Padua Philosophie und in Rom Medizin studiert hatte und ab 1556 in Bologna zusammen mit Cesare Odoni als Professor für medizinische Botanik wirkte.174 Aldrovanti lehrte von 1571 bis 1600 auch am Lehrstuhl für Medizin, für den er 1567 nach dem Vorbild Paduas einen botanischen Garten anlegte. Der Gelehrte publizierte ein elfbändiges zoologisches Sammelwerk (Historia animalium), in dem er sich jedoch vorwiegend mit Vögeln, Insekten und niederen Tieren beschäftigte.175 Tomaso besaß nicht nur alle grundlegenden Werke zur Zoologie,176 sondern verfasste auch ein Kompendium, in dem er sich sowohl mit exotischen Tierarten als auch mit Fabeltieren beschäftigte, darunter dem norditalienische Bergregionen bewohnenden Misch- und Fabelwesen Dahu oder dem Bock-Hirschen (hircocervus).177 Auch neue Vogelarten wie der zierliche Paradiesvogel (paradisaeidae),178 der von Conrad Gesner 1563 zu den »Meerwundern« gerechnete Mönchsfisch (chromis chromis)179 oder die Seegurke (holothuria) sollten in diesem Kompendium Beachtung finden.180 173 Gesner publizierte zwischen 1551 und 1558 die fünfbändige Historia animalium, vgl. Caroline Aleid Gmelig-Nijboer, Conrad Gesners Historia animalium. An Inventory of Renaissance Zoology, Meppel 1977. 174 DBI, s.v.a. Aldrovanti, Ulisse; Bruno Sabelli/Stefano Tommasini, La zoologia di Ulisse Aldrovanti, in: Antonino Biancastella (Hrsg.), Animali e creature mostruose di Ulisse Aldrovanti, Milano 2004, 24–43; Giuseppe Olmi, Ulisse Aldrovandi: scienza e natura nel secondo Cinquecento, Trento 1976. 175 Die erschienenen Bände waren die Ornithologiae libri 12 (Bologna 1599–1603, 3 Bde.); De animalibus insectis libri 7 (1602, zuletzt 1638) und De reliquis animalibus exsanguinibus libri 4 (1606, zuletzt 1654). 176 In Tomasos Bibliothek (Bibliotheksverzeichnis (BMV Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282], c. 7r, c. 108r, c. 116r und c. 119r) befanden sich die grundlegenden Werke zur Zoologie und Ornithologie, darunter die Historia animalium des Aristoteles (1545), De animalibus Michaele Scoto interprete von Avicenna (Venetijs o. Datum) und Sextus Placidus’ De animalibus, bestijs, pecoribus et avibus e scholia sowie die Werke von Leonard Fuchs (1542) sowie Paolo Giovios De romanis piscibus libellus (1528). Es ist jedoch unbekannt, ob Tomaso selbst auch ein Naturalienkabinett unterhielt. 177 Erwähnungen des hircocervus stammen bereits aus der Antike, vgl. Reinhold Rieger, Contradictio. Theorien und Bewertungen des Widerspruchs in der Theologie des Mittelalters, Tübingen 2005, 73–74. In botanischen und zoologischen Traktaten der Frühen Neuzeit wurde der hircocervus etwa im Ortus sanitatis erwähnt. 178 Der bekannte Veroneser Naturforscher Francesco Calzolari hatte ein Naturalienkabinett eingerichtet, in dem sich ein Paradiesvogel befand, den er von Daniele Barbaro als Geschenk erhalten hatte, vgl. Giorgio Ferrari, Le opere a stampa del Guilandino. Per un paragrafo dell’editoria scientifica padovana del pieno Cinquecento, in: Antonio Barzon (Hrsg.), Libri e stampatori in Padova: miscellanea di studi storici in onore di mons. G. Bellini: tipografo, editore, libraio, Padova 1959, 377–463, bes. 420. 179 Zum sagenhaften Mönchsfisch vgl. Leander Petzoldt, Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, 3München 2003, 127. 180 ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 5r/v. Zur Entdeckungsgeschichte der Para-
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Abb. 16: Neben dem Mönchsfisch gehörte auch der »Seebischof« zu den sogenannten Meerwundern, die Eingang in zeitgenössische zoologische Kompendien fanden. Darstellung aus Guillaume Rondelets (1507–1566) Libri de piscibus marinis, in quibus verae piscium effigies expressae sunt, Lugduni 1554.
8.4.1 Die diagnostischen Grundsätze Erst die späteren Schriften Tomasos erlauben hingegen einen Einblick in seine Diagnosebildung und therapeutische Methodik. Der Gelehrte verfasste zu diesem Thema zwei umfassende medizinische Handbücher, von denen das frühere mit dem vielsagenden Titel De modo collegiandi erst 1565 erschien, als der Autor bereits 72 Jahre alt war. Es handelt sich hierbei um ein umfassendes medizinisches Kompendium,181 in dem Physiologie, Pathologie, Semiotik und diverse Therapiemaßnahmen ausführlich behandelt werden. Vergleichbare medizinische Handbücher hatte es allerdings schon früher gegeben, etwa aus der Feder des
diesvögel, die seit 1540 über Lissabon nach Europa gelangten und auch in das Kompendium Aldrovantis Eingang fanden, vgl. Erwin Stresemann, Die Entdeckungsgeschichte der Paradiesvögel, Journal für Ornithologie 95, 1954, 263–291. 181 BMV, Misc. 3531 (3). Vollständiger Titel: Thomas Philologus Ravennas Eques Medicus Clarissimus De modo collegiandi, Venetijs 1565. Der Titel ist wohl als Programm zu verstehen, das Tomasos (Lebens-) Erfahrungen widerspiegeln sollte. Vgl. zur Bedeutung von Titeln wissenschaftlicher Traktate in der Frühen Neuzeit Detlef Haberland, Engelbert Kaempfers Amoenitates Exoticae. Die Strategie des Autors und der »enzyklopädische« Buchtyp, in: Ders. (Hrsg.), Engelbert Kaempfers Amoenitates Exoticae von 1712. Wissenschaftliche Innovation, humanistische Gelehrsamkeit und neutlateinische Sprachkunst, Wiesbaden 2014, 33–56, bes. 37–39. Mit der Titelgebung setzte sich eingehend der humanistische Gelehrte Julius Caesar Scaliger in den Sieben Büchern der Dichtkunst auseinander, vgl. Luc Deitz (Hrsg.), Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, Stuttgart-Bad-Cannstatt 1995 (Band 3), Kap. 95–126, 220f.
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paduanischen Professors Federicus Chrysogonus (1472–1538),182 der 1528 ein Kompendium mit einem ähnlichen Titel verfasst hatte, oder das stark galenisch geprägte medizinische Handbuch Girolamo Cardanos von 1564, die Ars curandi parva.183 De modo collegiandi stellte wohl hauptsächlich ein Fachbuch für Ärzte dar, in dem zahlreiche fundierte und nützliche Ratschläge hinsichtlich der richtigen Konsultation, des Umgangs mit dem Patienten und der geeigneten Therapieformen gegeben werden.184 Darüber hinaus enthält das Kompendium Rezepte von Therapeutika, diverse Fallstudien und Beobachtungen zum therapeutischen Prozess. Tomaso widmete die erste Ausgabe von De modo collegiandi Giovanni Angelo Medici di Marignano (1499–1565), der 1559 als Papst Pius IV. den Stuhl Petri bestiegen hatte.185 Das für den eccellente D. Thomaso da Ravenna dottor, et cavalier in volgare durch Aloisio Garzoni auf den 20. Juni 1565 datierte, für zehn Jahre ausgestellte Druckprivileg unter dem Dogen Girolamo Priuli (1486–1567) wurde dabei noch für eine weitere Schrift mit dem Titel De sale Theriaco vergeben, wobei im Fall eines Missbrauchs eine Strafe von zehn Dukaten fällig wurde. Bereits wenige Monate nach der Erstellung des Druckprivilegs sollte Pius IV. jedoch am 9. Dezember 1565 nach nur fünfjähriger Amtszeit in Rom versterben,186 weshalb De modo collegiandi 1574 noch ein zweites Mal aufgelegt und diesmal Papst Gregor XIII. (1502–1585) gewidmet werden sollte.187 In dem nur wenige Jahre vor Tomasos Tod entstandenen zweiten medizinischen Handbuch mit dem Titel De microcosmi affectuum maris, foeminae hermaphroditi gallique miseria, das nur ein Jahr nach der zweiten Auflage von De modo collegiandi ebenfalls bei dem Verleger Pietro de Franciscis erschienen war,188 legte Tomaso Rangone noch ein weiteres umfassendes medizinisches Handbuch zu Nosologie und Therapie vor. Dieses widmete sich diversen Krankheitsbildern, deren 182 De consultationibus medicis, seu ut vulgus vocat, De modo collegiandi. Der paduanische Professor verfasste auch ein Buch über die Flut (Tractatus de occulta causa fluxus et refluxus maris), wo er teilweise die Theorie von Jacobo Dondi übernahm, vgl. Lucio Russo, Flussi e riflussi. Indagine sull’origine di una storia scientifica, Milano 2003. 183 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 27. 184 Dafür spricht nicht nur die knappe Ausdrucksweise, sondern auch die direkte Anrede an den Leser, vgl. De modo collegiandi (1565), c. 4r : Note hae oder ebd., c. 23r: cave. 185 Zu Pius IV. vgl. Claudio Rendina, I papi. Storia e segreti, Roma 2011, ad indicem. 186 Dabei hatte Tomaso noch um ein langes Leben für den amtierenden Papst gebeten, vgl. De modo collegiandi (1565), c. 2: Quare nil mirum, si tibi, longa vitae secula praecamur […]. 187 BCaR, 83, 6P: apud Camillum et Rutilium Borgomanerij fratres, ad signum Divi Georgij 1574. Als Titelvignette wurde diesmal ein Vogel gewählt, der auf einem von zwei gekrönten Schlangen und von zwei Händen gehaltenen Stab sitzt, die aus Wolken erscheinen. Die 1565 erschienene Ausgabe ziert auf dem Frontispiz eine auf den Titel bezogene Darstellung von zwei Putten, die Datteln ernten. 188 Das vorliegende Exemplar stammt aus der Biblioteca Casanatense in Rom (BCaR, Vol. Misc. 1958.7).
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Symptomatik sowie schädlichen Metallen und Gifttieren. Auf dem Frontispiz ist wie bei der 1575 erschienenen Auflage von Tomasos Syphilisschrift in einem umgebenden Zierring mit dem Motto Ducibus his prospera quaeque eine in einem Boot sitzende, gekrönte Frau mit einem Zepter als Symbol der Tugend (virtus) sowie das personifizierte Glück (Fortuna) in Gestalt einer nackten Frau mit einem im Wind flatternden Tuch zu erkennen. Die in beiden Handbüchern ausführlich dargelegten diagnostischen und therapeutischen Grundsätze beruhen auf der allgemeinen Präventionslehre, die bereits in der hippokratischen Medizin entwickelt, im Hellenismus ausgebaut und von den arabischen Ärzten standardisiert worden war und noch bis ins 18. Jahrhundert Gültigkeit besitzen sollte. Dazu gehörten insbesondere die sex res non naturales,189 die sechs fundamentalen Lebensbereiche des Menschen, welche neben der Luft auch Speise und Trank, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Korrektur der Säfte sowie Sexualleben und Kontrolle der Leidenschaften umfassten. In Form eines eleganten Hexameters brachte der venezianische Schriftsteller Francesco Bernardini Caldogno im Praeservator sanitatis (1529) diese wesentlichen Elemente zur Sprache, welche die Gesundheitslehren seiner Zeit charakterisierten:190 Prima quidem est aer, motus, requisque secunda, Tertia sed somnus, simul hic vigilantia iuncta, Affectus animae varios tibi quarta recenset, Quinta cibum, et potum memorat, sed quae ultima re Et sexta est, vacuatque, et replet corpora nostra.
Zu diesen sex res non naturales gehörten nach damaliger Vorstellung auch tägliche hygienische Maßnahmen wie die regelmäßige Entleerung des Körpers (inantio), worauf der fast achtzigjährige Tomaso Rangone als unerlässliches Therapeutikum noch immer schwur.191 Regelmäßige moderate Bewegung unter gleichbleibender Belastung aller Körperteile war ebenfalls Bestandteil dieser vorbeugenden hygienischen Maßnahmen.192 Man erhoffte sich etwa eine wohltuende Wirkung von maßvoller Gymnastik nach antikem Vorbild, die nicht zuletzt durch Girolamo Mercuriales (1530–1606) Artis gymnasticae apud antiquos celeberrimae, nostris temporis ignoratae, libri sex (1569) eine besondere 189 Lelland J. Rather, The »Six Things Non-Natural«: A Note on the Origin and Fate of a Doctrine and a Phrase, Clio Medica 3, 1986, 337–347; Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1991, 44; 54–67; Pedro Gil Sotres, Regeln für eine gesunde Lebensweise, in: Mirko Grmek (Hrsg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, München 1996, 312–355. 190 BMV, Misc. 1232. 191 De modo collegiandi (1565), c. 8v : at inantio huiusmodi mihi octogenario ferme tota sano vita, nullo medica adhibita temore evacuatione. 192 Ebd., c. 8r.
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Würdigung erfahren sollte. Auch Jagd und kriegerische Unternehmungen oder gar Beutezüge galten als gesundheitsfördernde körperliche Betätigungen.193 Der Arzt Girolamo Cardano widmete sich daher nicht nur dem Schwertkampf, sondern auch dem Gebrauch von Degen, Speer und Messer und erlangte darin eine derartige Fertigkeit, dass er sogar an militärischen Kampagnen der Hilfstruppen teilnehmen konnte.194 Zudem hielt sich Cardano noch durch das Drehen des Mühlrades, Gehen, Reiten, Ballspiel, Wagenfahren, Segeln, Massagen und regelmäßiges Baden in Form.195 Als Ausgleich, also als wirksames Heilmittel zu dieser sportlichen Betätigung dienten maßvolle Ruhepausen,196 weshalb Girolamo Cardano etwa zehn Stunden täglich im Bett verbrachte, von denen er acht schlief.197 Der Makrokosmos konnte jedoch nach damaliger Vorstellung das empfindliche Gleichgewicht des Mikrokosmos im menschlichen Körper trotz all dieser vorbeugenden Maßnahmen verändern,198 weshalb es nur möglich war, die Gesundheit durch ein ausgeglichenes Mischverhältnis (Eukrasie) der vier Körpersäfte wieder zu stabilisieren. Diese Lehre der Humoralpathologie ging auf den römischen Arzt Galen zurück und sollte erst Mitte des 19. Jahrhunderts obsolet werden.199 Eine Krankheit (morbus) äußerte sich daher vor allem als eine Störung quantitativer und qualitativer Veränderungen der inneren und äußeren Bestandteile des menschlichen Körpers (Haut, Fleisch, Muskeln, Arterien oder Venen), wobei auch Traumata als Krankheitsursachen in Frage kamen.200 War dieses Mischverhältnis gestört, zeigt sich dies in Form von besonderen Zeichen
193 Ebd., c. 8v : laborem exercitio tolerare, feras substenere, cursare, impetum facere, fures capere, […] in fugam vertere, praedam eripere, et his modis corpus bene movetur; De vita hominis (1550), c. 44v und ebd., c. 45r : […] et propter hoc scriptum est ab antiquis medicis ex necessitate sequi rigorem febrem […]. Zum Sport in der Renaissance vgl. Werner Körbs, Vom Sinn der Leibesübungen zur Zeit der italienischen Renaissance, 2Berlin 1998; Rebecca von Mallinckrodt (Hrsg.), Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, Braunschweig 2008. 194 Anthony Grafton/Jean Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 25. 195 Ebd., 29. 196 De modo collegiandi (1565), c. 8 v. 197 Anthony Grafton/Jean Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 27. 198 So können z. B. auch die Position und die Bewegung der Gestirne die Qualität der Luft beeinflussen, vgl. De modo collegiandi (1565), c. 7v : Quorum cursus, positio, motus, in austrum, ac boream, oriens, et occidens. 199 LM, s.v.a. Humoralpathologie; Temperamentenlehre; Erich Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Wiesbaden 1964. Zum Einfluss der Humoralpathologie im 19. Jahrhundert vgl. Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 44. 200 Georg Harig, Die Bestimmung der Intensität im medizinischen System Galens, Berlin 1974, 154–168. Dazu gehörten auch (angeborene) Missbildungen und Störungen des Bewegungsapparates, Brüche, Verrenkungen, Tremor etc., vgl. De modo collegiandi (1565), c. 10r.
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(signa) an den Organen und Körperteilen, den sogenannten sex res naturales,201 die in medizinischen Handbüchern oft separat mit ihren jeweiligen Kennzeichen (Semiotik) und ihren auf der Humoralpathologie beruhenden Eigenschaften (heiß, trocken, feucht oder kalt) abgehandelt wurden.202 Diese signa waren durch eine Veränderung einer der vier Qualitäten gekennzeichnet, wobei meist auch die Morphologie betroffen war, weshalb sich ein »kaltes« Gehirn gemäß dieser Qualitätenzuordnung beispielsweise durch einen kleinen Kopf, schüttere und weiße Haare (capilli exiles, albi, recti), unsensible Augen (venae oculorum insensibiles) und Langsamkeit (sensuum tarditas) auszeichnete.203 Fieber galt hingegen nach antiker Tradition als Symptom der akuten Krankheiten. Man erklärte sich seinen Ausbruch und den meist vorausgehenden Schüttelfrost durch die Erwärmung des Blutes, dessen Bewegung beschleunigt wurde.204
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Der Arzt und seine Patienten
Vermutlich behandelte Tomaso bevorzugt Patienten der oberen Gesellschaftsschichten, ebnete doch schon ein einziger einflussreicher Kontakt den Weg zu weiteren zahlungskräftigen Kunden, da die Arztwahl oft auch auf Empfehlung oder persönlicher Bekanntschaft beruhte.205 Erste Verdienste hatte sich Tomaso schon während seiner Tätigkeit als Flottenarzt und Consigliere für die Gesundheitsbehörde erworben. Darüber hinaus mögen sich die Verbindungen 201 Bei Tomaso Rangone wurden diese sex res naturales als De naturalibus (De modo collegiandi (1565), c. 3r–5v) bezeichnet. Zu den sex res naturales gehören auch die virtutes (die im Körper wirkenden Kräfte virtus animalis, spiritualis und naturalis) und deren Wirken (operationes), sowie der spiritus (eine hauchartige Substanz), die elementa (Feuer, Wasser, Luft, Erde) und die complexiones (die jeweiligen Mischverhältnisse der elementa), vgl. ebd., c. 3v. 202 Ebd., c. 17r. Das Gehirn wird stets mit dem Denken in Verbindung gebracht, vgl. De microcosmi affectuum (1574), c. 3r/v : Capite, seu cerebro: Quo ratiocinamur, memoramus, scimus, intelligimus, fantasiamur, cogitamus. 203 De modo collegiandi (1565), c. 3v, c. 4v und c. 5r. Jedoch mussten bei der Zuordnung der vier Qualitäten auch individuelle Unterschiede beachtet werden, darunter neben den Umgebungsbedingungen (regio, coelum, seu locus) und den Lebensgewohnheiten (ars et mores vivendi) das Alter (aetas) des Patienten, die Farbe und Beschaffenheit der Haare (capillorum colores et ipsi sunt inspiciendi) und der Augen (oculorum inspiciendi et colores), vgl. ebd., c. 5v–6v. 204 De modo collegiandi (1565), c. 12v/13v. Dem Sitz des Fiebers entsprechend wurden drei Arten unterschieden (Eintagesfieber, Faulfieber und hektisches Fieber), wobei das Faulfieber von Galen wiederum sechsfach in intermittierende und kontinuierliche Quotidian-, Tertian- und Quartanfieber unterteilt worden war, vgl. ebd., c. 12v. Zur Definition des Fiebers vgl. William F. Bynum/Vivian Nutton (Hrsg.), Theories of Fever from Antiquity to the Enlightenment, London 1981. 205 Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 91.
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Guido Rangonis und seiner Familie in Venedig ebenfalls als hilfreich erwiesen haben. Ein gefragter Arzt konnte es durch die richtige Taktik in der Tat zu einem nennenswerten Vermögen bringen. Niccol Mass soll gemäß seinem Freund und Kollegen Alvise Luisini nicht nur vom Adel Venedigs, sondern ganz Europas persönlich und brieflich konsultiert und für seine medizinischen Ratschläge mit Gold und Silber entlohnt worden sein,206 da er aussichtslose Fälle geheilt habe.207 Insbesondere die venezianischen Apotheken galten als Zentren der Kommunikation, in denen sich Ärzte untereinander austauschten und neue Patienten gewinnen konnten.208 Ein junger Arzt berichtete daher, er habe sich gleich nach seiner Promotion gerne in Apotheken aufgehalten, um dort zu »praktizieren« (pratticar). Aufgrund seiner eleganten Erscheinung hielten ihn die Kunden für einen Adeligen. Apotheker und Barbiere behandelten ihn überaus zuvorkommend und nannten ihn ehrfürchtig Dottore oder Eccelente.209 Adelige, reiche und weniger wohlhabende Bürger, Diener und Scharlatane trafen sich in diesen spezierie und tauschten, ähnlich wie in den Kaffeehäusern des 18. Jahrhunderts, aktuelle Neuigkeiten aus Gesellschaft und Politik aus.210 Viele Apotheken verfügten über bequeme Sitzgelegenheiten und boten interessierten Kunden auch zusätzliche Leistungen an, darunter Kuriositätenkabinette, Druckmöglichkeiten und sogar Spieltische und Poststationen.211 Einen Eindruck von Tomaso Rangones exquisiter Klientel vermitteln diverse Erwähnungen in seinen medizinischen Schriften, aus denen hervorgeht, dass er nicht nur Kontakte zu Mitgliedern der Dogenfamilie, sondern auch zu Vertretern
206 Luigi Luisini, De morbo gallico omnia quae extant, Venetijs 1566–67. Die briefliche Konsultation war weit verbreitet vgl. Waclaw Urban, Consulti inediti di medici italiani (Giovanni Manardo, Francesco Grigimelica) per il vescovo di Cracovia Pietro Tomicki (1515– 1532), Quaderni per la storia dell’universit di Padova 21, 1988, 75–83. 207 Luigi Luisini, Dialogo intitolato la cecit, Venegia 1569, c.37r/v : […] percioche facendo esperienze incredibili, e risolvendo in bene casi disperati, non havete fatto guadagni minuti anzi larghissimi di argento e d’oro, e questi thesori vi sono sta donati da uomini illustri che per lettere vi fur raccomandati da Republiche, Regi, Imperatori, che mandorono quelli da lontani paesi sotto la tutella vostra e cura, poco profitto vedendo ne la sapientia de’ suoi famosi medici. 208 Richard Palmer, The Studio of Venice and Its Graduates in the Sixteenth Century, Trieste 1993, 40; Filippo de Vivo, Pharmacies as Centres of Communication in Early Modern Venice, in: Sandra Cavallo/David Gentilcore (Hrsg.), Spaces, Objects and Identities in Early Modern Italian Medicine, Malden/Oxford 2008, 33–49; Ders., Information and Communication in Venice. Rethinking Early Modern Politics, Oxford 2007, 98–106. 209 Richard Palmer, The Studio of Venice, 35. Noch im 18. Jahrhundert ließ Goldoni daher in seiner Komödie La finta ammalata die beiden Ärzte Tarquinio und Merlino in einer Apotheke um Patienten werben. 210 John Martin, Venice’s Hidden Enemies: Italian Heretics in a Renaissance City, Los Angeles/ Berkeley 1993, 244–247; Filippo de Vivo, Pharmacies as Centres of Communication, 35–38. 211 Ebd., 47–48.
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bekannter venezianischer Adelsfamilien wie der Corner212 oder Canal unterhielt. Laut seiner Syphilisschrift (1575) behandelte Tomaso die Mutter Giacomo Canals, die an einer Lähmung litt, erfolgreich mit Chinawurzel.213 In seiner diätetischen Schrift berichtete der Gelehrte, er habe Lorenzo (gest. 1539), den Sohn des Dogen Andrea Gritti (1455–1538), von einem schweren Fieber geheilt.214 Lorenzo fungierte 1538 als venezianischer Botschafter in Konstantinopel und war der Bruder des bekannten Diplomaten Ludovico Gritti (1480–1534), der 1534 bei der Schlacht von Medias in Transsilvanien ums Leben gekommen war.215 Allerdings konnte das Leben als gefragter Arzt des venezianischen Patriziats auch sehr anstrengend sein. Einen Eindruck davon vermittelte Niccol Mass in seiner medizinischen Schrift Raggionamento sopra le infermit che vengono dall’aere pestilenziale del presento anno 1555 (1556), in der Tomasos fast gleichaltriger Kollege ausführlich diese kräftezehrende ärztliche Tätigkeit und den Erwartungsdruck beschrieb, der ihn Tag und Nacht an die Betten erkrankter Patrizier führte.216 Bereits 1542 hatte Mass in einem Brief an seinen Neffen Apollonio geklagt, dass er nicht einmal ausreichend Zeit zum Essen und Trinken fände, am Rande der Erschöpfung sei und kaum Zeit zum Lesen geschweige denn zum Schreiben fände.217 Andererseits war Mass auch der Ansicht, dass es nur zum Nutzen des Patienten sei, von einem berühmten Arzt aufgesucht zu werden, der ihm versicherte, noch viel aussichtslosere Fälle behandelt zu haben.218 Kontakte zu einflussreichen Patienten, vor allem, wenn deren Lebenswandel Aufsehen erregte, konnten jedoch auch den behandelnden Arzt gefährden. Dies zeigt eindrücklich der Fall von Mario d’Armano, Advokat an der Scuola grande di San Marco und Patient Tomaso Rangones.219 1559 wurde d’Armano vom Heiligen Officium der Prozess gemacht, da er am Karfreitag ein aufwendiges Bankett gegeben hatte, bei dem reichlich Fleisch gegessen worden war (zudem 212 De vita hominis (1550), c. 40r. 213 De morbo epidemico (1575), c. 40v. 214 De vita hominis (1550), c. 15r : Quo praesente male febre affecto ac me curante magnificus D. Laurentius filius ilusstrissimi D. Andreae Gritti Venetorum ducis anno Christi 1536 […]. 215 Zu Lorenzo Gritti vgl. Kenneth Meyer Setton, The Papacy and the Levant (1204–1571): The Sixteenth Century, Philadelphia 1984, 448; David Sanderson Chambers et al. (Hrsg.), War, Culture and Society in Renaissance Venice: Essays in Honour of John Hale, London 1993, 136. 216 Raggionamento sopra le infermit che vengono dall’aere pestilenziale del presento anno 1555, Vinegia 1556, c. 3r ; Richard Palmer, Nicol Mass, 389. 217 Epistolarum medicinalium tomus primus, Venetijs 1558, c. 168v : Ego qui plurimis negotijs in viscendis aegris detentus, volumina ingentia minime legere possum; ebd., c. 51v–55v. Vgl. zu den Belegen auch Richard Palmer, Nicol Mass, 389. 218 Ebd., 394. 219 Melania G. Mazzucco, Jacomo Tintoretto e i suoi figli. Storia di una famiglia veneziana, Milano 2009, bes. 176–179. Die Aussage Tomaso Rangones im Fall d’Armano befindet sich im ASV, Santo Uffizio, Processi, b. 16, Nr. 1. Mario d’Armano (6. 2. 1559).
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hatte er zwanzig Jahre zuvor mit dem Luthertum sympathisiert). D’Armano sagte vor dem Inquisitionstribunal aus und bezeichnete sich als treuen und gläubigen Christen (fidele e catolico cristiano), obgleich er fast 40 Jahre lang keine Beichte abgelegt hatte. Schließlich musste auch Tomaso Rangone selbst, seit Jahren Arzt der Familie, am 6. Februar 1560 vor dem Inquisitionstribunal aussagen. D’Armano hatte nämlich angegeben, der Arzt habe ihm aus gesundheitlichen Gründen zu dieser fleischlichen Kost geraten, da er als phlegmatischer Kranker an einem Katarrh leide. Rangone wurde von dem Inquisitor verhört, beschränkte den Kontakte zu d’Armano in seiner Aussage jedoch auf eine professionelle Ebene.220 Der Angeklagte wurde schließlich freigesprochen, weiterhin von der Scuola unterstützt und 1561 bis zu seinem Tod regelmäßig unter die Giunta gewählt. Tomaso Rangone selbst hatte sich durch seine Aussage vor dem Inquisitionstribunal sogar politische Unterstützung für seine eigene Karriere in der Scuola gesichert und wurde bereits ein Jahr später zum Guardian grande gewählt. Die Untersuchungen und Behandlungen fanden in dieser Zeit meist im Haus des Patienten statt, wobei auch weitere Familienmitglieder zugegen waren.221 Wurde Tomaso zu einem Patienten gerufen, deutete er entsprechend der dargestellten diagnostischen Grundsätze die vorhandenen signa, bestimmte das Temperament des Kranken sowie die Umgebungsbedingungen und konzipierte dann das bestmögliche Regimen.222 Außerdem war es wichtig, das Stadium genau zu bestimmen, in dem sich der Patient gerade befand, da eine Krankheit periodisch in verschiedene Abschnitte unterteilt wurde (principium, incrementum, consistentia, declinatio), wobei ein guter Arzt diese Entwicklung auch voraussehen sollte.223 Die Tatsache, dass auch Menschen erkrankten, die einen gesunden Lebensstil pflegten, führte Tomaso vor allem auf die individuelle Beschaffenheit des jeweiligen Temperaments zurück, schloss aber auch Krankheit als Folge eines Vergehens (Sünde) keinesfalls aus.224 Wie alle humanistischen Ärzte seiner Zeit bezog Tomaso sein Selbstver220 ASV, Santo Uffizio, Processi, b. 16, Nr. 1. Mario d’Armano (6. 2. 1559): L’ho solo medicato quando era indisposto ne so questa sua necessit di mangar carne in ogni tempo. 221 Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 211. 222 De vita hominis (1550), c. 93v : […] oportet medicum qui debet custodire sanitatem studiare ne mores animi corrumpantur […]. Zur ärztlichen Untersuchung in der Frühen Neuzeit vgl. Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 108–117. 223 De modo collegiandi (1565), c. 15v/16r : est futurum morbi statum praecognoscere, sic utique ad ipsum conspiciens, universam victus rationem instituat. 224 Ebd., c. 14r : ergo non fuerit victus ratio in causa, cum homines quoque victu utentes in eundem incidant morbum […]; ebd., c. 18r : Confiteatur primo languens, quoniam aegritudines multae propter peccatum emergunt. Zu diesem Aspekt vgl. Matthias Vollmer, Sünde – Krankheit – »väterliche Züchtigung«. Sünden als Folge von Krankheiten vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit, in: Albrecht Classen (Hrsg.), Religion und Gesundheit. Der heilkundliche Diskurs im 16. Jahrhundert, Berlin/Boston 2011, 261–286.
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ständnis aus der christlich fundierten Existenzberechtigung. Nach dieser hatte Gott für seine Geschöpfe die Medizin erschaffen, um deren Leben zu verlängern, und den Arzt, um die Menschen zu heilen. Das Selbstverständnis gründete sich zudem auf die antike Vorstellung, nach welcher der Heilgott Asklepios die ärztliche Kunst von Apoll erlernt und den Menschen geschenkt hatte.225 Die Basis für eine erfolgreiche Behandlung bildete nicht zuletzt die fundierte ärztliche Bildung: Als aufmerksamer minister naturae (die Natur als omnium operatrix) sollte der Arzt die Krankheiten wie Ackerfrüchte kennen, um den Patienten erfolgreich zu heilen, und die Schwierigkeiten beim therapeutischen Prozess wie ein erfahrener Heerführer oder geschickter Steuermann überwinden, um die angemessenen Therapeutika zu finden.226 Durch eine umfassende227 Betrachtung des menschlichen Körpers bewahrte der Arzt damit die Gesundheit, weshalb eine Behandlung trotz der Macht göttlicher Vorsehung (wozu schließlich auch die Krankheit gehört) gerechtfertigt werden kann.228 Und doch bedeutete dies nicht, dass selbst ein aufmerksamer Arzt nicht auch auf göttliche Hilfe angewiesen war, weshalb der Patient während der Behandlung Gott bitten sollte, diesen richtig zu führen.229 Aber auch dem Patienten selbst kam eine wichtige Funktion zu, ist er doch stets dazu angehalten, seinen Körper hinsichtlich auftretender Veränderungen zu beobachten und zu kontrollieren. Erkenne dich selbst! (so der bekannte Wahlspruch des Apoll von Delphi) ruft Tomaso dem Leser daher monierend ins Gedächtnis, da es für sinnvoll erachtet wurde, sich aktiv durch eine individuell entwickelte Lebensweise an der Gesunderhaltung des eigenen Körpers zu beteiligen. Der überaus wichtigen Rolle der Selbstkontrolle und Beobachtung hatte daher auch der Arzt und Agronom Alvise Cornaro
225 De vita hominis (1550), c. 8v ; zum ärztlichen Selbstverständnis in der Frühen Neuzeit vgl. Werner Friedrich Kümmel, Aspekte ärztlichen Selbstverständnisses im Spiegel von Autobiographien des 16. Jahrhunderts, in: August Buck (Hrsg.), Biographie und Autobiographie in der Renaissance, Wiesbaden 1983, 103–120; Klaus Bergdolt, Das Gewissen der Medizin, München 2004, 156ff. 226 De modo collegiandi (1565), c. 18r : […] cum medicus non sit nisi naturae minister […]; ebd., c. 31v : […] omnium natura operatrix, medicus vero minister […] und c. 9r : Praeterea medicum morbos, velut agricolam plantas […] conoscere oportet […]. 227 Ebd., c. 2r ; c. 13v. 228 De modo collegiandi (1565), c. 14r ; letztendlich schützt der Arzt aber nur den Körper, der Himmel den Geist (d. h. Intellekt), und Jesus die Seele (De vita hominis (1550), c. 102r). 229 De vita hominis (1550), c. 101v : […] ut dirigat requiem eorum in sanitatem propter conservationem illorum […] sowie ebd., c. 27v : Quoniam eam nemo penitus novit, nam nec ego ad summum medicae artis perveni quamvis senex iam sim. Zur Beziehung und Interaktion von Arzt und Patient in der Frühen Neuzeit vgl. Pedro Lan Entralgo, Arzt und Patient. Zwischenmenschliche Beziehungen in der Geschichte der Medizin, München 1969; Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 133, 211. Zur Patientensicht vgl. Michael Stolberg, Homo patiens: Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2003.
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wesentliche Bedeutung beigemessen, denn es kann in Wahrheit kein Mensch einem anderen als sich selbst ein vollkommener Grund sein.230
8.5.1 Die therapeutischen Maßnahmen Die angewandten therapeutischen Maßnahmen waren überaus vielfältig, wobei für Tomaso vor allem die richtige Lebensweise (regimen), also die Kontrolle über die sex res non naturales, das primum instrumentum darstellte.231 Das von Tomaso und auch den meisten Ärzten seiner Zeit verordnete therapeutische System tendierte zwar stets zur Mäßigung (mediocritas) und zum Ausgleich, doch unterschied sich der Gesundheitsbegriff der Frühen Neuzeit grundlegend von dem unsrigen der absoluten Gesundheit: Letztere bedeutete vielmehr die uneingeschränkte Ausübung der täglichen Aufgaben und wurde unter dem Aspekt des reibungslosen Funktionierens betrachtet.232 Daher bestand die Aufgabe des Heilers vor allem darin, nach der Untersuchung das verlorengegangene Gleichgewicht des menschlichen Mikrokosmos wiederherzustellen,233 wobei die seelische Gesundheit im Gegensatz zur Meinung der frühen Humanisten als Voraussetzung für das körperliche Wohl galt.234 Die erste Humanistengeneration hatte noch gegen die aristotelisch- naturwissenschaftliche und einseitig somatische Orientierung der mittelalterlichen, als ars mechanica verunglimpften Heilkunde opponiert und stattdessen eine seelische Gesundheit favorisiert, was insbesondere durch einen kontemplativen Lebensstil, wie ihn Mönche und Einsiedler in Form der vita solitaria pflegten, erreicht werden konnte (vita contemplativa).235 Später wurde die seelische Gesundheit jedoch immer mehr als unerlässlicher Bestandteil der körperlichen Gesundheit erachtet, weshalb auch 230 Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro, 48. 231 De modo collegiandi (1565), c. 18v. 232 Zum Gesundheitsbegriff in der Frühen Neuzeit vgl. Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 55. 233 Das menschliche Befinden bewegte sich nach Ansicht der damaligen Ärzte auf drei Ebenen: der Krankheit (aegritudo), der Gesundheit (sanitas) und dem labilen Zwischenzustand (neutralitas), wobei die Aufgabe des Arztes in der Heilung (curatio), Stabilisierung der Gesundheit (conservatio sanitatis) und der Prophylaxe (praeservatio) bestand. 234 De vita hominis (1550), c. 92r: Multum cacochimia actibus animae nocet. […] Qui igitur animam curare voluerit […] prius curet corpus, corporis cura prior […] quam animae, philosophia ex philosopho est animae medicina, et medicina est corporis phylosophia. Vgl. zu diesem Aspekt auch Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 197–198. 235 Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 179–182; Ders., Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frühhumanismus, Weinheim 1992; Werner Friedrich Kümmel, Der homo litteratus und die Kunst, gesund zu leben. Zur Entfaltung eines Zweiges der Diätetik im Humanismus, in: Rudolph Schmitz/Gundolf Keil (Hrsg.), Humanismus und Medizin, Weinheim 1984, 67–85.
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für Tomaso die Wiederherstellung des körperlichen Gleichgewichts unabdingbar war, um die Seele vor weiterem Schaden zu bewahren.236 Da Blutungen, Eiterungen, Fieber oder Katarrhe auf ein Ungleichgewicht der Säfte zurückgeführt wurden und zur Gesunderhaltung des Körpers überflüssige materia mittels evacuatio entsorgt werden mussten, galten bis ins 18. Jahrhundert vor allem Purgativa wie Klistiere, künstliches Erbrechen oder der Aderlass als beliebte therapeutische Maßnahmen,237 welche jedoch nicht nur entkräftende, sondern sogar lebensbedrohende Folgen haben konnten und demnach mit einem hohen Risiko für den Patienten verbunden waren.238 Tomaso verordnete in seinen medizinischen Handbüchern sowohl Klistiere (multi praeterea solo clysteriorum beneficio sanati sunt)239 als auch künstliches Erbrechen, das trotz der unnatürlichen Bewegung in manchen Fällen als hilfreiches Mittel betrachtet wurde.240 Der Brechreflex wurde dabei entweder durch Einführen eines Fingers oder einer Feder in den Rachen oder durch die Einnahme diverser Brechmittel ausgelöst.241 Auch der Aderlass, der je nach Erkrankung an unterschiedlichen Stellen des Körpers ausgeführt wurde, stellte für Tomaso eine wirksame, doch zugleich auch risikoreiche Behandlungsmethodik dar,242 weshalb die individuelle Konstitution (Alter, Verletzungen) beachtet und auch bei der Durchführung des Eingriffs diverse Vorkehrungen getroffen werden mussten.243 Nachdem der Patient sich hingelegt (iaceat flebotomandus) und eine Kleinigkeit zu sich genommen hatte, wurden erst Öl und Salz und schließlich ein Finger auf die ausgesuchte Vene gelegt, diese geöffnet und nach dem Eingriff mit einem entsprechenden Therapeutikum wieder
236 De vita hominis (1550), c. 92r. 237 EM, s.v.a. Aderlass; Klistier ; Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 72; Ders., Das Zepter der heroischen Medizin: Das Klistier in der medikalen Alltagskultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Gertrud Blaschitz et al. (Hrsg.), Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, 777–803; Marion M. Ruisinger, The Circulation of Blood and Venesection: On the Relation between Medical Theory and Practice in the Early Eighteenth Century, in: Jürgen Helm/Renate Wilson (Hrsg.), Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century, Stuttgart 2008, 37–60. 238 Daher wurden solche Maßnahmen vom Patienten auch gefürchtet, vgl. Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 133–134. 239 De modo collegiandi (1565), c. 26v, 27r/27v und 29v ; c. 20v (es folgt ein Rezept für ein clyster communis). 240 Ebd., c. 21v : Vomitus ideo licet a virtute naturali factus laboriosus et onerosus naturae existit et corpori incongruus […] si vero corpori vomitus non necessarius sit […]. Zu den Nebenwirkungen vgl. ebd., c. 22r. 241 Ebd., c. 22v. 242 Ebd., c. 22v–24v. Auch Niccol Mass gab in seiner Schrift Diligens examen de venae sectione et sanguis missione in febribus et in alijs praeter naturam affectibus, Venetijs 1568, entscheidende Kriterien, wann genau dieser gefährliche Eingriff notwendig sei und wann nicht, vgl. auch Richard Palmer, Nicol Mass, 402. 243 De modo collegiandi (1565), c. 23r und ebd., c. 24r/24v.
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geschlossen. Eine Stunde später war es dem Patienten erlaubt, noch einmal etwas zu essen und dann sechs Stunden nach dem Eingriff zu ruhen. Als weitere therapeutische Maßnahme stand den Ärzten die insbesondere von der arabischen Medizin eingesetzte Kauterisation zur Verfügung, die das therapeutische Brennen von Körperteilen und Geweben mithilfe eines Brenneisens umfasste und bei inneren Krankheiten, bei Verletzungen, bei zahnärztlichen Behandlungen oder auch bei orthopädischen Problemen empfohlen wurde.244 Für Tomaso handelte es sich zwar um eine wirksame und bequeme Maßnahme (medicamentum utile valde ac multum homini commodum), jedoch mahnte der Gelehrte gleichzeitig, diese nur mit Bedacht anzuwenden.245 Viele dieser therapeutischen Eingriffe waren äußerst schmerzvoll und für Patienten kaum zu ertragen, da es eine Narkose im heutigen Sinn noch nicht gab. Die damaligen Ärzte verfügten jedoch über diverse Schmerz,– und Betäubungsmittel (bes. Opiate), welche die Behandlung etwas erleichterten.246 Neben diätetischen Maßnahmen, Purgativa und Kauterisation galten auch bestimmte Drogen als wirksame Heilmittel, wobei jedes Therapeutikum ein bestimmtes Ziel verfolgte, etwa das Wiederherstellen des Säftegleichgewichts oder als Antidotum gegen bestimmte Krankheiten. Diese Heilmittel enthielten meist pflanzliche (vegetabilia), aber auch tierische (animalia) und mineralische (mineralia) Bestandteile und konnten in Form von Pillen (pillulae) oder in flüssiger Form (solutiva) sowohl als Simplicia als auch in Form von Composita verabreicht werden.247 Aus den Entwicklungen seiner Zeit erhielt Tomaso wichtige Impulse für die medikamentöse Behandlung seiner Patienten, experimentierte mit neuen materia medica wie dem Guajakholz, der Chinawurzel oder der Sarsaparilla.248 Zudem besaß er in Padua einen Garten, in dem er neben Aprikosen diverse Heilkräuter zog.249 Allerdings sollte sich Tomaso anscheinend
244 Günther Lorenz, Antike Krankenbehandlung in historisch-vergleichender Sicht, Heidelberg 1990, 22–26. 245 De modo collegiandi (1565), c. 43r. 246 Ebd., c. 40v–41v. Zu Schmerz- und Betäubungsmitteln vgl. LM, s.v.a. Schmerzmittel; Franz Josef Kuhlen, Zur Geschichte von Schmerz-, Schlaf-, und Betäubungsmitteln in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 1983; ferner Stefan Seeber/Markus Stock, Einleitung, in: Hans-Jochen Schiewer et al. (Hrsg.), Schmerz in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2010, 9–22. 247 Einen Überblick über die Darreichungsformen bietet Elisabeth Huwer, Das Deutsche Apotheken-Museum. Schätze aus zwei Jahrtausenden Kultur- und Pharmaziegeschichte, Regensburg 2006, 101ff. 248 Vgl. hier Kap. 8.5.2.1. 249 De vita hominis (1550), c. 34v. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um ein Haus bei San Massimo, da die Gegend noch lange von Schrebergärten durchsetzt war.
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nie um ein Privileg für die Herstellung eines Therapeutikums bemühen, da seine ökonomischen Verhältnisse dies wohl nicht erforderten.250 Auch viele venezianische Apotheken verfügten dank der gut vernetzten Handelswege über reich bestückte Bestände an außergewöhnlichen Drogen, die sonst nur schwierig zu erwerben waren.251 Tomaso selbst war Stammkunde in der Apotheke Al Saraceno in der belebten Merceria, die erfolgreich von Marco und Ippolito Fenari geführt wurde. Die beiden Brüder wurden vor allem wegen ihres botanischen Wissens geschätzt, weshalb Tomaso dort ausgefallene Therapeutika anfertigen ließ, darunter ein Brechwasser und besondere Öle oder Sirupe.252 Der Inhaber Marco Fenari war zudem mit dem Arzt und Botanisten Luca Ghini (1490–1556) befreundet, der den ersten botanischen Garten in Pisa begründen sollte, und unternahm auch selbst mehrere Reisen nach Kairo und Kreta, um dort seltene Therapeutika zu erwerben.253 Als ein ausgesprochen wirksames Heilmittel gegen nahezu alle erdenklichen Leiden, darunter sogar gegen die Pest und die tückische Lustseuche »Syphilis«, galt der venezianische Theriak,254 ein seit der Antike bekanntes, mit Vipernfleisch versetztes Mithridatum und äußerst kostspieliges Panazäa. Um Missbrauch bei der Herstellung vorzubeugen, gab es in Venedig ab 1565 ein öffentliches Theriakfest, um die Produktion zu kontrollieren.255 Die bekannteste Apotheke, in der Theriak zur Zeit Tomasos erworben werden konnte, war die zentral gelegene Spezieria Testa d’Oro auf den Stufen der Rialtobrücke, die laut des erhaltenen Inventars auch über einen hohen Bestand an Guajakholz (lignum sanctum) verfügte.256 Neben pflanzlichen Drogen verwendete Tomaso zuweilen auch zerstoßene (Halb-) Edelsteine wie Smaragd oder Lapislazuli, denen er verborgene (occulta) Ei250 Sabrina Minuzzi, Sul filo dei segreti medicinali. Praticanti e professionisti del mercato della cura a Venezia (secoli XVI–XVIII), Universit degli Studi di Verona 2008, 105. 251 De vita hominis (1550), c. 49r. 1565 verfügte Venedig über 65 Apotheken, 1570 sogar bereits über 85, vgl. Richard Palmer, Pharmacy in the Republic of Venice in the Sixteenth Century, in: Andrew Wear et al. (Hrsg.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 1985, 100–117, bes. 103; Filippo de Vivo, Pharmacies as Centres of Communication, bes. 54–55. 252 De vita hominis (1550), c. 49r. Zu Fenari vgl. Richard Palmer, The Influence of Botanical Research on Pharmacists in Sixteenth Century Venice, NTM-Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik 21, 1984/2, 69–80, bes. 72. 253 Vgl. zu Fenaris Briefen an Ulisse Aldrovanti Richard Palmer, Influence, 73. 254 De modo collegiandi (1565), c. 42r; zum Theriak siehe Richard Palmer, Pharmacy in the Republic of Venice in the Sixteenth Century, bes. 109; Thomas Holste, Der Theriakkrämer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Arzneimittelwerbung, Pattensen/Hannover 1976; Marianne Stössl, Lo spettacolo della Triaca, passim; Elisabeth Huwer, Das Deutsche Apotheken-Museum, 115. Tomaso Rangones Schrift über den Theriak, für die er 1565 ein Druckprivileg erhalten hatte, ist heute nicht mehr erhalten. 255 ASV, Giustizia vecchia, b. 211, f. 261: Kopie des Libro delle Theriache. 256 ASV, Cancelleria inferiore, Miscellanea, notai, b. 42, f. 6. Zum lignum sanctum vgl. ebd., c. 12r (legno santo neto di tarra libre settemille ottosenta et novantain sei).
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genschaften zuschrieb, die sich günstig auf die Gesundheit auswirken sollten.257 Kritisch stand der Gelehrte hingegen der Einnahme spezieller Therapeutika menschlichen und tierischen Ursprungs wie Knochen, Menstruationsblut, Urin, Schlangen oder Skorpionen gegenüber,258 deren Verwendung zu dieser Zeit durch Mattioli noch immer empfohlen wurde.259 Zu den bekanntesten Drogen der Dreckapotheke gehörte das aus altägyptischen Mumien gewonnene Mumia, welches bereits im 10. Jahrhundert von den arabischen Ärzten als spezifisches Heilmittel eingesetzt worden war. Nach und nach entwickelte sich ein schwungvoller Handel mit der begehrten, jedoch überaus teuren Ware,260 enthielt Mumia nach damaliger Vorstellung doch noch Reste an Lebenskraft.261 Als Unterstützung des therapeutischen Prozesses riet Tomaso oft zu Bäderund Thermalkuren, die insbesondere im Veneto eine lange Tradition hatten und sich auch im Ausland wieder vermehrter Beliebtheit erfreuten.262 Im Zuge des Humanismus war insbesondere die Mode der stufe (Stube) entstanden, einer 257 De modo collegiandi (1565), c. 32v : fragmentorum cordialium rubini, smaragdi, saphiri, granatae, hyacinthi, ac sardonis […]. Einen Überblick über die Lithologie liefert Charles William King, Antique Gems. Their Origin, Uses, and Value as Interpreters of Ancient History, London 1860; Christel Meier, Gemma spiritalis, Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977, bes. 361–460. 258 De vita hominis (1550), c. 61v : Immo medici sanandis hominibus praetermissis istulis terrae vermibus mumia, ac mortuorum hominum ossibus […] atque pharmaca quaeque propinant nephandum et inexecrabile neque a principibus tollerandum […]. Vgl. zum Thema auch Herophilus von Staden, Matire et signification, L’Antiquit Classique 60, 1991, 42–61; EM, s.v.a. Quecksilber. 259 Maurizio Rippa Bonati, I »semplici« animali, in: Di sana pianta. Erbari e taccuini di sanit. Le radici storiche della nuova farmacologia, Modena 1988, 67–72. 260 Brian M. Fagan, Die Schätze des Nil. Räuber, Feldherrn, Archäologen, München/Zürich 1975, 54–57; Benno R. Meyer-Hickel, Über die Herkunft der Mumia genannten Substanzen und ihre Anwendung als Heilmittel. Diss. Fachbereich Medizin, Universität Kiel 1978; Elisabeth Huwer, Das Deutsche Apotheken-Museum, 120–121; Robert Jütte, Menschliches Gewebe und Organe als Bestandteil einer rationalen Medizin im 18. Jahrhundert, in: Jürgen Helm/Renate Wilson (Hrsg.), Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century, 138–158. 261 Ken Albala, Eating Right in the Renaissance, Berkeley/Los Angeles/London 2002, 69. Mattioli riet in seinem Kräuterbuch, stattdessen auf im Spital Verstorbene zurückzugreifen, vgl. Comentarij in sex libros Pedacij Dioscuridis Anazarbei de medica materia, Venetijs 1565, 117–118. Zu Mattioli und seinen alchemistischen Experimenten mit menschlichen Körperteilen vgl. Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 10, 224. 262 In De modo collegiandi (1565), c. 46rff. behandelt Tomaso nahezu alle bekannten Bäder der Zeit im In- und Außland mit ihren therapeutischen Eigenschaften. Zu Bäder und Thermalkuren speziell im Veneto vgl. Nelli-Elena Vanzan Marchini, I piaceri dell’acqua, Venezia 1997, 42–43. Zur Balneologie vgl. umfassend Werner Heinz, Balneologisches Wissen zwischen Antike und früher Neuzeit, in: Albrecht Classen (Hrsg.), Religion und Gesundheit, 303–322; Sylvelyn Hähner-Rombach (Hrsg.), Ohne Wasser kein Heil. Medizinische und kulturelle Aspekte der Nutzung von Wasser, Stuttgart 2005.
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besonderen Form von Dampfbädern, weshalb sich Papst Clemens VII. zwischen 1525 und 1534 in der Engelsburg ein eigenes Bad errichten ließ. Auch Tomasos venezianischer Kollege Niccol Mass hatte sich im 26. Brief der Epistolarium medicinalium ausführlich mit der Heilwirkung von Bäderkuren beschäftigt. Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen in Venedig mehrere Bücher speziell zu diesem Thema, darunter der Sammelband De balneis omnia quae extant apud Graecos, Latinos et Arabas (1553), in dem mehr als 70 Beiträge bekannter Autoren zur Balneologie zusammengefasst worden waren.263
8.5.2 Morbus gallicus: eine neue therapeutische Herausforderung Ein wirksames Therapeutikum gegen die »Syphilis« zu finden, stellte eine der größten Herausforderungen des 16. Jahrhunderts dar. Von den meisten Chronisten war zwar eine Verbindung zwischen dem Auftauchen der Krankheit und den französischen Invasoren gezogen worden,264 doch hatte man auch versucht, diese anhand von bereits existierenden Krankheiten zu identifizieren, etwa der Lepra (Fileno dalle Tuatte, Sigismondo dei Conti) oder der Elephantiasis (Raffaello da Volterra, Senagara aus Genua, Natale Montesauro).265 Einige Chronisten wähnten den Ursprung der Krankheit sogar auf dem neuentdeckten Kontinent, da bereits 1493 in spanischen Hafenstädten erste Krankheitsfälle bekannt geworden waren.266 Und doch war es nie zu einer derartigen Anzahl von Infektionen gekommen wie während der Belagerung Neapels 1495. Insbesondere die französischen Ärzte bedachten daher die Zuschreibung als morbus
263 De Balneis omnia quæ extant apud græcos, latinos, et arabas, tam medicos quam quoscunque ceterarum artium probatos scriptores, Venetijs 1553. Der Band behandelt Bäder und Bäderkuren von der Antike bis zur Renaissance und enthält eine detaillierte Beschreibung von ca. 200 Badeorten (Conrad Gesners Beschreibungen von Thermalquellen in Deutschland und der Schweiz wurden hier erstmals publiziert); zu weiterer balneologischer Fachliteratur in Tomaso Rangones Bibliothek vgl. Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 28v ; 32v. 264 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 24–25. 265 Ebd., 25; Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 43–44; Claudia Stein, Die Behandlung der Franzosenkrankheit in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs, Stuttgart 2003. 266 Ruiz Diaz de Isla, Tractado contra el mal serpentino (1510; publiziert 1539). Die »AmerikaTheorie« wurde insbesondere von den Spaniern vertreten, darunter Fray Bartolom de Las Casas, Francisco Lopez de Villalobos, Juan de Vigo und Gonzalo Fernandez de Oviedo y Valdes, vgl. Tilmann Walter, Die Syphilis als astrologische Katastrophe, 169; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 24; Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 42.
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gallicus seit jeher mit Argwohn. Der Arzt Jean de Bthencourt 1527 favorisierte statt der Bezeichnung morbus gallicus vielmehr den Begriff morbus venereus.267 Ausgehend von diesem denkwürdigen Ereignis kam es, wohl infolge der hohen Virulenz des Erregers, zu unzähligen Neuerkrankungen, die erst gegen Mitte des 16. Jahrhunderts abnehmen sollten. Da die »Syphilis« von Anfang an vorwiegend als Geschlechtskrankheit galt, wurden bereits sehr früh Prostituierte und Kurtisanen für die Übertragung verantwortlich gemacht.268 Mitglieder des Klerus sprachen sich daher nicht ausschließlich aus moralischen Beweggründen vermehrt für die Abschaffung der Prostitution und die Schließung von Bordellen aus.269 Bereits der spanische Hofarzt Francisco Lopez de Villalobos hatte sich 1498 (Somario de la medicina con un tratodo sobre las pestiferas bubas) zur sexuellen Übertragbarkeit der »Syphilis« geäußert und der spanische Arzt Juan Almenar hatte schließlich empfohlen, insbesondere den Koitus mit infizierten Frauen und jenen zu meiden, die mali umori produzierten (also melancholisch waren).270 Die frühneuzeitlichen Ärzte waren bei der Therapie der »Syphilis« vor keine leichte Aufgabe gestellt, da sie kein entsprechendes Krankheitsbild in den Schriften der antiken Autoritäten zu finden vermochten, das nur annährend mit der beobachteten Symptomatik übereinstimmte. Therapiert271 wurde die Franzosenkrankheit in dieser frühen Phase, also insbesondere in den ersten zehn Jahren des 16. Jahrhunderts, daher noch mit einer Vielzahl von Behandlungsmustern (Polypragmasie).272 Diese umfassten neben vorbeugenden diätetischen Maßnahmen vor allem diverse die Symptome bekämpfenden Therapeutika sowie traditionelle physikalisch-therapeutische Methoden wie Aderlass, Purgieren, Einreibungen und medizinische Bäder in Wein und Kräutern. Die Kauterisation als chirurgische Maßnahme wurde dabei als besonders hilfreich angesehen und diente dazu, das als Therapeutikum verwendete Quecksilber ein267 Claude Qutel, Mal de Naples, 54. 268 Zur Verbindung von Franzosenkrankheit und Prostitution vgl. Nelli-Elena Vanzan Marchini, Il meretricio e il mal francese, in: Dies. (Hrsg.), I mali e i rimedi, 39–63, bes. 49; Giovanni Scarabello, Meretrices. Storia della prostituzione a Venezia tra il XIII e il XVIII secolo, Venezia 2006, 51ff.; Beate Schuster, Die freien Frauen. Dirnen und Freudenhäuser im 15. und 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 1995, 242; Laura McGough, Quarantining Beauty : the French Disease in Early Modern Venice, in: Kevin Siena (Hrsg.), Sins of the Flesh: Responding to Sexual Disease in Early Modern Europe, Toronto 2005, 211–236. 269 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 24; 34; 50–52; Jedoch ist die Schließung der Bordelle auch als Folge religiös-moralischer Intentionen zu verstehen, vgl. Tilmann Walter, Die Syphilis als astrologische Katastrophe, 170–171. 270 Wolfgang Regal/Michael Nanut, Amors vergifteter Pfeil. 500 Jahre Suche nach einer wirksamen Therapie gegen Lues, Ärzte Woche 23, 2005. 271 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 28–31; Andrew Wear, Explorations of Writings on the Practice of Medicine, in: Ders. et al. (Hrsg.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, 118–145, bes. 141–145. 272 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 69.
