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German Pages [173] Year 2022
Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur
Band 352
Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl Herausgegeben von Bernd Auerochs, Heinrich Detering und Maria Moog-Grünewald
Editorial Board: Irene Albers, Elisabeth Galvan, Julika Griem, Achim Hölter, Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler, Per Øhrgaard
Yvonne Nilges
Thomas Mann in München Religion und Narration
Mit 6 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Am Schreibtisch. München, ca. 1922 (Zuschnitt). Fotograf: Theodor Hilsdorf, München / Atelier mit Friedrich Müller. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv: TMA_0067. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0303-4607 ISBN 978-3-7370-1469-4
Inhalt
Anmerkung zur Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung: Thomas Manns »Melancholie der Moderne« . . . . . . . . .
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(Kunst-)Religion und Erzählkunst I: Das Frühwerk als quasi-religiöse Lebensform 1) Buddenbrooks (1901): Traditionsverlagerungen . . . . . . . . . . . . .
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2) Frühe Erzählungen und Fiorenza (1907): Ungleiche Steigerungen . . .
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(Kunst-)Religion und Erzählkunst II: Vom Nachteil und Nutzen quasi-religiöser Referenzrahmen 1) Betrachtungen eines Unpolitischen (1918): Alte Heiligkeitspraktiken, neue Krisenreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2) Der Zauberberg (1924): Komplexe Verflechtungen . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anmerkung zur Zitierweise
Die Band- und Seitennachweise aus den Werken Thomas Manns beziehen sich im Folgenden, wo immer möglich, auf die Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA): Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Werke – Briefe – Tagebücher, 38 Bde., hg. von Andreas Blödorn, Heinrich Detering, Eckhard Heftrich [u. a.], Frankfurt a. M. 2002ff. Sofern einschlägige Bände der GKFA bislang noch nicht erschienen sind, wird folgende Ausgabe verwendet: Thomas Mann, Gesammelte Werke in 13 Bänden, Frankfurt a. M. 1990. Die Band- und Seitennachweise werden im Text jeweils in Klammern angegeben. Bei der GKFA erfolgt die Bandzählung in arabischen, bei den Gesammelten Werken in römischen Zahlen. *** Die Notizbücher Thomas Manns werden im Folgenden mit der Sigle NB angeführt: Thomas Mann, Notizbücher, 2 Bde., hg. von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin, Frankfurt a. M. 1991/1992.
Einleitung: Thomas Manns »Melancholie der Moderne« Es ist nicht so, daß er [der Literat] ausdrückte, nachdem er erlebt und erkannt hat. Dies ist eher noch die Art des Dichters. Der Literat drückt aus, indem er erlebt, er erlebt, indem er ausdrückt, und er erlebt, um auszudrücken. (Thomas Mann, »Der Literat«, 1913 [14.1, S. 357])
Die vorliegende Darstellung untersucht Religion und Narration bei ›Thomas Mann in München‹. Hier handelt es sich um die fruchtbare Verknüpfung gleich zweier zentraler Forschungsdesiderate: Während die (kunst)religiöse Motivik in den Werken des frühen und ›mittleren‹ Thomas Mann erstmals zusammenhängend erschlossen wird, behandelt die Studie ebenfalls zum ersten Mal die einschlägigen Texte Thomas Manns im Kontext der aktuellen Erzählforschung. Religion und Narration gehen nach Nietzsches epochalem Diktum »Gott ist tot« eine zusehends dynamisch werdende Verbindung in Manns Münchner Werken ein, die von der Forschung so noch nicht beleuchtet worden ist. Dieser Nexus ist der Gegenstand folgender Seiten. Sowohl die ›religiöse Frage‹ als auch die narrative Technik wurden im Hinblick auf Thomas Mann lange zu Unrecht unterschätzt. Beides hat in der ThomasMann-Forschung erst in den letzten Jahren größere Aufmerksamkeit erlangt (dies im Kontext der interdisziplinären Wissensgeschichte bzw. der Neueren Literaturtheorien). Beide Forschungsfelder sind bislang jedoch nur punktuell und noch gar nicht in Verbindung zueinander untersucht worden. Diese Studie wird darlegen, dass – und inwiefern – Religion und Narration in den Münchner Werken Thomas Manns tatsächlich so viel mehr darstellen als nur die Summe ihrer Teile.1 1 Zum Religionsthema bei Thomas Mann – dort auch im Hinblick auf Manns Spätwerk – vgl. bereits den detaillierten Forschungsüberblick bei Yvonne Nilges, »Thomas Mann und die Religion«, in: Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert: Motive, Sprechweisen, Medien, hg. von Tim Lörke und Robert Walter-Jochum, Göttingen 2015, S. 51–74. – Seit der Jahrtausendwende ist eine verstärkte Erforschung religiöser Teilaspekte bei Thomas Mann beobachtbar. Dies ist sicher auch auf die Forschungsdiskussion jenseits von Thomas Mann zurückzuführen: Die dichotomische Struktur und Funktionalisierung von Sakralität ist von epistemologischem Interesse für die Kulturwissenschaften geworden (s. z. B. Albrecht Koschorke, »›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹: Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne«, in: Moderne und Religion: Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, hg. von Ulrich Willems, Detlef Pollack, Helene Basu [u. a.], Bielefeld 2013, S. 237–260). Ab den 1990er Jahren entstanden, ausgehend von der amerikanischen Literaturwissenschaft, verein-
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Einleitung
Bei Gérard Genette, dessen strukturalistische Erzähltheorie für die Literaturwissenschaft inzwischen grundlegend geworden ist, bezeichnet die Narration den Akt des Erzählens, der die Erzählung (als den Signifikanten) hervorbringt.2 Da das fiktionale Erzählen jedoch auch die Histoire (als das Signifikat) mit einschließt, ergänzen der narrative Inhalt und die narrative Form sich im Allgemeinen immer, wenn auch beides meist voneinander separiert betrachtet wird. Die heutige Erzähltheorie verweist auf zwei komplementäre Konzepte, die dieser Intraverschränktheit Rechnung tragen: das ›Was‹ und das ›Wie‹ des narrativen Textes.3 Auch die vorliegende Darstellung wird der Komplexität des Gegenstandes halber jeweils zunächst die (kunst)religiöse Motivik analysieren (I.), bevor das Erzählverfahren gesondert in den Blick genommen wird (II.). Beide Komponenten werden am Schluss eines jeweiligen Kapitels gemeinsam resümiert werden (III.). Auf den ersten Blick, das dokumentiert die Forschungsgeschichte, scheinen sowohl die Religion (als das religionsbezogene ›Was‹ des Erzählens) als auch die Narration (als das technische ›Wie‹ des Erzählens) bei Thomas Mann nur sehr bedingt neue Erkenntnisse zu liefern – und schon gar nicht scheint beides dialektisch zusammenzugehören: Weder war Thomas Mann im traditionellen Sinn besonders ›gläubig‹ (oder dessen Gegenteil), so dass sich dies in seinen Werken auf markante Weise hätte niederschlagen können, noch war er ein Vertreter radikal neuer Erzählverfahren. Doch lohnt, so möchte diese Studie begründen, ein nachdrücklicher zweiter Blick. Die literaturgeschichtliche Einordnung Thomas Manns ist in den letzten Jahren verstärkt diskutiert worden.4 Auch literarhistorisch ist es daher sinnvoll, zelte Studien auch zu narrativen Teilaspekten in ausgewählten Werken Thomas Manns, die bis heute aktuell geblieben sind (s. dazu die in dieser Darstellung thematisierten Forschungsbeiträge). Vor wenigen Jahren ist der erste einschlägige Sammelband zu selektiven Fragestellungen bei Thomas Mann erschienen: Der Geist der Erzählung: Narratologische Studien zu Thomas Mann, hg. von Regine Zeller, Jens Ewen und Tim Lörke, Würzburg 2017. 2 Gérard Genette: Die Erzählung [1966–1972], aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort von Jochen Vogt, überprüft und berichtigt von Isabel Kranz, 3., durchgesehene und korrigierte Aufl., Paderborn 2010, S. 12. Genettes Erzähltheorie erschien erst 1994 in deutscher Übersetzung, so dass die Rezeption im deutschsprachigen Raum mit einiger Zeitverzögerung einsetzte. 3 Vgl. dazu das Standardwerk von Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 10. Aufl., München 2016, S. 22–28. 4 S. etwa Friedhelm Marx, »Thomas Manns Buddenbrooks zwischen Realismus und Moderne«, in: Zeitschrift für deutschsprachige Kultur und Literatur 20 (2011): 253–275. Für Sabina Becker gehört Mann aufgrund fehlender Avantgarde-Praktiken (Simultanparadigma, Montagetechnik usw.) eher nicht zur literarischen Moderne: Sabina Becker, »Zwischen Klassizität und Moderne: Die Romanpoetik Thomas Manns«, in: Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, hg. von Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich und Gerhard Lauer, Berlin 2009, S. 97– 121; vgl. auch dies., »Jenseits der Metropolen: Thomas Manns Romanästhetik in der Weimarer
Einleitung
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das Verhältnis von Religion und Narration bei ›Thomas Mann in München‹ systematisch näher zu betrachten. Indem die Narrative des Religiösen beim frühen und ›mittleren‹ Thomas Mann erstmals eingehend erhellt werden, erscheint auch Manns Stellung zwischen Realismus und Moderne, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, in einem unvermutet aufschlussreichen Licht. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass das fiktionale Erzählen bei Thomas Mann die Illusion einer faktualen Erzählung fördert und insofern in der Tradition des Realismus steht; dies nicht nur erzählpragmatisch, sondern auch in der Beschaffenheit der Welt des Textes (die homogen, stabil, natürlich ist) sowie in der Verankerung des Handlungsraums in der realen Geographie (oftmals markiert durch Toponyme). Indessen wird die vorliegende Darstellung zu zeigen unternehmen, dass ›Thomas Mann in München‹ der melancholisch ausgerichteten Moderne zugerechnet werden kann: Die »Melancholie der Moderne«, so der Postmoderne-Theoretiker Jean-François Lyotard, sei durch die drückende Entfremdung von sich selbst bestimmt.5 Bereits der noch ganz junge Thomas Mann, so wird nachfolgend deutlich werden, kann in diesem Sinn der melancholischen Moderne zugeordnet werden, und zwar in Religion und Narration. Dies erfordert keine »[l]etzte Lockerung« traditioneller Paradigmen (was auch beim späten sowie ›letzten‹ Thomas Mann so bleiben wird; »Letzte Lockerung« lautet demgegenüber das avantgardistische Manifest des Dadaisten Walter Serner [1920]).6 Fraglos bleibt, dass Thomas Manns Erzähltexte dem dialogistischen, polyphonen Roman im Sinne Julia Kristevas nicht entsprechen.7 Doch setzt das breite, differenzierte Spektrum der literarischen Moderne einen demonstrativen Bruch mit der Vergangenheit nicht zwangsläufig voraus. Was in Manns Münchner Werken statt radikaler Neusetzungen vorliegt, sind subtilere Verlagerungen, die Republik«, in: Thomas Mann Jahrbuch 22 (2009): 83–97. Anders Jens Ewen: »Moderne ohne Tempo: Zur literaturgeschichtlichen Kategorisierung Thomas Manns – am Beispiel von Der Zauberberg und Unordnung und frühes Leid«, in: Wortkunst ohne Zweifel? Aspekte der Sprache bei Thomas Mann, hg. von Katrin Max, Würzburg 2013, S. 77–99. Im Hinblick auf den Zauberberg (1924) spricht Andreas Kablitz von Manns »Selbstkritik des Realismus« (Andreas Kablitz, Der Zauberberg: Die Zergliederung der Welt, Heidelberg 2017, S. 570). 5 Jean-François Lyotard mit Jacques Derrida, François Burkhardt [u. a.], Immaterialität und Postmoderne, aus dem Französischen von Marianne Karbe, Berlin 1985, S. 38f. 6 Mit Rücksicht auf allgemeine Charakteristika der literarischen Moderne in Abgrenzung zum Realismus vgl. Michael Titzmann, »›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹: Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹«, in: ders., Realismus und Frühe Moderne: Beispielinterpretationen und Systematisierungsversuche, München 2009, S. 275–307, sowie Marianne Wünsch, »Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels«, in: dies., Moderne und Gegenwart: Erzählstrukturen in Film und Literatur, München 2012, S. 9–30. 7 Julia Kristeva, »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, hg. von Dorothee Kimmich, Stuttgart 1996, S. 334–348.
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Einleitung
am religiösen und narrativen Diskurs der Zeit differenziell partizipieren. Es werden – in Religion wie Narration – konventionelle Direktive unterlaufen und in einen melancholisch modernen Referenzrahmen verschoben. Der komplexe Zusammenhang von (Kunst-)Religion und Erzählkunst tritt in Manns Münchner Werken zunehmend deutlicher hervor (dies zumal über die Entwicklung der literarischen Leitmotivtechnik, die Inhalt und Form des narrativen Textes eng miteinander verflicht) – bis schließlich hin zum Fazit eines expliziten sowie eines impliziten Religionsverständnisses beim Autor Thomas Mann. Das explizite Religionsverständnis betrifft die ›religiöse Frage‹ auf einem relativ direkten Weg, indem es in der erzählten Welt bedeutsam wird – unter Rekurs zumal auf Nietzsches ›Theothanatologie‹. Das implizite Religionsverständnis zeigt sich hingegen sehr viel indirekter über die Gestaltung der Erzählpragmatik – in Anlehnung an das ›Erzählverfahren‹ Richard Wagners. Während die explizite ›religiöse Frage‹ in Manns Münchner Werken krisenhaft belastet ist, erfährt das implizite Religionsverständnis, das sich an Wagners musikalischer Erzähltechnik orientiert, kein solches gravierendes Dilemma, sondern entfaltet sich im Gegenteil kontinuierlich – als unterschwellige kunstreligiöse Praxis, die von Mann in dieser Eigenschaft nicht reflektiert wird; dies trotz seiner (vor eben diesem Hintergrund) an Wagner geäußerten Kritik. Religion und Narration sind in den Münchner Werken Thomas Manns nie voneinander unabhängige Komplexe. Sie bedingen einander – als Kunstreligion und insgeheim kunstreligiöse Erzählkunst. Doch während der explizite religiöse Inhalt sich für Mann als diffizil erweist, prosperiert die narrative Form und offenbart sich so zuletzt als implizite Antwort auf dieselbe ›religiöse Frage‹ – die in der Schreib- und Darstellungsweise mithin am unbefangensten behandelt wird. (Bezeichnenderweise ist es nicht etwa ein Erzähltext, sondern ausgerechnet ein Theaterstück: Manns einziges Drama Fiorenza [1907], in dem Thomas Mann sein Religionsverständnis am gezwungensten traktiert.8) Bei ›Thomas Mann in München‹ reflektieren Religion und Narration die Signatur der Zeit über Verschiebungen traditioneller Paradigmen. Dabei werden der Inhalt (Religionsthematik) und die Form (Erzählverfahren) vom Autor allerdings in unterschiedlicher Intensität ›seziert‹. Was die explizite Religionsthematik anbelangt, so waren weder alttradierte Glaubenssätze noch die romantische, affirmative Kunstreligion Richard Wagners nach der Lektüre von Nietzsches Schriften für Thomas Mann noch glaubwürdig; eindringlich spiegelt 8 Und obwohl die dramatische Pointierung Thomas Mann nicht lag, galt auch sein letzter, Fragment gebliebener Werkplan Luthers Hochzeit (1955) abermals dem Drama – erneut in dezidierter Ausrichtung an Richard Wagner. Bereits das frühe, nicht erhaltene antiklerikale Werk Die Priester, das Mann als Schüler unter dem Eindruck von Schillers Don Karlos (1787) verfasst hatte, war ein Drama – mit religiöser Problematik – gewesen. Vgl. dazu X, S. 798 (»Briefe Richard Wagners«; 1951) bzw. XIII, S. 132 (»On Myself«; 1940).
Einleitung
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sich diese Zerrissenheit in seinen Münchner Werken. Im impliziten Religionsverständnis unterdessen (als dem ›Wie‹ des Erzählens) ist dieser Konflikt nicht auszumachen: Die kunstreligiöse Affinität zu Wagners Musiktheater zeigt sich ganz ohne skrupulöse Vorbehalte in der narrativen Adaption von Wagners musikalischem Erzählverfahren. In Manns eigener Erzählpragmatik bleibt der kunstreligiöse Bezugsrahmen insofern verdeckt – gleichsam im Unbewussten – und wird von seinem Autor in dieser Latenz nicht problematisiert. Der »Melancholie der Moderne« entspricht es denn auch, dass Thomas Manns Erzähltechnik sich nicht am neuen, aufstrebenden Medium des Films orientiert, sondern am ›dekadenten‹ Medium der (Wagner-)Oper. Kein »Schreiben wie Film« also (wie bei Franz Kafka oder später Irmgard Keun, wo die montageartige Aneinanderreihung u. a. durch einen parataktischen Schreibstil realisiert wird), sondern ein ›Schreiben wie (Wagner-)Oper‹, bei dem es jedoch gerade die fließenden Übergänge sind, die gleichermaßen melancholisch und innovativ wirken.9 Die Erzählpragmatik wird beim frühen und ›mittleren‹ Thomas Mann immer mehr nach Richard Wagners Vorgaben entwickelt und perfektioniert. Dies, mit Genettes bekannten Termini zu sprechen, sukzessive in der Darstellung des Modus, der Stimme und der Zeit, gleichwohl – und dies prägt Thomas Manns spezielle Leitmotivik – mit einer ambigen Handlungsmotivierung in der ›religiösen Frage‹, deren Ironie von Wagner abweicht und die in der erzählten Welt dem Skeptizismus Nietzsches folgt (vgl. die resümierende Grafik am Ende des Zauberberg-Kapitels). Nirgends zeigt sich die intrinsische Verbindung von Religion und Narration bei Thomas Mann so deutlich wie in der Ausbildung der Leitmotivtechnik, in der das Erzählte und das Erzählen stetig komplexer ineinandergreifen und sich wechselseitig kommentieren. Die Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder (1933–1943) mit ihrer »schöne[n] Geschichte und Gotteserfindung« (8.1, S. 1920) wird später den temporären Hoch-, nicht aber auch den Endpunkt des Verhältnisses von Religion und Narration in Thomas Manns Gesamtwerk bilden.10 Indes beschränkt sich diese Darstellung bewusst auf ›Thomas Mann in München‹, da in den Münchner Werken Thomas Manns das Fundament gelegt wird, das auch für den späten und 9 Die musikalisch-literarische Leitmotivtechnik antizipiert in ihrer voll entwickelten Komplexität bereits die filmische Verknüpfung von aktuellem und virtuellem (d. h. Erinnerungs-) Bild, die Gilles Deleuze in seiner kinematographischen Theorie der Bewegungsbildzeichen das »Zeit-Bild« nennt. – Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1 [1983], aus dem Französischen von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt a. M. 1989, sowie ders., Das Zeit-Bild: Kino 2 [1985], aus dem Französischen von Klaus Englert, Frankfurt a. M. 1991. 10 In den Josephsromanen, die nachfolgend in perspektivischer Verkürzung wiederholt zur Sprache kommen werden, wird der Mythos – und mit ihm der Humor, der in der Aufhebung der Gegensätze liegt – Thomas Manns ironisches Prinzip der religiösen Ambiguität relativieren.
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Einleitung
den ›letzten‹ Thomas Mann valide bleiben soll. Ein grundsätzlicher Ebenen- und Paradigmenwechsel ist mit der melancholischen Moderne Thomas Manns auch später auf die Dauer nicht vereinbar – und dies erneut, was Religion und Narration betrifft.11 Untersucht werden Manns Narrative des Religiösen im Folgenden gezielt auch unter Einschluss des Dramas Fiorenza (1907), der metatextuellen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) und der Essays, Briefe sowie der Notiz- und Tagebücher, die Manns fiktionales Erzählen einschlägig komplementieren. Die Studie enthält bislang unbekannte Archivabbildungen zum Religionsunterricht des jungen Thomas Mann am Katharineum zu Lübeck (1889–1894), die im Buddenbrooks-Kapitel umfassend erläutert werden, sowie digitale Textanalysen (dies ebenfalls im Buddenbrooks-Kapitel). In einer zusehends enger werdenden Verflechtung von Religion und Narration, so wird nachfolgend darzulegen sein, zeugen bereits die Münchner Werke Thomas Manns von einer ›Suche nach dem verlorenen Gott‹, die Agnes E. Meyer späterhin dazu bewegen sollte, ein entsprechendes Buch über Tolstoi, Dostojewski und Thomas Mann zu planen. (Dazu liegen auch Fragmente vor, die sich in Meyers Nachlass in der Library of Congress in Washington befinden.) »[D]ieses Triptychon sollte den Titel The God-Seekers tragen«, was Thomas Mann wie folgt kommentierte: »Auf meine Art suche auch ich wohl Gott oder das Gute und Rechte, oder was es nun sein mag, um was man sich’s sauer werden lässt.«12 Thomas Manns ›Heterodoxie‹, die von der Forschung mehrfach konstatiert wurde, ist ein melancholisches, modernes »Suchen« nach Sinnstiftung, nach Transzendenz und nach dem Numinosen – ein Suchen, bei dem die Grenzen zwischen Theologie und Anthropologie bezeichnenderweise in Frage gestellt werden: Ich sehe […] im Religiösen etwas sehr Menschliches und in der Theologie eine Wissenschaft vom Menschen und nicht – von Gott. Wie sollte man von dem auch wohl Wissenschaft haben.13
Zugleich entsteht aus diesem »Suchen« im Anschluss an Nietzsches »Gott ist tot« auch Thomas Manns charakteristische Erzähltechnik.
11 Dies gilt zuletzt auch für Manns späte Nähe zur undogmatischen Einheitskirche der amerikanischen Unitarier; vgl. dazu Heinrich Detering, Thomas Manns amerikanische Religion: Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann, Frankfurt a. M. 2012. 12 Hans R. Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner: Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952, Frankfurt a. M. 2011, hier S. 180. 13 Thomas Mann, Briefe, 3 Bde., hg. von Erika Mann, Frankfurt a. M. 1962–1965, Bd. 2, S. 410 (Brief vom 23. Januar 1945 an Jonas Lesser).
Einleitung
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Diese ist, wie Mann im Jahr 1922 in seiner überarbeiteten »Auseinandersetzung mit Wagner« konzediert, zwar kein »Bekenntnis zu Wagner«, doch ist es gleichwohl ein »Bekenntnis«: ein implizites, kunstreligiöses »Bekenntnis über Wagner« [eigene Hervorhebung], indem Wagners »epische Mittel […] so stimulierend wie sonst nichts in der Welt auf meinen jugendlichen Kunsttrieb wirkten, […] auch dergleichen zu machen.« (14.1, S. 302; 14.2, S. 429) Was den Begriff der Form, des »Werkes« anbelange, so Thomas Mann fünf Jahre später, »schulde ich« Wagner »Unaussprechliches und zweifle nicht, daß die Spuren meines frühen und fortlaufenden Wagner-Werk-Erlebnisses überall deutlich sind in dem, was ich herstellte.« (X, S. 895: »Wie stehen wir heute zu Richard Wagner?«) Und im letzten Münchner Vortrag vor seinem Exil, »Leiden und Größe Richard Wagners« (1933), klingt die »quasi-religiöse« Qualität der eigenen Erzähltechnik schließlich in diesen Worten an:14 Die Passion [!] für Wagners zaubervolles Werk begleitet mein Leben, seit ich seiner zuerst gewahr wurde und es mir zu erobern, es mit Erkenntnis zu durchringen begann. […] Meine Neugier nach ihr [Wagners Kunst] ist nie ermüdet; ich bin nicht satt geworden, sie zu belauschen, zu bewundern, zu überwachen – nicht ohne Mißtrauen, ich gebe es zu; aber die Zweifel, Einwände, Beanstandungen taten ihr so wenig Abbruch wie die unsterbliche Wagnerkritik Nietzsche’s, die ich immer als einen Panegyrikus mit umgekehrtem Vorzeichen, als eine andere Form der Verherrlichung empfunden habe. (IX, S. 373)
Die vorliegende Darstellung lädt dazu ein, Religion und Narration bei ›Thomas Mann in München‹ erstmals eingehend und systematisch nachzugehen: als der komplexen Genese von (Kunst-)Religion und Erzählkunst in Thomas Manns ›Laufbahn als Schriftsteller‹.
14 Den Terminus der »Quasi-Religionen« hat der gleichfalls im Jahr 1933 emigrierte evangelische Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich (1886–1965) eingeführt, mit dem Thomas Mann in den USA korrespondierte. In quasi-religiösen Praktiken, so Tillich, schlage »die Kritik der traditionellen Religionen« im Zuge der Krise der Moderne um »in alternative Formen der Religiosität«. – Paul Tillich, Gesammelte Werke, 14 Bde. und sechs Ergänzungsund Nachlassbände, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959–1983, hier Bd. 5, S. 51 (»Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen«; 1962).
(Kunst-)Religion und Erzählkunst I: Das Frühwerk als quasi-religiöse Lebensform
1)
Buddenbrooks (1901): Traditionsverlagerungen Kann bloß Vergangnes dein Gemüt ergötzen, Nicht frische, warme That? Was blickst du rückwärts nach den alten Götzen Wie Julian, der Apostat? (August von Platen, »An einen Ultra«, 1831; von Thomas Mann als Motto für Buddenbrooks erwogen)1
Thomas Manns Buddenbrooks illustrieren nicht nur den »Verfall einer Familie«, wie ihn der Untertitel des Romans als Teil des Paratextes ankündigt; ebenso, und damit einhergehend, schildern sie den Niedergang traditioneller Glaubenssätze vor dem Hintergrund der Säkularisierung.2 Die Erosion althergebrachter Heilsinhalte prägt die erzählte Welt von Manns Romandebüt umgekehrt proportional zur graduellen Sublimierung der Nerven und des Intellekts. Dabei erweist sich die scheinbare Historizität der ›religiösen Frage‹, die nach Nietzsches epochalem Diktum »Gott ist tot« weitreichende Folgen zeitigte, jedoch nicht etwa als Historie, sondern vielmehr als ein Prozess fortschreitender Historisierung: Dies, indem tradierte, als ›überständig‹ evozierte Glaubenslehren zwar verfallen, aber keineswegs aufhören, in anderer Form wirksam zu sein.3 Traditionelle Glaubensinhalte, das lässt Manns Roman erkennen, erübrigen sich zunächst nicht, sondern verlagern sich; sie haben nach wie vor grundlegenden Bestand, doch verschiebt sich mit jeder Buddenbrook-Generation der vormalige Fokus. Nicht nur das Religionsthema, auch die narrative Technik ist in Buddenbrooks durch metonymische Wandlungen gekennzeichnet. Die Auseinandersetzung mit der Tradition betrifft in diesem Falle realistische Erzählverfahren: Auch sie be1 August von Platen, Werke, 2 Bde., kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe, hg. von Georg A. Wolff und Viktor Schweizer, Leipzig/Wien 1895, hier Bd. 1, S. 84; NB 1, S. 163f. Die Platen-Ausgabe (mit Thomas Manns Anstreichungen) ist in Manns Nachlassbibliothek erhalten. 2 Zum Begriff der Paratextualität (und vier weiteren Formen der »Transtextualität«: Intertextualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität) vgl. das Werk von Gérard Genette: Palimpseste: Die Literatur auf zweiter Stufe [1982], aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993. 3 Im Jahr 1896 hatte der junge Thomas Mann die Fröhliche Wissenschaft (1882/1887) und die Morgenröte (1881) käuflich erworben (NB 1, S. 50). Diese Nietzsche-Texte sind – neben Der Fall Wagner (1888), den Mann sich bereits im Vorjahr angeschafft hatte (ebd.) – in ihrer kritischen Ausrichtung von besonderer Bedeutung: In der Fröhlichen Wissenschaft kulminiert im »Gott ist tot«-Zitat (Aphorismus 125) Nietzsches ›Theothanatologie‹; die Morgenröte enthält zumal in ihrem dritten Hauptstück (57–96) breite Textpartien, in denen das Christentum von Grund auf destruiert wird.
20
Buddenbrooks (1901)
stehen weiter fort, während auch sie jedoch zugleich historisiert und abweichend gestaltet werden. Es sind in beiden Fällen keine gänzlich neuen Setzungen, sondern – nuancierter – subversive, differenzielle Traditions-Verlagerungen. Bemerkenswert ist hier wie dort daher nicht die bereits vollzogene Distanz, sondern die progressive Distanzierung, die sich thematisch (Religion) wie formal (Erzähltechnik) in Thomas Manns erstem Roman dokumentiert. Was noch nicht historisch – in sich abgeschlossen – ist, sondern sich erst selbst historisch wird, hinterlässt Unbestimmtheitsstellen, die nach Bestimmung und anderweitiger Identifikation verlangen. In dieser Hinsicht sind Manns Buddenbrooks paradigmatisch für die Krise der Moderne. Dem Alten verhaftet, dabei gleichzeitig zum Neuen strebend, verdeutlicht Manns Romanerstling in subtiler Ausdifferenzierung die Melancholie der Moderne, die der Postmoderne-Theoretiker Jean-François Lyotard als »unmögliche Trauer« bezeichnet hat. Das Bewusstsein, so Lyotard, sei in der »Melancholie der Moderne« nämlich »noch nicht« und gleichzeitig »nicht mehr es selbst […, da] seiner Identität zugleich voraus- und hinterherlaufend. Also« – in einem Paradox begriffen – »leidend.«4 Wie diese Zerrissenheit indes auch literarische Innovation befördert – als ›Geburt der melancholischen Moderne aus dem Geiste des Konflikts‹ –, veranschaulicht der Nexus von Religion und Narration in Thomas Manns Romandebüt, dem wir uns nun eingehend zuwenden.
4 Jean-François Lyotard mit Jacques Derrida, François Burkhardt [u. a.], Immaterialität und Postmoderne, aus dem Französischen von Marianne Karbe, Berlin 1985, S. 38f.
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Buddenbrooks (1901)
– Buddenbrooks: Distributionsdiagramm des Wortes »Gott« – Die folgende Grafik zeigt die Häufigkeit und Verteilung des Wortes »Gott« im Text. Buddenbrooks 50
Phrase Gott
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
1 00
relative startoffset binned in 10 steps
Quelle: CATMA 6 (Computer Assisted Text Markup and Analysis): Jan Christoph Meister, Marco Petris, Christian Bruck, Malte Meister, Marie Flüh, Jan Horstmann, Janina Jacke, Mareike Schumacher, Evelyn Gius. (2019, 30. Oktober) CATMA (Version 6.0.0). Zenodo. http://doi.org /10.5281/zenodo/3523228.
I. In Buddenbrooks rücken die Folgen verlorener Glaubensgewissheiten ins Zentrum der erzählten Welt, wobei Kompensation nur in ästhetischer Hinsicht gelingt. (Dies wird für Manns Selbstinszenierung im literarischen Feld später noch bedeutsam werden.) Was das Eingebundensein in die Idee der Transzendenz betrifft, so stellt sich die ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ in Manns erstem Roman als nachgerade symptomatisch dar: Es ist, in allen dargestellten Mani-
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Buddenbrooks (1901)
festationen, ein Suchen und beständiges Nicht-Finden in moderner »transzendentaler Obdachlosigkeit« (Georg Lukács).5 Die religiösen und theologischen Bezüge in Buddenbrooks sind, zumal seit der Jahrtausendwende und dem Zentenarium dieses Romans, in Einzelstudien verschiedentlich thematisiert worden. Manns religiöser Erziehung und Vorbildung freilich wurde bislang kaum Beachtung beigemessen. Dabei wirft das Curriculum am Katharineum zu Lübeck ein ganz neues Licht auf diesen Ausgangspunkt: auf die stupende Vertrautheit des noch sehr jungen Thomas Mann mit sachgemäßen Fragestellungen, die man ihm bislang – in der zu zeigenden Profundität – durchaus nicht zugetraut hatte. Die Schuljahresberichte des Katharineums von 1889 bis 1894 sind für unseren Zusammenhang besonders instruktiv. Es sind jene fünf Jahre, in denen Thomas Mann (mit zwei Wiederholungen) die Untertertia bis Untersekunda im realgymnasialen Zweig als Schüler durchlief. Aus den Schuljahresberichten des Katharineums geht hervor, dass Manns schulische Religionskenntnisse weit gründlicher und ausgedehnter waren, als gemeinhin angenommen wurde.6 5 »[D]enn die Form des Romans ist, wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit«. – Georg Lukács, Die Theorie des Romans: Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, S. 23f. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht hat Michail Bachtin hier den Verlust der »Folklorezeit« geltend gemacht, der – in einem weit gefassten Moderne-Verständnis – bereits mit der poetischen Kategorie des Sentimentalischen beginnt: Die »Ganzheit des […] Lebens [ist verloren]. Leben und Tod werden nun lediglich innerhalb der Grenzen eines abgeschlossenen individuellen Daseins wahrgenommen […], das zudem unter seinem inneren subjektiven Aspekt gefaßt wird. […] Der Komplex fällt auseinander […], und die Dominante wird auf den Tod übertragen […]. Der Tod ist hier […] nicht mehr ein Moment des Lebens selbst, er wird wieder zu einem Phänomen, das an der Grenze zwischen dem irdischen und einem möglichen anderen Leben liegt. Die ganze Problematik ist in den Grenzen der individuellen und geschlossenen Lebensreihe konzentriert.« – Michail Bachtin, Chronotopos [d.i. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik; 1973], aus dem Russischen von Michael Dewey, mit einem Nachwort hg. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2017, S. 131ff. 6 Das Katharineum zu Lübeck, namentlich die Leiterin des Schularchivs, Frau Karin Saage, hat mir die Originale der Schuljahresberichte zur Verfügung gestellt, wofür ich an dieser Stelle herzlich danke. Im Folgenden dienen als Quelle die religiösen Lehrinhalte des Katharineums, die in den jeweiligen Jahresberichten referiert werden: Einladung zu den auf den 27. und 28. März 1890 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor, Lübeck 1890, S. 76 (Thomas Manns erstes Jahr: Untertertia); Einladung zu den auf den 19. und 20. März 1891 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor, Lübeck 1891, S. 12 (Thomas Manns zweites Jahr: Wiederholung der Untertertia); Einladung zu den auf den 7. und 8. April 1892 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor, Lübeck 1892, S. 60 (Thomas Manns drittes Jahr: Obertertia); Einladung zu den auf den 23. und 24. März 1893 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor, Lübeck 1893, S. 73 (Thomas Manns viertes Jahr: Untersekunda); Einladung zu den auf
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Die religiösen Lehrinhalte am Katharineum belegen, dass der junge Thomas Mann entgegen weitverbreiteter Forschungsmeinung durchaus ein firmer Bibelkenner war. Während Manns Schulzeit waren nahezu sämtliche Inhalte des Alten wie des Neuen Testamentes nacheinander Bestandteil des Curriculums, und während zunächst das exegetische Studium bestimmend war, kam später ebenso das bibelwissenschaftliche im Hinblick auf die synoptischen Evangelien hinzu. Benutzt wurde, wie zu erwarten, die Heilige Schrift in Luthers Übersetzung; durchgängiges Hilfsmittel war dabei das »für den Gebrauch theologischer Studenten« (!) konzipierte Lehrbuch von Ludwig Noack über Die biblische Theologie (1853).7 Bereits aus dieser Zielgruppe erhellt, welch genaue, ja avancierte Kenntnisse wir schon beim Schüler Thomas Mann vorauszusetzen haben.8 Manns Religionsunterricht umfasste auch ausführlich liturgische Aspekte. Als Grundlage diente das Lübeckische evangelisch-lutherische Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst und die häusliche Andacht, von dem im fraglichen Zeitraum zwei Auflagen – der Jahre 1889 und 1890 – existierten. Da die Nummerierung der Gesangbuchlieder in den Auflagen des 19. Jahrhunderts dieselbe blieb, erlauben die Schuljahresberichte für Thomas Mann eindeutige Aufschlüsse darüber, wann welche Lieder Gegenstand des religiösen Unterrichtes waren.9 Dies gilt auch für das Kirchenlied, das Tony am Sterbebett ihres Bruders in Buddenbrooks bemüht: Um fünf Uhr ließ Frau Permaneder sich zu einer Unbedachtsamkeit hinreißen. Ihrer Schwägerin gegenüber am Bette sitzend, begann sie plötzlich, unter Anwendung ihrer Kehlkopfstimme sehr laut und mit gefalteten Händen, einen Gesang zu sprechen … »Mach’ End’, o Herr«, sagte sie, und Alles hörte ihr regungslos zu – »mach’ Ende mit aller seiner Not; stärk’ seine Füß’ und Hände und laß bis in den Tod …« Aber sie betete so sehr aus Herzensgrund, daß sie sich immer nur mit dem Worte beschäftigte, welches sie grade aussprach, und nicht erwog, daß sie die Strophe gar nicht zu Ende wisse und nach dem dritten Verse jämmerlich stecken bleiben müsse. Das that sie, brach mit
den 15. und 16. März 1894 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor, Lübeck 1894, S. 55 (Thomas Manns fünftes Jahr: Wiederholung der Untersekunda). Ich danke dem Katharineum für die Abdruckgenehmigung der weiter unten stehenden Abbildungen. 7 Ludwig Noack, Die biblische Theologie: Einleitung in’s Alte und Neue Testament und Darstellung des Lehrgehaltes der biblischen Bücher. Nach ihrer Entstehung und ihrem geschichtlichen Verhältniss. Ein Handbuch zum Selbstunterricht, Halle 1853, S. III (Vorwort). 8 Die Archivbestände habe ich – dort noch ohne Abbildungen – erstmals 2017 vorgestellt: Yvonne Nilges, »Hanno, Hiob und das Heil: Neue Archivfunde zu Thomas Manns Buddenbrooks«, in: Thomas Mann Jahrbuch 30 (2017): 195–214. 9 Vgl. z. B. auch die identischen Auflagen von 1859 und 1899. Im Folgenden kann daher ohne Weiteres die erste Auflage des Jahres 1859 herangezogen werden: Lübeckisches evangelischlutherisches Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst und die häusliche Andacht, auf Verordnung eines hohen Senates ausgefertigt durch das Ministerium, Lübeck 1859.
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erhobener Stimme ab und ersetzte den Schluß durch die erhöhte Würde ihrer Haltung. Jedermann im Zimmer wartete und zog sich zusammen vor Geniertheit. (1.1, S. 754f.)
Es handelt sich hier um die zwölfte und letzte Strophe des Kirchenliedes »Befiehl du deine Wege« (1676) von Paul Gerhardt, das Tony beim Tod ihres Bruders reflexartig anstimmt. Im Lübeckischen evangelisch-lutherischen Gesangbuch steht dieses Lied unter der Rubrik »Vom Vertrauen und von der Ergebung in Gott« und trägt die Nummer 287: Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Noth, stärk unsre Füß und Hände, und laß bis in den Tod uns allzeit deiner Pflege und Treu empfohlen sein, so gehen unsre Wege gewiß zum Himmel ein.10
Aus den Schuljahresberichten des Katharineums erhellt, dass Thomas Mann dieses traditionelle Kirchenlied im Hildebrandston eingehend in der Untertertia behandelte. (Da Mann die Klasse wiederholte, geschah dies zweimal; siehe hierzu die Abbildung der religiösen Unterrichtsinhalte in der Untertertia auf der nächsten Seite.) Wie wichtig dieser Verweis dem jungen Thomas Mann in seiner Konzeption von Buddenbrooks gewesen ist, verdeutlicht die Aufzeichnung in seinem Notizbuch: Tonys »Gebet an Th […] Sterbelager: ›Mach End’, o Herr, mach Ende …‹« (NB 1, S. 115).
10 Ebd., S. 192.
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– Thomas Manns Religionsunterricht in der Untertertia: Unterrichtsinhalte –
Quelle: Einladung zu den auf den 27. und 28. März 1890 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor, Lübeck 1890, S. 76. (Katharineum zu Lübeck: Schularchiv)
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Schließlich war auch Luthers Kleiner Katechismus ein substanzieller Teil des Lehrplans am Katharineum: Erklärung des kleinen Katechismus Luthers (1837) in der fünften Auflage von 1886.11 Zwar ist bekannt, dass Anfang und Ende des Romans von Beginn an als miteinander verbunden konzipiert wurden: Der Beginn des Werkes rekurriert mit seiner Katechismusfrage auf den ersten Artikel (»Von der Schöpfung«), der Schluss hingegen auf den dritten Artikel (»Von der Heiligung«) des zweiten Hauptstückes von Luthers Kleinem Katechismus.12 Erst das Archivmaterial des Katharineums erlaubt es allerdings, dies in Relation zu Manns Biographie zu setzen. So behandelte Mann dieses zweite Hauptstück des Kleinen Katechismus, das dem christlichen Glaubensbekenntnis gilt, eingehend in der Obertertia. In Buddenbrooks werden der erste und der dritte Artikel des zweiten Hauptstückes von Luthers Kleinem Katechismus (Romananfang bzw. -ende) in einen Kontext eingebettet, der ein religiöses ›Bekenntnis‹ im traditionellen Sinne unterläuft. Dies wird – wie oben bei Paul Gerhardts Kirchenlied – besonders am Prinzip der religiösen ›Leerstelle‹ erkennbar; hier betrifft sie das Fehlen des zweiten Artikels.13 Der zweite – in Buddenbrooks ausgelassene – Artikel eben jenes zweiten Hauptstückes von Luthers Kleinem Katechismus trägt die Überschrift »Von der Erlösung«: Es ist dies der Christusartikel, doch während der erste und der dritte Artikel im Roman noch eine – relative und relativierte – Resonanz finden, fehlt der sie verbindende zweite Artikel (als ein fürwahr ›geistiges Band‹), fehlt der zentrale Erlösungs-Artikel als geistige Zentrierung. 11 S. dazu bereits Ada Kadelbach, »Was ist das? Ein neuer Blick auf einen berühmten Romananfang und die Lübecker Katechismen«, in: »Buddenbrooks«: Neue Blicke in ein altes Buch, hg. von Manfred Eickhölter und Hans Wißkirchen, Lübeck 2000, S. 36–47, S. 41. Auf die Unterrichtsinhalte am Katharineum wird dort jedoch noch nicht Bezug genommen. Kadelbach legt in ihrer Untersuchung dar, wie Thomas Mann zu Beginn von Buddenbrooks das Erscheinungsjahr des Katechismus von 1837 auf zwei Jahre vordatiert (Erklärung des kleinen Katechismus Luthers mit eines hochedlen und hochweisen Rathes Genehmhaltung zum öffentlichen Gebrauche herausgegeben von einem ehrwürdigen Ministerio der freien Stadt Lübeck, Lübeck 1837). Zudem »hätte er für das fiktive Erscheinungsjahr 1835 historisch korrekt in jedem Fall Rat statt Senat verwenden müssen.« (S. 41) Mit Recht vermutet daher Kadelbach, dass der Romananfang nicht nur auf den Lübeckischen Katechismus verweist, sondern auch eine Reminiszenz an das Lübeckische Gesangbuch (mit dem »Senat« im Titel, s. Anm. 9) ist. 12 Vgl. dazu schon früh Eberhard Lämmert, »Thomas Manns Buddenbrooks«, in: Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart, 2 Bde., hg. von Benno von Wiese, Düsseldorf 1963, hier Bd. 2, S. 190–233. S. auch Manns Romannotizen: NB 1, S. 67 und S. 74. 13 Zur Begrifflichkeit der »Leerstelle« vgl. bereits die phänomenologisch orientierte Literaturtheorie Roman Ingardens: Das literarische Kunstwerk: Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft, Halle 1931, und später die rezeptionsästhetische Wirkungstheorie Wolfgang Isers: Die Appellstruktur der Texte: Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970. Kognitionspsychologisch betrachtet, ist es bei Leerstellen nicht möglich, schlüssige Inferenzen vorzunehmen, d. h. die Unbestimmtheitsstellen des Textes sinnvoll zu ergänzen.
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– Thomas Manns Religionsunterricht in der Untertertia: Verteilung des Unterrichts an die Lehrer – Das Katharineum zu Lübeck war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zweigeteilt. Kennzeichnend hierfür in den Schuljahresberichten ist der Zusatz »a«, der auf das altsprachliche Gymnasium verweist, sowie der Zusatz »b« für den realgymnasialen Zweig, den Thomas Mann von 1889 bis 1894 absolvierte. In der Untertertia des Realgymnasiums (UIII b) gab es zwei Parallelklassen (UIII b 1 und UIII b 2), die Christian Mertens beide nicht unterrichtete (s. dazu die folgende Seite).
Quelle: Einladung zu den auf den 27. und 28. März 1890 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor, Lübeck 1890, S. 66. (Katharineum zu Lübeck: Schularchiv)
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Bekannt ist durch die Veröffentlichung von Manns Notizbüchern inzwischen ebenfalls, dass für Hannos Religionslehrer Ballerstedt der Oberlehrer Christian Mertens am Katharineum Pate stand: »Mertens in Unter Secunda« lautet Manns einschlägiger Vermerk zu Hanno in seinem Notizbuch (NB 1, S. 96). Die Schuljahresberichte des Katharineums dokumentieren, wie sich der Religionsunterricht für den jungen Thomas Mann konkret gestaltete, was abermals zu neuen Erkenntnissen führt. So fand der schulische Hiob-Unterricht im Roman (1.1, S. 785–790) für Mann selbst nicht in der Real-Untersekunda (wie bei Hanno), sondern ausschließlich früher: in der Real-Untertertia, statt – ein Lehrinhalt, den Mann besonders intensiv, mit Hilfe von Ludwig Noacks Lehrbuch, durchnahm, da er diese Klasse wiederholte und der Lehrplan beim zweiten Mal derselbe blieb. In Manns Untertertia jedoch, wo u. a. die biblische Geschichte Hiobs durchgenommen wurde, ist Christian Mertens nicht Manns Religionslehrer gewesen; er wurde dies erst später – in den beiden Jahren, während derer Mann tatsächlich die Untersekunda besuchte.14 Hiob gehörte dann jedoch nicht länger zum Curriculum. Das heißt, Hannos religiöse Unterweisung über Hiob bei Oberlehrer Ballerstedt, die in Buddenbrooks in der Untersekunda erfolgt, bezieht sich auf Manns eigenen Lehrinhalt zwei Schuljahre zuvor – ohne Oberlehrer Mertens. Dass die Hiob-Episode in Hannos Untersekunda, d. h. sehr spät in der erzählten Zeit, beschrieben wird – unmittelbar vor Hannos Typhuserkrankung und vor seinem Tod –, erfüllt in Manns Roman einen doppelten Zweck. Wie Hiob, so wird auch den Buddenbrooks bald alles genommen werden – mit dem markanten Unterschied jedoch, dass der Zustand nach dem ›Kreuz‹: Hiobs schließliche Erhöhung, im Roman analogielos bleibt – so, wie denn auch Hiobs Situation »nach vorbesagtem Jammer« (1.1, S. 788) in der Schilderung von Hannos Religionsstunde nicht vorkommt. Zweitens wird an dieser Stelle auf eine 14 Vgl. dazu die Unterrichtsverteilung an die Lehrer in den Schuljahresberichten: Einladung zu den auf den 27. und 28. März 1890 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor (Anm. 6), S. 66 (Thomas Manns erstes Jahr: Untertertia); Einladung zu den auf den 19. und 20. März 1891 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor (Anm. 6), S. 2 (Thomas Manns zweites Jahr: Wiederholung der Untertertia); Einladung zu den auf den 7. und 8. April 1892 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor (Anm. 6), S. 50 (Thomas Manns drittes Jahr: Obertertia); Einladung zu den auf den 23. und 24. März 1893 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor (Anm. 6), S. 72 (Thomas Manns viertes Jahr: Untersekunda); Einladung zu den auf den 15. und 16. März 1894 angeordneten öffentlichen Prüfungen und Redeübungen der Schüler des Katharineums zu Lübeck von Dr. Julius Schubring, Direktor und Professor (Anm. 6), S. 46 (Thomas Manns fünftes Jahr: Wiederholung der Untersekunda).