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wirken zu lassen, das äußerlich in Form von Schmier-, Schwitz- und Räucherkuren (bei besonders schweren Fällen) oder mit Sublimatlösungen zum Waschen aufgetragen wurde.273 Vorwiegend spanische Ärzte wie Gaspare Torella (1452–1520) oder Pere Pintor (1423–1503) begannen, vermehrt solche Quecksilberpräparate und Merkurialsalben herzustellen.274 Auch der Chirurg Giovanni di Vigo (1485–1525),275 der seine 1505 begonnene Abhandlung nur ein Jahr vor seinem Tod vollendete, hatte im fünften Buch der Practica in arte chirurgica copiosa (1514) zyklische Abführkuren und schweißtreibende Mittel (sudoriferi) als Therapeutikum empfohlen, zur lokalen Therapie jedoch auch Quecksilberpflaster eingesetzt. Dabei verwendete di Vigo ein rotes Streupulver, das lokal auf die Ulkerationen aufgetragen wurde und unter der Bezeichnung la polvere rossa di Gian de Vigo bekannt werden sollte.276 In Ferrara hatte sich Ende des 15. Jahrhunderts eine vehement geführte Debatte über die »Syphilis« entwickelt, die beispielhaft für die Hilflosigkeit der Ärzte sein sollte, eine Krankheit zu behandeln, die sie nicht definieren konnten. Von Ercole d’Este (1431–1505), einem glühenden Verehrer des Dominikaners Girolamo Savonarola (1452–1498), wurde das malum galicum vor allem als Strafe Gottes gedeutet, hatte es doch bereits vor dem Auftauchen der Krankheit extreme Klimaschwankungen und Erdbeben gegeben, ganz zu schweigen von einem Ungeheuer, das im Tiber aufgefunden worden war.277 Anfang April des Jahres 1497 trafen sich, wohl auf persönliche Einladung Ercoles, drei namhafte Gelehrte in Ferrara, um über die Herkunft und die Behandlung der »Syphilis« zu disputieren: der eifrige Hellenist und Aristoteliker Niccol Leoniceno (1428– 1524), der Neuplatoniker Sebastiano d’Acquila (1440–1510) und der Traditionalist und Hofarzt Ercoles, Coradino Gilino (1468–1499).278 Während der vom Paduaner Aristotelismus stark beeinflusste Leoniceno der Ansicht war, die »Syphilis« habe es bereits in der Antike gegeben, sie sei nur von den antiken Ärzten noch nicht erkannt worden, vertrat d’Acquila die Ansicht, die Krankheit entspreche der von antiken und arabischen Schriftstellern beschriebenen Ele273 Ema Lesky, Von Schmier- und Räucherkuren zur modernen Syphiliskur, Ciba-Zschr. 8, 1959, 3174–3189; J. David Oriel, The Scars of Venus, London 1944, 81–87; Leonard John Goldwater, Mercury. A History of Quicksilver, Baltimore 1972, 215–230. 274 Das Verhältnis Torellas zum Quecksilber ist jedoch zwiespältig: Im Tractatus cum consilijs contra Pudendagram seu Morbum Gallicum (1497) empfahl er ausdrücklich Quecksilber, riet im Dialogus jedoch weitgehend davon ab. Zur Syphilistherapie am päpstlichen Hof vgl. Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 113–144, bes. 114–119 (Torella und Pintor); 139–142 (Quecksilber). 275 Practica in arte chirurgica copiosa (1514); Practica in arte chirurgica compendiosa (1517; 1518; 1520; 1522, 1525); Giordano Davide, Giovanni da Vigo (1450–1525), Rivista di storia delle scienze mediche e naturali 17, 1926, 21–35. 276 Salvatore da Renzi, Storia della medicina italiana, Napoli 1848, Band 5, 615. 277 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 44, 46–50. 278 Ebd., 38–87.
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phantiasis. Als Therapie empfahl er einen Aderlass, Vipernwein und Quecksilberpräparate.279 Coradino Gilino hingegen identifizierte die »Syphilis« mit dem aus den antiken Schriften bekannten ignis sacer/ignis persicus des Celsus, Galen oder Avicenna. Die Ursache suchte er im Gotteszorn und der Astrologie, vor allem in der Planetenkonjunktion von Saturn und Mars am 16. Januar 1496 sowie von Jupiter und Mars in einem heißen und feuchten Zeichen am 17. November 1494. Als Therapie empfahl Gilino eine strenge Diät gemäß Galens sex res non naturales, Purgativa, Bäder, Lotionen, Einreibungen mit Quecksilber und eine außergewöhnliche Kauterisation am Kopf.280 Als sich die Fälle von »Syphilis«-Erkrankungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts häuften, ohne dass umfassende therapeutische Erfolge erzielt werden konnten, wurden zunehmend auch rigide seuchenpolitische Vorkehrungen getroffen.281 Es entstanden die ersten Incurabili-Hospitäler in Genua, Bologna, Ferrara, Rom und Neapel.282 Nachdem im Februar 1521 die Gesundheitsbehörde allen erkrankten Bedürftigen befohlen hatte, sich im Spirito Santo kurieren zu lassen, wurde 1522 auch in Venedig das erste Hospital, das nahe der Zaterre im Stadtteil Dorsoduro gelegene Ospedale degli Incurabili, von den wohltätigen Frauen Maria Malipiero und Marina Grimani gegründet.283 1524 betrug die Zahl der dortigen Patienten bereits 80 und im darauffolgenden Jahr war die Zahl sogar auf 150 gestiegen. In der Lagunenstadt hatten insbesondere die Hungerund Seuchenjahre von 1527 bis 1529 und die damit verbundene Landflucht die Ausbreitung der Syphilis begünstigt, weshalb im Ospedale nicht nur »Syphilis«Kranke, sondern auch viele Waisen und Bettler Zuflucht fanden, erkrankte Prostituierte dagegen ab 1530 auf der Giudecca untergebracht werden sollten.284 Aufgrund der sprunghaften Ausbreitung der Krankheit in den ersten Deka-
279 Libellus de epidemia quam vulgo Morbum Gallicum vocant; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 60–66; zu d’Acquilas Interpretatio morbi gallici et cura (1509), gedruckt zwölf Jahre nach dem Disput in Ferrara, vgl. ebd., 66–68. 280 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 68–70. 281 Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 169–194; Ders., Syphilis and Confinement. Hospitals in Early Modern Germany, in: Ders./Norbert Finzsch (Hrsg.), Institutions of Confinement. Hospitals, Asylums, and Prisons in Western Europe and North America, 1500–1950, New York 1996, 97–115. 282 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 145–230. 283 Sanudo, I Diarij, 36 : 102–103 (24. März 1524); ASV, Consiglio dei Dieci, Misti, reg. 45, c. 2; zum Text vgl. Difesa della sanit a Venezia. Secoli XIII–XIX, Mostra documentaria 23 Giugno-30 Settembre 1979, 66, Nr. 3. Zum Hospital siehe Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 59–63; Bernard Aikema/Dulcia Meijers, Gli Incurabili, in: Bernard Aikema (Hrsg.), Nel regno deipoveri: Arte e storia dei grandi ospedali veneziani in et moderna, 1474–1797, Venezia 1989, 131–148; Nelli-Elena Vanzan Marchini, Venezia. Luoghi di paure e volutt, Mariano 2005, 74–77; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 165, 179–183. 284 Nelli-Elena Vanzan Marchini, Venezia. La salute e la fede, Venezia 2011, 132–134.
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den des 16. Jahrhunderts erschienen hierzu zahlreiche medizinische Schriften und Sammelwerke.285 Bereits 1496 publizierte der aus Verona stammende Arzt, Chirurg und Anatom Alessandro Benedetti (1450–1512), leitender Arzt bei den venezianischen Truppen im Krieg gegen Charles VIII., erste medizinische Beobachtungen zur Symptomatik.286 Niccol Mass veröffentlichte in den 1520er Jahren eine erste bedeutende Schrift (Liber de morbo gallico), in welcher er wie der in Padua wirkende Arzt Petrus Maynardus287 Waschungen der äußeren Geschlechtsorgane empfahl.288 In den 1530er Jahren erschienen in Venedig und Basel dann mehrere Sammelwerke (1532, 1535, 1536), in denen Arbeiten der bekanntesten Syphilologen publiziert wurden.289
Abb. 17: Girolamo Fracastoro zeigt dem Schäfer Syphilus und dem Jäger Ilceus eine Statue der Venus, um sie vor den Gefahren der Syphilis zu warnen. Links im Bild ist eine Kurtisane mit Hörnerfrisur und Laute zu sehen. Radierung von Jan Sadeler (1550–1600) nach Christoph Schwartz (1548–1592).
Im Hinblick auf die Komplexität dieser Krankheit waren vor allem die Therapien im Verlauf des 16. Jahrhunderts immer vielfältiger geworden. So gab es neben traditionellen und innovativen Therapiemethoden mittels neuer materia medica nun auch zahlreiche Empiriker, die ungewöhnliche Therapiemaßnahmen erfanden, die ihnen oft ein Vermögen einbrachten. In den 1560er Jahren behandelte etwa Leonardo Fioravanti (1518–1588) die »Syphilis« auf eine ganz besondere Weise, indem er in den Capricci medicinali vor allem die praecipitatio favorisierte, ein Destillat auf Quecksilberbasis, das mit Rosenwasser vermischt 285 Nelli-Elena Vanzan Marchini, I mali e i rimedi, 40–41, Anm. 5; Carlo M. Cipolla, Public Health and the Medical Profession in the Renaissance, Cambridge 1978; Irene Ariano (Hrsg.), Il gioco dell’amore. Le cortigiane di Venezia. Dal Trecento al Settecento. Milano 1990, 47–55. 286 Diaria de bello Carolino, Venezia 1496; Alexandri Benedicti phisici anatomice sive historia corporis humani, eiusdem collectiones medicinales seu aforismi, Venetijs 1514; Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 41. 287 Johann Karl Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten, Band 2, 66–67. 288 Nelli-Elena Vanzan Marchini, I mali e i rimedi, 49. Masss Schrift erschien in den folgenden Jahren in mehreren, teils stark überarbeiteten Neuauflagen (1536, 1559, 1563). 289 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 4 und Anm. 11; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 33.
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wurde.290 Ins Augenmerk der venezianischen Inquisition geriet schließlich ein gewisser Fra Volpe, der am Campo dei Frari geheimnisvollen alchemistischen Experimenten nachging.291 In der zeitgenössichen Literatur wurden die medizinischen Therapien dieser Zeit daher nicht selten in burlesker Manier verhöhnt – etwa durch Giovan Francesco Binos Capitolo in lode del mal francese oder durch das anonyme Recetta de mal franzoso.292 Auch der Goldschmied Benvenuto Cellini berichtete in seiner Autobiographie, die gallische Krankheit habe in Rom insbesondere unter dem Klerus grassiert und der bekannte Chirurg und Anatom Giacomo di Carpi habe durch seine außergewöhnliche Therapie Hunderte von Scudi verdient und sei dadurch zu einem reichen Mann geworden: Dieser tüchtige Mann behandelte […] auch gewisse aussichtslose Fälle der französischen Krankheit, einem Übel, das in Rom unter den Priestern häufig auftritt und unter den reichsten von ihnen besonders verbreitet ist. Dieser fähige Mann war vor allem dadurch bekannt geworden, dass er erklärte, die Krankheit mittels bestimmter Dämpfe auf wunderbare Weise heilen zu können. Doch vor dem Beginn der Kur wollte er jeweils das Honorar vereinbaren, und diese Honorare beliefen sich auf Hunderte und nicht etwa Zehner von Scudi!293
Tomaso konnte somit bereits auf umfangreiche Fachliteratur zurückgreifen, als er Mitte der 1530er Jahren beschloss, selbst eine Abhandlung über die »Syphilis« zu verfassen, die in dreifacher, fortwährend überarbeiteter und erweiterter Auflage erscheinen und seine erste groß angelegte medizinische Schrift darstellen sollte. Darin setzte er sich nicht nur mit dem Ursprung der Krankheit und diversen Therapien auseinander, sondern lieferte auch zahlreiche Rezepte (recipe) zur Herstellung von Therapeutika. Die erste Ausgabe erschien 1537 bei dem venezianischen Drucker Joannes Antonio de Nicolini de Sabio.294 Bei der 1538 gedruckten Ausgabe handelte es sich wohl lediglich um eine von den errata bereinigte Fassung, die 1537 noch im Anhang vermerkt waren, während eine zweite (d. h. eigentlich dritte) überarbeitete Auflage 1545 erschien.295 Im Anhang 290 William Eamon, The Professor of Secrets, passim. 291 William Eamon, The Canker Friar. Piety and Intrigue in an Era of New Diseases, in: Franco Mormando/Thomas Worcester (Hrsg.), Piety and Plague. From Byzantium to the Baroque, Kirksville 2007, 163ff. 292 Folke Gernert, Francisco Delicados Retrato de la Lozana Andaluza und Pietro Aretinos Sei giornate. Zum literarischen Diskurs über die käufliche Liebe im Cinquecento, Genf 1999, 146ff. 293 Jacques Laager (Hrsg.), Benvenuto Cellini, 77. 294 Mali Galeci Sanandi, Vini Ligni, et Aquae: unctionis, ceroti, suffumigij, praecipitati, ac reliquorum modi omnes, Venetijs 1537. Die Schrift wird im folgenden unter dem Titel De morbo epidemico (1537) zitiert. 295 BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 (=3601). Auf diese beiden Ausgaben bezog sich auch Pietro Aretino in seinem 1545 publizierten Brief (Carpi il mal francioso due volte impresso a Venezia).
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dieser Ausgabe befand sich auch die kleine Schrift Depilativa, dentativaque,296 in der sich Tomaso mit dem Ausfallen der Haare, Nägel und Zähne als Folgen einer Infektion auseinandersetzte. Aber erst aus der dritten, bei Petrus de Franciscis 1575 erschienenen Auflage,297 in der diese Schrift nach dem zehnten Kapitel (praeparatio ante aquae potum) eingefügt ist, erfährt der Leser, wie es zu dieser Ergänzung überhaupt gekommen war. 1538 wandte sich der Veroneser Arzt Bartolomeo Gaiono (1519–1564)298 brieflich an Tomaso Rangone, da dieser ihm seine eben gedruckte Abhandlung zugeschickt hatte, worüber Gaiono auch lobende Worte verlor, sich jedoch wunderte, dass der gelehrte Arzt einige wichtige Details übergangen habe.299 Bewährte Rezepte fügte Tomaso daher 1538 umgehend in dem ergänzenden Zusatz De Depilativa, dentativa, unguitiva reliquisve simpthomatibus hinzu, wobei er betonte, Haarausfall in Folge der »Syphilis«-Kur könne man zwar kurieren, nicht jedoch ausgefallene Zähne! Auch wenn Niccol Mass bereits 1532 und 1536 den Ausfall der Haare infolge einer »Syphilis«-Infektion erwähnt hatte, kann Tomaso Rangone daher als erster Syphilologe betrachtet werden, der sich mit dem Ausfall der Nägel ausführlich beschäftigt hatte.300 An den Anfang der 1537/1538 erschienenen Ausgabe setzte Tomaso Rangone eine Widmung an Guido Rangoni, dessen Siegen zu Ehren er dieses Buch verfasst
296 BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 (=3601). 297 WLL, Nr. 50977. Der vollständige Titel dieser Ausgabe lautet: Thomas Philologus Ravennas […] Malum gallecum depilativam, unguitivam, dentativam, nodos, ulcera, vitia quaeque, affectus et reumata, usque ad contortos sanans, ligni Indi, aquae, vini, sublimati, Cynae, spartae parillae, Huysan, Hetechen, Caravalgij alvar, mechoacan, antimonij, unctionis, ceroti, suffumigij, praecipitati seminis Indi, ac additorum mundi novi et reliquorum. Modos omnes et facultates explicat. Tertia impressio. Die Ausgabe wird im folgenden als De morbo epidemico (1575) zitiert. 298 Richard Palmer, The Studio of Venice, 77. Bortolomeo Gaiono hatte am 5. März 1519 am Studio sein Studium beendet. Er hielt 1518/19 in Padua Vorlesungen zu den drei Büchern des Avicenna, weshalb die Bekanntschaft mit Gaiono wohl bereits auf diese Zeit zurückgehen könnte. Gaiono verfasste mit weiteren bekannten Ärzten eine Abhandlung über den Aderlass, die Duae quaestiones medicae (1567). Dem in der Biblioteca Marciana aufbewahrten Exemplar von 1537 wurde dieser Appendix noch handschriftlich beigefügt, eventuell als Vorbereitung für die bevorstehende Drucklegung. Möglicherweise stammt die Abschrift auch aus der Feder Bartolomeo Gaionos (Barth. Gaionus medicus Veronensis), da sie Ähnlichkeiten mit dem Testament aufweist. 299 De morbo epidemico (1575), c. 27r : Sensi, quam bene oleat officina illa tua, in qua nil cuditur, quod non praeclarum sit, et excellens […]. Non erat adeo de facili (me iudice) sub silentio praetereundum. Ut quia, cum apprime norim prudentissimum ingenium tuum. Et te nihil sine ratione agere. Ideo huius causam scire vehementer cupio. 300 Johann Karl Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten, Band 2, 167. Eingehender sollte sich dieser Thematik erst wieder 1553 der Arzt Antonio Musa Brassavola (1500–1555) widmen.
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habe.301 Um die französischen Verbündeten nicht zu kompromittieren, hatte er »Gallicus« jedoch in »Gallecus« verändert, da Guido Rangoni 1536 wieder in den Dienst des französischen Königs getreten war.302 Kurz nach dem überraschenden Tod Guido Rangonis schickte Tomaso diese Abhandlung am 8. Februar 1538 zusammen mit einem Begleitbrief und der heute verlorenen Schrift Giudicio intitolato a Christo an Federico II. Gonzaga nach Mantua. Zur letzten Ausgabe von 1575 war Tomaso von dem venezianischen Arzt Agostino Gadaldino (1515– 1575) angeregt worden,303 der auch als Prior des venezianischen Collegium medicum wirkte und eine wichtige Rolle in der Überlieferung und Verbreitung von Galens medizinischen Schriften spielte. Als Verlagsleiter war er an der bei dem Drucker Giunta in lateinischer Übersetzung erschienenen Ausgabe maßgeblich beteiligt gewesen und hatte Andreas Vesalius für seinen Beitrag ältere Handschriften beschafft.304 Seit 1537 hatte sich das Wissen um die Symptomatik und Therapie der »Syphilis« jedoch um ein Vielfaches vermehrt: So war 1565 postum auch Gabriele Fallopias (ca. 1523–1562) Abhandlung erschienen, in der der Arzt zwar traditionelle Kuren empfohlen hatte, im Kapitel De praeservatione a carie gallica jedoch erstmals eine Art Kondom (linteolum ad mensuram glandis paratum) erwähnte, mit dem sich Männer vor einer Infektion beim Geschlechtsverkehr schützen sollten.305 Ein Jahr später war in Venedig auch ein zweibändiges, von Aloisius Luisinus (geb. 1526) herausgegebenes Kompendium verlegt worden, das den venezianischen Ärzten Niccol Massa und Bernardino Tomitano gewidmet war.306 Zahlreiche dieser neuen Erkenntnisse und Therapievorschläge 301 De morbo epidemico (1537), c. 1r : Ita ego quoque tuae excellentiae alumnus […] brevem librum istum […] dicare valui. 302 BMV, Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 (=3601); BMV, Misc. 2472 (11); BMV, Misc. 2237/1; BMV, 5D 186. 303 Richard Palmer, Physicians and the Inquisition in Venice. The case of Girolamo Donzellini, in: Ole Peter Grell/Andrew Cunningham (Hrsg.), Medicine and the Reformation, London/ New York 1993, 118–133. Gadaldino war der Sohn von Antonio Gadaldino (1478–1575), einem Verleger und Schriftsteller aus Mantua, vgl. DBI, s.v.a. Gadaldino, Antonio. 304 Herausgeber der Giunta-Edition war der paduanische Medizinprofessor Giovanni Battista del Monte gewesen, vgl. Ivan Garofalo, Agostino Gadaldini (1515–1575) et le Galien latin, in: Vronique Boudon-Millot/Guy Cobolet (Hrsg.), Lire les mdecins grecs la Renaissance, Paris 2004, 283–322; Klaus Bergdolt, Zwischen »scientia« und »studia humanitatis«, 43. Gadaldinos Sohn Belisario promovierte am 13. August 1572 am Studio und wirkte zweimal als dessen Prior (1578–79 und 1580–81), vgl. Richard Palmer, The Studio of Venice, 166. Als Autor tat sich Gadaldino insbesondere bei der Edition der Werke des bekannten venezianischen Arztes Vittorio Trincavella hervor. 305 Robert Jütte, Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung, München 2003, 149– 170. 306 De Morbo Gallico omnia quae extant […], Venetijs 1566–1577; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 4–5. Der Band umfasste 59 Beiträge renommierter Fachautoren und gab so einen Überblick über das gesamte Wissen der Zeit. Die Zusammenstellung des
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waren in Tomasos erweiterte Ausgabe von 1575 eingeflossen, in der neben traditionellen Therapien nun auch vermehrt neue materia medica erörtert wurden. Zu der bereits 1537 abgehandelten Guajakwurzel (ligno indico) kamen Therapien mit der Chinawurzel (radix chinae) und der Sarsaparilla (salsa perilla) sowie viele von Tomaso selbst entwickelte Rezepte hinzu. Auf diese späte Ausgabe, die nun das gesamte Wissen seiner Zeit umfasste, bezog sich im 18. Jahrhundert unter Hervorhebung des Kapitels Huysan, Hetechen, Caravalgij auch der Anatom Giovanni Battista Morgagni (1682–1771).307 In allen drei Auflagen seiner »Syphilis«-Schrift beschäftigte sich Tomaso Rangone, wie bereits zahlreiche Humanisten vor ihm, ausführlich mit dem Ursprung und der Symptomatik der Krankheit, die durch seltsame Ausschläge (ulcera incurabilia, pustulae, dolores, ac tubera), spezifische Schmerzen (dolores) wie stechende periodisch auftretende Kopf- und Gliederschmerzen sowie knotenartige Geschwulste (tubera, pustulae) gekennzeichnet ist.308 Als problematisch erwies sich dabei auch für Tomaso, dass diese Symptomatik nicht mit den traditionellen Vorstellungen der Humoralpathologie in Einklang gebracht werden konnte: War es nun eine Krankheit der Haut, der inneren Organe oder des Kopfes? Daher blieb für ihn die wirkliche Natur der Krankheit – und damit auch die Therapie – nicht einfach zu bestimmen, da sie alle Bereiche des menschlichen Körpers betrifft.309 Die Unsicherheit über die Natur der »Syphilis« gilt daher als Erklärung für die zahllosen Spekulationen um ihre Herkunft, von der Tomaso keiner den eindeutigen Vorzug geben wollte.310 Tomaso nennt an dieser Stelle sämtliche zeitgenössischen Erklärungsmuster der »Syphilis«-Literatur, deren Topoi nicht zuletzt den Paradigmen der Pestliteratur folgten311 und bei der Umsetzung der Gesundheitsregeln in den Hospitälern beachtet wurden. Entsprechend der hippokratisch-galenischen Tradition wurde die Ursache der Erkrankung auch auf eine Dyskrasie der Säfte zurückgeführt, weshalb es zu dermatologischen Veränderungen komme, da die schlechten humores vom Körperinneren nach
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Luisinus blieb bis ins 18. Jahrhundert aktuell und wurde von dem Leidener Arzt Herman Boerhaave 1728 erneut herausgegeben, unterstützte sie doch die von Boerhaave favorisierte radicalis curatio mittels Quecksilber. Niccol Mass war mit Alvise Luisini eng befreundet, vgl. Richard Palmer, Nicol Massa, 386. Giambattista Morgagni, Opuscula Miscellanea II, Venetijs 1763. De morbo epidemico (1537), c. 1r/v ; c. 7v/8r; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 127–129; 206–212. Die Beschreibung der Symptomatik wird in der 1575 erschienenen Ausgabe übernommen (c. 10v–11v). De morbo epidemico (1537), c. 5r : Non simplex huius morbi natura mihi videtur […]. Vgl. auch im Zusammenhang mit der evacuatio (ebd., c. 10v). De morbo epidemico (1537), c. 5r–7v ; die Ausgabe von 1575 (c. 7v–10v) übernimmt diesen Katalog unverändert. Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum Sanctum, 71; Tilmann Walter, Die Syphilis als astrologische Katastrophe, 183.
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außen drängten.312 Manche führten die Ursache auf den Zorn Gottes für die Sünden der Menschheit zurück,313 wieder andere suchten den Grund in ungünstigen Sternenkonstellationen.314 Dazu gehörte auch Niccol Mass, der den Ursprung der »Syphilis« auf astronomisch-astrologische Verbindungen zurückführte, insbesondere die im Jahr 1584 eingetretene unheilvolle Konjunktion der Planeten Saturn und Venus im Zeichen des Skorpions.315 Eine Infektion konnte jedoch ebenfalls durch ein Kontagium, welches durch einen direkten Kontakt mit bereits Infizierten zustandegekommen war (etwa über Kleidung, Speise, Trank oder Koitus316), ausgelöst werden,317 eine besonders von Girolamo Fracastoro favorisierte Theorie. Dieser hatte in seiner zweiten, 1546 erschienenen dreibändigen Schrift über Infektionskrankheiten, die Ansteckung mit »Syphilis« auf ein Kontagium zurückgeführt. Das Kontagium konnte von Mensch zu Mensch übertragen werden, indem bestimmte Qualitäten wie 312 De morbo epidemico (1537), c. 6v/7r/v : […] quorum omnium causa est humorum de membris nobilibus ad ignobilia […]. Vgl. zu diesem Aspekt Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 122. 313 De morbo epidemico (1537), c. 5v : Aut divina ira velut sentiunt theologi […]. Vgl. zur Sündenkonzeption Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 50–52; Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas, 165–184; William Eamon, The Professor of Secrets, 25–26. Eine Reaktion auf den Gotteszorn war nicht selten die Suche nach Sündenböcken, vgl. Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 49ff. 314 De morbo epidemico (1537), c. 5v : Vel syderum sit in fluxu sicut opinantur astrologi […].Sanudo (I Diarij, 1 : 233–234) schrieb 1496 die seltsame aegritudine in li corpi humani dicta mal franzoso noch dem Einfluss der Gestirne zu. In der kleinen Schrift De repentinis, mortiferis (1535) hatte Tomaso in ungünstigen Sternenkonstellationen ebenfalls die Ursache für die Franzosenkrankheit gesehen. Zur Verbindung von Astrologie und Syphilis vgl. Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 107–112; 119–121; Nelli-Elena Vanzan Marchini, I mali e i rimedi, 46; Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Die Krankheit aus dem Gestirn. Syphilis und Astrologie, in: Stephan Füssel (Hrsg.), Ulrich von Hutten 1488–1988, München 1989, 117–127; Tilmann Walter, Die Syphilis als astrologische Katastrophe, 165–186. 315 De morbo epidemico (1537), c. 5v ; Richard Palmer, Nicol Mass, 392; Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 46. Nach damaliger Vorstellung wird die Leber durch eine Fehlfunktion überhitzt und macht das Blut salzig. Diese These wurde auch von dem Arzt Alexander Seitz (1509) vertreten, vgl. Tilmann Walter, Die Syphilis als astrologische Katastrophe, 177. 316 Tomaso Rangone verweist auf kongenitale Syphilis als Beweis, dass die Erkrankung nicht ausschließlich durch Geschlechtsverkehr übertragen werden kann, vgl. De morbo epidemico (1537), c. 8r. Bei den zahlreichen Kirchenmännern, die mit Syphilis infiziert waren, sah er die Ursache vielmehr in der schlechten Luft (Miasma) und der »Konversation« mit Infizierten (minima conversatione cum infectis). Zu dieser von Mass ebenfalls vertetenen These siehe Richard Palmer, Nicol Mass, 392. 317 De morbo epidemico (1537), c. 6r. Zur Theorie des Kontagiums vgl. Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 122. Unerwähnt bleiben in allen Auflagen von De morbo epidemico die »Verschmelzungstheorien«, d. h. der Geschlechtsakt eines leprösen Mannes und einer tripperkranken Frau (Paracelsus) oder die Verschmelzung mit einem ElephantiasisKranken (Sebastiano d’Acquila). Zu diesen Theorien vgl. auch Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 46.
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Wärme, Feuchtigkeit aber auch Licht, Geschmack oder Töne ohne unmittelbare Berührung eine Infektion bewirkten.318 Die Vererbbarkeit der »Syphilis« erklärte Tomaso schließlich mit der Zeugungstheorie des Hippokrates, nach dessen De sacro morbo »alle Teile« des elterlichen Körpers an der Entwicklung des Kindes beteiligt seien.319 Schließlich erwähnte Tomaso die bereits 1497 von Leoniceno formulierte These, welche die »Syphilis« mit Überschwemmungen und den häufig in Folge auftretenden peste in Verbindung brachte.320 Außerdem könnte die Ursache in feuchter und warmer Luft (Miasma) zu suchen sein, die wiederum durch die Planetenbewegung ausgelöst werde und insbesondere in Bologna, Ferrara, Mantua oder Venedig vorkomme eine Theorie, auf die Tomaso auch in De modo collegiandi (1565) Bezug genommen hatte.321 Entschieden wies Tomaso jedoch die vorherrschende Ansicht zurück, es handele sich um eine neue Krankheit, die durch das Heer des französischen Königs Charles VIII. eingeschleppt worden sei, nicht zuletzt, um das Wohlwollen des Königs zu gewinnen, in dessen Diensten sein Mäzen und Freund Guido Rangoni zum Zeitpunkt der Drucklegung noch stand.322 Mit verheerenden Folgen habe dieses Leiden bisher gewütet und je nach Region daher auch ganz unterschiedliche Bezeichnungen erhalten: Von den Soldaten seien die Ausschläge als tabellae, von den Bewohnern des Kaukasus als bulle, von den Langobarden schließlich als brogiole und von den Spaniern als labones bezeichnet worden.323 Obwohl sich der Ausdruck morbus gallicus eigentlich auf das französische Heer beziehe, seien die ersten Fälle doch in Italien aufgetreten.324 Im
318 De contagionibus et contagiosis morbis et eorum curatione libri tres, Venetijs 1546; Viktor Fossel (Hrsg.), Girolamo Fracastoro, Drei Bücher von den Kontagien, den kontagiösen Krankheiten und deren Behandlung (1546), Leipzig 1910; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 246–251; Vivian Nutton, The Seeds of Disease: an Explanation of Contagion and Infection from the Greeks to the Renaissance, Medical History 27, 1983, 1–34. Ein vehementer Gegner dieser Theorie war der Arzt und Botaniker Mattioli in seinem Buch Morbi Gallici novum ac utilissimum opusculum, Bononiae 1533. 319 De morbo epidemico (1537), c. 5r/5v : Aut enim haereditarius morbus est […]. Sanudo (I Diarij, 1 : 233) bemerkte ebenfalls, dass die Syphilis erblich (kongenitale Syphilis) ist, da sie sogar bei Kindern verbreitet sei (etiam puti l’hano). 320 De morbo epidemico (1537), c. 6r/6v. Zu Leonicenos Theorie siehe Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 46. 321 De morbo epidemico (1537), c. 6r ; De modo collegiandi (1565), c. 14r: […] spirant frequentes aerem contaminant, ac morbos gignunt. Quod etiam gallis accidit anno 1494 sub Napoli. 322 De morbo epidemico (1537), c. 1r : Morbus quidem Gallecus vocatus novius recentiusque; ceteris morbis praeter nomen nihil, nec id quidem, mihi habere videtur. Nam eandem naturam unde gignitur, quam ceteri morbi habet. Naturam autem, causamque novam ac recentem, ut quod ante gallorum adventum in Italiam maioribus nostris non innotuerit […]. Dieses Kapitel wurde in der Ausgabe von 1575 nur wenig erweitert. 323 Ebd., c. 1v. 324 Ebd., c. 1v.
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Zuge der Entdeckungen in der Frühen Neuzeit und dem Auftauchen der »Syphilis« war diese bereits in der Antike sowohl von Ärzten wie Laien vieldiskutierte Frage nach neuen Krankheiten wieder aktuell geworden.325 Ursprünglich war sie in der griechischen und lateinischen Geschichtsschreibung und Ethnographie diskutiert worden, in der von den Schriftstellern teilweise unbekannte und in optischer Hinsicht auffällige Krankheiten der jeweiligen Volksgruppen detailliert beschrieben worden waren.326 Die Frage, ob es überhaupt neue Krankheiten gibt, war in der Antike ausführlich von Plutarch in den Quaestiones conviviales am Beispiel der Elephantiasis erörtert327 und lange vor Tomaso von den Humanisten wiederaufgenommen worden.328 Aktuelle Diskussionen haben die bisher ungelöste Frage nach der Herkunft der »Syphilis«329 wieder vermehrt thematisiert: Aus historischer Sicht kann etwa auf den zwei Jahre vor dem Einmarsch Charles’ VIII. entstandenen autobiographischen Bericht des Humanisten Angelo Poliziano (1454–1494) verwiesen werden (Sylva in scabiem), der dort eine rätselhafte Krankheit erwähnt, deren Symptome den späteren Krankheitsbeschreibungen gleichen. Auch rezente Untersuchungen von Skelettfunden und genetische Untersuchungen lassen vermuten, dass es den Erreger bereits in Europa gegeben haben könnte.330 Nach einer weiteren Theorie könnte es sich gar nicht um die Syphilis, sondern um die morphologisch identische Treponematose Frambösie gehandelt haben, deren Vorkommen sich heute auf die Tropen beschränkt.331 Als nach eigener Aussage erfolgreicher »Syphilis«-Therapeut332 offeriert To325 William Eamon, The Canker Friar, 156–173. 326 Mirko Grmek, La dnomination latine des maladies considres comme nouvelles par les auteurs antiques, in: Guy Sabbah (Hrsg.), Le Latin mdical, St. Etienne 1991, 195–215, bes. 206–208. 327 Unter der Bezeichnung Elephantiasis wird heute eine in den Tropen und Subtropen auftretende, durch Filarien übertragene Infektionskrankheit verstanden, vgl. G. Nelson, Lymphatic Filariasis, in: Francis E. G. Cox, The Wellcome Trust Illustrated History of Tropical Diseases, London 1996, 294–303. 328 So hatte Niccol Leoniceno in De epidemia quam Itali morbum Gallicum, Galli vero Neapolitanum vocant, libellus (1497) die »Syphilis« von Elephantiasis und Lepra differenziert. 329 Olivier Dutour et al. (Hrsg.), L’origine de la Syphilis avant ou aprs 1493 ?/The Origin of Syphilis in Europe, before or after 1493?, Paris 1994. 330 Maciej Henneberg/Renata J. Henneberg, Treponematosis in an Ancient Greek Colony of Metaponto, Southern Italy 580–250 BCE, in: Olivier Dutour et al. (Hrsg.), L’origine de la Syphilis avant ou aprs 1493 ?/The Origin of Syphilis in Europe, before or after 1493?, 92– 98; Maciej Henneberg/Renata J. Henneberg, Reconstructing Medical Knowledge in Ancient Pompeij from the Hard Evidence of Bones and Teeth, in: Jürgen Renn/Giuseppe Castagnetti (Hrsg.), Homo Faber : Studies on Nature. Technology and Science at the Time of Pompeij, Rome 2003, 169–187; Christian Meyer et al. (Hrsg.), Syphilis 2001 – a paleopathological reappraisal, Homo 53/1, 2002, 39–58. 331 Tilmann Walter, Die Syphilis als astrologische Katastrophe, 172; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 67. 332 De morbo epidemico (1537), c. 4r.
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maso Rangone dem Leser ein wahres Potpourri diverser Therapiemöglichkeiten gegen die tückische Lustseuche, die teilweise auf den therapeutischen Anweisungen der antiken Autoren Celsus, Galen und Hippokrates beruhen, jedoch mit der zunehmenden Akzeptanz im Zuge der geographischen Expansion auch mit neu entwickelten Therapien verbunden wurden. Als traditionelle Therapievorschriften333 können vor allem die umfassenden Ratschläge zur Regulierung der Lebensweise als begleitendes, die Kur unterstützendes Therapeutikum und zugleich wirksames Prophylaktikum betrachtet werden, die im Sinne der traditionellen Humoralpathologie die intensive körperlichen Reinigung (evacuatio) und Entfernung der schädlichen Stoffe mithilfe flüssiger Therapeutika, destilliertem Wassers, Dekokten, medizinischen Bädern und oral eingenommener Therapeutika wie Öle oder Sirup umfassten. Die äußerlich angewendeten Therapieformen bestanden insbesondere aus (oft quecksilberhaltigen) Kataplasmen und Salben (cerotum, emplastrum, kataplasma, unguentum) und konnten auch mittels Inhalation dampfförmig verabreicht werden (fomentatio, fumigatio, inhalatio). An erster Stelle stand für Tomaso wieder eine durch die sex res non naturales geprägte Lebensweise.334 Auch Niccol Mass hatte als Kur bereits einen besonderen Lebenswandel empfohlen, der eine gesunde und leichte Ernährung, Beachtung des Schlaf- und Wachrhythmus, eine moderate sexuelle Aktivität sowie ausreichende Bewegung und Spaziergänge einschloss. Obwohl Tomaso den Geschlechtsverkehr als eine Ursache der Erkrankung erkannt hatte, hielt er diesen im Sinn der antiken Sexualhygiene jedoch für ungefährlich, insofern gewisse Sicherheitsmaßnahmen beachtet werden würden, insbesondere in Form von Waschungen mit Wein und einer nach einem bestimmten Rezept zubereiteten speziellen Lösung (Rose, Salbei, Heidelbeere und Absinth in Wein gekocht).335 Da die »Syphilis« im Sinn der traditionellen Humoralpathologie auch als Ungleichgewicht der Körpersäfte betrachtet werden konnte, musste als vorbereitende Therapie vor jeder eigentlichen Kur eine gründliche Reinigung (evacuatio) durchgeführt werden, wobei diese je nach Alter und Gesundheitszustand des Patienten vorsichtig mit traditionellen Mitteln wie Aderlass, Blutegeln an Hämorrhoiden oder durch Abführmittel und artifiziell herbeigeführtes Er-
333 Claudia Stein, Franzosenkrankheit, 83ff. 334 De morbo epidemico (1537), c. 9r/v : dietam quam vivendi regulam dicimus esse medicinam. Auch dieses Kapitel bleibt in der 1575 erschienenen Ausgabe unverändert (c. 12r– 13v). Zur Diät vgl. auch Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 131. Wein ist nach Tomaso Rangones Empfehlungen hingegen während des Regimens durchaus in Maßen erlaubt, vgl. De morbo epidemico (1537), c. 9r. 335 Ebd., c. 10r. Diese Haltung entspricht noch der antiken Vorstellung von der relativen Mäßigung der Sexualität, vgl. Tilmann Walter, Die Syphilis als astrologische Katastrophe, 183.
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brechen vorgenommen werden konnte.336 Nach dieser erfolgreichen Reinigungskur sollten vor allem das venezianische Wundermittel Theriak und eine entsprechende Diät unterstützend wirken.337 Mithilfe eines Dekokts, dem oft bewährte abführende Pflanzen wie Kassia, Manna oder Tamarinde beigegeben waren, konnte diese evacuatio auch beschleunigt werden.338 Diese Pflanzen sollten nämlich die Galle reduzieren, wurde die Ursache der »Syphilis« doch von vielen Ärzten auch in einem phlegma-ähnlichen Gift des Blutes gesucht.339
8.5.2.1 Guajak, Chinawurzel und Sarsaparilla: ein vielversprechendes Therapeutikum? Nicht zuletzt seit Ulrich von Huttens 1519 erschienenem Loblied auf die Wirksamkeit einer Kur mithilfe des in Westindien beheimateten Guajakbaumes340 waren die humanistischen Mediziner vermehrt auf Drogen aus der neuen Welt aufmerksam geworden. Im Gegensatz zum gefährlichen Quecksilber erhofften sich die europäischen Ärzte vor allem ein wirksames Therapeutikum mit weniger schädlichen Nebenwirkungen. Da das Guajak bei den Indianern nach Berichten der heimkehrenden Seefahrer zudem in Form eines Suds als effizientes Mittel gegen pockenartige Hautkrankheiten eingesetzt worden war, konnte es im Sinne der etablierten Humoralpathologie als schweißtreibendes Therapeutikum angesehen werden. Obwohl diese neue Droge nachweislich auch von weniger wohlhabenden Patienten genutzt wurde,341 wird sie vorwiegend in Traktaten für die Oberschicht erwähnt. Schon bald entwickelte sich ein lebhafter Handel mit dem Wunderholz, dessen Monopol größtenteils in Augsburg bei den Fuggern zusammenlief, die hierfür sogar ein eigenes »Holzhaus« errichten lie336 De morbo epidemico (1537), c. 10v–11r. Die Beschreibung der Maßnahmen bleibt in der 1575 publizierten Ausgabe unverändert (c. 14r–14v); zur Therapie der körperlichen Reinigung vgl. Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum Sanctum, 70–71. 337 De morbo epidemico (1537), c.12r/v : Post evacuationem demum valet tyriaca, Mitridatum […]; zum Einsatz von Theriak bei Syphiliskuren vgl. Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 71. 338 De morbo epidemico (1537), c. 11r. Es folgt eine genaue Aufstellung diverser bewährter Dekokte und Hinweise zur Dosis und zum Zeitpunkt der Einnahme. 339 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 70. 340 Robert S. Munger, Guaiacum, the Holy Wood from the New World, Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 4, 1919, 196–229; Teresa Huguet-Termes, New World Materia Medica in Spanish Renaissance Medicine: from Scholary Reception to Practical Impact, Medical History 45, 2001, 359–376; Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 47–48; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, passim; Walter Sneader, Drug Discovery. A History, Chichester 2005, 33ff.; zu Hutten vgl. Michael Peschke, Ulrich Hutten (1488– 1523) als Kranker und als medizinischer Schriftsteller, Köln 1985; Claudia Stein, Franzosenkrankheit, 203–208. 341 Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 144.
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ßen.342 Die ersten Guajakkuren fanden in Europa spätestens um 1516 statt, da aus diesem Jahr das älteste Guajakrezept von einem spanischen Gewürzhändler stammt, welches in der handschriftlichen Kopie eines italienischen Medizinstudenten von 1519 erhalten ist.343 Die ersten ausführlichen Beschreibungen einer Guajak-Behandlung erschienen in Deutschland allerdings erst 1518,344 gefolgt von Ulrich von Huttens (1488–1523) im Jahr 1519 publiziertem Patientenbericht der (keinesfalls schmerzfreien) Therapie mit dem »Pockenholz«.345 Wenige Jahre später (1526) beschrieb auch Gonzalo Fernndez de Oviedo y Valds (1578–1557) im Sumario de la Natural Historia de las Indias ausführlich das Guajak.346 Der spanische Priester Francisco Delicado (1480–1535) berichtete 1529 über das Therapeutikum, das ab 1517 in Italien zunehmend als Alternative zur Quecksilberkur eingesetzt worden sei,347 weshalb Niccol Mass bereits in der ersten Ausgabe seiner Schrift Liber de Morbo Gallico (1527)348 das Guajakholz ausdrücklich empfahl. Gleichwohl gab es einige Kritiker, die nicht die unbegrenzte Euphorie ihrer Kollegen für das Wunderholz teilten: 1527 veröffentlichte der französische Arzt Jacques de Bthencourt eine kritische Diatribe zwischen Quecksilber und Guajak (wobei der Autor dem Quecksilber eindeutig den Vorzug gab),349 gefolgt 1529 von Paracelsus (1493–1541), der ebenfalls eine kritische Schrift über das Pockenholz verfasst hatte.350 Benvenuto Cellini berichtete schließlich, er habe sich 1532 und 1533 trotz eindringlicher Warnung seiner Ärzte zweimal erfolgreich einer Guajakkur unterzogen.351 Kritisch sollte sich 1546 auch Girolamo Fracastoro äußern, obwohl er 1530 in seinem Lehrgedicht noch die Heilwirkung des Guajaks gepriesen hatte. Stattdessen empfahl er, neu Infizierte bevorzugt mit einer Reinigungskur zu behandeln, dann erst zu Guajak, Chinawurzel und – als letzte Möglichkeit zum Quecksilber zu grei342 Herman Kellenbenz, Die Fugger in Spanien und Portugal bis 1560. Ein Großunternehmen des 16. Jahrhunderts, München 1990, Band 1, 393; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 42–45. Claudia Stein, Franzosenkrankheit, 115ff. 343 Robert S. Munger, Guaiacum, the Holy Wood from the New World, 197 und 201; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 30–31. In De morbo epidemico (1537), c. 12v, bestätigte auch Tomaso Rangone, dass das Guajak seit 1517 in Italien eingesetzt werde. 344 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 32–33. 345 De Guajaci medicina sive morbo Gallico (postum 1533 erschienen); Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 33–34; Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 146. 346 Bruno Wolters, Verbreitung amerikanischer Nutzpflanzen auf präkulumbischen Seewegen durch Indianer, Düsseldorf 1999, 1. 347 Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 187–188. 348 Richard Palmer, Nicol Mass, 293; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 36. 349 Ebd., 115. 350 Vom Holz Guaiaco gründlicher Heylung (1529); zu Paracelsus siehe Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 106–114. In seinem Traktat über die Syphilis (1530) sprach sich Paracelsus dezidiert für die Quecksilberkur aus. 351 Jacques Laager (Hrsg.), Benvenuto Cellini, 178–179; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 41.
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fen.352 Fracastoro folgte damit einer Tendenz, die sich insbesondere zu Beginn der 1540er Jahre abzeichnen sollte, als die Verwendung des Guajakholzes zunehmend kritisch gesehen und nach Substitutionspräparaten gesucht wurde, die oft auch in Kombination verwendet werden sollten.353 Als wirksames Heilmittel wurde von Tomaso 1537 ausschließlich das Guajakholz354 empfohlen, woran er zwar in den folgenden Editionen festhalten sollte, jedoch in der letzten Ausgabe von 1575 noch die Chinawurzel und die Sarsaparilla hinzufügte. Der Leser erhält dabei umfassenden Einblick in die Historie dieses außergewöhnlichen und für alle Altersklassen überaus gut verträglichen Therapeutikums, das als wahres Wundermittel mit umfassenden therapeutischen Eigenschaften gilt, sei es nun gegen Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Bewusstseinsstörungen, Melancholie, Schwindelanfälle oder sogar Epilepsie.355 Allerdings hegte Tomaso Zweifel, ob es sich beim Guajak wirklich um ein neues Therapeutikum oder vielmehr um eine Spezies des von Dioskurides im ersten Buch seiner De materia medica libri quinque beschriebenen lignum indicum/ Karon (Avicenna) handele, da das Guajak doch über ein identisches Aussehen und die gleichen physikalischen Eigenschaften verfüge.356 Eine Übereinstimmung zwischen den beiden Hölzern war anfangs (1527) auch von Paracelsus, 1535 von Giovanni Manardo (1462–1536) und 1543 von Walter H. Ryff in seinem Dioskurides-Kommentar vertreten worden.357 Interessanterweise hält Tomaso in der 1575 erschienenen Ausgabe an dieser Ansicht fest und zählt das Guajak nicht zu den neuen materia medica.358 Hinsichtlich der Anwendung des Holzes gab es mehrere Möglichkeiten:359 Am verbreitetsten war das durch Abkochung erzeugte Dekokt,360 welches vom Patienten in bestimmten Abständen heiß eingenommen werden musste, nachdem die erste Phase der Kur, die evacuatio mittels Purgieren und Aderlass, abgeschlossen
352 De contagione et contagiosis morbis et eorum curatione (1554), c. 324r; Patricia VöttinerPletz, Lignum sanctum, 115. 353 Ebd., 94–95; 117–129. 354 De morbo epidemico (1537), c. 12v. 355 Ebd., c. 12v–13v ; c. 14v/15r, c. 19v. Zu den umfassenden therapeutischen Eigenschaften von Guajak vgl. Annerose Menninger, Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee, und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert), Stuttgart 2004, 114; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 186–215. 356 De morbo epidemico (1537), 12v–13v ; zu dieser Problematik siehe auch Patricia VöttinerPletz, Lignum sanctum, 51–54. Zu karon vgl. Luigi Luisini, De morbo gallico, Venetijs 1566, Band 1, 53. 357 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 52–53. 358 De morbo epidemico (1575), c. 2v und ebd., c. 17v–18v : […] ebani speciem lignum indum esse, manifestum est. 359 De morbo epidemico (1537), c. 15r-c. 17r. 360 Ebd., c. 17v ; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 78–86.
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worden war. Dafür wurde das in feine Splitter zerkleinerte Holz361 zusammen mit der Auszugsflüssigkeit in einen neu glasierten und gereinigten Topf gegeben sowie mit Brunnen-, Fluss-, oder Quellwasser übergossen und 24 Stunden mazeriert (stehengelassen). Danach wurde der Inhalt bei schwacher Hitze gekocht, bis ein bestimmter Teil verdunstet war. Der beim Kochen entstandene Schaum wurde abgeschöpft und getrennt in einem Gefäß aufbewahrt.362 Das nach der Beendigung des Kochvorgangs entstandene Filtrat war ein konzentriertes Dekokt, das zur Aufbewahrung in ein abgeschlossenes Gefäß gegeben und ebenfalls sorgfältig verwahrt wurde. Die Rückstände konnten noch ein weiteres Mal zusammen mit Wasser gekocht werden, woraus ein zweites, schwächeres Dekokt hergestellt wurde, das häufig therapiebegleitend eingesetzt wurde. Im Laufe der Zeit wurde diese Zubereitung dann um diverse Möglichkeiten ergänzt, indem etwa andere Auszugsflüssigkeiten als Wasser benutzt, ergänzende Zutaten für das Dekokt verwendet oder der fertigen Abkochung verschiedene andere Stoffe hinzugefügt wurden.363 Abgesehen vom Dekokt konnte das pulverisierte Guajak auch zu Sirup, Elektuarien (Latwege), Öl oder Pulver verarbeitet und in Form von abgeschöpftem Wasser (Rückstand), Klistieren, Bädern, Salben und Räucherungen angewendet werden.364 Diese Guajak-Trinkkur wurde zudem oft mit einer Schwitzkur über einen Zeitraum von etwa 30 bis 40 Tagen kombiniert,365 weshalb die eigentliche Kur daher meist erst am vierten Tag begann, nachdem der Kranke ausreichend auf die Therapie vorbereitet worden war. Das Dekokt und die Nahrung wurden dabei in einem festgelegten Rhythmus mehrmals täglich verabreicht, wobei der Patient gut zugedeckt und gewärmt in einer zugfreien und beheizten Krankenstube ruhen musste, um durch diese Schwitzkur die schädlichen humores auszuschwitzen. Nach fünfzehn bis zwanzig Tagen wurde noch einmal erneut purgiert und dem Patienten wieder ein mit abführenden Therapeutika versehenes Dekokt verabreicht. Ab Mitte der 1550er Jahre entwickelte sich allmählich die Tendenz, diese Dekokte auch mit anderen neu eingeführten Therapeutika zu kombinieren, darunter vor allem mit der Chinawurzel und der Sarsaparilla, die beide zu den Liliengewächsen zählen und sich nur durch die Form des Rhizoms unterschei361 Anfangs wurde die Rinde wohl nicht verwendet, später jedoch ebenfalls hinzugefügt, vgl. ebd., 83. Tomaso Rangone verwendete allerdings nie die Rinde, vgl. De morbo epidemico (1537), c. 14r: cortice haud ita denso, sed immodice duro non adeo in morbis virtute praestanti, ut quamplurimum errent empirici […]. 362 Jedoch nicht nach dem von Tomaso Rangone übermittelten Rezept, vgl. De morbo epidemico (1537), c. 17r. 363 Ebd., c. 16r (Wein) und c. 17r (Honig). Zu Beimischungen vgl. auch Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 84. 364 De morbo epidemico (1537), c. 15r -17r ; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 86–95. 365 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 96–106; Robert Jütte, Heiler und Patienten, 146; Claudia Stein, Franzosenkrankheit, 205.
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den.366 Nachdem die heilsame Wirkung der Chinawurzel erstmals von den Jesuiten erwähnt worden war,367 verbreitete sich die Droge um etwa 1535 von Portugiesisch-Indien über Portugal und die Handelsumschlagplätze Antwerpen und Venedig in Europa.368 Als sich auch noch der an Gicht (oder doch »Syphilis«?) leidende Kaiser Karl V. erfolgreich auf Anraten seines Leibarztes Andreas Vesalius einer Kur mit Chinawurzel unterzogen hatte,369 wurde das Therapeutikum zunehmend auch als Antisyphilitikum und gegen rheumatische Beschwerden eingesetzt. Im 16. Jahrhundert schien aber noch ein weiteres Therapeutikum Abhilfe gegen die Lustseuche zu versprechen: die besagte Sarsaparilla, ebenfalls eine Heilpflanze aus der Neuen Welt.370 Diese war ursprünglich von den Portugiesen entdeckt worden, als sie sich auf der Suche nach Gold an der südamerikanischen Ostküste niedergelassen hatten und dabei beobachteten, dass die einheimischen Indianer eine lilienartige Schlingpflanze als schmerzlinderndes und schweißtreibendes Therapeutikum einsetzten. Der aus Sevilla stammende Arzt Nicols Monardes (ca. 1493–1588) berichtete, die Sarsaparilla sei in Spanien bereits 1545 benutzt worden.371 Tatsächlich findet sich die erste Erwähnung 1537 bei dem Spanier Ruy Diaz de Isla.372 In dem 1555 erstmals in Leiden publizierten Dioskurides-Kommentar von Andrs Laguna (ca. 1510–1559) wurde die Sarsaparilla neben dem Guajak schließlich als »neue« Medizin gegen »neue« Krankheiten empfohlen,373 während sich der Anatom Andreas Vesalius 1546 in seinem Traktat über die Chinawurzel (Epistola de radicis chinae usu) nur mäßig über die Therapieerfolge der Sarsaparilla geäußert hatte. Girolamo Cardano lobte in seiner Abhandlung De radice cina et sarza parilia iudicium (1559) hingegen die 366 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 85–86; 117–129; Freddy Tek Tiong Tan, A. Vesals »Epistola de radicis Chinae usu« in ihrer Bedeutung für die pharmazeutische Verwendung von Smilax China L., Marburg 1966; Bruno Wolters, Drogen, Pfeilgift und Indianermedizin. Arzneipflanzen aus Südamerika, Geifenberg 1994, 74; Saul Jarcho, Quinine’s Predecessor : Francesco Torti and the Early History of Chinchona, Baltimore/London 1993. 367 Bruno Wolters, Verbreitung amerikanischer Nutzpflanzen, 4. Zur Rolle der Jesuiten bei der Verbreitung von Drogen vgl. Sabine Anagnostou, Jesuiten in Spanisch-Amerika als Übermittler von heilkundlichem Wissen, Darmstadt 2000; Harold J. Cook, Matters of Exchange: Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age, Yale 2007. 368 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 118. 369 Ebd., 118; Freddy Tek Tiong Tan, A. Vesals »Epistola«, 29–31. 370 De morbo epidemico (1575), c. 40v. Zur Sarsaparilla vgl. Karl Hartwich, Die Bedeutung der Entdeckung von Amerika für die Drogenkunde, Berlin 1892, 43; 46ff.; Johann Karl Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten, Band 2, 197f.; Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 49; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 118–119. 371 Dos libros, el uno que trata de todas las cosas que se traen de nuestras Indias Occidentales, que sirven al uso de medicina (1565–1571). Vgl. hierzu Teresa Huguet-Termes, New World Materia Medica, 363. 372 Ebd., 363–364. 373 Ebd.
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therapeutische Wirkung der neuen Drogen, wobei er sich von der Chinawurzel zwar weitaus weniger Wirkung versprach, die Sarsaparilla aber als wichtigstes Therapeutikum einschätzte.374 Auch Niccol Mass behandelte die Sarsaparilla 1563 in der Neuauflage seiner Schrift, wobei er diese und auch die Chinawurzel wie Vesalius nur dann empfahl, wenn eine Behandlung mit Guajak erfolglos geblieben sei.375 Ende des 16. Jahrhunderts sollte die Sarsaparilla sowohl die Chinawurzel als auch das Guajak in der »Syphilis«-Behandlung zunehmend ablösen, unter anderem, da sie wegen ihrer trockenen und heißen Eigenschaften auch als wirksames Spezifikum gegen Rheuma und Fieber galt.376 Eine Abhandlung über dieses neue vielversprechende Therapeutikum integrierte Tomaso jedoch erst in die letzte Ausgabe seiner Syphilisschrift,377 da diese in dem umfassenden Kompendium des Luisinus (1566/67) nicht mehr in dieser Form zur Sprache gekommen sei (nonnulla de his fuerint scripta), weshalb er es nun als seine Pflicht betrachtete, die entsprechenden Ergänzungen zu machen.378 Tomaso sah in der Sarsaparilla ein hervorragendes Heilmittel.379 Er hatte zudem selbst Experimente an der Pflanze durchgeführt, deren Eigenschaften mit dem Guajakholz vergleichbar seien.380 Auch die Chinawurzel betrachtete er nicht nur wegen ihrer wärmenden Eigenschaften als ein sehr gutes und wirksames Mittel gegen die Lustseuche und viele andere Gebrechen.381 Er hielt sie auch für überaus leicht verträglich, insbesondere für ältere Menschen.382 Allerdings hegte Tomaso hinsichtlich der therapeutischen Wirkung der Chinawurzel Zweifel, da das Dekokt starke Nebenwirkungen habe.383 Die Einnahme von Chinawurzel und Sarsaparilla sollte letztendlich wie bei der Guajakkur etwa einen Monat lang erfolgen, währenddessen auch ein einschlägiges Regimen eingehalten werden musste.384 Tomaso nennt in seiner Schrift mehrere Rezepte
374 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 119–120. 375 Richard Palmer, Nicol Mass, 393. Zu den Unterschieden zwischen den Editionen von 1532 und 1563 vgl. Freddy Tek Tiong Tan, A. Vesals »Epistola«, 20–21. 376 De morbo epidemico (1575), c. 45v ; Robert S. Munger, Guaiacum. The Holy Wood, 218. Die Sarsaparilla galt noch im 19. Jahrhundert als wirksames Antisyphilitikum. 377 De morbo epidemico (1575), c. 31rff. 378 Ebd., c. 43r. 379 Ebd., c. 43r ; c. 47v : Cum autem in sarsa sint virtutes omnes. 380 Ebd., c. 47v ; ebd., c. 44r : […] cum varijs, diversisque doctoribus conspexissem, et examinissem […]. 381 Ebd., c. 33r : […] nihil hac cina divinius […] in lue optima; ebd., c. 34 r : gallecum divinitus, ac proprie, et ut supra, morbum curat. […] pugnantibus facultatibus descriptis longe plura medicamenta superet. Tomaso Rangone erwähnt an dieser Stelle bereits die Wirkung gegen Fieber (ebd., c. 34r). 382 Ebd., c. 32v : […] medicina beata in qua nullum est nocumentum und ebd., c. 40v (Heilung der Mutter von Girolamo Canal). 383 Ebd., c. 41v–42r; c. 41r: Dicam ego a cina pharmacalem abesse facultatem. 384 Ebd., c. 40v–43r.
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zur Herstellung eines solchen Dekokts, wobei einige auch von ihm selbst konzipiert worden waren, andere von Andreas Vesalius stammten.385 Erwähnenswert ist dabei ein Empiricum, das aus einer Mischung von Chinawurzel, Guajakholz mit Rinde und Sarsaparilla besteht.386 Tomaso verzichtete bei der »Syphilis«-Therapie nicht völlig auf den vorsichtigen Einsatz von Quecksilber,387 kritisierte jedoch die Verwendung des argentum vivum in Verbindung mit Schmierkuren und Kauterisation, die von wagemutigen Chirurgen und Ärzten (chirurgi medicis audaciores) vorgenommen worden waren. Er warnte aber ausdrücklich vor den zu erwartenden Nebenwirkungen.388 Unabhängig von der gewählten Applikationsform waren Quecksilberkuren nämlich mit einem hohen gesundheitlichen Risiko verbunden, denn viele Patienten zeigten oft die untrüglichen Symptome einer Quecksilbervergiftung. Bei oraler Anwendung kam es außerdem zu einer MagenDarm-Entzündung, blutigem Stuhl und heftigem Erbrechen bis hin zu schweren Schädigungen des Zentralnervensystems. Eine Quecksilberkur konnte zudem mit der Verabreichung von Purgantien (traditionell oder mit Therapeutika aus der Neuen Welt) verbunden werden: Dabei wurde der Kranke anschließend mehrmals mit einer Quecksilbersalbe (unguentum)389 eingerieben und musste zur besseren Resorption warme, wollene Unterkleidung tragen und sich in beheizten Räumen aufhalten.390 Lediglich bei »besonders schweren Fällen« empfahl Tomaso die Kur des suffumigium,391 eine nach einem speziellen Rezept durchzuführende Räucherung, die mehrmals täglich mit abnehmender Intensität angewendet werden sollte. Diese, auch von Niccol Mass favorisierte Therapieform,392 hatte erhebliche Konsequenzen für die inneren Organe: Der von einem Zelt umgebene Patient (lediglich seine Nase befand sich außerhalb) musste jeden Tag in einem erhitzten Raum nahe des Ofens sitzen, während auf dem Feuer Quecksilbersulfid 385 Ebd., c. 35v : Tertia aqua fiat philologi invento; ebd., c. 35v ; ebd., c. 38r : Ab Andreae Vessalio, Ioachimo Roclanthus lingua Tusca missum, latine a philologo expositum diebus 24 propinandum. 386 Ebd., c. 39v. Abgesehen von diesen drei Drogen fügte Tomaso Rangone in der letzten Ausgabe seiner Abhandlung (1575) noch weitere Ersatzdrogen hinzu, darunter eine Wurzel namens Huysan beata radice vgl. ebd., c. 49vff. 387 Zur Quecksilbertherapie vgl. Claudia Stein, Franzosenkrankheit, 209–211. 388 De vita hominis (1550), c. 61r: Quis enim non videat plus esse a medico quam a morbo periculi […]; De morbo epidemico (1537), c. 20r ; zu den Nebenwirkungen von Quecksilber vgl. ebd., c. 20v. 389 Zur Zusammensetzung von Quecksilbersalben vgl. Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 74; zu Tomaso Rangones Rezept siehe De morbo epidemico (1537), c. 20v. 390 Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 75. 391 De morbo epidemico (1537), c. 25r ; Jon Arrizabalaga et al. (Hrsg.), The Great Pox, 137–139; Patricia Vöttiner-Pletz, Lignum sanctum, 75–76. 392 Richard Palmer, Nicol Mass, 394.