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Erwartungshaltung angespielt, die nicht erfüllt wird, so dass erneut eine religiöse ›Leerstelle‹ im Text entsteht. (Auf die Bedeutung dieser ›Leerstellen‹ für die Erzähltechnik werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen.) Mit Hiob wird traditionell auch die Theodizee-Frage bedeutungsvoll – ein theologisches Problem, das Oberlehrer Ballerstedt in Hannos Religionsstunde gar nicht behandelt, in dem Thomas Mann jedoch – in der von ihm wiederholten Untertertia – gleich zweimal unterrichtet wurde. Beleg dafür ist Ludwig Noacks Lehrbuch über Die biblische Theologie, das nach den Schuljahresberichten des Katharineums den Religionsunterricht komplementierte. Bei Ludwig Noack (1819–1885), einem heute unbekannten evangelischen Theologen – die Theologische Realenzyklopädie verzeichnet seinen Namen nicht –, werden wir zu der Geschichte Hiobs nicht allein (wie in Buddenbrooks) auf eine bloße Inhaltsübersicht verwiesen. Vielmehr geht das Lehrbuch des jungen Thomas Mann unter summarischer Darstellung der theologischen Kritik, v. a. die Echtheit der Reden Elihus betreffend, auch auf sprachliche und inhaltliche Datierungsversuche ein und konzentriert sich auf eine detaillierte Exegese. Diese kontrastiert auffallend mit der anspruchs- und beziehungslosen religiösen Unterweisung im Roman. Noack betont bei Hiob »die mit dem Zweifel kämpfende Teleologie der Hebräer« und fährt fort: [S]o stellt sich das Ganze nach seinem didaktischen Zwecke als ein Versuch dar, sich über den zweifelerweckenden gewöhnlichen Vergeltungsglauben zu einer höhern Aussicht zu erheben, was […] insofern gelungen ist, als gelehrt wird, dass auch der Unschuldige leiden könne und nicht murren, sondern in den Rathschluss des Höchsten mit Vertrauen sich ergeben müsse.15
Das eben ist die Providenzthematik!16 Theodizee bedeutet bei Hiob Prüfungsleiden als Bestandteil der göttlichen Vorsehung, was theoretisch in direkter Beziehung steht zu dem »Spruch, der überm Eingang« des Buddenbrookhauses »in altertümlichen Lettern gemeißelt stand«: »Dominus providebit.« (1.1, S. 47) Praktisch wird diese thematische Verbindung im Roman jedoch nicht hergestellt, so dass die traditionelle Heilslehre als Leere evoziert wird. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt« (Hiob 1, 21): Es ist bedeutsam, dass der Religionsunterricht, der dem 15 Ludwig Noack, Die biblische Theologie (Anm. 7), S. 92f. 16 Zur Providenz in Buddenbrooks vgl. v. a. Jan Rohls, »Thomas Mann und der Protestantismus: 100 Jahre Buddenbrooks«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002): 351–378, S. 354f. Rohls macht auf die bereits in der Erklärung zum Schöpfungsartikel anklingende Providenzthematik aufmerksam. Daran anknüpfend s. Gunther Wenz, der zu dem Schluss gelangt, dass am Romananfang »[d]ie providentielle Theologie, die der christlichen Protologie traditionell eingezeichnet ist, […] prinzipiell« bereits bezweifelt werde. – Gunther Wenz, »Thomas Manns Protestantismus«, in: Zwischen Himmel und Hölle: Thomas Mann und die Religion, hg. von Thomas Sprecher, Frankfurt a. M. 2012, S. 203–226, hier S. 214.
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jungen Hanno vermittelt wird, in Buddenbrooks rudimentär, kraft- und substanzlos bleibt – wie alle oben erörterten Aspekte, die traditionellen Glaubenssätzen gelten (Liturgie; Luthers Kleiner Katechismus; Hiob und die Theodizee; das Konzept der Vorsehung). Zwar bleibt das Thema der Erlösung nach wie vor zentral; doch werden konventionelle religiöse Heilsinhalte in Buddenbrooks mit jeder Generation in einen neuen, subjektiven Referenzrahmen verschoben. Dies deutet sich in der Dekadenzlinie neupietistischer Selbstdisziplinierung und übertriebenen Glaubenseifers bei Hannos Großeltern schon an und konkretisiert sich in der metaphysischen Ersatzreligion eines Nirwana-Fluchtpunktes nachfolgend bei Hannos Vater. Die Kulmination finden wir schließlich bei Hanno vor: eine Suche, die nicht länger eine (auch von kennzeichnenden Zweifeln begleitete) ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ im Sinne Hiobs ist, sondern die stattdessen ganz und gar zu einer Suche nach dem ›Gott‹ des Gralsmotives, Richard Wagner, wird. So ist es Wagner, der für Hanno die Stelle des Messias einnimmt. Mit anderen Worten: Erlösung – siehe Hiob 19,25: »ich weiß, dass mein Erlöser lebt« – wird mit jeder Generation in Buddenbrooks semantisch abweichend akzentuiert, wobei die Leitdifferenz des religiösen Systems, mit Niklas Luhmann zu sprechen, grundsätzlich dieselbe bleibt.17 Die Opposition von Immanenz und Transzendenz bleibt als binäre Code-Unterscheidung des religiösen Systems unhinterfragt und wird generationsübergreifend weitergegeben. Die Inhalte traditioneller Heilsbegriffe allerdings verlagern sich, indem sie sich zunehmend von alten Konventionsmustern entfernen.
17 Zu Niklas Luhmanns Systemtheorie vgl. dens., Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1980–1995.
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– Buddenbrooks: Vergleichendes Distributionsdiagramm der Wörter »Gott« und »Erlösung« – Die folgende Grafik setzt die Wörter »Gott« und »Erlösung« in Buddenbrooks statistisch zueinander in Beziehung: Das traditionelle Religionsverständnis schwindet, während nach »Erlösung« als Folge dessen anderswo gesucht wird. Buddenbrooks 50
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relative startoffset binned in 10 steps
Quelle: CATMA 6 (Computer Assisted Text Markup and Analysis): Jan Christoph Meister, Marco Petris, Christian Bruck, Malte Meister, Marie Flüh, Jan Horstmann, Janina Jacke, Mareike Schumacher, Evelyn Gius. (2019, 30. Oktober) CATMA (Version 6.0.0). Zenodo. http://doi.org /10.5281/zenodo/3523228.
Die Historisierung traditioneller Glaubensinhalte führt in Buddenbrooks zu diversen Surrogaten und alternativen Erlösungsvorstellungen. Dabei nimmt die Qual der subjektiven Wirklichkeitserfahrung zu: Weder der forcierte Neupietismus noch die philosophische Ersatzreligion in der Nachfolge Schopenhauers noch die musikalische Kunstreligion mit Richard Wagner als ›Erlöser‹ führen zu nicht-illusionärer, nicht-eskapistischer, d. h. stabiler, tragfähiger Sinnstiftung. (Vor diesem Hintergrund kann auch das Leiden Christians als Imitatio passionis
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angesehen werden:18 Die missglückende Imitatio Christi ist auf alle männlichen Buddenbrooks seit dem Konsul anwendbar, indem der Versuch, die ›Welt zu überwinden‹, zusehends in weltfremde Isolation mündet – ein pervertiertes Märtyrertum, das bei Christian jedoch, nomen est omen, besonders auffällig zutage tritt.) Auf diese Weise entsteht ein religiöses Vakuum, »welches das Gegenteil von Erfüllung zwar, aber doch […] Indiz einer Sehnsucht nach ihr« ist.19 Noack unterstreicht – und problematisiert – in seinem Lehrbuch, dass es zur Auflösung des religiösen Zweifels und zum guten Ende der alttestamentarischen Hiob-Geschichte eines Deus ex machina bedürfe: Im Buch Hiob tritt die religiöse Skepsis noch in ihrer allgemeinsten und unentwickeltsten Gestalt auf […]. Die Skepsis hat sich im Buch Hiob die Aufgabe gesetzt, den Streit wirklich zu schlichten, aber es kommt zu keiner Entscheidung [… in den Streitgesprächen der Freunde. Deswegen erscheint] der Herr […], um durch das unmittelbare Zeugniss seiner unendlichen Macht und Weisheit in seinen Werken den Streit zu schlichten und das Selbstbewusstsein zu nöthigen, mit der Anerkennung der göttlichen Macht zugleich seine eigne Nichtigkeit und gänzliche Abhängigkeit einzugestehen […]. Der […] entstandene Zwiespalt ist also in seinem Grunde keineswegs aufgehoben, sondern der Zweifel ist nur zurückgedrängt […]. Eine andere, tiefere Lösung des Problems konnte dem Hebraismus auf dem Boden seiner beschränkten Gottesanschauung nicht gelingen.20
Anders formuliert: Im Buch Hiob zeigt sich laut Noack unerachtet aller diskursiven Gelehrsamkeit eine atavistische Einstellung zu Gott – während Thomas Mann, dem dies am Katharineum vermittelt wurde, in Budddenbrooks ein diametral entgegengesetztes, sich selbst historisch werdendes Gottesverständnis in den Blick rückt. In beiden Fällen allerdings ist Gott nach subjektiver Wahrnehmung »vom Selbstbewusstsein unabhängig«, d. h. vom Menschen losgelöst, so dass sein dezidiertes »Hereintreten« in Form einer Epiphanie notwendig wird (welche, kunstreligiös, schließlich von Hanno in Wagner gesucht wird). Nicht vom »unentwickeltsten«, sondern gerade vom ›entwickeltsten‹, dekadenten Standpunkt aus spiegelt die Hiob-Geschichte in Buddenbrooks die Geschichte der Romanfamilie.21 18 Vgl. dazu Andreas Urs Sommer, »Der Bankrott ›protestantischer Ethik‹: Thomas Manns Buddenbrooks. Prolegomena einer religionsphilosophischen Romaninterpretation«, in: Wirkendes Wort 44 (1994): 88–110, S. 99. 19 Gunther Wenz, »Thomas Manns Protestantismus«, in: Zwischen Himmel und Hölle: Thomas Mann und die Religion (Anm. 16), hier S. 218. 20 Ludwig Noack, Die biblische Theologie (Anm. 7), S. 93f. 21 Dass die Idee der Religion eins mit der Idee der Menschheit als freiem Selbstbewusstsein in Gott sei, verweist auf Noacks Beeinflussung durch Hegel. Von dieser Nachwirkung zeugt auch Noacks Monographie, die Hegels Religionsphilosophie gewidmet ist und acht Jahre vor seinem Lehrbuch der Biblischen Theologie erschien: Der Religionsbegriff Hegels (1845). Was angedeutet wird, ist der Gedanke einer grundsätzlich nicht existenten Trennung zwischen
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Es ist denkwürdig, dass Mann, wie die Archivfunde des Katharineums darlegen, eine neue Nuancierung im Hinblick auf den Religionslehrer vornahm. Sein eigener Hiob-Unterricht, der nicht unter der Anleitung von Oberlehrer Mertens stattfand, war, wie wir oben nachvollzogen haben, gründlich und geistig anregend gewesen. Dennoch porträtiert Manns Romandebüt Hannos Lehrer Ballerstedt als fiktives Pendant zu Christian Mertens, dessen Religionsunterricht Mann in der Tat erlebte – allerdings, wie angeführt, erst später, als Hiob nicht mehr Gegenstand des Lehrplans war. Der Umstand, dass in Buddenbrooks ausgerechnet der Religionslehrer Mertens persifliert wird, der zum eigenen Hiob-Unterricht keinen Bezug hatte, zielt ab auf die Darstellung eines speziellen Habitus. Eine informative Beschreibung des Oberlehrers Mertens, die sich mit der Schilderung des Oberlehrers Ballerstedt in Buddenbrooks bis in die Physiognomie hinein weitgehend deckt, liefert Ludwig Ewers, ein Schulfreund Heinrich Manns. Mertens ging unter den Schülern des Katharineums laut Ewers »ein Schreckensruf voraus«: Natürlich, daß auch ich […] bleich und frierend saß, wie wenn ich in Travemünde zu lange im Wasser geblieben war, als der große, nach vorn gut gerundete Herr mit dem rotgelben Vollbart, dem immer schnell nachdunkelnden roten Gesicht und der langen, bis hinter den Hutrand in den Nacken sich rundenden Glatze erschien […; wenn Mertens gegenüber den Schülern seine Contenance verlor,] schwoll die Purpurglut zur Waberlohe an [.]
Hier wird, wie in Buddenbrooks, die Karikatur eines Religionslehrers gezeichnet.22 Wesentlich hierfür ist bei Ewers wie bei Thomas Mann die Darstellung des überreizten An- und Abschwellens, weshalb Hannos Oberlehrer Ballerstedt von den Schülern denn auch »Kakadu« genannt wird (1.1, S. 797) – eine Anspielung auf die Federhaube dieser Papageienart, die je nach Erregungszustand flach angelegt oder aber weit gesträubt ist. Ballerstedt alias Mertens wird als uninspirierter, papageienhaft repetitiver und unfähiger Religionslehrer psychologisch demontiert; ihn kennzeichnet ein Mischausdruck von Salbung und behaglicher Sinnlichkeit um die feuchten Lippen. [… D]a aber die Ruhe in der Klasse Vieles zu wünschen übrig ließ, erhob er den Kopf, streckte den Arm auf der Pultplatte aus und bewegte, während sein Gesicht langsam so Gott und Mensch, die der traditionellen Theologie entgegensteht, Thomas Mann jedoch zeitlebens fasziniert hat. Die partielle Identität von menschlichem und göttlichem Geist, die beständige Korrelation zwischen Gott und Mensch in der »rollenden Sphäre« wird die Josephsromane (1933–1943) essenziell bestimmen. Bei Noack, zu Thomas Manns Schulzeiten, finden wir im Hinblick auf das Buch Hiob erste Anzeichen für eine solche Deutung vor. 22 Ludwig Ewers, »Schattenbilder katharineischer Erinnerung«, in: Festschrift der Vierhundertjahrfeier des Katharineums zu Lübeck 1531–1931, Lübeck 1931, S. 123–130, hier S. 125. Die Einsichtnahme in die Festschrift verdanke ich abermals Frau Karin Saage vom Schularchiv des Katharineums.
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dunkelrot anschwoll, daß sein Bart hellgelb erschien, seine schwache und weiße Faust ein paar Mal kraftlos auf und nieder […; schließlich] schwoll [er] ab und gab sich zufrieden. Dies war so Oberlehrer Ballerstedts Art und Weise. Er hatte ehemals Prediger werden wollen, war dann jedoch durch seine Neigung zum Stottern wie durch seinen Hang zu weltlichem Wohlleben bestimmt worden, sich lieber der Pädagogik zuzuwenden. Er war Junggeselle, besaß einiges Vermögen, trug einen kleinen Brillanten am Finger und war dem Essen und Trinken herzlich zugetan. Er war derjenige Oberlehrer, der nur dienstlich mit seinen Standesgenossen […] verkehrte, täglich zweimal im ersten Gasthause speiste und Mitglied des »Klubs« war. Begegnete er größeren Schülern nachts um zwei oder drei Uhr irgendwo in der Stadt, so schwoll er an, brachte einen »Guten Morgen« zustande und ließ die Sache für beide Teile auf sich beruhen … (1.1, S. 785f.)
Hannos Hiob-Lehrer ist ebenso unglaubwürdig wie lächerlich: »Sie sehen, mein Interesse gilt hauptsächlich dem ethischen Moment«, schreibt Thomas Mann unter Rekurs auf Nietzsche am 11. Mai 1902 an Hugo Marcus, seinen »persönliche[n] Standpunkt« in der »vielberedeten Schulfrage« erläuternd (21, S. 199f., hier S. 200). Es ist bemerkenswert, dass Mann die pädagogische Tradition hier ebenso bewertet wie die religiöse: als theoretisch problematisch, als kulturelle Praxis jedoch »gut und richtig so, wie sie ist. Dies ist eine melancholische Wahrheit; aber es ist eine Wahrheit« (ebd.): die »Wahrheit« der »Melancholie der Moderne«. Die Diskrepanz von Form und Inhalt, von religiösem Schein und Sein, wird in Buddenbrooks über die Generationen hinweg auch anhand der anderen religiösen Autoritäten, der Pastoren, destruiert.23
23 Zur Konzeption der Pastoren vgl. z. B. Thomas Manns Notizbücher: NB 1, S. 26, S. 78 und S. 90; ferner Walter Jens, Die Buddenbrooks und ihre Pastoren: Zu Gast im Weihnachtshause Thomas Manns, Lübeck 1993, sowie Ada Kadelbach, »Thomas Mann und seine Kirche im Spiegel der Buddenbrooks«, in: Thomas Mann und seine Kirche, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover 2001, S. 9–23.
Buddenbrooks (1901)
– Thomas Manns Abgangszeugnis vom Katharineum zu Lübeck (1894) –
Quelle: Buddenbrookhaus, Lübeck; Original: Archiv der Hansestadt Lübeck (Katharineum Abgangszeugnisse 1888–95 Nr. 28: Thomas Mann).
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In Manns Abgangszeugnis vom Katharineum (16. März 1894) stellt die darin verzeichnete Religionsnote (»recht befr[iedigend]«) die beste Fachnote in dem ansonsten leistungsschwachen Zeugnis dar (s. dazu die vorherige Seite). Dies ist zwar bereits bekannt;24 dennoch überrascht es, wie vertraut der junge Thomas Mann mit religiösen Lehrinhalten tatsächlich gewesen ist – und wie sehr ihn religiöse Glaubenssätze von früh auf geprägt haben. Diese werden in der Welt des Textes konserviert und zugleich historisiert, indem sie zwar nicht aufgegeben, inhaltlich jedoch verlagert werden. Seine beste Abgangsnote erzielte der Untersekundaner Thomas Mann ausgerechnet bei eben jenem ungeliebten Religionslehrer, dessen Züge Hannos Oberlehrer Ballerstedt bestimmen: Christian Mertens.25 Nicht nur im schulischen, kirchlichen und allgemein sozialen Umfeld werden traditionelle Religionskonzepte in alternative Referenzrahmen verschoben. Auch die Buddenbrook-Familie entwickelt über die Dezennien hinweg differenzielle Heilsanschauungen, deren einstmals unmittelbarer Gottesbezug zunehmend verlorengeht. In dem Maße, wie dieser Prozess voranschreitet, schwinden auch das ursprüngliche Selbstverständnis, Authentizität, Integrität und Mitgefühl; erste Anzeichen dafür finden sich bereits zu Beginn des Romans, was den aus der Familie verstoßenen Gotthold betrifft. Der erste Schritt dieser inneren Auflösung besteht zunächst in einer äußeren Forcierung, d. h. in einer Verstärkung der Form. Der Konsul und später seine Frau nehmen rigide religiöse Standpunkte ein, die ihren Handlungen zuwiderlaufen. So wird die altersfrömmelnde Konsulin sich bei ihrem Tod qualvoll an das Leben klammern, während der nüchtern kalkulierende Konsul zugunsten »der ›Firma‹, diesem vergötterten Begriff« (1.1, S. 82), den Leitsatz seines Großvaters, des Firmengründers, im Zweifelsfall negiert: »Mein Sohn, sey mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bei Nacht ruhig schlafen können« (ebd., S. 62). Bei der Konsulin wie bei dem Konsul werden gesteigerte religiöse Praktiken zur Drangsal, zur (Selbst-)Täuschung; in seinem Streben nach Erlösung und danach, ein ›guter Christ‹ zu sein, legt der Konsul sich gleichsam selbst das Kreuz auf, das beständig auf ihm lastet und dem er nicht entkommt. Es ist eine missglückende Imitatio Christi: ›Sünde‹ und ›Schuld‹ treten in seinem Bewusstsein stark hervor, so dass der Bezug zu Gott nur noch auf Zwängen und Automatismen fußt. Die Angst bleibt immer gegenwärtig und wird zum domi24 Vgl. die Notenauflistung bei Gert Heine und Paul Schommer, Thomas-Mann-Chronik, Frankfurt a. M. 2004, S. 5. 25 Mein Dank gilt dem Buddenbrookhaus in Lübeck, dessen wissenschaftliche Mitarbeiterin Britta Dittmann mir das Abgangszeugnis vom Katharineum zugänglich gemacht hat (s. die vorherige Seite). Das Original befindet sich heute im Archiv der Hansestadt Lübeck (ArchivSignatur: Katharineum Abgangszeugnisse 1888–95 Nr. 28: Thomas Mann); ich danke dem Archiv für die Abdruckgenehmigung.
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nierenden Moment. Anlässlich von Claras Geburt schreibt der Konsul so in die Familienchronik: »Ich habe meiner jüngsten Tochter eine Police von 150 Courant-Thalern ausgeschrieben. Führe du sie, ach Herr! auf deinen Wegen, und schenke du ihr ein reines Herz, auf daß sie einstmals eingehe in die Wohnungen des ewigen Friedens. Denn wir wissen wohl, wie schwer es sei, von ganzer Seele zu glauben, daß der ganze liebe süße Jesus mein sei, weil unser irdisches kleines schwaches Herz …« Nach drei Seiten schrieb der Konsul ein »Amen«, allein die Feder glitt weiter, sie glitt mit feinem Geräusch noch über manches Blatt, sie schrieb von der köstlichen Quelle, die den müden Wandersmann labt, von des Seligmachers heiligen, bluttriefenden Wunden, vom engen und vom breiten Wege und von Gottes großer Herrlichkeit. Es kann nicht geleugnet werden, daß der Konsul nach diesem oder jenem Satze die Neigung verspürte, es nun genug sein zu lassen, die Feder fortzulegen, hinein zu seiner Gattin zu gehen oder sich ins Comptoir zu begeben. Wie aber! Wurde er es so bald müde, sich mit seinem Schöpfer und Erhalter zu bereden? Welch ein Raub an ihm, dem Herrn, schon jetzt einzuhalten mit Schreiben … Nein, nein, als Züchtigung gerade für sein unfrommes Gelüste, citierte er noch längere Abschnitte aus den heiligen Schriften, betete für seine Eltern, seine Frau, seine Kinder und sich selbst, betete auch für seinen Bruder Gotthold, – und endlich, nach einem letzten Bibelspruch und einem letzten, dreimaligen Amen, streute er Goldsand auf die Schrift und lehnte sich aufatmend zurück. (1.1, S. 57)
Hintergrund ist die neupietistische Frömmigkeit, die aus den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts hervorging und, wie im Romanverlauf anhand der Konsulin gezeigt, zu Konventikelbildung (Hauskreisen mit Bibelstudium), absoluter Bibeltreue und missionarischen Aktivitäten führte. Es ist beachtlich, wie in dieser Buddenbrook-Generation die innerprotestantischen Einflüsse aus Manns Familie – lutherisch und reformiert – verschmelzen. Denn der Pietismus war eine Strömung sowohl des lutherischen als auch des reformierten Protestantismus. (Auch »Gotthold« ist ein pietistischer Name, und zumal in Manns frühen Erzählungen tauchen pietistische Vornamen auf, wenn wir nur etwa an Lobgott Piepsam aus »Der Weg zum Friedhof« [1900] denken.) Hier übernimmt Mann einerseits den Neupietismus seiner schweizerisch-reformierten Großmutter Elisabeth Marty (1811–1890), andererseits den Pietismus seines lutherischen Ururgroßvaters Joachim Siegmund Mann (1728–1799), dessen Eintragungen in die Familienbibel in Buddenbrooks beinahe wortwörtlich zitiert werden. Die neupietistische (Pseudo-)Religiosität, die im Roman zutage tritt, stellt eine egalisierende Amalgamierung des innerprotestantischen Familienerbes dar. Bei Thomas Manns pietistisch-lutherischem Ururgroßvater lesen wir: Hertzlich lieb hab ich Dich, Herr, meine Stärcke, mein Felß, meine Burg [vgl. Luthers Kirchenlied], mein Erreter, mein Gott […;] ich dancke dir, mein Gott, ich will dich Preißen, und Ich weiß daß mein Erlöser lebt [Hiob! …;] die gottselige, und durch Anfechtung geprüfete Hertzen, befinden in der übung wie schwer es sey, von gantzer
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Seele glauben, daß der gantze, liebe süße Jesus mein sey, weill unser Irdisches, Kleines schwaches Hertz den gantzen Himmel in sich faßen muß […;] der süße liebe Jesus, mit seinen heiligen blut trifenden Wunden [.] (1.2, S. 575f.)