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und Weihrauch verbrannt wurden. Der Patient musste diese Prozedur so lange wie möglich aushalten, bevor man ihn ins Bett zum Schwitzen brachte. Auch die ebenfalls äußerst risikoreiche und toxische Kur des Präcipitats (praecipitatum), die insbesondere von dem Empiriker Fioravanti propagiert wurde, sollte nur dann angewendet werden, wenn alle anderen therapeutischen Maßnahmen versagt hätten.393 Diese Kur beruhte auf der oralen Einnahme von Quecksilberoxid, das durch Erhitzen von Quecksilber und Salpetersäure (aqua fortis) gewonnen wurde394 und eine stark purgierende Wirkung hatte. Als milderes quecksilberhaltiges Therapeutikum empfahl Tomaso zudem eine auf Wachsbasis (und argentum vivum) beruhende Salbe, die gegen die charakteristischen Läsionen des Gaumens eingesetzt werden sollte.395 Tomaso Rangones »Syphilis«-Schriften sind hinsichtlich ihres Aufbaus und ihrer inhaltlichen Gestaltung durchaus mit anderen Schriften seiner Zeitgenossen vergleichbar. Hinsichtlich der Herkunft der Krankheit teilte er die Meinung Leonicenos, dass es sich nicht um eine neue Krankheit handelte, und wies die Amerika-Theorie entschieden zurück. Bei der Frage nach dem Übertragungsweg entschied er sich ebenfalls nicht für eine einzige Lösung, sondern betrachtete Vererbung, Einfluss der Gestirne, Speisen und Getränke, Gotteszorn, Kontagium, Luft oder Säfteüberschuss als mögliche Ursachen. Wie auch sein Kollege Niccol Mass bewegte sich Tomaso bei seinen Therapieanweisungen innerhalb der traditionellen Medizin:396 Er empfahl als primum instrumentum vor allem ein strenges Regimen gemäß der sex res non naturales vor und nach der Kur, um einer erneuten Infektion vorzubeugen,397 sowie Waschungen nach dem Geschlechtsverkehr. Zudem riet er zu Aderlass oder Kuren mit Quecksilber in Form von Salben, Streupulvern sowie Schwitz- und Schmierkuren. In seiner ersten Syphilisschrift hatte Tomaso noch auschließlich Guajakholz empfohlen, schloss in der vierten Auflage jedoch auch andere Therapiemöglichkeiten mit Chinawurzel oder Sarsaparilla mit ein, ohne sich jedoch auf eine einzige Kur festzulegen. Besondere Verdienste kommen Tomaso bei der Therapie mit der Sarsaparilla zu, die er als Erster in vollem Umfang beschrieb. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Erwähnung des Zahn-, Nagel- und Haarausfalls als Folge einer »Syphilis«(-Therapie). Für die bleibende Popularität von Tomaso Rangones
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De morbo epidemico (1537), c. 26v. William Eamon, The Professor of Secrets, 75, 79–80. De morbo epidemico (1537), c. 23r/v. Niccol Mass, De morbo gallico (1537), Kap. 7, c. 13v : Neque me ab antiquorum canonibus, Galeni, […] elongare videbis. 397 De morbo epidemico (1537), c. 33r : Primo sex rerum non naturalium regimine sicuti praescripsimus utantur. Infectorum coitum, contactum praesertim, dermitionem, ac continuam conversationem refugientes, ante atque post concubitum membrum virile et vulvam vino calido vel aceto, ut supra cap. V. colluentes.
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Schrift spricht insbesondere, dass sie noch im 18. Jahrhundert gelesen und von Ärzten dieser Zeit wie Morgagni oder Haller entsprechend gewürdigt wurde. Auch die darin genannten Rezepte wurden geschätzt. Ein begeisterter Leser vermerkte daher in einem Exemplar der ersten Auflage von 1537 bezüglich eines unguentum: Est mirabilis – Es ist wunderbar.398
8.5.3 Makrobiotik oder die Kunst, 120 Jahre alt zu werden Naturphilosophische Überlegungen und die Vorstellung des sich im menschlichen Körper widerspiegelnden Makrokosmos hatten bereits in der Antike das Fundament für erste Ansätze zur Diätetik gelegt.399 Als Erfinder einer medizinischen Diät, die zunehmend als wichtiger Faktor für die Gesundheitsvorsorge angesehen wurde, galt zwar bereits Herodikos aus Selymbria (5. Jahrhundert v. Chr.), jedoch stammt die erste vollständige, insgesamt vier Bücher umfassende diätetische Schrift aus dem Corpus Hippocraticum (Peq· dia_tgr). In dieser Abhandlung, die schließlich von den römischen Ärzten Celsus (De medicina) und Galen (Ars medicinalis) erweitert werden sollte,400 wurden die genaue Kenntnis der menschlichen Physis und die Wirkungsweisen von Speisen und Getränken, Nahrung und Bewegung rezipiert.401 Auf diese diätetischen Schriften des Hippokrates und vor allem Galens griffen die Ärzte der Renaissance vermehrt zurück, weshalb die Diätetik bereits Ende des 15. Jahrhunderts zum Modethema humanistischer Gesprächszirkel wurde.402 Im Mittelpunkt dieser Gesundheitsvorschriften des Quattro- und Cinquecento stand vor allem das ausgeklügelte System nach galenischem Vorbild, das sich aus den bereits erwähnten sex res naturales, sex res non naturales und res praeternaturales (res contra naturam) zusammensetzte. Die ersten diätetischen Schriften entstanden an den Fürstenhöfen Italiens, darunter Michele Savonarolas (ca. 1385–1466) Libreto de tutte le cose che se manzano (1515) oder De honesta voluptate (1470) von
398 BNM, Misc. 2472 (11). 399 Ivan Garofalo et al. (Hrsg.), Aspetti della terapia nel Corpus Hippocraticum (Atti del IX Colloque International Hippocratique Pisa, 25–29 settembre 1996), Firenze 1999; Klaus Bergdolt, Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens, München 1999; EM, s.v.a. Diätetik. 400 Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 76–103; zum Galenismus vgl. Ivan Garofalo et al. (Hrsg.), Galenismo e medicina tardoantica. Fonti greche, latine, arabe, Napoli 2003. 401 Werner Golder, Hippokrates und das Corpus Hippocraticum, Würzburg 2007, 176; Hans Diller (Hrsg.), Hippokrates. Ausgewählte Schriften, Stuttgart 1994, 271–318. 402 Ken Albala, Eating Right in the Renaissance, Berkeley/Los Angeles/London 2002, 26ff.; Massimo Montanari (Hrsg.), Nuovo convivio: Storia e cultura dei piaceri della tavola nell’et moderna, Roma/Bari 1991.
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Bartolomeo Sacchi (Platina; 1421–1481).403 Marsilio Ficinos De triplici vita (1489), in dem sich der Platonist mit einer insbesondere für ältere Menschen geeigneten Diät beschäftigte, schien bereits die speziell auf die Makrobiotik zielenden Tendenzen späterer Humanistengenerationen vorwegzunehmen.404 Diese diätetischen Ratgeber waren vor allem auf den gesundheitsbewussten Höfling ausgerichtet, der sich vor der »schwierigen« Aufgabe sah, aus der Fülle von Speisen unterschiedlichster Art optimal zu wählen, sich für das gesundheitsfördernde Maß der körperlichen Ertüchtigung zu entscheiden oder sich mit der richtigen architektonischen Gestaltung von Villen und Landhäusern auseinanderzusetzen.405 Die Gelehrten schwankten dabei oft zwischen Extremen. Während sich Lorenzo Valla (1405–1457) in De voluptate et vero bono (1431)406 noch für einen epikureisch orientierten Lebensstil ausgesprochen und Antonio Beccadelli (1394–1471) im Hermaphroditus (1425) sogar ausdrücklich sexuelle Freizügigkeit propagiert hatte,407 favorisierte der Universalgelehrte und Architekt Leon Battista Alberti (1404–1472) in De famiglia bereits einen maßvollen Wechsel und eine ausgewogene und tugendorientierte Lebensweise.408 Ein wesentliches Ziel diätetischer Schriften war bereits früh die Kunst der Lebensverlängerung (Makrobiotik) und der gesunden Ernährung im Alter gewesen,409 wobei vor allem der bestmöglichste Genuss der Lebenszeit, weit ent403 Carlo Campana, Cristofero di Messisbugo ou de la noblesse de la cuisine, in: Marie ViallonSchoneveld (Hrsg.), Le boire et le manger au XVIe sicle, Saint- tienne 2004, 75–88, bes. 67–68. 404 Dieter Benesch, Marsilio Ficino’s De triplici vita, Frankfurt a. M. 1977; Gerlinde Lütke Notarp, Von Heiterkeit, Schwermut und Lethargie. Studien zur Ikonographie der vier Temperamente in der niederländischen Serien- und Genregraphik des 16. und 17. Jahrhunderts, Münster/New York/München/Berlin 1998, 167–168. 405 Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 182–201; zur Küche an den italienischen Höfen vgl. Ken Albala, The Banquet: Dining in the Great Courts of Late Renaissance Europe, Urbana and Chicago 2007; Pierluigi Ridolfi, Rinascimento a tavola. La cucina e il banchetto nelle corti italiane, Roma 2015. 406 Gernot Michael Müller, Diskrepante Annährungen an die Voluptas. Zur Funktion der Figureninteraktion in Lorenzo Vallas Dialog De Voluptate, in: Klaus W. Hempfer (Hrsg.), Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, Stuttgart 2002, 163–224. 407 Michael Rocke, Forbidden Friendships. Homosexuality and Male Culture in Renaissance Florence, New York 1996, 197–198. 408 Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 182–189. 409 Etwa Roger Bacons Libellus De retardandis senectutis accidentibus, Arnaldo di Villanovas De conservanda iuventute et retardanda senectute (1310), Gabriele Zerbis Gerontocomia (1489), Thomas Elyots The Castell of Helth (1540) und Girolamo Cardanos De sanitate tuenda und Theonoston. Vgl. zum Thema ausführlich Gerald J. Gruman, A History of Ideas about the Prolongation of Life, Philadelphia 1966; George Minois, History of Old Age: From Antiquity to the Renaissance, Cambridge 1989, 288–299; Agostino Paravicini Bagliani, Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit, München 1994, 192–203; Luke Demaitre, The Care and Extension of Old Age in Medieval Medicine, in: Michael M. Sheehan (Hrsg.),
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fernt von der mittelalterlichen Vorstellung des Durchgangs in ein ewiges Leben, im Mittelpunkt stand. Ab 1530 entstanden nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa solche diätetischen Schriften,410 was zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem galenischen System führte, mit dem die unterschiedlichen Rahmenbedingungen mittlerweile nicht mehr zu vereinbaren waren. Zudem beschäftigten sich die Gelehrten nun auch vermehrt mit der Lebensweise bestimmter sozialer Gruppen, etwa der Gesundheit des Intellektuellen, der wegen seiner Neigung zur Melancholie,411 seinem Bewegungsdefizit und der stets sitzenden Tätigkeit auch eine spezifische Diät beachten musste.412 Der Arzt Giulielmo Grataroli (1516–1568) widmete sich 1555 in seiner populären diätetischen Schrift De literatorum et eorum qui magistratibus funguntur […] compendium sogar ausschließlich der Gesundheit von Studenten und Magistraten.413 Auch in Venedig erfreuten sich solche diätetischen Ratgeber insbesondere im 16. Jahrhundert großer Popularität beim zunehmend gesundheitsbewussten Patriziat, das ein ausgesprochenes Naturgefühl nach dem Vorbild Petrarcas auszubilden begonnen hatte.414 Noch heute zeugen die vor allem am BrentaKanal und in der Gegend von Vicenza gelegenen Landhäuser wie La Rotonda oder La Malcontenta von der Landlust der venezianischen Patrizier.415 Nachdem die Bauprinzipien der antiken Baumeister wieder bekannt geworden waren, vertrat Alberti in seinem zehnbändigen Kompendium über die Baukunst, De re aedificatoria (1443–1452), nicht nur die Ansicht, dass die architektonische Gestaltung die soziale und politische Ordnung einer Gesellschaft widerspiegeln, sondern auch die Gesundheit fördern sollte.416 Dem zukünftigen Bauherren legte Alberti daher ans Herz, neben der Wasser- und Windbeschaffenheit stets auch
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Aging and the Aged in Medieval Europe, Toronto 1990, 3–22; Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 74–75. Ken Albala, Eating Right, 30ff. Zur Melancholie vgl. Raymond Klibansky et al. (Hrsg.), Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. M. 1992. Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 184–185; Werner Friedrich Kümmel, Kopfarbeit und Sitzberuf: Das früheste Paradigma der Arbeitsmedizin, MedGG 6, 1987, 53–70. Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 4, 600–616. Klaus Bergdolt, La vita sobria – Gesundheitsphilosophie und Krankheitsprophylaxe im Venedig des 16. Jahrhunderts, MedGG 11, 1992, 25–42. Ausschließlich im Veneto wurden folgende Gesundheitsschriften wiederaufgelegt: Gaspare Torellas De regimine seu praeservatione sanitatis (1506), diverse Schriften von Antonio Basi und Florida Corona (1510) sowie Francesco Bernardinis bereits erwähnte Praeservatio sanitatis (1529) und Pietro Platinas De tuenda natura rerum et propria scientia (1540) sowie Leonardo Lessios L’arte di godere sanit perfetta (1563). Einen Überblick bietet etwa Michelangelo Muraro/Paolo Marton, Die Villen des Veneto, München 1986. Anthony Grafton, Leon Battista Alberti. Master Builder of the Renaissance, Cambridge 2002, 287.
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den Gesundheitszustand der beheimateten Menschen und Tiere in seine Planung miteinzubeziehen. Diese Entwicklungen gingen mit einem sich an der Antike orientierten bukolischen Lebensgefühl einher, welches das einfache Landleben im Stil Catos und den Ackerbau verherrlichte. In Venedig profilierte sich in dieser Hinsicht vor allem der betagte Humanist, Literat, Agronom und Mäzen Alvise Cornaro (etwa 1484–1566),417 der wie die meisten Gelehrten seiner Zeit das gesunde Maß favorisierte und die gesundheitsfördernde Konstruktion seines Landhauses bedachte: Und nach allen Regeln der Baukunst habe ich es so herrichten lassen, so dass mich der eine Teil der Räume vor der großen Hitze, der andere Teil vor der großen Kälte schützt. Weiter genieße ich meine unterschiedlichen Gärten, welche von fließendem Wasser durchströmt werden und worin ich stets etwas tun kann, was mich vergnügt […].418
Dabei hatte Cornaro selbst, der sich – laut seines Erfahrungsberichts – noch als Achtzigjähriger blendender Gesundheit erfreute, einst einem exzessiven Lebensstil gefrönt. Dieser hätte sich jedoch nicht positiv auf seinen Gesundheitszustand ausgewirkt. Gerade rechtzeitig sei es ihm daher noch gelungen, diesem maßlosen Leben mittels einer strengen Diät zu entsagen.419 Girolamo Cardano bewunderte anfangs diese hauptsächlich auf galenischen Grundsätzen beruhenden Ansätze Cornaros, distanzierte sich davon jedoch im Theonoston, da er diese für zu streng erachtete.420 Der Arzt Niccol Mass beschäftigte sich ebenfalls ausführlich mit der Makrobiotik und widmete dem Senator Sebastiano Foscarini eine Abhandlung über das Hinauszögern des Alters im dritten Brief der Epistolarium medicinalium (1558), einer Sammlung von Briefen zu aktuellen gesundheitsrelevanten Themen. Angesichts der Popularität diätetischer Schriften setzte sich Tomaso bereits Mitte der 1530er Jahre421 ausführlich mit der Makrobiotik auseinander und griff mit seinem umfassenden Kompendium De vita hominis ultra 120 annos protrahenda, das erstmals 1545 erscheinen sollte, noch einmal ein Modethema der Zeit auf, wie er es ähnlich bereits 1537 mit seiner Syphilisschrift getan hatte. Im Gegensatz zu einem insbesondere kulinarischen Genüssen zugetanen Pietro Aretino spiegelt sich in diesem Werk wohl auch der tatsächliche Charakter 417 Zu Cornaro vgl. Giuseppe Fiocco, Alvise Cornaro: il suo tempo e le sue opere, Padova 1980; Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro. Vom massvollen Leben oder die Kunst, gesund alt zu werden, Heidelberg 1997. 418 Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro, 56–57. 419 Ebd., 37. 420 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 70–90, bes. 80–81. 421 Darauf verweisen nicht nur die diätetischen Empfehlungen in dem kleinen Hygienetraktat De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus (1535), sondern auch diverse Erwähnungen in De vita hominis (1550), etwa c. 5v : praesenti anno 1540. Diese lassen einen früheren Abfassungszeitraum des Manuskripts vermuten.
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Tomasos wider, der sich selbst minutiös an seine rigiden Diätvorschriften hielt. Trotz eines Umfangs von über 300 Seiten betonte Tomaso, er sei sich der Unvollständigkeit seines Buches bewusst und fordere andere hiermit auf, sein Werk eventuell zu ergänzen.422 Zudem warnte er den Leser davor, dem Autor die Schuld zu geben, falls er nun doch nicht das biblische Alter von 120 Jahren erreichen sollte:423 Dies sei letztendlich auch eine Frage des Glücks (fortuna multa alia cito versat) und der richtigen Beratung.424 Von Tomasos Zeitgenossen wurde diese diätetische Schrift gelesen, rezipiert und kommentiert: So befand sich in der Privatbibliothek des venezianischen Arztes Benedetto Rini (gest. 1588) ebenfalls ein Exemplar von De vita hominis, Girolamo Cardano bezog sich mehrmals auf Tomaso Rangones diätetische Schrift425 und der aus Bergamo stammende Niccol Franco (1515–1570), der 1537 nach Venedig gekommen war und bald darauf persönlicher Sekretär Pietro Aretinos wurde, erwähnte die Abhandlung des Arztes in den Dialoghi piacevoli.426 John Dee (1527–1608), der Leibarzt und Astrologe der englischen Königin Elisabeth I. (1533–1603) traf Tomaso 1563 in Venedig, was er in einem Exemplar von De vita hominis vermerkte.427 Noch der italienische Dichter, Essayist und Philologe Giacomo Leopardi (1798–1837) thematisierte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Tomasos diätetische Schrift im humorvollen Dialogo di un fisico e di un metafisico.428 Eureca, eureca. Che ? che hai trovato? L’arte di vivere lungamente. E cotesto libro che porti? Qui la dichiaro: e per questa invenzione, se gli altri vivranno lungo tempo, io vivr per lo meno in eterno; voglio dire che ne acquister gloria immortale. Metafisico. Fa una cosa a mio modo. Trova una cassettina di piombo, chiudivi cotesto libro, sotterrala, e prima di morire ricordati di lasciar detto il luogo, acciocch vi si possa andare, e cavare il libro, quando sar trovata l’arte di vivere felicemente. Fisico. Metafisico. Fisico. Metafisico. Fisico.
422 De vita hominis (1550), c. 93v. 423 Ebd., c. 89r: Novae huius opinionis author solus nec vituperandus etsi annos ultra 120 non perveniret. 424 Ebd., c. 89v. 425 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 262, Anm. 37. 426 Franco Pignatti (Hrsg.), Nicol Franco, Dialoghi piacevoli, Roma 2003, 319. 427 Nachdem John Dee 1563 von Antwerpen nach Zürich gereist war, wo er Conrad Gesner traf, zog er weiter nach Italien (Chiavenna, Padua, Venedig und Urbino) bis nach Pressburg, um an der Krönung des ungarischen Königs Maximilian I. teilzunehmen. In John Dees Exemplar von De vita hominis (Cambridge University Library N-10.27) befindet sich folgender handschriftlicher Vermerk: Joannes Dee 1556. 10 Martij (oben). Unten: Anno 1563 hic author, mihi familiaris fuit Venetijs. Zu John Dee’s Bibliothek vgl. Richard Julian Roberts/Andrew G. Watson, John Dee’s Library Catalogue, London 1990, Nr. 482. 428 Cesare Galimberti (Hrsg.), Giacomo Leopardi. Operette morali, Napoli 1998.
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Allerdings sollte dieses schwer lesbare Werk, das in der Tradition enzyklopädischer Kompendien verfasst worden war, zumindest in Venedig von dem laienhaften, aber bei weitem lebensnaheren Vita sobria (1558) Cornaros in den Schatten gestellt werden.429 Tomaso publizierte daher 1558 noch eine kleinere Schrift mit speziellen Gesundheitsvorschriften zu Venedig, in denen er ebenfalls diverse Empfehlungen zur körperlichen Hygiene, zu Ess- und Trinkgewohnheiten bis hin zum gesundheitsfördernden Schlaf- und Arbeitsrhythmus sowie angepasster Kleidung verfasste.430 Zum Verfassen dieser makrobiotischen Schrift war Tomaso von dem päpstlichen Nuntius Hieronymos Verallo (1497–1555) angeregt worden,431 dem Sohn eines Arztes namens Girolamo Veralli und Neffe Kardinal Domenico Giacobazzis (1444–1527/28). Nach dem Studium der Rechte hatte sich Verallo erst nach Rom begeben und war zunehmend mit wichtigen diplomatischen Aufgaben betraut worden. Tomasos Bekanntschaft mit Verallo ging vermutlich auf die Zeit zwischen 1537 und 1540 zurück, als der Kardinal als päpstlicher Nuntius in Venedig gewirkt hatte. Die folgenden Auflagen sollten ebenfalls bedeutenden Persönlichkeiten aus dem klerikalen Umfeld gewidmet werden, da der Makrobiotik am Papsthof seit dem 13. Jahrhundert bevorzugt Bedeutung beigemessen worden und dort auch das älteste Traktat über das Hinauszögern der Altersbeschwerden, Roger Bacons (1214–1292/94) De retardatione accidentium senectutis, entstanden war.432 Weitaus größere Verbreitung als die erste, Papst Paul III. alias Alessandro Farnese (1468–1549; Papst ab 1550)433 gewidmete Auflage von 1545 sollte jedoch die Kardinal Giovanni Maria Ciocchi Del Monte und späteren Papst Julius III. (1487–1555) zugeeignete zweite Auflage von 1550 finden. Eine weitere Neuauflage, die von einem persönlichen Brief an Kardinal Gian Carlo Carafa (1517–1561) begleitet worden war,434 wurde 1555 erst Papst Paul IV. (1476–1559) und schließlich dem Kardinal selbst gewidmet, nachdem er 1559 als Pius IV. (1559–1565) den Stuhl Petri bestiegen hatte. Carafa, den Pietro
429 Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 201–208. In den 1566 gedruckten Ergänzungen zur Vita sobria berichtete Cornaro von positiven Resonanzen auf sein Werk, vgl. Ders., Alvise Cornaro, 89–99, bes. 95. 430 Vgl. Kap.8.5.3.1. Die lateinische Fassung wurde von dem Arzt Jacomo Pratello Montefiore ins Italienische (volgare) übertragen. 431 De vita hominis (1550), Vorwort, c. 2r : […] ut in hoc studium maxime incumberem, praecipueque ad vitam prorogandam, omnem operam, et curam collocarem. 432 Agostino Paravicini Bagliani, Der Leib des Papstes, 33; 193ff. 433 BNN, Ms. VIII D 44 (wohl undatiertes Exemplar von 1545). Die folgenden Ausgaben datieren auf die Jahre 1550 (gewidmet Julius III.), 1553 (Julius III.), 1555 (Paul IV.) und 1560 (Pius IV.), vgl. DBI, s.v.a. Giannotti Rangoni, Tommaso. 1557 erschien bei Matteo Pagano auch eine volgare-Fassung mit dem Titel Come l’huomo puo vivere piu di 120 anni. 434 Dieser Brief, einst aufbewahrt im Convento di S. Spirito, befindet sich heute in der Biblioteca apostolica Vaticana (BAV, Cod. Barb. Lat. 1211, c. 12r).
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Aretino satirisch im Ipocrito verewigen sollte,435 war bereits 1536 von Venedig nach Rom berufen und von Papst Paul III. zum Kardinal ernannt worden. In Venedig galt er als Vorreiter der katholischen Gegenreformation und hatte bereits 1532, nur wenige Jahre nach dem Sacco di Roma, die Clemens VII. gewidmete Schrift mit dem Titel De Lutheranorum haeresi et ecclesia reformanda publiziert. 1537 folgte der Consilium de emendanda ecclesia, eine weitere antireformatorische Schrift, die auch von führenden venezianischen Intellektuellen wie Gasparo Contarini (1483–1542) und Gianmatteo Giberti (1495–1543) unterschrieben worden war.436 Auch in inhaltlicher Sicht wird die starke Anbindung der Schrift an das klerikale Umfeld Roms und die Grundsätze der Gegenreformation durch die Konzentration auf bestimmte Schwerpunkte deutlich: die jeweils aktuelle Papstwahl,437 der starke Bezug auf die Heilige Schrift und das hohe Alter der biblischen Urväter, das die Kleriker aufgrund ihres Lebenswandels schon lange nicht mehr erreichten. Die Ursache liege insbesondere im mangelhaften Maßhalten, wobei vor allem die Schädlichkeit der Völlerei (gula)438 anhand einer ausführlichen Liste von Kirchenmännern vor Augen geführt wird, die an den schwerwiegenden Folgen einer Verdauungsstörung gestorben sein sollen.439 In diesem Zusammenhang wurde von Tomaso auch der starke Hang zu Luxus und Verschwendung in der päpstlichen Kurie kritisiert.440 Einen Zusammenhang zwischen Krankheit, Unmoral, Dekadenz und Völlerei hatte bereits Ulrich von Hutten (1488–1523) in seiner Schrift über das Guajakholz (1519) betont und daher ausdrücklich ein nach dem Vorbild des konservativen römischen Schriftstellers Marcus Porcius Catos441 gestaltetes, sich auf einfache Mahlzeiten 435 Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice, 179–202. 436 Zur Rolle Carafas in der Gegenreformation vgl. Christopher Cairns, Pietro Aretino and the Republic of Venice, 72–73; Michael Mulett (Hrsg.), Historical Dictionary of the Reformation and Counter-Reformation, Plymouth 2010, s.v.a. Carafa; zu Gaspare Contarini als führender Kopf der Gegenreformation vgl. Elisabeth G. Gleason, Gaspare Contarini.Venice, Rome, and Reforme, Berkeley/Oxford/Los Angeles 1993. 437 De vita hominis (1550), c. 7v ; c. 14r (direkte Anrede des Papstes). 438 Die Völlerei wurde zu den sieben Todsünden gerechnet, vgl. Peter Nickl (Hrsg.), Die sieben Todsünden zwischen Reiz und Reue, Münster 2009; zur Ikonographie vgl. Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit (Hrsg.), Die sieben Todsünden in der Frühen Neuzeit, Wien 2010. 439 De vita hominis (1550), c. 16r : Sanis dieta datur bifariam, aut ut custodiatur, aut augumentetur et confortetur virtus, cibus ergo grossus auget, moderatus custodit, subtilis virtutem minuit, ideo sanis cavendus. 440 Ebd., c. 65r: Roma ideo secunda Babilonia cum paupertatis tempore nusquam alter locus ea sanctior, nec bonis exemplis ditior fuerit, et quanto rerum minus habuit tanto minus cupiditatis habebat, post divitiae avaritiam induxerunt et luxuriem. Zum Vergleich von Rom mit Babylon siehe Andr Chastel, The Sack of Rome, 67; 72–78. 441 Martin Jehne, Cato und die Bewahrung der traditionellen Res publica. Zum Spannungsverhältnis zwischen mos maiorum und griechischer Kultur im zweiten Jahrhundert v. Chr,
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beschränkendes Leben favorisiert.442 Die Völlerei, die sich nicht zuletzt durch ein Übermaß an Essen und Trinken bei verschwenderischen Gastmählern zeigte, wurde daher auch von Alvise Cornaro verurteilt, der zutiefst bedauerte, dass die Schwelgerei das mäßige Leben so sehr verdrängt, ja ausgelöscht habe,443 was eine vorzeitige Alterung seiner Zeitgenossen zur Folge hatte: Diese (d. h. die Sinne) haben die Menschen so sehr gereizt und berauscht, dass sie den guten Weg verließen und sich auf einen bösen begaben, der sie unvermerkt zu ungewohnten und tödlichen Krankheiten und zu einem frühzeitigen Alter bringt, wobei sie schon abgelebt aussehen, ehe sie das vierzigste Jahr erreichen.444
Tomaso tadelte auch den hohen Weinkonsum, dessen schädliche Wirkung bereits in der Antike in der post-aristotelischen Schrift Problemata diskutiert, von Paulus im Brief an die Epheser kritisiert und auch in der arabischen Medizin als gesundheitsschädlich erkannt worden war.445 Die Kritik richtet sich insbesondere gegen das Suchtpotential des Rauschtrankes, der zudem den menschlichen Geist mit schädlichen Dämpfen vergifte, den Körper austrockne und das Verdauungssystem schädige.446 Mit dieser Thematik konnte Tomaso in der Tat hoffen, am päpstlichen Hof Aufmerksamkeit zu erregen, da im Zuge der Gegenreformation von den Reformpäpsten wesentlich strengere moralische Maßstäbe angelegt worden waren und die 1542 auf Betreiben Kardinal Carafas von Papst Paul III. mit der Bulle Licet ab initio geschaffene Inquisition mittlerweile auch in Venedig an Einfluss gewann, nachdem die Lagunenstadt wegen ihrer Neigung zum Protestantismus in das Blickfeld Roms gerückt war.447 Auf Beschluss des Rats der Zehn wurde bereits 1539 in Venedig das Amt der drei Staatsinquisitoren gegründet, die anfangs je für ein Jahr gewählt wurden und deren Machtbefugnisse im Laufe des 16. Jahrhunderts kontinuierlich steigen sollten. So erregte bald der paduanische Professor Bernardino Tomitano (1517–1576)448 wegen einer Übersetzung von
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in: Gregor Vogt-Spira et al. (Hrsg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, 115–134. Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 199. Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro, 34. Ebd., 34–35. De vita hominis (1550), c. 42r. Zur Diskussion um die Qualitäten des Weins vgl. Ken Albala, Eating Right, 74–75; Roland Bitsch, Trinken, Getränke, Trunkenheit, in: Irmgard Bitsch et al. (Hrsg.), Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen 1987, 207–216; Helmut Meinhardt, Nikolaus von Kues über das Weintrinken, in: ebd., 201–206. De vita hominis (1550), c. 43r/v. Carl Benrath, Geschichte der Reformation in Venedig, Halle 1886; John Martin, Venice’s Hidden Enemies. Italian Heretica in a Renaissance City, Berkeley/Los Angeles/London 1993, 52–70; Paul F. Grendler, Culture and Censureship in Late Renaissance Italy and France, London 1981, 48–65. Vittore Branca (Hrsg. ), Dizionario critico della letteratura italiana, Torino 1973, Band 3, 507–512; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 186ff.
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Erasmus von Rotterdams Paraphrasis in evangelium Matthaei die Aufmerksamkeit der Inquisitoren. Matteo Gribaldi Mofa (ca. 1500–1564)449 musste sogar eine gutbezahlten Position als Rechtsgelehrter in Padua aufgeben und an die lutherisch geprägte Universität von Tübingen übersiedeln. Wegen seiner Schriften wurde auch Girolamo Cardano gezwungen, sich vor der venezianischen Inquisitionsbehörde zu verantworten. Am 6. Oktober 1570 wurde er für 77 Tage ins Gefängnis geworfen und weitere 86 unter Hausarrest gestellt, bis er am 10. März des folgenden Jahres schließlich versicherte, keine Schriften mehr zu verfassen.450 Eine große Gefahr stellte in dieser Zeit für die Humanisten der Besitz verbotener, auf dem Index librorum prohibitorum (1559) stehender Bücher dar, zu denen neben reformatorischem Gedankengut auch astrologische und magische Schriften wie jene von Cornelius Agrippa von Nettesheim, Luca Gaurico oder Pietro d’Abano gehörten.451 Ein Blick in Tomaso Rangones Bibliotheksverzeichnis zeigt, dass auch er im Besitz diverser Werke war, die auf dem Index standen, darunter von Manuskripten zur Geomantie und den Geheimwissenschaften. In anderen Arztbibliotheken Venedigs waren dagegen nur selten »verbotene« Bücher in diesem Umfang vertreten. Eine Ausnahme bildete der Arzt Benedetto Rini, der sogar mehrere Ausgaben des Index selbst besaß. Im Hinblick auf die politischen Entwicklungen der Zeit und der damit verbundenen Gefahren und Risiken erscheint es daher einleuchtend, dass Tomaso versuchte, einflussreiche Protektoren auch außerhalb Venedigs zu gewinnen, um nicht die Aufmerksamkeit der venezianischen Inquisition zu erregen. Tomasos Haltung gegenüber der Astrologie scheint sich daher in diesen Jahren ebenfalls verändert zu haben: Das letzte bekannte Prognostikon von Thomas Ravenna, nobilis clarissimus phisicorum stammt von 1544, wobei es sich nur um eine ein einziges Blatt umfassende Jahresprognose handelt, die eine Aufstellung der glücklichen und unglücklichen Tage enthält.452 449 DBI, s.v.a. Gribaldi Moffa Matteo; Frederic C. Church, I riformatori italiani, Milano 1932; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 186ff. 450 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 186ff. 451 F. Heinrich Reusch, Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte, Bonn 1883–1885 (Neudruck Aalen 1967); Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 10, 145ff. Zu den Auswirkungen des Index vgl. Hubert Wolf (Hrsg.), Inquisition, Index, Zensur. Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit. Römische Inquisition und Indexkongregation, Paderborn 2001 (2 Bände). 1587 wurde auch der venezianische Gelehrte Francesco Barozzi von der Inquisition für den Besitz verbotener Bücher und für die Durchführung magischer Experimente angeklagt, vgl. Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, Band 10, 154–155. 452 CML, Rare Books f AY81.A8R16: Ne denuo humanum defraudetur genus: tum navigantium epacta: tum hebreorum regulis: lunaribus quibusdam: et ephemeridae a vero quamplurimum aberrantibus. Ad hominum commodum medicorum praesertim: et languentium: oppositiones et coniunctiones luminarium: horum eclypses: festa mobilia: et infelices: ad
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Die Endlichkeit des menschlichen Lebens stellte Tomaso in seiner Schrift zwar nie infrage,453 jedoch war dessen maximale Dauer überhaupt bereits seit der Antike ein vieldiskutiertes Thema gewesen und hatte nicht selten Anlass zu absonderlichen Theorien gegeben.454 Laut des biblischen Buches Genesis (Kap. 6) konnte es auf das biblische Alter von immerhin 120 Jahren ausgedehnt werden: Der mittelalterliche Philosoph Michael Scotus (1175–1235), bekannt durch seine zahlreichen Averroes und Aristoteles-Kommentare, kam im Liber physiognomiae (Teil des Liber Introductorius) zu dem Schluss, der Mensch vermöge sogar 140 Jahre zu leben, besitze er doch vierzehn Gelenke an den Fingern und Zehen, wobei jedes Gelenk für zehn Lebensjahre stünde.455 Erst die durch den Zorn Gottes ausgelöste Sintflut stellte nach der Vorstellung vieler Gelehrter den entscheidenden Wendepunkt der irdischen Existenz dar und hatte eine zunehmende Verkürzung des menschlichen Lebens zur Folge.456 Bereits Papst Innozenz III. (1160/1161–1216) hatte diese Thematik in seinem Traktat De miseria humanae conditionis angesprochen457 und betrachtete die Sintflut als eindeutigen Wendepunkt und Beginn der Verkürzung der menschlichen Lebenszeit.458 Diese von Gott selbst gesteckten natürlichen Grenzen sollten sich demnach in dem vergänglichen, wenn auch hervorragenden »Material« des menschlichen Körpers offenbaren,459 wobei der Prozess des Alterns gemäß der Theorie Galens
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actiones: ad pharmaca: et reliqua dies anni virginei partus: 1544 bisextilis ad preclarissimae Venetorum urbis. Totiusve [sic] Europae horologium diligentius supputavit. De vita hominis (1550), c. 1r/v. DNP, s.v.a. Lebenserwartung; Wolfgang Dieter Lebek, Wie lange soll man leben? Antike Einsichten und Erfahrungen, in: Axel Karenberg/Christian Leitz (Hrsg.), Heilkunde und Hochkultur, Band 2: Magie und Medizin und der alte Mensch in den Zivilisationen des Mittelmeerraumes, Münster 2002, 257–276; Walter Scheidel, Measuring Sex, Age and Death in the Roman Empire. Explorations in Ancient Demography, Journal of Roman Archeology, Supplement Series 21, Ann Arbor 1996. Dieses Liber phyiognominae des Scotus erfreute sich um 1500 großer Beliebtheit und erschien in nicht weniger als 20 Ausgaben. Ein Exemplar befand sich auch in der Bibliothek Tomaso Rangones, vgl. Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 19r. De vita hominis (1550), c. 1r ; c. 13v : […] quia homines melioris erant temperamenti, ac maioris vigoris, tunc enim multo maiora habebant ossa quam nunc ex Plin. supra. Als weitere Beispiele zieht Tomaso Rangone die vielen vorsintflutlichen Helden (Herkules etc.) und die Geneaologie der Vorfahren Noahs im Buch Mose heran. Carl-Friedrich Geyer (Hrsg.), Lotario de Segni (Papst Innozenz III), Vom Elend des menschlichen Daseins, Hildesheim/Zürich/New York 1990; Agostino Paravicini Bagliani, Der Leib des Papstes, 193. Vgl. zu diesem Topos auch De vita hominis (1550), c. 2v : […] ut hodie hominis vita tota una aetate primorum sit brevior. Ebd., c. 6r : Deum ipsum non attentare, sed ex possibilibus fieri eligere quod melius, ex arterijs enim, et venis ac materijs compositum non erat possibile incorruptibilem fieri. […] quia Deus qui fit benedictus hominis corpus ex corporibus fecit dissolubilibus non durabilibus, neque stabilibus.
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und Avicennas als zunehmende Austrocknung erklärt wurde und folglich als Krankheit definiert werden konnte.460 Lebewesen bestanden nach damaliger Vorstellung aus einer feuchten Substanz (humida substantia), wobei die Wärme im Körper diese Feuchtigkeit langsam auflöste und die Luft, die den Körper umgibt, sich zunehmend erwärmte.461 Es handelte sich jedoch zugleich um eine unzerstörbare Grundmaterie (Chyle), die über die Jahrtausende immer die gleiche sei.462 Die individuelle Lebenszeit konnte aber auch durch viele weitere externe Faktoren beeinflusst werden, wobei nach damaliger Vorstellung mithilfe von Berechnungen das zu erwartende Alter ermittelt463 und Krankheiten anhand von bestimmten Sternenkonstellationen präzise vorhergesagt werden konnten. Diese weit verbreitete Theorie beruhte nicht zuletzt auf der Ansicht, dass die Sterne wesentlichen Einfluss auf das Klima und den menschlichen Mikrokosmos hätten.464 Die intensive Beziehung und zugleich ständige Interaktion zwischen Makro- und Mikrokosmos offenbarte sich auch in den »übersinnlichen« Fähigkeiten der Tiere, vor allem des Salamanders, der bereits nach antiker Vorstellung im Feuer lebte.465 Daneben sollte sie sich auch im Magnetismus,466 der therapeutischen Kraft von (Edel-) Steinen467 und der (Al)Chemie zeigen.468 Marsilio Ficino betrachtete Magie und Astrologie daher als wirksame Therapeutika für die Lebensverlängerung und Girolamo Cardano betonte deren Bedeutung für die medizinische Diätetik.469 Etwas differenzierter fiel hingegen der Blickwinkel Alvise Cornaros aus, der in seinen 1561 erschienenen Ergänzungen zur Vita sobria den Einfluss der Sterne zwar nicht gänzlich leugnete, jedoch der Ansicht war, dass man sich ihrer Wirkung durch kluges Handeln entziehen könnte.470 Nach hippokratischer Vorstellung konnten die klimatischen Voraus460 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 75; Agostino Paravicini Bagliani, Der Leib des Papstes, 193; Timo Joutsivuo, Scholastic Tradition and Humanist Innovation. The Concept of Neutrum in Renaissance Medicine, Helsinki 1999, bes. 190–196. 461 De vita hominis (1550), c. 29v : Naturalis mors cuius principium intra existit calor. Zum Alter vgl. auch Chiara Crisciani et al. (Hrsg.), Vita lunga. Vecchiaia e durata della vita nella tradizione medica e aristotelica antica e medievale, Firenze 2009. 462 De vita hominis (1550), c. 6v. 463 Ebd., c. 29r/v. 464 Ebd., c. 108r : Confirmat Plato hanc mundi macchinam ita coelo esse connexam ut et terris coelesti sint conditione terrena […]; ebd., c. 109r : Corpora itaque coelestia movent corpora elementaris mundi composita generabilia […]. 465 Ebd., c. 109v. Zur Beziehung des Salamanders zum Feuer vgl. Otto Schönberger (Hrsg.), Physiologus, Stuttgart 2001, 53–54; Pedanius Dioscorides, Der Wiener Dioskurides. Codex medicus Graecus 1 der Österreichischen Nationalbibliothek, Graz 1999, Band 2 (64 und fol. 423r). 466 De vita hominis (1550), c. 110r. 467 Ebd., c. 110v. Zur Heilkraft der Steine vgl. auch Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten, 83. 468 De vita hominis (1550), c. 111r. 469 Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 78ff. 470 Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro, 65–66.
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setzungen ebenfalls die individuelle Lebenszeit bestimmen,471 wobei die um den Wendepunkt, also in der gemäßigten Zone lebende »Rasse« mit den besten Eigenschaften hinsichtlich Geist und Körper ausgestattet sein soll.472 Insbesondere in England sei das Klima überaus günstig, insofern man die Anleitungen zum richtigen Verhalten während der jeweiligen Jahreszeiten beachtete.473 Wesentlichen Einfluss auf die Lebenszeit hatte auch die individuelle Lebensweise nach dem Vorbild der sex res non naturales, weshalb schlechte (oder vermeintlich gute!) Angewohnheiten der Gesundheit abträglich waren und Krankheiten hervorrufen konnten. Dazu gehörte nicht nur ein Übermaß an körperlicher Bewegung, sondern auch ganzjähriger (entkräftender) Beischlaf, der die Fähigkeiten des Gehirns beeinträchtige, die Verdauung störe, das Sehvermögen schädige und auch der Grund für »missratenen« Nachwuchs sein konnte.474 Eine große Gefahr sah Tomaso Rangone in der hohen Sterblichkeit der Mütter nach der Geburt, was insbesondere auf die Sitte zurückzuführen sei, Mädchen vor ihrem achtzehnten Lebensjahr zu verheiraten, wobei für Männer das ideale Heiratsalter dreißig Jahre betrage.475 Vor diesem Alter hatte der Mensch nach damaliger Vorstellung seine Entwicklung noch nicht vollendet und galt gleichsam einem Tier als ein nicht perfektes Wesen, das somit nur nicht perfekte Wesen hervorbringen konnte.476 Als wenig förderlich für die Gesundheit galten entsprechend der galenischen Grundsätze auch die Affekte, wobei ein ausgeglichenes und beständiges Gemüt stets als Vorteil erachtet wurde.477 Tomaso Rangone betonte in seiner diätetischen Schrift jedoch mehrfach, dass sich die menschliche Gesundheit im Gegensatz zu früher wesentlich verschlechtert habe. Diese robusten und gesunden Vorfahren hätten aufgrund ihrer guten Konstitution nicht nur Medikamente weitaus besser vertragen, sondern seien
471 De vita hominis (1550), c. 60r ; c. 68r ; Klaus Bergdolt, Seuchentheorie und Umwelt in der frühen Neuzeit, in: Lars Kreye et al. (Hrsg.), Natur als Grenzerfahrung. Europäische Perspektiven der Mensch – Natur – Beziehung in Mittelalter und Früher Neuzeit: Ressourcennutzung, Entdeckungen, Naturkatastrophen, Göttingen 2009, 223–235. 472 De vita hominis (1550), c. 74r/v : […] quicunque eucratam regionem habitant meliores […]. 473 Ebd., c. 84r : […] qui autem in Britania eo quod in his caliditas includitur in centum et viginti annis senescere. Auch an Pflanzen zeigten sich nach der Vorstellung der Diätetiker die positiven und negativen Auswirkungen eines Ortswechsels, wobei gute Pflanzen (planta bona) eine Verpflanzung unbeschadet überstehen würden, auch wenn sie an bestimmte klimatische Bedingungen gebunden sein sollten. 474 De vita hominis (1550), c. 19v ; c. 24r–25v und c. 77r/v : Coitus […] subito exhaurit spiritus, cerebrum debilitat maxime […]. 475 Ebd., c. 45v–46r. 476 Ebd., c. 46r: Si autem homines antea nubant imperfecti morbosiores gignunt. Die pueritia dauerte nach damaliger Vorstellung bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr. 477 Ebd., c. 59r–60r.
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meist auch eines natürlichen Todes gestorben.478 Dieser bereits von den antiken Schriftstellern, wohl auf dem Zeitalter-Mythos beruhende Topos,479 war in vergleichbarer Weise bereits von Ulrich von Hutten in seiner Schrift über das Guajakholz (1519) wiederaufgenommen worden, in der er eine umfassende Gesundheitsreform forderte, wobei ihm die einfache Lebensweise der (germanischen) Vorfahren als Vorbild diente.480 Alvise Cornaro orientierte sich in den 1566 erschienen Ergänzungen zur Vita sobria zudem an der idealen Lebensweise der Mönche und Einsiedler.481 Zugleich besitzt der Mensch nach Ansicht Tomaso Rangones jedoch die Fähigkeiten, diesem Verfall entgegenzuwirken, und durch eine entsprechende Diät seine individuelle Lebenszeit auf 120 Jahre zu verlängern. Als günstig erweist sich beim Menschen in dieser Hinsicht vor allem der ausgeglichene und symmetrisch gestaltete Körper.482 Diese These beruhte auf der galenischen Idee des perfekt ausbalancierten Temperaments als Gipfel der körperlichen Perfektion, wie sie einst der antike Bildhauer Polykleitos in seiner verlorenen Schrift über die idealen Maßverhältnisse des menschlichen Körpers beschrieben hatte.483 Jedoch würden nicht alle Menschen über die gleiche optimale körperliche Beschaffenheit verfügen,484 weshalb die individuelle Konstitution auch die jeweilige Resistenz gegenüber Krankheiten bestimme.485 Um die Lebenszeit so lang wie möglich auszudehnen, waren vor allem eine geordnete Lebensweise und die Anpassung des Regimens an die verschiedenen Lebensalter von grundlegender Bedeutung.486 Das menschliche Leben wurde bereits in der Antike in verschiedene Lebensalter (aetas) geteilt,487 wobei im Hinblick auf die vier Jahreszeiten und die Vierzahl der Körpersäfte die Einteilung in vier Abschnitte am geläufigsten war. Die Zahl sieben wurde zwar bereits
478 Ebd., c. 47v : […] corpora habuere robustiora, ideo fortiora tolerabant pharmaca, hodie in morbos incidunt frequentius, unde nec debilia tolerant medica mina; ebd., c. 30v ; c. 41v. 479 Bodo Gatz, Weltalter, Goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967; Horst Günther/Reimar Müller (Hrsg.), Das goldene Zeitalter : Utopien der hellenistischrömischen Antike, Stuttgart 1988. 480 Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 199–200. 481 Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro, 98–99. 482 De vita hominis (1550), c. 88v ; c. 85v. 483 Herbert Beck/Peter C. Bol (Hrsg.), Polykletforschungen, Berlin 1993; Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 48–49. 484 De vita hominis (1550), c. 84v : […] quia vitae hominis termini temperamenti varietate sunt valde diversi. 485 Ebd., c. 89r. 486 Anthony Grafton/J. Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 245–249. 487 DNP, s.v.a. Lebensalter ; Franz Boll, Die Lebensalter. Ein Beitrag zur antiken Ethnologie und zur Geschichte der Zahlen. Mit einem Anhang über die Schrift von der Siebenzahl, Leipzig/ Berlin 1913; Max Wegner, Zeit – Lebensalter – Zeitalter im archäologischen und kulturgeschichtlichen Überblick, Münster/Hamburg 1991.
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im Corpus Hippocraticum erwähnt,488 sollte aber erst von Isidor von Sevilla mit den verschiedenen Altersstufen infantia, pueritia, adolescentia, iuventus, gravitas, senectus und decrepitus in Verbindung gebracht werden. Der griechische Staatsmann Solon teilte das menschliche Leben sogar in zehn oder elf Abschnitte.489 Nach dem kilikischen Arzt Dioskurides konnte die Lebensdauer auch anhand von Gewichtsveränderungen des menschlichen Herzens gemessen werden, was dieser insbesondere in Ägypten bei der Einbalsamierung beobachtet habe.490 Diese Lebensalter-Modelle lebten in der Renaissance weiter, jedoch überlagerte allmählich die Gliederung nach Dekaden die antiken Vorstellungen.491 Ein Hinweis auf die intensive Beschäftigung Tomaso Rangones mit der Lebensalter-Theorie seiner Zeit vermittelt auch eine im Bibliotheksverzeichnis unter Cosmographia microcosmi impressa inventarisierte Zeichnung der verschiedenen Lebensalter des Menschen.492 Welchen starken Einfluss diese Lebensalter-Modelle auf das tägliche Leben hatten, zeigt auch das Kleidungstagebuch des im Dienst der Fugger stehenden Hauptbuchhalters Matthäus Schwarz, der die Stationen seines Lebens mit verschiedenen Kleidungsstilen in Verbindung brachte.493 Da ein Arzt trotz seiner reichen Erfahrung keine Wunder bewirken konnte,494 lag es im Verantwortungsbereich des Patienten, durch aktive tägliche Beteiligung die Gesunderhaltung des Körpers zu optimieren495 und langfristig ein strenges Regimen zu befolgen, dessen oberstes Gebot darin bestand, die verschiedenen Körpersäfte in einem richtigen Mischverhältnis (eucrasia) zu hal-
488 Franz Boll, Die Lebensalter, 24–30. 489 De vita hominis (1550), c. 2r. 490 Ebd., c. 2v bzw. c. 5v : Tomaso Rangone bezieht sich an dieser Stelle möglicherweise auf die Seelenwägung. Im letzten Abschnitt (ebd., c. 5v) erwähnt der Autor nämlich die bei den Ägyptern in Alexandria geläufige Praxis, das Herz zu wiegen. 491 Elisabeth Sears, The Ages of Man: Medieval Interpretations of the Life Cycle, Princeton 1986; Klaus Arnold, Lebensalter, in: Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 1993, 216–222; Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 83; Thorsten Fitzon, Zehn Jahre Kind. Das Kind in Lebensaltermodellen der Frühen Neuzeit, in: Klaus Bergdolt et al. (Hrsg.), Das Kind in der Renaissance, 198–220, 203; Caroline Schuster Cordone, Le corps snescent, entre mmoire et mtamorphose. Images de la vieillesse fminine la Renaissance, in: Vronique Dasen/Jrome Wilgaux (Hrsg.), Langage et mtaphores du corps dans le monde antique, Rennes 2008, 91–104. 492 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 7r : Humanae vitae gradus. 493 Gabriele Mentges, Konsum und Zeit: Zur Archäologie des Modejournals am Beispiel des Trachtenbuches von Matthäus Schwarz 1496–1574, in: Angela Borchert/Ralf Dressel (Hrsg.), Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800, Heidelberg 2002, 57–71. 494 De vita hominis (1550), c. 27v : Quoniam eam nemo penitus novit, nam nec ego ad summum medicae artis perveni quamvis senex iam sim. 495 Ebd., c. 71r.
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ten.496 Eine wesentliche Bedeutung nahm abgesehen von Bewegung, einer gesunden Schlafhygiene497 und bestimmten Therapeutika498 vor allem die Wahl der richtigen Lebensmittel ein. Bedeutende Persönlichkeiten der Antike sollen bereits gemäß einer vorbildlichen individuellen Diät gelebt haben, darunter der antike Tyrann Apollonios, der auf Wein und Fleisch verzichtet haben soll.499 Auch Phraortes, der König der Meder, soll auf die Enthaltsamkeit von Wein und Fleisch als probates Mittel der Langlebigkeit geschworen haben.500 Auf dem Gebiet der zunehmend an Einfluss gewinnenden Nahrungsdiätetik nahmen in der Renaissance nach antikem Vorbild insbesondere die Speisevorschriften einen wichtigen Platz ein.501 Diese sollten bald so bedeutend für die individuelle Gesundheit werden, dass Herrschende nach Laurent Jouberts (1529–1583) Erreurs populaires au fait de la mdcine et de la sant (1578) bei Tisch stets verzweifelt ihren Leibarzt konsultierten: […] ceci est-il bon, cela est-il mauvais ou mal sain? Que fait ceci, que faist cela?502 Zur Entstehung dieser verfeinerten, insbesondere auf hippokratisch-galenischen503 Grundlagen basierenden (Nahrungs-)Diätetik hatte in der Renaissance die wachsende Bedeutung des Kulinarischen nach antikem Vorbild beigetragen,504 deren Verfeinerung nicht zuletzt auch als Zeichen von Manieren galt.505 Bereits der Bibliothekar und Humanist Platina widmete sich 1474 in seinem Kochbuch De honesta voluptate et va496 Ebd., c. 89r. 497 Ebd., c. 61r. Sandra Cavallo/Tessa Storey, Healthy Living in Late Renaissance Italy, Oxford 2013, 113–144. 498 Ebd., c. 100v : […] possibile enim est sint medicinae prohibentes senectutis velocitatem a frigore, ac membrorum siccitate, et eo prolongetur vita hominis regimine bono […]. 499 Ebd., c. 42r : Ut Apollonius tyraneus ante homines omnis pulcherrimus Pythagoreorum, ac brachmanum ritu a coitu vino et carnibus abstineret […]. 500 Ebd., c. 43r. 501 Ken Albala, Eating Right, passim; Melitta Weiss Adamson, Medieval Dietetics: Food and Drink in Regimen Sanitatis Literature from 800 to 1400, Frankfurt a. M. 1995; Jean Ceard, La dittique dans la Mdecine de la Renaissance, in: Jean-Claude Margolin/Robert Sauzet (Hrsg.), Pratiques et discours alimentaires la Renaissance, Paris 1982, 21–36; Stephen Mennell, All Manners of Food: Eating and Taste in England from the Middle Ages to the Present, Oxford 1985. 502 Laurent Joubert, Erreurs populaires au fait de la mdcine et de la sant, Bourdeaus 1587, Band 2, 99–100. 503 Insbesondere die diätetischen Schriften von 1530 bis 1570 waren durch die »galenische Renaissance« geprägt, vgl. Ken Albala, Eating Right, 7; 25ff.; zur Auseinandersetzung mit Galen vgl. Oswei Tempkin, Galenism: Rise and Decline of a Medical Philosophy, Ithaca 1973. 504 James N. Davidson, Kurtisanen und Meeresfrüchte: die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen, Berlin 2002; Ken Albala, Eating Right, 14–23. Auch der jüdische Arzt Maimonides hatte einen wesentlichen Beitrag zu Entwicklung der Diätetik geleistet, vgl. Süssmann Munter (Hrsg.), Moses Maimonides, Regimen sanitatis: oder, Diätetik für die Seele und den Körper, Basel 1965. 505 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 3Frankfurt a. M. 1976; Stephen Mennell, All Manners of Food, Oxford 1985, 291.
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letudine ausführlich der Speisediätetik, indem er zahlreiche antike und zeitgenössische Werke konsultierte. Eine Fortführung dieser enzyklopädischen Tradition zeigt sich auch bei Tomaso Rangone, der die positiven und negativen Eigenschaften zahlreicher Lebensmittel, darunter bestimmter Fleisch-, Gemüseund Obstsorten, diverser Kräuter, Nüsse, Honig oder Regenwasser ausführlich kommentiert.506 Ebenso verfuhr wenige Jahre später Girolamo Cardano, der sich seit 1570 intensiv mit der Diätetik befasst hatte507 und in vergleichbarer Weise Tiere und Pflanzen mit ihren gesundheitsförderlichen oder gesundheitsschädlichen Eigenschaften charakterisierte.508 Tomaso Rangones Listen fehlt allerdings noch eine vergleichbare Systematik wie Castore Durantes (1529–1590) Tesoro della sanit (1586), der jedes Lebensmittel penibel mit Namen, Vor- und Nachteilen und therapeutischen Eigenschaften versah. Lebensmittel wurden grundsätzlich gemäß dem individuellen Temperament zusammengestellt:509 Nach den strikten Regeln der Humoralpathologie wurde jedes Nahrungsmittel minutiös bestimmt, hatte eine bestimmte complexio oder auch »okkulte« Eigenschaften wie die Verträglichkeit.510 Helles Hühnerfleisch galt daher als ausgesprochen wohltuend.511 Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Lebensmitteln beruhte meist auf einem einheitlichen Schema, wobei die Auswahl nach der Farbe (Signaturenlehre),512 der Konsistenz (similia similibus) oder dem Geschmack getroffen wurde. Da Gemüse oft von wässriger Konsistenz war, galt es oft als gesundheitsschädlich und Ärzte rieten vom Verzehr ab.513 Jedoch sollten sich nicht alle Betroffenen an diese überaus strengen diätetischen Regeln halten, weshalb Gemüse zunehmend auf den Tafeln der Zeit geschätzt wurde. So publizierte der Agronom Agostino Gallo (1499–1570) ein Handbuch mit dem Titel Le vinti giornate dell’agricultura, e de’ piaceri della villa, in dem er detailliert die meisten Gemüsesorten und ihre positiven gesundheitlichen Auswirkungen beschrieb.514 Nach und nach beugten sich auch die strengen Ärzte der neuen Mode und Gemüse wurde als Bestandteil der
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De vita hominis (1550), c. 50r–57v ; c. 73v–74v. Nancy Siraisi, The Clock and the Mirror, 70ff. Ebd., 85. Ebd., 74. Ken Albala, Eating Right, 5ff., 48ff.; Anthony Grafton/J. Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 29. Ken Albala, Eating Right, 72–73. Dunkle Farben galten als Auslöser für Melancholie, süßer Geschmack als Zeichen von Hitze, vgl. Ken Albala, Eating Right, 87. 513 David Gentilcore, Pomodoro, 27ff. Zu wasserhaltigen Früchten und Gemüsesorten und deren Wirkung vgl. Ken Albala, Eating Right, 97. Gegen den Genuss von Gemüse sprach sich der Arzt Domenico Romoli in La singola dottrina di M. D. Romoli detto il Panonto (1560) aus. 514 Zu Gallo vgl. Maurizio Pegrari (Hrsg.), Agostino Gallo nella cultura del Cinquecento, Brescia 1988; DBI, s.v.a. Gallo, Agostino.
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täglichen Speisen akzeptiert.515 Girolamo Cardano berichtete in seiner Autobiographie, aus gesundheitlichen Gründen mittlerweile regelmäßig Melonen zu verzehren, nachdem er von deren positiven Eigenschaften erfahren hatte.516 Um sich gesundheitsbewusst zu ernähren, genügte es jedoch nicht, lediglich über die complexio einer bestimmten Obst- oder Gemüsesorte informiert zu sein. Ebensowichtig war es, auch die genaue Herkunft der Lebensmittel zu kennen,517 da die Qualität der Erde, der Fauna und der Flora entscheidenden Einfluss auf die Nahrung und ihre spezifische Wirkung haben konnten.518 Als optimal galt es daher, die Qualität der Luft, des Wassers, die Qualität des Bodens und die klimatischen Faktoren stets in die Wahl der Nahrung miteinzubeziehen.519 Vor die Qual der Wahl einer derart komplizierten Speisediätetik wollte sich Alvise Cornaro nicht stellen, weshalb er die täglichen Lebensmittel betont einfach auswählte: Seht her, was ohne Ausnahme meine Speise ist: Vor allem Brot, Brotsuppe oder Fleischbrühe mit Ei oder andere gute Suppen dieser Art […]. All diese Speisen sind alten Leuten sehr angemessen, und wenn sie weise sind, begnügen sie sich mit diesen und begehren keine anderen.520
War es gelungen, die optimalen Lebensmittel zu beschaffen, mussten noch die rigiden Vorschriften für die Nahrungsaufnahme beachtet werden, um eine optimale Resorption zu gewährleisten. Dazu gehörte langsames Kauen, geringe Mengen von Nahrung und die richtige Reihenfolge der Speisen.521 Im Umkreis Venedigs sollte De vita hominis das wohl umfassendste Werk zur 515 David Gentilcore, Pomodoro, 29ff. 516 Anthony Grafton/Jean Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 28. Zum gesundheitlichen Nutzen von Melonen vgl. auch De vita hominis (1550), c. 52rff.; zu diversen Obst- und Gemüsesorten ebd., c. 50rff. 517 Ebd., c. 72v : Quis demum aevi nostri prudentissimus cibaria medicinis non permisceat, crocus enim ac similia cibis permixtus cibum corrumpunt digestionem perturbant et egredi ante corporis nutrimentum megat. […] 518 De modo collegiandi (1565), c. 7v–8r : Ex cibis bonis, cum non digeruntur, chimus gignitur malus, et ex malis, cum digeruntur, laudabilis. […] Cibariorum ideo modi duo. Bonus bonum, malus malum gignit humorem. 519 Ken Albala, Eating Right, 116ff.; zum Beispiel des persischen Apfels siehe De vita hominis (1550), c. 73r. 520 Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro, 75. 521 Dabei ist stets darauf zu achten, dass die Nahrung den Magen nicht zu schnell passiert und die aufgenommene Menge nicht zu viel ist, um den Verdauungstrakt nicht mit überflüssigem Speisebrei zu belasten, vgl. De vita hominis (1550), c. 71r : cibo enim superfluo ac indigesto debilitatur pulsus, panisque quam carnis maius est impedimentum. Vgl. ausführlich hierzu Ken Albala, Eating Right, 54–62; 108–111. Zum Verhältnis von Qualität und Quantität vgl. De vita hominis (1550), c. 71r/v : Horumve qualitatem quis animadvertit an digestionis sint facilis, boni alimenti, nec superflui, facilis penetrationis, neque crasi, nec obstructivi, neque frigidi valde, neque calidi. Zum Thema siehe auch Klaus Bergdolt (Hrsg.), Alvise Cornaro, 68; Ken Albala, Eating Right, 106–107.
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Makrobiotik bleiben, das weniger durch neue Konzepte, denn durch seine Sammlung an akademischem Wissen bestach. Tomaso Rangones diätetische Vorschriften waren stets durch eine aufmerksame, maßvolle Lebensweise gekennzeichnet, in der kein Aspekt des täglichen Lebens dem Zufall überlassen werden sollte. De vita hominis ist in allen Einzelheiten daher beispielhaft für zeitgenössische Traktate der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die sich vor allem an die Oberschicht richteten, was sich nicht nur in der Beschäftigung mit einem aktuellen Thema (Makrobiotik) zeigt, sondern auch in der peniblen Speisenauswahl und den rigiden Vorschriften nach dem Vorbild der sex res non naturales. Einfachere Bevölkerungsschichten hätten sich einen vergleichbaren kostspieligen Lebensstil zu dieser Zeit kaum leisten können, da es infolge der Auswirkungen der kleinen Eiszeit ab 1540 zu steigenden Getreidepreisen gekommen war, die bereits die Waren des täglichen Bedarfs fast unerschwinglich machten.522
8.5.3.1 Makrobiotik in Venedig Im Zuge der Popularität diätetischer Schriften waren auch ortsspezifische Traktate in Mode gekommen, in denen nicht nur ästhetische, sondern auch gesundheitsrelevante Aspekte angesprochen wurden. Die Beschreibung der Luft- und Wasserqualität gehörte neben Ausführungen zur geographischen Lage der Stadt, ihrer Gründung, ihren Bewohnern und deren Lebensumständen bereits seit dem Mittelalter zu den festen Topoi des Städtelobs, das auf antike Vorbilder zurückgeht.523 Bereits Aeneas Sylvius Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst Pius II., rühmte in einem Brief an Giuliano de’ Cesarini (1398– 1444) Straßburg wegen seiner Kanäle, in denen süßes Trinkwasser floss und kein »stinkendes Salzwasser« wie in Venedig.524 Leon Battista Alberti (1404–1472) äußerte sich lobend über die Qualität der Luft in Florenz, die anmutige Land522 Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas, 148ff; 163–195; zur Lebensmittelversorgung im 16. Jahrhundert siehe Jean Delumeau, Vie conomique et sociale de Rome dans la seconde moiti du XVIe sicle, Paris 1957–59. Auch die kulturellen Konsequenzen dieser Zeit waren erheblich: Theologische und religiöse Schriften nahmen genauso zu wie Hexenverfolgung und Judenpogrome. Wunder- und Teufelsgeburten galten wieder als deutliche eschatologische Zeichen. Vgl. zu diesem Thema Wolfgang Behringer et al. (Hrsg.), Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«, Göttingen 2005. 523 Emanuel Kienzle, Der Lobpreis von Städten und Ländern in der älteren griechischen Dichtung, Kallmünz 1936; Eugen Giegler, Das Genos der Laudes urbium im lateinischen Mittelalter. Beiträge zur Topik des Städtelobes in der Stadtschilderung, Diss. Würzburg 1953; Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des Mittelalters, München 1986; Klaus Arnold, Städtelob und Stadtbeschreibung im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wien 2000. 524 Katharina Simon-Muscheid, Städtische Zierde, 702–703.
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schaft, das klare Wasser und die hygienischen Maßnahmen.525 Girolamo Cardano betonte in seiner Autobiographie, dass ein Vorteil des Reisens vor allem darin bestehe, die Gegebenheiten des jeweiligen Ortes, die Eigenschaften der Bewohner und ihre gesundheitliche Beschaffenheit zu beobachten.526 Auch der Arzt Alessandro Trajano Petronio (gest. 1585) sollte 1581 einen auf Rom spezialisierten Ratgeber mit dem Titel De victu Romanorum et sanitate tuenda verfassen, der 1592 auch in volgare publiziert werden sollte.527 Eine kurze Betrachtung seiner Wahlheimat Venedig hatte Tomaso bereits in seine makrobiotische Schrift De vita hominis eingefügt, wobei er sich neben den (besonders günstigen!) Lebensbedingungen in der Lagunenstadt auch der politischen Führung gewidmet hatte.528 Dieses Kapitel stellte wohl ursprünglich die Grundlage für die nur 32 Seiten umfassende Schrift De vita Principum et Venetorum semper commoda: consilium (1558) dar, die erstmals dem seit 1556 amtierenden Dogen Lorenzo Priuli (1489–1559) zugeeignet worden war.529 1565 wurde diese erneut in Latein und auch in volgare unter dem Titel Come i Venetiani possano sempre vivere sani publiziert.530 Dieses für einen breiteren Leserkreis konzipierte Buch wurde sehr populär, so dass es 1570 noch einmal aufgelegt und dem Dogen Alvise Mocenigo (1507–1577; Doge seit 1570) und dessen Gattin gewidmet wurde. Noch in seinem Todesjahr (1577) publizierte Tomaso Rangone eine weitere Ausgabe in Latein und in volgare.531 1691 erschien eine Neuauflage mit dem Titel Svegliarino alli signori veneziani per poter con sicurezza viver di continuo in sanit, sino gli anni cento e dieci, die inhaltlich der Ausgabe von 1577 entsprach, wobei jedoch weder der Name des Autors noch das beigefügte Gedicht von Agostino Crema vollständig erwähnt wurden. Zudem wurde das in Aussicht gestellte Höchstalter von 120 auf 110 Jahre verändert.
525 Klaus Bergdolt, Leib und Seele, 183. 526 Anthony Grafton/J. Stoner (Hrsg.), G. Cardano, 90. 527 Richard Palmer, Medicine at the Papal Court, 52; Peter Partner, Renaissance Rome, 75–76; Ken Albala, Eating Right, 38. Der vollständige Titel lautet: Del viver delli Romani, e di conservar la sanit libri cinque. Dove si tratta del sito di Roma, dell’aria, de’venti, delle stagioni, dell’acque, de’vini, delle carni, de’pesci, de’frutti, delle herbe, e tutte l’altre cose pertinenti al governo de gli huomini, e delle donne d’ogni et, e conditione (…) con dui libri appresso dell’istesso autore, del mantenere il ventre senza medicine. 528 De vita hominis (1550), c. 94r. 529 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 69r : De vita venetorum semper comodo consilium aur. fil. et litteris 1558. Zu den lateinischen Ausgaben in der Biblioteca Marciana vgl. BMV, Misc. 2237 (5): excussum Venetijs 1565 Ven. apud Franciscum Patriotem 1565. Im Folgenden als Consilium (1565) zitiert. 530 BMV, Misc. 2237 (3) und (4): Tradotto novamente da Jacomo Pratello Montefiore Medico Stampato in Vinegia nel 1565. 531 BMV, Misc. 273 (13), c. 16: Vinegia appresso Marco Bindoni 1577 mit der folgenden Anmerkung: di nuovo in volgar, lingua a noi familiar, e da molti pi intesa, e grata, consacrato alla vostra sublimit volentieri ristampato.
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Tomaso Rangone griff mit De vita Principum jedoch nicht nur ein diätetisches Thema auf, sondern reflektierte auch die aktuellen umweltpolitischen Entwicklungen seiner Zeit. Bereits 1535 hatte er in dem kleinen Hygienetraktat De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus von der Notwendigkeit gesprochen, die Lebensumstände in der Lagunenstadt durch die Reinigung der Kanäle zu verbessern und die drei amtierenden Prokuratoren der Gesundheitsbehörde zur Durchführung entsprechender Maßnahmen aufgerufen.532 Mitte des 16. Jahrhunderts waren in Venedig schließlich mehrere Großprojekte durchgeführt worden wie beispielsweise die Entschlammung sämtlicher Kanäle (1531 und 1565), die Untersuchung des Canale Grande (1551) oder die Neuorganisierung des Schiffsverkehrs.533 Venedig war somit zu einer Stadt geworden, die sich nach Ansicht Tomaso Rangones durch ein besonders gesundheitsförderndes Umfeld auszeichnete. Lobend äußerte sich der Gelehrte über die Qualität des Wassers, das nun durch gereinigte Kanäle fließe und über die durch Zisternen sichergestellte Wasserversorgung.534 Bereits in seiner makrobiotischen Schrift hatte Tomaso hervorgehoben, dass es gerade in Venedig viele Menschen gäbe, welche ein ungewöhnlich hohes Alter erreicht hätten. Dazu gehörte neben den venezianischen Patriziern Agostino Canal und Ambrosio Cavopenna auch ein gewisser Antonio Madius de Montagnana, der mittlerweile (1550) das einhundertvierte Lebensjahr erreicht habe, ohne je einen Zahn verloren zu haben (immo dente nullo carens).535 Lorenzo Gritti habe sogar selbst bezeugt, in der Ägäis (also auf venezianischem Einflussgebiet!) zwei Männern begegnet zu sein, die bereits 130 Jahre alt gewesen seien.536 Dank der günstigen geographischen Lage, der Nähe des Meeres, der Qualität der Erde und der Bergkette, die die Republik umgibt,537 sei in Venedig die Luft von hervorragender Qualität (accomodato, biono, perfetto, e temperato), wenn auch manchmal heiß und feucht im Sommer und kalt im Winter.538 Diesen Eindruck hatte auch der Humanist Ortensio Lando (1510–1558), der in dem 1548 erschienenen Commentario delle pi notabili et mostruose cose d’Italia et altri luoghi vermerkte, dass die Luft in Venedig von besonders hoher Qualität sei, da die Flut diese immer reinige.539 Dies bestätigte 1594 zudem der englische 532 De repentinis, mortiferis (1535), c. 4r. 533 Piero Bevilacqua, Venedig und das Wasser : ein Gleichnis für unseren Planeten, Frankfurt a. M. 1998, 99. 534 Consilium (1565), c. 7r. 535 De vita hominis (1550), c. 16r. 536 Ebd., c. 15v. 537 Consilium (1565), c. 6v. 538 Ebd., c. 3v. 539 Gode Venetia un’aria felicissima, imperoch la salsedine del mare, calda essendo et meno humida, genera una temperatura molto opportuna alli humani corpi. Il flusso anchora reflusso purga l’aria […]. Zum Zitat vgl. Doris Maurer/Arnold E. Maurer, Guida letteraria
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Reisende Fynes Morrison (1566–1630), der die Luft in der Lagunenstadt als außerordentlich gesund empfand und vermerkte, die Venezianer schienen hier besonders lange zu leben.540 Die Feuer der Glashütten auf Murano sollten nach damaliger Vorstellung sogar eine reinigende Wirkung auf die Gesundheit ausüben, ein Aspekt, den auch die Ärzte Fioravanti und Marini beschrieben hatten.541 Als ungünstigen Faktor für die Gesundheit bezeichnete Tomaso hingegen die Winde, die die Lagune umgebenden Sümpfe, die stets wachsende Bevölkerung,542 den beschränkten Platz sowie die großen Mengen an Abfall.543 Von besonderem Interesse ist jedoch das Kapitel De aegritudinibus Venetis contingentibus (Delle malatie accadono in Vinegia), in dem sich Tomaso mit den »typischen«, durch die geographische Lage favorisierten Krankheitsbildern der Lagunenstadt beschäftigte.544 Neben Erkrankungen des Alters, Frauen- und Kinderkrankheiten,545 Epilepsie oder diversen Hauterkrankungen seien dies vor allem Fieber, plötzliche Todesfälle (morte improvise), Katarrhe, Lepra, Hydropsie, Ulker und fluxus ventris (modi omnes).546 Die Ursache des weit verbreiteten febris pestilentialis lag für Tomaso in der Luft (Miasma),547 wobei er sich an dieser Stelle wohl nicht auf die Pest, sondern auf die Malaria bezog, die bevorzugt im Veneto, in der Poebene, in Florenz oder in Rom noch bis Anfang
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dell’Italia, Frankfurt a. M. 1988, 139. Zur Bedeutung der Luft vgl. auch Sandra Cavallo/Tessa Storey, Healthy Living in Late Renaissance Italy, 70–112. Geraldo O. de Sousa, At Home in Shakespeare’s Tragedies, Burlington 2011, 74. Alexander Cowan/Jill Steward (Hrsg.), The City and the Senses. Urban Culture since 1500, Aldershot 2007, 28. Hier bezog sich Tomaso wohl auf die aktuellen sozialen Entwicklungen. Die Bevölkerung Venedigs war ab 1540 durch die Landflucht von 130.000 Personen (um 1540) auf 160.000 (1552–1554) gestiegen, vgl. Brian Pullan, La politica sociale della Repubblica di Venezia, 1500–1620, Roma 1982, Band 1, 312ff. Consilium (1565), c. 3v. Nach antiker und mittelalterlicher Vorstellung gab es vier Hauptwindrichtungen und vier mal acht Nebenwindrichtungen, die wiederum mit den Jahreszeiten, Menschenaltern und Elementen in Relation gesetzt wurden, vgl. Rudolf Simek, Erde und Kosmos, 138–139; Consilium (1565), c. 4v. Auch in De modo collegiandi (1565) sollte sich Tomaso Rangone noch einmal auf die günstige Lage Venedigs, die Nähe der Berge und des Meeres sowie die Qualität der Erde beziehen (c. 7v : Fumositatis paludum seu putredinis alicuius, unde morbi fiunt atque pestilentes). Consilium (1565), c. 8r : Regionales morbi in aliquo evenientes loco, malitiam loci designant diligentia quippe summa speculatus repperi speciales Venetorum morbos duplici fieri discrimine (volgare: I mali de’paesi, che occorrono in qualche luogo, dimostrano il diffetto del luogo). Ebd., c. 8v. Möglicherweise nahm Tomaso hier auf die hohe Kindersterblichkeit Bezug, die zu dieser Zeit fast 30 % betragen haben dürfte, vgl. Jörg Reimann, Venedig und Venetien 1450 bis 1650: Politik, Wirtschaft, Bevölkerung und Kultur, Hamburg 2005, 110. Consilium (1565), c. 8r. Ebd., c. 10r : Propter quid Venetis frequentes contingunt pestilentes febres (volgare: Per qual cagione accadono a ’Vinitiani spesso febri pestilenti?); ebd., c. 10r: Quoniam putente humores ex putredine et continente aestuoso intensum acquirent calorem (volgare: Percioche putrefacendosi gli humori per la putredine,e fervido aiere, acquistano calore intenso […]).
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des 20. Jahrhunderts auftrat.548 In alten Landkarten wurde daher oft zwischen der laguna morta und der laguna viva unterschieden.549 Dieses Fieber sei, so Tomaso, meist tödlich, insofern es sich um schwache Patienten handelte.550 Besonders eingehend beschäftigte sich der Autor mit der ungesunden Lebensführung des venezianischen Patriziats, den Lebensumständen im Dogenpalast, der ständigen Luftveränderung (wenn die Senatoren von einer Sala in die nächste weitergingen!), dem populär gewordenen Aufenthalt auf dem Land (Villeggiatura) und einem exzessiven Lebensstil, der vorwiegend durch sitzende Tätigkeiten mit wenig Schlaf geprägt sei.551 Auch in dieser kleinen diätetischen Schrift bietet Tomaso Rangone wieder zahlreiche Lösungsvorschläge, die auf den sex res non naturales basieren552 und empfiehlt vor allem angepasste Kleidung und adäquate Kopfbedeckungen, um sich vor der gefährlichen Luft zu schützen und das Gehirn vor Schäden zu bewahren. Der Gelehrte widmet sich der gesundheitsfördernden Konstruktion und Einrichtung des Hauses und rät, die Fenster (aus Glas, Papier oder Leinwand)553 nachts stets geschlossen zu halten, um das Eindringen von schädlichen Luftströmen zu vermeiden. Sogar der Gestaltung des Bettes wird entsprechende Aufmerksamkeit beigemessen: Letzteres darf nie ohne Baldachin (padiglione) gewählt werden, der nicht nur als Zeichen oberer Gesellschaftsschichten galt und den Rang des Besitzers unterstreichen sollte, sondern auch dazu diente, den Schlafenden vor lästigen Moskitos zu schützen und ihn aufgrund der durchlässigen Gewebestruktur des Stoffes noch immer mit ausreichend Luft zu versorgen.554 Schließlich beschäftigt sich Tomaso auch mit dem gesundheitsfördernden Tagesrhythmus und der täglichen Körperhygiene, die ein regelmäßiges Wech-
548 Robert Sallares, Malaria and Rome. A History of Malaria in Ancient Italy, Oxford 2002; Piero Sepulcri, La malaria nel Veneto. Storia, epidemiologia: l’opera dell’istituto antimalarico, 2Venezia 1963; Mario Coluzzi/Gilberto Corbellini, I luoghi della mal’aria e le cause della Malaria, Medicina nei Secoli 7, 1995, 575–598; Francesca Benvegn/Lorenzana Merzagora (Hrsg.), Mal aere e acque meschizze: malaria e bonifica nel Veneto, dal passato al presente, Venezia 2000. 549 Nelli-Elena Vanzan Marchini, Venezia. La salute e la fede, 11. Auch Alvise Cornaro äußerte sich im Discorso über die Verbindung von mal aere und Sümpfen, vgl. Giuseppe Fiocco, Alvise Cornaro: il suo tempo e le sue opere, 99. 550 Consilium (1565), c. 10r. 551 Ebd., c. 9v : Humorum superabundans. 552 Ebd., c. 10v–12r. 553 Peter Thornton, The Italian Renaissance Interior, 27ff. 554 Baldachine waren im 16. Jahrhundert reich verziert und aus kostbarem Stoff (etwa Brokat oder Taft). Der Stoff lief meist in der Höhe des Kopfes oder über der Mitte des Bettes in einem capoletto (Kappe) zusammen, an dessen Spitze sich ein apfelförmiges Endstück befand, das mithilfe eines Hakens an der Decke befestigt wurde, vgl. Peter Thornton, The Italian Renaissance Interior, bes. 121–129.
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seln der Kleidung und ein zweimaliges Waschen des Gesichts mit einem in Salbei getunkten Tuch und ein Ausspülen der Augen mit kaltem Wasser umfasste.555 Bereits gleich nach dem Aufstehen sollte man die Muskeln dehnen, Psalmen singen556 und mit der Dienerschaft sprechen; kleine Erholungspausen oder ein leichter Spaziergang sollen ebenfalls in den Tagesablauf integriert werden.557 Bei den Hygieneanweisungen fällt vor allem auf, dass der Rumpf und die Gliedmaßen beim Waschen komplett ausgespart wurde, was jedoch der damaligen Praxis entsprach558 und sich durch die zeitgenössischen Krankheitsvorstellungen erklären lässt: Durch feine Risse in der Haut, die als poröse Schicht empfunden wurde, konnten Krankheiten eindringen, da bei erhöhter Temperatur durch die infolge von Druck- und Hitzewirkung geöffneten Poren Wasser und Keime in den Körper gelangen konnten.559 Schwere Arbeit, erhöhte Körpertemperatur oder Schweißausscheidung produzierten folglich zu viel Wärme, welche die Haut erschlaffen ließ. Wasser störte wiederum das sensible Säftegleichgewicht im Körper,560 weshalb sogar Ungezieferbefall lediglich als Säfteüberschuss interpretiert wurde.561 Im 16. Jahrhundert wandelte sich daher das Unterhemd zunehmend zu einem sichtbaren Teil der Kleidung und dessen durch ein aufwendiges Bleichverfahren erhaltener Weißheitsgrad stand für die Reinlichkeit des Trägers.562 Auch im Consilium dürfen ausführliche Ratschläge für die tägliche Ernährung nicht fehlen, die bereits mit der richtigen Speisenfolge beginnen und wieder dem Grundsatz des Maßhaltens folgen.563 Die Liste der Nahrungsmittel beschränkt
555 Consilium (1565), c. 11v/12r. Das Händewaschen und die Reinigung des Gesichts stellten ursprünglich eine Geste des Anstandes bei Hofe dar. Erasmus von Rotterdam riet, den Mund morgens mit klarem Wasser auszuspülen, vgl. Anton Jakob Gail (Hrsg.), Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte pädagogische Schriften, Paderborn 1963, 93 und 97. Zur Bedeutung der Körperhygiene vgl. auch Sandra Cavallo/Tessa Storey, Healthy Living in Late Renaissance Italy, 240–269. 556 Zur Wechselwirkung von Musik und Gesundheit vgl. Werner Friedrich Kümmel, Musik und Medizin: Ihre Wechselbeziehung in Theorie und Praxis von 800 bis 1800, Freiburg/München 1977. 557 Consilium (1565), c. 15v ; c. 16r ; c. 17r. 558 Georges Vigarello, Wasser und Seife, Puder und Parfum. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter, Frankfurt a. M. 1988; Regina Löneke/Ira Spieker (Hrsg.), Reinliche Leiber, schmutzige Geschäfte. Körperhygiene und Reinlichkeitsvorstellungen in zwei Jahrhunderten, Göttingen 1996; Ulrike Zeuch et al. (Hrsg.), Haut. Zwischen 1500 und 1800. Verborgen im Buch, verborgen im Körper, Wiesbaden 2003. 559 Georges Vigarello, Wasser und Seife, 16. 560 Ebd., 18f. 561 Ebd., 54f. 562 Ebd., 88. Zum Thema vgl. Wolfgang Müller, Textilien. Kulturgeschichte von Stoffen und Farben, 127; Renate Eikelmann (Hrsg.), Mit großen Freuden, Triumph und Köstlichkeit. Textile Schätze aus Renaissance und Barock, München 2002, 22–23. 563 Consilium (1565), c. 8r ; 13r.
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sich hier lediglich auf die Grundnahrungsmittel und welche Aspekte bei deren Wahl beachtet werden müssen. Im Gegensatz zu De vita hominis zeigte sich Tomaso Rangone kompromissbereiter und rechnet nun vermehrt Obst und Gemüse zum täglichen Speiseplan, darunter die bereits in De vita hominis erwähnten Tomaten, die den Gallenfluss (flusso colerico) begünstigen, die Zähne reinigen und für einen angenehmen Mundgeruch sorgen sollen.564 Neben gesundheitsfördernder Kost muss der gesundheitsbewusste Venezianer auch einen geordneten Tagesrhythmus befolgen, zu dem das regelmäßige Entleeren des Körpers ebenso gehört wie sportliche Betätigung.565 Tomaso warnt vor allzu ausgeprägten Affekten und ermahnt zum Maßhalten: Wer stets Optimismus bewahre und gelassen durch das Leben ginge, könne, so verspricht der Autor, durchaus mit einer Lebenszeit von 120 Jahren rechnen.566
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Der Mäzen und Stifter
8.6.1 Das Kollegium Palazzo Ravenna Bereits in den 1540er Jahren hatte Tomaso Rangone wie viele Venezianer vermehrt Land auf der Terraferma gekauft und folgte damit einer Tendenz, die sich vor allem nach der Schlacht von Agnadello (1509) entwickelt hatte. Sein Interesse sollte sich bald auch auf die Universitätsstadt Padua ausweiten, wo er 1551 einen Palazzo erwarb, der ursprünglich der Familie Gritti gehört hatte.567 Der Gelehrte hatte dieses Gebäude jedoch nicht gekauft, um einen weiteren Wohnsitz zu besitzen, sondern um ein Kollegium zu gründen, eine privat geführte Bildungseinrichtung, die den Namen »Palazzo Ravenna« erhalten sollte.568 Das Gebäude lag an der nördlich vom Stadtkern liegenden Straße zwischen dem Torre del Ezzelino und der Kirche San Leonardo an der Einmündung der heutigen Via dei Savonarola (gi Riviera S. Leonardo), die noch heute »gi via Ravenna« genannt wird.569 Nachdem das Gebäude am 5. Februar 1918 durch 564 De vita hominis (1550), c. 7r ; Consilium (1565), 13r. 565 Ebd., c. 15v. 566 Ebd., c. 16v : Bene sperandum itaque […] ut sana semper et tranquilla sit ultra 120 annos Venetorum vita. 567 Der Kauf wurde vermutlich in den Akten des Notars Avidio Branco verzeichnet, die heute verschwunden sind (ASV »non si trova«). 568 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 41–44; Piero del Negro, L’et moderna, in: Ders. (Hrsg.), I Collegi per studenti dell’universit di Padova. Una storia plurisecolare, Padova 2003, 97–161, bes. 117–119. Zur Definition des Kollegiums vgl. Konrad Rückbrod, Universität und Kollegium, 38ff. 569 Dies wird auch durch die stereotyp verfassten Eintrittserklärungen vor dem Notar Vettor Maffei bestätigt, nach denen sich das Gebäude nahe der Ponte Molino in der parrocchia von
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einen Bombenangriff vollständig zerstört worden war,570 wurde die Fassade zurückgesetzt und die drei ehemaligen Arkaden nicht wieder errichtet. Von der ursprünglichen Inschriftentafel ist heute nur noch ein in die neue Fassade eingelassenes Fragment erhalten.571 Erste Kollegien hatte es bereits im 12. Jahrhundert gegeben, weshalb auch in Bologna nach dem Vorbild von Paris, Oxford oder Cambridge bereits im 13. Jahrhundert derartige Einrichtungen gegründet worden waren.572 Kollegien verfügten über klosterähnliche Strukturen und wurden meist von einem Stifter für Schüler gleicher Landsmannschaft gegründet. Zumeist ging die Initiative von einem wohlhabenden Kleriker oder Professor aus, der für eine Anzahl von etwa fünf bis vierzig armen Studierenden aus einem begrenzten geographischen Gebiet ein Haus mit den dazugehörigen Einrichtungen zur Verfügung stellte. Die Studenten, welche das Kollegium in der Regel sechs bis sieben Jahre besuchten,573 verpflichteten sich während ihres Aufenthalts nicht nur zu einem strengen, klosterähnlichen Leben, sondern auch zur Teilnahme an Messen zu Ehren des Stifters. Gegebenenfalls wurde eine geringe Gebühr verlangt, um die anfallenden Kosten zu decken. Auch in Padua gab es Mitte der 1550er Jahre bereits mehrere solcher Kollegiumsgründungen, die seit dem 15. Jahrhundert vorwiegend von Geistlichen, Juristen und zunehmend auch von Ärzten ins Leben gerufen worden waren.574
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San Leonardo befand: Palatium in parrochia S. Leonardi civitatis Paduae proprijs pecunijs comparavit (ASV, Atti notarili, b. 8116, c. 254r/v). Auf Plänen des 18. und 19. Jahrhunderts lässt sich die Gestaltung des ursprünglichen Komplexes noch gut erkennen, vgl. Oliviero Ronchi, Guida storico-artistico de Padova e di suoi dintorini, Padova 1922, 90; Lionello Puppi/Mario Universo, Padova, Roma 1982 (Fig. 30–31); Carlo Aymonino et al. (Hrsg.), La citt di Padova. Saggio di analisi urbana, Roma 1970, 131ff. Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 41–42. Die Inschrift nannte den Besitzer (THOMAS RAVENNA[S]) und seine Leistungen (VIRTVTE.VIRTVTI PARTA.THOMAS.RAVENNA[S]), wobei der Wortlaut auf der Fassade der Kirche von San Giuliano wiederaufgenommen werden sollte: AEDES.PRIMVM.PADVE. VIRTVTI · POST.HAS.SENATVS PERMISSV.PIETATI.ERIGI.FECIT. Vgl. zur Inschrift Giacomo Salomon, Urbis Patavinae inscriptiones sacrae et profanae, Patavij 1701, 530; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 42. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 169; Peter Denley, The Collegiate Movement in Italian Universities in the late Middle Ages, History of Universities 10, 1991, 29–91; Ders., Academic Migration to Italy before 1500: Institutional Perspectives, in: Suse Andresen/Rainer C. Schwinges (Hrsg.), Über Mobilität von Studenten und Gelehrten zwischen dem Reich und Italien (1400–1600)/Della mobilit degli studiosi e erudite fra l’Impero e l’Italia (1400–1699), Zürich 2011, 19–32, bes. 28–29. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 169. Neben dem Collegio Arqu (gegründet von dem Arzt Jacobo d’Arqu) hatten die Ärzte Daniele da Rio und Francesco Engleschi bereits im 14. Jahrhundert ein Kollegium ins Leben gerufen. Zwischen 1523 und 1524 hatte zudem Girolamo Lamberti, ein Arzt aus Brescia, das Collegium Brescianum gegründet. Vgl. hierzu Piero del Negro (Hrsg.), L’et moderna, 117– 118; Christopher Carlsmith, Il Collegio Patavino della Misericordia Maggiore di Bergamo
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Marc’ Antonio Grimani (1486–1566), podest in Padua, berichtete in einem Brief vom 8. März 1554 bereits über acht Mitte des 16. Jahrhunderts in der Universitätsstadt bestehende Bildungseinrichtungen: das Kollegium Pratense, Spinelli, Tornacense, Engleschi, Bressani, da Rio, Arqu und Castaldi.575 Tomaso Rangone hatte bereits am 7. Juli 1552, nur wenige Monate vor der offiziellen Gründung am 12. Oktober 1552576 zudem den Stadtrat seiner Geburtsstadt Ravenna brieflich über den Kauf des Palazzos in Kenntnis gesetzt, der für die Einrichtung einer Schule und die Aufnahme von zehn jungen Studenten aus Ravenna vorgesehen war.577 In diesem Schreiben hatte er sich zudem erfolglos bemüht, von der Kommune Stipendien für die Studenten zu erhalten, weshalb Tomaso im Laufe der Jahre weitere Häuser erwerben sollte, in denen diese günstig wohnen konnten.578
Abb. 18: Blick in die Einmündung der heutigen Via dei Savonarola. Der Palazzo Ravenna befand sich auf der linken Seite hinter den Arkaden. Rechts das Fragment der ursprünglichen Inschriftentafel (THOMAS RAVENNA[S]) an der der Fassade des Kollegiums.
Zur Eröffnung gab der Gelehrte eine kleine Gedenkmedaille bei Alessandro Vittoria in Auftrag, die auf der Vorderseite ein Portrait des Stifters und auf der
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1531-c. 1550, Bergomum 93, 1998, 75–98; Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 169–170. Piero del Negro, L’et moderna, 117; zu Grimani vgl. Istituto di storia economica dell’Universit di Trieste (Hrsg.), Relazioni dei rettori veneti in Terraferma, Band 4: Podestaria e capitanato di Padova, Milano 1975, 34–45; DBI, s.v.a. Grimani, Marco Antonio. Die in der Bildungseinrichtung zu beachtenden Regeln waren durch die Statuten geregelt, vgl. BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 282 (=4298): Statuta Palatij Ravenna Patavij. A magnifico et generoso domino THOMA(S) PHILOLOGO RAVENNATE PHYSICO EQVITE VIVENTE conditi et fundati, Paduae, anno 1552, Venetijs 1569. Magnificus et generosus dominus THOMAS PHILOLOGUS RAVENNAS PHYSICUS EQUES VIVENS instituit et fundavit aedes magnificas, Patavij dictas vulgo PALAZZO del RAVENNA, habitandas GRATIS et VIRTUTIS amore, a scholaribus TRIGINTA DUOBUS. Pier Paolo Ginanni, Memorie storico-critiche, 230; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 41. Piero del Negro, L’et moderna, 118; Testament (ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172), c. 10r : […] domuncularum quatuor palatio ravena contiguarum affictus duc. 11.
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Rückseite den Gott Apoll unter einem Strahlenkranz zeigt, wie er einen Löwen bekränzt.579 Der Löwe galt neben dem Panther als Symboltier des Gottes Apoll, ist jedoch zugleich auch das Sternzeichen Tomaso Rangones selbst: Als Gott der Heilkunst und Künste ehrt Apoll auf diese Weise symbolisch Tomaso Rangone für seine Stiftertätigkeit. Die Besoldung, die Unterhaltskosten des Hauses und die weiteren Ausgaben für die Verköstigung der Schüler wurden vor allem durch jene Einkünfte finanziert, die Tomaso Rangone aus den Erträgen von Land- und Häuserbesitz in Mestre, Marghera, Sabbioneta und aus Schuldzinsen bezog. Um eine Aufnahme in Tomaso Rangones Kollegium konnten sich grundsätzlich Studenten, die sich dem Studium der artes und der Jurisprudenz widmen wollten, bewerben,580 wobei die Auswahl anfangs noch von dem Stifter selbst vorgenommen wurde. Später sollte Tomaso die Verwaltung einer »Comissaria Ravenna« übergeben, die sich aus einflussreichen Vertretern bestimmter Konvente, Kollegiatskirchen, Prokuratoren, Vorständen der großen Scuole, aus Tomasos Bibliothekar Natale Conti und aus seinem Sohn Marius Philologus zusammensetzte.581 Dazu gehörten etwa die aktuellen Vorstände wie Angelus Motus (Scuola grande di San Marco), Magnus Francisco Albertini (Scuola grande di San Theodoro), Alberto Basso (Scuola grande di San Rocco) sowie der Leiter des Incurabili-Hospitals, Amulio Patrizio, und des Hospitals von SS. Giovanni e Paolo, Giovan Maria Giunta.582 Exemplare der Statuten sollten zudem in verschiedenen Einrichtungen in Venedig und Padua deponiert werden, wobei es sich insbesondere um Institutionen handelte, an denen sich Tomaso Rangone selbst aktiv beteiligte oder bereits Führungspositionen innegehabt hatte:583 das Collegium medicum in Venedig, die Scuola grande di San Marco, die Scuola grande di San Teodoro, mehrere kleinere Scuole sowie das Ospedale degli Incurabili und das Hospital von SS. Giovanni e Paolo. Später sollte es unter den Mitgliedern jedoch zu 579 Die Beischrift lautet: LEO.IMPERAT.SOL.ET.APOLLO. Zu dieser Medaille, die auch in Silber und Gold hergestellt wurde, vgl. Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 46–47; Andrea Bacchi et al. (Hrsg.), »La bellissima maniera«, 267. Zum kulturellen Kommunikationswert von Portraitmedaillen vgl. Ulrich Pfisterer, Lysippus und seine Freunde. Liebesgaben und Gedächtnis im Rom der Renaissance oder : Das erste Jahrhundert der Medaille, Berlin 2008. 580 Artium seu legum studio in Patavino gimnasio incumbentes vel incumbere intendentes; ASV, Atti notarili, b. 8116–8118; zu den Aufnahmeerklärungen siehe insbesondere b. 8116, c. 254r/v und b. 8117, c. 514r/v (1558); c. 595v–596r (1558); b. 8118, c. 273r–273v (1558); c. 273v–274r (1558); c. 286v–287r (1558); b. 8121, c. 441r–441v(1559); c. 633v–634r (1559); b. 8131, c. 366v–367v (1561); c. 550v–551v (1561); c. 551v–552v (1561). 581 BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 282 (= 4298). 582 Es handelt sich um den Sohn des bekannten Druckers Lucantonio Giunta. Vgl. hierzu Marion L. Kuntz (Hrsg.), Guillaume Postel: Prophet of the Restitution of all Things. His Life and Thought, The Hague 1981, 26. 583 Vgl. hierzu Kap. 8.7.
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Streitigkeiten kommen und Tomaso Rangone sah sich gezwungen, die Zahl der Verantwortlichen zu beschränken. Am 2. August 1576 gründete er daher ein Fideikommiss, das durch die Vorstände (Piovane) von San Giuliano, San Giovanni in Bragora und San Geminiano vertreten wurde.584 Dieser Fideikommiss arbeitete sehr effizient, da noch 1776 Mieteinkünfte aus einem Haus zur Finanzierung des Kollegiums eingezogen wurden.585 Für die Führung des Kollegiums selbst galten strenge Vorschriften. Der Rektor (praesides) und dessen Stellvertreter (vicepraesides) sollten auf die Einhaltung eines christlichen Lebenswandels, die regelmäßige Teilnahme an den lectiones und den Gebrauch der lateinischen Sprache innerhalb des Kollegiums achten. Der Rektor wurde von Tomaso selbst für ein Jahr gewählt.586 Auch die Auswahl des Personals wurde genau durch die Statuten geregelt: So mussten zwei Frauen als Hauswirtschaftlerinnen ausgewählt werden, die etwa 50 Jahre alt sein sollten und von robuster Statur, um die anfallenden Arbeiten erfüllen zu können.587 Zu den Pflichten dieser Frauen gehörte neben der Küchenarbeit und der Zubereitung der Mahlzeiten auch die Vorbereitung der Betten für die Schüler. Dabei stellte Tomaso Rangone hohe moralische Anforderungen, die vorschrieben, dass diese Frauen unverheiratet und kinderlos seien mussten.588 Außer den beiden Hauswirtschaftlerinnen verfügte das Kollegium noch über weiteres Aufsichtspersonal und Köche, da die Pflichten der Angestellten gleichmäßig verteilt werden sollten. Die Aufnahmeerklärungen vor dem Notar Vettor Maffei setzten nicht nur die zuzuweisenden Zimmer fest, sondern auch die Stipendium- und Strafmodalitäten, wie etwa die Zahlung von 50 Dukaten im Fall einer Nichtbeachtung der Regeln.589 Die umfangreichen Statuten, die sich jeder Aspirant bereits in der Aufnahmeerklärung einzuhalten verpflichtete, regelten schließlich alle Bereiche des täglichen Lebens, das Verhalten der Studenten untereinander, den Umgang mit dem Personal oder das Einhalten bestimmter Festtage. Die Studenten durften nicht jünger als zwölf und nicht älter als vierzig Jahre alt sein, wobei für die Ausbildung vier Jahre vorgesehen waren. Gegessen und geschlafen wurde 584 Giuseppe Giomo, L’Archivio antico dell’universit di Padova, Venezia 1893, 66. Giacomo Filippo Tomasini, Gymnasium Patavinum, Udini 1654, 206. 585 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 42, Anm. 30. 586 Laut der Statuten (1569) war der erste praesides 1552 der Arzt (?) Giovanni Maria Ugolino. 587 Statuten (BMV, Ms. lat. Cl. XIV, Nr. 282 [=4298]), § 35: Eligantur a commissarijs primis fundatoris exemplo mulieres due, cum una sola non sufficiat quinquagennaria, vel pene, robusta tamen ac fortes ad emendum omnia et singula apta ad condiendum obsonia, fercula, carnes et huiusmodi idonea. 588 Ebd., § 35: […] vel sola sint, vel maritate, bonae famae, ac bonorum morum, quae tamen filias feminas nullo modo habeant, vel minus in palatio illas non contineant. 589 ASV, Atti notarili, b. 8103, c. 545v ; c. 558r/v ; c. 568v–569v ; c. 572r–573r ; c. 573r–573v ; c. 635r/v.
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unter strenger Aufsicht im Haus, die Sprache war ausschließlich Latein. Neben den humanistischen Disziplinen wurde auf die griechische und hebräische Sprache Wert gelegt. Zudem war es möglich, die Doktorwürde zu erlangen und mit Ämtern betraut zu werden, über die Tomaso Rangone die Verfügungsgewalt hatte. Die Regeln der Hausordnung waren streng und bei Zuwiderhandlungen konnte der Schüler mit Ausschluss aus dem Institut bestraft werden. An erster Stelle stand die Einhaltung der Grundsätze des christlichen Glaubens (§1), blasphemische Äußerungen zu vermeiden (§4) sowie das regelmäßige Ablegen der Beichte (§2) und die Einhaltung der Festtage (§2). Streitigkeiten untereinander sollten die scholares tunlichst vermeiden.590 Frauen waren in der Schule grundsätzlich nicht zugelassen, weshalb ein Verstoß den sofortigen Ausschluss zur Folge hatte (§ 6; § 9). Bei schlechtem Benehmen591 wurde der Übeltäter dreimal vom Vorstand des Instituts oder dessen Vertreter ermahnt, bevor er endgültig ausgeschlossen werden konnte. Um die Sicherheit der Mitbewohner zu gewährleisten, war auch das Tragen von Waffen verboten592 und Glücksspiel untersagt (§ 8). In seine Kammer und sein Bett durfte der Student lediglich Verwandte aufnehmen, Frauen sogar nur, wenn es sich um die leibliche Mutter handelte.593 Jeder Stipendiat wurde zudem angewiesen, das Inventar seines Zimmers und des gesamten Instituts pfleglich zu behandeln594 und nicht durch Zeichnungen oder Sprüche zu verunstalten (§ 11). Schließlich war auch das gesamte Personal durch diese Verordnungen vor Belästigungen von Seiten der Studenten geschützt (§ 12; § 13). Besondere Verordnungen galten für die Teilnahme an Festlichkeiten wie dem Tag des Heiligen Thomas (21. Dezember), an dem der beste Student eine Rede verfassen musste (§ 20) oder für das Fest des Heiligen Antonius von Padua (13. Juni), an dessen Prozession das gesamte Personal und die Studenten teilnehmen und weiße Wachskerzen spenden mussten. Für das Verlassen des Kollegiums galten gesonderte Vorschriften: So mussten die Schlüssel nachts entweder beim Rektor, dessen Vertreter oder dem Kustoden aufbewahrt werden (§ 22). Im Sommer schloss das Institut zur zweiten Nachtstunde (um zwanzig Uhr), im Winter zur dritten (§ 22, 23), weshalb die Studenten angewiesen wurden, stets auf Pünktlichkeit zu achten. Um die Einrichtung für längere Zeit zu verlassen, musste daher eine spezielle Erlaubnis erbeten werden, die vom Leiter selbst unterzeichnet wurde. (§ 23).
590 Statuten (BMV, Ms. lat. Cl. XIV, Nr. 282 [=4298]), §2: Sint servata inter se pace concordes. 591 Ebd., § 14: Si autem quispiam scholaris esset male morigeratus verbis aut operibus. 592 Ebd., §7: nec vulgo sclopos, archibusios, et huiusmodi bellicas machinas. Nec minus arma hastata, sub poena expulsionis a palatio. 593 Ebd., §9: feminas vero nullas praeter matrem. 594 Ebd., §10: thalamos suos quoque curent, ut meliorentur, et non deterriorentur.
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Das Studienjahr dauerte von Oktober bis September des Folgejahres.595 Eine Lehrstunde umfasste 45 bzw. 90 Minuten und war von dem Stundenrhythmus der monastischen Tageseinteilung abgeleitet, wobei die erste lectio (Vorlesung) bereits zur Prim um sechs Uhr begann. Nach der Mittagspause von 12 bis 15 Uhr begannen die Seminare und Übungen (disputationes und repetitiones), die täglich abwechselnd in Form von disputationes de iure oder de artibus medicina stattfanden, wobei die Reihenfolge der conclusiones durch das Los bestimmt werden sollte (§ 27). Jeder Student musste eine lectio in einem Fachbereich seiner Wahl halten, deren Reihenfolge wiederum durch das Los bestimmt werden sollte. Diese lectiones fanden ganzjährig zweimal pro Woche statt, einmal im Bereich des Rechts, das andere Mal in den artes. Der Unterrichtstoff gliederte sich in Theologie, Griechisch, humanistische Studien, Dichtkunst, Mathematik und Hebräisch. Später konnten die Studenten auch noch Syrisch, Aramäisch oder Arabisch erlernen.596 Besonders wichtig scheinen Tomaso die Kenntnisse in den mathematischen Wissenschaften gewesen zu sein,597 weshalb in diesem Bereich auch feste Lernziele gesetzt wurden: Nach Ablauf nur eines Jahres mussten die Studenten fähig sein, einen Mondkalender mithilfe der Alphonsinischen und Blanchinischen Tafeln herzustellen.598 Besondere Verordnungen galten für das Lehren der hebräischen Sprache: Ein Christ, der diese Sprache beherrschte, konnte ins Kollegium aufgenommen werden. Wenn es sich jedoch um einen Juden handelte, war ihm zwar das Wohnrecht versagt, jedoch konnte er mindestens dreimal in der Woche die hebräische Sprache und Schrift am Kollegium lehren.599 Die Bemühung Tomaso Rangones um die Erlernung der hebräischen Sprache und Schrift war Mitte des 16. Jahrhunderts durchaus ein ungewöhnliches Unterfangen, da im Gegensatz zu den französischen Huma-
595 Daher häufen sich die Eintrittserklärungen auch zu Beginn des Studienjahres, vgl. ASV, Atti notarili, b. 8162 (für das Jahr 1569). 596 Dante Nardo, Gli studi classici, in: Girolamo Arnaldi/Manlio Pastore Stocchi (Hrsg.), Storia della cultura veneta. Il Settecento, Vicenza 1985, 227–256, bes. 241–242; Niccol Zorzi, L’iscrizione trilingue di Tommaso Rangone sulla facciata della chiesa di San Zulian a Venezia (1554), Quaderni per la storia dell’Universit di Padova 45, 2012, 107–137, bes. 135. 597 Statuten (BMV, Ms. lat. Cl. XIV, Nr. 282 [=4298]), c. 4r : Geometriae ignarus huc introeat nemo. 598 Ebd., c. 3v–4r : Et ne humanum genus defraudasse palatij fundator videretur, praecipit, mandat, et vult ultima sua, et extrema voluntate, singulis annis perpetuis temporibus confici lunarium, cum tabulis Alphonsi, Blanchini, et Ioannis de Monte [sic] Regio […]. 599 Ebd., c. 4r. Wenig bekannt ist bisher über Tomaso Rangones Kenntnisse im Hebräischen und Griechischen. In seinem Bibliotheksverzeichnis fanden sich nur wenige griechische und so gut wie keine hebräischen Bücher. Belegt ist ein dreisprachiges Alphabet (Linguarum trium Alphabetum manuscriptum) und die Rudimenta grammatices Latinae linguae (gemeint ist die Grammatica Alphabetum graecum et hebreum von Aldo Manutius). Vgl. zu Manutius’ Einführung Susy Marcon/Marino Zorzi (Hrsg.), Aldo Manuzio e l’ambiente veneziano, 1494–1515, Venezia 1994, 79–102; 211; 223.
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nisten nur wenige italienische Gelehrte die hebräische Bibel geschweige denn weitere jüdische Quellen im Original zu lesen vermochten.600 Für ihre Studien stand den Studenten auch die umfangreiche Bibliothek Tomaso Rangones offen, deren Konsultation von den Lehrkräften streng überwacht wurde, indem der Rektor und sein Vertreter anhand eines Bestandskatalogs die Entnahmen kontrollierten. Nach der Eröffnung des Kollegiums hatte Tomaso auch seine Verwandten aus Ravenna davon in Kenntnis gesetzt und bot am 26. April 1559 Giovanbattista, Alessandro, Tomaso und Pietro-Paolo Zapparuschi, den Söhnen seiner Nichte Giulia, an, auf seine Kosten in Padua zu studieren.601 Die Einladung wurde angenommen, jedoch sollte es in den folgenden Jahren zunehmend zu Meinungsverschiedenheiten kommen, da die in Ravenna beheimatete patrizische Familie der Zapparuschi in der Abwesenheit Tomasos seinen Hausbesitz in Ravenna an sich gerissen, vernachlässigt oder sogar widerrechtlich verkauft hatte. Aus diesem Grund wies Tomaso Rangone am 9. Juli 1566 notariell alle Ansprüche auf Erbberechtigung und Familienzugehörigkeit zurück.602 Zudem verweigerte er seinen Neffen die bis dahin gewährte finanzielle Unterstützung, weshalb am 17. November 1569 ein gewisser Giovanni Battista philologo da Ravenna vom Senat Geld erhielt, um sein Studium fortsetzen zu können.603 In der Zwischenzeit bemühte sich Tomaso intensiv um die Wiedergewinnung seiner Güter, wobei ihn der einflussreiche Arzt Giovanni Arigoni (gest. 1580) unterstützen sollte, ebenfalls Verfasser verschiedener medizinischer Traktate, darunter einer diätetischen Schrift (De cena et prandio) und eines Kommentars zu Galen (In Galenum: de simptomatibus causis).604 Arigoni sprach in dieser Angelegenheit am 9. und 11. April 1576 im Stadtrat von Ravenna vor und scheint sich zudem für Tomasos Nichte Giulia eingesetzt zu haben,605 weshalb Tomaso 1577 seinen Besitz in Ravenna doch Giulia und ihren Nachkommen vermachen sollte.606 600 Anthony Grafton, Rhetoric, Philology and Egyptomania in the 1570s: J. J. Scaliger’s Invective against M. Guilandinus’s Papyrus, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 42, 1979, 167–194, bes. 185. 601 ASV, Atti notarili, b. 8121, c. 589v–590v. 602 ASV, Atti notarili, b. 8149, c.16v : cassavit et revocavit omnes et quoscumque procuratores per eum hactenus quomodolibet constitutos et ab eisdem procuratoribus vigore mandatorum suorum forsan substitutes. Im Testament nimmt Tomaso Rangone noch einmal auf diese Angelegenheit Bezug, vgl. ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 1r/v : […] et nullum mihi esse consanguinem agnosco, neque ex familia mea propinquum; si qui autem affines essent vel sint, aliena familia, vel mea, ut aiunt […] rejicio, reffudo, excludo, abnuo, et in praesenti, et in perpetuo rursum renuo omnes […]. 603 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 23. 604 Pier Paolo Ginanni, Memorie storico-critiche, 55–56. 605 ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 15v : D. Joanni Arigono satisfactionis. 606 Ebd., c. 15v.
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Bereits wenige Jahre nach der offiziellen Gründung kam es zu internen Schwierigkeiten mit den Studenten. Tomaso Rangone hatte einen Studenten der artes in seinem Institut aufgenommen, der durch sein Verhalten nicht nur die friedliche Atmosphäre im Palazzo Ravenna gefährdete, sondern auch den Institutsgründer durch entwürdigende Äußerungen (parole e littere da cartelli et da soldati) schmähte. Am 14. September 1557 wandte sich Tomaso Rangone daher brieflich an den ehemaligen Lehrer und Mentor des Studenten, den bekannten Juristen, Intellektuellen und Sammler Marco Mantova Benavides (1489–1582)607 und bat ihn, diskret für die Entlassung des Unruhestifters aus dem Institut zu sorgen (sopplicandolo del carico delle loro incluse). Zwei Jahre später nach diesem Ereignis wurde der Palazzo Ravenna am 17. September 1559 um zwanzig Uhr sogar Opfer eines Brandanschlags. Die Brandschatzung hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können und traf Tomaso Rangone in finanzieller Hinsicht schwer, da er bereits beachtliche Summen für Stifteraufträge in Venedig investiert hatte. Noch in seiner sieben Jahre später verfassten Steuererklärung vom 27. Mai 1566608 nahm er daher auf die weitreichenden Auswirkungen der Brandschatzung des Gebäudes und die erlittenen Schäden Bezug, die bisher bis auf die vorgenommenen Restaurierungsarbeiten (1560) nicht vollständig behoben worden waren.609 Vermutlich gab Tomaso daher als »Spendenaufruf« bei dem Künstler Martino da Bergamo eine kleine Medaille heraus, die auf der Rückseite Christus auf der Erdkugel thronend zeigt.610 Auseinandersetzungen zwischen Jesuitenschülern und Universitätsstudenten, die sich teilweise blutige Straßenschlachten lieferten,611 waren in Padua zwar weit verbreitet, jedoch stellte die Brandschatzung des Kollegiums wohl nur einen weiteren der feindlichen Übergriffe dar, die Tomaso Rangone zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren befürchtete.612 Bereits am 24. September 1551 war er auf 607 BCV, Ms. 1349, c. 72; zu Benavides DBI, s.v.a. Benavides, Marco Mantova. 608 ASV, Dieci savi sopra le Decime, reg. 367, c. 336: Palazzo ponte Molin […] non anchor compito di rifabricarlo. Fu bruggiato […]. 609 Den nach dem Brand verfassten Eintrittserklärungen wurde nun eine Klausel beigefügt, nach der die Studenten auf Zeichen eines Feuers achten sollten, vgl. etwa ASV, Atti notarili, b. 8131, c. 367r/v. 610 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 40–46. Auf der Rückseite der Medaille steht vielsagend: Dominus dabit. 611 Charles Yriarte, La vie d’un Patricien de Vnise au seizime sicle. Les doges – La charte ducale – Les femmes Venise – L’Universit de Padoue – Les prliminaires de Lpante, etc., d’aprs les papiers d’tat des Archives de Venise, Paris 1874, 257; Francesco Piovan, Studenti e citt nel diario di Giovanni Antonio da Corte, in: Francesco Piovan/Luciana Sitran Rea (Hrsg.), Studenti, universit, citt nella Storia padovana, Trieste 2001, 318–345. 612 ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 2v : […] ob malorum insidias, hominumque pravorum lites, dolo, fraude, ac falacia plenas, et perpetuas, incendia Palatij Ravena patavij mei turpissima […] anno ex indigno 1559 die Dominico decimo septimo mensis septembris circa horam vigesimam perpetrata […].