Dass zwischen lutherischem und reformiertem Protestantismus nicht differenziert wird, ist charakteristisch für Buddenbrooks – und für Thomas Manns Bewertung des Protestantismus überhaupt. Zwar ist der Roman großteils lutherisch geprägt, wofür auch das »Dominus providevit« steht; die Vorsehung (Providenzlehre) unterscheidet sich von der Vorherbestimmung (Prädestinationslehre) theologisch in distinkter Weise. Es gibt in Buddenbrooks keine ›innerweltliche Askese‹. Gleichwohl, und das ist bedeutsam, durchziehen zwei Konzepte der Prädestinationslehre das religiöse Thema des Romans wie auch Manns Denken selbst, indem sie dessen literarisches Schaffen geradezu grundieren: Es ist dies zum einen die Vorstellung der Erwähltheit und zum anderen das Leistungsethos. Diese zwei verwandten Konzeptionen werden bei Thomas Mann zeit seines Lebens anzutreffen sein. Philosophie, Musik, für Mann persönlich auch und zumal die Literatur: Sie alle werden – in Buddenbrooks wie auch bei ihrem Autor – zum Signum einer (sich selbst als dekadent verstehenden) Exklusivität, zu ›Seligkeit‹ sowie ›Verdammnis‹ gleichermaßen, zu Medien mithin einer aus ihrem ursprünglichen Kontext verlagerten Erwähltheit, die stets mit Leitungszwang verbunden ist.26 Erwähltheit und Leistungsethos deuten auf Manns schweizerisch-reformierte Großmutter Marty hin, werden von Thomas Mann jedoch, als den Protestantismus insgesamt vorstellend, generalisierend ausgeweitet. Der Anklang an die Prädestinationslehre bleibt in Buddenbrooks so weit ersichtlich, wie dies angesichts einer Durchmischung mit ansonsten dominanten lutherischen Elementen möglich ist. Auch die theologische Erwähltheit und das damit verbundene Leistungsethos (Leistung, um die Erwählung für sich selbst zu verifizieren) 26 »Daß mein Schriftstellertum als ein unter religiösem Antrieb stehender Versuch der Rechtfertigung und Schuldbegleichung zu interpretieren ist, habe ich gelegentlich ausgesprochen«: So Mann noch am 8. Februar 1953 in einem Brief an Eberhard Hilscher. – Thomas Mann, Selbstkommentare: »Joseph und seine Brüder«, hg. von Hans Wysling, Frankfurt a. M. 1999, S. 328. Auch in diesem späten Zitat werden Elemente des lutherischen und reformierten Protestantismus bezeichnenderweise noch verschmolzen, wobei Thomas Mann durchaus bewusst sein musste, dass Luthers Rechtfertigungslehre mit seinem eigenen »Versuch der Rechtfertigung« nicht zu vereinen war (vgl. das vierfache »Sola/Solus« in Luthers Rechtfertigungslehre: »solus Christus«, »sola gratia«, »sola fide« und »sola scriptura«). (Thomas Manns ›Werkgerechtigkeit‹, die hier zum Ausdruck kommt, könnte ggf. katholisch anmuten, wobei auch dann die Traditionsverschiebung in einen alternativen, individuellen Referenzrahmen bestehen bliebe; als ›Werkgerechtigkeit des literarischen Produzierens‹ würde die katholische Idee der Werkgerechtigkeit in dieser Auslegung gewissermaßen ›umgewidmet‹ werden. Dass der Katholizismus Manns religiöses Denken unterdes nicht wesentlich beeinflusst, sondern ihm – wie vielen Künstlern – vielmehr ästhetisch imponiert hat, zeigt die vorliegende Darstellung.)
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werden allerdings historisiert, so dass die Verschiebung einschlägiger Glaubenshinhalte abermals konstitutiv ist – hin zu einem neuen Paradigma, das der Décadence entsprechend eine abweichende Auffassung von der Bedeutung der Erwähltheit und dem Leistungsethos hat: geistige Verfeinerung, gesteigerte Raffinesse des Verstandes, kultivierte Überlegenheit. Herbert Lehnert hat von Thomas Manns Irrtum bezüglich der eigenen protestantischen Glaubensüberlieferung gesprochen, weil Mann zwischen lutherischen und reformierten Lehrmeinungen nicht sorgsam unterschied. Dies macht Lehnert an Manns idiosynkratischer Wertung des Protestantismus fest, deren Züge sich bereits bei Nietzsche finden.27 Es wäre allerdings zu einfach, hier nur ein »Mißverständnis« zu vermuten;28 denn mangelnde Kenntnisse dürfen wir weder bei Nietzsche (als Sohn eines lutherischen Pastors und ehemaligem Studenten der evangelischen Theologie) noch bei Thomas Mann voraussetzen, wie die Archivmaterialien des Katharineums nachweisen. Für ein »Mißverständnis« darüber, was lutherischer und was reformierter Provenienz ist, war nicht nur Nietzsches, sondern auch Manns eigene religiöse Vorbildung zu substanziell und gründlich. Bei Nietzsche wie bei Thomas Mann können wir es nur mit einer bewussten Vermengung binnenprotestantischer Aspekte zu ›dem‹ Protestantismus als Konstrukt zu tun haben. Indem Mann die lutherische und die reformierte Theologie (Calvin, Zwingli) in eins fasst, geht er in Nietzsches Spuren, doch wie bei Nietzsche dient die Nivellierung einer Antiquierung, die nur an ›dem‹ Protestantismus als vereinheitlichtem, repräsentativem Modell vollzogen werden kann. Die intellektuelle Konstruktion eines homogenen Protestantismus ist eine idealtypische Simplifizierung zugunsten eines letztlich kulturellen, nicht länger theologisch distinktiven Phänomens; so dass denn der Kulturprotestantismus dort beginnt, wo der theologische Protestantismus im »Verfall« begriffen ist. (Max Webers religionssoziologisches Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1904/1905], das gleichfalls ›die‹ protestantische Ethik in seinem Titel proklamiert, ist dafür ein berühmtes Beispiel.29)
27 Herbert Lehnert, »Thomas Manns Lutherbild« in: Betrachtungen und Überblicke: Zum Werk Thomas Manns, hg. von Georg Wenzel, Berlin/Weimar 1966, S. 269–381. 28 Ebd., S. 280. 29 In Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) heißt es entsprechend, jetzt sehr wohl differenzierend: »Ich lege einigen Wert auf die Feststellung, daß ich den Gedanken, der modern-kapitalistische Erwerbsmensch, der Bourgeois mit seiner asketischen Idee der Berufspflicht sei ein Geschöpf protestantischer [Leistungs-]Ethik, des Puritanismus und Kalvinismus, völlig auf eigene Hand, ohne Lektüre, durch unmittelbare Einsicht erfühlte und erfand und erst nachträglich, vor kurzem, bemerkt habe, daß er gleichzeitig von gelehrten Denkern gedacht und ausgesprochen worden. Max Weber in Heidelberg und nach ihm Ernst
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Im Kulturprotestantismus findet eine Traditionsverschiebung statt, indem generalisierte religiöse Grundsätze weiter formend wirken, jedoch in andere Bezugsrahmen verlagert werden. Diese erhalten eine ersatzreligiöse Signifikanz: Denn »weniger eine [spezifische] Konfession als vielmehr eine Denkungsart« charakterisiert den Kulturprotestantismus.30 Kulturprotestantische Vorstellungen verweisen zwar oft auf das Luthertum, erschöpfen sich indessen nicht darin. Hierin gründet Nietzsches wie auch Manns Perspektivismus, der in Buddenbrooks einen bedeutungsvollen Wandel der Religionssemantik nachzeichnet: eine semantische Evolution des religiösen Wissens. In Buddenbrooks degeneriert der Glaube langsam zur Historie, so dass die ›religiöse Frage‹ als moderne Krise des Subjekts und der Identität verstanden werden kann. Diese ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ gibt einer Zerrissenheit Ausdruck, die im Roman als Signatur der Zeit ohne Beschönigungen problematisiert wird; ohne Lösungen derweilen auch.31 Thomas Mann, der sich der Bedeutungshintergründe seines Taufnamens und des Vornamens des Buddenbrook-Senators wohlbewusst ist (»Zwilling«; der Apostel Thomas als Zweifler: NB 1, S. 131), spielt trotz und gerade wegen seiner profunden Religionskenntnisse mit der Komplexität von Assoziationen, indem theologische Glaubensinhalte in fortschreitenden Auflösungserscheinungen begriffen sind. Es ist eine Säkularisierung in Gedanken und noch nicht so sehr in Taten, welche die erzählte Welt grundiert; denn rituelle religiöse Praktiken bleiben grundsätzlich bestehen. (So auch in Thomas Manns Privatleben: Vgl. z. B. die nie ausbleibende Begehung des traditionellen Weihnachtsfestes, das Sakrament der Taufe, präsent in dem »Gesang vom Kindchen« [1919], und die generelle Kirchen- und Gemeindezugehörigkeit.) Dies entspricht den metonymischen Verschiebungen zeitgenössischer Systemdifferenzierung: Im Kulturprotestantismus um 1900 blieb die formale Konfessionszugehörigkeit noch »weitgehend erhal-
Troeltsch haben über ›die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus‹ gehandelt.« (13.1, S. 159) 30 Ulrich Barth, Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, S. VII (Vorwort; eigene Hervorhebung). 31 Als eindrückliches Beispiel vgl. die »Rabenaas«-Strophe, die Konrad Ameln als Kirchenliedstrophen-Parodie (1840) eines Freundes von Friedrich Engel, Friedrich Wilhelm Wolff, nachgewiesen hat: »Über die ›Rabenaas‹-Strophe und ähnliche Gebilde«, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 13 (1968): 190–194. Die Frage, ob Thomas Mann die »Rabenaas«Strophe – wie manche Zeitgenossen und gar Hymnologen – selber für authentisch hielt und woher er die Textvarianten in seinem Roman bezog, ist bis heute nicht geklärt. Auszuschließen ist nach meinen Forschungen zumindest Manns Kenntnis der Strophe aus zeitgenössischen Lübecker Gesangbüchern (vgl. das Lübeckische evangelisch-lutherische Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst und die häusliche Andacht, auf Verordnung eines hohen Senates ausgefertigt durch das Ministerium [Anm. 9], wo die Strophe nicht belegt ist).
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ten«;32 die »ganze Wirklichkeit der Zeit – die Mentalität, die gesellschaftlichen Strukturen und die Politik – war noch religiös durchgeprägt«.33 So auch in allen Buddenbrook-Generationen. Die nächste Stufe des im Roman gezeigten religiösen Wandels geht über die Forcierung äußerer Erscheinungsform hinaus. Der Senator Thomas stellt nunmehr den Inhalt alttradierter Glaubensmuster nachdrücklich in Frage und fühlt sich durch die Lektüre Schopenhauers kurzzeitig befreit; dessen fernöstlich ausgerichtete Philosophie scheint das Ende allen Leidens und tatsächlich Frieden und Erlösung zu verheißen. Indem Thomas Buddenbrook sich für seine Affinität zu »Extravaganzen« (1.1, S. 726) allerdings verurteilt, sich für seinen ›religiösen Exotismus‹ schämt und sich als Apostat begreift – »[d]ieser Mann mit seiner nagenden Sorge um die Ehre seines Hauses […], dieser abgenutzte Mann, der seinen Körper mit Mühe und Kunst elegant, korrekt und aufrecht erhielt« (ebd., S. 728) –, variiert er freilich nur das Leidens-Thema seines Vaters, das sich nun – abgewandelt – weiter zuspitzt. Das vage Bewusstsein von ›Sünde‹ und ›Schuld‹, Angst und an dieser Stelle auch zum ersten Mal die Überzeugung, zu religiöser ›Entartung‹ zu tendieren, lassen den Senator in seiner Gottsuche gequält, einsam und in Abwehrhaltungen zurück. Die Ahnung einer »unendliche[n] Gegenwart« (ebd., S. 726), die das Principium individuationis transzendieren könnte, bleibt ein Zwischenfall ohne Folgen, und Thomas Buddenbrook identifiziert sich abermals mit seiner Rolle: Er kehrt zurück zu seiner »Maske« (ebd., S. 511, S. 615, S. 677 und S. 691), die zu tragen an diesem Punkt in der Romanhandlung seine Kräfte fast schon übersteigt. So aber geschah es, daß Thomas Buddenbrook, der die Hände verlangend nach hohen und letzten Wahrheiten ausgestreckt hatte, matt zurücksank zu den Begriffen und Bildern, in deren gläubigem Gebrauch man seine Kindheit geübt hatte. Er ging umher und erinnerte sich des einigen und persönlichen Gottes, des Vaters der Menschenkinder, der einen persönlichen Teil seines Selbst auf die Erde entsandt hatte, damit er für uns leide und blute, der am jüngsten Tage Gericht halten würde, und zu dessen Füßen die Gerechten im Laufe der dann ihren Anfang nehmenden Ewigkeit für die Kümmernisse dieses Jammerthales entschädigt werden würden … Dieser ganzen, ein wenig unklaren und ein wenig absurden Geschichte, die aber kein Verständnis, sondern nur gehorsamen Glauben beanspruchte, und die in feststehenden und kindlichen Worten zur Hand sein würde, wenn die letzten Ängste kamen … Wirklich? (Ebd., S. 727f.)34 32 S. dazu Thomas Nipperdeys geschichtswissenschaftliche Darstellung: Religion im Umbruch: Deutschland 1870–1918, München 1988, S. 118. 33 Ebd., S. 157. 34 Zur Stilisierung der Schopenhauer-Lektüre sowohl in Buddenbrooks als auch autobiographisch bei Mann selbst vgl. Manfred Dierks, der Nietzsches Bericht über sein erstes Schopenhauer-Erlebnis als Vorlage nachweist, wobei Nietzsches Schilderung wiederum auf die ›Erleuchtungsszene‹ aus dem achten Buch der Confessiones von Augustinus rekurriert. –
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Hanno schließlich – als letzter Buddenbrook – bleibt den Glaubenssätzen seiner Väter gegenüber ganz und gar indifferent. Er nimmt die Lehre der ihm vermittelten Theologie nicht einmal mehr als Leere wahr, sondern wendet sich vollständig ab und sucht sein ›Heil‹ stattdessen in der Musik Richard Wagners. Dass diese jedoch nicht zum Leben hin-, sondern in berauschender Narkotisierung davon wegführt, ist das Ergebnis eines extremen Leidensdrucks und Lebensüberdrusses. Die »Sehnsucht nach dem Tode«, welche die letzten beiden Firmenerben in Buddenbrooks bestimmt, hat, wie in Novalis’ gleichnamigem Gedicht (1800), als Ausgangspunkt zunächst die Sehnsucht nach dem Numinosen. Allein je weiter der Prozess der religiösen Traditionsverschiebung fortschreitet – als Eruieren von Alternativen zu bislang Bekanntem –, desto schwächer wird im Zuge des »Verfalls« auch dieser sichtbare Bezug, und die romantische Idee vollständiger Entgrenzung durch das Absolute (die sich auch noch bei Wagner findet) wird mehr und mehr zur Suche nach dem Exitus als Rettung vor dem Leben. Das wird bei Hanno überdeutlich, doch auch der Umstand, dass es gerade das ›Nichts‹ ist, das unter der Oberfläche der Schopenhauerʾschen »Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich« bei Thomas Buddenbrook auf solche Resonanz stößt, verweist bereits auf die unwiderstehliche Anziehungskraft des Todes, die – als dezidierte Todesreligion – in letzter Konsequenz sich selbst zerstören muss.
II. Traditionsverlagerungen sind auch repräsentativ für das Erzählen in Thomas Manns erstem Roman. Auch in narrativer Hinsicht werden Traditionen formal beibehalten und zugleich historisiert, indem es nunmehr realistische Erzählverfahren sind, die auf subtile Weise unterlaufen werden. Die Zeitstruktur scheint in Bezug auf Ordnung, Dauer und Frequenz zunächst noch ganz der Tradition des Realismus zu entsprechen.35 Es liegt eine synthetische Erzählung vor wie etwa bei Theodor Fontane, d. h. das Geschehen wird ohne bedeutende Anachronien in chronologischer Reihenfolge präsentiert. Auch das Erzähltempo, das sich aus dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit
Manfred Dierks, »Zur Bedeutung philosophischer Konzepte für einen Autor und für die Beschaffenheit seiner Texte«, in: Literatur und Philosophie, hg. von Bjørn Ekmann, Børge Kristiansen und Friedrich Schmöe, München 1983, S. 9–29, hier S. 15. 35 Zu den hier benutzten erzählpragmatischen Termini vgl. das Standardwerk von Gérard Genette: Die Erzählung [1966–1972], aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort von Jochen Vogt, überprüft und berichtigt von Isabel Kranz, 3., durchgesehene und korrigierte Aufl., Paderborn 2010.
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ergibt,36 bleibt auf den ersten Blick konventionell, mithin relativ gleichmäßig: Zeitdeckendes (szenisches) Erzählen alterniert im Allgemeinen mit zeitraffendem (summarischem) Erzählen inklusive Zeitsprüngen (Ellipsen).37 Hannos Typhuserkrankung und Tod, die am Ende des Romans indirekt vermittelt werden, differieren allerdings von der gewohnten realistischen Erzählweise. Dieser Einschub ist, erzähltheoretisch betrachtet, eine »Pause« im Erzähltempo und wird traditionell – so auch zumeist in Buddenbrooks – in Form von Interieur-, Exterieur-, Orts- und Landschaftsbeschreibungen realisiert. Dennoch handelt es sich an dieser Stelle nicht einfach nur um Parenthesen des Erzählers, sondern, in ›verdeckter Schreibweise‹, um ein modifiziertes Exzerpt aus Meyers Konversationslexikon (in der fünften Auflage von 1897; vgl. hierzu 1.2, S. 414). Damit wird die habituelle Zeitdarstellung im Roman durch das – intertextuelle – »Prinzip der Montage« vorübergehend ausgehebelt und in einen neuen, differenziellen Bezugsrahmen verschoben: »Es ist ein berühmtes Kapitel geworden.« So Thomas Mann noch am 30. Dezember 1945 in einem Brief an Theodor W. Adorno.38 Die Beschreibung der tödlichen Typhuserkrankung am Ende von Buddenbrooks rekurriert also auf ein bereits bekanntes Produktionsverfahren: die romantische Vorform der Montage, indem sie innovativ mit einem Prätext operiert.39 Damit verlagert sich die traditionelle – vom Bürgerlichen Realismus aus gesehene – Organisation epischer Zeitgestaltung, denn die narrative Pause wird hier abweichend gestaltet.40 Was die narrative Frequenz betrifft, so ist diese indessen wieder unauffällig: Meist liegt, mit Genette zu sprechen, eine singulative Erzählung vor, in der einmal erzählt wird, was sich einmal ereignet hat. Gelegentlich wird dies durch iteratives Erzählen variiert, indem einmal geschildert wird, was sich wiederholt begeben
36 Zu diesem Begriffspaar s. bereits Günther Müller, »Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst« [1946], in: Morphologische Poetik: Gesammelte Aufsätze, in Verbindung mit Helga Egner hg. von Elena Müller, 2. Aufl., Tübingen 1974, S. 247–268. 37 Hier werden neben den jüngeren Fachbegriffen (Genette) auch die älteren Bezeichnungen Eberhard Lämmerts verwendet: Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955. 38 Thomas Mann, Briefe, hg. von Erika Mann, Frankfurt a. M. 1962–1965, 3 Bde., Bd. 2, S. 469f. Manns Skrupel beziehen sich dort auf den »unverfrorenen Diebstahl-Charakter« seines »höhere[n] Abschreiben[s]« (ebd., S. 470). 39 Zum Begriff des intertextuellen »Prätextes« vgl. den Band Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister, Tübingen 1985. »Intertextualität« wird hier in strukturalistischem Sinne verstanden (wie auch bei Genette, s. Anm. 2). 40 In summarischer und elliptischer Form, jedoch nicht intertextuell, liegt das »Prinzip der Montage« auch dort vor, wo die abrupte Einfügung einer Reihe von Briefen, die aus heterogenen Perspektiven mit diversen Adressaten eingefügt werden, zeitweilig das konventionelle Erzählen außer Kraft setzt; als besonders disparate Beispiele s. etwa 1.1, S. 185–191.
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hat.41 Auch repetitives Erzählen, in dem mehrmals erzählt wird, was nur einmal statthatte, kommt vor und bleibt im herkömmlichen Rahmen.42 Genettes Kategorie der Stimme entspricht in Buddenbrooks noch ganz der Konvention (traditionelles späteres Erzählen in der Verwendung des epischen Präteritums, bisweilen – in Briefen – auch traditionelles eingeschobenes Erzählen [= Ich-Erzählungen, in denen späteres und gleichzeitiges Erzählen vorübergehend verschwimmen]; extra- und intradiegetisches Erzählen, d. h. gelegentlich Binnenerzählungen; heterodiegetischer Erzähler). Jedoch gestaltet sich Genettes Kategorie des Modus in Manns Romandebüt desto beachtlicher. Hier rücken durchgehend Verlagerungen traditionellen Erzählens in den Blick, die mit der punktuellen Diskontinuität, welche die Narration der Zeit bestimmt, auf eine geschickte Weise kontrastieren. Die durchgängigen Verschiebungen des Modus richten sich nach der »unendlichen Melodie« Richard Wagners: Sie stellen eine Kultivierung und Verfeinerung fließender Übergänge dar – von Wagners Musik auf das literarische Erzählen übertragen. Den Begriff »u n e n d l i c h e M e l o d i e « hat Wagner in seiner Broschüre »›Zukunftsmusik‹« des Jahres 1861 eingeführt.43 Im Musikdrama als »Kunstwerk der Zukunft« werde, so Wagner, die Melodie »im nöthigen ununterbrochenen Flusse« erhalten, so dass musikalische Brüche, wie sie in der traditionellen Nummernoper kennzeichnend gewesen waren (durch die Unterteilung in Rezitative, Arien, Duette usw.), endgültig aufgehoben werden können. Das derart durchkomponierte musikalische Drama wirke auf das Publikum, so Wagner weiter, ähnlich dem Drama der Antike, da »der tragische Chor der Griechen«, »stets gegenwärtig«, nahtlose Übergänge zwischen mono- und dialogischen Redeformen sowie der Metareflexion ermögliche.44 Analog dazu soll die unendliche Melodie in Wagners Programmatik flüssig zwischen unmittelbarem Erleben (der Figuren) und mittelbaren Schilderungen (des ›erzählenden‹ Orchesters) hin- und hergleiten und fließend ineinander übergehende Perspektivierungen gestatten. Auf Thomas Manns Buddenbrooks bezogen bedeutet dies: Die Gestaltung des Modus wird ausdifferenziert und effektiv verlagert: als moderner, literarischer ›Modus der unendlichen Melodie‹. 41 Vgl. z. B. 1.1, S. 192: »Der runde Tisch in dem weitläufigen Speisesaal war sehr klein geworden. Außer den Eltern saßen alltäglich nur Mamsell Jungmann, die zehnjährige Clara und die hagere, demütige und still essende Klothhilde daran.« 42 S. etwa 1.1, S. 704: »›Ja, Hanno‹, sagte sie, ›was wahr ist, bleibt ewig wahr, und Travemünde ist ein schöner Aufenthalt! Bis ich den Fuß ins Grab setze, weißt du, werde ich mich mit Freuden an die Sommerwochen erinnern, die ich dort als junges, dummes Ding einmal erlebte […].‹« 43 Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volksausgabe in 16 Bden., Leipzig o. J. [1911], hier Bd. 7, S. 130. 44 Ebd.
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Betrachten wir in diesem Kontext zunächst Genettes Modus-Kriterium der Distanz. Der realistische Roman wird im Erzählen von Ereignissen vorwiegend durch den »dramatischen Modus« geprägt, der einen ›Realitätseffekt‹ bewirkt.45 Das heißt: In der realistischen Erzähltradition wird, soweit dies möglich ist, die Illusion ›dramatischer‹ Unmittelbarkeit geschaffen, indem durch detaillierte Beschreibungen der Eindruck einer direkten Präsenz erzählter Ereignisse entsteht. Diese Poetik der »objektiven Darstellungsweise«,46 die ferner eine zurücktretende narrative Instanz und – in der gesprochenen Figurenrede – auch die Tendenz zum Dialog beinhaltet, wird in Buddenbrooks grundsätzlich beibehalten. Andererseits adaptiert Manns Roman jedoch auch die unendliche Melodie nach dem Vorbild Richard Wagners, die das realistische Erzählen unterläuft und zu einem alternativen Paradigma führt. Dies zeigt sich in Buddenbrooks v. a. an der nuancierten Erzählung nicht etwa von Ereignissen, sondern von Worten und besonders von Gedanken. Der dramatische Modus befindet sich hier in einem steten, mühelosen Wechsel mit dem narrativen Modus, welch Letzterer gerade durch den Eindruck der Mittelbarkeit gekennzeichnet ist. Kaum merklich und kontinuierlich ›im Fluss‹, changiert der Grad der narrativen Distanz in Thomas Manns Romandebüt zwischen diesen beiden Polen hin und her, so dass gleitende Übergänge und subtile Abstufungen in der Erzählung von Worten und Gedanken typisch werden. Der ›Modus der unendlichen Melodie‹ erlaubt eine Ästhetik flexibler Psychologisierung. Präsentationformen von zitierter Rede (dramatischer Modus), erzählter Rede (narrativer Modus) und transponierter Rede (als Zwischenmodus, so bei der indirekten und erlebten Rede) können beliebig und auf den ganzen Roman bezogen als fließend ineinander übergehend moduliert werden. Ein Beispiel dafür, wie »unvermittelt« etwa der Wechsel von Erzählerbericht [d. h. dem traditionellen Bewusstseinsbericht im narrativen Modus] und erlebter Rede erfolgen kann, findet sich in der folgenden Passage […]: Frau Stuth [sic] aus der Glockengießerstraße hatte wieder einmal Gelegenheit, in den ersten Kreisen zu verkehren, indem sie Mamsell Jungmann und die Schneiderin am Hochzeitstage bei Tonys Toilette unterstützte [= Erzählerbericht]. Sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen [= erlebte Rede], lag, so dick sie war, auf den Knieen und befestigte mit bewundernd erhobenen Augen die kleinen Myrtenzweiglein auf der weißen moirée antique… Dies geschah im Frühstückszimmer [= Erzählerbericht]. [1.1, S. 177]
45 Vgl. Roland Barthes, »Der Wirklichkeitseffekt« [»L’Effet de Réel«; 1968], in: ders., Das Rauschen der Sprache: Kritische Essays IV, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006, S. 164–172. 46 Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Leipzig 1883, S. 134.