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offener Straße von einem Bäckerssohn namens Giulio da Murano angegriffen und schwer am Kopf verletzt worden613 und erstattete daher am 23. November 1551 Anzeige beim Rat der Zehn. Derartige gewalttätige Übergriffe waren jedoch nicht außergewöhnlich, weshalb Kriminalität insbesondere im 15. und 16. Jahrhundert in Venedig ein großes Problem darstellte. Die Regierung schuf daher auch das Amt der signori di notte, eine Art Schutzpolizei, die nachts durch die dunklen Gassen patrouillierte, um die Bürger vor Kriminellen zu schützen.614 Der Rat der Zehn war bereits 1310 zu dem Zweck gegründet worden, die Sicherheit und die Freiheit der Bürger zu gewährleisten und die Bevölkerung vor Übergriffen der privilegierten Adelsschicht zu schützen. Angriffe auf Leib und Leben galten nach damaliger rechtlicher Definition als »öffentlich« (pubblici) und fielen somit zumeist in die Kompetenz der Kurie.615 Eine Gewaltenteilung gab es nicht und der Consiglio war Gesetzgeber, Verwaltungsbehörde und Gericht in einem. Das Verfahren bestand meistens aus einer Art Voruntersuchung (inquisizione generale) und dem eigentlichen Verfahren (inquisizione speciale). Die Anhörungen erfolgten bei geschlossenen Türen, wobei der Angeklagte kein Recht auf einen Verteidiger besaß und ihm auch nicht mitgeteilt wurde, wer der Ankläger war. Am 7. Januar 1552 (1551 m. V.) entschieden die Richter schließlich über das Schicksal des Attentäters Giulio da Murano, der nach der Auszählung der baote mit 24 gegen 10 Stimmen freigesprochen werden sollte.616 In seiner medizinischen Schrift De modo collegiandi (1565) kommt Tomaso Rangone noch auf einen weiteren Anschlag zu sprechen,617 der diesmal 1556 von einem gewissen Dominico Pelosio und seinem Sohn Melchior aus dem Distrikt Villa Salvenesij in Mestre ausgeführt wurde. Tomaso Rangone wurde dabei schwer verletzt und erstattete wiederum Anzeige beim Rat der Zehn. Ausweislich der Akten der Avogaria di comun die zuständigen Avogadori waren Antonio Valier und Nicolao Contarini wurden die Attentäter am 28. Okober 1557 vor Gericht gestellt und diesmal verurteilt, da sie Tomaso Rangones Leben bedroht hätten.618 Die Übeltäter wurden zudem mit einer Geldbuße von 100 Du-
613 Vgl. den Autographen Tomaso Rangones und die Klage vor dem Consiglio dei Dieci am 23. November 1551 (zitiert nach Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 44; das Dokument ist nicht mehr auffindbar): Essendo io Thomaso Ravenna fisico stato ferito di due ferite dal figliol del pistor da Murano senza causa […]. 614 Gerhard Rösch/Eva Sybille, Venedig im Spätmittelalter 1200–1500, Würzburg 1991, 152. 615 Zur Definition von crimini pubblici und privati vgl. Luigi Fadalti et al. (Hrsg.), Gli artigli del Leone. Giustizia e carcere a Venezia dal XII al XVIII secolo, 2Treviso 2006, 29–31. 616 ASV, Avogaria di comun, b. 3674, c. 139v : Julius de Muriano […] nullis dittis et de retro cum uno puyrono percusserit dominum Thomam de Ravenna phisicum super capite et eum male tratavit sub die 24 septembris preterite. 617 De modo collegiandi (1565), c. 8v/9r: […] consolationes a me 1556 compertae, et nego quempiam sine affectibus aut peccatis inveniri […]. 618 ASV, Avogaria di comun, b. 3672, c. 55v : […] ut provideatur indemnitati et conservationi
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katen und fünf Jahren Galeerenhaft (in triremibus)619 sowie der Auflage bestraft, sich von Tomaso Rangone und seiner Familie fernzuhalten und seinen Besitz nicht zu schädigen.620 Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass ein Bäckerssohn aus Murano oder die beiden Attentäter Dominico und Melchior Pelosio die Anschläge auf Tomaso Rangone selbstständig geplant hatten. Vermutlich handelte es sich in beiden Fällen um gedungene Mörder, die von einem mächtigen Gegner angestiftet und bezahlt worden waren und der, zumindest im Fall von Giulio da Murano, auch später während des Verfahrens seine schützende Hand über den Attentäter gehalten hatte. Für diese These spricht zudem, dass Tomaso aus Angst vor weiteren Übergriffen zwischen 1555 und 1561 beim Rat der Zehn (Parti comuni) mehrmals eine Waffenlizenz beantragte, da er sich von einigen Adeligen bedroht fühlte.621 Das Waffentragen war in der Republik nur mit entsprechender Genehmigung möglich, weshalb unerlaubtes Tragen von Waffen oder deren Benutzung mit hohen Strafen belegt wurde.622 Tomaso Rangone hatte zwar mächtige Protektoren und ein einflussreiches Netzwerk, jedoch scheint er sich als »homo novus« in der traditionellen, eher geschlossenen Adelsschicht auch erbitterte Feinde gemacht zu haben, die mit allen Mitteln seinen Aufstieg verhindern wollten. Eine Waffenlizenz wurde Tomaso Rangone und einem ihn begleitenden Bediensteten schließlich erst 1561 für die gesamte Republik gewährt, um sich vor Übergriffen zu schützen, falls er von seinen Feinden angegriffen werden sollte (il pericolo di esser offeso da i suoi nemici).623 Tomaso Rangones Kollegium sollte trotz aller Widrigkeiten jedoch eine der größten venezianischen Stiftungen dieser Art bleiben und blieb selbst in schwierigen Zeiten, die zum Niedergang vieler Kollegien führten, bestehen.624 Zu
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vitae Domini Thomae de Ravena physici qui superioribus mensibus vulneratus fuit a Dominico Pelosio de Villa Salvanesij districtibus Mestre et Melchiori eius filio […]. Die Galeerenhaft hatte Mitte des 16. Jahrhunderts das Gefängnis als pena severa abgelöst. Dafür gab es politische, militärische und ökonomische Gründe, da die Serenissima in diesem Fall nicht mehr auf bezahlte Ruderer zurückgreifen musste, vgl. Luigi Fadalti et al. (Hrsg.), Gli artigli del Leone, 129–133. Zum Strafmaß vgl. ebd., 36–44. ASV, Consiglio dei Dieci, parti comuni, b. 68: per esser menazato da alcuni nobili …; Consiglio dei Dieci, parti comuni, b. 82 (7. Juli; 31. Oktober 1561); Consiglio dei Dieci, parti comuni, reg. 25, c. 27; Aus Statistiken wird ersichtlich, dass schwerwiegende Delikte und Kapitalverbrechen wie Vertragsbruch, Diebstahl oder Sexualdelikte wesentlich häufiger von Adeligen begangen wurden, siehe hierzu Jörg Reimann, Venedig und Venetien 1450 bis 1650, Hamburg 2006, 26. Luigi Fadalti et al. (Hrsg.), Gli artigli del Leone, 63. ASV, Consiglio dei Dieci, parti comuni, b. 68: […] di portar li armi […] per sicurit della persona sua per armi. Dies geht auch aus den Atti del Collegio di Ravenna und den Atti del Collegio di San Marco (ASUP, b. 604) hervor, jedoch sind die Akten für den Zeitraum von 1577–1618 heute nicht mehr auffindbar. Vgl. hierzu Andrea Moschetti, Il museo civico di Padova: Cenni storici e
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Beginn des 17. Jahrhunderts kam es durch Missmanagement und geringere Einkünfte zu einem schleichenden Untergang der Kollegiumsbewegung: 1614 hatten in Padua 14 Kollegien noch 120 Studenten beherbergt, 1640 waren es nur noch 40.625 Auch der Palazzo Ravenna blieb nicht verschont und musste Einbußen erleiden. Aus einem der wenigen erhaltenen Rechnungsbücher (1608– 1614) geht hervor, dass man dem Willen Tomaso Rangones folgend zwar noch immer Prozessionen veranstaltete, sein Andenken durch Reden pflegte und Gelder für eine öffentliche Bibliothek zurücklegte,626 jedoch empfahl der Chronist Angelo Portenari in La felicit di Padova (1623) Tomasos Kollegium erst an achter Stelle der Bildungseinrichtungen, da die Lebensbedingungen äußerst bescheiden seien.627 Aus einem Kommissionsbericht628 erfahren wir schließlich, dass ab 1627 die Wahl der Schüler und die Verwaltung des Instituts in die Hände der Refformatori dello Studio di Padova übergegangen war, da der Piovan von San Geminiano Gelder veruntreut, die Zahl der Schüler verringert und die Zahl der in Ravenna und Venedig mit einer Mitgift zu beschenkenden armen Mädchen verdoppelt hatte. Noch im 18. Jahrhundert wurde das Kollegium von diesen Refformatori erfolgreich verwaltet und sollte erst Ende des 18. Jahrhunderts mehrmals den Besitzer wechseln.629 Bei vielen Einrichtungen dieser Art hatte sich die Zahl der Studenten im 18. Jahrhundert um zwei bis fünf verringert, wohingegen das Kollegium Tomaso Rangones 1771 noch immer über eine verhältnismäßig große Zahl an Schülern (zehn bis zwölf) verfügte. Selbst die Statuten blieben nahezu unverändert.630 Bereits im gleichen Jahr wurden aus finanziellen Gründen elf Kollegien vom Senat im Collegio di San Marco zusammengeschlossen und Güter und Depositen der Gründungskommissionen
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illustrativi al congresso storico internazionale di Roma, Padova 1903, 107; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 43, Anm. 32. Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 171. Im Universitätsarchiv in Padua sind zahlreiche Quellen zu den Kollegien im 17. und 18. Jahrhundert erhalten (ASUP, b. 600–607). Noch 1622 verfasste der Schüler Hieronymus Vianelli eine Lobeshymne an den Gründer des Institut, vgl. BCR, Mob. 3,1 K2: In laudem Thomae Rangoni Ravvenatis collegij Fundatoris exordin. Hierony. Vianelli Scolaris […]. Angelo Portinari, La felicit di Padova, 109: vi sono ricevuti scolari d’ogni natione, ma non hanno altro che la camera e un ducato all’anno. BCV, Cod. Cic. 2859, c. 307; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 43. Von der Commissaria Ravenna gibt es Notizen bis 1793. Am 13. Oktober 1774 und am 18. August 1783 wechselte das Haus den Besitzer, wobei die Comissaria del qm. Tomaso Rangoni [di] Ravenna genannt wird. Im Vertrag von 1784 wird zudem die genaue Lage des Hauses durch die Angabe der Confini genannt. Darauf verweist eine verkürzte, den Statuten beigefügte Version der Hausordnung, die aus dem 18. Jahrhundert stammt, die Capitoli, ed ordini ristabiliti dalli reverentissimi commessarij perpetui del Collegio Ravenna di Padova, per la buona direzione del medesimo, inerenti a’gi decretati dal fondatore, l’anno 1552.
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eingezogen.631 Das Kollegium Tomaso Rangones bestand somit noch bis 1797, dem Ende der venezianischen Republik.
8.6.2 Ein Denkmal für die Ewigkeit Auch in Venedig gab es eine wachsende Zahl an ehrgeizigen Bürgern (cittadini), die durch diverse Praktiken der Repräsentation, wozu nicht nur ein eindrucksvoller Wohnsitz in der Stadt und auf dem Land, sondern auch das Spenden an soziale Einrichtungen, oder das Sammeln von Kunstgegenständen gehörte, dem adeligen Lebensstil nacheifern wollten.632 Oft handelte es sich um wohlhabende Kaufleute wie beispielsweise die Familie Bontempelli, die sich vor allem in den Scuole durch Schenkungen hervortat, oder den belesenen Kaufmann Andrea Odoni (1488–1545), dessen Kunstgeschmack von Pietro Aretino in einem Brief gerühmt wurde.633 Neben Sekretären und Advokaten, deren Sammlungen oft sogar über die Grenzen Venedigs hinaus gewürdigt wurden,634 imitierten auch einige etablierte und wohlhabende Ärzte635 wie der bereits erwähnte Giacomo Surian (gest. 1499) den adeligen Lebensstil, der sich von Pietro Lombardo (1430–1515) ein prachtvolles Grabmal in der Kirche Santo Stefano errichten ließ. Auch Tomaso Rangone orientierte sich an der Lebensweise des Patriziats, wobei die Formen seiner Selbstdarstellung in einem derart gesteigerten Sehnen nach individualistischer Repräsentation gipfeln sollten, die im Venedig des Cinquecento bisher ihresgleichen suchen und die sich nur durch seine außergewöhnlich einflussreiche Position im sozialen Gefüge der Stadt und reiche monetäre Mittel erklären lassen. Als Nicht-Venezianer war ihm dies wohl nur deshalb möglich, da er über Kontakte zu mächtigen Patriziern und Klerikern, die ihm gewogen waren, verfügte, und nicht zuletzt unter dem Schutz des amtierenden Dogen stand. Nachdem Tomaso zu Beginn der 1550er Jahre eine Bil631 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 42 und Anm. 31. 632 Michel Hochmann, Peintres et commanditaires Vnise (1540–1628), bes. 187ff.; Ders. et al. (Hrsg.), Il collezionismo d’arte a Venezia. Dalle origini al Cinquecento, Venezia 2008, 45– 48; Allison Sherman, Soli Deo honor et Gloria? Cittadino Lay Procurator Patronage and the Art of Identity Formation in Renaissance Venice, in: Nebahat Avciog˘lu/Emma Jones (Hrsg.), Architecture, Art, and Identity in Venice and Its Territories, 1450–1750. Essays in Honour of Deborah Howard, Bulington 2013, 15–32. Zum Thema des »Self-fashioning« vgl. Stephan Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980. 633 Michel Hochmann, Peintres et commanditaires, 190–191; 201–218; Ders. et al. (Hrsg.), Il collezionismo d’arte a Venezia, 298–300. 634 Michel Hochmann, Peintres et commanditaires, 191–201. 635 Tilmann Walter, Ärztehaushalte, 46–54.
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dungseinrichtung für bedürftige Studenten in Padua gegründet hatte, wollte er seinen Namen mit öffentlichen Einrichtungen und Kirchen verbinden. In den folgenden zwanzig Jahren sollte sich der Gelehrte daher um insgesamt vier Stiftungsvorhaben bemühen, von denen jedoch nur zwei gewährt werden sollten. Ziel seines Vorhabens war zuerst die benachbarte Pfarrkirche San Geminiano, der noch eine Fassade fehlte. Dies war an sich kein außergewöhnliches Unterfangen, gab es doch Mitte des 16. Jahrhunderts bereits diverse Bauprojekte, die sich mit der Fassadengestaltung von Kirchen beschäftigten. So beaufsichtigte der Baumeister Jacopo Sansovino, seit 1529 Proto der Serenissima, allein in den 1540er und 1550er Jahren drei verschiedene Bauprojekte: die Fassade der Kirche von San Martino (1540), von San Franceso della Vigna (1542) und von San Antonio (1558), die alle mehr oder minder einem gleichen Aufbau folgen sollten, einer klassischen Vorlage und einem Triumphbogen.636 Bereits 1552 erklärte sich Tomaso Rangone bereit, jegliche Kosten für die Fertigstellung der Fassade von San Geminiano zu übernehmen, insofern man ihm genehmigte, dort ein persönliches Denkmal zu integrieren. Zwar hatte er die Unterstützung des befreundeten Pfarrers Benedetto Manzini und des Kirchenkapitels gewonnen,637 jedoch wurde der Vorschlag vom Senat mit der Begründung abgelehnt, persönliche Denkmäler auf dem Markusplatz seien untersagt.638 Fünf Jahre später (1557) sollten sich die drei amtierenden Procuratori di Supra, de Citra e de Ultra zusammen mit dem Senat einigen, die Finanzierung der Fassade auf eigene Kosten zu übernehmen.639 Nachdem Tomaso Rangones Vorhaben, sich an seiner Pfarrkirche als Stifter zu betätigen, vorerst gescheitert war, wandte er sich an das Kapitel der Kirche von San Giuliano, die zwar nicht so repräsentativ, aber dafür für ein derartiges Vorhaben umso geeigneter war, verband das zentral gelegene Campo San Giuliano doch die Merceria mit dem Rialto, dem belebten Handelszentrum der Stadt.640 Der Vorschlag, die anfal636 Martin Gaier, Facciate sacre, 220. 637 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 61ff. Die busta ist nicht mehr auffindbar, vgl. auch Martin Gaier, Facciate sacre, 214; 476. 638 Obwohl dieses Bauprojekt von der Regierung abgelehnt worden war, sollte Tomaso die Skizzen für die Fassade von San Geminiano noch bis zu seinem Tod besitzen und verfügte in seinem Testament, dass diese in seinem prachtvollen Leichenzug mitgeführt werden sollten, vgl. ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 18v : Catagrapha […] faciei D. Geminiani super platea Divi Marci […] portaeque faciei porticus D. Geminiani platea S.ti Marci. 639 ASV, Collegio, notatorio, reg. 39, c. 3r/v ; c. 8r/v ; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 62; Martin Gaier, Facciate sacre, 255. 640 Ettore Merkel, Il restauro della facciata della chiesa di San Giuliano, Quaderni della soprintendenza ai beni artifici e storici di Venezia 17, 1993, Venezia 1993, 65–82; Vasco Fassina/Marisol Rossetti, Problemi di conservazione della facciata lapidea della chiesa di San Giuliano, in: ebd., 83–94; zur Baugeschichte vgl. auch Andrea Gallo, In forma di microcosmo. Tommaso Filologo e il portale della chiesa di San Zulian, in: Stefania Rossi Minutelli et al. (Hrsg.), »Cose nuove e cose antiche« : scritti per monsignor Antonio Niero e
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lenden Kosten von 1.000 Dukaten für die Fassade zu übernehmen und die Kirche innen und außen zu verschönern, war wiederum mit der Bedingung verbunden gewesen, dass das Bildnis des Stifters in Bronze mit Inschriften, die seine Leistungen würdigten, an der Fassade angebracht werden sollte.641 Vielleicht war Tomaso zu diesem Vorhaben in der Tat durch das ebenfalls aus Bronze hergestellte Bildnis Papst Julius’ II. angeregt worden, das dieser nach der Vertreibung der Bentivoglio über dem Hauptportal der Kirche von San Petronio in Bologna hatte aufstellen lassen.642 Nachdem das Kapitel zugestimmt hatte, wurde das Anliegen dem Senat vorgelegt,643 der dem Vorschlag am 5. September 1553 mit der Begründung zustimmte, Tomaso Rangone sei aufgrund seiner Verdienste ein gutes Beispiel für die Nachwelt (buon esempio alli posteriori).644 Lediglich das Bildnis des Stifters, so der Senat, müsste in sitzender Haltung angefertigt werden, da dies seiner Tätigkeit (als Gelehrter) entspreche.645 Das Gesamtkonzept der Fassade folgte wiederum einem Entwurf des befreundeten Baumeisters Jacopo Sansovino646 und stellte möglicherweise nur eine Weiterentwicklung der Entwürfe für die Kirche von San Geminiano dar.647 Die Bekanntschaft zwischen Tomaso Rangone und Jacopo Sansovino ging wohl bereits auf Tomasos Aufenthalt in Rom zurück, als er noch im Dienst Kardinal Domenico Grimanis stand, für den Sansovino eine Kopie der Laokoon-Gruppe geschaffen hatte. Der aus Florenz stammende Architekt und Baumeister war nach der Eroberung und Plünderung
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don Bruno Bertoli, Venezia 2006, 493–510; Valentina Sapienza, (Intorno a) Leonardo Corona (1552–1596). Documenti fonti e indagini storico-contestuali, Universit Ca’Foscari Venezia/Universit FranÅois Rabelais -CESR Tours 2011, 32–65. ASV, Senato, terra, b. 18: una sua figura dal vivo, et imagine di bronzo in piedi over sedendo; Martin Gaier, Facciate sacre, 479–480; Testament (ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172), c. 2r : […] D. Juliani monumenti mei basilica pecunijs proprijs a fundamentis recondite marmorea pulcherima facie imagine aerea alijsque decorate pluribus […]. Paola Barocchi (Hrsg.), G. Vasari, La vita di Michelangelo, Milano/Napoli 1962, Band 2, 389ff.; Martin Gaier, Facciate sacre, 227–228. Weitere Kirchenoberhäupter sollten ebenfalls dem Vorbild Julius’ II. folgen. So ließ Julius III. den Palazzo communale Bolognas mit seinem Abbild verschönern (1551) und 1553–1555 eine Statue vor dem Dom von Perugia aufstellen. An der Fassade befanden sich drei Inschriften (lateinisch, griechisch und hebräisch). ASV, Senato, terra, b. 18. Ebd.; ACPV, S. Giuliano, Catastici e Inventari 1, c. 154; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 62; Martin Gaier, Facciate sacre, 480. Zum Kapitel un den Prokuratoren der Kirche von San Giuliano, die sich aus städtischen Eliten zusammensetzte, vgl. Valentina Sapienza, (Intorno a) Leonardo Corona (1552–1596), 34–38. Martin Gaier, Facciate sacre, 219. Vgl. zur Zusammenarbeit von Tomaso Rangone und Sansovino auch Manuela Morresi, Jacopo Sansovino, 132ff., 262ff. und 298ff. Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 62.
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Roms nach Venedig geflohen, wo er wiederum unter dem Schutz der Familie Grimani stand, die ihn mit diversen Bauaufträgen betraute.648 Gleich nach der Vermessung der Fassade am 12. September 1553649 und der Klärung der rechtlichen Formalitäten vor dem Notar Avidio Branco,650 fertigte Sansovino ein hölzernes Modell der Kirchenfassade an.651 Obwohl sich die Arbeiten anfangs lediglich auf das Portal beschränken sollten, sollte später noch eine Restaurierung des Kirchenschiffs verbindlich werden, nachdem während der Fundamentierungen das Dach eingestürzt war. Durch dieses Ereignis wurde die Fertigstellung der Fassade, die laut der Inschriften wohl ursprünglich für 1554 geplant war, erheblich verzögert. Zu diesem Zweck stellte Tomaso Rangone am 8. Februar 1558 dem Kapitel noch einmal 900 Dukaten zur Verfügung, nicht ohne sich diesmal die Hauptkapelle als Grabstätte zu reservieren.652 Damit folgte er dem Beispiel weltlicher und kirchlicher Würdenträger, die sich seit dem Quattrocento bevorzugt in der Hauptkapelle bestatten ließen.653 1566 schloss Tomaso zudem noch einen ergänzenden Bauvertrag ab, wobei der dreischiffige Bau (aus Kostengründen) zugunsten eines einschiffigen aufgegeben werden sollte.654 Alessandro Vittoria sollte schließlich das Giebelgeschoss von San Giuliano erbauen und den Bau nach dem Tod seines Lehrmeisters Sansovino (1570) vervollständigen.655 Sansovinos Lieblingsschüler, der bereits eine Gedenkmedaille für die Eröffnung des Kollegiums in Padua angefertigt hatte, gehörte neben Jacopo Tintoretto zu dem Kreis von Künstlern, die Tomaso Rangone in dieser Zeit intensiv förderte. Bereits einige Jahre vor dem Tod Sansovinos verfasste Dokumente belegen das zunehmend enge Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Männern, da Vittoria am 24. Oktober 1566 den Gelehrten neben dem Piovan von San Giovanni in Bragora in seinem zweiten Testament 648 Zur Beziehung von Sansovino und den Grimani vgl. Michel Hochmann, Vnise et Rome 1500–1600: deux coles de peinture et leurs changes, Genve 2004, 249ff. 649 ASV, Giudici del piovego, b. 21, reg. misure; Martin Gaier, Facciate sacre, 480. 650 Ebd., 7.5–7.7. 651 ASV, Senato, terra, b. 18, decreto dal 1. Settembre 1553; Martin Gaier, Facciate sacre, 479– 480; Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 5v : Archetypus, vulgo moduli ecclesiae S.ti Juliani a fornice Sansovini ligneus magnus. Im Bibliotheksverzeichnis wurde jedoch noch ein weiterer Entwurf von Giovantonio Rusconi (1520?-1587), der zusammen mit Alessandro Vittoria die Sakramentskapelle von San Giuliano gebaut hatte, inventarisiert, vgl. hierzu Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 63. 652 ASV, Atti notarili, b. 8116, c. 146v–148v ; Martin Gaier, Facciate sacre, 221ff.; zu den Prokuratoren, darunter den Druckern Marchio Sessa und Luc’Antonio Giunti, vgl. Valentina Sapienza, (Intorno a) Leonardo Corona (1552–1596), 39–51. 653 So etwa Papst Julius II. (S. Pietro in Vincoli), der Doge Christofero Moro (S. Giobbe) und der Doge Loredan (SS. Giovanni e Paolo), vgl. Martin Gaier, Facciate sacre, 222. 654 BCV, Ms. Cic. 1432; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 63; Martin Gaier, Facciate sacre, 221ff. 655 ASV, Notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 19v ; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 64.
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sogar zum Testamentsvollstrecker ernannte.656 Jahre nach der Vollendung der Kirche von San Giuliano sollte Vittoria daher von Tomaso Rangone noch mit einem weiteren Stifterauftrag beauftragt werden, nämlich der Gestaltung des Portals des Konvents von San Sepolcro und dem Entwurf eines Portikus für die Kirche von San Geminiano. Zu diversen Komplikationen kam es jedoch bei der Herstellung der bronzenen Sitzstatue des Stifters. Obwohl es in Padua und Venedig zu dieser Zeit eine florierende Bronzeindustrie gab, galt Bronze als besonders kostbares Material, da der Preis sehr hoch und das aufwendige Herstellungsverfahren mit hohen Löhnen für gut ausgebildetes Personal verbunden war. Aus diesem Grund kostete in Florenz eine Bronzestatue zehn Mal so viel wie eine aus Marmor, war aber weitaus empfindlicher und daher wesentlich weniger haltbar.657 Nicht nur eine kleinformatige Büste, sondern sogar eine ganze Statue aus Bronze herzustellen, galt somit als echte Herausforderung. Nachdem die ebenfalls von Sansovino entworfene Form bereits am 27. September 1554 zum Guss freigegeben worden war,658 wurden dem Gießer Giulio Alberghetti659 fünfzig Dukaten für den Guss und weitere sechzig Dukaten für die Nacharbeit an der Statue am 27. August 1554 vertraglich zugesichert.660 Allerdings misslang dieser erste Guss und Alberghetti bat am 9. Januar 1555 Sansovino um das Gipsmodell, wobei er notwendige Korrekturen vorschützte.661 Als die zweite Form ebenfalls misslang, bekannte sich der Gießer zu seinem Missgeschick, worauf Tomaso Rangone Klage einreichte und Alberghetti noch eine letzte Chance gab.662 Dieser wurde jedoch krank und schickte die Wachsform sowie die Vorauszahlung von fünfzig Dukaten zurück.663 Am 2. März 1556 übergab Tomaso Rangone den Auftrag daher den Artilleriegießern Tommaso delle Sagome und Giacomo di Conti, die für den Bronzeguss nach dem Vorbild eines von Alessandro Vittoria angefer656 ASV, Atti notarili, b. 657, Nr. 13 (Victoria J. Avery, Documenti, 231–232): Lasso p(er) mei commissarij et exeguutori di questo testamento il r(everen)do m(isser) p(rete) Zuanmaria Lazarino piovan di San Zuane in bragola et il m.co et e.te m(isser) Tomas Rauena il cavaliere et fisico […]. 657 Victoria J. Avery, The Production, Display and Reception of Bronze Heads and Busts in Renaissance Venice and Padua, in: Jeanette Kohl/Rebecca Müller (Hrsg.), Kopf/Bild. Die Büste in Mittelalter und Früher Neuzeit, München/Berlin 2007, 75–112, bes. 76–77. 658 ASV, Atti notarili, b. 8105, c. 632v ; Martin Gaier, Facciate sacre, 482. Die italienischen 659 Zu Alberghetti vgl. Wilhelm Bode, Königliche Museen zu Berlin Bronzen, Berlin 1904, 137, Nr. 1420 und Taf. 81; John Pope-Hennessy, Complete Catalogue of the Samuel H. Kress Collection Renaissance Bronzes, London 1965, 154–155. 660 ASV, Atti notarili, b. 8105, c. 632v–633r ; Martin Gaier, Facciate sacre, 481 und ASV, Atti notarili, b. 8105, c. 633r (3. September). 661 ASV, Atti notarili, b. 8107, c. 30v ; Martin Gaier, Facciate sacre, 482. 662 ASV, Atti notarili, b. 8108, c. 414r/v (8. Juli 1555); Martin Gaier, Facciate sacre, 482. 663 22. November 1555; ASV, Atti notarili, b. 8108, c. 686v–687r; Martin Gaier, Facciate sacre, 482.
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tigten Wachsmodells eine Summe von 180 Dukaten und eine Frist von sechs Monaten forderten.664 Am 1. Februar 1557 war die Statue endlich vollendet,665 wohingegen die Arbeiten an der Fassade erst am 8. Februar 1558 zum Abschluss gebracht werden konnten.666 Zur Einweihung gab Tomaso bei Alessandro Vittoria eine weitere Gedenkmedaille in Auftrag, die auf der Vorderseite den Stifter im Profil und auf der Rückseite die Göttin Virtus zeigt, die einen Stier bekränzt.667
8.6.3 Ius imaginis, ius nobilitatis Besondere Bedeutung kam in der Renaissance dem Portrait zu, das nicht zuletzt einen Einblick in das Selbstverständnis des Dargestellten erlaubt und neben dessen Aussehen oft auch wesentliche Aspekte seiner Persönlichkeit umfasst. Die Anfänge der Portraitkunst liegen in Italien und sind eng mit dem Individualismusgedanken der Renaissance verbunden.668 Die bekannteste und zugleich rätselhafteste Darstellung Tomaso Rangones ist gewiss das Bronzebildnis aus den Händen Alessandro Vittorias über dem Portal der Kirche von San Giuliano:669 Der Stifter wurde Richtung San Marco geneigt in einem langen Gewand in sitzender Haltung vor dem Studiolo des Gelehrten verewigt. In der 664 ASV, Atti notarili, b. 8108, c. 202v–203r ; Victoria J. Avery, Documenti, 199; Martin Gaier, Facciate sacre, 482. 665 ASV, Atti notarili, b. 8112, c. 111r/v ; Martin Gaier, Facciate sacre, 483; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 64–65. 666 ASV, Atti notarili, b. 8116, c. 146v–148v ; Martin Gaier, Facciate sacre, 483–484. 667 Die Beischrift (VIRTUTE.PARTA.DEO.ET.LABORE) nimmt Bezug auf die lateinische Inschrift über dem Portal der Kirchenfassade, vgl. Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 40–41; Andrea Bacchi et al. (Hrsg.), »La bellissima maniera«, 268; Cristina Crisafulli/Leonardo Mezzaroba, La scuola medaglistica veneziana nel Rinascimento attraverso le collezioni del museo Correr, Bolletino dei Musei Civici Veneziani, Series 3/4, 2009, 6–15. 668 Peter Burke, The Renaissance, Individualism and the Portrait, History of European Ideas 21, 1995, 393–400; Keith Christiansen (Hrsg.), Gesichter der Renaissance: Meisterwerke italienischer Portraitkunst, Berlin 2011. 669 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 64–65; Deborah Howard, Jacopo Sansovino: Architecture and Patronage in Renaissance Venice, New Haven/London 1975, 81–82; 84–87; Bruce Boucher, The Sculpture of Jacopo Sansovino, New Haven/London 1991, Band 2, 338f.; Victoria J. Avery, Material Matters: Bronze and its (Non-)employment in the Monuments to Venice’s Doges (1475–1625), in: Benjamin Paul, The Tombs of the Doges of Venice from the Beginning of the Serenissima to 1907, Roma 2016, bes. 274. Bereits paduanische und bolognesische Professoren ließen sich auf ihren Gräbern im Studiolo darstellen, um ihre Gelehrsamkeit zu unterstreichen, vgl. Martin Gaier, Facciate sacre, 222; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 65; Brouce Boucher, The Sculpture of Jacopo Sansovino, Band 2, 117; Wolfgang Wolters, La scultura veneziana gotica 1300/1460, Venezia 1976, Band 2, 555–558.
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Linken hält Tomaso Rangone eine Heilpflanze, in der Rechten eine astrologische Tafel. Die Bronzestatue bildet den Abschluss eines pyramidal angelegen Komplexes, welcher der Fassade vorgelagert ist und von dorischen Säulen, Inschriften und dem Wappen des Arztes umrahmt ist. Der flache, sarkophagartige Sockel, auf dem der sitzende Gelehrte thront, kann entweder als ein Memento mori oder gar als ein Triumph über den Tod durch ein monumentum aere perennium verstanden werden. Im Studiolo befinden sich die irdischen Wissenschaften der Geographie, Botanik und Heilkunde, symbolisiert durch Bücher. Auf der linken Seite ist ein Tisch zu erkennen, über dem ein lang herabfallendes Tuch gebreitet ist, darauf zwei Folianten mit einem aufgeschlagenen Buch als Rückenstütze, daneben ein Erdglobus mit Engelsköpfchen, welche die acht Winde symbolisieren. Rechts befinden sich die Symbole der »geistigen Fähigkeiten«: Astrologie, Astronomie und Religionsphilosophie. Auf einem Podest ist schließlich ein Himmelsglobus mit Tierzeichen und Wendekreisen zu sehen, weiter rechts ein leggio mit aufgeschlagenen Büchern. Allerdings befindet sich die Statue Tomaso Rangones nicht im Studiolo, sondern außerhalb, wobei der Gegensatz von Himmel und Erde auch jenen zwischen vita activa und contemplativa verkörpern soll.670 Von besonderem Interesse sind die beiden Erd- und Himmelsgloben: Die Darstellung des Erdglobus folgt möglicherweise Vorbildern von Giacomo Gastaldi (1500–1566), Battista Agnese (1500–1564) und FranÅois Demongenet (gest. 1592) und fällt damit ins »Goldene Zeitalter« der venezianischen Kartographie: Während die Wahrnehmung der spanischen Entdeckerfahrten in Venedig bis zum ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts weitgehend unbeachtet geblieben war, hatte sich dies ab etwa 1520 zunehmend zugunsten globalisierten Denkens geändert, was sich in einer reichen Karten- und Buchproduktion niedergeschlagen hatte.671 Das Bibliotheksinventar Tomaso Rangones zeigt ebenfalls sein wachsendes Interesse an Geographie in dieser Zeit, besaß der Gelehrte doch nicht nur zahlreiche Globen, Land-, See- und Städtekarten, sondern auch eine Einführung in die Geographie Gastaldis. Der Himmelsglobus enthält 21 Konstellationen, sechs astrologische Zeichen auf der Eklipse und den Äquator. Hilfreich bei der Identifizierung ist ein Eintrag im Testament Tomaso Rangones, der besagt, dass der Gelehrte den Himmelsglobus nach einem Vorbild von Joseph Forestus gestalten und die Sternenkonstellationen nach seinem Geburtshoroskop ausrichten ließ.672 670 Martin Gaier, Facciate sacre, 223. 671 Davide Scruzzi, Eine Stadt denkt sich die Welt. Wahrnehmung geographischer Räume und Globalisierung in Venedig von 1490 bis um 1600, Berlin 2010, 241–245. 672 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 5r: Cartagrapha portae maioris ecclesiae eiusdem perperfactum Sansovinum /Cartagrapha spherae solidae caelestis mediae marmore ad planum sculptae supra portam maiorem praedictae ecclesiae per D.
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Abb. 19: Sitzstatue Tomaso Rangones an der Fassade der Kirche von San Giuliano. Rechts ist der Erdglobus mit einer Darstellung der Winde in Form von Engelsköpfchen und den Kontinenten Afrika und Südamerika zu erkennen. Links befindet sich der Himmelsglobus mit dem Geburtshoroskop Tomaso Rangones. Die Koordinaten des Himmelsglobus entsprechen der geographischen Lage Venedigs.
In der rechten Hand hält Tomaso Rangone eine Medizinalpflanze,673 wobei es sich um die Sarsaparilla handeln könnte, um deren Verwendung bei der »Syphilis«-Therapie sich Tomaso Rangone verdient gemacht hatte. In der linken Hand befindet sich eine astrologische Tafel,674 auf der eine astronomische Uhr oder ein Astrolabium planum angedeutet ist, dessen Zeiger in Form eines fauchenden Drachens gestaltet wurde (Drachenzeiger).675 Die darum angeordneten Kreise entsprechen der für ein Astrolabium planum üblichen Form, dessen Lanzette oft in Form eines Drachen dargestellt wurde und als Symbol der Joseph Forestum pictorem delineata ad latitudinem almae venetorum urbis graduum quadraginta quatuor et minutorum 30. Librae signo in horoscopo fermae, leoneque quasi coeli summo. Vgl. hierzu auch Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 63. 673 Zur Pflanze als Symbol des Arztes vgl. Kitti Jurina, Vom Quacksalber zum Doctor medicinae. Die Heilkunde in der deutschen Graphik des 16. Jahrhunderts, Köln/Wien 1985, Fig. 223; 236–238; 259. 1538 ließ sich Fracastoro in De Homocentricis (1538) mit einer Heilpflanze in der einen Hand und einer Amillarsphäre in der anderen darstellen, vgl. hierzu Bruce Boucher, The Sculpture of Jacopo Sansovino, 266, Anm. 53; Martin Gaier, Facciate sacre, 224. 674 Ebd., 224. 675 Die älteste bekannte astronomische Uhr mit Drachenzeiger befindet sich am Tübinger Rathaus und wurde 1511 von dem Astronomen Stöffler in Auftrag gegeben.
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Wiedergeburt galt. In der Bibliothek des Arztes befand sich ein Astrolabium mit Drachenzeiger (spherae capitis Draconis et caudae), und auch Leonhard Thurneisser (1574–75) besaß ein Astrolabium mit dieser Ausführung.676 Der Drachenzeiger zeigt auf astronomischen Uhren meist die Position der Mondknoten bzw. die Richtung der Knotenlinie im Tierkreis an,677 wodurch der Zeitpunkt einer Sonnen- und Mondfinsternis genau angegeben werden kann, da nach chinesischem Glauben bei einer Finsternis die Sonne/der Mond von einem Drachen verschlungen und danach wieder ausgespuckt wird. Der Drachenkopf zeigt dabei die momentane Stellung des aufsteigenden Knotens, der Schwanz die Stellung des absteigenden Knotens an. Eine Finsternis kann daher nur dann eintreten, wenn sich der Mond auf einer Linie zwischen Erde und Sonne befindet und in der Ekliptikebene liegt (»Drachenpunkt«). In diesem Fall befindet sich bei astronomischen Uhren der Sonnenzeiger, der Mondzeiger und der Kopf bzw. Schwanz des Drachens übereinander, bei einer Mondfinsternis der Sonnenzeiger an einem Ende, der Mondzeiger am anderen Ende des Drachenzeigers. Über der astronomischen Tafel an der Fassade der Kirche von San Giuliano ist ein Löwe mit der Inschrift DEVS HIC zu erkennen. Insofern könnten die Kreise des Astrolabium planum auch als die Verschalungen der Erde gesehen werden, der Löwe als »Sonnensymbol«, wobei sich Gott im metaphysischen äußeren Raum befindet. Der Löwe ist zudem nicht nur das astrologische Zeichen Tomaso Rangones, sondern auch Symbol Venedigs, wobei die herausragende Position vielleicht als Allusion auf den Allmachtsanspruch der Republik verstanden werden kann. Tomaso Rangone präsentiert sich auf diese Weise als gelehrter Patron der Kirche, wobei er sich nicht zuletzt mit dem Heiligen Markus, dem Schutzheiligen der Stadt, identifizieren möchte. Dafür spricht vor allem der dominierende Aspekt des Löwen, dem Symbol der Tapferkeit (fortitudo), Milde (clementia) und Großzügigkeit (magnanimitas).678
676 Lothar Zögner/Franz Adrian Dreier (Hrsg.), Die Welt in Händen. Globus und Karte als Modell für den Raum, Berlin 1989, 17; Martin Gaier, Facciate sacre, 224, Anm. 414. 677 Erik Damm, Grundlagen astronomischer Uhren, Norderstedt 2009; Hans Scheurenbrand et al. (Hrsg.), Festo Harmonices Mundi. Astrolabium, Kalenderuhr und Glockenspiel. Konstruktion, Funktion, Präzision, Stuttgart 2005. Noch in der Frühen Neuzeit wurde an die Existenz von Drachen geglaubt. Nach Plinius d. Ä. hatten Teile des Drachenkörpers auch medizinische Wirkung. Detaillierte Beschreibungen stammen von Conrad Gesner, Schlangenbuch (1587), Atanasius Kircher, Mundus Subterraneus (1665) und Ulisse Aldovandi, Serpentum et Draconum historia (1640). 678 Martin Gaier, Facciate sacre, 225–226.
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Abb. 20: Detail der Himmelssphäre und die angedeutete astronomische Uhr mit Drachenzeiger auf der astrologischen Tafel.
Die über dem Portal plazierte Bronzestatue wurde vom Wappen des Stifters und von drei Inschriften in Latein, Griechisch und Hebräisch umrahmt.679 Trilinguen gelten jedoch nicht nur in Venedig als eine absolute Seltenheit:680 Besondere Beachtung verdient an dieser Stelle das heute zerstörte Grabmal des Arztes Luigi Dragana Griffalcone (ca. 1489–1555) in der Kirche SS. Giovanni und Paolo, das den Gelehrten als dreisprachig (trilinguis) auswies.681 Der Lebensweg des Gelehrten und Arztes Griffalcone682 erinnert in mancher Hinsicht tatsächlich an Tomaso Rangone: Nachdem er einige Zeit am Hof FranÅois’ I. verbracht hatte, begab er sich an den päpstlichen Hof Leos X. und wurde von Andrea Mercatello Canonico gefördert, dessen Namen (Mercatello) er schließlich annehmen durfte. In Venedig erhielt der Arzt aufgrund seiner Gelehrsamkeit den Namen Griffalcone und heiratete Maria Mass, die Tochter des Arztes Niccol Mass. Es ist folglich durchaus möglich, dass sich Tomaso vom Grabmal des 1555 verstor679 Niccol Zorzi, L’ iscrizione trilingue, bes. 128–129. 680 Ebd., 125–126, Anm. 62. Mehrsprachige Inschriften sind auf dem Grabmal Teofilo Folengos (1491–1544) im Kloster Santa Croce in Campese bei Bassano oder im Grabmal von Johann Goritz (Coricius/Corycius, ca. 1455–1527) in der Kirche Sant’Augustin in Rom (1756/60 zerstört) belegt. 681 Francesco Sansovino-Martinoni, Citt nobilissima, 20–25 (Mass); 63 (Griffalcone); Martin Gaier, Facciate sacre, 223, Anm. 410; Niccol Zorzi, L’iscrizione trilingue, 126–127 und dort Anm. 63. 682 Marco Faini, Merlino e »Vinegia vaga«. Riflessioni sulla cultura veneziana e Teofilo Folengo (1525–1530), Letteratura ed arte 3, 2005, 47–58.
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benen Griffalcone, welches diesen als dreisprachig auswies, bei der Anfertigung der Inschriften von San Giuliano inspirieren ließ. Ein weiterer Bezugspunkt könnte das Grabmal des römischen Kind-Kaisers Gordian III. (225–244) sein, der nach Aussage der Historia Augusta eine dreisprachige Grabinschrift erhalten sollte, worauf auch in den Statuten des Palazzo Ravenna (Gordiani imperatoris exemplo) Bezug genommen wurde.683 In den Inschriften auf der Fassade werden die wissenschaftlichen Leistungen Tomaso Rangones beschrieben,684 wodurch das Denkmal in sechs Epochen verankert wurde: im Judentum, in griechischen- und römischen Antike, Byzanz, dem Christentum und in der Gegenwart (Venedig). Die Datierung auf das Jahr 1554 wurde in den drei Inschriften ebenfalls auf vier verschiedenen Zeitebenen angegeben.685 Die beiden kleineren Inschriften sind rechts in griechischer antikisierender Majuskel686 und links in hebräischer Epitaphschrift687 verfasst und nehmen auf Tomaso Rangones Lehrtätigkeiten in Bologna, Rom und Padua sowie auf seine schriftstellerischen Leistungen Bezug. Die griechische Inschrift lautet: HYLAS VIKOKOCOS O QAOUEMMATGS O TA TGS OIJOULEMGS CULMASIA BOMYMIAS QYLGS PATAOIOU SOVIA KALQUMAS AMGCEIQEM ETEI APO JTISEVS JOSLOU F · W · B Thomas Filologus aus Ravenna, der durch sein Wissen die Universitäten von Bologna, Rom und Padua zum Glänzen gebracht hat, erbaute dieses Denkmal im Jahr 7062 seit Erschaffung der Welt. 683 Niccol Zorzi, L’iscrizione trilingue, 135–136. 684 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 14; 62–67; Martin Gaier, Facciate sacre, 216–222; 477–484; Niccol Zorzi, L’iscrizione trilingue, 110; 112–113. 685 Nämlich der christlichen, venezianischen, griechischen und hebräischen Zeitrechnung, vgl. hierzu Niccol Zorzi, L’iscrizione trilingue, 110. Die lateinische Zählung nimmt die Vorstellung der Weltschöpfung von 5200 v. Chr. auf, das annus urbis 1134 bezieht sich hingegen auf die Gründung der Stadt Venedig im Jahr 421 v. Chr, das »Jahr 5315« auf die hebräische Zählung, nach der die Welt um 3760 v. Chr. erschaffen wurde (7. Oktober 1554 = 1. Chesvan 5315). Das im griechischen Text angegebene Datum (7062) nimmt auf die byzantinische Zeitrechnung Bezug, nach der die Welt 5508 v. Chr. erschaffen worden war. Das »Jahr 7062« entspricht jedoch 1553, nicht dem im lateinischen Text angegebenen 1554, möglicherweise da Tomaso Rangone nicht wusste, dass das neue Jahr in Byzanz jeweils am 1. September begann. Eine weitere, wenn auch später entstandene (1570) dreifache Datierung ist in der Inschrift des Architravs am Seitenportal der Scuola dei Mercanti bei Madonna dell’Orto belegt, vgl. Niccol Zorzi, L’iscrizione trilingue, 120; Ettore Merkel, Il restauro della facciata, 73, Anm. 41. 686 Die Verwendung der antikisierenden Majuskel auf Denkmälern ist in Venedig einzigartig, vgl. zu den wenigen Beispielen (Marcantonio Coccio detto Sabellico (gest. 1506) und die Gründungsinschrift an der Fassade der Kirche San Giorgio dei Greci [1564]) Niccol Zorzi, L’ iscrizione trilingue, 116–118; 121–125. 687 8DM A=LMF9 84BB LN9= A74; ==; ý=L4;@ ýL7 4JB A69 N9D9M N9B?;5 85L8 B=LHE L5; LM4 8D=94LB A969@9@H :4A9ü 9üM A=H@4 8 84=L58 NDM5 9@MB 8D59
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Die hebräische Inschrift bezieht sich hingegen auf Tomaso Rangones medizinische Leistungen:688 Thomas Filologus aus Ravenna, der viele Bücher aus verschiedenen Wissensgebieten verfasst hat und auch herausgefunden hat, wie das menschliche Leben auf mehr als 120 Jahre verlängert werden kann, erbaute dies auf seine Kosten im Jahr 5315 nach der Schöpfung.
In der großen zentralen lateinischen Inschrift689 über dem Eingang berichtet Tomaso von seinen Stiftertätigkeiten in Padua und Venedig, die er aus eigenen Mitteln (aere proprio) finanziert habe: THOMAS PHILOLOGVS RAVENNAS PHYSICVS AERE HONESTIS LABORIBVS PARTO · AEDES PRIMVM PADVE VIRTVTI · POST HAS SENATVS PERMISSV PIETATI ERIGI FECIT · ILLAS ANIMI · HAS ETIAM CORPORIS MONVMENTUM ANNO MUNDI VI · DCCLIIII NONIS OCTOBRIS IESV CHRISTI M · D · LIIII URBIS MC XXX IIII Der Arzt Thomas Filologus aus Ravenna hat mit durch ehrenvolle Tätigkeit erworbenem Geld zuerst in Padua ein Gebäude für die Tüchtigkeit (virtus) errichten lassen und dann mit Erlaubnis des Senats dieses hier für die Frömmigkeit (pietas): das eine gilt der Seele, das andere auch als Grabmal. Jahr der Welt 6754, 7. Oktober, von Jesus Christus 1554, der Stadt 1134.
Das Kollegium in Padua dient demnach als »Wohnstatt für die Tugend« (aedes virtuti), die Kirche von San Giuliano als »Wohnstatt für die Frömmigkeit« (aedes pietati). Im letzten Abschnitt der lateinischen Inschrift bezeichnete Tomaso den Palazzo Ravenna zudem als »Wohnstatt für die Seele«, die Kirche hingegen als Grabmal seines Körpers (corporis monumentum), vielleicht eine durchaus gewollte Dichotomie zwischen Geist und Körper. Wenn man die lateinische Inschrift auf diese Weise liest, wird das venezianische Denkmal auf einmal zweitrangig: Es bewahrt nur den Körper des Stifters, wohingegen sein Geist im Kollegium noch immer präsent ist. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Stifter schließlich den beiden Begriffen virtus und pietas: Die virtus war (wie auch pietas) im kaiserlichen Rom eine spezifische Tugend. Sie bezeichnete häufig die Eigenschaften der Kaiser und wurde als personifizierte Gottheit dargestellt. Durch den Einfluss der Nikomachischen Ethik wurde die virtus in vier Kardinaltugenden geteilt (prudentia, iustitia, temperantia, fortitudo).690 Nach aristotelischer Tradition stellte sie 688 Niccol Zorzi, L’ iscrizione trilingue, 112ff. 689 Ebd., 115–116. 690 J. Rufus Fears, The Cult of Virtues and Roman Imperial Ideology, in: Hildegard Temporini/ Wolfgang Haase (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 17/2, Berlin/New York 1981, 864–865. Zum Begriff der virtus im Mittelalter vgl. Silke Schwandt, Virtus. Zur Semantik eines politischen Konzepts imMittelalter, Frankfurt a. M. 2014.
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zudem eine ganz bestimmte Form von Verhalten dar und wurde in der späten Republik auf den cursus honorum angewendet, die Suche nach Ruhm (gloria) für die res publica. Nach römischer Auffassung besaß vor allem derjenige virtus, der in der öffentlichen Sphäre (res publica) richtig handelte und als Belohnung Erinnerung (memoria) erhielt. Pietas galt ebenfalls als eine Haupttugend, die sich auf die korrekte Erfüllung von heimatlichen Pflichten konzentrierte.691 Auch Tomaso Rangone sah sich demnach als Wohltäter der Republik Venedig, der durch seine virtus und pietas der Lagunenstadt zu Ruhm und Ehre verholfen hatte. Als verdiente Belohnung beansprucht er ein Denkmal für die Ewigkeit als Stätte der Erinnerung (memoria). Legt man jedoch die Definition der virtus in den Werken des Sallust und Cicero zugrunde, nach der nicht die Vorfahren, sondern nur man selbst die virtus bestimmen konnte, da nur die eigenen glorreichen Taten den Ruhm gewähren,692 richtet sich der Stifter an die von der nobilit Venedigs beanspruchte Allmachtstellung. Damit nimmt der Gelehrte auch auf die Mitte des 16. Jahrhunderts wieder vermehrt diskutierte Adelsdefinition Bezug: Die weitverbreitete Ansicht des florentinischen Gelehrten Poggio Bracciolini (1380–1459), nach der Adel noch eine ethische Tugend (virtus) bezeichnete,693 war nämlich vom venezianischen Adel nie akzeptiert worden694 und im Laufe des Cinquecento untergegangen.695 Als der zunehmend oligarchisch geprägte Adel im Lauf des 16. Jahrhunderts seine Ansprüche durch eine verstärkte Pflege von Ahnenkult legitimieren wollte,696 griff Mitte des 16. Jahrhunderts der aus Modena stammende, einflussreiche Rechtsgelehrte an der Scuola di San Marco, Carlo Sigonio (1524–1584), in die Diskussion ein und definierte den Adelsbegriff neu.697 Dort kam er zu dem Schluss, dass alle Patrizier einmal, so heißt es in der 1555 erschienenen (und später zensierten!) Ausgabe von De nominibus Romanorum, »homines novi« gewesen seien.698
691 Hendrik Wagenvoort, Pietas: Selected Studies in Roman Religion, Leiden 1980, 7–12. 692 Donald C. Earl, The Political Thought of Sallust, Amsterdam 1966, 27; 47ff.; Ders., The Moral and Political Traditions of Rome, Ithaca/New York 1967; Myles McDonnell, Roman Manliness: »Virtus« and the Roman Republic, Cambridge 2006. 693 Poggio Bracciolini, De vera nobilitate (1440); Claudio Finzi, La polemica sulla nobilt nell’Italia del Quattrocento, Cuadernos de Filologa Clsica. Estudios Latinos 30/2, 2010, 341–380. 694 Martin Gaier, Ius imaginis, 260. 695 Albert Rabil Jr. (Hrsg.), Knowledge, Goodness, and Power : the Debate over Nobility Among Quattrocento Italian Humanists, Binghampton NY 1991. 696 Giuseppe Gullino, L’evoluzione costituzionale, in: Gino Benzoni/Antonio Menniti Ippolito (Hrsg.), Storia di Venezia. Il Rinascimento. Politica e cultura, 345–378; Martin Gaier, Ius imaginis, 259ff. 697 William McCuaig, Carlo Sigonio. The Changing World of the Late Renaissance, Princeton 1989, 108–124; Martin Gaier, Ius imaginis, 261ff. 698 Martin Gaier, Ius imaginis, 265; William McCuaig, Carlo Sigonio, 142.
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8.6.4 Die Resonanz Die Gestaltung der Fassade von San Giuliano wurde insbesondere vom venezianischen Patriziat kritisch beäugt, sah man sich doch durch einen homo novus in jahrhundertealten Privilegien beschnitten.699 Zum einen war es nur wenigen venezianischen Adelsfamilien vergönnt, sich an Kirchenfassaden zu verewigen, darunter der Familie Capello, welche die Restaurierung der Kirche am Campo Santa Maria Formosa bezahlt und für Vicenzo Capello über dem Portal ein Denkmal errichtet hatte. Ende des 17. Jahrhunderts gelang es auch der Familie Barbarigo, von Giuseppe Sardi an der Kirche Santa Maria del Giglio eine Fassade errichten zu lassen, die kein religiöses Motiv mehr zeigt.700 Zudem hatte Tomaso Rangone gegen die von Lilio Gregorio Giraldi erst 1539 kodifizierten Bestattungsregeln verstoßen, die auch die für die Bestattung zu verwendenden Materialien für die jeweiligen Stände festlegten.701 Dabei wurde auch kritisiert, dass Tomaso Rangone als Erster den ausschließlich für das Patriziat reservierten istrischen Stein für die Fassade verwendet hatte. 1575 wandte sich daher Giovanni Francesco Priuli brieflich an die Procuratori di Supra und klagte, Alessandro Vittoria habe für die Grabmäler der beiden Dogen Priuli in San Salvador lediglich istrischen Stein in Erwägung gezogen, den er mittlerweile nicht mehr als standesgemäß empfand (cos abietta, et bassa). Stattdessen verwies er auf die Grabmäler der Familie Venier und Corner, die aus Marmor gefertigt worden waren.702 Tomaso Rangones Stifterbildnis rief auch Reaktionen außerhalb Italiens hervor: Von besonderem Interesse ist hier ein im Kupferstichkabinett des Rijiksmuseum van Oudheden aufbewahrter Portraitstich, der 1560 von Lambert Zutmann (1510–1567)703 angefertigt wurde. Der flämische Maler, Graveur und 699 Giovanni Francesco Loredan machte sich sogar, wenn auch erst nach dem Tod Tomaso Rangones, in seiner Komödie L’Incendio (1594/97) über den Gelehrten lustig und veränderte dessen Namen in Tomas frignoculus ravanellus frigidus. Der Text fährt fort (ebd., c.49r): Egli quell’imbronzato, che siede a Capo Marino nella porta di S. Giuliano, ove tr alquanti corli [d. h. arcolai] con un libro in mano spiega le cifre del calendario a i bastegi di quella piazzuola. Vgl. zum Text auch Martin Gaier, Facciate sacre, 211; Niccol Zorzi, L’ iscrizione trilingue, 115. 700 Karl Heller, Venedig, 563–564. 701 Lilo Gregorio Giraldi, De sepulcris et vario sepeliendi ritu, libellus, Basilea 1539, c. 68rff.; Martin Gaier, Facciate sacre, 212. 702 ASV, Procuratori di San Marco de ultra, b. 223, f. 19, c. 15–23; Martin Gaier, Facciate sacre, 211–212. 703 Charles le Blanc, Manuel de l’amateur d’estampes: contenant le dictionnaire des graveurs de toutes les nations, Paris 1854, Band 3, 607–608; Jean Simon Renier, Catalogue de l’oeuvre de Lambert Suavius, Lige 1878; Alfred Micha, Les graveurs ligeois, Bnard 1908, 27–35; Jean Puraye, Lambert Suavius, graveur ligeois du XVI sicle, Revue belge d’Archologie et d’Histoire de l’Art 16, 1946, 27–45; Friedrich Willhelm Heinrich Hollstein, Dutch and Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts ca. 1450–1700, Amsterdam 1984, Band 28, 165–199.
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Architekt, der sich später Suavius704 nannte, wurde 1510 in Maastricht bei Lige als eines von dreizehn Kindern des Goldschmieds Henri Zutmann geboren. Als Lige unter der Herrschaft des Erzbischofs Erhard von Marck (1506–1538) ein einzigartiges kulturelles Zentrum geworden war,705 ließ von Marck auch den Bischofssitz, der während der burgundischen Kriege fast zerstört worden war, vollständig wiederaufbauen und die Kathedrale St. Lambert restaurieren, an der auch Zutmanns Vater tätig war. Da eine hohe Nachfrage an qualifizierten Fachkräften bestand, erlernte auch Zutmann das väterliche Gewerbe der Goldschmiedekunst und arbeitete eng mit dem Künstler Lambert Lombard (1506– 1566) zusammen, der 1540 eine von Zutmanns Schwestern ehelichte. Mit dem Tod Erhards von Marck 1538 begann ein schleichender Niedergang der Künste, da seine Nachfolger nicht an die Kunstförderung anknüpften. Viele Künstler verließen daher Lige und zogen nach Antwerpen. 1553 schloss Zutmann einen Vertrag mit dem Drucker Plantin, der ihm das Exklusivrecht auf die zwischen 1545 und 1548 entstandene Serie der zwölf Apostel zusicherte.706 Ende der 1540er Jahre hatte Zutmann wie viele niederländische Künstler auch eine Reise nach Italien unternommen, die ihn nach Rom geführt hatte.707 Diese Bildungsreise sollte sich auch in seinem Werk niederschlagen, das sich stark an der Motivik des Manierismus orientierte. In Antwerpen kam Zutmann mit wohlhabenden Händlern in Kontakt, fertigte Portraitgravuren von Marc Perez und seiner Frau Ursula Lopez, Erasmus Schetz (1480–1550), dessen Frau Anna Straelen und seinen Söhnen, Balthasar und Melchior.708 Aus Sympathie für den Protestantismus ließ sich Zutmann in Köln nieder, wo er 1562 einen Plan für das Tor des Kölner Rathauses anfertigte und 1567 verstarb. Zutmanns bekanntes Oeuvre, das sich durch hohe Qualität und technische Präzision auszeichnet, umfasst heute mehr als 100 Stiche, die die Themen Religion, Mythologie, Geschichte und Portraitkunst umfassen.709 Bei dem vorliegenden Stich handelt es sich um ein besonders seltenes und
704 »Suavius« heißt soviel wie »Der Süße« oder »Der Schwabe«, vgl. Friedrich Lippmann, Der Kupferstich, Bremen 2012, 110. 705 Eugene Buchin, Le rgne d’ rard de la Marck, Paris 1931; Erwin Gatz/Clemens Brodkorb (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches, 1448 bis 1648: ein biographisches Lexikon, Berlin 1996, 460–463. 706 Jean Puraye, Lambert Suavius, 27–45, bes. 41–42. 707 Ebd., 33ff. Vgl. zum Aufenthalt niederländischer Künstler in Italien Susan Maxwell, The Court Art of Friedrich Sustris. Patronage in Late Renaissance Bavaria, Surrey/Burlington 2011. 708 Zu dem Antwerpener Kaufmann Erasmus Schetz vgl. Richard Ehrenberg, Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Kreditverkehr im 16. Jahrhundert, Jena 1922, 368. 709 Timothy A. Riggs/Larry Silver (Hrsg.), Graven Images: the Rise of Professional Printmakers in Antwerp and Haarlem, 1540–1640, Michigan 1993, 102–104.
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ungewöhnliches Werk.710 Der Stich ist in Form eines Medaillons gestaltet, das Tomaso Rangone im Profil zeigt, eine bei Zutmann öfters belegte Form bei Portraits. Die Gestaltung des Gewandes erinnert an die Bronzestatue am Portal der Kirche oder an die von Alessandro Vittoria gefertigten Portraitmedaillen von 1552 und 1558. Umlaufend befinden sich zwei Spruchbänder, wobei das erste den Dargestellten identifiziert (THOMAS.PHILOLOGUS. RAVENNAS.ANNO.1560), das zweitere, äußere Band ein auf den Philosophenstaat Platons711 abzielendes Spruchband enthält: TUNC.BEATA.ERIT RES PUB(LICA).CUM REG(ES) PHILOSOPHABUN(T) AUT PHILOS(OPHI) REGNA(NT) · Ein Staat wird dann glücklich sein, wenn die Könige philosophieren oder die Philosophen regieren werden. Nach der Vorstellung Platons wurde ein Staat nämlich nur dann gut gelenkt, wenn er sich in der Hand von Philosophen befände oder die Herrschenden zu Philosophen würden. Nach diesem Staatsmodell war es daher auch die Pflicht des Bürgers, in seinem Zuständigkeitsbereich die optimale Ordnung unter den einzelnen Elementen zu verwirklichen (dies gilt auch für die Beziehungen zwischen den Staatsbürgern in der Polis!). Analog erforderte die Gerechtigkeit im Staat jedoch einen hierarchischen Aufbau der Staatsordnung. Die Aufgabe jedes Bürgers bestand folglich darin, im Auftrag der Gemeinschaft das zu tun, was seiner Begabung entsprach. Ziel der Philosophenherrschaft war daher die Verwirklichung der Gerechtigkeit, von der das Wohl jedes einzelnen Bürgers abhing. Denn nur der Philosoph, der sein Leben der Weisheit widmete, war von Natur aus zur Herrschaft berufen. Die Standeszugehörigkeit ist im platonischen Staat daher nicht erblich, sondern lediglich von der Qualifikation des Einzelnen abhängig. Aus diesem Grund müssen die künftigen Herrscher einen Bildungsweg, der mit großen Anstrengungen verbunden ist, auf sich nehmen, wobei das Endziel der philosophischen Bestrebungen die Erkenntnis des summum bonum ist. In Verbindung mit Tomaso Rangone ist dieses Spruchband besonders interessant, da auch er sich 1521 in De optuma ! felicitate mit der Definition des obersten Guten (!cahºm) beschäftigt hatte. Insofern gilt der Gelehrte aufgrund seiner Ausbildung, Fähigkeiten und Leistungen als prädestiniert, eine verantwortliche gesellschaftliche Position im Staatsgefüge (Venedigs?) zu übernehmen. Dabei fällt insbesondere die Parallele zu der lateinischen Inschrift von San Giuliano auf, in der die Schlüsselbegriffe der virtus und pietas von grundlegender Bedeutung sind. Der 710 Erwähnt wurde der Stich bereits im 19. Jahrhundert, vgl. Georg Kaspar Nagler, Neues allgemeines Künstlerlexikon, München 1838, Band 8, 26; Johann David Passavant, Le peintre-graveur, Leipsic 1862, 114; Charles Le Blanc, Manuel de l’amateur d’estampes, Band 3, 608. 711 R. Kent Sprague, Plato’s Philosopher-King. A Study of the Theoretical Background, Columbia 1976; Jacob Frederik Martinus Arends, Die Einheit der Polis. Eine Studie über Platons Staat, Leiden 1988.
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Bezug auf den platonischen Idealstaat in Zutmanns Stich reflektiert somit die lateinische Inschrift von San Giuliano, die in der persönlichen Leistung des Individuums die Quellen für dauerhaften Erfolg sieht. Ähnlich wie die Bronzestatue über dem Portal der Kirche ist auch das Portrait nicht in das Medaillon integriert, sondern scheint schwerelos davor zu schweben. Unter dem großen Portraitmedaillon befindet sich noch eine französische Inschrift, die auf den Dargestellten Bezug nimmt. In stilistischer Hinsicht ist diese mit der fünf Jahre zuvor von Zutmann angefertigten Serie Les Romains illustres zu vergleichen: Jede der insgesamt sechzehn Tafeln enthält ebenfalls vier französische Verse, welche die dargestellte Person charakterisieren.712 Diese Sentenz kann als klarer Hinweis – und eindeutige Kritik an der Bronzestatue Tomaso Rangones gelesen werden: J’ai bien compris l’exterieure forme de ce Thomas mais non pas sa prudence d’autant quelle est si trs proche et conforme de la divine et haulte providence. Demnach kommt die Darstellung Tomaso Rangones, die über dem Portal den Platz des Schutzheiligen eingenommen hatte, dem Göttlichen zu nahe, was weniger als Hybris denn als Bedenkenlosigkeit verurteilt wird. Links und rechts über dem großen Medaillon sind jedoch noch zwei Impresen zu erkennen, die ebenfalls auf die dargestellte Person Bezug nehmen. Rechts ist ein Cornucopia-Symbol (abundantia), die Diana von Ephesus (oder ein Symbol der Natur?) und eine Vase bzw. Amphore abgebildet, möglicherweise ein Hinweis auf den Reichtum und Wohlstand Tomaso Rangones. Ganz links befindet sich der Uroboros mit Schaufel, darüberliegendem Auge und (Himmels-)kugel. Diese Kombination ist, verbunden mit dem Wahlspruch Gloria immortalis labore parta, in der Emblematik nachzuweisen und könnte als Hinweis auf Selbsterkenntnis oder immerwährenden Ruhm durch Arbeit gedeutet werden.713 Interessanterweise teilt das Portrait Tomaso Rangones die umgebenden Kreise in zwei Hälften, von denen die rechte im Dunkeln liegt, die linke hell erstrahlt. Auf diese Weise erinnert das Medaillon an eine Eklipse und erhält dadurch eine astronomisch-astrologische Dimension, die durch die Blickrichtung des Dargestellten noch unterstrichen wird: Die Augen des Gelehrten sind gen Himmel gerichtet und scheinen imaginäre Sternenkonstellationen zu beobachten, was als Hinweis auf Tomaso Rangones Tätigkeit als Astrologe verstanden werden kann. Letztendlich vermittelt der Stich Lambert Zutmanns durchaus ein positives Bild des Arztes, dessen Bildung, Gelehrsamkeit und Engagement für die Lagunenstadt geschätzt wurden. Kritisiert wird jedoch die Unüberlegtheit und Gedankenlosigkeit des Stifters, sein Bildnis über dem Portal der Kirche angebracht und 712 Jean Puraye, Lambert Suavius, 36–38. 713 Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hrsg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1976, 655.
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damit einen Akt der Blasphemie begangen zu haben. Daher liegt die linke Imprese auch im Schatten, wobei die rechte – als Hinweis zur Selbsterkenntnis – im Licht erstrahlt. Erfolgreich hatte Tomaso Rangone Ende der 1550er Jahre alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, überwunden. In den folgenden Jahren sollte sein gesellschaftlicher Aufstieg auch nicht mehr durch die Intrigen einiger Adeliger verhindert werden können. Einflussreiche Patrizier, namhafte Gelehrte, berühmte Dichter und Künstler unterstützten ihn zunehmend öffentlich. Bereits 1560 wurde Tomaso Rangone Mitglied der mächtigen Scuola grande di San Marco, am 9. März 1562 zum Guardian grande gewählt und nur wenige Tage später vom Dogen Priuli zum Eques erhoben. In den nächsten Jahren schlossen sich weitere Einrichtungen der Stadt an: Die Scuola grande di San Teodoro ernannte den Gelehrten ebenfalls zum Guardian grande und das Collegium medicum zum Prior. Die einflussreiche Position Tomaso Rangones im sozialen Gefüge der Lagunenstadt spiegelt sich auch in den Publikationen dieser Jahre wider, die ihm zugeeignet wurden: 1557 versah der Arzt Pietro Giacomo Zovello aus Carmagnola das von ihm verfasste Pesttraktat (Comentarius de pestilenti statu) mit einer persönlichen Widmung an Tomaso Rangone.714 Auch die von Francesco Sansovino 1570 bei Rampazetto publizierte Neuauflage der 1562 erschienenen Fabbrica del mondo, einem Kompendium mit Beiträgen verschiedener Autoren zur Weltentstehung, war Tomaso Rangone gewidmet, wobei Sansovino die enge Freundschaft seiner Familie zu Tomaso betonte (l’antica amicitia ch’ tra voi et la casa mia).715 Die 1572 postum erschienene Ausgabe der L’Achille et l’Enea des Schriftstellers und Kunstkritikers Ludovico Dolce (1508–1568)716 enthielt im Anhang sogar eine Lobrede des adeligen Advokaten und Dichters Andrea Menechini da Castelfranco717 sopra le lodi della poesia, et de’ Fautori delle virt, in der Tomaso Rangones Verdienste in Astrologie, Medizin, Naturkunde, Logik und Mathematik gepriesen wurden.718 714 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 40. Zu Zovellos Pesttraktat vgl. Samuel K. Cohn, Cultures of Plague. Medical Thinking at the End of the Renaissance, Oxford 2010, ad indicem. 715 Al magnifico et eccelente Sig. Dottore et cavalier il Signore Thomaso Filologo da Ravenna. 716 DBI, s.v.a. Dolce, Lodovico. 717 Zu Andrea Menechini vgl. Margaret F. Rosenthal, The Honest Courtesan: Veronica Franco, Citizen, and Writer in Sixteenth-Century Venice, Chicago/London 1992, 99. 718 Ludovico Dolce, L’Achille et l’Enea, Vinegia 1572 (Vorwort): […] essendo egli nella Filosofia un moderno Aristotele, nella Poesia Virgilio, Esculapio nella Medicina, Alberto Magno nella cognizione delle cose naturali, superior tutti nell’Astrologia, e consiglier della Natura, della quale cosi trinseco familiare […] in cui raunata ogni real grandezza, sommo Filosofo, eccelentissimo Oratore, sottilissimo Logico, esperimentalissimo Fisico, perfetissimo Matematico, gravissimo Teologo, il qual le Muse ammirano per le sue gioiose delitie, e l’antepongono ad ogni mortal’ altezza.
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Abb. 21: Portrait-Stich von Lambert Suavius, datiert auf 1560. Unter dem großen Portraitmedaillon befindet sich eine französische Inschrift, die ebenfalls auf Tomaso Rangone Bezug nimmt.
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Bereits in den 1530er Jahren wurden in Venedig erste Umwälzungsprozesse ersichtlich, die in späteren Jahrzehnten noch deutlich an Kontur gewinnen sollten.719 1527, 1528 und 1535 hatte es Epidemien mit hoher Mortalitätsrate gegeben.720 Ab etwa 1540 wurde durch die Getreideknappheit auch die Ernährung der Bevölkerung prekär,721 da insbesondere durch das milde Klima im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts (1530–1560) das Bevölkerungswachstum begünstigt worden war.722 Durch das Einsetzen der kleinen Eiszeit folgten jedoch kalte Winter und nasse Sommer mit schlechten Ernten. Laut einer zeitgenössischen Chronik wanderten aus diesem Grund immer mehr Menschen von der Terraferma in die Lagunenstadt, in der Hoffnung, dort besser mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden.723 1555 und 1556 wurde Venedig zudem von einer erneuten Pestwelle heimgesucht und 1559 zerstörte ein starkes Unwetter, gefolgt von heftigen Überschwemmungen, die dürftige Ernte. Agrarkrisen, Seuchen, Hungersnöte und Kriege gingen an der Psyche der Menschen des 16. Jahrhunderts nicht spurlos vorüber und ein neues Leiden entstand: die Melancholie.724 Diese wurde jedoch nicht als Krankheit klassifiziert, sondern gemäß der galenischen Viersäftelehre als ein Ungleichgewicht der Körpersäfte interpretiert und zur »Mode«-Krankheit der Intellektuellen, Künstler und Fürsten.725 In Anbetracht dieser besorgniserregenden Entwicklungen sah sich die venezianische Regierung gezwungen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Im Februar 1545 erging an alle Pfarrgemeinden die ausdrückliche Verordnung, die Armen bestmöglichst zu versorgen, denn nur durch äußerst strenge Vorschriften im Bereich der Hygiene und Seuchenvorsorge von Seiten der Gesundheitsbehörde konnten verheerende Auswirkungen vermieden werden. 1556 wurden zudem zwei Mitglieder des Senats zu den Sopraprovveditori alla sanit ernannt und ein Chirurg, der bei der Gesundheitsbehörde angestellt war, wurde zu Krankenbesuchen geschickt und durfte die Stadt nur mit ausdrücklicher
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Brian Pullan, La politica sociale, Band 1, bes. 312ff. Ebd., 313. Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas, 149; 153–154. Ebd., 150–151. Brian Pullan, La politica sociale, 313. Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas, 158–162; Klaus Bergdolt, La vita sobria, 27; Jean Starobinski, La dcouverte de la psychologie, in: Tibor Klaniczay et al. (Hrsg.), L’poque de la Renaissance: Crises et essors nouveaux (1560–1610), Amsterdam 2000, 329– 337. 725 Lawrence Babb, Elisabethan Malady : a Study of Melancholia in English Literature from 1580 to 1642, Michigan 1965; Moshe Hazani, Apocalypticism, Symbolic Breakdown and Paranoia. An Application of Lifton’s Model to the Death-Rebirth Fantasy, in: Albert I. Baumgarten (Hrsg.), Apocalyptic Time, Leiden 2000, 15–40, bes. 20–21.
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Erlaubnis verlassen. Insbesondere die venezianischen Bruderschaften (Scuole) sahen sich in dieser Situation vor keine leichte Aufgabe gestellt.726 Diese Vereinigungen von wohlhabenden Bürgern mit gleichen Interessen727 nahmen gemeinnützige Aufgaben wahr und bildeten das Rückgrat der venezianischen Sozialpolitik. Sie sorgten sich um das Wohl und die soziale Absicherung der ärmeren Mitglieder sowie die Vergabe von Mitgift an bedürftige Mädchen (donzelle)728 und die Verteilung von Spenden, Nachlässen oder Einkünften aus Immobilienbesitz. Bereits sehr früh erkannte man daher die gesellschaftspolitischen Vorzüge dieser Einrichtungen:729 Der Arzt und Humanist Giovanni Caldiera (1400–1474) beschrieb 1473 in seinem unveröffentlichten Werk De praestantia venetae politiae die Bruderschaften als durch festen Glauben zusammengehaltene Einrichtungen, deren Mitglieder durch das Gebot der Nächstenliebe geleitet werden würden.730 Der venezianische Staatsmann Gaspare Contarini (1483–1542) sah in den Scuole gar wesentliche Elemente zur Bewahrung des sozialen Friedens.731 Nicht zu Unrecht bezeichnete jedoch Antonio Milledone, Sekretär des Rats der Zehn, diese Einrichtungen auch als eigenständige kleine Republiken, da ihre Mitglieder Einfluss auf die Staatsgeschäfte ausübten.732 Ihrer machtvollen Stellung im sozialen Gefüge der Stadt waren sich die Scuole durchaus bewusst und stellten diese in beeindruckenden Prozessionen zur Schau.733 Wohlhabende Bruderschaften ließen ihre Ver726 Brian Pullan, La nuova filantropia nella Venezia Cinquecentesca, in: Bernard Aikema/ Dulcia Meijers (Hrsg.), Nel regno dei poveri: arte e storia dei grandi ospedali veneziani in et moderna, 1474–1797, Venezia 1989, 19–34; Anna Bellavitis, Identit, mariage, mobilit sociale. Citoyennes et citoyens Vnise au XVIe sicle, Rome 2001, 105ff.; Claudio L. Daveggia, Le grandi Scuole Veneziane. L’istituzione nell’ambito della politica sociale della Serenissima nel Medio Evo (Sec. XII–XV), Venezia 1986; Christopher F. Black, Le confraternite italiane del 500: Filantropia, carit, volontariato nell’et della Riforma e Controriforma, Milano 1992; Gastone Vio, Le scuole piccole nella Venezia dei Dogi. Note d’archivio per la storia delle confraternite veneziane, Venezia 2004. 727 So gab es auch Scuole, deren Mitglieder einen bestimmten Beruf ausübten (Apotheker, Händler) oder die sich ausschließlich bestimmten sozialen Gruppen widmeten. Die 1593 gegründete Compagnia della carit del Crocifisso, detta poi fraterna delle prigioni sorgte sich etwa ausschließlich um das Wohl der Gefangenen. 728 Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder. Maler, Bildhauer und Architekten in den venezianischen Scuole Grandi (bis ca. 1600), Berlin 2008, 146–147. 729 Ebd., 14–17. 730 Margaret King, Venetian Ideology and the Reconstruction of Knowledge: Giovanni Caldiera (1400-ca. 1474), Standford 1972; Dies., Venetian Humanism in an Age of Patrician Dominance, Princeton 1986; DBI 16, 1973, s.v. a. Caldiera, Giovanni; Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 14–17, Anm. 22. 731 Gaspare Contarini, De magistrato et Republica Venetorum, Parisijs 1543 bzw. Venetijs 1544. 732 Karl Heller, Venedig, 646. 733 Patricia H. Labalme/Laura Sanguineti White (Hrsg.), Cit Excelentissima, 311ff.; Anna Bellavitis, Identit, 107; Edward Muir, Il rituale civico nella Venezia del Rinascimento, Roma 1984.
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sammlungsräume zudem mit prachtvollen Gemälden und Fresken berühmter Künstler ausschmücken.734 Im Zuge der Reformationsbewegungen gerieten vor allem die Scuole grandi zunehmend in Kritik und Alessandro Caravia (1503– 1568), obwohl selbst Mitglied einer dieser großen Bruderschaften, warf den Mitgliedern Befriedigung persönlicher Interessen vor.735 Nur sechs der etwa 200 venezianischen Scuole waren jedoch bedeutend, darunter die Scuola grande di San Marco und die Scuola grande di San Rocco. Die Bruderschaft der heiligen Rochus war 1478 vom Rat der Zehn mit Sitz in San Giuliano und nahe der Kirche der Frati Minori (Frari) anerkannt worden. Nach der verheerenden Pestwelle von 1576 wurde Rochus, dessen Körper 1485 nach Venedig gebracht worden war, zum Schutzpatron der Stadt ernannt.736 Diese Scuola ist zudem die einzige Bruderschaft, die von den napoleonischen Edikten ausgeschlossen blieb und bis heute besteht. Neben diesen beiden bedeutenden Scuole gab es noch vier weitere Scuole grandi,737 von denen die ursprünglich unbedeutende Scuola di San Teodoro in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend an Einfluss gewonnen hatte und am 25. März 1552 ebenfalls unter die Scuole grandi aufgenommen worden war.738 Die wichtigsten Organe739 der venezianischen Bruderschaften waren der Guardian grande, der für jeweils ein Jahr, immer zu Beginn des venezianischen Kalenderjahres, von seinem Vorgänger gewählt wurde. Daneben gab es den Vorsteher bei Prozessionen (vicario), den Protokollführer (guardian da matin), einen Schreiber (scrivan) und insgesamt zwölf Dekane, die entweder für ein ganzes oder nur ein halbes Jahr gewählt wurden (degani di tutt’anno bzw. degani di mezz’anno). 1521 wurde zudem noch ein Beirat erfahrener Mitglieder (zonta) eingeführt, die vorher bereits Vorstandsämter innegehabt hatten und vom Generalkapitel bestellt wurden.740 Altersbeschränkungen für die Aufnahme gab es im Grunde keine, weshalb das Durchschnittsalter für das Amt des Guardian grande im 16. Jahrhundert zwischen vierzig und siebzig Jahren schwankte. 734 Anna Bellavitis, Identit, 107; Patricia Fortini Brown, Honor and Necessity : the Dynamics of Patronage in the Confraternities of Renaissance Venice, Studi Veneziani 14, 1987, 179– 212. 735 Alessandro Caravia, Il sogno di Caravia, Venegia 1541; Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 15–16. 736 Francesca Sardi/Evelina Piera Zanon (Hrsg.), L’archivio della Scuola grande di San Rocco a Venezia, Venezia 2007. Zum Heiligen Sebastian und Rochus als Schutzpatrone gegen die Pest vgl. Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 117–118; Dies., Venezia. La salute e la fede, 83–90. 737 Etwa die Scuola grande della Misericordia, die Scuola grande di Santa Maria della Carit und die Scuola grande di San Giovanni Evangelista. 738 Gastone Vio, Le Scuole piccole nella Venezia dei Dogi, 390–391; Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 17. 739 Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 53ff. 740 Ebd., 19; 53ff.
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Während im Cinquecento die Vorstandsämter in den großen Bruderschaften äußerst begehrt waren, hatten diese Ende des 16. Jahrhunderts teilweise erhebliche Mühe, Führungspositionen zu besetzen. Die Mitglieder741 der Scuole grandi waren ausschließlich männlich und umfassten zwischen 500 und 600 nichtadelige Bürger. Ein neu gewähltes Mitglied wurde feierlich am Altar der Bruderschaft aufgenommen und musste ein Gelübde ablegen, in dem es sich verpflichtete, einen christlichen Lebenswandel zu führen und moralisch integer zu sein.742 Zudem musste man mindestens fünfzehn Jahre in Venedig leben, um auch das Bürgerrecht (cittadinanza) zu erlangen und dadurch Zugang zu bestimmten Ämtern der Bruderschaft zu erhalten.743 Für Nicht-Venezianer war eine Karriere in den Bruderschaften im Gegensatz zu Venezianern daher nicht einfach, jedoch bei Weitem kein Ausschlussgrund, insofern sie das Bürgerrecht in Form eines civis intra et extra erhalten hatten.744 1410 waren die ersten vier Ämter noch ausschließlich für cittadini originari (d. h.Venezianer, deren Großvater bereits in Venedig ansässig war) oder cittadini per privilegio reserviert,745 während es im 16. Jahrhundert für bestimmte Berufsgruppen wie beispielsweise Händler und Kunsthandwerker746 wesentlich einfacher wurde, das Bürgerrecht zu erhalten, da die Republik durch die Italienischen Kriege viele Verluste erlitten hatte.
8.7.1 Tomaso Rangone und die Scuola grande di San Marco Ende der 1550er Jahre hatte Tomaso Rangone bereits Beachtliches geleistet, sich in Venedig als Arzt etabliert, mehrere medizinische Schriften verfasst und sich als großzügiger Mäzen und Stifter betätigt. Dieser Aufstieg war jedoch nicht reibungslos vonstatten gegangen. Um seine gesellschaftliche Position zu festigen und seinen Einfluss zu mehren, betätigte sich Tomaso Rangone vor allem in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens in den mächtigen Bruderschaften der Stadt, wobei er sich auf die bedeutendste der venezianischen Scuole, die Scuola grande di San Marco,747 konzentrierte.
741 Ebd., 18–19. 742 Ebd., 30–33. 743 Karl Heller, Venedig, 399–400. Laut Tomaso Rangones Steuererklärung (1566) hatte er ab 1546 regelmäßig Steuern entrichtet. 744 Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 68; Anna Bellavitis, Identit, 32ff. 745 Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 54. 746 Anna Bellavitis, Identit, 54ff. 747 William R. Rearick, La Scuola grande di San Marco: la tradizione artistica del passato e le prospettive future, in: Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), La Scuola grande di San Marco. I saperi e l’arte, Treviso 2001, 33–55; Nelli-Elena Vanzan Marchini, Venezia. Luoghi di paure
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Abb. 22: Blick auf die Kirche SS. Giovanni e Paolo und die Scuola grande di San Marco von Antonio Visentini (1688–1782). Tomaso Rangone fungierte zweimal als Guardian grande der Scuola.
Als wohlhabendste und einflussreichste der venezianischen Bruderschaften befand sich die Scuola grande di San Marco bis zur Auflösung der Republik 1797 am Campo SS. Giovanni e Paolo. Die Confraternit war bereits 1260 gegründet worden und hatte 1473 die Räumlichkeiten nahe der Kirche und dem Konvent des Dominikanerordens bezogen. Bereits 1485 war das Gebäude mit den darin befindlichen Kunstwerken, unter anderem von Jacobo und Gentile Bellini und Andrea da Murano, durch einen Brand fast vollständig zerstört worden. Pietro Lombardo wurde daher mit der Wiederherstellung beauftragt, Mauro Codussi vollendete die vielfarbige Fassade aus Marmor sowie das Treppenhaus. Namhafte Künstler, ebenfalls alle Mitglieder der Scuola, sollten die Säle letztendlich malerisch mit dem Markuszyklus ausschmücken. Allerdings kam es infolge von Geldmangel und internen Auseinandersetzungen zu Verzögerungen und die Arbeit schritt nur langsam voran, bis die Aufträge an einen engagierten Künstler der neuen Generation vergeben wurden: den Sohn eines Färbers und Schüler Tizians namens Jacopo Robusti, genannt Tintoretto (1518–1594).748 Fünf Jahre, nachdem die Bruderschaft am 30. November 1542 die Ausschmückung der Sala e volutt, Mariano 2005, 86–88. Zu Tomaso Rangone und der Scuola grande di San Marco vgl. Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 55–61. 748 Vgl. zu den Beziehungen Tintorettos und der Scuola grande di San Marco Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, München 1991, 13ff.; Erasmus Weddigen, Tintorettos Wirken für die Scuola grande di San Marco, in: Ders. (Hrsg.), Jacomo tentor f. Myzelien zur Tintoretto-Forschung. Peripherie, Interpretation und Rekonstruktion, München 2000, 41– 54.
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grande beschlossen hatte,749 schuf Tintoretto im Auftrag der Bruderschaft eines seiner bedeutendsten Werke, das über zwanzig Quadratmeter messende750 Sklavenwunder. Das im April 1548 enthüllte farbenprächtige manieristische Gemälde, das auch Elemente von Sansovinos Bronzerelief in San Marco übernahm,751 schmückte die vertäfelte Wand zwischen den zwei auf das Campo blickenden Fenstern der Sala grande direkt oberhalb der Tribüne, auf der der Vorstand der Bruderschaft bei Versammlungen Platz nahm.752 Daher entspricht auch der durch die tiefstehende Sonne charakterisierte Lichteinfall auf dem Gemälde genau der Tageszeit, in der die Mitglieder zumeist ihre Versammlungen abhielten.753 Das politisch provokante Gemälde zeigt eine Wundertat des Heiligen Markus: Gemäß der Legenda aurea754 soll ein Sklave ohne Erlaubnis seines Herren eine Pilgerreise nach Venedig unternommen haben, um am Grab des Heiligen Markus zu beten. Nach seiner Rückkehr wollte der erzürnte Herr jedoch ein Exempel statuieren und ordnete an, dem Ungehorsamen öffentlich die Augen auszustechen, die Füße abzuhacken und den Mund zu zertrümmern. Die Werkzeuge der Folterknechte werden jedoch vor den Augen des Herren und des erstaunten Publikums stumpf, da der Heilige über den Gläubigen wacht. Tintoretto verlegt diese grausame Szene in die als Zentrum der Häresie geltende Provence, also in französisches Einflussgebiet, wo seit 1542 die Inquisition wieder etabliert worden war und der Katholizismus einen steten Aufschwung erfahren hatte. Die orientalisierende Personenstaffage bezieht sich daher auch auf die Politik des gerade verstorbenen französischen Königs FranÅois I., der sich mit den Türken verbündet hatte. Das Sklavenwunder, welches wegen seines grausamen Sujets Erstaunen, Bewunderung und Kritik zugleich hervorrief, sollte bis 1797 die Sala grande schmücken.755 Napoleon ließ das Gemälde schließlich nach Paris bringen und gab es 1815 nach der Auflösung der Bruderschaft zurück. Tomaso Rangone war wohl bereits zwischen 1532 und 1549 mit der Scuola in Berührung gekommen, da sein Name in der Mariegola der Bruderschaft genannt
749 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 19, 79. 750 Zum Bildformat siehe auch Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, 30–34. 751 Zu Vorlagen vgl. ebd., 35–43; Erasmus Weddigen, Präliminarien zum Sklavenwunder: Sansovinos zweiter Markus-Pergolo und die Loggetta, in: Ders. (Hrsg.), Jacomo tentor f., 55–78. 752 Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, 27–29; Erasmus Weddigen, Tintorettos Wirken für die Scuola grande di San Marco, 41–54, bes. 44. 753 Also zwischen 18 und 19 : 30. 754 Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, 182–185. 755 Zu den Reaktionen auf Tintorettos Gemälde, darunter den Kunst-Briefen Andrea Calmos und Pietro Aretinos, vgl. ebd., 1–7; 99; 144–148; Erasmus Weddigen, Tintorettos Wirken, 44–45.
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wird und er zeitweise als Vertrauensarzt der Scuola fungierte.756 Ein erster Hinweis auf die zunehmend wichtige Position des Arztes innerhalb der Bruderschaft stellt jedoch kein Eintrag im Notatorium, sondern ebenjenes von Tintoretto wohl 1547/1548 vollendete Sklavenwunder dar, in dem der Künstler ein Portrait Tomaso Rangones in das Gemälde integrierte.757 Die von Tintoretto dargestellte Personenstaffage758 agiert dabei in einer durch die Bildsymmetrie zweigeteilten Szene: Die linke Seite, eine »sansovineske« Landschaft, ist gekennzeichnet durch eine städtische Zierarchitektur, die an die Logetta am Markusplatz und zugleich an das Portal von SS. Giovanni e Paolo erinnert. Sie steht damit in starkem Gegensatz zur rustikal anmutenden, lediglich aus grob behauenen Quadersteinen bestehenden architektonischen Gestaltung der rechten Seite.759
Abb. 23: Jacopo Tintoretto, Sklavenwunder (ca. 1547/1548). Auf der linken Seite ist deutlich das charakteristische Profil Tomaso Rangones in schwarzer Gelehrtentunika zu erkennen. Als Außenstehender verfolgt er das Ereignis und verbindet dadurch den Innenraum der Scuola mit dem (fiktiven) Außenraum des Geschehens.
Im Hintergrund ist eine kulissenhafte Landschaftsarchitektur zu erkennen, die sich an Sebastiano Serlios (1475–1554) Regole generali (1537) anlehnen könnte.760 Umgeben von Soldaten thront auf den aufgeschichteten Steinen auf der 756 ASV, Scuola grande di San Marco, Mariegola 4, c. 140v (medexi de fixicha del colegio als Mo tomoxo daravena fixicho a S. Marco). Vgl. hierzu auch Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 55–61; Terisio Pignatti (Hrsg.), Le Scuole di Venezia, Milano 1981, 129; 135–139; 191–192. 757 Erasmus Weddigen, Das Publikum in Tintoretto’s Sklavenwunder, in: Ders. (Hrsg.), Jacomo tentor f., 79–114, bes. 88–91; Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 554. 758 Erasmus Weddigen, Das Publikum in Tintoretto’s Sklavenwunder, 81–114. 759 Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, 58–60. 760 Erasmus Weddigen, Das Publikum in Tintoretto’s Sklavenwunder, 87. Weddigen sieht in dem im Halbschatten der Markusfigur sichtbaren bärtigen Kopf, der auf den Funkenschlag
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linken Seite der provenzalische Herr und überwacht die Folterszene in der Mitte des Bildes. Letzterer trägt das Antlitz des bekannten Veroneser Baumeisters Michele Sanmicheli (1484–1559),761 der sich vor allem durch den Bau von Befestigungsanlagen für die Republik in Kreta, Heraklion, Korfu oder Dalmatien einen Namen gemacht hatte. 1547 hatte Sanmicheli soeben die Lagerhalle für das Bucintoro-Prunkschiff fertiggestellt und galt in Venedig als Vertreter des stile rustico. Dem Herrn gegenüber beugt sich aus dem klassizistischen Bau auf der linken Seite eine schwarzbärtige Gestalt herab, um das Geschehen näher beobachten zu können: der Baumeister Sansovino. In der Bildmitte streckt ein »Türke« dem Herrn die unbrauchbar gewordenen Folterwerkzeuge entgegen, der die unverkennbaren Züge des Satirikers Pietro Aretino trägt. Aretino trug nicht nur gerne orientalische Kleider, sondern hatte die Karriere Tintorettos auch maßgeblich gefördert. In Anwesenheit derart bekannter Architekten wie Sanmicheli und Sansovino sind seine Werkzeuge stumpf geworden.762 Wenden wir uns noch einmal Sansovino zu: Mit der rechten ausgestreckten Hand, die von der imposanten Frauenfigur, ein Symbol der Caritas/Pietas,763 verdeckt wird, berührt er vermutlich die Schulter eines Jünglings mit spärlichem Bartwuchs, der die Züge seines Lieblingsschülers Alessandro Vittoria trägt.764 Etwas unterhalb des Jünglings verfolgt ein gebeugter bärtiger Mann mit Halbglatze in Prunkrüstung und auffälligen roten Strümpfen aufmerksam das Geschehen. In der Hand hält er den Hammer, mit dem laut der Legende der gefolterte Sklave zum Schweigen gebracht werden sollte. Die physiognomische Ähnlichkeit mit dem 1533 zum Eques ernannten Tizian ist bestechend, den Tintoretto an dieser Stelle wohl mit sanfter Ironie in unmittelbarer Nähe zur ärmlich gekleideten Caritas/Pietas darstellte.765 Links neben dem extrovertierten Eques beugt sich ein Mann mit kurzem, leicht ergrautem Haar, einen schwarzen Filzhut in einer Geste der Reverenz an die rechte Schulter drückend, zum liegenden Sklaven herab, wohl ein Abbild des introvertierten und von Tintoretto verehrten Michelangelo.766 Die Gestalt des auf dem Boden liegenden leidenden Sklaven, so die vorsichtige These des Kunsthistorikers Erasmus Weddigen, könnte vielleicht den Künstler selbst darstellen: Jacopo Tintoretto, der zeitle-
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im Bildmittelpunkt (der Fluchtpunkt der Gesamtkomposition) blickt, eine Darstellung Serlios. Zu Sanmicheli vgl. Eric Langenskjöld, Michele Sanmicheli: The Architect of Verona: His Life and Work, Uppsala 1938; Lionello Puppi (Hrsg.), Michele Sanmicheli: architetto di Verona, Padova 1971. Erasmus Weddigen, Das Publikum in Tintoretto’s Sklavenwunder, 94–95. Gegenüber dem Bild, über dem Außenportal der Scuola, befindet sich eine Caritasstatue, vgl. Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, 65–68. Erasmus Weddigen, Das Publikum in Tintoretto’s Sklavenwunder, 85–86. Ebd., 96–98. Ebd., 99.
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bens unter seiner niederen Herkunft litt und nun, geschützt von dem über ihm schwebenden Markus,767 gleichsam unantastbar gemacht wird.768 Tintoretto stellte im Publikum des Sklavenwunders somit all jene Wohltäter dar, die ihm unmittelbar bei seinem Aufstieg behilflich gewesen waren: die Architekten Sansovino und Sanmicheli und den Dichter Pietro Aretino. Außerhalb des eigentlichen Bildraumes ist am unteren linken Bildrand, deutlich erkennbar an seinen charakteristischen Gesichtszügen, jedoch auch Tomaso Rangone in schwarzer Gelehrtentunika zu erkennen, der das Geschehen als Außenstehender zu verfolgen scheint und damit den Innenraum der Scuola mit dem (fiktiven) Außenraum des Geschehens verbindet.769 In der Komposition des Bildes hatte sich Tintoretto möglicherweise auch am Titelblatt zu Andreas Vesalius’ De humani corporis fabrica orientiert, wodurch der Arzt zum unmittelbaren Augenzeugen des Wunders wird, der dieses mit der »wissenschaftlichen Nüchternheit« eines Gelehrten prüft und zugleich als Vermittler der Heilsbotschaft innerhalb der Bruderschaft fungiert.770 Obwohl bereits das Sklavenwunder auf die wichtige Rolle Tomaso Rangones innerhalb der Scuola grande di San Marco verweist, sollte sein Name erst dreizehn Jahre später, am 28. Juli 1560, im Notatorium erscheinen.771 Bereits am 6. Oktober 1560 gehörte er zu den ehrwürdigen Mitgliedern (Zonta). Am 9. März 1562 wurde der Arzt dann siegreich zum Guardian grande gewählt,772 nachdem der vorherige Guardian Vettor Garbignan773 am 4. April offiziell zurückgetreten war.774 Nur ein knappes Jahr später, am 24. Januar 1563, sollte auch Alessandro Vittoria, der seine Berufung 1560 noch abgelehnt hatte, in die Scuola grande di San Marco eintreten und das Eintrittsgeld von drei Scudi entrichten.775 Am 14. März 1562 wurde Tomaso vom amtierenden Dogen Priuli zudem zum Eques ernannt. Tomaso hatte diesen begehrten Titel für die Einrichtung einer Stiftung zugunsten von sechs armen Mädchen erhalten, die am Tag des Heiligen Gemi767 Zur Markusfigur vgl. Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, 79–94. 768 Erasmus Weddigen, Das Publikum in Tintoretto’s Sklavenwunder, 101–103; zu einer anderen Deutung vgl. Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, 72–78. 769 Erasmus Weddigen, Das Publikum in Tintoretto’s Sklavenwunder, 88–91. 770 Zu Vesalius vgl. Roland Krischel, Jacopo Tintorettos »Sklavenwunder«, 62–63; Erasmus Weddigen, Das Publikum in Tintoretto’s Sklavenwunder, 90. 771 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 21, c. 202ff.: Ms. Thomaso (da) ravena D(ottor). 772 Ebd., c. 252: Il mag.co ms tomaxo ravena D. guardian grande. 773 Zu Vettor Garbignan vgl. Melania G. Mazzucco, Jacomo Tintoretto e i suoi figli: Storia di una famiglia veneziana, Milano 2009, ad indicem. 774 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 21, c. 252. 775 ASV, S. Zaccaria, b. 18, Commissaria Vittoria, Band 1, c. 54v : Ricordo io Alessandro Vittoria chome questo d soprascritto pagai scudj tre ala scola di Santo Marcho e’ fui notato al nome di Dio fratello suo, et il guardian grando fu il Chavalier S.or Tomaso da Ravenna – Val scudj numero 3. Vgl. hierzu auch Victoria J. Avery, Documenti, 221; Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 40; 566.
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niano eine Mitgift von zwanzig Dukaten erhalten sollten. Dieser Titel stellte die höchste Würde unter den Cavalieri di San Marco dar und war eigentlich Patriziern vorbehalten, jedoch wurden auch einige Ärzte damit bedacht.776 1545 erhielt Lodovico Buzzaccarini, ein Adeliger aus Perugia und Arzt und Rektor der Universität von Padua, den begehrten Titel,777 1600 Antonio Negri,778 acht Jahre später der Arzt und Gelehrte Girolamo Fabrizi d’Acquapendente (1537–1619) und 1622 schließlich der flämische Anatom, Chirurg und Botanist Adriaan van den Spieghel (1578–1625). Nach der Verleihung durch Senatsbeschluss musste sich der Cavaliere, angetan mit einem kostbaren Gewand aus roter Seide oder Damast und mit der charakteristischen stola d’oro über der linken Schulter, acht Tage in der Öffentlichkeit zeigen.779 Bei Alessandro Vittoria gab Tomaso Rangone zum Zeichen seines Triumphes als neuer Guardian grande eine Gedenkmedaille in Auftrag, die auf der Vorderseite ein Profil des Arztes und auf der Rückseite die Geburt der Milchstrasse zeigt. Nach der antiken Sage soll Jupiter in Gestalt eines Adlers den jungen Herakles zu Juno gebracht haben, die inmitten der Milchstrasse auf Lilien schläft.780 Hera erkannte den Sohn der Alkmene nicht und gab ihm aus Mitleid die Brust. Dabei sog Herakles jedoch so stark, dass die Göttin ihn von sich stieß und die Milch über den Himmel spritzte. Herakles wurde zwar nicht unsterblich, erhielt jedoch übernatürliche Kräfte und wurde unter die Halbgötter aufgenommen. 1575 schuf Jacopo Tintoretto mit der Geburt der Milchstrasse eine ikonographische Parallele, wobei er sich möglicherweise von dem 1538 in Venedig erschienenen byzantinischen Text Geoponica inspirieren ließ.781 Die Lilie war jedoch auch ein Bestandteil von Tomaso Rangones Hauswappen, das sich aus Elementen des Familienwappens der Gianotti und den Bändern der Familie Rangoni zusammensetzte.782 Interessanterweise gibt es noch eine zweite Medaille mit dem gleichen Motiv auf der Rückseite, die sich lediglich durch die Beschriftung der Vorderseite unterscheidet und sowohl auf die Berufung als Guardian grande als auch die Ernennung zum Eques aureatus durch den Dogen Priuli am 14. März 1562 Bezug nimmt. Vermutlich wurde diese zweite Medaille,
776 Piero Pazzi, I cavalieri di San Marco. Storia documentata dei Cavalieri di San Marco. Unico ordine equestre della Repubblica di Venezia, Venezia 2008, bes. 37–38. 777 Ebd., 123. 778 Ebd., 158. 779 Ebd., 22–23. 780 Manfred Leithe-Jasper, Alessandro Vittoria medaglista, in: Andrea Bacchi et al. (Hrsg.), »La bellissima maniera«, 249–271, bes. 269; Lubomir Konecn, The Origin of the Milky Way : Jacopo Tintoretto and Rudolf II, Studia Rudolphina 1, 2001, 17–26, Anm. 12. 781 Lubomir Konecn, The Origin of the Milky Way, 17–26. 782 Erna Mandowsky, The Origin of the Milky Way in the National Gallery, The Burlington Magazine 72, 1938, 88–93; Lubomir Konecn, The Origin of the Milky Way, 17–26.
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welche diesmal von Matteo Pagano gefertigt worden war,783 unmittelbar nach der unvorhergesehenen Ehrung durch den Dogen in Auftrag gegeben. Noch im Mai des gleichen Jahres verhandelte Tomaso Rangone mit der Scuola über drei Gemälde des »Markuswunder«-Zyklus, die er für die Südwand der Sala Grande der Scuola stiften wollte.784 Am 21. Juni 1563 versprach er der Scuola verbindlich die drei Markuswunder sowie die Ausschmückung der Nordwand der Sala zwischen den Fenstern mit Darstellungen der sieben Tugenden und sieben Laster.785 Eines der Gemälde sollte jedoch der Maler Andrea Schiavone (1510–1563) anfertigen, der jedoch bereits am 1. Dezember 1563 verstarb, weshalb Tintoretto schließlich mit der Anfertigung des gesamten Zyklus betraut wurde.786 Der Gemäldezyklus, der ab 1566 in der Scuola hängen sollte, besteht aus drei großformatigen Gemälden, die thematisch den Wunderheilungen Marci in Alexandrien, der Rettung des Leichnams Marci vor der Verbrennung und der Rettung des Sarazenen gewidmet sind. Die Wahl der Szenen beruhte auf der Legendensammlung des Pietro Cal, einer Parallelredaktion zur Legenda aurea des Jacobus da Voragine (1230–1298). Das Mutterkloster des Autors war jenes Dominikanerkonvent, auf dessen Grund sich nun die Scuola grande di San Marco befindet. Als amtierender Guardian pflegte Tomaso Rangone enge Kontakte zu den Dominikanern und war zeitweise auch Prokurator des Klosters.787 Das erste Bild des Zyklus, die Wunderheilungen Marci in Alexandrien,788 zeigt eine Gewölbekonstruktion, die mit den an der rechten Wandfläche eingelassenen Sargkästen an eine Krypta erinnert. Mehrere Figuren sind damit beschäftigt, Leichname aus den Begräbnisstätten zu heben: Nahe der Abschlusswand beugen sich drei Männer über eine geöffnete Bodenplatte, die im Licht einer Fackel erstrahlt. Aus einem Sargkasten auf der rechten Seite wird ein Leichnam herabgelassen. Am äußersten linken Bildrand ist der Heilige überlebensgroß in einem roten Gewand und blauem Mantel dargestellt, ihm zu Füßen befindet sich ein Leichnam auf einem reich ornamentierten Orientteppich. Die Betonung des Erweckungsmotivs und die Gräberanlage soll vermutlich auf die Funktion der 783 Manfred Leithe-Jasper, Alessandro Vittoria medaglista, 271. 784 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 1, 2. 785 Ebd., c. 4; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 55–56; Ders., Tintorettos Wirken, 45ff.; Ders., Das Brüsseler Modello, 115–174; Roland Krischel, Jacobo Tintoretto: Das Sklavenwunder. Bildwelt und Weltbild, Frankfurt a. M. 1994. 786 Allerdings sind einige Entwürfe Schiavones noch erhalten, vgl. Enrico Maria dal Pozzolo/ Lionello Puppi (Hrsg.), Splendori del Rinascimento veneziano. Andrea Schiavone tra Tiziano, Tintoretto e Parmigiano, Milano 2015, 49. 787 Erasmus Weddigen, Das Brüsseler Modello, 147. 788 Das heute in der Brera (Mailand) ausgestellte Gemälde ist das einzige des Zyklus, das unbeschnitten geblieben ist und daher die originalen Maße enthält. Zur Deutung vgl. Erasmus Weddigen, Das Brüsseler Modello, 122–134.
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Bruderschaft verweisen, zu deren Aufgaben es gehörte, den Sterbenden und deren Hinterbliebenden beizustehen.789
Abb. 24: Die Wunderheilungen Marci in Alexandrien von Jacopo Tintoretto (1562). In der Mitte ist knieend der Stifter des Bildes und Guardian grande der Scuola grande di San Marco, Tomaso Rangone, zu erkennen.
Die Rettung des Leichnams Marci vor der Verbrennung790 ist, obwohl in Alexandria spielend, auf einem Platz lokalisiert, dessen architektonische Gestaltung mit einem Kirchturm im Campanile-Stil an traditionelle venezianische Plätze erinnert. Links ist eine Säulenarkade zu sehen, rechts die Blendfassade eines weiteren Gebäudes. Die Menschen versuchen sich vor den Hagelschauern des Gewitters in Sicherheit zu bringen, während die Christen den Leichnam des 789 Ebd., 132. 790 Ebd., 135–143.
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Heiligen abtransportieren und der Stifter des Bildes den Kopf des Heiligen stützt. Die Rettung des Sarazenen,791 das letzte Bild des Zyklus’, geht auf die Legende zurück, ein sarazenischer Handelssegler mit Kurs auf Alexandria sei im Sturm gekentert und lediglich einer Gruppe venezianischer Kaufleute sei es gelungen, ein Beiboot zu besteigen. Ein sarazenischer Matrose, der sich in einen Mastkorb hatte retten können, soll in seiner Not den Heiligen Markus angefleht haben, worauf ein Wunder geschah: Der Heilige schwebte durch den Strom herbei und setzte den Matrosen in das Boot der Christen, wobei er bei der Rettung wiederum durch den Stifter unterstützt wird.
Abb. 25: Die Rettung des Leichnams Marci vor der Verbrennung und Die Rettung des Sarazenen. Tomaso Rangone übernimmt die Funktion des Heiligen Markus und hilft dem Sarazenen ins Boot der Christen. In der Rettung des Leichnams Marci stützt er dem Heiligen den Kopf.
In den drei Markuswundern792 ließ sich der amtierende Guardian und Stifter folglich stets zentral in der Mitte des Bildes darstellen. In der Wunderheilung Marci wurde Tomaso Rangone von Tinoretto knieend nahe des liegenden Leichnams in der kostbaren Kleidung des Guardian in Prachtgewand und mit der charakteristischen, über der linken Schulter hängenden Schärpe des Cavaliere della stola d’oro dargestellt, das Haupt leicht geneigt und die Hände in Verzückung über das Geschehen ausgebreitet. Beim Transport des Leichnams in der Rettung des Leichnams Marci vor der Verbrennung gehört er zu jener Gruppe, die den Körper in Sicherheit bringen möchte. Im pelzverbrämten Prokuratorenmantel stützt der Stifter den Kopf des Heiligen, während ein jüngerer Mann die Hauptlast trägt. Im letzten Bild der Triologie, Der Rettung des Sarazenen, versteht sich Tomaso Rangone sogar als Nachfolger des Heiligen
791 Ebd., 144–152. 792 Zwei Bilder der Trilogie sind seitlich beschnitten und waren ursprünglich alle quadratisch.
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Markus, der im Gewand des Menschenfängers den sarazenischen Matrosen vor dem Ertrinken schützt.793 Bereits am 25. Oktober 1562 unterstützte Tomaso die Bruderschaft erneut mit einer großzügigen Spende von 200 Dukaten und versprach, Schulden zu tilgen und Armengelder und Kredite im Wert von 700 Dukaten zu vergeben. Auch zwei Studienplätze am Kollegium in Padua sollten für die Söhne der Mitbrüder reserviert werden.794 Als Gegenleistung forderte der Gelehrte jedoch die Aufstellung einer Statue aus Bronze oder Stein, die in einer Nische unterhalb des Markuslöwen an der Fassade der Scuola angebracht werden sollte.795 Dieses Bildnis sollte den Stifter im Prokuratorenmantel zeigen, wobei eine lateinische Inschrift ihn als Eques und Guardian grande benannte. Dies war eine sehr ungewöhnliche Forderung, da die bereits hundert Jahre ältere Darstellung eines Guardian grande an der Fassade von der Scuola anonym war und diesen knieend vor dem Markuslöwen zusammen mit seinen Brüdern zeigte.796 Sollten die Gelder entgegen seiner Forderungen verwendet werden, so räumte Tomaso Rangone ein, würde er seine Zuwendungen jedoch vollständig zurückziehen. Anfangs wurde der Vorschlag noch mit 31 zu 24 Stimmen angenommen, jedoch bereits am 28. Oktober 1562 angefochten, da nach der Scuolenordnung von 1550 keine Entscheidung rechtsgültig sei, die nicht ausgiebig von allen Ausschüssen (fra bancha e giontta) diskutiert worden war. Für diesen Stimmungswandel innerhalb der Bruderschaft waren insbesondere die drei Rechtsgelehrten Tomaso Suma, Francesco da Riva und Baldassare Fiume, der zukünftige Notar Tomaso Rangones, verantwortlich. Der amtierende Guardian war über die Zurückweisung der Bruderschaft dermaßen erbost, dass er verhindern wollte, dass diese Angelegenheit schriftlich im Notatorium niedergeschrieben wurde, wozu ihn seine damalige Position durchaus berechtigte. Vermittlungsversuche wies er umgehend zurück: So soll laut des Notatoriums ein gewisser Gasparo Messer in Begleitung des Rechtsgelehrten Francesco da Riva bei Tomaso Rangone persönlich vorgesprochen haben und umgehend voller Wut (con gran furia) hinausgeworfen worden sein.797 Schließlich erging von Seiten des Rats der Zehn eine
793 Martin Gaier, Facciate sacre, 216; Erasmus Weddigen, Das Brüsseler Modello, 146. 794 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 56. 795 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 12: […] chel mi sia conseso potter metter una mia inmagine hover stattua figura in piera dal vivo in piedi di piera hover di bronzo amio ben e plazetto fatta amie spexe e con li proprj mij danarj sotto il capo del lion in un nichio nela fazada dela nostra preditta schola dj S. Marco forj sul campo dj San Zuane polo abia a sttar p(er)pettuamente con questa Inscripzione THOMAS PHILOLOGUS RAVENAS PHYSICUS EQUES G MAG ANNO 1562. Vgl. hierzu auch Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 59; Victoria J. Avery, Documenti, 53. 796 Martin Gaier, Facciate sacre, 216. 797 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 20 (23. Januar 1563 m. V.): […] in gran colera
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Aufforderung an den amtierenden Guardian und den Schreiber Giovanni Bianco, umgehend alle Dokumente herauszugeben und die Protokolle ordnungsgemäß zu führen.798 Die Rechtsgelehrten forderten Tomaso Rangone am 28. Januar 1563 auf, sich am 31. des Monats vor dem Generalkapitel zu rechtfertigen und am 1. Februar noch einmal sein Anliegen vorzutragen. Bereits am 30. Januar verzichtete Tomaso Rangone jedoch auf alle seine Ansprüche.799 Die drei Rechtsgelehrten machten noch einmal darauf aufmerksam, dass alle Einträge in den Notatorien gemäß der Statuten der Scuola gemacht werden müssten, und gaben sich mit dem Verzicht Tomaso Rangones zufrieden, vielleicht, da sie ihn als spendablen Mäzen nicht verlieren wollten.800 Nach diesen turbulenten Ereignissen musste Tomaso Rangone bei der nächsten Guardianswahl 1564 eine Niederlage verkraften: Mit der Begründung, 1562 bereits dasselbe Amt ausgeübt zu haben und seit 1563 zudem der Guardian grande der Scuola grande di San Teodoro zu sein, wurde der Gelehrte bei der Wahl ausgeschieden, jedoch immerhin unter die zonta, die ehrwürdigen Mitglieder, gewählt.801 Allerdings sollte es dem ehrgeizigen Arzt gelingen, noch einmal das höchste Amt in der Scuola auszufüllen: Bereits 1566 wurde er erneut Mitglied des Kapitels, 1567 Adjunkt und 1568 aus dem Kapitel zum Guardian grande gewählt.802 Zu diesem Anlass machte Tomaso Rangone der Scuola wiederum reiche Schenkungen und gab bereits am 12. November 1568 ein Gemälde bei Tintoretto in Auftrag.803 Im August wurden zudem neue Fenster für die Capella bestellt, die jedoch erst 1573 geliefert werden sollten.804 Nachdem der Gelehrte 1568 noch ein zweites Mal das höchste Amt innerhalb der Scuola innegehabt hatte, wurde er 1569 und 1570 Mitglied der zonta und 1571 bereits unter die zonta vechi gezählt. Vermutlich spekulierte der mittlerweile fast Achtzigjährige darauf, noch ein drittes Mal das höchste Amt zu bekleiden, als er am 1. April 1571 der Bruderschaft großzügige Geschenke machte, darunter Lottoscheine, Medaillen, die
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voleva ietarmi (?) non so che in la testa et non volse mai che parlase de […] mi vittuperocha horlava cazandomi fora di casa con gran furia. Ebd., c. 26; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 59ff. ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 20; c. 26; c. 27. Ebd., c. 26/27; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 59ff. ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 49/53; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 59ff. ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 119f.; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 59ff. ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 137; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 57. Bei diesem Bild könnte es sich, so der Kunsthistoriker Erasmus Weddigen, um ein Gemälde für die unvollendet gebliebene Capella gehandelt haben, das Tomaso Rangone wohl aus eigenen Mittel bezahlen wollte. ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 137 (13. August 1568); Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 57.
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Statuten des Kollegiums in Padua und einige seiner Schriften. Als Gegenleistung erwartete er öffentliche Dankesbezeugungen im Rahmen der Festprozessionen der Scuola.805 Kurz darauf ließ er der Bruderschaft auch noch die Insignien seiner Guardianswürde (cappa e fornimenti) zukommen, die an Feiertagen der Scuola im Prozessionszug mitgetragen werden sollten, wobei ein mit der charakteristischen Kopfbedeckung bekleideter Träger laut ausrufen sollte: Viva il clarissimo Ravenna K(avalie)r. Prae(curatore?) di povereti!806 Am 10. August 1573 kam es jedoch zum Eklat: Die Bruderschaft beschloss die Zurückweisung aller von Tomaso Rangone gestifteten Gemälde,807 auf denen der spendable Stifter zu sehen war. Daraufhin protestierte dieser empört und schickte die Bilder umgehend zurück, wobei er sich darauf berief, dass es widerrechtlich sei, etwas aus der Scuola zu entfernen. Am 10. September beauftragte die Scuola Tintoretto, er solle die Werke »vollenden«, wobei die Portraits des ehemaligen Guardian übermalt werden sollten.808 Möglicherweise legte Tomaso Rangone dagegen wiederum Einspruch ein und Tintoretto »korrigierte« die Bilder nur mit wenigen Pinselstrichen.809 Während das Wirken Tomaso Rangones in der Bruderschaft von San Marco ausführlich durch die Notatorien dokumentiert ist, gibt es aufgrund der rudimentären Quellenlage nur wenige Informationen über sein Engagement in den anderen venezianischen Scuole. Möglicherweise konzentrierte sich Tomaso Rangone auch bevorzugt auf die berühmteste und einflussreichste der venezianischen Einrichtungen und engagierte sich in anderen Wohltätigkeitseinrichtungen auch nicht über ein besonderes Maß hinaus. So hatten auch die Mitglieder der ursprünglich eher unbedeutenden Bruderschaft von San Teodoro, die insbesondere im 16. Jahrhundert an Einfluss gewonnen hatte, Tomaso Rangone am 7. März 1563 zum Guardian grande gewählt,810 weshalb er ab 1563 auch die jährlich zu entrichtende Beitrittssteuer von 140 Lire(?), die sogenannten Luminarien (luminaria), entrichtete.811 Auf diese Guardianswahl bezieht sich auch der bereits erwähnte Eintrag im Notatorium der Scuola grande di San Marco von 1564, die eine Wiederwahl Tomaso Rangones zum Guardian mit
805 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 167/168; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 57. 806 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 167/168 (12. April 1571); Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 57. 807 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 204 (10. August 1573); Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 57. 808 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 206. 809 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 57. 810 ASV, Scuola di San Teodoro, reg. 1, Lett. T: Ecce.te M. Tomaso da Ravenna fisicho cavaliere mit dem Vermerk fu di dodici il 7. martirii. 811 Ebd.
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der Begründung abgelehnt hatte, er sei bereits Vorsitzender der Scuola grande di San Teodoro.812 Neben den sechs großen Bruderschaften gab es auch eine Anzahl kleinerer Einrichtungen, die Tomaso Rangone ebenfalls zu ihrem Mitglied zählen konnten und sich dadurch wohl großzügige Schenkungen erhofften. So geht aus einem Eintrag in der Mariegola der Scuola della passione dei Frari hervor, dass der gelehrte Arzt dort zeitweise ebenfalls das Guardiansamt innehatte.813 Die Scuola Santa Maria dei Mercanti gehörte ebenfalls zu diesen Scuole piccole und war 1564 mit der Scuola di San Cristofero zusammengeführt worden. Am 18. März 1571 wurde Tomaso Rangone von dieser Bruderschaft zum Governator gewählt, was dem Amt des Guardian grande entsprach,814 und 1573 zum Mitglied der Zonta.815 Schließlich schloss sich auch noch die kleine, 1475 gegründete Scuola del Rosario bei SS. Giovanni e Paolo an.816 Dadurch verfügte er über ein umfassendes Netzwerk, das es ihm ermöglichte, seine gesellschaftliche Position im Gefüge der Stadt zu festigen. Tomaso Rangone blieb wohl der einzige Arzt in Venedig, der sich in so umfassender Weise in den venezianischen Scuole betätigte. Sein Kollege Niccol Mass war zwar ebenfalls Mitglied der Scuola grande di San Marco, hatte jedoch nie eine vergleichbar hohe Position inne.817
812 ASV, Scuola grande di San Marco, reg. 22, c. 52; c. 49/53. Der Name des Gelehrten erscheint jedoch nicht in den Protokollen der Scuola grande di San Teodoro von Versammlungen im betreffenden Zeitraum (1563/1564). Erstmals wird Tomaso Rangone am 12. März 1564 (m. V.) im Protokollbuch unter den eletti et guardiani grandi adi 13 marzo genannt, vgl. ASV, Scuola grande di San Teodoro, reg. 10, c. 44: Thomaso da Ravenna und Thomaso filologo da Ravenna D. et E(ques?). Letztendlich sollte er der Scuola aber bis zu seinem Tod angehören, vgl. ASV, Scuola grande di San Teodoro, reg. 1, Lett. T. 813 Es handelt es sich um die am 5. April 1537 gegründete Scuola della passione in der Parrocchia von San Tom, vgl. Gastone Vio, Le scuole piccole, 643–646. 814 BCV, Mariegola 122, c. 3r ; ASV, Scuole piccole, b. 435: Illus. Tomaso Ravenna d. k. 815 ASV, Scuole piccole, b. 435: Tomaso Ravenna D. K. 816 In seinem Testament erwähnt Tomaso Rangone noch weitere Einrichtungen, in denen er zumindest Mitglied (inscriptus) war, vgl. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 5: Scolae item Passionis cui prefui, Rosarij, S. Josippi, ac monialium spiritus, S.ti Scolae Saxia extra aquam cithellarum Judecae, Convertitarum Scolae, S. Antonii nautarum marinariorum vulgo mercatorum quos rexi S.ae Trinitatis, S.ae Agnetis […]. Diese Scuole piccole wurden laut des Testaments auch in die Begräbniszeremonie und den Trauerzug eingebunden, vgl. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 7r. Zu einer Übersicht der Scuole piccole vgl. Gastone Vio, Le scuole piccole, 738–739; Michel Hochmann, Peintres e commanditaires, 326–334. 817 Mass war zudem Mitglied der kleineren Scuola von San Giorgio und (wie auch Tomaso Rangone) in der Bruderschaft Sant’Antonio dei Marinari, vgl. IRE, Commissaria Massa, b. 3; Richard Palmer, Nicol Mass, 398.
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8.7.2 Das Collegium medicum Das venezianische Collegium medicum (»Studio«) ist seit 1316 urkundlich nachweisbar.818 Ab dem 11. November 1384 mussten alle Ärzte, die in der Lagunenstadt tätig sein wollten, vom Collegium zumindest examiniert werden.819 Im Januar des Jahres 1470 erhielt das Collegium entsprechend dem Vorbild Paduas oder Bolognas durch eine Bulle Papst Pauls II. (1470–1471) auch alle weiteren Fakultäten und entwickelte sich vor allem im medizinischen Bereich zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz zur paduanischen Universität.820 Etwa 600 Studenten studierten im 16. Jahrhundert am Studio, darunter so berühmte Ärzte wie Girolamo Cardano, Giovanni Battista del Monte oder Girolamo Mercuriale.821 Ein Studium in Venedig galt als anspruchsvoll, zeichnete sich durch einen hohen Praxisbezug aus und war daher bei Studenten äußerst beliebt. Außerdem unterrichteten dort bekannte Ärzte wie Vettor Trincavella oder Niccol Mass, die von den Studenten häufig als promotores ausgewählt wurden.822 Alle Mitglieder des Collegiums waren praktizierende Ärzte, die zwar eine Eintrittsgebühr und regelmäßige Beiträge823 entrichten mussten, die jedoch auch an der Ausschüttung der Einnahmen für Lizenzen oder Examina beteiligt wurden. Oberster des Collegiums war der Prior, der jährlich im September für ein Jahr gewählt wurde.824 Diesem standen zwei Ratgeber zur Seite, die nach sechs Monaten wechselten. In deren Verantwortungsbereich fiel die Zusammenarbeit mit dem Collegium der Chirurgen, das Ausrichten von Konferenzen oder die Vertretung des Collegiums vor Gericht. Schließlich gab es einen inneren 818 ASV, Maggior Consilio, civicus, b. 47 (27. Juli 1316); Richard Palmer, The Studio of Venice, 3–15, bes. 3; Ugo Stefanutti, Documentazioni cronologiche per la storia della medicina, chirurgia e farmacia in Venezia dal 1258 al 1332, Venezia 1961, 113. 819 ASV, Compilazione Leggi, serie 1, b. 277, Medici e medicina; Richard Palmer, The Studio of Venice, 4, Anm. 10. Daneben gab es noch ein Collegium chirurgicum, das die jährlich stattfindenden anatomischen Untersuchungen ausrichtete, vgl. ebd., 4. 820 Logik und Philosophie sollten jedoch weiterhin am Studio di Rialto unterrichtet wurden, vgl. Fernando Lepori, La scuola di Rialto dalla fondazione alla met del Cinquecento, in: Girolamo Arnaldi/Manlio Pastore Stocchi (Hrsg.), Storia della Cultura Veneta. Dal primo Quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1980, 539–605; Giovanni Santinello, Politica e filosofia alla scuola di Rialto: Agostino Valier (1531–1606), Venezia 1983; Richard Palmer, The Studio of Venice, 7. 821 Ebd., 1 und ad idicem. 822 Ebd., 44–51. Mass übte zudem zweimal die Funktion eines Consigliere aus. 823 Eine Übersicht liefert etwa der Arzt Benedetto Rini, der in seinem Notizbuch die zwischen 1513 und 1552 entrichteten Abgaben notiert hat, vgl. IRE, Commissaria Scipion Rini, DER E 6. 824 Zur Organisation des Collegiums, das ebenfalls durch die Statuten geregelt wurde, vgl. Richard Palmer, The Studio of Venice, 7–10. Die Statuten befinden sich in der Biblioteca Marciana, vgl. BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 2369 (=9667). Das Collegium der Apotheker hatte hingegen seine eigenen Statuten, vgl. hierzu BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 1971 [=9042].