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Während der Wechsel in die erlebte Rede hier kaum erkennbar ist und letztlich offen bleibt, ob die entsprechenden Worte (›Ich habe, strafe mich Gott, niemals eine schönere Braut gesehen‹) gedacht oder gesprochen wurden,47
entsteht eine »große Beweglichkeit des Erzählens«,48 die für Erzähltexte der Moderne symptomatisch ist und hier durch Traditionsverschiebungen im Modus, genauer: der Distanz, erzielt wird. Ein anderes Beispiel: Thomas Buddenbrooks Schopenhauer-Erlebnis, von dem im Hinblick auf die Religion bereits die Rede war, ist, erzähltechnisch betrachtet, ein traditioneller, zitierter Innerer Monolog, der durch den ›Modus der unendlichen Melodie‹ verschoben und modernisiert wird. Zwar beginnt das Selbstgespräch noch konventionell mit einem Verbum dicendi: »Ich werde leben! sagte Thomas Buddenbrook beinahe laut« (1.1, S. 723), doch fluktuiert der Grad der narrativen Distanz im Folgenden kaum merklich zwischen dem dramatischen Modus (in der zitierten Rede: zitierter Innerer Monolog) und dem narrativen Modus (in der erzählten Rede: Bewusstseinsbericht), verbunden durch den Zwischenmodus in der transponierten Rede (erlebte Rede und erzählter Innerer Monolog in Form einer ausführlichen erlebten Rede): Dies ist es, daß ich leben werde! Es wird leben … und daß dieses Es nicht ich bin, das ist nur eine Täuschung, das war nur ein Irrtum, den der Tod berichtigen wird. So ist es, so ist es! … Warum? [= Zitierter Innerer Monolog] – Und bei dieser Frage schlug die Nacht wieder vor seinen Augen zusammen. Er sah, er wußte und verstand wieder nicht das Geringste mehr und ließ sich tiefer in die Kissen zurücksinken, gänzlich geblendet und ermattet von dem bißchen Wahrheit, das er so eben hatte erschauen dürfen. Und er lag stille und wartete inbrünstig, fühlte sich versucht, zu beten, daß es noch einmal kommen und ihn erhellen möge. Und es kam. Mit gefalteten Händen, ohne eine Regung zu wagen, lag er und durfte schauen … [= Bewusstseinsbericht] Was war der Tod? [= Erlebte Rede] Die Antwort darauf erschien ihm nicht in armen und wichtigthuerischen Worten: er fühlte sie, er besaß sie zuinnerst. [= Bewusstseinsbericht] Der Tod war ein Glück, so tief, daß es nur in begnadeten Augenblicken, wie dieser, ganz zu ermessen war. Er war die Rückkunft von einem unsäglich peinlichen Irrgang, die Korrektur eines schweren Fehlers, die Befreiung von den widrigsten Banden und Schranken – einen beklagenswerten Unglücksfall machte er wieder gut. Ende und Auflösung? Dreimal erbarmungswürdig Jeder, der diese nichtigen Begriffe als Schrecknisse empfand! Was würde enden und was sich auflösen? Dieser sein Leib … Diese seine Persönlichkeit und Individualität, dieses schwerfällige, störrische, fehlerhafte und hassenswerte Hindernis, etwas Anderes und Besseres zu sein! War nicht jeder Mensch ein Mißgriff und Fehltritt? Geriet er nicht in eine peinvolle Haft, sowie er geboren ward? Gefängnis! Gefängnis! Schranken und Bande überall! [= Erzählter Innerer Monolog in Form einer ausführlichen erlebten Rede] Durch die Git47 Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 10. Aufl., München 2016, S. 62f. 48 Ebd., S. 62.
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terfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit ruft … Individualität! … Ach, was man ist, kann und hat, scheint arm, grau, unzulänglich und langweilig; was man aber nicht ist, nicht kann und nicht hat, das eben ist es, worauf man mit jenem sehnsüchtigen Neide blickt, der zur Liebe wird, weil er sich fürchtet, zum Haß zu werden. Ich trage den Keim, den Ansatz, die Möglichkeit zu allen Befähigungen und Bethätigungen der Welt in mir … [= Zitierter Innerer Monolog] (1.1, S. 723f.)
Ebenso subtil, wie der Grad der narrativen Distanz in Buddenbrooks variiert und damit eine ›unendliche Melodie‹ der Feinjustierung schafft, wird auch Genettes anderes Kriterium des Modus, die Fokalisierung, in Anlehnung an Wagners unendliche Melodie subversiv weiterentwickelt. Die realistischen Romane Theodor Fontanes sind dominant extern fokalisiert und differieren dadurch bereits ihrerseits von der dominanten Nullfokalisierung, die Erzähltexte des 18. und 19. Jahrhunderts prägen.49 War die Perspektivierung des Erzählten lange Zeit eine vorwiegend auktoriale gewesen, so wandelte sie sich bei Fontane in eine hauptsächlich neutrale; in diesem Fokalisierungstyp stellt statt der Übersicht die Außen-Sicht die primäre Perspektive dar.50 Was nun Buddenbrooks betrifft, so verlagert sich die dominant monomodale Perspektivierung des traditionellen Erzählens hin zur Polymodalität: Verschiedene Fokalisierungstypen können nach Belieben und auf den ganzen Roman bezogen fließend ineinander übergehen, so dass heterogene Sichtweisen gewissermaßen ineinanderfließen – wie in Wagners unendlicher Melodie. Oft gleiten die Nullfokalisierung und die externe Fokalisierung (als beobachtender ›Kamerablick‹) kaum merklich – und z. T. kaum unterscheidbar – ineinander. In den Übergängen flüssig gehalten ist auch die interne Fokalisierung, wie sie etwa in der oben zitierten Passage zu Thomas Buddenbrooks SchopenhauerErlebnis, aber auch in Bezug auf Hanno vorliegt (die nicht fixierte, sondern variable interne Fokalisierung kann hier als »multiperspektivisches Erzählen« bezeichnet werden51): 49 Vgl. hierzu Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 47), S. 71 und S. 100. 50 Die von der älteren Forschung herausgearbeiteten »Erzählsituationen«, in denen Aspekte der Stimme und des Modus vermischt werden, vermögen diese neutrale Außensicht, wie sie bei Fontane vorliegt, noch nicht präzise zu erfassen (vgl. Franz Karl Stanzel, Typische Formen des Romans, Göttingen 1964). Die Typologie von Stanzels Erzählsituationen unterscheidet nur zwischen der auktorialen Erzählsituation, der Ich-Erzählsituation und der personalen Erzählsituation (die aber, obgleich sie in den Worten Genettes einen heterodiegetischen Erzähler aufweist, intern fokalisiert ist). Die Terminologie Genettes erweist sich Stanzels Erzählsituationen gegenüber als differenzierter und flexibler, indem sie es erlaubt, auch nuancierte Zwischenformen narratologisch exakt zu beschreiben. 51 Franz Karl Stanzel, Typische Formen des Romans (Anm. 50), S. 38; hier zitiert nach Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 47), S. 70.
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Und nun [bis hierhin wurde der Eindruck direkten Erlebens erzeugt] begann ein unaufhaltsamer Wechsel von Begebenheiten, deren Sinn und Wesen nicht zu erraten war, eine Flucht von Abenteuern des Klanges, des Rhythmus und der Harmonie, über die Hanno nicht Herr war, sondern die sich unter seinen arbeitenden Fingern gestalteten, und die er erlebte, ohne sie vorher zu kennen … [= Nullfokalisierung] Er saß, ein wenig über die Tasten gebeugt, mit getrennten Lippen und fernem, tiefem Blick, und sein braunes Haar bedeckte in weichen Locken seine Schläfen. [= Externe Fokalisierung] Was geschah? Was wurde erlebt? Wurden hier furchtbare Hindernisse bewältigt, Drachen getötet, Ströme durchschwommen, Flammen durchschritten? [= Interne Fokalisierung: Hannos eigene Sichtweise, indem Hanno selbst nicht weiß, wie ihm geschieht] (1.1, S. 826)
An dieser Stelle wird Wagners musikalische Technik der unendlichen Melodie zugleich literarisch geschildert wie auch in die narrative Praxis umgesetzt: in einem ›Modus der unendlichen Melodie‹, der sich erzählpragmatisch im fließenden Grad der Distanz (zwischen dramatischem und narrativem Modus) ebenso wie in der wechselnden Fokalisierung zeigt. Im Musikdrama geht Wagners unendliche Melodie mit der Leitmotivtechnik einher; diese wird nach der soeben zitierten Passage in Buddenbrooks geschildert. Und wie ein gellendes Lachen oder wie eine unbegreiflich selige Verheißung schlang sich das erste Motiv hindurch, dies nichtige Gebilde, dies Hinsinken von einer Tonart in die andere [….]. Es lag etwas Brutales und Stumpfsinniges und zugleich etwas asketisch Religiöses [!], etwas wie Glaube und Selbstaufgabe in dem fanatischen Cultus dieses Nichts, dieses Stücks Melodie, dieser kurzen, kindischen, harmonischen Erfindung von anderthalb Takten [,]
die gleichwohl unwiderstehlich auf den jungen Hanno wirkt (1.1, S. 826f.). »[D]as Charakteristische«, so Wagner, »der von mir gemeinten, großen, das ganze dramatische Tonstück umfassenden [unendlichen] Melodie« sei der »Eindruck, den sie hervorbringen muß. Das unendlich reich verzweigte Detail in ihr soll sich keinesweges nur dem Kenner, sondern auch dem naivsten Laien […] offenbaren«, und eben dies gewährleisten elaborierte Leitmotive, die als musikalische Wiederholungen in Abwandlungen Wagners Musikdrama durchziehen.52 Zu dieser ›doppelten Optik‹ des Wagner’schen Leitmotivs wird Thomas Mann am 1. April des Jahres 1920 in einem Brief an Hermann Hesse konzedieren: 52 Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen (Anm. 43), Bd. 7, S. 131 (»›Zukunftsmusik‹«; 1861). Zur Definition des Leitmotivs, das von Wagner ausgehend in die Literatur übertragen wurde, vgl. auch Stephan Brössel, »Leitmotiv«, in: Thomas Mann Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hg. von Andreas Blödorn und Friedhelm Marx, Stuttgart/Weimar 2015, S. 317ff., hier S. 317f.: »Eine allgemeine transmediale Definition des Leitmotivs geht aus von singulären und abgeschlossenen strukturellen Einheiten in einem Textgefüge, die wiederholt und i. d. R. formal variiert auftreten und nicht alleine eine strukturelle, sondern vor allem auch eine semantische Funktion erfüllen. Im Falle literarischer Leitmotive handelt es sich demnach um einzelne Lexeme oder Phrasen, die im Zuge ihres erstmaligen Erscheinens
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Oft glaube ich, daß das, was Sie »Antreibereien des Publicums« nennen, ein Ergebnis meines langen, leidenschaftlich-kritischen Enthusiasmus für die Kunst Richard Wagners ist – diese ebenso exklusive wie demagogische Kunst, die mein Ideal, meine Bedürfnisse vielleicht auf immer beeinflußt, um nicht zu sagen: korrumpiert hat. Nietzsche spricht einmal von Wagners ›wechselnder Optik‹: bald in Hinsicht auf die gröbsten Bedürfnisse, bald in Hinsicht auf die raffiniertesten. Dies ist der Einfluß, den ich meine, und ich weiß nicht, ob ich je den Willen finden werde, mich seiner völlig zu entschlagen. Die Künstler, denen es nur um eine Coenakel-Wirkung zu thun ist, war ich stets geneigt, gering zu schätzen. Eine solche Wirkung würde mich nicht befriedigen. Mich verlangt auch nach den Dummen. (21, S. 448)
Buddenbrooks prägt, wie wir gesehen haben, ein ausgefeilter ›Modus der unendlichen Melodie‹; eine komplexe, avancierte Leitmotivtechnik, die das Erzählen und das Erzählte auf einer veritablen Metaebene verbände, ist in Manns erstem Roman jedoch noch nicht gegeben. Die Untersuchung der religiösen Traditionsverschiebungen hat weiter oben schon gezeigt, dass das Potenzial eines weitläufigen Netzes leitmotivischer Verknüpfungen im Rahmen der Histoire zwar in der Tat bestünde (Kirchenlieder; Luthers Kleiner Katechismus; Hiob und die Theodizee; die Providenzlehre; Erwählung und Leistungsethos); doch bildet die Erzählstruktur in Thomas Manns Romanerstling ein solch elaboriertes Netz nicht aus. Stattdessen, wir erinnern uns, ist das Religionsthema in Buddenbrooks gerade durch ›Leerstellen‹ geprägt (wobei eine subtile Leitmotivtechnik den »Verfall« traditioneller Glaubenssätze kaum luzider illustrieren könnte, als dies wohlkalkulierte Lücken tun).53 Die Adaption einer durchdringenden, ausgereiften Leitmotivtechnik wird bei Thomas Mann erst deutlich später, im Zauberberg (1924), erreicht. In Buddenbrooks hingegen ist die Leitmotivtechnik noch relativ unentwickelt, d. h. noch ganz auf die erzählte Welt beschränkt (anstatt mit der Erzählpragmatik eine einschlägige Wechselwirkung einzugehen). In der Welt des Textes geht die Leitmotivik nicht über implizite Figurencharakterisierungen hinaus. Indem zwar einzelne Leitmotive (sprechende Namen, physiognomische Details etc.), jedoch noch keine dynamischen Korrelationen im großen Stil entwickelt werden, bleibt Manns Romandebüt in seiner leitmotivischen Gestaltung daher noch recht unim Text semantisch einer Figur oder Figurenkonstellation, einer Situation, einem Raum oder anderen (narrativen) Elementen zugeordnet und infolgedessen wiederholt und variiert werden und symbolisch über sich hinausweisen.« 53 Zu Beginn des Romans, der auf den ersten Artikel des zweiten Hauptstücks von Luthers Kleinem Katechismus rekurriert, liegt bei eingehender Betrachtung ebenfalls eine elementare Lücke vor. Diese Stelle deutet bei Luther auf die Providenzthematik hin, doch nicht so im Roman: Es ist gerade die Idee der Vorsehung, die auf den ersten Textseiten bereits nicht mehr zur Sprache kommt, weil sie in Tonys »glatte[r] Fahrt« des Aufsagens (1.1, S. 13) gezielt von dem Erzähler übersprungen wird. – Vgl. mit Rücksicht auf die theologische Forschung hierzu auch Anm. 16.
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gelenk. Thomas Mann wird 1939 seinerseits von einer »bloß naturalistischcharakterisierende[n], sozusagen mechanische[n] Weise« sprechen, in der vereinzelte Leitmotive wie ein Ariadnefaden Buddenbrooks durchzogen hätten (XI, S. 611: »Einführung in den Zauberberg«; 1939). Ein solches tentatives, psychologisch ›schlichtes‹ Leitmotiv stellt beispielsweise Thomas Buddenbrooks mit Mühe kultivierte »Maske« dar, auf die weiter oben schon verwiesen wurde. Das Leitmotiv der Maske erfüllt dabei eine stabilisierende Funktion, die dem Niedergang traditioneller Glaubensmuster in der Romanhandlung entgegensteht und diese substituiert. Fassen wir bis hierhin einstweilen zusammen: Zwischen Religion und Narration bestehen in Manns erstem Roman Analogien in Form von Traditionsverschiebungen. In Bezug auf die Erzähltechnik sind diese durch subversive Abweichungen von realistischen Erzählverfahren geprägt, was teilweise die Zeitstruktur (differenzielle Gestaltung der Erzählgeschwindigkeit durch das »Prinzip der Montage«), insbesondere jedoch den Modus anbelangt – als ›Modus der unendlichen Melodie‹ nach dem Vorbild Richard Wagners, demzufolge sowohl die Distanz als auch die Fokalisierung abweichend gestaltet werden. Inhalt und Form des narrativen Textes gehen in Buddenbrooks jedoch noch keine leitmotivische Verbindung ein; Religion und Narration bleiben vorläufig noch ohne leitmotivische Verknüpfung. Die narrativen Traditionsverlagerungen in Manns Romandebüt orientieren sich, wie wir bis hierhin nachvollzogen haben, zumal am musikalischen Vorbild Richard Wagners. Dieses grundiert das ›Wie‹ des literarischen Erzählens. Das ›Was‹ dieses Erzählens anbetreffend, folgen die Traditionsverschiebungen derweil nicht Wagner, sondern Nietzsche und dessen psychologischer Moralkritik.54 Dies zeigt sich in Buddenbrooks anhand der konsequenten ›Narration des Zweifels‹, welche die erzählte Welt bestimmt und welcher Nietzsche als ›Meister des Verdachts‹ vorsteht.55 Aus der Einsicht, dass Zeitkritik immer auch Selbstkritik bedeute, stellt die Ironie – das griechische Wort »ει᾿ρωνεία« bedeutet »Verstellung« – die vielleicht eindrücklichste narrative Möglichkeit nicht der Distanz zur Tradition, sondern der Distanzierung zu ihr dar. Thomas Manns erster Roman bringt, was die ›religiöse Frage‹ anbetrifft, vormals
54 Zur Unterscheidung des ›Wie‹ und des ›Was‹, d. h. des Erzählens und des Erzählten, s. Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 47). 55 Jacques Derrida hat in seiner poststrukturalistischen Theorie großen Wert darauf gelegt, dass Nietzsche die »différance« avant la lettre praktiziert habe: Jacques Derrida, »Die différance« [»La différance«; 1972], in: Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart, mit einer Einführung hg. von Peter Engelmann, aus dem Französischen von Eva Pfaffenberger-Brückner, Stuttgart 1990, S. 76–113, hier S. 97.
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Geglaubtes in die Schwebe. In die Schwebe heisst nicht zum Verschwinden […], aber vorbehaltlos und rein affirmativ wie zuvor kann und will man [… tradierte Glaubensinhalte] nicht mehr ansprechen. [… Daher] ist Ironie auch bei Thomas Mann der Versuch, auf einen spezifischen Problemhorizont zu reagieren, der mit der Historisierung von Religion, mit den Plausibilitätsschwierigkeiten ihrer Leittraditionen verbunden ist.56
Zweideutigkeit wird Thomas Manns Umgang mit der Religion weit über Buddenbrooks hinaus bestimmen. Ironie impliziert Stärke und Schwäche gleichermaßen; sie deutet sowohl auf demonstrative Freiheit als auch auf latente Unfreiheit, was sich, erzähltechnisch gesprochen, auf zweierlei Weise in Buddenbrooks dokumentiert: erstens durch unzuverlässiges Erzählen und zweitens durch eine doppeldeutige, empirisch-numinose Handlungsmotivierung. Nur im letztgenannten Fall verschiebt sich unterdessen auch die narrative Tradition; das unzuverlässige Erzählen bleibt in Buddenbrooks hingegen noch konventionell, indem es keinen neuen, alternativ-modernen Kontext schafft. Die Dialogizität des unzuverlässigen Erzählens bleibt hier auf einer herkömmlichen Stufe (als theoretisch unzuverlässiges Erzählen).57 56 Niklaus Peter, »Religion und Ironie«, in: Zwischen Himmel und Hölle: Thomas Mann und die Religion (Anm. 16), S. 17–33, S. 18f. – In diesem Sinne ist auch das Voltaire-Zitat zu sehen, das Mann schon früh in sein Notizbuch exzerpierte: »La théologie m’amuse, la folie de l’esprit humain y est dans toute sa plénitude.« (NB 1, S. 25) 57 Beim unzuverlässigen Erzählen – einem narrativen Verfahren, das in der Forschung der letzten Jahre eine Konjunktur erlebt hat – können oder müssen die Aussagen der narrativen Instanz über die erzählte Welt bezweifelt werden. (Vgl. das Standardwerk von Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction, 2. Aufl., Chicago/London 1983. Silke Lahn und Jan Christoph Meister unterscheiden zwischen bindendem und entfremdendem unzuverlässigen Erzählen: Silke Lahn und Jan Christoph Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, 2. Aufl., Stuttgart 2013, S. 185.) Es sind verschiedene Intensitätsgrade des unzuverlässigen Erzählens auszumachen. Der Grad des unzuverlässigen Erzählens entspricht dabei dem Grad der narrativen Ironie: »Der unzuverlässige Erzähler lässt sich am besten mit dem Begriff der Ironie erklären. Ironische Kommunikation verdoppelt das Kommunikat zwischen zwei Gesprächspartnern in eine explizite und eine implizite Botschaft. Die implizite Botschaft widerspricht der expliziten und soll vom Hörer als die ›eigentlich gemeinte‹ aufgefasst werden. […] In realer ironischer Kommunikation ist der Sprecher gleichermaßen Sender der expliziten wie der impliziten Botschaft. Selbstverständlich können fiktive Erzähler oder Figuren auch in diesem Sinne ironisch sein. Die besonderen Möglichkeiten fiktionaler Texte werden jedoch erst dann genutzt, wenn die doppelte Botschaft der Ironie auf zwei verschiedene Sender verteilt ist. In diesem Fall kommuniziert der unzuverlässige Erzähler eine explizite Botschaft, während der Autor dem Leser implizit, sozusagen an dem Erzähler vorbei, eine andere, den Erzählerbehauptungen widersprechende Botschaft vermittelt. Die explizite Botschaft des Erzählers ist die nicht eigentlich gemeinte, die implizite des Autors hingegen die eigentlich gemeinte. Die Möglichkeit, in fiktionalen Texten den Standpunkt des Erzählers in dessen eigener Rede durch die implizite Vermittlung eines anderen Standpunktes zu unterlaufen, stellt zweifellos eine genuin literarische und wegen der Möglichkeit subtilster Nuancierungen besonders reizvolle Aufgabe für Autoren dar.« (Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie [Anm. 47], S. 106.) Bezogen auf Buddenbrooks bedeutet dies, dass hier der
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Buddenbrooks exemplifizieren – im Sinne Nietzsches – eine Beilegung der Leidenschaften durch ihre Analyse. Indem Überliefertes bewahrt und doch ganz anders modelliert wird, wandeln sich sowohl die Religion in der erzählten Welt als auch das realistische Erzählen. Die Depotenzierung religiöser Gewissheiten korreliert dabei direkt mit der ironischen, empirisch-numinosen Handlungsmotivierung: Diese ist konsequent zweideutig gehalten, indem sie einerseits ein empirisches Wirklichkeitsverständnis, andererseits aber auch noch eine traditionelle Weltanschauung supponiert – ein narratives Verfahren, das die o. g. religiösen ›Leerstellen‹ von Manns Romanerstling motivational begründet und hierin Nietzsches Skeptizismus folgt. Die religiösen Zusammenhänge bleiben unentscheidbar, auch und gerade weil im Roman die letzte direkte Figurenrede mit den emphatischen Worten: »Es ist so!« endet (1.1, S. 837).58 Die erzählte Welt als »doppelte Welt«: Dies stellt, für sich genommen, noch kein prinzipielles Novum dar, wenn wir v. a. an Erzähltexte aus der Romantik denken. Indes verschiebt die doppelte Motivierung in Buddenbrooks bislang Gewohntes abermals in einen neuen Referenzrahmen, der jetzt explizit die religiöse Krise um 1900 widerspiegelt und sich vom Realismus dispensiert. Repräsentativ für realistische Erzähltexte sind eine empirische, d. h. kausale, und eine ästhetische Handlungsmotivierung, die einander wechselseitig komplettieren. Eine numinose Motivierung ist hingegen nicht charakteristisch für realistische Erzählverfahren. Die ästhetische Motivierung, welche Boris Tomaschewski, ein Vertreter des Russischen Formalismus, als »kompositorische Motivierung« bezeichnet hat, bleibt ähnlich wie im Realismus auch in Buddeneinfachste Grad des unzuverlässigen Erzählens vorliegt, bei dem zwar die theoretischen, d. h. bewertenden Sätze, nicht aber die mimetischen, d. h. diegetischen Sätze des Erzählers als zweifelhaft erachtet werden können. Anders formuliert: Es sind nur die (sparsamen) Werturteile des Erzählers, die (eventuell) unglaubwürdig wirken könnten, nicht aber das konkrete Geschehen im Rahmen der Histoire. Wie auch in realistischen Erzähltexten stehen moralische Sentenzen des Erzählers außerhalb der Welt des Textes und müssen vom Rezipienten nicht zwangsläufig geglaubt werden. Ebenso gibt es die einfache Figurenironie, so dass in Manns Romandebüt ›nur‹ ein traditionelles, theoretisch unzuverlässiges Erzählen vorliegt – kein mimetisch (teilweise oder gar vollständig) unzuverlässiges Erzählen, das von der habituellen, grundsätzlich privilegierten Erzählerrede abwiche. Es handelt sich bei ›Thomas Mann in München‹ insgesamt um einen noch sehr moderaten Grad unzuverlässigen Erzählens, dessen besondere Beschaffenheit man mit Wolf Schmid auch als »uneigentliches Erzählen« bezeichnen könnte: Der Erzähler übernimmt allenfalls »in variabler Dichte Wertungen und Benennungen ohne Markierung aus dem Figurentext«, d. h. aus der Ideenwelt der Figuren (Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 2. Aufl., Berlin 2008, S. 219). 58 Matías Martínez hat dargelegt, wie die konstitutiv ambige Motivierung Thomas Manns »Tod in Venedig« prägt: Matías Martínez, »Choleratod und regressive Transzendenz: Thomas Mann, ›Der Tod in Venedig (1912)‹«, in: ders., Doppelte Welten: Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996, S. 151–176. Allerdings ist das numinose Wirklichkeitsverständnis, das mit dem empirischen nicht kompatibel ist, im »Tod in Venedig« mythologisch ausgerichtet (nicht theologisch wie in Buddenbrooks).
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brooks beobachtbar; doch rivalisiert sie hier mit der ironischen, empirisch-numinosen neuen Doppelmotivierung, welche, in sich selbst gepalten, die ästhetische (kompositorische) Motivierung überlagert.59 Mit dem Primat der Ironie divergieren Buddenbrooks vom realistischen Humor, der nach Theodor Fontane namentlich verklärend wirken solle und ein heiter-souveränes »Darüberstehen« impliziert.60 Von humoristischer Totalität, die ausgleichend Gegensätze nivellieren würde, weil »vor der Unendlichkeit« – mit einem älteren Humoristen, Jean Paul, zu sprechen – »alles gleich ist«, sind Buddenbrooks gerade durch den virulenten Zwiespalt in der Gretchenfrage weit entfernt.61 Hier hat kein »Idealrealismus« nach Fontanes Vorbild statt.62 Thomas Manns Prinzip der Ironie, das sich so wesentlich an Nietzsches Skeptizismus orientiert, wird erst sehr viel später, in den Josephsromanen (1933– 1943), von einem befreienden Humor relativiert werden, der die ›religiöse Frage‹ mit umfasst (in einer dann weitgehend harmonisch numinosen Motivierung). Dennoch bleiben ironische Brechungen auch beim späten sowie ›letzten‹ Thomas Mann bestehen.63
59 Vgl. Boris Tomaschewski, Theorie der Literatur: Poetik [1925], nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau/Leningrad 1931) hg. und eingeleitet von Klaus-Dieter Seemann, aus dem Russischen von Ulrich Werner, Wiesbaden 1985, S. 227f.: Das Prinzip der traditionellen ästhetischen (»kompositorischen«) Motivierung »ist die Ökonomie und Zweckmäßigkeit der Motive. […] Nicht ein Requisit darf in der Fabel ungenutzt, nicht eine Episode ohne Einfluß auf ˇ echovs These, wenn man zu Beginn einer Erzählung von die Situation der Fabel bleiben. C einem Nagel in der Wand spreche, müsse sich der Held am Ende der Erzählung an diesem Nagel aufhängen, zielt genau auf die kompositorische Motivierung.« 60 Zum realistischen Humor s. besonders Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft: Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus, 3. Aufl., München 1985. Die Fontane’sche Formel des humoristischen »Darüberstehens« wurde in der älteren Forschung oftmals diskutiert. Vgl. repräsentativ z. B. Katharina Mommsen, »Theodor Fontanes ›freies Darüberstehen‹«, in: Dichter und Leser: Studien zur Literatur, hg. von Ferdinand van Ingen, Eltrud Kunne-Ibsch, Hans de Leeuwe [u. a.], Groningen 1972, S. 89–93. 61 Jean Paul [d. i. Johann Paul Friedrich Richter], Werke, 6 Bde., hg. von Norbert Miller und Gustav Lohmann, München 1959–1963, hier Bd. 5, S. 125 (Vorschule der Ästhetik; 1804). 62 Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus: Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848– 1900, Tübingen 2003, S. 250. 63 Zum versöhnenden, synthetisierenden Humor in Joseph und seine Brüder, der sich erzähltechnisch die empfindsamen Romane von Laurence Sterne zum Vorbild nimmt, s. Yvonne Nilges, »›Humor und Größe haben viel miteinander zu tun‹: Thomas Mann und Laurence Sterne«, in: Thomas Mann Jahrbuch 24 (2011): 143–154.
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III. »Was ist das. – Was – ist das …« (1.1, S. 9): Die Subjektkrise der Klassischen Moderne zeigt sich in Buddenbrooks in zweierlei Hinsicht – in Religion und Narration, die beide in Form von Traditionsverlagerungen das Diktum Lyotards von der »Melancholie der Moderne« illustrieren. Die Religion in der erzählten Welt verschiebt sich sukzessive hin zur Kunstreligion, während die realistische Erzähltechnik sich ebenfalls weiter verschiebt. Hier wie dort geschieht dies fließend, so dass keine radikalen Brüche, wohl aber metonymische Veränderungen in den Blick rücken. Dort, wo narrative Traditionsverlagerungen vorliegen, ist das Erzählen vornehmlich an Wagner (›Modus der unendlichen Melodie‹ in Distanz und Fokalisierung), das Erzählte hingegen an Nietzsche (ironische, ambige Handlungsmotivierung) ausgerichtet. Durch Traditionsverlagerungen experimentieren Buddenbrooks thematisch (Religion) wie formal (Erzähltechnik) mit differenziellen Paradigmen, die in den weiteren frühen Werken Thomas Manns noch eine Steigerung erleben werden. Die doppelte Kommunikationssituation des fiktionalen Erzählens – als imaginärer und realer Kontext – erlaubt, mit Pierre Bourdieus kultursoziologischer Feldtheorie zu sprechen, dabei eine gezielte Verbindung von Figuren-Habitus und Autor-Habitus, die Thomas Mann nachfolgend kultivieren und zum symbolischen Kapital erheben wird.64 Über die Autor-Profilierung (Demarkation und Distinktion) eröffnet sich im Frühwerk Thomas Manns die Möglichkeit einer persönlich geprägten neuen »Quasi-Religion«. Der Terminus der »Quasi-Religionen« geht auf den evangelischen Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich (1886–1965) zurück, der für Mann im Hinblick auf das Dämonische in Doktor Faustus (1947) später noch bedeutsam werden sollte.65 In quasi-religiösen Praktiken, so Tillich, schlage »die Kritik der traditionellen Religionen« im Zuge der Krise der Moderne um »in alternative Formen der Religiosität«.66 Dies kann, muss aber nicht im Kollektiv geschehen. Auf individuelle Weise werden (Kunst-)Religion und Erzählkunst in Manns frühen Werken einen exponierten, quasi-religiösen Stellenwert erlangen. Die Leserlenkung wird dann auch zur Selbstlenkung gereichen: Als ›Geburt des Erhabenen aus dem Geiste des Mangels‹ kennzeichnet Manns frühe Werke 64 Zur Theorie des literarischen Feldes s. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes [1992], aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a. M. 1999. 65 Vgl. dazu Christoph Schwöbel, Die Religion des Zauberers: Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns, Tübingen 2008, S. 41–54. 66 Paul Tillich, Gesammelte Werke, 14 Bde. und sechs Ergänzungs- und Nachlassbände, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959–1983, hier Bd. 5, S. 51 (»Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen«; 1962).
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der Versuch, sich im Kontext der erzählten Welt ohne traditionellen Gottesbezug gleichsam literarisch ›selber zu erlösen‹. Dergestalt befördert der von Nietzsche diagnostizierte Tod Gottes in Manns Frühwerk eine reaktive Spannung: Zwischen der Sehnsucht nach der Transzendenz, deren (kindliche) Ursprünglichkeit sich auch in Manns nostalgischem Verhältnis zu Weihnachten bekundet, und der dezidierten Abwehr Gottes oszilliert das aufgeklärte Bewusstsein der melancholischen Moderne in Extremen.67 Ein potenzielles Motto für Buddenbrooks hat Thomas Mann, wie eingangs angemerkt, der Lyrik August von Platens entnommen. Das Motto, das er am Ende für seinen ersten Roman bestimmte, obschon auch dies wieder verworfen wurde, stammt gleichfalls aus Platens Gedichten: So ward ich ruhiger und kalt zuletzt, Und gerne möcht’ ich jetzt Die Welt, wie außer ihr, von ferne schaun: Erlitten hat das bange Herz Begier und Furcht und Grau’n, Erlitten hat es seinen Teil von Schmerz, Und in das Leben setzt es kein Vertrau’n; Ihm werde die gewaltige Natur Zum Mittel nur, Aus eigner Kraft sich eine Welt zu baun.68
»Aus eigner Kraft«: Hier zeigt sich der ›Wille zur Werkheiligkeit‹ – ein unglückliches, schmerzhaftes Prometheus-Bewusstsein, das sich über die Kunstreligion nicht nur legitimiert, sondern gleichsam auch deifiziert.
67 Zur Bedeutung des Weihnachtsfests für Thomas Mann vgl. beispielsweise seine verklärenden frühen Gedichte: NB 1, S. 151f. und S. 199f., sowie Karl-Josef Kuschel, Weihnachten bei Thomas Mann, Düsseldorf 2006. Dort wird auch der rituelle Zauber angesprochen, der trotz aller religiösen Auflösungserscheinungen das Weihnachtsfest im Hause Buddenbrook erhellt. Auf die Spendung von Sakramenten und kirchliche Segenshandlungen wird auch Manns Roman Königliche Hoheit (1909) nicht verzichten (vgl. auch noch den Schlussteil »Die Taufe« in dem »Gesang vom Kindchen«; 1919). Desgleichen ist an den rudimentären Bezug auf die Sprüche Salomos und Luthers Kirchenlied »Ein feste Burg ist unser Gott« in dem »fromme[n], trotzige[n] Wort: ›Turris fortissima nomen Domini‹« zu erinnern, das in Königliche Hoheit »halb nur noch leserlich« am Hauptportal des Schlosses »eingemeißelt stand« (4.1, S. 49 und 4.2, S. 250 – dies auch eine Analogie zur Providenzthematik in Buddenbrooks). Die schwindende Bedeutung der Kirche und traditioneller Glaubenssätze wirkt sich in Königliche Hoheit – anders als im übrigen Frühwerk Thomas Manns – jedoch nicht problematisch aus, sondern führt gerade zu einer religiös grundierten Sozialethik. Dies antizipiert bereits Manns spätere Absicht und seine späteren Bemühungen, wiewohl es vorderhand nur in ein ›Märchen‹ eingebettet denkbar scheint. 68 Vgl. August von Platen, Werke (Anm. 1), Bd. 1, S. 64; NB 1, S. 163f.
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Buddenbrooks (1901)
Demgegenüber steigert die Erzählkunst in Manns Frühwerk sich vorwiegend organisch – auch dort als quasi-religiöse Lebensform, doch nicht als ein ›Martyrium‹ und stete Tour de force. Dem wollen wir im Folgenden ausführlich nachgehen.
2)
Frühe Erzählungen und Fiorenza (1907): Ungleiche Steigerungen
Bereits [… in meinem] Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst – und nicht die Moral – als die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen hingestellt […, mit diesem Resultat:] daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist. […] Hier […] kommt jene »Perversität der Gesinnung« zu Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist, im voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern [.] (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872)1
Es ist nun an der Zeit, zwischen ›Werkheiligkeit‹ und ›Werkgerechtigkeit‹ zu differenzieren. Beide Konzepte sind in Thomas Manns Denken von Nietzsche beeinflusst und für Manns Selbstverständnis als Autor von grundlegender Bedeutung. Während die Werk-Gerechtigkeit in diesem Kontext ein gedankliches Konstrukt darstellt, das nicht nur die Philosophie Schopenhauers (siehe das obige Zitat), sondern auch die Theologie Luthers zugunsten der Kunst unterminiert, geht die Werk-Heiligkeit noch einen Schritt weiter: Hier wird nicht mehr die Legitimation vor Gott, sondern die Substitution Gottes anhand des Kunstwerkes zentral. Wo die Werk-Gerechtigkeit also auf die Erwählung und das Leistungsethos setzt, um sich durch die Kunst erst zu begründen – zwei Vorstellungen, die, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, beide nicht lutherischer, sondern reformierter Provenienz sind –, ist es der Werk-Heiligkeit darum zu tun, sich über die künstlerische ›Schöpfung‹ ihrerseits ›zum Gott zu stilisieren‹. Aus der ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ wird somit eine gesuchte Alternative zu Gott: ein leidvoller Prometheus-Ästhetizismus, der das Frühwerk Thomas Manns im Hinblick auf das Religionsthema durchzieht. Der ›Wille zur Werkheiligkeit‹, der Nietzsches »Willen zur Macht« dabei auf individuelle Weise abwandelt, ist, wie auch die Werkgerechtigkeit, kunstreligiös grundiert. Die gestörte Glaubensgewissheit, die in Buddenbrooks konstitutiv geworden war, nobilitiert die Kunst, mit Paul Tillich zu sprechen, und hier besonders auch die Literatur zur »quasi-religiösen« Lebensform;2 doch tut sie dies 1 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, Bd. 1, S. 17. In Bezug auf Schopenhauers prononcierte Ablehnung von Wagners Ästhetik vgl. seine handschriftlichen Kommentare zum Ring des Nibelungen (Privatdruck der Libretti von 1853, archiviert in der Houghton Library der Harvard University): Yvonne Nilges, »Synthetische Sätze a priori: Schopenhauer und der Ring, der nie ge(k)lungen«, in: Musik als Wille und Welt: Schopenhauers Philosophie der Musik, hg. von Matthias Koßler, Würzburg 2011, S. 119–137. 2 S. dazu das Buddenbrooks-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 65 und Anm. 66.
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im Zuge der Werkheiligkeit sowie der Werkgerechtigkeit in jeweils unähnlicher Ausprägung. Es ist bedeutsam, dass die Idee der Werkgerechtigkeit Manns Schaffen zeitlebens begleitet.3 Die Werkheiligkeit – als eine forcierte Form der Werkgerechtigkeit – durchzieht derweil zumal das Frühwerk Thomas Manns, genauer: nicht die Erzählpragmatik, sondern die Handlung und die Welt des Textes (während das technische ›Wie‹ des Erzählens nicht unter diesen Druck gerät). Historisch-systematisch changiert das seit Schleiermacher und Hegel etablierte Konzept der »Kunstreligion«, das in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte, zwischen zwei Polen: der »Konvergenz« mit der jeweils vorausgesetzten Religion und der »Konkurrenz« zu ihr.4 Wir werden auf den nächsten Seiten nachverfolgen können, dass – und inwiefern – Manns Frühwerk, indem es thematisch zur Werkheiligkeit tendiert, den Konkurrenz-Gedanken pflegt, während die Vorstellung der Werkgerechtigkeit, als eine das Frühwerk überdauernde, nach Konvergenz bestrebt ist. Sie ist es auch, die bereits in Manns Frühwerk die Erzählpragmatik kennzeichnet. Indem die Konkurrenz zu Gott, wie noch zu zeigen sein wird, beim frühen Thomas Mann indessen eine intrikate Variation des einen Konvergenz-Gedankens darstellt, liegt – gleichsam auf einer Metaebene – eine ›Coincidentia Oppositorum‹ vor, die These und Antithese synthetisch überhöht. Sowohl in Konvergenz mit Gott als auch in Konkurrenz zu Gott ist Thomas Mann jedoch daran gelegen, die Eigenständigkeit, ja Exklusivität des individuellen Künstlertums zu wahren und zu demonstrieren. Dem wollen wir uns nun eingehend zuwenden.
3 Vgl. hierzu das Buddenbrooks-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 26. 4 Heinrich Detering, »Religion«, in: Handbuch Literaturwissenschaft, hg. von Thomas Anz, 3 Bde., Stuttgart/Weimar 2007, Bd. 1, S. 382–395. – Vgl. zur Problemstellung, dort ausschließlich auf Thomas Manns Essays bezogen, auch Tilo Müller, Frömmigkeit ohne Gauben: Das Religiöse in den Essays Thomas Manns (1893–1918), Frankfurt a. M. 2010, sowie Wiebke Buchner, »Die Gottesgabe des Wortes und des Gedankens«: Kunst und Religion in den frühen Essays Thomas Manns, Würzburg 2011.
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I. a)
Einwirkungen: Thomas Manns »Dreigestirn ewig verbundener Geister«
Das Frühwerk Thomas Manns gestaltet sich mit Rücksicht auf die ›religiöse Frage‹ ausnehmend subjektiv und idiosynkratisch, da hier einzelne Aspekte des »Dreigestirn[s] ewig verbundener Geister« (13.1, S. 79 und S. 86) – Wagner, Nietzsche, Schopenhauer – selektiv miteinander vermengt werden.5 Von den vier Faktoren, auf die sich der Begriff der »Kunstreligion« potenziell erstreckt – das Kunstwerk, den Künstler, das Zustandekommen des Kunstwerks (Produktionsverfahren) und die Reproduktion desselben –,6 interessieren Thomas Mann grundsätzlich alle vier. Eine Identifikation mit der Reproduktion des Kunstwerkes wird allerdings negiert – siehe die Abgrenzung zum George-Kreis in der Erzählung »Beim Propheten« (1904) und die Demontage von Wagners »Tempelpublicität« (NB 2, S. 134) –, wohingegen die ersten drei Faktoren das gesamte Frühwerk prägen. Dabei sind alle vier Kriterien für Mann letztlich identitätsstiftend; das Element der Reproduktion fungiert nur als Identitätsnachweis ex negativo. Wie genau setzt sich nun das spezifische Verständnis von Kunstreligion bei Thomas Mann zusammen? In der chronologischen Reihenfolge Wagner – Nietzsche – Schopenhauer eröffnen sich für den jungen Autor nacheinander musikalische und philosophische Beziehungsfelder, die Mann ein Leben lang begleiten und die sich bis zuletzt in seinem Gesamtwerk niederschlagen werden. Zur Historisierung traditioneller Glaubenslehren, wie sie in Buddenbrooks zentral geworden waren, d. h. zu den »[r]eligiöse[n] Nachwehen« in der Kultur, hatte Nietzsche seinerseits schon konzediert: Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen […] zu begegnen […:] zum Beispiel in der Musik […]. Daran bemerkt man, wie die weniger bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen, aber recht wohl den Zauber der religiösen Empfindung kennen; es thut ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen.7
Bei Richard Wagner, der ersten epochalen Einwirkung, fand der junge Thomas Mann drei stilisierende Momente vor, die er alle – mit Modifizierungen – in sein 5 Zu Manns Heiligkeitspraktiken im Frühwerk s. bereits Yvonne Nilges, »Unendliche Werkheiligkeit? Kunstreligion in Thomas Manns frühen Erzählungen und Fiorenza«, in: Unendlichkeit: Transdisziplinäre Annäherungen, hg. von Christoph Böttigheimer und René Dausner, Würzburg 2018, S. 239–255. 6 Vgl. Heinrich Detering, »Religion«, in: Handbuch Literaturwissenschaft (Anm. 4). 7 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Anm. 1), Bd. 2, S. 124 (Menschliches, Allzumenschliches; 1878).
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Denken übernahm: Es handelt sich dabei zum einen um das Konzept des Künstler-Heiligen, zum anderen um das des Künstler-Propheten und zum dritten um das Leiden als anthropologische Grundkonstante (hierin der Lehre Schopenhauers ähnlich). In seiner hagiographischen »Beethoven«-Schrift von 1870 kommt Wagner auf den Heiligenstatus des Künstlers dezidiert zu sprechen, und zwar nicht nur mit Rücksicht auf den musikalischen Künstler (d. h. Beethoven), sondern auch den literarischen (in diesem Falle Shakespeare).8 Beethoven und Shakespeare sind für Wagner sakrosankt; ihr explizit so benannter Heiligenstatus ist dabei singulär – Wagner schließt sich weder dort noch später selbst mit ein, noch konzediert er irgendeinem dritten Künstler innerhalb der Weltgeschichte eine ästhetische Sanktifikation. Dies freilich hat Thomas Mann aus seiner Rezeption herausfiltriert; ebenso den ungetrübten Überschwang, der sich in Wagners Hagiolatrie bekundet, und Wagners Fokus auf das (musikalische) Drama. Was Thomas Mann stattdessen – selektiv – aufnimmt, ist die Idee des Künstler-Heiligen, die in der Tat auch bei Wagner eng mit der des Künstler-Propheten verwoben ist; bei Wagner jedoch wiederum euphorisch, indem der sakralisierte Künstler (Beethoven/Shakespeare) zum Visionär wird, der kraft seines genialen Traum-Somnambulismus das »Abbild des innersten Wahrtraumes« hellsichtig-künstlerisch nach außen verkündet.9 Der Künstler als Prophet: Auch dies rührt also von Wagner her, doch ohne jeden Beigeschmack des – letztlich politisch motivierten – Machtwillens, der für den frühen Thomas Mann so wichtig ist. Das Leiden als anthropologische Grundkonstante schließlich durchzieht Wagners Opern von den Anfängen bis hin zu seiner letzten Oper, dem »Bühnenweihfestspiel« Parsifal (1882). Dabei ist das Leiden stets mit einer besonderen Gefühlstiefe verbunden, die als Leidenspathos die entsprechenden Figuren auszeichnet. So wird, um nur ein Beispiel anzuführen, das Leiden in Wagners Tristan und Isolde (1865) zum ebenso gesuchten wie verfluchten Exklusivitätsmerkmal: »[W]as ich leide, / das – kannst du nicht leiden!«10 Kennzeichnend für das Frühwerk Thomas Manns ist nun, dass diese Leidensfähigkeit und -willigkeit 8 Vgl. dazu ausführlich Yvonne Nilges, Richard Wagners Shakespeare, Würzburg 2007. Wie sehr Wagners theoretische Schrift, die Beethoven und Shakespeare parallelisiert, auf Thomas Mann gewirkt hat, zeigt noch das neunte Kapitel in Doktor Faustus (1947): »Shakespeare und Beethoven zusammen bildeten [… am geistigen Himmel des Domorganisten Wendell Kretzschmar] ein alles überleuchtendes Zwillingsgestirn, und sehr liebte er es, seinem Schüler [dem jungen Adrian Leverkühn] merkwürdige Verwandtschaften und Übereinstimmungen in den Schaffensprinzipien und -methoden der beiden Giganten nachzuweisen [.]« (10.1, S. 107f.) 9 Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, 10 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1887, Bd. 9, S. 109. 10 Ebd., Bd. 7, S. 64.