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Kreis von 25 älteren (numerarij) und einen äußeren Kreis von jüngeren Mitgliedern (supernumerarij). Die taxatores kontrollierten die Einkünfte des Kollegiums, ein Schatzmeister (thesaurarius) führte Buch und drei Rechtsgelehrte (syndici generales) überwachten die Einhaltung der Statuten. Schließlich beschäftigte das Kollegium noch einen Notar und einen Pedell. Die gesamte Einrichtung unterstand jedoch der Kontrolle der Giustizia vecchia, den Provveditori di Comun und der Gesundheitsbehörde, weshalb diese das Collegium 1535 auch dazu verpflichten konnten, Autopsien vorzunehmen825 oder auch während der Pest zu dienen.826 Die Aufgaben des Collegiums,827 das bevorzugt in der Kirche von San Luca tagte,828 lagen neben der Examinierung der Studierenden vor allem in der Überwachung medizinischer Standards. Zudem gab es strikte Richtlinien für das Verhalten der Mitglieder, etwa nicht in den Arzneihandel involviert zu sein, oder dem Patienten zuzugestehen, eine zweite fachliche Meinung einzuholen. Zudem bezahlte das Collegium den Lohn des Arztes, der dem Generale del Mar diente und eines Armeearztes.829 Ab dem 7. April 1564 wurde auch ein Gefängnisarzt gestellt, da die Ärzte zunehmend die gesundheitsgefährdenden Umstände in den venezianischen Gefängnissen kritisiert hatten.830 Zur Lebenszeit Tomaso Rangones hatte das Collegium etwa 75 Mitglieder831 und bildete einen Anziehungspunkt vieler berühmter Ärzte, da eine Mitgliedschaft zugleich mit hohem Renomme verbunden war : Zu den herausragenden Persönlichkeiten des Collegiums gehörten daher so bekannte Ärzte wie der Anatom und Humanist Alessandro Benedetti (1450–1512), der Arzt und Gräzist Vettor Trincavella, Agostino Gadaldin, Guardian grande der Scuola grande di San
825 ASV, Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, reg. 727, c. 293r–302r ; Richard Palmer, The Studio of Venice, 13. 826 ASV, Secreta, materie miste notabili, reg. 95, c. 10v–11r; Richard Palmer, The Studio of Venice, 13. 827 Nach Auskunft der Statuten von 1506 war das Lehrangebot zu dieser Zeit jedoch lediglich auf die artes und Medizin beschränkt, vgl. Richard Palmer, The Studio of Venice, 8. 828 Erst 1672 wurde mit der Eröffnung des anatomischen Theaters von San Giacomo dell’Orio dem Collegium ein Gebäude zur dauerhaften Nutzung zur Verfügung gestellt. 829 Richard Palmer, The Studio of Venice, 12 und Anm. 42. 830 Brian Pullan, Rich and Poor in Renaissance Venice: the Social Institutions of a Catholic State, to 1620, Oxford 1971, 396–397; Ders., The Relief of Prisoners in Sixteenth Century Venice, Studi Veneziani 10, 1986, 221–229; Umberto Franzoi, The Prisons of the Doge’s Palace in Venice, Milano 1997, 64–65; Luigi Fadalti et al. (Hrsg.), Gli artigli del Leone, 104ff.; 118–119; Giovanni Scarabello, Carcerati e carceri a Venezia nell’et moderna, Roma 1979; Ders., La pena del carcere. Aspetti della condizione carceraria a Venezia nei secoli XVI– XVIII: l’assistenza e l’associazionismo, in: Gaetano Cozzi (Hrsg.), Stato, societ e giustizia nella Repubblica veneta (sec. XV–XVIII), Roma 1980–1985, 319–376. 831 Richard Palmer, The Studio of Venice, 9; zu den Mitgliederliste siehe BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 2342 (=9695).
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Marco, Apollonio Mass,832 der Syphilologe Alvise Luisini und viele weitere renommierte Professoren aus Padua.833 Vor allem zwischen 1566 und 1569 entwickelten sich zunehmend Rivalitäten zwischen dem venezianischen und dem paduanischen Collegium medicum.834 Im Juni 1566 machte der Rektor der paduanischen Universität, der Arzt Alberto Cimerlino, daher den Vorschlag, sich von dem paduanischen Collegium zu trennen und sich stattdessen der venezianischen Einrichtung anzuschließen.835 Zwischen Juli und November kam es zu Verhandlungen zwischen Cimerlino und der venezianischen Regierung und im März des Jahres 1568 reichte Cimerlino eine Petition beim amtierenden Dogen und der Signoria ein. Darin forderte er einen Zusammenschluss des venezianischen Collegium medicum und der Universität von Padua, ohne die Riformatori dello Studio jedoch davon überzeugen zu können.836 Im Juli 1568 reiste Camerlino mit einer großen Zahl von Studenten noch einmal nach Venedig, um sein Anliegen vorzutragen, worauf der Doge am 1. September die Entscheidung der Riformatori für nichtig erklärte und eine Revision anordnete.837 Letztendlich kam es zwar nicht zu einer Zusammenführung des Collegiums mit der Universität von Padua, jedoch wurden diverse Änderungen innerhalb der Statuten vorgenommen, die etwa die Auswahl der Promotores oder die Entrichtung der Prüfungsgebühren betrafen und eine Anbindung der beiden Institutionen favorisierten.838 Das Wirken Tomaso Rangones innerhalb des Collegiums lässt sich heute jedoch nur noch fragmentarisch rekonstruieren, da das Archiv am 9. Januar 1799 fast vollständig vom Feuer zerstört worden war.839 Jedoch lässt sich sein Wirken aus den 1747 entstandenen Notizen von Giuseppe Bolis zumindest skizzieren: Am 21. Juni 1564 wurde der Arzt feierlich als Mitglied aufgenommen und überreichte dem Collegium zu diesem Anlass eine silberne Medaille mit seinem Bildnis (una medaglia d’argento con la sua effigie) sowie seine makrobiotische Schrift (un libro da lui composto de proroganda vita usque ad 120).840 Vor dem Hintergrund der letztendlich gescheiterten Annäherungsversuche des Collegiums und der Universität von Padua lässt sich möglicherweise ein Vor832 Apollonio Mass, der Neffe von Nicol Mass fungierte 1549 und 1551 als Prior des Collegiums. 833 Richard Palmer, The Studio of Venice, 9; 19–20. 834 Ebd., 21–31. 835 Ebd., 23–24. 836 Ebd., 26. 837 Ebd., 28. 838 Ebd., 30–31. 839 Ebd., 3; 51–56. 840 BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 2342 (=9695), c. 81: 1564: Tomaso Filologo Ravenna K.; ebd., c. 12v : 20. Juni: ingresso di Tomaso Filologo da Ravenna […]; ebd., c. 97v : 1964: Laurea Tomaso Ravenna.
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schlag Tomaso Rangones interpretieren, der am 3. April 1569 vor dem Collegium diskutiert und schließlich abgelehnt worden war. Demnach hatte der Gelehrte die Summe von 200 Dukaten gefordert, um ein Kollegium für Studenten in der Nähe der Kirche von San Giuliano zu gründen,841 vermutlich, um den Standort Venedig als medizinische Ausbildungsstätte zu stärken. Noch im gleichen Monat (13. April) wurde Tomaso Rangone vom Dogen Hieronymus Priuli (1559–1567) zum cavaliere di San Gregorio ernannt842 und bereits im Herbst zum Prior des Collegiums gewählt.843 Gemäß der Notizen Gasparo Negris soll er eigenhändig (descrisse del suo pugno) im Notatorium die bei seiner Aufnahme gehaltene Rede sowie das ihm zu Ehren von Agostino Crema verfasste Epigramm niedergeschrieben haben.844 Negri berichtet zudem, Tomaso Rangone habe als Mitglied des Collegiums einflussreiche Funktionen innegehabt und zwei Hospitäler geleitet.845
8.7.3 Unternehmer auf der Terraferma Nach der Niederlage bei der Schlacht von Agnadello (1509) und infolge der zunehmenden Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich war in Venedig ein starkes Interesse an Land- und Immobilienerwerb auf der Terraferma erwacht, um den Nachschub an Korn für die stets wachsende Bevölkerung zu gewährleisten und Hungersnöte zu vermeiden.846 Viele Agrarunternehmer lie841 Ebd., c. 14v : […] che il Collegio li dia D. 200 e lui fabricchi un collegio vicin alla chiesa di S. Giulian. Ma non f fatto […] poi venne la peste e pochi anni doppo cassata la peste mor il Ravenne cio l’anno 1577. 842 BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 1847 (=9617), c. 284–285: Aus den Notizie intorno Tommaso Rangoni da Ravenna Filologo del secolo XVI dall’originale in cartapesta che esiste nel Archivio della sua comissaria a San Geminiano, verfasst vom Bibliothekar Jacobo Morelli, geht hervor, dass Tomaso Rangone die Amtswürde am 13. April 1569 erhielt. 843 BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 2342 (=9695), c. 81. 844 BCV, Ms. Cic. 1629; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 20. 845 Ebd., 20. Zu einer Übersicht und Geschichte der venezianischen Hospitäler vgl. Nelli-Elena Vanzan Marchini, Venezia. La salute e la fede, 122ff. Die Aufsicht über die Hospitäler oblag den Provveditori sopra ospedali e luoghi pii (ASV, Provveditori sopra ospedali e luoghi pii, b. 1 und b. 2). 846 L’ombra di Agnadello: Venezia e la terraferma, Ateneo Veneto 197, 2010 (1509–2009); Giuseppe del Torre, Venezia e la terraferma dopo la guerra di Cambrai. Fiscalit e amministrazione (1515–1530), Milano 1986; John Easton Law, The Venetian Mainland State in the Fifteenth Century, in: Ders. (Hrsg.), Venice and the Veneto in the Early Renaissance, Hampshire 1992, Band 1, 153–174; Christian Mathieu/Margrit Grabas (Hrsg.), Zur Dekonstruktion eines »Ökomythos«. Venedigs Gewässerpolitik in der Frühen Neuzeit und die Produktion eines Strukurproblems des venezianischen Herrschafts- und Wirtschaftsraumes, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 24, 2007, 27–46; Sergio Escobar, Il controllo delle acque, 123.
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ßen sich prachtvolle Landsitze oder Villen nach antiken Vorbildern errichten, um die Betriebe zu kontrollieren und damit wirtschaftlichen Erfolg mit humanistischen Idealen zu verbinden.847 Während sich die meisten Unternehmer ausschließlich auf eine vita rustica konzentrierten, sprach sich Cristofero Sabbadino (1489–1560) jedoch für eine Verbesserung der Versorgungsmöglichkeiten innerhalb der Serenissima aus.848 Neben zahlreichen Kauf- und Mietverträgen sind zwei Vermögensaufstellungen Tomaso Rangones erhalten, die einen Einblick in seinen Land- und Immobilienbesitz von 1546 bis 1577 erlauben. Abgesehen von der ausführlichen Auflistung der Vermögenswerte im Testament gibt es eine 1566 zu Steuerzwecken angefertigte Aufstellung sämtlichen Land- und Immobilienbesitzes in Venedig und auf der Terraferma.849 Im 16. Jahrhundert wurden in Venedig viermal solche umfassenden Besitzkataster erstellt (1514, 1537, 1566 und 1581). Insgesamt belief sich die Steuerbelastung für das 16. Jahrhundert auf ca. 14– 16 %, was für damalige Verhältnisse als außergewöhnlich hoch gelten darf.850 Der venezianische Staat bezog Steuern aus verschiedenen Quellen, darunter in Form einer Einkommenssteuer, der sogenannten decime, die auf Einkünften beruhte und auch in Naturalien entrichtet werden konnte (decima verde).851 1499 war noch eine weitere Einkommenssteuer eingeführt worden (tansa), die ab 1548 ebenfalls regelmäßig gezahlt werden musste.852 Die seit 1501 zu entrichtende Grundsteuer (campaticum) bezog sich vor allem auf Besitz auf der Terraferma, wobei im Bereich von Padua zwei Soldi pro Feld sowie ein boccatico fällig wurden. Da sich diese drei Steuern jedoch überschnitten, wurde im 17. Jahrhundert beschlossen, dass nur eine, nämlich die höchste der drei, zu zahlen sei. Zu diesen regelmäßig abzuführenden Steuern kamen noch weitere kleinere hinzu, darunter etwa der Zoll (datiae), Verbrauchsabgaben auf Wein, Obst, Öl und Käse, eine Grunderwerbssteuer, eine Erbschaftssteuer sowie eine Weinabgabe.
847 Klaus Bergdolt, La vita sobria, bes. 28. 848 Sergio Escobar, Il controllo delle acque, 128–153; Vincenzo Fontana, Modelli per la laguna di Venezia nel Cinquecento: Alvise Cornaro e Girolamo Fracastoro, in: Renzo Zorzi (Hrsg.), Il Paesaggio: Dalla percezione alla descrizione, Venezia 1999, 179–192. 849 ASV, Dieci Savi sopra le Decime in Rialto, Condizione di Decima, 1566, San Marco, b. 336, c. 241: Thomaso Ravenna dottor [sc.. ] Die Lune 27. Maij 1566. Tomaso Rangone vermerkt an dieser Stelle, er habe ab 1546 Steuern bezahlt: ð in tutto, come soprascritto, circa campi 72, de li quali ho sempre pagato de dajje (d. h.dazie) ogn’anno dal 1546 3 settembrio insin al p(resente), lire 18 piccoli 2 rettenute dalli exattori della comunita di Mestre. De lire 26 de pizoli comprai da q. magnifico Santo Barbarigo. Et il resto non riscuodo. 850 Karl Heller, Venedig, 419. 851 Ebd., 416–417; Anna Bellavitis, Identit, 47ff. 852 Ebd., 47ff.
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Laut der Steuererklärung besaß Tomaso neben diversen Häusern bei Rialto853 mehrere Immobilien in Padua: Dabei handelte es sich neben dem Palazzo Ravenna, der 1566 noch nicht gänzlich wiederhergestellt worden war,854 um vier weitere, wohl an das Kollegium angrenzende, kleinere Häuser (casete quatro ruinate).855 Diese waren teilweise vermietet,856 darunter an einen gewissen Battista de Cornali, den Inhaber der Apotheke All’Agnus Dei.857 Abgesehen von diesen Immobilien im Stadtteil San Leonardo hatte der Gelehrte noch ein weiteres Haus im Stadtteil San Massimo unweit des heutigen Ospedale civile erworben. Dieses war für insgesamt 55 Dukaten im Jahr vermietet, obwohl ein Teil des Hauses 1566 noch nicht bewohnbar war.858 Aus einem bereits im März 1566 für drei Jahre abgeschlossenen Mietvertrag mit einem gewissen Ludovico Priuli859 erfahren wir, dass das großzügig ausgestattete Haus, welches Tomaso Rangone 1577 ebenfalls dem Kollegium vermachen sollte,860 über einen Hof (corte), Garten (horto) und Weinberg (berolo) verfügte. Laut des Mietvertrages erklärte sich Tomaso Rangone zudem bereit, auf seine Kosten innerhalb eines Jahres diverse bauliche Veränderungen vorzunehmen.861 Außer dem bereits erwähnten Ludovico Priuli wohnte in diesem Komplex auch ein lettor in medicina namens Francesco Morzente.862
853 Bibliotheksverzeichnis (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282]), c. 4v : Catagrapha vulgo designium possessionum mearum superiorum partium tantummodo undecim licitationem emptarum in Rivoalto Venetijs […]. 854 ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 10r/v. Zum Zeitpunkt der Abfassung der Immobilienaufstellung lebten darin ein Koch mit seiner Familie und eine 99 Jahre alte Frau. Vgl. ASV, Dieci Savi sopra le Decime in Rialto, Condizione di Decima, 1566, San Marco, b. 336, c. 241: Palazzo uno ponte molin l’habitan scolari, et cuogo uno con la sua famiglia et una donna gia cuogha d’anni 99 gratis et virtutis amore. Non anchor compito di rifabricarlo. fu bruggiato. 855 ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 10v : domuncularum quatuor palatio ravenna continguarum. 856 ASV, Dieci Savi sopra le Decime in Rialto, Condizione di Decima, 1566, San Marco, b. 336, c. 241: una sola in piedi affittata a Ser Zan Maria Fanton monaro nella contrada de San Leonardo; livello lire 38 e p. de pizoli comprai l’una casa del qundam magnifico Messer Antonio Vitturi, il qual pagh alla fabrica de San Leonardo ducati 15, ogn’anno, alle monaghe de S. Mathia lire undici, alli heredi del pleban lire 12, piccoli 8. 857 ASV, Atti notarili, b. 8148, c. 421v-c.422r; ASV, Dieci Savi sopra le Decime in Rialto, Condizione di Decima, 1566, San Marco, b. 336, c. 241: […] a M(esser) Battista de Cornali de Me(sser) Zuane padovano spiciario all’Agnus Dei S. Lorenzo, paga de livello Lire 18 e 12. Se n’ fabricato al presente parte, l’altra da fabricar. 858 ASV, Dieci Savi sopra le Decime in Rialto, San Marco, Condizione di Decima, 1566, San Marco, b. 336, c. 241: Casa una San Massimo affittata ducati cinquantacinq[ue] all’anno. 859 ASV, Atti notarili, b. 8147, c. 103r/v. 860 ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 10r. 861 ASV, Atti notarili, b. 8147, c. 103r/v : sopra gli fondamenti gi fatti, una sala seu portico a detta casa, con il sottoportico da basso et soffitto di sopra corrispondente all’altezza. 862 ASV, Atti notarili, b. 8148, c. 422r. Auch hier wird die Summe von 55 Dukaten angegeben.
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Venedig: auf dem Gipfel des Ruhms
Anscheinend hatte der gelehrte Arzt bereits in den 1540er Jahren begonnen, neben Immobilien auch umfassend Land auf der Terraferma zu erwerben. Gemäß der Notariatsakten Avidio Brancos kaufte er am 3. September 1546 erstmals Nutzflächen in der Gegend von Mestre.863 Ab 1555 tätigte er Landkäufe in Zelarin864 und zwei Jahre später erwarb Tomaso Rangone auf dem Festland ein weiteres Haus mit dazugehörigem Inventar, Wald und Nutzflächen.865 Diese Ländereien wurden größenteils zu festgesetzten Konditionen verpachtet: Am 13. März 1555 wurde vor dem Notar Vettor Maffei ein Pachtvertrag über Land bei Villa Salvanesii geschlossen,866 am 8. April 1559 ein weiterer mit einem Mann namens Pietro Mella über die wirtschaftliche Nutzung von Land bei Mestre, wobei die Modalitäten ausführlich geregelt wurden.867 Am 5. März 1561 schloss Tomaso Rangone noch einen weiteren Mietvertrag mit einem Mann namens Francesco Bobo ab, der am 12. Januar 1564 erneuert wurde.868 Aus dem dreijährigen Pachtvertrag von 1561 geht genau hervor, welche Feldfrüchte anzubauen waren und wieviel Naturalien Bobo an den Besitzer abgeben musste (sechzig Staio Weizen und hundert Eier zum Osterfest).869 Ein weiterer umfassender Pachtvertrag über Land bei Mestre wurde am 29. Januar 1569 geschlossen.870 Zum Besitz des Arztes gehörte zudem ein riesiger Wirtschaftsbetrieb mit mehreren Feldern, die an unterschiedliche Pächter verpachtet waren. Rechts und links davon anschließend befanden sich zwei weitere Häuser.871 In der Vermögensaufstellung von 1566 wird genau aufgelistet, welchen Anteil der jeweilige Pächter bewirtschaftete und wie viele Abgaben er in Form von Naturalien abführen musste.872 863 864 865 866 867
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ASV, Atti notarili (Avidio Branco). Vermerk für diese busta im ASV: non si trova. ASV, Atti notarili, b. 8107, c. 186 r/v. ASV, Atti notarili, b. 8112, c. 276r/v. ASV, Atti notarili, b. 8107, c. 186r/v. ASV, Atti notarili, b. 8121, c. 467v–468r. Zu weiteren Pachtverträgen vgl. ASV, Atti notarili, b. 8121, c. 487v–488v ; 25. Januar 1558 (m. V.): ASV, Atti notarili, b. 8116 (I), c.30v ; ASV, Atti notarili, b. 3147, c. 64r/v und c. 103r/v. ASV, Atti notarili, b. 8129, c. 423. ASV, Atti notarili, b. 8129, c. 423. Am 29. Januar 1569 schloss er noch einen umfassenden Mietvertrag über Land bei Mestre (Villa Mirigoni), vgl. ASV, Atti notarili, b. 8159, c. 37r/v. Zum »Staio« vgl. Giuseppe Boerio, Dizionario del dialetto veneziano: Aggiunt. l’indice italiano veneto, Venezia 1856. ASV, Atti notarili, b. 8159, c. 37r/v. ASV, Dieci Savi sopra le Decime in Rialto, Condizione di Decima, 1566, San Marco, b. 336, c. 241: Cason uno primo a dextris circa campo 12, rason de sudetta, affittato Ventura, pagha Lire 15, de pizoli all’anno. Cason uno secondo sinistra de quarti cinque terra, rason si fa bruollo, affittato a Martin dalle Sesole. Sono tutti de rason de predetta possession. ASV, Dieci Savi sopra le Redecime in Rialto, b. 336: ð affittata alli Danosini da Maerne di Mestre, a Thomio, Pier Ant(oni)o suo fr(ate)llo, Franco, suo barba, Ant(oni)o, suo cusino, Driego, et Zuane consanguinei. Paga de fitto all’anno stara 63 di formento alla mesura di Mestre, et vino mastelli 42. Campi 6 della prefata affittati a Michiel moner. Paga stara dieci
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Insgesamt umfassten die Vermögenswerte Tomaso Rangones 1566 neben den Immobilien in Padua 72 Felder auf der Terraferma mit den dazugehörigen Immobilienwerten (Häuser, Brunnen, Bäckereien etc.). Wie fast alle Grundbesitzer besaß Tomaso Rangone zudem diverse Immobilien auf dem Festland, die er während seines Aufenthalts bewohnte. Auf dem von Francesco Bobo bewirtschafteten Grund873 befand sich etwa ein kleines Landhaus mit drei Feldern, das Tomaso für sich und seine Freunde nützen wollte (pro usu suo et amicorum) und bei Zalarin gab es zur Eigennutzung ein weiteres Landhaus mit Feldern sowie ein »neues« Haus mit Taubenhäusern (columbaria) und dazugehörigem Weinberg.874 Neben Land- und Immobilienwerten verfügte Tomaso Rangone jedoch auch über ein beachtliches Kapitalvermögen, das im Testament unter Beifügung von Jahr, Tag und Summe detailliert aufgelistet ist.875 Allein die Depositien auf der Zecca beliefen sich auf 2.500 Dukaten mit einer Verzinsung von sieben und acht Prozent. Zeitweise verlieh Tomaso Rangone auch selbst Geld,876 da laut seines Testaments die Rückzahlungen der Außenstände für seine Stiftungen verwendet werden sollen. Bei den Schuldnern handelte es sich oft877 um bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie beispielsweise die Prokuratoren Pietro Renier (885 Dukaten), Tomaso Contarini (insgesamt drei kleinere Kredite) und Pietro Vernier.878 Vielleicht bezog der Arzt auch Gelder aus diversen Handelsunternehmungen, da er zeitweise als governator dell’arte della seta fungierte.879 Tomaso Rangone war jedoch nicht der einzige Arzt in Venedig, der sein Vermögen in Landbesitz, Immobilien oder auf der Zecca anlegte. So hinterließ bereits der Arzt Giacomo Zanetini 1402 ein riesiges Vermögen, das aus ca. 400
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formento, et vino mastelli dodeci; Paga livello al reverendo Monsignor Lippomano Prior della Trinita stara 6 et una quarta di formento, et soldi 54 de pizoli de regaleghe all’anno. Campi 4 della p(re)detta possession, do’a’ parte a’ Baldin cuogo, li do’sementi a stara 2 [di] formento et quare 3, m’ha dato in mia parte stara 18, formento. Vgl. zum Pachtvertrag mit der Familie Danosini aus Maerne ASV, Atti notarili, b. 8147, c. 163r–164v. Gran saraceno bezeichnet eine besondere Sorte von Weizen, vgl. Angelico Prati, Vocabulario etimologico italiano, Torino 1951, 448; Mastello bezeichnet eine besondere Krugform und wird hier anscheinend als Maßeinheit verwendet, vgl. ebd., 635. ASV, Atti notarili, b. 8129, c. 423. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 11v. Ebd., c. 12r–14r. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 15: multorum, ac plurimorum debitorum meorum […] usque ad illustrium virorum […]. Zu weiteren Schuldnern vgl. ASV, Atti notarili, b. 8108, c. 614 r/v. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 14r–15v. ASV, Arte della Seta, Arch. Capit. B2/554: Governatori: 1571 Miser Tomaso Ravena d(ominus) K(avalie)r. Zur venezianischen Seidenindustrie vgl. ausführlich Luca Mol, The Silk Industry of Renaissance Venice, Baltimore 2000.
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Venedig: auf dem Gipfel des Ruhms
Feldern im Gebiet von Padua sowie dreißig Häusern bestand.880 Auch die Vermögensaufstellung weiterer, ebenfalls in Venedig ansässiger Ärzte des 16. Jahrhunderts wie Michel’Angelo Biondo, Andrea Baranzoni, Zambattista Peranda, Fabrizio Rin, Domenico da Castello, Prospero da Foligno, Girolamo Grataruol und Francesco Butirono oder Vettore Trincavella zeigen vergleichbare Anlagestrategien.881 Auch Niccol Mass hatte laut der 1566 verfassten Vermögensaufstellung882 ab 1536 vermehrt Land in Peragetto und in der Gegend von Mestre erworben. Im Lauf der Zeit investierte er zudem in eine Mine, eine Bäckerei und diverse Immobilien. Sein jährliches Durchschnittseinkommen belief sich 1552 auf etwa 64 Dukaten.883 1555 und 1556 war es in Venedig zu einer erneuten Epidemie mit hoher Mortalitätsrate gekommen. Mass sah die Ursache vor allem in der Luft, wobei die Epidemie durch ein Kontagion sekundär übertragen worden sei. Er riet daher, insbesondere auf die Reinigung der Straßen und die Beseitigung von üblen Gerüchen zu achten.884 Diese Epidemie mag bei Tomaso Rangone zu der Einsicht geführt haben, im für diese Zeit bereits fortgeschrittenen Alter von 65 Jahren seine Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Am 8. Januar 1558 (m. V.) erschien der Gelehrte in der am Markusplatz gelegenen Amtsstube seines Notars Vettor Maffei in Begleitungs eines Knaben namens Marius, den er als seinen Sohn (filium naturalem) bezeichnete und als Alleinerben anerkennen wollte.885 Da eine Eheschließung Tomaso Rangones nicht nachzuweisen ist, handelte es sich wohl um ein unehelich geborenes Kind, was in dieser Zeit jedoch nichts Außergewöhnliches war. Auch Niccol Mass war nie verheiratet, jedoch mit einer Dame namens Cecilia Raspante liiert, die ihm eine Tochter (geb. 1525) und einen Sohn (geb. 1529) schenkte.886 Seine Tochter Maria stattete Mass bei ihrer 880 Maria Chiara Ganguzza Billanovich, Giacomo Zanetini (1402), professore di medicina: il patrimonio, la biblioteca, Quaderni per la storia dell’universit di Padova 5, 1972, 1–44, bes. 19–22. Seine Bibliothek umfasste 76 Kodizes. 881 ASV, Dieci Savi sopra le Decime in Rialto, Condizione di Decima, 1566, San Marco, b. 368 und b. 129. Zum Vergleich mit deutschen Ärzten vgl. Tilman Walter, Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert, MedGG 27, 2008, 31–73. 882 Richard Palmer, Nicol Mass, 403–405. 883 Ebd., 405. 884 Raggionamento sopra le infermit che vengono dall’aere pestilenziale del presente anno 1555; Richard Palmer, Nicol Mass, 396–397. In seiner Schrift De essentia causis et cura pestilentiae venetijs grassantis anno 1556 vertrat Mass die Ansicht, die Epidemie von 1556 sei als getrenntes Phänomen des 1555 grassierenden Leidens zu betrachten und suchte die Ursache in aus Istrien eingeführten, infizierten Waren, wobei der Erreger ebenfalls durch ein Kontagion verbreitet worden sei (Epistolarum medicinalium tomus primus (1558), Brief 35; Richard Palmer, Nicol Mass, 397). 885 ASV, Atti notarili, b. 8116, c. 36v–37r : constituit et ordinavit procuratorem suum legitimum et commissarium dominum Marium eius filium naturalem, presentem et acceptantem specialiter et expresse. 886 Richard Palmer, Nicol Massa, 387–388.
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Heirat mit dem Arzt Griffalcone mit einer hohen Mitgift aus und machte sie zur Alleinerbin seines gesamten Besitzes.887 Lediglich ein einziges, um 1560 entstandenes Portrait ist bekannt, das wohl Tomaso Rangone gemeinsam mit seinem Sohn zeigt,888 wobei das Bildnis des Knaben in der rechten Ecke erst bei Restaurationsarbeiten zu Beginn der 1960er Jahre freigelegt worden war. Der etwa acht bis zehn Jahre alte, mit einem dunklen Wams bekleidete Junge hat den Kopf nach links gerichtet und scheint mit der linken Hand in die ferne Zukunft zu deuten, während Tomaso Rangone in der roten Tracht der Prokuratoren den Kopf sanft zu seinem Sohn neigt.
8.8
Letzte Ehrungen
8.8.1 Der Portikus von San Sepolcro Am 20. April 1570 war Tomaso Rangone von den Nonnen des im 19. Jahrhundert aufgelösten Konvents von San Sepolcro an der Riva degli Schiavoni, das der nahegelegenen Kirche San Giovanni in Bragora unterstand, zum procurator perpetuus ernannt worden.889 Nur wenige Meter von diesem Konvent entfernt hatte einst der Dichter Petrarca gewohnt, der dort auch eine öffentliche Bibliothek gründen wollte. Noch am gleichen Tag unterzeichnete Tomaso bei dem Notar Vettor Maffei eine Bewilligung, nach der sich die Nonnen von San Sepolcro auf seine Kosten ein neues Hauptportal (porta maestra) nach einem Entwurf Jacopo Sansovinos errichten lassen durften,890 welches mit Säulen, Emblemen, einer lateinischen Inschrift und einer Statue des Heiligen Thomas geschmückt werden sollte. Als Jacopo Sansovino jedoch bereits am 27. November 1570 verstarb, fiel der Auftrag umgehend an seinen Schüler Alessandro Vittoria, der am 7. November in seinem dritten Testament bestimmt, dass er in unmittelbarer Nähe des Porticus in der Konventskirche begraben werden sollte.891 887 Ebd., 388. 888 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 51–53. Das von Jacobo Tintoretto gefertigte Bildnis befand sich bis 1990 im Besitz der Sammlung Wiberg-Erben (Stockholm). Danach wurde es bei Sotheby’s von einem unbekannten Käufer erworben. 889 Diesen Titel sollte nach dem Tod Tomaso Rangones stets einer der in Padua ausgebildeten doctores des Palazzo Ravenna tragen, vgl. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 22v : […] perpetuo philologorum meorum unus est procurator sempiternus […]. 890 ASV, Atti notarili, b. 8164, c. 668v–669r; Martin Gaier, Facciate sacre, 476–477; 485–486; Manuela Morresi, Jacopo Sansovino, 336–340; 361–363. 891 ASV, Atti notarili, b. 657, c. 13; Victoria J. Avery, Documenti, 241–243: Voglio che la mia sepoltura sij fabricata nel pavimento del intrada d(e)lla porta maestra nova fata fabricar novamente p(er) el m(agnifi)co cavalier et fisico mi(sser) Thomaso ravenna al santo sepulcro monasterio di monache in contrada dj san Zuane in bragora.
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Venedig: auf dem Gipfel des Ruhms
Auf den Zwickeln des Torbogens sind noch heute die Embleme Tomaso Rangones zu erkennen. Die marmorne Inschrift, die sich heute im Seminario patriarcale befindet,892 sollte die Verbindung des Konvents mit dem Stifter unterstreichen und nahm neben seinen christlichen Tugenden (pietas und virtus) auch auf die jüngste Ernennung Tomaso Rangones zum Comes palatinus (COMES MA BI.PALATI) durch Kaiser Maximilian II. im Jahre 1572 auf Empfehlung der Signoria Bezug,893 eine Ehre, mit der bereits Tizian 1533 von Kaiser Karl V. bedacht worden war.894 Nur wenige venezianische Ärzte erhielten diese besondere Auszeichnung, daunter zu Beginn des 17. Jahrhunderts der aus Rovigo stammende Arzt Giovanni Tommaso Minadoi (1548–1615), medico di condotta in Udine und Professor in Padua.895 Der Titel des Comes Palatinus ging ursprünglich auf das lombardische Königreich zurück (575–774) und wurde vom König an Vertraute verliehen, um in Abwesenheit des Herrschers agieren zu können.896 Die Verleihung dieses in männlicher Linie vererbbaren Titels war stets mit einem hohen Geldbetrag verbunden und Tomaso Rangone hatte nun sogar das Recht, die Doktorwürde zu verleihen,897 Notare zu ernennen oder Bastarde zu legitimieren. Über dem Hauptgesims sollte ursprünglich eine Tomaso Rangone stark ähnelnde Thomasstatue angebracht werden.898 Dabei
892 TOMAS PHILOLOGUS RAVENNAS / RANGONUS PHYSICUS EQ. COMES MA/BI PALATI. RAV.PAD.MENTE SEMPER TOTA/AC ANIMO IN DEUM. ET QUAE DEI SUNT/VIRTUTEM.ET PIETATEM PERPETUO/INTENTUS.DIVO THOMA CHRISTIANAE/FIDEI.APPROBO. HISQ.OMNIBUS./SANCTUM SEPULCHRUM SACRUM/CAELI PALATIUM ILLUSTRAVIT. Vgl. zur Inschrift Giannantonio. Moschini, La chiesa e il Seminario di Santa Maria della Salute in Venezia, Venezia 1842, 80; Giuseppe Tassini, Iscrizioni dell’ex chiesa e monastero del S. Sepolcro in Venezia, Archivio veneto 17, 1879, 277–279; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 69; Lorenzo Finocchi Ghersi, Alessandro Vittoria:architettura, scultura e decorazione nella Venezia del tardo Rinascimento, Udine 1998, 48; 182; Manuela Morresi, Jacobo Sansovino, 336–340; 360–363; Martin Gaier, Facciate sacre, 485; Allison Sherman, Soli Deo honor et Gloria?, 22–23. 893 Die Urkunde befindet sich in der Biblioteca Marciana, vgl. BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 282 (=4298). 894 Den Titel eines Comes palatinus erhielten auch Andreas Vesalius und Agostino Nifo. 895 Lucia Samaden, Giovanni Tommaso Minadoi (1548–1615): Da medico della »nazione« veneziana in Siria a professore universitario a Padova, Quaderni per la storia dell’Universit di Padova 31, 1998, 91–165, bes. 139. 896 Julius von Ficker, Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens, 2Aalen 1961, Band 1, 312–323 und Band 2, 66–118. 897 Paul F. Grendler, The Universities of the Italian Renaissance, 183–186. 898 Tomaso Rangone war sich der Ähnlichkeit durchaus bewusst, als er das Bildnis im Testament erwähnte, vgl. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 20: […] cum porticu ac facie D. Marci platea, meoque Thomae marmoreo S(anc)ti Sepulcri simulacro. Auch Antonio Milledonne, der Sekretär des Consiglio dei Dieci, hatte bei Tintoretto für seine Grabkapelle in der Kirche von San Trovaso eine Versuchung des Heiligen Antonius bestellt, wobei der Heilige die Gesichtszüge des Stifters trägt, vgl. Michel Hochmann, Peintres et commanditaires, 313.
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handelte es sich wohl um die bereits am 24. Oktober 1566 von Alessandro Vittoria in seinem zweiten Testament erwähnte Statue,899 die dieser Tomaso zum Geschenk machen wollte.900 Das an einen Philosophen erinnernde, lebensgroße Bildnis ist eine schlichte Werkstattarbeit, die in ihrer Ausführung als spiegelbildliche Darstellung des Heiligen Markus in der Kirche von San Sebastiano (Capella Grimani) interpretiert werden kann.901
Abb. 26: Statue des Heiligen Thomas, die Alessandro Vittoria in seinem Testament (1566) Tomaso Rangone vermacht hatte.
8.8.2 Eine Büste für San Geminiano Zu Beginn der 1550er Jahre hatte sich Tomaso Rangone schon einmal darum bemüht, sich an seiner Pfarrkirche San Geminiano als Stifter zu betätigen. Nachdem er zum procurator perpetuus von San Geminiano ernannt worden war und vom Dogen Alvise Mocenigo am 1. April 1571 zudem die Ehrentitel conservator della religione und esaltator della virt erhalten hatte,902 wurde Tomaso am 15. September gewährt, auf eigene Kosten einen Portikus nahe der Sakristei 899 Victoria J. Avery, Documenti, 63–64, Nr. 60; Thomas Martin, Vittoria e il busto ritratto, in: Andrea Bacchi et al. (Hrsg.), »La bellissima maniera«, 322–323. 900 Victoria J. Avery, Documenti, 64: una statua de san Thomaso di pietra viva da Rovigno, fata per me: per molte cortesie haute da sua magnifientia. 901 Thomas Martin, Vittoria e il busto ritratto, 322–323. 902 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 68.
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der Kirche zu errichten. Dieser sollte von einer Bronzebüste mit Inschrift geziert werden, die wie das Portal von San Sepolcro einem Entwurf Alessandro Vittorias folgte.903 Bereits am 25. September verpflichtete sich der Architekt Francesco Smeraldi dazu, das Portal entsprechend der vorliegenden Entwürfe Vittorias zu errichten.904 Smeraldi erledigte die Arbeiten zur Zufriedenheit des Auftraggebers und wurde zwischen dem 15. Oktober und dem 7. Dezember 1571 regelmäßig für seine Tätigkeit entlohnt.905 Der bereits am 15. September notatorisch festgelegte Entwurf für die marmorne Inschrift enthielt neben den Ehrentiteln auch eine Widmung des Ärztekollegiums (MEDICORUMQUE.COLLEGII.MONUMENTUM),906 wurde auf Wunsch der Signoria jedoch gekürzt und beschränkte sich schließlich auf eine Nennung der wichtigsten Ehrentitel (Eques, Prokurator und Comes palatinus).907 Mit der Ausführung der Büste selbst wurde wiederum Allessandro Vittoria beauftragt, der bereits zahlreiche Bronzebüsten gefertigt hatte, darunter für die Mitglieder der Familien Grimani, Contarini, Don, Duodo und Venier.908 Als Modell schuf Vittoria zuerst eine Terrakottabüste, die sich in der Ausführung jedoch etwas von der Bronzebüste unterscheidet.909 Das Terrakottabildnis bestand aus zwei separaten Teilen, wohl um den Guss zu erleichtern, wobei erst der Kopf und später (1576–1577) der Torso angefügt wurde. Stilistische Merkmale lassen zudem darauf schließen, dass das Bronzebildnis nicht unmittelbar, sondern erst zwischen 1575 und 1577 hergestellt wurde.910 Wie bereits die Bronze903 BCV, Ms. PD 303/C, f. 2; ASV, Atti notarili, b. 8168, c. 131r–132v ; Victoria J. Avery, Documenti, 245–247. 904 ASV, atti notarili, b. 8168, c. 157r/v ; Victoria J. Avery, Documenti, 247–248. 905 ASV, atti notarili, b. 8168, c. 157v–158r; Victoria J. Avery, Documenti, 248–249. 906 THOMAS PHILOLOG RANG RAVEN PHYS/EQ.COM ECCL ET FAB PROCURATOR CUM/ PROSAPIAE PERENNI UNO USUFRUCTUAR/PERPETUUS LOCI HUIUS TOTI ECCLE COLLEG/PHYSIC. D. GEORG. EQ.TEMPLUM HOC ILLUSTRA/RELIGIONI […] VIRTUTI/ DEI AC D.GE.THOM. PHILOLOG. RAVEN. EQ./ COM. MEDICORUMQUE COLLEGII MONUMENTUM. Vgl. zur Inschrift BCV, Ms. PD 303/C, f. 2, c. 14; ASV, Atti notarili, b. 8168, c. 131r–132v ; Francesco Sansovino-Martinoni, Citt nobilissima, 42; Victoria J. Avery, Documenti, 245–247; Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 67; Martin Gaier, Facciate sacre, 477. 907 Die gekürzte, von der Signoria letztendlich akzeptierte Inschrift lautete: RELIGIONI VIRTUTI/THOMAS PHILOLOG. RANG. RAVEN./PHYS.EQ.COM.MB./PAL. ECCL./ET FAB.PROCURATOR. 908 Zu einer Übersicht über die Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen Bronzebildnisse vgl. Thomas Martin, Alessandro Vittoria and the Portrait Bust in Renaissance Venice, Oxford 1998; Ders., Vittoria e il busto ritratto, 273–323. 909 Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 67. Die Terrakottabüste wird zwar nicht im Testament genannt, befand sich aber gewiss im persönlichen Besitz Tomaso Rangones, da sie als Geschenk der Frati Capuccini ins Museo Correr kam. Zur Terrakotta- und Bronzebüste vgl. auch Thomas Martin, Alessandro Vittoria, 85; Ders., Vittoria e il busto ritratto, 282–283. 910 Thomas Martin, Alessandro Vittoria, 123–124; Ders., Vittoria e il busto ritratto, 284–285.
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statue über dem Portal der Kirche von San Giuliano wurde dieses Bildnis für den öffentlichen Repräsentationsraum konzipiert. Als »anwesende Abwesende« dienten solche Büsten traditionell der Memoria und Repräsentation herausragender Individuen und kündeten von deren virtus und Verdiensten.911 Im Gegensatz zu Florenz hatte es in Venedig jedoch bis Mitte des Cinquecento so gut wie keine Portraitbüsten gegeben. Erst danach setzte eine fast explodierende Produktion ein, was nach dem Kunsthistoriker Martin Gaier wohl auf die Legitimation venezianischer Adelsansprüche zurückzuführen war.912 In seiner Abhandlung De nobilibus vertrat der Rechtsgelehrte Carlo Sigonio in Anlehnung an die römische Republik nämlich die Ansicht, dass nur derjenige adelig sei, dessen Vorfahren bereits eine dem kurulischen Amt (Konsul, Censor, Praetor oder Aedil) entsprechende Stellung ausgeübt hätten, da in der römischen Republik erst ein hohes Amt adelig machte.913 Adelig sei daher ausschließlich, wer auch ein Bildnis besitze, da nur der Adel zum Besitz von Bildnissen berechtigte.914 Das Bildnisrecht war durch diese Schlussfolgerung Sigonios folglich lediglich dem Adel vorbehalten, der seinen Machtanspruch dadurch zugleich legitimierte und sich von Nicht-Adeligen abgrenzte. Francesco Sansovino, der Sohn des Bildhauers Jacopo, sah noch 1581 im Bildnis sogar einen eindeutigen Anspruch auf absolute Herrschaft.915 Durch die Aufstellung einer Portraitbüste im öffentlichen Raum bestätigte Tomaso Rangone daher nicht zuletzt seine Stellung im gesellschaftlichen Gefüge der Stadt. Spätestens durch seine Ernennung zum comes palatinus besaß er schließlich auch einen bedeutenden Titel, der zum Aufstellen eines Bildnisses berechtigte. Noch in seinem Testament sprach Rangone daher stolz von seinem schönen und ehrvollen Bronzeportrait, das sich mit meiner bemerkenswerten Inschrift über dem Portikus von San Geminiano befindet.916 Tomaso Rangone war jedoch nicht der einzige Arzt, der bei Alessandro Vittoria Büsten mit seinem Bildnis in Auftrag gab. Vittoria schuf ebenfalls zwei Büsten der Ärzte Niccol und Apollonio Mass, die ihr Grabmal schmücken sollten, welches sich in der 1807 zerstörten Kirche von San Domenico di Castello befunden hatte.917 911 Jeanette Kohl, Talking Heads. Reflexionen zu einer Phänomenologie der Büste, in: Jeanette Kohl/Rebecca Müller (Hrsg.), Kopf/Bild. Die Büste in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 2007, 9–30. 912 Martin Gaier, Ius imaginis nihil esse aliud, quam ius nobilitatis. Bildpolitik und Machtanspruch im Patriziat Venedigs, in: Jeanette Kohl/Rebecca Müller (Hrsg.), Kopf/Bild, 255– 282. 913 Martin Gaier, Ius imaginis, 264–265. 914 Ebd., 266. 915 Ebd., 258–259. 916 ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c.2: D. atque giminiani sub porticu aere meo honestiori, meis cum inscriptionibus, cupreaque imagine, pulcherimoque […]. 917 Luigi Belloni, I busti di Nicol Mass e di Santorio Santorio all’Ateneo Veneto, Physis 12,
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Die Apokalypse
Gleichsam als warnendes Prodigium, zum gottgefälligen Leben zurückzukehren, war es im Januar 1575 zu einer spektakulären Missgeburt im jüdischen Ghetto gekommen, als eine Jüdin Zwillinge, die am Steissbein miteinander verbunden waren, zur Welt gebracht hatte, ein Ereignis, das nicht nur in Venedig, sondern auch im Ausland für Aufsehen gesorgt hatte.918 Bereits wenige Monate später brach über Venedig eine verheerende Pestepidemie herein.919 Noch heute erinnern die Kirche des Redentore (1577–1592) und die Kirche Maria della Salute (1631–1687) an die katastrophalen Folgen der Epidemie, der fast ein Drittel der venezianischen Bevölkerung zum Opfer fallen sollte.920 Am 10. Juni 1576 fand unter Anwesenheit des Dogen Alvise Mocenigo, bedeutender Politiker und einflussreicher Ärzte im Maggior Consiglio eine Besprechung statt, die ihre Einschätzung zur augenblicklichen Lage vortragen sollten.921 Während der venezianische Arzt Niccol Comasco der Ansicht war, dass es sich um die Pest handelte, widersprach sein Kollege Ludovico Boccalini mit der Behauptung, die relativ geringe Mortalitätsrate sei keineswegs als Kennzeichen der Pest zu deuten. Er sah die Ursache der Epidemie vielmehr im Brunnenwasser, das mit Salzwasser kontaminiert worden sei. Auch Girolamo Mercuriale schloss wie sein paduanischer Kollege Girolamo Capodivacca die Möglichkeit aus, die Pest diagnostizieren zu können.922 Letztendlich wurden trotz der eindringlichen Warnungen des Magistrato alla sanit sämtliche Vorsichtsmaßnahmen aufgegeben – mit verheerenden Folgen: Die Bevölkerung Venedigs wurde innerhalb eines Zeitraums vom 1. Juli 1575 bis zum 28. Febuar 1577 um 46.721 Menschen reduziert, wobei noch drei- bis viertausend weitere Todesfälle während des Abklingens der Epidemie hinzuzufügen sind.923 3.000 Boote nahmen rund 8.000 Menschen in Quarantäne, darunter auch Francesco Sansovino, der nach dem Tod seiner Tochter und der
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1970, 411–414; Richard Palmer, Nicol Mass, 408; Thomas Martin, Alessandro Vittoria, 120–122. Robert Jütte, Im Wunder vereint: eine spektakuläre Missgeburt im Ghetto 1575, in: Uwe Israel et al. (Hrsg.), Interstizi. Culture ebraico-cristiane a Venezia e nei suoi domini dal Medioevo all’Et moderna, Roma 2010, 517–539. Paolo Preto, Peste e societ a Venezia nel 1576, Vicenza 1978. Nelli-Elena Vanzan Marchini (Hrsg.), I mali e i rimedi, 119–120. Ebd., 109–110. Richard Palmer, Girolamo Mercuriale and the Plague of Venice, in: Alessandro Arcangeli/ Vivian Nutton (Hrsg.), Girolamo Mercuriale: medicina e cultura nell’Europa del Cinquecento, Firenze 2008, 51–65; Jörg Reimann, Venedig und Venetien, 179–180. Paolo Preto, Peste e societ a Venezia 1576, 111. Zu einem Vergleich mit Rom siehe David Gentilcore, Negoziare rimedi in tempo di peste: alchimisti, ciarlatani, protomedici, in: Irene Fosi (Hrsg.), La peste a Roma (1656–1657), Roma moderna e contemporanea 14, 2006/1–3, 75–92.
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Erkrankung seiner Frau eine zweinundzwanzigtägige Kontumanz über sich ergehen lassen musste.924 Der Notar Rocco Benedetti berichtet in seiner Chronik,925 dass das öffentliche Leben in der Lagunenstadt fast vollständig zum Erliegen kam. Geschäfte wurden geschlossen und die Bürger flohen wenn möglich auf die Terraferma. Wer zu dieser Zeit nach Venedig einreisen wollte, musste sich an strenge Vorlagen halten, die eine zehntägige Quarantäne im Haus einschlossen.926 Eine gespenstische Stille breitete sich über der Stadt aus: Die Seiden- und Wollhändler, die zwei Drittel der Bevölkerung am Leben erhalten hatten, bemühen sich, die Geschäfte zwischen San Marco und Rialto am Laufen zu halten. Fast alle Handwerker schließen ihre Geschäfte. Kläger, Anwälte und Richter verlassen den Palazzo [d. h. ducale] und alle anderen ebenfalls. Die Plätze sind verweist und man kann durch die Gassen laufen, ohne einander zu stoßen. Man hört weder Lärm noch irgendwelche angenehmen Geräusche aus den Gassen und Kanälen.927
Humorvolle Zeitgenossen sammelten sogar die Gründe, die die Inhaber an die geschlossenen Türen ihrer Geschäfte gehängt hatten: Per fuggir la fortuna, finche Dio morr, Per non haver robba da vender, Perch nissuno vien da comprar.928 Unzählige Feuer brannten, um die Luft zu reinigen, und als die Situation immer auswegloser zu werden schien, vertrauten die Menschen nur allzuleicht auf heilsame Wasser und zweifelhafte Wundermittel.929 Zahlreiche »Heilkundige« boten daher in dieser Zeit ihre Dienste an. Beim Magistrato alla sanit gingen umgehend zehn Anträge ein, um die Erlaubnis zur Herstellung neuer Therapeutika zu erhalten. Neben vier Ärzten handelte es sich bei den Antragstellern um einen Barbier, einen »scrivan alla Insida«, einen Händler, einen Notar und einen Kirchenmann namens Pre Mansu.930 Der flämische Händler namens Antonio Gualtiero sah vor allem im Eigenurin und Fäkalien ein 924 Francesco Sansovino-Martinoni, Citt nobilissima, 223; Carlo M. Cipolla, Contro un nemico invisibile. Epidemie e strutture sanitarie nell’Italia del Rinascimento, Bologna 1985. 925 Ragguaglio minutissimo del successo della peste di Venetia. Con gli casi occorsi, provisini fatte, et altri particolari, insino alla liveratione di essa (ohne Paginierung). Vgl. zum Text BCV, Ms. Cic. 3682. 926 Über diese Restriktionen geben vor allem die Dokumente im ASV, Secreta, Materie miste notabili, reg. 95, c. 120r/v Auskunft, vgl. hierzu Sabrina Minuzzi, Sul filo dei segreti, 109. 927 Rocco Benedetti, Ragguaglio (BCV, Ms. Cic. 3682): I mercanti di panna di seta e di lana che davano da vivere a doi terzi della citt levarono le mani di far lavorare il negotio fra mercanti di S. Marco e di Rialto, e quasi tutti gli artefici serrarono le lor botteghe, lasciarono il palazzo i litiganti e gli avvocati et i giudici, et altri ministri della ragione li abbandonarono parimente. Le piazze erano sgombre di gente, e per le vie si camminava senza che l’uno urtasse l’altro. Non s’udivano pi suoni, n canti, n altri dilettevoli trattenimenti per le strade e canali […]. 928 BAV, R. I. IV. 1551.67: Scelta de i pi belli e bizari motti che si sono veduti scritti sopra le botteghe serrate di Venezia. Vgl. hierzu Sabrina Minuzzi, Sul filo dei segreti medicinali, 108. 929 Henri H. Mollaret (Hrsg.), Venezia e la Peste, 1448–1797, Venezia 1980, 287–293. 930 Sabrina Minuzzi, Sul filo dei segreti medicinali, 111–112; Paolo Preto, Peste e societ, 208.
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wirksames Therapeutikum gegen die Pest. Ähnliche Heilmittel pries auch der aus Brescia stammende Arzt Annibale Giroldi an, der jedoch noch vor Ankunft im Lazzaretto vecchio selbst an der Pest versterben sollte.931 Am beliebtesten waren jedoch die segreti des Notars Scipione Paragatta und die Rezepte des sizilianischen Arztes Ascanio Olivieri, von denen nicht nur Manuskripte, sondern auch gedruckte Versionen bis ins 17. Jahrhundert vorliegen.932 Als effizientes Therapeutikum gegen die Pest galt demnach ein aus den Bubonen selbst gewonnenes und in der Sonne getrocknetes Pulver, das in Wasser aufgelöst vom Kranken eingenommen werden sollte. Selbst die Apotheker hegten jedoch Zweifel an der Wirksamkeit der angebotenen Therapeutika. Es war lächerlich, berichtete der Notar Rocco Benedetti, bei einigen Apothekern die wenigen Plätze oben mit riesigen Lettern ausgefüllt zu sehen, die besagen: »Wirksames Mittel gegen die Pest von diesem oder jenem […]«.933 Daher hätten selbst die geschäftstüchtigen Apotheker schließlich ihre Geschäfte verschlossen und das Geld, das sie für ihre Wundermittel erhalten hatten, aus Angst vor einer Infektion umgehend in Essig getaucht.934 Tomaso Rangone war beim Ausbruch der Pest bereits ein Mann von über achtzig Jahren. Um einer Ansteckung zu entgehen, floh er nicht wie viele seiner Zeitgenossen auf die Terraferma, sondern zog sich in sein Haus am Markusplatz zurück. Rocco Benedetti sah dies mit Argwohn und Spott und glaubte sogar, der alte Arzt würde alchemistischen Experimenten nachgehen, um Gold herzustellen.935 Im Juli 1577 kam die Epidemie langsam zum Erliegen und das Leben kehrte nach und nach in die Stadt zurück. Tomaso Rangone, sein Sohn Marius und seine Vertrauten hatten die Pest überlebt. Und doch fühlte sich der Arzt bereits seit einiger Zeit kraftlos und schwach. Noch während der Pest hatte er daher vorsichtshalber sein Testament überarbeitet, das er bereits 1569 niedergeschrieben und dem praesides und vicepraesides des Kollegiums in Padua übergeben hatte.936 Am Samstag, den 10. August 1577, begann Tomaso Rangone 931 Sabrina Minuzzi, Sul filo dei segreti medicinali, 112–114. 932 Ebd., 115–122. 933 Rocco Benedetti, Ragguaglio (BCV, Ms. Cic. 3682): Era cosa ridiculosa il vedere da alcuni speciali gli brevi posti ad alto in lettere maiuscole che dicevano »Preservativo sicuro contro la peste dell’eccelentissimo tale«. 934 Ebd. 935 Ebd.: Nun f altramente vero, che l’Eccell. Ravenna fusse uno di quelli del preservatico che morisse: anzi egli sta meglio che mai: e dice di volere prima che mora appresso tante altre cose degne di memori che ha fatto nella citt erigere un museo, con una libraria Regia, sono per ciancie pe maligni sparse ch’egli sia stato tutto questo tempo riserato in casa stillare l’oro potabile per fare cotanta spesa, quello che ha speso, et per spendere del peculio che s’ha a buoni tempi co’l suo valore auanzato, e se gli si sequestr gi in casa da se medemo, fu per non heuersi incontrare andando torno in tal sorte di peste bestiale, che faceva perdere la scrima a i piu valorosi. 936 Statuten (1569), c. 4r.
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nun mit der erneuten Redaktion des Dokuments. Wegen der ungewöhnlichen Länge937 diktierte er den Text einem Vertrauten und verfasste mit zittriger Hand am 28. August 1577 einen Schlusskommentar. Darin erklärte der mittlerweile fast vierundachtzigjährige Arzt, seine Entscheidung alters- und krankheitshalber getroffen zu haben.938 Mit dem Piovan der Kirche von San Geminiano war Tomaso Rangone seit langem befreundet und ernannte ihn bzw. dessen Nachfolger zum Testamentsvollstrecker. Für die Einhaltung der Testamentsbestimmungen wurden eigens gubernatores et dispensatores ernannt, darunter der einzige Sohn und Erbe Marius Filologus. Einleitend bestätigte Tomaso Rangone seine körperliche und geistige Gesundheit (sanus mente et corpori) und erhoffte göttliche Gnade, da er ein christliches Leben geführt habe, schloss jedoch mit Hinweis auf seine makrobiotische Schrift nicht aus, doch noch länger leben zu können.939 Vom Originaltext wurden zwei Abschriften angefertigt, die von dem Gelehrten persönlich unterschrieben wurden.940 Das Dokument wurde schließlich von dem Notar Baldassare Fiume beglaubigt und im Haus des Arztes in seinem Schreibtisch in einem weißen Behältnis aufbewahrt (capsa alba). Eine weitere Abschrift verblieb in den Händen des Notars, nachdem die Zeugen Jacobo dal Occa, Gasparo Mida, Vicenzo Tron und Antonio Belli Lucchese ihre Unterschrift gesetzt hatten.941 Nur wenige Tage nach der Abfassung des Testaments starb Tomaso Rangone am 10. September 1577 an einem »Katarrh«.942 937 Vergleicht man Tomaso Rangones Testament mit anderen zeitgenössischen Dokumenten, besticht es in der Tat durch seine ungewöhnliche Länge: Das Testament des bekannten Arztes Trincavella vom 20. Februar 1562 m. V. (ASV, notarile, testamenti, b. 1214, Nr. 1032) umfasst lediglich drei vom Arzt eigenhändig in Italienisch verfasste Seiten (Io Vettor Trencavello medico di mia mano propria scrissi). Trincavella betonte ausdrücklich, ein bescheidenes (modeste) Begräbnis zu wünschen. Eine Aufstellung des Inventars fehlt vollständig. 938 ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 25v. 939 Ebd., c. 1r. 940 Neben dem im Archivo di Stato aufbewahrten Exemplar (ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172; Provenienz: Cancelleria inferiore) gibt es zwei Abschriften in der Biblioteca Marciana: Die erste Abschrift (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 (= 4282); Provenienz: Svajer Amedeo 1440) ist mit einer Kopie aus dem 18. Jahrhundert zusammengebunden und diente laut der Beschriftung (praesentatum est die 18. Febr. A. 1727 […] X sav sopra le decime in Rialto) der Erhebung von Steuern. Die zweite Abschrift (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 282 [= 4298]) wurde 1784 nach einer Kopie von Johannes Vingonus aus dem Jahr 1614 angefertigt. Eine weitere Abschrift befindet sich in der Biblioteca des Museo Correr und geht vielleicht auf diese Kopie des Vingonus zurück, da sie von derselben Hand stammt (BCV, Cod. Cic. 2006). Zudem befinden sich in der Biblioteca Classense in Ravenna noch zwei weitere Abschriften des Testaments, vgl. BCR, Mob. 3,1/25 (Abschrift des Johannes Vingonus vom 8. August 1617) und BCR, Mob. 3,1/28 Mis. P, c. 93–113 (Abschrift von Carlo Sauttelari, datiert auf den 2. August 1576). 941 ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 26r. 942 Vgl. die Beglaubigung der Sakristei von San Marco (22. Oktober 1881) mit einem Auszug
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Das Testament wurde noch am gleichen Tag verlesen. Im Sinn der Verfügung von 1566 hatte Tomaso Rangone alle verwandtschaftlichen Verhältnisse für nichtig erkärt und das vorliegende Dokument zum einzigen Vollzugsdokument bestimmt.943 Der Grund dafür war nicht zuletzt der langjährige Streit um die Häuser in Ravenna gewesen, die aufgrund der Nachlässigkeit von Verwandten in die Hände der Familie Zapparuschi gelangt waren. Das Erbe sollte größtenteils zu wohltätigen Zwecken (in pias causas, religionem, virtutem) verteilt werden und zur Gründung einer öffentlichen Bibliothek, einer Stiftung heiratswilliger Mädchen und zum Unterhalt des Kollegiums in Padua angelegt werden.944 Eine großzügige Rente erhielt zudem Tomaso Rangones langjährige Haushälterin Katharina.945 Im Testament wurden zudemumfassende Verfügungen über die Besitzungen auf der Terraferma erlassen, die teilweise den Verwaltern oder Marius Rangone selbst unterstellt waren, der auch alle externa bona erbte.946 Marius sollte neben dem Grundbesitz zudem eine kleine vierteljährlich ausgezahlte Rente erhalten.947 Nach Auskunft des Testaments führte Marius jedoch keine Ehrentitel, obwohl dies im Ermessen des Vaters als Comes Palatinus gelegen hätte. Aus einem Nachtrag vom 12. September 1581 ist zudem zu entnehmen, dass Marius Einsicht in das Testament genommen hatte und sich strikt an die Anordnungen seines Vaters hielt.948
8.10 Letzte Stationen In seinem Testament hatte Tomaso Rangone nicht nur genaue Instruktionen bezüglich der Verteilung seines Erbes hinterlassen, sondern auch jegliches Detail von der Aufbahrung bis zum Trauerzug ausführlich geplant. Als Verwalter fungierten die Piovane von San Geminiano, San Giuliano und San Giovanni in
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aus den Registri canonici dei morti di S. Geminiano (Band 1, c. 138): Ad 10 7mbre 1577/ morto lo eccelente miser Thomazo Rangoni da Revenia di anni 90 incirca amalatto lungamente da catarro. Die Registri befinden sich heute im ASCPV, Parrochia di S. Geminiano, Morti, reg. 1. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 1r : nullum esse mihi consangineum agnosco, neque ex familia mea propinquum […]. Ebd., c. 1v–2v. Ebd., c. 8v : Catherinam autem servitricem meam vetustissimam a me comodam satis, et quasi in gradu suo divitem effectam fidelitate sua, nihilominus caritatis signo beneficentia mea perpetua, veste ducali pano nigro lecti sternio, cubiculoque parato omni consolari volo. Katharina erhielt drei Dukaten in den Monaten Januar und Juli (die letzte Auszahlung erfolgte am 9. Juli 1577). Ebd., c. 11r–12v ; Zu den externa bona vgl. ebd., c. 3r/v. Ebd., c. 15r (etwas über 3 Dukaten monatlich). Ebd., c. 27r: die 12 septembris 1581 […] ad instantiam D. Marij filologi q. ex.mi D. Thomae ravena filologi […] non habet aliud testamentum.