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in zunehmendem Maß jedoch nur noch dem Intellektuellen und vornehmlich dem Künstler attestiert wird (u. a. Wagner selbst; vgl. noch Manns Essay von 1933 über »Leiden und Größe Richard Wagners«). Die Folge ist ein gegenüber Wagner neu semantisiertes Leiden, das Leid als Monopol des Décadents: ein Leiden also, das auf frustriertem dekadenten Machtwillen beruht.11 Die wesentliche Vorstellung der Macht hat Thomas Mann dabei von Nietzsche übernommen – so, wie überhaupt Manns Wagner-Bild von Nietzsches WagnerAnalyse überlagert wurde.12 Der Einfluss Nietzsches kann in diesem Punkt kaum überschätzt werden. So werden Wagners Konzeption des Künstler-Heiligen, des Künstler-Propheten und das Leidenspathos in Manns eigenes Verständnis von Kunstreligion zwar integriert, zugleich jedoch, Nietzsches Perspektivismus folgend, auch bis in tiefste psychische Abgründe hinein intellektualisiert und problematisiert – gemäß Nietzsches »Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben«.13 Thomas Mann folgt also Nietzsches Wagner-Kritik – ebenso wie dessen allgemeinerer Kritik an Christus und am Christentum, wobei der »Wille zur Macht« (bereits bei Nietzsche) das Tertium Comparationis bildet. In beiden Fällen walten, so Nietzsche, lebensfeindliche »asketische Ideale« vor – oder, mit dem berühmten Zitat aus Zur Genealogie der Moral (1887) zu sprechen: [H]ier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst [.]14
Die Perversion der Schwäche, die ihre ganze Macht und Stärke daraus zieht, über noch ausgeprägtere Schwäche triumphal zu herrschen: Das eben ist der »asketische Priester«. 11 Zur Wagner-Rezeption vgl. auch eingehend Hans R. Vaget, »Wehvolles Erbe«: Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann, Frankfurt a. M. 2017. 12 Manns Verständnis der »menschliche[n] Leidenswürde« wird in seinem »Schopenhauer«Essay des Jahres 1938 noch immer grundlegend von Nietzsche geprägt sein: »[I]m Genius kommt sie [die Leidenswürde] auf ihren Gipfel. ›Es bestimmt die Rangordnung, wie tief einer leiden kann‹, sagt Nietzsche« (IX, S. 570). Das dem Sinn nach korrekte, wörtlich nicht ganz fehlerfreie Nietzsche-Zitat stammt aus Jenseits von Gut und Böse (1886). Vgl. im einschlägigen Aphorismus 270 (Neuntes Hauptstück: »Was ist vornehm?«) auch das analoge Diktum: »Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt.« – Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Anm. 1), Bd. 5, S. 225. 13 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Anm. 1), Bd. 5, S. 118. Wolf-Daniel Hartwich hat dargelegt, inwiefern Nietzsches »Wille zur Macht« mit Wagners eigenem kunstreligiösen Denken, wie es in Wagners Regenerationsschriften entwickelt wird, durchaus nicht kompatibel ist. Vgl. dazu Wolf-Daniel Hartwich, »Prediger und Erzähler: Die Rhetorik des Heiligen im Werk Thomas Manns«, in: Thomas Mann Jahrbuch 11 (1998): 31–50. 14 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Anm. 1), Bd. 5, S. 363.
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Für Nietzsche fließen Religion (das Christentum als Imitatio Christi) und moderne Kunst vor diesem Hintergrund zusammen, denn Jesus Christus wie auch Wagner – als der moderne, dekadente Künstler par excellence – kann in seiner genuinen Asthenie, folgen wir Nietzsche weiter, nur deshalb reüssieren, weil er »als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde« anerkannt und glorifiziert wird. Mit anderen Worten: Der asketische Priester muss, so Nietzsche, selber krank sein, er muss den Kranken und Schlechtweggekommenen von Grund aus verwandt sein, um sie zu verstehen, – um sich mit ihnen zu verstehen; aber er muss auch stark sein, mehr Herr noch über sich als über Andere, unversehrt namentlich in seinem Willen zur Macht, damit er das Vertrauen und die Furcht der Kranken hat, damit er ihnen Halt, Widerstand, Stütze, Zwang, Zuchtmeister, Tyrann, Gott sein kann.15
Ein »Gott« der Heimzahlung – ein Décadent, der selber einen »Kranken und Schlechtweggekommenen« darstellt und dem aus der Vergöttlichung die rächende Herrschaft »über das Leben selbst« erwächst: Hier verschmelzen Nietzsches Kritik an Jesus Christus und an Richard Wagner miteinander. »Unersättlich« nennt Nietzsche den einen wie den anderen, und was er über »Jesu Leben« in Jenseits von Gut und Böse (1886) diagnostiziert, sieht er in Wagner künstlerisch gespiegelt. Jesu wie Wagners Kuriosum sei demnach die Geschichte eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die Hölle erfinden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht lieben w o l l t e n , – und der endlich, wissend geworden über menschliche Liebe, einen Gott erfinden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben-k ö n n e n ist, – der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist! Wer so fühlt […], s u c h t den Tod.16
Tatsächlich lesen wir schon 1876, in der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, von Wagners »Unersättlichkeit«, welche die spätere Verbindung mit Jesus Christus bei Nietzsche antizipiert: Wagner besitzt einen unersättlichen Trieb, [… sich] mitzutheilen. Sein Werk […] als ein heiliges Depositum […] zum Eigenthum der Menschheit zu machen, es niederlegend für eine besser urtheilende Nachwelt, diess wurde ihm zum Zweck, der a l l e n a n d e r e n Z w e c k e n vorgeht, und für den er die Dornenkrone trägt, welche einst zum Lorbeerkranze ausschlagen soll [.]17
Wagners – ursprünglich positiv konnotierte – Ideen des Künstler-Heiligen, des Künstler-Propheten und des Leidens werden somit in der Rezeption durch Nietzsche destruiert und um das desavouierende Konzept des asketischen Priesters erweitert, welches ebenso auf Jesus Christus wie auf Wagner zielt. 15 Ebd., S. 372. 16 Ebd., S. 225. 17 Ebd., Bd. 1, S. 498.
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Beide, so Nietzsche, kennzeichne ihr »Verlangen […] nach B e t ä u b u n g v o n S c h m e r z d u r c h A f f e k t «.18 Christus (und das Christentum als Ganzes) wie auch Wagner (und, als parallele Ableitung, die Wagnerianer) sind nach Nietzsches Auffassung im Kern ihres Wesens deshalb neurotisch.19 Es ist bezeichnend, dass Thomas Mann diese Vorstellungen von Nietzsche übernimmt, auch sie jedoch nicht durchweg affirmiert. Stattdessen wird auch bei vorliegender Quelle selektiv verfahren, indem ein kunstreligiöses, eigenes Konglomerat entsteht – mit der Ambivalenz, der Ambiguität als oberstem Prinzip. Thomas Mann nimmt den Künstler-Heiligen, den Künstler-Propheten und den ›asketischen Leidens-Priester‹ als essenzielle Komponenten in sein Denken auf – ohne Wagners rückhaltlosen Enthusiasmus, ohne Nietzsches offenkundige Polemik jedoch auch. Dies zeigt zumal Manns zwiespältiges Savonarola-Bild: Nietzsches grelle Invektiven gegen den Dominikanermönch verweisen auf eine unbewusste Selbstidentifikation mit Savonarola, die Mann als psychologische Projektion durchaus verstand. Anders als Nietzsche hat Thomas Mann seine eigene Affinität zum ›dekadenten‹ »asketischen Priester« Savonarola gut erfasst.20 Während Nietzsche Savonarola scharf zurückwies, changiert das Savonarola-Bild bei Mann beständig zwischen Annahme und Ablehnung – als Zeichen nachgerade aufrichtig empfundener, wiewohl z. T. erschütternder Verwandtschaft. In dieser Hinsicht protestiert also der Schüler Thomas Mann gegen den Lehrer (Nietzsche), wobei das Wort »Protest« hier ebenso differenziert wie umfassend verwendet werden kann (und in der Tat von Mann auch so gebraucht wird). Denn ironischer Protest – als Eigenbehauptung zwecks Selbststabilisierung – sind Kern und Telos von Manns Kunstreligion: gegen alle anderen, gegen Gott wie gegen die gespaltene, gequälte Selbstwahrnehmung. Auf diese Weise wird Savonarola in 18 Ebd., Bd. 5, S. 374. 19 Vgl. ebd., Bd. 6, S. 22: »W a g n e r e s t u n e n é v r o s e .« (Der Fall Wagner; 1888) Die Verbindung von »Genie« und »Neurose« ist um die Jahrhundertwende symptomatisch; vgl. Max Nordaus Degenerationsanalyse in seiner Schrift Entartung (1892), wo die modernen Décadents (also auch Nietzsche selber) als geniale Pathologen kritisiert werden. In diesem Kontext sind auch die Studien des italienischen Psychiaters und Anthropologen Cesare Lombroso von Interesse. Seine These, dass Genialität – wie Kriminalität – neurotisch bedingt sei, sucht er u. a. am historischen Savonarola zu belegen. S. hierzu Denis Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900: Zwischen fiktivem Archetypus und Projektionsfigur der Krise, Hamburg 2008, S. 307f. 20 Zu Nietzsches Savonarola-Rezeption vgl. Josef Nolte, »Die Rückkehr des Verdrängten: Savonarola im Urteil von Goethe, Jacob Burckhardt und Nietzsche«, in: Nietzscheforschung 4 (1997): 259–270. Was Wagner betrifft, so hat dieser den historischen Savonarola nicht im Sinn der Décadence gedeutet; der Savonarola-Stoff, so Wagner im Gespräch mit seiner Frau Cosima, sei nur bedingt ästhetisch – und Savonarola seinerseits nur wenig geistvoll. – Cosima Wagner, Die Tagebücher, 2 Bde., hg. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München/ Zürich 1976/1977, hier Bd. 2, S. 1081 (Gespräch vom 28. Dezember 1882).
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Manns Vorstellung zum Inbegriff des Protestierens (und zum Protestanten avant la lettre): Bei den geborenen Protestanten und Märtyrern handelt es sich garnicht um die Sache, sondern um ihr Temperament, ihre physiologische Beschaffenheit. Sie würden protestiren wie auch immer sie die Welt angetroffen hätten.
So Manns Kommentar zu Savonarola in seinem Notizbuch (NB 1, S. 218), und nicht minder denkwürdig ist seine Tendenz, in der Mission des Dominikanermönches ein »Kunstwerk« zu erblicken (ebd., S. 232). Ebenso wie der Literat ist Savonarola in Manns Deutung ein Außenseiter, dessen »Kunstwerk« – auch Savonarola wirkt durch das charismatische Wort – als ›Prometheus-Schöpfung‹ gegen das Leben opponiert: »Die Verachtung und Verhöhnung der ›Geistlichen‹ und Mönche im Bes.: Parallele zur Verachtung der Litteraten von heute«, heißt es erneut dazu in Manns Notizbuch (ebd., S. 213). Eine sich solcherart selbst bespiegelnde Analyse destruiert, kultiviert und sakralisiert sich über das Alter Ego gleichermaßen: Savonarola ist aus Ferrara aus guter und hochangesehener Bürgerfamilie gebürtig. Statt auch seinerseits einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen, entweicht dieser geniale Verfallstypus seinen Eltern ins Kloster, in die Heiligkeit (die Litteratur) […]. (Ebd., S. 212)
Das gemahnt an »Tonio Kröger« (1903) und die »reinigende, heiligende Wirkung der Litteratur« (2.1, S. 275): Savonarola wird von Thomas Mann als »entlaufener Bürger« aufgefasst! Die heiklen Niederlegungen von »Heiligkeit und Wissen, die sacrae litterae«, verweisen in diesem Kontext nicht auf die Heilige Schrift, sondern auf die ›heilige‹ Literatur (und mit ihr auf den ›heiligen‹ Literaten: Thomas Mann selber), denn »hier hat das Leiden Macht« (NB 1, S. 234). Fassen wir bis hierhin einstweilen zusammen: Manns differenzielle Kunstreligion umfasst die Konzepte des Künstler-Heiligen, des Künstler-Propheten und des ›asketischen Leidens-Priesters‹ im Hinblick auf die Kunst. Es sind alternative ›Glaubenssätze‹, die hier vertreten werden und die der junge Thomas Mann beständig auf sich selbst bezieht – in der ›heiligen‹ Literatur und ihrem ›Schöpfer‹, im Literaten-Propheten (als dekadentem Poeta vates) und im »Willen zur Macht« des leidenden Literaten. Derart entsteht das Paradox, dass der Künstler seine Lebensschwäche am Leben selbst zu rächen sucht, zugleich jedoch »seinen Lebensmangel [veredelt], indem er ihn implizit als Grundvoraussetzung für sein künstlerisches Schaffen anerkennt«.21 Nicht nur in Thomas Manns Essay »Das Theater als Tempel« (1907) zeigt sich die Fragilität dieser persönlichen Kunstreligion, die ohne den Konflikt nicht auskommt. Einerseits wird die Abgrenzung von Wagners Bayreuth und der 21 Paolo Panizzo, Ästhetizismus und Demagogie: Der Dilettant in Thomas Manns Frühwerk, Würzburg 2007, S. 45.
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dramatischen Kunst als Wagners Medium, andererseits aber auch ein Sichgleichsetzen mit dem »asketischen Priester« Wagner gesucht. (Vgl. auch Manns Drama [!] Fiorenza aus demselben Jahr.) Das »Leitmotiv«, so Mann in »Das Theater als Tempel«, sei eine Monstranz […,] und ein Künstler, der, wie Richard Wagner [und Thomas Mann selber], gewohnt war, mit Symbolen zu hantieren und Monstranzen emporzuheben, mußte sich schließlich als Bruder des Priesters, ja, selbst als Priester fühlen. (14.1, S. 121f.)
Wie Nietzsche entlarvt Thomas Mann den »asketischen Priester« psychologisch, doch bereitwilliger als Nietzsche konzediert er ihm – zumindest, sofern es sich dabei um Wagner oder ihn selbst handelt – auch ein höheres, auf das Numinose verweisende Wissen, d. h. mystagogische Einsichten, die wiederum deutlich von Wagners Vorstellung des Künstler-Heiligen, des Künstler-Propheten und des kathartischen Leidens herrühren.22 Indessen steigert sich die Nietzsche-Orientierung im Frühwerk Thomas Manns kontinuierlich, was wiederum Manns kunstreligiöses Verständnis noch tiefer mit dem »Geist«, d. h. dem Intellekt, verbindet. Auf diese Weise wird das »Leiden« bis zum Äußersten forciert, da Nietzsches radikale Vitalismus-Konsequenz für Mann keine Option darstellt. Das Leidenspathos, das ursprünglich von Wagners Opern herrührte, wird von Mann so in der Folge zum veritablen Leidens-Kult erhoben, intensiviert und funktionialisiert; auch Manns »Künstlerschwäche für den Katholizismus«, wie er in den Arbeitsnotizen zum »Tod in Venedig« (1912) bemerkt, gehört in diese individuelle, gezielte Kontamination von Schmerz, Macht und Ästhetik (2.2, S. 499). Insofern wird das Leistungsethos, das Manns gesamtes Schaffen prägt, nach dem Erfolg von Buddenbrooks geradewegs existenziell: Der Selbstanspruch der Werkgerechtigkeit intensiviert sich bis zum Willen zur Werk-Heiligkeit. Er wird zur Signatur des Ehrgeizes, der freilich gerade hier, in extremer Ausprägung, von einem Selbstgefühl grundiert wird, das verunsicherter ist als je zuvor. Zu den subjektivistischen Wagner- und Nietzsche-Reminiszenzen (der Künstler-Heilige, der Künstler-Prophet bzw. der Künstler-Priester) tritt in Manns kunstreligiöser Anschauung schließlich noch eine – gleichfalls selektive – SchopenhauerRezeption hinzu. Hier haben wir es mit einer veritablen Inversion zu tun, die Schopenhauers Philosophie in das Prokrustesbett von Manns idiosynkratischer Synthese zwingt 22 Zu Thomas Manns Wagner-Krise, die sich am virulentesten in den Fragmenten zu einem »Litteratur-Essay« (d. i. »Geist und Kunst«) der Jahre 1909 bis 1912 dokumentiert, vgl. ausführlich Yvonne Nilges, »›Enthusiastische Ambivalenz‹: Wagner als Paradigma des modernen Künstlers im Urteil Thomas Manns«, in: wagnerspectrum 7/2 (2011): 137–155.
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– so, wie bereits das Nirwana in Buddenbrooks nicht in fernöstlicher Auslegung (als erfülltes Nichts und spirituelle Vollendung), sondern als Flucht vor dem Leben bedeutungsvoll geworden war. In der Welt als Wille und Vorstellung (1819) postuliert Schopenhauer – geradewegs konträr zu Mann – eine tiefgreifende metaphysische Differenz zwischen dem »Geist« (d. h., mit Thomas Mann zu sprechen, auch und zumal der »Litteratur«) und der »Güte des Herzens«, welch Letztere hingegen den Heiligen auszeichne: Denn wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie […] überstrahlt […] von der Güte des Herzens. […] Denn die Güte des Herzens ist eine transzendente Eigenschaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichenden Ordnung der Dinge an und ist mit jeder andern Vollkommenheit inkommensurabel.23
Anders formuliert: Die Herzensgüte des Heiligen ist der Literatur – als Produktion des Geistes, des Verstandes – überlegen, so dass die bloße Vorstellung eines Künstler-Heiligen von Schopenhauer ausgeschlossen wird. Zwar vermag, so Schopenhauer, die Kunst in ihren höchsten und erhabensten Formen über sich selbst hinauszuweisen, doch Conditio sine qua non dafür ist die Willensverneinung, die dem Heiligen entspricht und mit dem »Willen zur Macht«, wie wir ihn oben nachgezeichnet haben, kollidiert. Wenn Thomas Mann den Heiligen als vornehmste Entwicklungsstufe des Literaten verstanden wissen möchte (14.1, S. 362), so ist Schopenhauer als ›Vater des Gedankens‹ zwar also prinzipiell plausibel; doch wurde Schopenhauer zugunsten des – von Wagner stammenden – Konzepts des Künstler-Heiligen hier umgedeutet und mit Konnotationen ausgestattet, die Schopenhauer fremd waren. Denn Künstler und Heiliger zugleich zu sein, ist nach Schopenhauer nur dann möglich, wenn die Person des Künstlers so weit hinter den Heiligen zurücktritt, dass sie sich entpersonifiziert. Die Transzendierung der Individuation jedoch, und nichts anderes ist hier gemeint, läuft dem ›Willen zur Werkheiligkeit‹ im Frühwerk Thomas Manns zuwider. Zusammenfassend ergibt sich somit ein Vexierbild, ein diffizil durchgeistigtes und geistreiches Konstrukt, das Thomas Manns Denken bestimmt: Der Künstler, und hier zumal der Literat, trägt Züge des Heiligen, des Propheten, des ›asketischen Leidens-Priesters‹ – und wird zudem (und unmittelbar daraus folgend) mit Christus-Analogien versehen.24 23 Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, 5 Bde., hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Frankfurt a. M. 1986, hier Bd. 2, S. 300. 24 Zu den Christus-Analogien vgl. bereits eingehend Friedhelm Marx, »Ich aber sage Ihnen…«: Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt a. M. 2002. Marx unterscheidet zwischen drei Arten von Christusfigurationen: Neben dem ›Jesuskind‹ – heilig, profan und betrügerisch zugleich, z. B. in der frühen Erzählung »Das Wunderkind« (1903) – stehen der ›Christus imperator maximus‹ – d. h. der personifizierte »Wille zur Macht«, manifest v. a. in
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Diesem komplexen Konglomerat eignet, wie wir gesehen haben, eine in hohem Maße stilisierte Mischung dreier Einflüsse (Wagner, Nietzsche, Schopenhauer), so dass auf der einen Seite zwar eine selbstständig errungene ›Sakralisierungs-Leistung‹, auf der anderen Seite aber auch die Mühe, das Gewollte daran kenntlich wird – wobei Thomas Mann sich überdies noch gegen die Selbststilisierung Dritter zu behaupten hat, die ihrerseits versuchen, Transzendenz zu konstruieren (insbesondere Stefan George). Das Leiden wird, mit Goethe zu sprechen, in Thomas Manns Frühwerk also noch ›einige Stufen höher geschraubt‹, ambivalent als göttlich-pathologisch profiliert und ins kunstreligiöse Martyrium gesteigert: Vgl. neben den ChristusEvokationen in diesem Zusammenhang auch Thomas Manns Vorliebe für den Heiligen Sebastian, die etwa im »Tod in Venedig« (1912) – Manns »Künstlerschwäche für den Katholizismus« entsprechend – prononciert zum Ausdruck kommt. Dort wird sie auf Gustav von Aschenbach übertragen: Über den neuen, in mannigfach individuellen Erscheinungen wiederkehrenden Heldentyp, den dieser Schriftsteller bevorzugte, hatte schon frühzeitig ein kluger Zergliederer geschrieben: daß er die Konzeption »einer intellektuellen und jünglinghaften Männlichkeit« sei, »die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig dasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen.« Das war schön, geistreich und exakt […], und die Sebastian-Gestalt ist das schönste Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiß der in Rede stehenden Kunst. (2.1, S. 511)25
»Gladius Dei« (1902) und Fiorenza (1907) – sowie der leidende, gequälte ›Christus‹, wobei alle drei Lesarten mit der Künstlerthematik substanziell verbunden sind. 25 Die traditionelle Ikonographie betonte seit der Renaissance ein besonders männliches, der Schönheit eines Adonis gleichendes Erscheinungsbild des Heiligen Sebastian. Diese Stilisierung gequälter Standhaftigkeit führte dazu, dass der Heilige Sebastian später zu einer homoerotischen Ikone avancierte (vgl. etwa auch die homoerotischen Anspielungen im Bühnenwerk Le Martyre de Saint Sébastien [1911] von Claude Debussy mit dem Text von Gabriele D’Annunzio). Noch in seiner Nobelpreisrede von 1929 wird Thomas Mann – dann in bedeutsamer Akzentverschiebung – auf den Heiligen Sebastian Bezug nehmen: »Ich bin kein Katholik, meine Herren und Damen, meine Überlieferung ist, wie wahrscheinlich die Ihrer aller, die protestantische Gottesunmittelbarkeit. Dennoch habe ich einen Lieblingsheiligen. Ich will Ihnen seinen Namen nennen, es ist der heilige Sebastian – Sie wissen, jener Jüngling am Pfahl, den Schwerter und Pfeile von allen Seiten durchdringen, und der in Qualen lächelt. Anmut in der Qual – dies Heldentum ist es, das Sankt Sebastian symbolisiert. Das Bild mag kühn sein, aber ich bin versucht, dieses Heldentum für den deutschen Geist, die deutsche Kunst in Anspruch zu nehmen und zu vermuten, daß die der literarischen Leistung Deutschlands zugefallene Weltehrung diesem sublimen Heldentum gilt. Deutschland hat [in den letzten anderthalb Jahrzehnten, d. h. seit dem Ersten Weltkrieg] durch seine Dichtung Anmut bewiesen in der Qual. Es hat die Ehre gewahrt: politisch, indem es nicht in Schmerzensanarchie zerfiel […]; und geistig, indem es das östliche Prinzip des Leidens zu einen vermochte mit dem westlichen Prinzip der Form, indem es in Leiden Schönes hervorbrachte.« (XI, S. 409f.) Natürlich ist auch diese neu akzentuierte, auf Deutschland bezogene Sicht des Heiligen Sebastian bei Mann wiederum selbstreferenziell.
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Frühe Erzählungen und Fiorenza (1907)
Der Leidenskult bei Thomas Mann opponiert gegen das »Leben«, d. h. im Kern gegen sich selbst und innere Konflikte. Psychologische Grundlage für »Scham« und Schuld ist dabei immer das mit »Leiden« verbundene Bewusstsein von Alterität, welches zugleich – in konfliktreicher Janusköpfigkeit – für Mann aber auch immer ›Erwählung‹ und Auszeichnung bedeutet. So heißt es in Thomas Manns früher Künstlernovelle »Die Hungernden« (1903), wobei schon hier Motive des Doktor Faustus (1947) anklingen: Einmal, nur eine Nacht wie diese, kein Künstler sein, sondern ein Mensch! Einmal dem Fluch entfliehn, der da unverbrüchlich lautete: Du darfst nicht sein, Du sollst schauen; Du darfst nicht leben, Du sollst schaffen; Du darfst nicht lieben, Du sollst wissen! Einmal in treuherzigem und schlichtem Gefühl leben, lieben und loben! […] Was ist Geist? Spielender Haß! (2.1, S. 376 und S. 379)
Die messianische Stigmatisierung, die Manns frühe Werke prägt, erhebt den Künstler, und hier zumal den Literaten, als Kompensation für das verlorene Urvertrauen letzten Endes selbst zum ›Gott‹. Der ›Wille zur Werkheiligkeit‹, der sich im Frühwerk Thomas Manns zusehends formiert, versucht mithin, die Kontingenzerfahrung der Moderne zu bewältigen, indem er sie über-wältigt: eine Tour de force. Die »Erlösung durch das [literarische] Wort« (2.1, S. 380) nimmt dergestalt qualvolle Züge an: Unter dem Vorzeichen der »Erlösung durch die Litteratur« (2.1, S. 277) stehen sowohl das fiktionale Frühwerk als auch die frühe Poetik Thomas Manns, wenn wir an »Bilse und ich« (1906) und den »Versuch über das Theater« (1907) denken.26 Es ist ein Erlösungsversuch im Alleingang, ein quasireligiöses Unterfangen der Werkheiligkeit in Konkurrenz sowohl zu Gott, der von Mann kunstreligiös substituiert wird, als auch zu anderen Künstlern und Denkern (einschließlich seinem »Dreigestirn«).
b)
Auswirkungen: Kunstreligiöse Forcierung
Die oben dargestellten Einflüsse weisen in Manns Frühwerk eine besondere Dynamik auf. Anders als in Buddenbrooks verlagert sich in Manns übrigen frühen Werken das Religionsthema nicht graduell; vielmehr beginnen die Erzähltexte, was die ›religiöse Frage‹ anbelangt, gerade dort, wo Buddenbrooks zum Ende kommen: in der Schilderung unglücklicher, ästhetizistischer ›Passionen‹. Anders formuliert: Der kunstreligiöse Fokus ist bereits von Anfang an gegeben. (Schon die erste kurze Prosaskizze Thomas Manns trägt den bezeichnenden Titel 26 Zu Letzterem s. Heinrich Detering, »Das Werk und die Gnade: Zu Religion und Kunstreligion in der Poetik Thomas Manns«, in: Der ungläubige Thomas: Zur Religion in Thomas Manns Romanen, hg. von Niklaus Peter und Thomas Sprecher, Frankfurt a. M. 2012, S. 149–165.