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Bragora, der Kollegiumsvorstand in Padua sowie der Bibliothekar und Vertraute Tomaso Rangones, Natale Conti.949 Elf Geldposten im Wert von mehr als 150 Dukaten dienten ausschließlich zur Deckung der entstehenden Unkosten: dem Honorar des Notars (zehn Silberdukaten) und des Bibliothekars (einen Silberdukat), den Ausgaben des Hauses (zehn Silberdukaten), dem Reisegeld und dem Unterhalt der Studenten aus Padua (zwanzig Silberdukaten) sowie der Bezahlung der acht Leichenwäscher (neun Dukaten), der Träger der suppellectiles bibliothecae (zwei Silberdukaten) und des Toten selbst (acht Silberdukaten).950 Dazu kamen die Ausgaben für Baldachine und Kerzen für die Scuola grande di San Marco und die Scuola grande di San Teodoro (zwanzig Silberdukaten), die Aufstellung von Bildern und Gerätschaften sowie für Messegelder diverser Kirchen (43 Silberdukaten).951 Die Begräbniszeremonie umfasste von der Aufbahrung bis zum Begräbnis acht Tage. Drei Tage sollte der Leichnam Tomaso Rangones in seinem Haus am Markusplatz im festlichen Gewand des Eques, versehen mit Stola, Torques, Degen und Sporen sowie zahlreichen kostbaren Gold- und Silberringen, die mit wertvollen Schmucksteinen besetzt waren, aufgebahrt werden.952 Umgeben war der Leichnam von wertvollen Gerätschaften, Bildern, Silberschalen und aufgeschlagenen Büchern,953 die für den Gelehrten von besonderer Bedeutung gewesen waren: Neben der Geschichte seiner Heimatstadt Ravenna954 und der Geographie des Ptolemaios955 handelte es sich vor allem um Bücher medizinischen und naturkundlichen Inhalts. Die zitierte Ausgabe der Anatome und Epitome von Andrea Vesalius ist im Bestand der Biblioteca Marciana bis heute erhalten geblieben,956 wobei sich aufgrund der Beschreibung957 auch die Tafeln identifizieren lassen, die am Totenbett aufgeschlagen werden sollten. Demnach handelte es sich um zwei, das Muskelskelett zeigende gegenüberliegende Tafeln (Tertia musculos ostendentium figura und Secunda commonstrandis musculis paratarum figura). Schließlich werden noch die bereits erwähnte naturkundli949 950 951 952 953
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Ebd., c. 3r/v. Ebd., c. 4r/v. Ebd., c. 4r/v. Ebd., c. 4r/v. Ebd., c. 4v.: cum annulis quinque in manum digitis aureis meis dexterae, minimo granata, berilloque simul sinistrae, aut auriculari rubino, unoque crisolito annullari saphiro insignibus meis in ausculpto. Ebd., c.4v : Libri autem sint aperti sic defferendi Historia magna urbe Ravena cartis 142 a capite […]. Es handelt sich wohl um die von dem Arzt Girolamo Rossi 1572 bei Paolo Manuzio herausgebrachte Historiarum Ravennatum libri decem. Ebd., c. 4v : Ptolommei Cosmographia respiciens mapamundo, vel a lateribus corporis delati, sic semper apertos defferentibus […]. BMV, 221.D.10.1–2. ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 4v. Anatome Vesalijque Epitome tertia et secunda humana figura masculos [sic] demontrante bini complete.
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Venedig: auf dem Gipfel des Ruhms
che Schrift958 des Gelehrten selbst und die Seiten 914 und 915 aus Mattiolis 1565 erschienener botanischer Schrift genannt.959 Diese zeigen eine Darstellung der weiblichen und männlichen Peonie, welcher bereits in der Antike heilende Kräfte zugeschrieben worden waren und die vor allem jedoch als Symbol der Auferstehung galt. So berichtet Vergil etwa im 7. Gesang der Aeneis, die Göttin Artemis habe Virbios, der von den Pferden seines Vaters Theseus getötet worden war, mithilfe der Pfingstrose wieder zum Leben erweckt. Neben den Symbolen der medizinischen (Vesalius) und botanischen (Mattioli) Wissenschaften sollte als Zeichen des christlichen Glaubens noch eine Missale das Totenbett des Arztes schmücken.960 Am 13. September 1577 wurden für den Verstorbenen Messen in den Kirchen von San Geminiano, SS. Giovanni e Paolo und San Giuliano gehalten, wobei Bellissario Gadaldin, der zukünftige Prior des Collegium medicum (1578 und 1580) für die Messe in der Pfarrkirche von San Giuliano verantwortlich war.961 Am vierten Tag wurde der Leichnam in der Kirche von San Geminiano aufgebahrt, wobei einer der Studenten aus Padua am Morgen eine Ansprache hielt und mittags post prandium eine zweite Rede folgte, die laut des Testaments »besonders glanzvoll« sein sollte.962 In einem prachtvollen Leichenzug wurden die sterblichen Überreste Tomaso Rangones von der Kirche von San Geminiano nach San Giuliano überführt. Die zurückgelegten Strecken solcher Leichenzüge konnten von unterschiedlicher Länge sein, die Zahl der teilnehmenden Personen mehrere hundert umfassen.963 Der Leichenzug des verstorbenen Arztes bestand aus 104 Einheiten,964 erst da-
958 Ebd., c. 4v : [a pedibus Thomae tribus magnis thomis Quadrupedum cartis 200 Darue; ergänzt nach BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 (= 4282)] et Hircocervi figura, Volatilium cartis 20 Paradisi ave corno ac cornice caerulea, Aquatilium cartis 119 Holoturij et Monachi piscis lionio, cum Thomae Simplicibus cartis 733 soli quatro maiori. 959 Ebd., c. 4v : minori ac tertio Mathioli c. 914 Peonia mascula ac femina […]. 960 Ebd., c. 4v : Missali a sole maiori cartis 130 Jesus Christus cruci affixus. Ptolommei Cosmographia respiciens mapamundo, vel a lateribus corporis delati, sic semper apertos defferentibus. Da die unter SACRI e THEOLOGI LIBRI im Bibliotheksverzeichnis notierte Missale im Format zu klein ist, handelt es sich möglicherweise um die 1557 bei Giunta erschienene Missale a sole reali folio (BMV, Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 [=4282], c. 16r). Die Abbildung zeigte Jesus am Kreuz. 961 BMV, Ms. It. Cl. VII, Nr. 2342 (=9695), c. 17 (13 Sept.): Pregie (?) di Tomaso Filologo da Ravenna medico famoso e K. in et di anni 94 vivens simper sine ulla corporis molestia avendo passato il pericolo del contagio […] fecessero tre orazioni funebri una in San Giminian sua parochia, e lu fece un … sacerdote una in S. Giovanni ePalo, e la fece Bellisario Gadaldin una in S. Giulian ov’ il suo deposito et ad ogni Collegio di Fisici e di Chirurgi lasi che si […]. 962 ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 5. 963 Gabriele Köster, Künstler und ihre Brüder, 47–48. 964 ASV, notarile, testamenti, b. 421, Nr. 1172, c. 5v–7r.
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307
nach folgten Frauen, das schaulustige Volk und die Armen.965 Voran gingen in Zweierreihen die massarij der sechs Scuole grandi mit je einem weißgekleideten Kleriker. Knaben trugen Kerzen und Palmen, gefolgt von Kerzenträgern der Scuole grandi, den confratelli und Fahnenträgern mit den Emblemen Tomaso Rangones.966 Auch wertvolle Kunstschätze, Modelle der Stiftungen und Besitzungen des Arztes in Venedig und Ravenna, Portraits, wissenschaftliche Instrumente, sowie ein großer Teil der ärztlichen Bibliothek und der Schriften Tomaso Rangones selbst wurden mitgeführt. Alle diese Gegenstände sollten damit noch einmal die verschiedenen Lebensstationen und Interessensgebiete des Verstorbenen vor Augen führen: Medizin und Astrologie, Glaube, Stiftungen und Besitz (Ravenna, Zelarin und Mestre) und den cursus honorum. Erst an 93. Stelle beschloß der schwarzgekleidete Bibliothekar und Vertraute Natale Conti den Zug der persönlichen Habe des Verstorbenen.967 Den Kern der Prozession bildeten die Kapitelherren der sechs Scuole grandi, wobei die Scuola grande di San Marco trotz des erlittenen Affronts hervorgehoben wurde (privilegiata sit).968 Den Scuole grandi folgten drei Kapitäne,969 Jesuiten und Kapuziner sowie die Studenten und das Personal des Kollegiums in Trauerkleidung.970 Zahlreiche Trauergäste, darunter bekannte Ärzte und Chirurgen, der amtierende Prior des Collegium medicum, Advokaten, Literaten, Senatoren, Redner und ein Princeps begleiten die sich anschließende Sänfte mit dem reich geschmückten Körper des Verstorbenen.971 Es folgten die Mitglieder der Scuole piccole (corpus Christi, Passionis, Mercatorum), in denen Tomaso Rangone führende Positionen innegehabt hatte, Spitalleiter, Brüder weltlicher Orden und Kleriker.972 Wegen der großen Anzahl von fast 1.000 Personen hatte Tomaso Rangone selbst eine fast zwei Kilometer lange Route entworfen, die an wichtigen Kirchen vorbeiführte, Plätze zum Innehalten nutzte und zweimal die Kirche von San Giuliano passierte (einmal vor der Fassade und dann von der Rückseite her kommend):973 Von der Pfarrkirche San Geminiano zog der Trauerzug zuerst auf die Piazza San Marco. Dabei hatte Tomaso einen Silberdukaten in Aussicht gestellt, sollte man die Glocken des Campanile läuten und der Sakristan mit weißgekleideten Klerikern aus der Kirche treten, um ein Miserere zu singen.974 Am Campanile vorbei passierte der Trauerzug erst die belebte Merceria und 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974
Ebd., c. 7r. Ebd., c. 5v. Ebd., c. 6v. Ebd., c. 6v. Ebd., c. 6v. Ebd., c. 6v. Ebd., c. 6v–7r. Ebd., c. 7r. Ebd., c. 7r/v. Ebd., c. 7r.
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Venedig: auf dem Gipfel des Ruhms
betrat dann die Calle larga, wo der Pleban und der Klerus der Kirche von San Basso dem Zug entgegentraten.975 Ähnliches wiederholte sich vor den Kirchen von San Giuliano, San Salvatore, der Scuola grande di San Teodoro, der Scuola di San Chrisostomo, der Scuola di Santa Maria Nova und der Scuola grande di San Marco. Vor der Kirche von SS. Giovanni e Paolo wurden schließlich Leichenreden gehalten und eine Mittagspause eingelegt.976 Nach einem weiteren Halt vor der Scuola del Rosario, der Scuola Sant’Orsola und der Kirche Santa Maria Formosa kehrte man nach San Giuliano zurück. Am fünften Tag nach dem Tod Tomaso Rangones sollte mittags noch eine weitere Rede gehalten, die Armen beschenkt und die Träger des Leichenzugs entlohnt werden.977 Für die folgenden Tage waren weitere feierliche Messen und eine oratio vorgesehen.978 Dafür sollten Camillo, dem Pater und Beichtvater Tomaso Rangones, drei Goldscudi, dessen Diener ein halber Goldscudo geschenkt werden.979 Am achten Tag erhielten auch die Studenten in Padua, die Köche und die Dienerschaft ein reiches Entgeld, insofern sie an den Feierlichkeiten teilgenommen hatten, wobei auch die enterbte Verwandschaft bedacht wurde, insofern sie anwesend gewesen war.980 In der Hauptkapelle von San Giuliano sollte Tomaso Rangone schließlich seine letzte Ruhestätte finden.981 Die sterblichen Überreste Tomaso Rangones gelangten nach der Exhumierung 1823 anonym auf die Laguneninsel Sant’ Arian,982 der anthropomorphe Sarg im ägyptisierenden Stil blieb im Besitz des Ausgräbers Gaspare Biondetti Crovato zurück,983 der ihn dem Seminario Patriarcale schenkte, wo er noch heute besichtigt werden kann.984 975 976 977 978 979 980 981
982 983 984
Ebd., c. 7r. Ebd., c. 7r. Ebd., c. 8r. Ebd., c. 8v. Ebd., c. 8v. Ebd., c. 8v : Consanguinitatem, seu affinitatem proffitentes, quas ambas ut supra renuo, et denuo reprobo monetam argenteam assium sex recipiant. BCV, Ms. Cic. 1432 (1594, 7 martij). Die dort angebrachte Inschrift lautete: D.O.M./THOMAE PHILOLOGI RANG./RAVEN.PHYS.ECCLES.ET.FAB./PROC.OPT.MERITO R.COMMENTARII/MDIIC.IN SPEM RESUR.FUTURAE ET.IMMORT./GLORIAE PERPETUUM MONUMENTUM/EX RESTA.P. Die Inschrift soll in der Hauptkapelle rechts vom Altar angebracht gewesen sein, vgl. hierzu Erasmus Weddigen, Thomas Philologus Ravennas, 37. Auf dem Grab selbst soll sich folgenden Inschrift befunden haben: Thomas Ravennas obiit 1577. Vgl. hierzu Gianantonio Moschini, La Chiesa e il Seminario di Santa Maria della Salute, Venezia 1842, 88. Schließlich sollen die Commissarij noch eine dritte Inschrift in Auftrag gegeben haben: D.O.M. THOMAE RAVENNA./EQUIT ECCLES. PROC./EXIMIAE PIETATI/PERENNITAS/RR. COMMISSARI/AN:MDIIC. Vgl. hierzu Piero Pazzi (Hrsg.), Corpus delle Iscrizioni di Venezia e delle Isole della laguna veneta di Emmanuele Antonio Cicogna, Venezia 2001, Band 2, 754; 756. Giuseppe Tassini, Curiosit Veneziane, 1863. Gianantonio Moschini, La Chiesa e il Seminario di Santa Maria della Salute, Venezia 1842, 88. Der Deckel ist nicht mehr vorhanden.
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IX.
Anhang
Tomaso Rangone und seine Zeit 1493
18. August: Geburt Tomasos als Sohn des Pierpaolo Gianotti in Ravenna
1505
Hungersnot in Ravenna
1506
1./2. November : Vertreibung der Bentivoglio aus Bologna
1509
14. Mai: Schlacht von Agnadello
1510
Beginn (?) des Studiums der Medizin in Bologna
1512
11. April: Schlacht von Ravenna Pronosticon anni 1513 (nicht mehr erhalten)
1513
13. März: Conclusiones unter der Leitung von Panfilo Monti 19. März: Amtsantritt Papst Leos X. (Giovanni de’ Medici; 1475–1521) Lectura universitatis in Bologna
1514
Juditio delo anno 1514 (Bologna 1514) Pronostico sopra la significazione del mostro nato a Bologna (Bologna 1514) August/September : Aufenthalt in Ravenna Pronosticon anni 1515/Pronostico del anno 1515 (Bologna 1514)
1515
Pronostico delo anno 1516 (o. Ort 1515)
1516
Sommer/Herbst: Tod des Vaters Pierpaolo Gianotti 21. August: Promotion in artes et medicina in Bologna 17. September : Vertrag mit dem Diener Cesare de Francini September/Oktober : Reise von Ravenna nach Rom 9. November : Pronosticon anni 1517 (o. Ort 1516)
1517
2. Juli: Domenico Grimani und Tomaso Gianotti verlassen Rom 16. Juli: Hinrichtung der Attentäter Papst Leos X. Pronosticon anni 1518 (Romae 1517)
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Anhang
1518
24. August: Lehrauftrag an der Universität von Padua Pronostino de lo anno 1519 (Venetia 1518?)
1519
12. Januar: Tod Kaiser Maximilians I. (1459–1519); Krönung Karls V. (1500–1558) 22. Januar: Erneuerung des Lehrauftrags in Padua
1520/ 21
Tomaso lebt unter dem Schutz des condottiere Guido Rangoni in Modena Oratio (Mutinae 1521) De optuma ! felicitate (Mutinae 1521) Juli/September 1521: Belagerung Parmas durch Guido Rangoni Guido Rangoni lässt Modena nach dem Tod Leos X. befestigen
1522
9. Januar : Amtsantritt Papst Hadrians VI. (1459–1523) 4. Juli: »Fatto della Camera« in Ravenna De vera Diluvij pronosticatione anni 1524 (Romae 1522)
1523
25. April: Tomaso wird in den Stadtrat von Ravenna gewählt De la vera pronosticatione del diluvio del 1524 (1523?) 20. September : Alfonso d’Este bedroht Modena 18. November : Amtsantritt Papst Clemens’ VII. (1455–1534) Ludovico Vitali publiziert den Dialogus de Diluvij falsa pronosticatione
1524
1. Februar : Die prophezeite Sintflut bleibt aus Federico II. Gonzaga ruft Giulio Romano nach Mantua
1525
8. Januar : Empfehlungsschreiben Guido Rangonis an Federico II. Gonzaga Februar/März: Aufenthalt Tomasos am Hof von Mantua 24. Februar : Gefangennahme des französischen Königs bei der Schlacht von Pavia De Liberatione Francisci regis christianissimi (Mutinae 1525) 25. März: Dankesschreiben an Federico II. Gonzaga 2. November : Ablehnung Federicos II. Gonzagas, Tomaso in seine Dienste zu nehmen
1526
14. Januar: Frieden von Madrid April: Tomaso begibt sich erneut nach Mantua Mai: Liga von Cognac Pietro Aretino weilt in Modena unter dem Schutz Federico II. Gonzagas und publiziert das Judizio over pronostico de mastro Pasquino
1527
9. Januar : Brief Tomasos an Federico II. Gonzaga 4. Mai: Die feindlichen Truppen erreichen Rom Mai/Juni: Sacco di Roma; Sansovino und Aretino begeben sich nach Venedig Juli: Guido Rangoni verhandelt in Venedig über eine condotta 25. Oktober : Modena fällt in die Hände der Imperialen Guido Rangoni tritt in französische Dienste Schwere Hungersnöte und Seuchen in ganz Italien
Tomaso Rangone und seine Zeit 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
311
1528
13. März: der venezianische Senat ergreift Maßnahmen gegen die Seuche 18. Mai: Gütertrennung der Gianotti De victu, et hominum salute (o. Ort 1528) November/Dezember : Guido Rangoni ist in Venedig
1529
Friedensschlüsse in Barcelona, Cambrai und Bologna De pace universali, victu, et sanitate ac futuri belli eventu (o. Ort 1529)
1530
24. Februar : Karl V. wird in Bologna zum Kaiser gekrönt
1531
Del vivere, del racolto et de la abondantia (o. Ort 1531)
1532
27. Mai: Tomaso bezieht eine Wohnung an der Piazza San Marco 6. September : Erwerb einer Brunnenlizenz Guido Rangoni kämpft im Dienst der Imperialen in Ungarn gegen die Türken
1533
23. Juni: Friedensvertrag mit den Osmanen Tizian wird zum Eques/Cavalier ernannt
1534
Mai/Juni: Flottenarzt unter Vicenzo Capello Ein Hochwasser verunreinigt die Brunnen in Venedig Amtsantritt Papst Pauls III. (1468–1549)
1535
Epidemie in Venedig Niccol Mass ist demonstrator bei anatomischen Untersuchungen Tomaso führt eine anatomische Untersuchung im Auftrag der Gesundheitsbehörde durch De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus (Venetijs 1535)
1536
Januar : Guido Rangoni kehrt in französische Dienste zurück
1537
De morbo epidemico (1. Auflage)
1538
De morbo epidemico (korrigierte 1. bzw. 2. Auflage) Giudicio intitolato a Christo (verloren) 8. Februar : Brief Tomasos an Federico II. Gonzaga Heilige Liga gegen die Türken (Venedig, Paul III., Karl V.) Guido Rangoni wird zum Capitano delle armi venete ernannt
1539
9. Januar : Guido Rangoni stirbt in Venedig Friede zwischen FranÅois I. und Karl V. Doge Pietro Lando (1539–1545
1540
27. Mai: Starker Regen nach sieben Monaten Trockenheit Bevölkerung Venedigs steigt auf 130.000 Separatfrieden mit den Türken
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Anhang
1542
30. November : Die Scuola gande di San Marco beschließt die Ausschmückung der Sala Grande Dezember : Die Familie Capello beginnt mit der Fassadengestaltung von S. Maria Formosa
1544
Ne denuo humanum defraudetur genus (Venetijs 1544)
1545
De morbo epidemico (2. bzw. 3. Auflage) De vita hominis ultra 120 annos protrahenda (1. Auflage) Gründung des botanischen Gartens in Padua Doge Francesco Don (1468–1553)
1546
3. September : Häuser und Grundstückskäufe in Mestre Girolamo Fracastoro (1476/78–1553) publiziert Syphilisschrift
1548
April: Tintoretto liefert das Sklavenwunder
1549
25. November : Der Giudecca-Canal friert zu, es herrscht extreme Kälte
1550
Amtsantritt Papst Julius’ III. (1487–1555) De vita hominis ultra 120 annos protrahenda (2. Auflage)
1551
Kauf des Palazzo Gritti in Padua 24. September : Anschlag Giulio da Muranos 23. November : Klage vor dem Rat der Zehn
1552
7. Januar : der Attentäter Giulio da Murano wird freigesprochen 25. März: Die Scuola di San Teodoro wird Scuola grande 7. Juli: Brief an den Stadtrat von Ravenna bzgl. der Gründung des Kollegiums »Palazzo Ravenna« 12. Oktober : offizielle Gründung des Kollegiums Statuten des Palazzo Ravenna (1. Auflage; nicht erhalten) Gedenkmedaille Allessandro Vittorias zur Eröffnung des Palazzo Ravenna (Apoll bekränzt einen Löwen)
1553
Doge Marcantonio Trevisan (1475–1554) 23. August: Hauskauf zur Erweiterung des Kollegiums 5. September : Bewilligung zum Bau der Fassade von San Giuliano 12. September : Vermessung der alten Fassade von San Giuliano De vita hominis ultra 120 annos protrahenda (3. Auflage)
1554
27. August: Alberghetti verpflichtet sich zum Gießen der Bronzestatue Doge Francesco Vernier (1554–1556)
1555
9. Januar : Alberghetti erhält das Gipsmodell zur Bronzestatue Papst Paul IV. (1476–1559) De vita hominis ultra 120 annos protrahenda (4. Auflage) 22. November : Der erkrankte Alberghetti gibt die Wachsform zurück Carlo Sigonio (1524–1584) publiziert De nominibus Romanorum Venedig wird von der Pest heimgesucht
Tomaso Rangone und seine Zeit 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
1556
1557
313
2. März: Vertrag mit dem Gießer Tomaso delle Sagome und Giacomo di Conti Doge Lorenzo Priuli (1489–1559) 28. Oktober : die Attentäter Dominico und Melchior Pelosio werden verurteilt Come l’huomo puo vivere piu di 120 anni (Vinegia 1556) 1. Februar : Auslieferung der Bronzestatue 8. Februar : Abschluss der Arbeiten an der Fassade von San Giuliano Tomaso Rangone gibt zur Einweihung der Kirchenfassade bei Alessandro Vittoria eine Bronzemedaille in Auftrag (Virtus bekränzt Stier) Vittoria eine Bronzemedaille in Auftrag (Virtus bekränzt Stier) 13. März: Beschluss des Neubaus der Fassade von San Geminiano 14. September : Brief Tomaso Rangones an Marc Antonio Benavides
1558
8. Januar : Marius Filologus wird als filius naturalis anerkannt und zum alleinigen Erben erklärt 8. Februar : Vertrag zum Neubau des Kirchenschiffes von San Giuliano De vita Principum et Venetorum semper commoda: consilium (Venetijs 1558) Alvise Cornaro (1475–1566) publiziert den Trattato de la vita sobria
1559
26. April: Tomaso bietet den Söhnen seiner Nichte Giulia ein kostenloses Studium am Palazzo Ravenna an Doge Girolamo Priuli (1486–1567) 17. September : Brand im Palazzo Ravenna in Padua Papst Pius’ IV. (1517–1561)
1560
Wiederaufbau des Palazzo Ravenna (durch Sansovino?) 28. Juli: Mitglied der Scuola grande di San Marco 6. Oktober : Tomaso Rangone wird unter die Zonta gewählt De vita hominis ultra 120 annos protrahenda (5. Auflage) Kupferstich Lambert Zutmanns (1510–1567)
1561
Antrag auf Waffenlizenz wird gewährt Handschriftliches Bibibliotheksverzeichnis
1562
9. März: Guardian grande der Scuola grande di San Marco; Tomaso gibt bei Alessandro Vittoria eine Gedenkmedaille in Auftrag 14. März: Der Doge Priuli ernennt Tomaso Rangone zum Cavaliere Tomaso gibt bei Matteo Pagano eine weitere Gedenkmedaille in Auftrag Mai: Verhandlungen der Scuola grande di San Marco über den Markuswunder-Zyklus 25. Oktober : Tomaso Rangone verspricht der Scuola Gelder etc. für die Aufstellung einer Portrait-Statue (28. Oktober : Anfechtung des Beschlusses) 1. Dezember : Tod des Malers Andrea Schiavone (geb. 1510)
1563
24. Januar: Allessandro Vittoria tritt der Scuola grande di San Marco bei 7. März: Guardian grande der Scuola grande di San Teodoro Bevölkerung Venedigs steigt auf 160.000 John Dee (1527–1608) trifft in Venedig Tomaso Rangone
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Anhang
1564
13. April: Tomaso Rangone wird vom Dogen Priuli zum Cavaliere di San Giorgio ernannt 21. Juni: Aufnahme ins Collegium medicum 15. September : Prior des Collegiums
1565
De modo collegiandi (Venetijs 1565) De vita Principum et Venetorum semper commoda: consilium (2. Auflage; Venetijs 1565) Come i Veneziani possano vivere sempre sani (Vinegia 1565) 20. Juni: Druckprivileg für die Schrift De sale theriaco (nicht erhalten) 11. November : Ein Schiff aus Alexandria bringt die Pest nach Venedig 27. Mai: Steuererklärung 9. Juli: Tomaso annuliert die Testaments- und Erbbestimmungen 24. Oktober : Alessandro Vittoria ernennt Tomaso Rangone zum Testamentsvollstrecker Der Markuswunder-Zyklus hängt in der Sala grande der Scuola grande di San Marco
1566
1567
Adjunkt der Scuola grande di San Marco Doge Pietro Loredan (1482–1570)
1568
24./30. März: Guardian grande der Scuola grande die San Marco August: Bestellung neuer Fenster für die Capella der Scuola grande die San Marco (Lieferung 1573) 12. November : Bestellung eines Markusgemäldes bei Tintoretto
1569
3. April: Tomaso Rangone plant ein weiteres Kollegium bei San Giuliano Wahl zum Prior des Collegium medicum Mitglied der Zonta der Scuola grande di San Marco Statuten des Palazzo Ravenna (2. Auflage; 1569) Brand im Arsenal Hungersnot in Venedig
1570
Mitglied der Zonta der Scuola grande di San Marco 13. Februar : Governator der Seidenweberzunft 20. April: Procurator perpetuus von San Sepolcro Doge Alvise Mocenigo (1507–1577) Zypern fällt in die Hände der Türken 7. November : Drittes Testament Alessandro Vittorias 27. November : Tod Jacopo Sansovinos Alessandro Vittoria übernimmt den Portalbau von San Sepolcro Come i Veneziani possano vivere sempre sani (2. Auflage, Vinegia 1570) De vita principis, et Venetorum commoda semper : consilium (Venetijs 1570)
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1. April: großzügige Geschenke an die Scuola grande di San Marco 15. September : Bewilligung, nahe der Sakristei von San Geminiano einen Portikus zu errichten 25. September : Vertrag mit Francesco Semeraldi bzgl. San Geminiano 7. Oktober : Schlacht von Lepanto 15. Okober-7. Dezember : Entlohnung Smeraldis
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315
1572
Ernennung zum Comes palatinus durch Kaiser Maximilian II. 18. Mai: Guardian grande der Scuola grande dei Mercanti Come i venetiani possano sempre vivere sani (3. Auflage; Vinegia 1572)
1573
29. März: Verhandlungen über Donationen mit dem Kapitel und Kolleg von San Giovanni in Bragora 30. Mai: Aufhebung aller Erbschaftsverfügungen 10. August: Tomaso Rangone verweigert die Rücknahme der Markuswunder durch die Scuola grande di San Marco 10. September : Die Scuola grande di San Marco beschließt die Übermalung der Gemälde 22. März: Brand in der Merceria 12. Oktober : außergewöhnliches Hochwasser, das den Rekord von 1550 übersteigt Mitglied der Zonta der Scuola dei Mercanti De modo collegiandi (2. Auflage; Venetijs 1574)
1574
1575
26. März: »Monstergeburt« im Ghetto 25. Juni: Pestausbruch De microcosmi affectuum (Venetijs 1575) De modo collegiandi (3. Auflage ; Venetijs 1575) Tintoretto malt die Geburt der Milchstrasse
1576
9./11. April: Giovanni Arrigoni setzt sich bzgl. der Häuser in Ravenna ein 11. April: Brief Tomaso Rangones an den Stadtrat von Ravenna 23. Juni: die paduanischen Ärzte erklären die Pest für nicht ansteckend 2. August: Leitung des Kollegiums wird von einem Fideikommiss übernommen 27. August: Tod Tizians 8. September : Höhepunkt der Pest 5. Dezember : Abschwächung der Epidemie; Öffnung der Scuole De modo collegiandi (2. Auflage)
1577
Aufstellung der Bronzebüste von San Geminiano 11. Juni: Doge Sebastian Vernier Come i veneziani possano vivere sempre sani (4. Auflage 1577) De vita Principum, et Venetorum semper commoda: consilium (3. Auflage; Venetijs 1577) 13. Juli: Offizielles Ende der Epidemie 28. August: Übergabe des Testaments an den Notar Baldassare Fiume 10. September : Tod Tomaso Rangones 11./15. September : Aufbahrung und Leichenprozession 10. Dezember : Brand im Dogenpalast
1580
Weihung der Kirche von San Giuliano
1581
12. September : Marius Filologus nimmt Einsicht in das Testament
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Anhang
Danksagung Mit der hier vorliegenden Monographie wird nun erstmals eine Gesamtdarstellung von Leben und Werk des Arztes, Gelehrten und Mäzens Tomaso Rangone verfügbar. Die Realisierung dieses Buchprojekts wäre ohne die großzügige Gewährung eines Forschungsstipendiums und die Übernahme der Druckkosten durch die Fritz Thyssen Stiftung nicht möglich gewesen, der ich hiermit herzlich danke. Die Idee zu diesem Buchprojekt verdanke ich Herrn Prof. Dr. Robert Jütte, dem Vorstand des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, der diese Arbeit von den ersten Archivrecherchen bis zur Fertigstellung des Manuskripts begleitet und gefördert hat. Mein großer Dank gilt an dieser Stelle auch Herrn Dr. Erasmus Weddigen, der mir großzügerweise seine Materialen und Photographien zu Tomaso Rangones Leben und Werk zur Verfügung stellte und mir stets mit wertvollen Hinweisen zur Seite stand. Mein großer Dank gilt auch Frau Prof. Dr. Sabine Meine, der ehemaligen Direktorin des Deutschen Studienzentrums in Venedig, in dessen einzigartiger Atmosphäre ein Großteil dieses Buches entstanden ist, sowie meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Graduiertenkolleg Expertenkulturen vom 16.–18. Jahrhundert an der Universität Göttingen. Hilfreiche Anregungen erhielt ich von Mitarbeitern jener Archive und Bibliotheken, die über Dokumente zu Tomaso Rangones Leben und Werk verfügten. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt: Dott. Daniela Ferrari (Direktorin des Archivio di Stato, Mantua); Dott. Enrico Angiolini (Modena); Federica Collorafi (Archivio Rangoni Machiavelli, Modena); Floriana Amicucci (Biblioteca Classense, Ravenna); Prof. Giuseppe Rabotti (Archivio Arcivescovile, Ravenna); Dott. Massimo Ronchini (Direktor der Biblioteca Diocesana di Ravenna-Cervia »San Pier Crisologo«); Dott.ssa Anna Alberati (Biblioteca Casanatense, Rom); Dr. Nuria Casquete de Prado Sagrera (Direktorin der Biblioteca Colombina, Sevilla); Jack Eckert (Center for the History of Medicine, Francis A. Countway Library of Medicine, Boston); Liam Sims MA AKC (Chief Library Assistent, Rare Books Department, Cambridge University Library). Mein großer Dank gilt außerdem Herrn PD DDr. Thomas Posch (Wien) bezüglich Tomaso Rangones astronomischen und astrologischen Modellen, Dott. Gian Carlo Montanari (Modena) für Hinweise zum Stifterportrait Guido Rangonis und Dott. Niccol Zorzi (Padua) für anregende Diskussionen über die Inschriften an der Kirchenfassade von San Giuliano. Für Hinweise zu den Portraits Tomaso Rangone danke ich Katherine Marshall, Joanna Ling und Isabel Paulus (Sotheby’s London, Old Master Paintings) sowie Herrn Prof. Ezio Toffolutti (Venedig) und Frau Ludwika Lengert, M.A. (Münster).
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X.
Quellen- und Literaturverzeichnis
10.1 Archivalien und Handschriften AAB (Archivio archivescovile, Bologna) liber secretus 1504–1578, n. 3
ABSGFR (Archivio del Battistero di San Giovanni in Fonte, Ravenna) Battesimi, n.1 (1492–1518), n. 2 (1507–1550)
ASB (Archivio di Stato, Bologna) Libri segreti del Collegio del 1481 al 1575 Liber doctorum, 1518 Riformatori dello Studio, b. 35, f. 4 BO 0514
ASCPV (Archivio storico del Patriarcato, Venedig) S. Giuliano, Catastici e Inventari 1: Chatasticum eccelsiae M. D. Parrochia di S. Geminiano, Morti, reg. 1
ASMn (Archivio di Stato, Mantua) Fondo Gonzaga, b. 1374, b. 1460, b. 1292, b. 2929
ASR (Archivio di Stato, Ravenna) Notarile, Prot. 127, 148
ASUP (Archivio storico dell’Universit di Padova, Padua) b. 600–607
ASV (Archivio di Stato, Venezia) Arte della Seta, Arch. Capit. B2/554: Governatori Atti notarili, b. 657; b. 8103; b. 8105; b. 8107–8108; b. 8112; b. 8116–6118; b. 8121; b. 8129; b. 8131; b. 8147–8149; b. 8159; b. 8162
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Avogaria di comun, b. 3672; b. 3674; deliberazioni del Maggior Consiglio, b. 19 Cancelleria inferiore, Miscellanea, notai, b. 36; b. 39; b. 40; b. 42 Collegio, notatorio, reg. 22; reg. 39 Compilazione Leggi, serie 1, b. 27;, b. 337 Consiglio dei Dieci, parti comuni, b. 68; b. 82; reg. 25; Misti, reg. 45 Dieci savi sopra le Decime in Rialto, b. 126; b. 129; b. 368; reg. 367 Giudici del piovego, b. 21 Giustizia vecchia, b. 211 Maggior Consilio, civicus, b. 47 Notarile, testamenti, b. 421; b. 878; b. 1214 Procuratori di San Marco de ultra, b. 223 Procuratori di Supra, Atti amministrativi, b. 173 Procuratori di Supra, reg. 124 Procuratori di Supra, Cassier chiesa, reg. 2 (Microfilm, bobina 79) Provveditori sopra ospedali e luoghi pii, b.1, b. 2 Santo Uffizio, Processi, b. 16 Scuola grande di San Marco, Mariegola 4; reg. 19; reg. 21; reg. 22 Scuola grande di San Teodoro, reg. 1; reg. 10 Scuole piccole, b. 435 Secreta, materie miste e notabili, reg. 95 Senato, terra, reg. 25; b. 18 Sopraprovveditori e provveditori alla sanit, reg. 12; reg. 727; b. 587–591; b. 725–789 S. Zaccaria, b. 18, Commissaria Vittoria, Band 1
BAV (Biblioteca apostolica vaticana, Rom) Cod. Barb. Lat. 1211 R. I. IV. 1551.67 Ex 0001
BCaR (Biblioteca Casanatense, Rom) 83, 6P Vol. Misc. 1958.7
BCR (Biblioteca Classense, Ravenna) Mob. 3,1/K2, S25, 25, 28 Mis. P Mob. 3,3 H2 Mob. 3,8 V(a,b,c,), 3,4,5 (a,b,c,d)
BCS (Biblioteca Colombina, Sevilla) 12–1–15 (49); (50): (55); (56); (57); (62); (71); (81)
BCV (Biblioteca del Museo Correr, Venedig) Cod. Cic. 2006 Cod. Cic. 2612
Archivalien und Handschriften 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Cod. Cic. 2859 Ms. Cic. 1432 Ms. Cic. 1629 Ms. Cic. 3682 Mariegola 122 Ms. 1349 Ms. PD 303/C, f. 2
BMV (Biblioteca Marciana, Venedig) 5D 186 221.D.10–1,2 221.D.20–1,2 225.D.49 2697 (35) Misc. 249 (9); (14); (17) Misc. 273 (13) Misc. 507 (6) Misc. 1232 Misc. 2237 (1)-(5); (13) Misc. 2243 Misc. 2322 (3) Misc. 2472 (11) Misc. 2656 Misc. 2697 (35) Misc. 3531 (3) Ms. It. Cl., Nr. 66 (= 6730) Ms. It. Cl. II, Nr. 23–60 (=4860–4864) Ms. Lat. Cl. VII, Nr. 37 (=3601) Ms. It. Cl. VII, Nr. 1847 (=9617) Ms. It. Cl. VII, Nr. 1971 (=9042) Ms. It. Cl. VII, Nr. 2342 (=9695) Ms. It. Cl. VII, Nr. 2369 (=9667) Ms. Lat. Cl. VIII, Nr. 70 (= 2500) Ms. Lat. Cl. XI, Nr. 66 (=6730) Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 105 (= 4282) Ms. Lat. Cl. XIV, Nr. 282 (=4298)
BNN (Biblioteca nazionale, Neapel) Ms. VIII D 44
CML (Medical Scool, Countway Library, Harvard) Rare Books fAY81.A8R16
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Quellen- und Literaturverzeichnis
IRE (Istituzioni di Ricovero e di Educazione, Venedig) DER E 6 (Commissaria Scipion Rini) DER E 189, b. 3 (1581–1607) Commissaria Mass, b. 3 (1562)
WLL (Wellcome Library, London) Nr. 3365 Nr. 50977
10.2 Gedruckte Quellen (bis 1800) ASTRUC, JEAN: De morbis venereis libri novem, Parisijs 1740. BORSETTI, FERRANTE: Almi Gymnasij Ferrariensis historia, Ferrariae 1735. CAMPI, FRANCESCO: De morbo arietis libellus, Luca 1586. CARDANO, GIROLAMO: Opera omnia, tomus quintus, quo continentur astronomica, astrologica, oniro critica, aphorismor astronomic., Lugduni 1663. –, De vita propria liber, Parisijs 1643 (2. Auflage Amsterdam 1654). –, Opus novum cunctis De sanitate tuenda, Romae 1580. CARROLI, BERNARDINO: Instruzione del giovane ben creato, Ravenna 1581. CASTELLANI, LUIGI FRANCESCO: Vita del celebre medico mantovano Marcello Donati, Conte di Pozzano, segretario e consiglier, Mantova 1788. CONTARINI, GASPARE: De magistrato et Republica Venetorum, Parisijs und Venetijs 1544. CONTI, NATALE: De genere demonstrativo libri duo, Venetijs 1558. CREUTZFELD, STEPHANUS HIERONYMUS DI VIGILIIS: Bibliotheca chirurgica in qua res omnes ad chirurgiam pertinentes […], Vindabonae 1781. DOLCE, LUDOVICO: L’Achille et l’Enea, Vinegia 1572. FACCIOLATI, JACOBO: Fasti Gymnasij Patavini, Patavij 1757 (3 Bände). FIORAVANTI, LEONARDO: De capprici medicinali, Venezia 1565. FRACASTORO, GIROLAMO: Syphilidis, sive Morbi Gallici libri tres, Verona 1530. –, De contagionibus et contagiosis morbis et eorum curatione libri tres, Venetijs 1546. GARIMBERTI, GIROLAMO: La prima parte delle vite o vero fatti memorabili d’alcuni Papi et di tutti, Venezia 1817. GAUHE, J. FRIEDRICH: Historisches helden- und heldinnen-lexicon: in welchem das leben und die Thaten derer Generalen, Admiralen …., Leipzig 1716. GINANNI, M. ANTONIO: L’arte del blasone dichiarata per alfabeto, Venezia 1756. GINANNI, PIER PAOLO: Dissertazione epistolare nella letteratura ravennate, Ravenna 1749. –, Memorie storico-critiche degli scrittori ravennati, Faenza 1769 (2 Bände). GIRALDI, LILO GREGORIO: De sepulcris et vario sepeliendi ritu, Basilea 1539. GIRTANNER, CHRISTOPH: Abhandlung über die venerische Krankheit, Göttingen 1793. JOUBERT, LAURENT: Erreurs populaires au fait de la mdecine et de la sant, Bourdeaus 1578.
Gedruckte Quellen (bis 1800) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
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LEONICENO, NICCOL: De Plinij, et plurimorum aliorum medicorum in medicina erroribus, Ferarriae 1509. LOREDAN, GIOVANNI FRANCESCO: L’Incendio, [o. Ort] 1597. LUISINI, LUIGI: De morbo gallico omnia quae extant, Venetijs 1566–1567. –, Dialogo intitolato la cecit, Vinegia 1569. MACKENZIE, JAMES: The History of Health, and the Art of Preserving It, Edinburgh 1759. MANDINI, DOMENICO ANTONIO: La vecchiezza, trattato, Bologna 1800. MARINELLI, GIOVANNI: Practica Ioannis Arculani Veronensis (…), Venetijs 1560. MAROZZO, ACHILLE: Opera Nova chiamata duello, o Vero fiore dell’armi de singulari abattimenti offensivi, & difensivi, [ohne Ort] 1536. MASS, NICCOL: Liber de febre pestilentiali, ac de petechijs, variolibus et apostematibus petilentialis, Venetijs 1540. –, Raggionamento sopra le infermit che vengono dall’aere pestilenziale del presento anno 1555, Vinegia 1556. –, Epistolarum medicinalium tomus primus, Venetijs 1558. –, Epistolarum medicinalium tomus alter, Venetijs 1558. –, Diligens examen de venae sectione et sanguis missione in febribus et in alijs praeter naturam affectibus, Venetijs 1568. MATTIOLI, PIETRO ANDREA: Morbi Gallici novum ac utilissimum opusculum …, Bologna 1533. –, Di pedaico Dioscoride Anazarbeo libri cinque, Venetijs 1544; Venetijs 1554; Venetijs 1595. –, Comentarij in sex libros Pedacij Diocuridis Anazarbei de medica materia, Venetijs 1565. MORGAGNI, GIAMBATTISTA: Opuscula miscellanea, Venetijs 1763. PAPADOPOLI, NICOLAOS COMNENOS: Historia Gymnasij Patavini, Patavij 1726. PASOLINO, SERAFINO: Lustri Ravennati dall’anno 1521 al 1588, Forl 1684. –, Huomini illustri di Ravenna antica, Bologna 1703. PETRONIO, TRAJANO ALESSANDRO: Del viver delli Romani, e di conservar la sanit libri cinque … , Roma 1592. PLOUCQUET, GUILIELMUS GODOFREDUS DE: Literatura medica digesta sive Repertorium medicinae practicae, chirurgiae atque rei obsteticae, Tubingae 1814. PORTINARI, ANGELO: Della felicit di Padova, Padova 1623. POZZETTI, POMPILIO: Elogio di Marcello Donati, Modena 1791. ROMOLI, DOMENICO: La singolare dottrina di M. D. Romoli sopranominato Panonto, [o. Ort] 1560. RUZZANTE (ANDREA BEOLCO): Rhodiana. Comedia stupenda ridiculosissima piena d’argotissimi moti, & vari lingue recitata, ne mai pi stampata, Vinegia 1553. SAINT-DIDIER, ALEXANDRE TOUSSAINT LIMOJON DE: La ville et la Rpublique de Vnise, Paris 1680. SALOMON, GIACOMO: Urbis Patavinae inscriptiones sacrae et prophanae, Patavij 1701. SANSOVINO-MARTINIONI, FRANCESCO: Venetia, citt nobilissima et singolare, Venetia 1663. SPRENGEL, KURT POLYCARP JOACHIM: Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde, Halle 1792–1799.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
TIRABOSCHI, GIROLAMO: Storia della letteratura italiana, Milano 1784 (8 Bände). –, Biblioteca Modenese, Modena 1783. TOMAI, TOMASO: Historia di Ravenna dell’eccelente Sig. Thomaso Tomai, Pesaro 1574. TOMASINI, GIACOMO FILIPPO: Gymnasium Patavinum, Udini 1654.
10.3 Werke Tomaso Rangones in chronologischer Auflistung Juditio de Thomaso Philologo Gianotho Ravennate delo anno 1514, Bologna 1514. Pronostico sopra la significatione del mostro nato a Bologna: e nel Judicio suo del presente anno da lui pronosticato, Bologna 1514. Pronosticon anni 1515/Pronostico del anno 1515, Bologna 1514. Pronostico di Thomaso Philologo Ianotho Rhavennate dello anno 1516, [o.Ort] 1515. Pronosticon anni 1517, [o. Ort] 1516. Pronostico de lo anno 1518, Venetia 1517. Pronostino de lo anno 1519, Venetia [1518]. De mathematicarum praesertimque astrologiae laudibus et dignitate Oratio, Mutinae 1521. De optuma felicitate contra Aristotelem et Averoim ceteros necnon philosophos, Mutinae 1521. De vera Diluvij pronosticatione anni 1524 ad Kaolum max. imperatorem, Romae 1522. De la vera pronosticatione del Diluvio del mille e cinquecento e vintiquattro, [o.Ort, 1523]. De liberatione Francisci Francorum Regis Christianissimi, Mutinae 1525. Della discordia del pontefice et di Cesare [verloren]. De victu, et hominum salute [1528]. De pace universali, victu, et sanitate ac futuri belli eventu [o. Ort 1529]. Del vivere, del racolto e de la abondantia, [o. Ort] 1531. De repentinis, mortiferis et, ut ita dicam, miraculosis nostri temporis aegritudinibus, Venetijs 1535. Giudicio intitolato a Christo [1538 ? verloren]. Mali Galeci sanandi, vini ligni, et aquae unctionis,ceroti, suffumigij, praecipitati, ac reliquorum modi omnes, Venetijs 1537; 1538; 1545; 1575. Ne denuo humanum defraudetur genus (…), Venetijs 1544. De vita hominis ultra 120 annos protrahenda, Venetijs 1545; 1550; 1553; 1555; 1560. Come l’huomo puo vivere piu di 120 anni, Vinegia 1556. De vita Principum et Venetorum semper commoda: consilium, Venetijs 1558; 1565; 1577. Statuta Palatii Ravenna Patavi, a magnifico et generoso domino domino Thoma philologo Ravennate physico equite vivente conditi et fundati, Paduae, anno 1552; Venetijs 1569. De modo collegiandi, Venetijs 1565; 1574; 1575. Come i venetiani possano vivere sempre sani, Vinegia 1565; 1570; 1572; 1577. De vita principis, et Venetorum commoda semper : consilium, Venetijs 1570; 1577. De microcosmi affectuum, maris, foeminae, hermaphroditi, gallique miseria, Venetijs 1575.
Sekundärliteratur 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
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10.4 Sekundärliteratur ACKEREN, MARCEL VAN: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam 2003. ACQUAVIVA, SEBASTIANO: La ragazza del ghetto, Milano 1996. ACQUILECCHIA, GIOVANNI: Pietro Aretino e altri poligrafi a Venezia, in: Girolamo Arnaldi/Manlio Pastore Stocchi (Hrsg.), Storia della cultura veneta: Dal primo Quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1980, 61–98. ADAMSON, MELITTA WEISS: Medieval Dietetics: Food and Drink in Regimen Sanitatis Literature from 800 to 1400, Frankfurt a. M. 1995. ADVERSI, ALDO: Nuovi appunti su Ulisse Aldrovandi bibliofilo, bibliotecario e bibliografo e sulla inedita bibliologia, La Bibliofilia 68, 1966, 51–90. ADY, CECILIA M.: I Bentivoglio, Varese 1965. AGOSTI, BARBARA: Paolo Giovio. Uno storico lombardo nella cultura artistica del ’500, Firenze 2008. AGRESTI, GUGLIELMO DI: Serafino Razzi, Diario di viaggio di un ricercatore (1572), Pistoia 1971. AIKEMA, BERNARD/MEIJERS, DULCIA: Gli Incurabili, in: Bernard Aikema et al. (Hrsg.), Nel regno dei poveri: Arte e storia dei grandi ospedali veneziani in et moderna, 1474–1797, Venezia 1989, 131–148. ALBALA, KEN: Eating Right in the Renaissance, Berkeley/Los Angeles/London 2002. –, The Banquet: Dining in the Great Courts of Late Renaissance Europe, Urbana and Chicago 2007. ALEXANDER, SIDNEY (Hrsg.): Francesco Guicciardini, The History of Italy, Princeton 1984. ALGAZI, GADI: Eine gelernte Lebensweise: Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30, 2007, 107– 118. ALLEN, MICHAEL/REES, VALERY (Hrsg.): Marsilio Ficino: His Theology, His Philosophy, His Legacy, Leiden 2002. D’ALVERNY, MARIE-THRðSE: Avicenne et les mdecins de Vnise, in: Medioevo e Rinascimento. Studi in onore di B. Nardi, Firenze 1955, Band 1, 175–198. AMBIENTE SCIENTIFICO VENEZIANO TRA CINQUE E SEICENTO. Testimonianze d’Archivio. Mostra documentaria 27 luglio – 6 ottobre 1985, 16/4. D’AMICO JOHN F.: Renaissance Humanism in Papal Rome. Humanists and Churchmen on the Eve of the Reformation, Baltimore/London 1983. AMSTUTZ, JAKOB: Montaignes Begriff der Gesundheit, Heidelberger Jahrbuch 16, 1974, 101–122. ANAGNOSTOU, SABINE: Jesuiten in Spanisch-Amerika als Übermittler von heilkundlichem Wissen, Darmstadt 2000. ANONYMUS: Note On the Attempt to Poison Pope Leo X., Journal of the History of Medicine 13, 1958, 101–102. APOLLONIO, FERDINANDO: La chiesa e il convento di Santo Stefano in Venezia, dalle origini al XV secolo, Venezia 1911.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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10.5 Quellen im Internet www.cardinaliserenissima.uniud.it www.castellidimodena.it www.condottieridiventura.it
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Quellen- und Literaturverzeichnis
10.6 Abkürzungen ADB BBKL DBI DNP EM LM m.v.
= Allgemeine Deutsche Biographie (www.deutsche-biographie.de) = biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon (www.bbkl.de) = Dizionario biografico degli Italiani (www.treccani.it) = Der Neue Pauly (www. referenceworks.brillonline.com) = Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin 2005) = Lexikon des Mittelalters (München/Zürich 1980–1998) = more veneto
10.7 Verzeichnis der Abbildungen Titel: Jacopo Tintoretto, Venezianischer Senator mit Knabe (wohl Tomaso Rangone und seinen Sohn Marius darstellend), ca. 1560, teilweise beschnitten. Öl auf Leinwand, 106,5x81,5 cm. Privatbesitz. Aus: Katalog Sotheby’s (London), Old master paintings, London 1992, 62. Abb.1: Detailansicht der Bronzebüste Alessandro Vittorias in der Aula magna des Ateneo veneto. Fotos: Erasmus Weddigen. Abb. 2: Das Baptisterium der Orthodoxen in Ravenna. Foto: Wikipedia Commons. Fassade des sogenannten Theoderichpalastes. Foto: Wilfrid Krause. Abb. 3: Ausschnitt aus der Anatomia Mondino dei Liuzzis (Anatomia Mundini, ad vetustissimorum, erundemque aliquot manu scriptorum, codicum fidem collata, iustoque suo ordini restituta, Marpurgi 1541, 67). Abb. 4: Blick auf das Archiginnasio in Bologna. Foto: Luca Borghi. Seziersaal von 1637. Foto: Paolo Carboni. Abb. 5: Juditio de Thomaso Philologo Gianotho Ravennate delo Anno 1514, Bologna 1514. Foto: Biblioteca Colombina, Sevilla. Abb. 6: Portrait des venezianischen Kardinals Domenico Grimani in der Sala del Consiglio der Universität Bologna (Qua 125). Öl auf Leinwand, 65x48 (76x59) cm. Unbekannter Künstler (18. Jahrhundert). Alma mater studiorum – Universit di Bologna. Abb 7: Das Quirinal nach einem Stich von Giovanni Battista Piranesi. Aus: Vedute di Roma, Band I, Tafel 25 // Opere di Giovanni Battista Piranesi, Francesco Piranesi e d’altri, Paris 1835–1839. Abb. 8: Pronostino de lo anno 1519. Biblioteca Colombina, Sevilla. Abb. 9: Stifterbildnis Guido Rangonis (um 1523/24?) in der Sakristei der Kirche delle Grazie in Modena. Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Archconfraternit von San Geminiano. Abb. 10: De la vera pronosticatione del Diluvio, Modena 1522/1523. Biblioteca Colombina, Sevilla. Abb. 11: Die Festung Rocca Rangoni aus dem 13. Jahrhundert. Foto: www.castellidimodena.it Abb. 12: Fotos: Palazzo Te und Deckenfresko der Sala dei Giganti. Fotos: Di Marcok / it:wikipedia-Self-published work by Marcok, CC BY-SA 3.0, https://commons.wiki media.org/w/index.php?curid=625390. Sala dei Giganti: Wikipedia Commons.
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Abb. 13: Der Sacco di Roma (1527) in einer Darstellung von Marteen van Heemskerck (1498–1574). Wikipedia Commons. Abb. 14: Blick auf die Piazza San Marco und die Kirche San Geminiano nach Antonio Visentini (1688–1782). Aus: Le prospettive di Venezia dipinte da Canaletto e incise da Antonio Visentini, Venezia 1742 (Nachdruck 1995). Abb. 15: Abb. 15: Plastisches Marienbildnis aus Stuck, möglicherweise aus dem Besitz Tomaso Rangones. Museo Correr. Foto: Erasmus Weddigen. Abb. 16: Darstellung aus Guillaume Rondelet, Libri de piscibus marinis, in quibus verae piscium effigies expressae sunt, Lugduni 1554, 494. Abb. 17: Girolamo Fracastoro zeigt dem Schäfer Syphilus und dem Jäger Ilceus eine Statue der Venus. Aus: Erwin Panofsky, Homage to Fracastoro in a Germano-Flemish composition of about 1590?, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 1961, 12: 1–31, fig. 9. Abb. 18: Blick in die Einmündung der heutigen Via dei Savonarola und Fragment der ursprünglichen Inschriftentafel an der Fassade des Palazzo Ravenna. Foto: Sabine Herrmann. Abb. 19: Sitzstatue Tomaso Rangones über dem Portal der Kirche von San Giuliano. Foto: Sabine Herrmann. Abb. 20: Sitzstatue Tomaso Rangones über dem Portal der Kirche von San Giuliano, Details. Foto: Sabine Herrmann. Abb. 21: Portrait-Stich von Lambert Suavius (1560). Rijiksmuseum van Oudheden. Mit freundlicher Genehmigung vom Bildarchiv Marburg. Abb. 22: Blick auf die Kirche SS. Giovanni e Paolo und die Scuola grande di San Marco von Antonio Visentini (1688–1782). Aus: Le prospettive di Venezia dipinte da Canaletto e incise da Antonio Visentini, Venezia 1742 (Nachdruck 1995). Abb. 23: Jacopo Tintoretto, Sklavenwunder (ca. 1547/48). Gallerie dell’Accademia, Venedig. Aus: Erasmus Weddigen, Jacomo Tentor f. Myzelien zur Tintoretto-Forschung, München 2000, 40. Abb. 24: Die Wunderheilungen Marci von Jacopo Tintoretto (1562). Brera, Mailand. Aus: Aus: Erasmus Weddigen, Jacomo Tentor f. Myzelien zur Tintoretto-Forschung, München 2000,157. Abb. 25: Die Rettung des Leichnams Marci vor der Verbrennung und Die Rettung des Sarazenen. Gallerie dell’Accademia, Venedig. Aus: Erasmus Weddigen, Jacomo Tentor f. Myzelien zur Tintoretto-Forschung, München 2000, 161. Abb. 26: Statue des Heiligen Thomas, die Alessandro Vittoria in seinem Testament (1566) Tomaso Rangone vermacht hatte. Seminario patriarcale, Venedig. Foto: Sabine Herrmann.
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