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»Vision« [1893].) Insgesamt lassen sich vier markante, kunstreligiöse Entwicklungsstufen ausmachen, die ineinander übergehen. In den ganz frühen Erzählungen, die noch vor der Jahrhundertwende datieren, finden sich zunächst noch disparate kunstreligiöse Heiligkeitspraktiken, die wir insofern auch unter der Überschrift »Literarische Handwerksübungen« subsumieren können. Der spektakulär aufflammende Himmel in »Der Wille zum Glück« (1896) etwa ist reiner, an Wagners Musikdrama mimetisch nachgebildeter Effekt; hingegen lassen die schon in den frühesten Erzählungen manifeste »Sehnsucht nach dem Tode«, verbunden mit erwogenen bis hin zu wirklich ausgeführten Selbstmorden (»Der Tod«, »Der kleine Herr Friedemann« und »Der Bajazzo«, alle aus dem Jahr 1897), sowie die rekursive Verwendung biblischen Vokabulars (z. B. in »Tobias Mindernickel« von 1898) die kennzeichnende Ausrichtung erkennen, die auch späterhin noch von Bedeutung sein wird.27 Allen frühesten Erzählungen gemein ist unterdessen, dass die traditionelle Religion – wie in Buddenbrooks nur wenig später – keinen Halt mehr bietet. Demgemäß liegt in »Der Kleiderschrank« (1899) der Hauptfigur mit sprechendem Namen, Albrecht van der Qualen, denn auch daran, »Gott nichts schuldig« sein zu müssen (2.1, S. 197): Desorientierung, Leiden, Abwehr deuten sich frühzeitig an – wie ebenfalls, nach dem von Nietzsche diagnostizierten Gottestod, auch dessen ›Schule des Verdachts‹.28 Und so, wie nach Nietzsche die »an der Verarmung des Lebens Leidenden […] Erlösung« von sich selber durch die »Kunst« und die »Erkenntnis« suchen, entsteht bereits in den frühesten Erzähltexten Thomas Manns eine repräsentative Fokussierung auf den Tod: die Sehnsucht nach Betäubung, Rausch und Selbstauflösung in der Unbewusstheit.29 In diesen frühesten Erzählungen ist der (aktive) ›Wille zur Werkheiligkeit‹ noch nicht stark ausgeprägt. Vielmehr liegt die Betonung hier noch – wie in Manns Romandebüt – auf passivem Ausgeliefertsein: der Ohnmacht, dekadentem Überdruss, dem Schmerz, der Erkenntnissuche ebenso wie dem Erkenntnisekel, dem Tod als Rettung vor dem Leben. 27 Die Thematisierung des Selbstmords führt Georges Fourrier bereits früh auf Nietzsches Götzen-Dämmerung (1889) zurück: Thomas Mann: Le message d’un artiste-bourgeois (1896– 1924), Paris 1960, S. 60f. Auch die Dekuvrierung des (christlichen) Mitleids, hinter dem sich schon in »Tobias Mindernickel« der »Wille zur Macht« verbirgt, rekurriert natürlich – bereits hier – auf Nietzsche. 28 Bereits in der Erzählung »Enttäuschung« (1898) entlarvt auf diese Art ein Fremder, der evidente Nietzsche-Züge trägt, die Leere theologisch normativer Lehre, verbunden mit einschlägiger, erneut von Nietzsche herrührender Sprachkritik. »Wahrheit und Lüge«, auch und zumal theologisch axiomatische, fangen in Manns Frühwerk schon beizeiten an, »im außermoralischen Sinne« demontiert zu werden. 29 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Anm. 1), Bd. 3, S. 620 (Die fröhliche Wissenschaft; 1882/1887). Es ist in dem Zusammenhang bezeichnend, dass bereits die sehr frühe Erzählung »Enttäuschung« (s. Anm. 28) ausgerechnet in der dekadenten Stadt schlechthin – Venedig – spielt.
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Charakteristisch sind auch die beiden Konnotationen, mit denen der Tod in diesen frühesten Erzähltexten versehen ist; denn wir können hier durchaus differenzieren – zwischen dem Todes-Augenblick und dem Todes-Zustand. Ersterer orientiert sich an Wagners Tristan und Isolde (1865), d. h. am psychedelischen, verzückten Liebestod (»ertrinken – / versinken – / unbewußt – / höchste Lust!«30). Letzterer stellt eine Umdeutung des Schopenhauer’schen Nirwana dar (wie auch in Buddenbrooks). So heißt es in Manns oben erwähnter Erzählung »Der Tod« (1897): »den letzten Augenblick, den allerletzten! Sollte es nicht ein Augenblick des Entzückens und unsäglicher Süßigkeit sein? Ein Augenblick höchster Wollust?« Dem Todesaugenblick steht der Todeszustand gegenüber: »[M]ich dünkte, so müsse der Tod sein oder das Nach dem Tode: dort drüben und draußen ein unendliches, dumpf brausendes Dunkel.« (2.1, S. 76) (In diesem regressiven, auflösenden Sinn vgl. auch Manns Essay »Süßer Schlaf!« des Jahres 1909.) Es ist diese Faszination des Todes, die der junge Thomas Mann in seinem Notizbuch denkwürdig mit einem Gefühl der »Scham« und Schuld erklärt: Die Scham ist Folge der Erkenntnis, Einsicht u. verlorenen Naivetät (siehe die Bibel). Mit Ekel und Verneinung ist es genau so. Das Wissen ist darum das Heil, weil es || durch Scham und Leiden zur Verneinung und Erlösung führt. (NB 1, S. 252)
Dies stammt erneut von Nietzsche,31 doch führt der Reiz der analytischen Erkenntnis weder bei diesem noch bei Thomas Mann zu Freiheit, Frieden und »Erlösung« – eine Selbsttäuschung, die Mann zumindest ahnte: Ach, die Litteratur ist der Tod! […] Das Letzte und Beste, was sie mich zu lehren vermag, ist dies: den Tod als eine Möglichkeit aufzufassen, zu ihrem Gegentheil, zum Leben zu gelangen. (21, S. 154; Brief Thomas Manns vom 13. Februar 1901 an seinen Bruder Heinrich)
Vorderhand jedoch wird die »Erlösung« noch in der unbewussten, selbstauflösenden Entgrenzung einer Kunstreligion als Todesreligion gesucht, die – siehe oben – auf »Scham« und Schuldbewusstsein gründet und die sich, ironisch gebrochen, noch in »Tristan« (1903) und »Wälsungenblut« (entstanden 1906, publiziert erst 1921) als hypertextuelle Hommage an Richard Wagner niederschlagen wird, bevor sie im »Tod in Venedig« (1912) ihren Höhepunkt erreicht.32
30 Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen (Anm. 9), Bd. 7, S. 81. 31 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Anm. 1), Bd. 5, S. 85 (Jenseits von Gut und Böse; 1886). 32 Andererseits exemplifiziert »Der Tod in Venedig« auch Michel Foucaults Konzept des machtorientierten utopischen Körpers: Vgl. hierzu Michel Foucault, »Der utopische Körper« [»L’utopie du corps«; 1966], in: ders., Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, aus dem Französischen von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2017, S. 23–36.
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Es ist sodann, das kunstreligiöse Telos anbetreffend, eine zweite Entwicklungs- und Komplexitätsstufe im Frühwerk Thomas Manns erkennbar, die der Thematik des asketischen Priesters unmittelbar vorausgeht und diese vorwegnimmt: Gemeint ist das Prophetentum, das wir in seiner geistigen Provenienz bereits skizziert haben. Es taucht zum ersten Mal in »Der Weg zum Friedhof« (1900) auf, wobei die in den frühesten Erzählungen schon kennzeichnenden Merkmale des Außenseitertums (und mithin der ›Besonderheit‹, der Quasi-Erwählung und der säkularisierten Märtyrerrolle) nun deutlicher mit dem Komplex der ›religiösen Frage‹ selbst verknüpft werden. (Ähnlich und im Folgejahr auch am Schluss von Buddenbrooks, wo Sesemi Weichbrodt als »eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin« figuriert [1.1, S. 837].) Das aufbegehrende, nun nicht länger nur mehr leidend-passive, sondern dynamische, aktive Motiv des Protestierens, des Protests, des ›Protestanten‹, das Mann später an der Gestalt Savonarolas faszinieren soll und das wir oben bereits angesprochen haben, beginnt hier – in »Der Weg zum Friedhof« – erstmals aufzukeimen: Religiöser Fanatismus, so fragwürdig er auch erscheint, fängt um die Jahrhundertwende an, auf den jungen Thomas Mann anziehend zu wirken (und wird es bleiben, wenn wir nur an Naphta aus dem Zauberberg [1924] denken). Tatsächlich stellt der Prophet hier eine Vorstufe der energischen und energetisierten Machtausübung dar, wie der asketische Priester sie perfektioniert – wiewohl die Hauptfigur freilich noch keinen Künstler vorstellt.33 So kläglich Lobgott Piepsams apokalyptische Tiraden gegen das »Leben«, personifiziert im Radfahrer, auch ausfallen, und so schwach der durch den Erzähler ironisierte Piepsam auch im Grunde ist – die Momente aggressiver, brutaler Rücksichtslosigkeit, des Kontrollgewinns und der Vergeltung werden hier erstmals zentral. Indem Lobgott Piepsam Gott – wenn auch nur vordergründig, seinem pietistischen Namen gemäß – »lobt«, instrumentalisiert er ihn zugleich und triumphiert als ein sich selbst ermächtigender, strafender Prophet im biblischen, autoritären Duktus über dessen Schöpfung. Das ist noch keine Selbstvergöttlichung, doch eine Vorstufe dazu: Selbsterhöhung, die sich zugleich schon über Gott (d. h. das Leben selbst) erhebt und sich unter dem Vorzeichen der Rache stilisiert. Subtiler – und kunstreligiöser – wird in der Erzählung »Beim Propheten« (1904) diesem Themenkomplex nachgegangen. Auch hier haben wir es allerdings mit einer nur scheinbaren, rasch destruierten Askesehaltung zu tun: Lobgott Piepsam ist dem Alkohol, der Künstler-Prophet Daniel indessen dem Rosinenkuchen zugetan – welch letzterer Umstand vonseiten des Erzählers denn auch als disqualifizierend für ein tief gefühltes Leiden suggeriert wird. Die Erzählung ist 33 S. dazu Manns bewundernden Eintrag in seinem Notizbuch, Richard Wagner anbelangend: »Es gehört Energie dazu, sich zum Glücke aufzuraffen.« (NB 1, S. 217)
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eine Eucharistie-Parodie, wie sie denn auch zugleich die Berg-Epiphanien des Alten und des Neuen Testaments in der ärmlichen Dachgeschosswohnung des literarischen Propheten karikierend reflektiert.34 (Insofern kann auch noch Manns Zauberberg als oppositionelle, kunstreligiöse Reminiszenz an Stefan George und seinen Kreis »aus letzter Höhe« [2.1, S. 409] angesehen werden.) Deutlich tritt in »Beim Propheten« nun auch die Faszination des religiösen Radikalismus zutage, die sich hier jedoch mit messianischen und hagiolatrischen Anklängen vermengt. Dies wird nicht nur anhand des (nicht erscheinenden) Propheten selber, sondern auch anhand der unterschiedlichsten, einander zuweilen entgegenstehenden ›Propheten der Macht‹ augenfällig: und außer dem großen Napoleonbildnis waren in verschiedenartiger Ausführung die Porträte von Luther, Nietzsche, Moltke, Alexander dem Sechsten, Robespierre und Savonarola im Raume verteilt … (2.1, S. 412)
Diese kunstreligiöse Vermischung, ein intellektueller Synkretismus, ist unterdessen von einer einigenden Zielrichtung durchdrungen: der »Formierungskraft eines geschlossenen Systems«.35 Das Bewusstsein von Einheit, beruhigender Klarheit, Einfachheit und Homogenität, sei dieses auch nur vordergründig, ist das, was dem sich selbst zersetzenden Décadent in seiner trennenden VerstandesObsession so schmerzlich fehlt – so dass die postulierte Einheit der oben genannten historischen Persönlichkeiten auf Thomas Mann denn auch eine so starke Attraktion ausübte. »Einheit« bedeutet im vorliegenden Kontext der hier allen Personen gleichermaßen attestierte Machtwille; in diesem Sinne wird im Frühwerk Thomas Manns auch Moses dargestellt, welcher mit dieser vereinfachenden Interpretation verschmilzt.36 Eine solche gewollt simplifizierende Nivellierung ist uns auch schon in der Protestantismus-Darstellung von Buddenbrooks begegnet, wo Mann 34 Friedhelm Marx, »Künstler, Propheten, Heilige: Thomas Mann und die Kunstreligion der Jahrhundertwende«, in: Thomas Mann Jahrbuch 11 (1998): 51–60. 35 Thomas Pittrof, »Wir bringen aber die Zeiten / untereinander«: Synkretismus und Epochenschwelle. Stationen einer Modellgeschichte zwischen Spätantike und literarischer Moderne, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2015, S. 299f. 36 In Manns Notizbuch findet sich eine Savonarola-Moses-Anspielung, die sich auf das Prophetische des asketischen Priesters/Künstlers, verbunden mit dem »Willen zur Macht«, bezieht – sämtlich Tendenzen, die auch Mann selbst in sich gewahrte und mit denen er sich kunstreligiös identifizierte: »Aber er [Savonarola] kann die Hoffnung nicht verbergen, den Stab, der diesen Wassern gebieten soll, eines || Tages in seine Hände gelegt zu sehen.« (NB 1, S. 234) Vgl. auch ebd., S. 220, ebenfalls zu Fiorenza (1907): »Medaille mit dem Bild Lorenzos. Rückseite: Moses, der Wasser aus dem Felsen schlägt, mit der Umschrift ›Ut bibat populus‹.« Manns Moses-Rezeption wird in »Das Gesetz« (1944) noch einmal von Bedeutung werden. Im Rahmen dieser Darstellung halten wir fest, dass der junge Thomas Mann den Propheten Moses – wie Savonarola und dessen Antipoden Lorenzo – und auch Martin Luther vereinheitlichend als vom »Willen zur Macht« durchdrungen deutet.
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zwischen lutherischem und reformiertem Protestantismus vorsätzlich nicht unterschied; ebenso ist sie in Manns Savonarola-Auslegung erkennbar (der Dominikanermönch als anachronistischer, gleichsam reformatorischer ›ProtoProtestant‹). Und auch hier können wir – aufs Neue – konstatieren, dass die Tendenz, gedankliche Vereinfachung zu schaffen, in dem sich selbst in Analysetätigkeit zersplitternden Bewusstsein Thomas Manns nicht etwa auf Unkenntnis zurückzuführen ist, sondern gerade auf die Folgen ihres Gegenteils: Das (reichlich akkumulierte) Wissen muss so lange eine Bürde darstellen, wie es lediglich die Summe seiner Teile bleibt. »Einheit« bedeutet dann eine Erleichterung für den Verstand, trifft aber nicht die transzendierende Empfindung von umfassender Verbundenheit, nach der eigentlich gesucht wird. In einer »süße[n] Ahnung« verleiht die oben erwähnte Künstlererzählung »Die Hungernden« (1903) dem Ausdruck: Ach, wir sind Alle Geschwister, wir Geschöpfe des friedlos leidenden Willens, und wir erkennen einander nicht. Eine andere Liebe thut not, eine andere… Und während er daheim unter seinen Büchern, Bildern und still schauenden Büsten saß, bewegte ihn dies milde Wort: »Kindlein, liebet einander!« (2.1, S. 380)
Tonio Kröger bekennt in der gleichnamigen Novelle aus demselben Jahr: Ach, ja, die Litteratur macht müde, Lisaweta! […] Was aber das ›Wort‹ betrifft, so handelt es sich da vielleicht weniger um eine Erlösung als um ein Kaltstellen und AufsEis-legen der Empfindung? Im Ernst, es hat eine eisige und empörend anmaßliche Bewandtnis mit dieser prompten und oberflächlichen Erledigung des Gefühls durch die literarische Sprache. […] Und für diesen kalten und eitlen Charlatan [den Literaten] wollen Sie ernstlich eintreten? Was ausgesprochen ist, so lautet sein Glaubensbekenntnis, ist erledigt. Ist die ganze Welt ausgesprochen, so ist sie erledigt, erlöst, abgethan … Sehr gut! Jedoch ich bin kein Nihilist … (2.1, S. 277)
Es ist kein Zufall, dass der späte Thomas Mann sich ausgerechnet in der undogmatischen Einheitskirche der amerikanischen Unitarier so aufgehoben fühlte.37 Hatte in den bislang erörterten Erzählungen das asketische Moment noch nicht in ausgeprägter Weise stattgehabt (wodurch auch in »Beim Propheten« nur bedingt und cum grano salis von asketischem Priestertum gesprochen werden kann), so betont Thomas Manns Vorstudie zu Fiorenza, »Gladius Dei« (1902), die nietzscheanische Askese desto radikaler. Das Leiden wird hier explizit mit Buße verbunden, was das wechselseitige Verhältnis von Selbstanklage und kompensatorischer Selbsterhöhung – in einer dritten Entwicklungs- und Komplexitätsstufe kunstreligiöser Erscheinungsformen – genauer profiliert. Das Wesentliche 37 Vgl. dazu Heinrich Detering, Thomas Manns amerikanische Religion: Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann, Frankfurt a. M. 2012.
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ist nun die machthungrige Askese. So ist »Der christliche Jüngling im Kunstladen« durch den visionären Glaubenseifer mit den übrigen ›prophetischen‹ Erzählungen verwandt, und die strenge, harte Lebensführung ist nun eindeutig gegeben; indessen stellt Hieronymus, dessen latinisierter Name schon auf den Dominikanermönch Girolamo Savonarola in Manns Theaterstück vorausdeutet, ebenfalls noch keinen genuinen ›Priester‹ im kunstreligiösen Sinne vor, weil der »Wille zur Macht«, der sich auch hier im charismatischen Gebrauch des Worts (der »sacrae litterae«) bekundet, vorderhand noch nicht entfaltet werden kann. Hieronymus fehlt noch das Wirkungspotential, der manipulative Einfluss auf die »Heerde«, mit Nietzsche zu sprechen; daher kann er auch nicht von anderen zu einer heiligen oder gar christusähnlichen Figur erhoben werden. Sanktifikation und Deifizierung von außen bleiben aus, so dass – wie in Manns frühen Erzählungen die Regel – nur die Eigenstilisierung übrig bleibt. Erst in Manns einzigem Drama Fiorenza (1907) werden alle symptomatischen Konstituenzien, welche die kunstreligiöse Thematik in Manns frühen Erzähltexten bestimmen, vollständig ausgebildet, entfaltet und auf die Spitze getrieben, d. h. in einem Einzelwerk zusammen ausgeführt. Erst dort, in einer vierten Stufe, finden wir sämtliche Motive gleichzeitig und als kunstreligiöse, ehrgeizige Synthese komprimiert vor, deren Quellen wir bislang ausführlich nachgegangen sind: Der Künstler-Heilige, der Künstler-Prophet, der asketische, leidende Künstler-Priester, vom unersättlichen »Willen zur Macht« erfüllt und mit Christus-Analogien ausgestattet – sie alle kommen erst in Fiorenza in voller Ausprägung zusammen. Dass hier kein narrativer Text, sondern ein dramatischer gewählt wurde, ist denkwürdig. In dem Bestreben, sich möglichst umfassend zu beweisen und somit auch im Drama auszuzeichnen, orientiert sich Thomas Mann an Richard Wagner und der hegemonialen Stellung, die das Drama gegenüber den anderen literarischen Gattungen bis ins 19. Jahrhundert hinein eingenommen hatte. (Auch Manns letzter erhaltener Werkplan, das Fragment gebliebene Drama Luthers Hochzeit [1955], sollte von Wagner inspiriert sein: vgl. Manns »Briefe Richard Wagners« von 1951: X, S. 798.38) In Fiorenza ist Manns Selbstidentifikation als Autor, wie schon in Fiorenzas lebenszugewandtem, ›positivem‹ Komplement »Tonio Kröger«, bekenntnishafttotal; der ›Wille zur Werkheiligkeit‹, wie er sich in der kunstreligiösen Thematik zeigt, findet hier seinen ambitioniertesten, komplexesten, doch auch seinen problematischsten, gezwungensten sowie erfolglosesten Niederschlag.39 38 S. hierzu auch eingehend Bernd Hamacher, Thomas Manns letzter Werkplan »Luthers Hochzeit«: Edition, Vorgeschichte und Kontexte, Frankfurt a. M. 1996. 39 Zu Manns Unsicherheit und Verletzlichkeit, gerade Fiorenza anbetreffend, und seinen apologetischen Strategien im literarischen Feld, die sich über einen Zeitraum von mehr als
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Der ursprüngliche Titel von Manns einzigem Drama lautete Der König von Florenz. Hieraus erhellt die Ambiguität des möglichen Bezugs, da sowohl Jesus Christus als auch die Savonarola-Figur darunter verstanden werden können und sollen. Grundlage bildet (im zeitlich zwanglosen Umgang mit der Geschichte) die Ausrufung Christi des historischen Savonarola als »König von Florenz«, die 1494 erfolgte – also zwei Jahre nach dem Schluss der Fiorenza-Handlung – und »deren Zeugnis die« von Savonarola »gedichtete Christkönigshymne« ist.40 In diesem Sinn, des asketischen Priesters bei Nietzsche eingedenk, hatte der junge Thomas Mann denn auch bereits am 17. Dezember des Jahres 1900 an seinen Bruder Heinrich geschrieben: »Der Doppelsinn des Titels ist ja beabsichtigt. Christus und Fra Girolamo sind Eins: nämlich die Genie gewordene Schwäche zur Herrschaft über das Leben gelangt.« (21, S. 139) Die Deutung Jesu Christi folgt hier ganz derjenigen von Nietzsche. Indessen: Auch der im Drama sterbende Lorenzo de’ Medici – wiewohl seinerseits kein asketischer Priester – betrachtet sich als »König von Florenz«, so dass die Vorherrschaft über diese Stadt, der Kampf um sie das eigentliche Thema in Manns Drama darstellt. Es ist ein Kampf zwischen dem Leben (Lorenzo) und dem Geist (Savonarola), ein Kampf zweier konträrer und im unbedingten Machtwillen gleichwohl verbundener, verwandter Charaktere; ein solcher nicht zuletzt, in dem beide Antipoden sich als Messias inszenieren. (Im Fall Lorenzos denken wir an die Verabschiedung von seinen Söhnen: »Lebt wohl, ihr Jungen. Liebt einander. Denkt an mich. Lebt wohl!« (3.1, S. 97), womit deutlich auf die Passionsgeschichte und die Abschiedsworte Christi an die Jünger angespielt wird.) Fiorenza variiert den Topos vom Machtkampf zweier »feindliche[r] Brüder« (3.1, S. 123); in Thomas Manns Drama gilt dieser Kampf jedoch der Schönheit. Die Schönheit ist in diesem Fall die Stadt Florenz, verkörpert in der dem »Leben« zugeneigten allegorischen Gestalt Fiores. Beide, Lorenzo wie auch Savonarola, reklamieren diese Schönheit als ihr Werk, als ihre Schöpfung. Auch hier zeigt sich der – nunmehr modifizierte – Einfluss Nietzsches, der in der Fröhlichen Wissenschaft (1882/1887) die »letzten Schönheiten eines Werkes« folgendermaßen expliziert:
50 Jahren erstrecken sollten, vgl. Hubert Ohl, »Der Erfolg heiligt die Mittel oder Den Sinn liefert die Zeit: Thomas Manns Selbstdeutungen am Beispiel von Fiorenza«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70/4 (1996): 670–691. 40 Paul Ludwig Sauer, »Der ›fürchterliche Christ‹: Studien zur Genealogie des (pseudo)religiösen Totalitarismus und zum Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Theologie und Politik anläßlich der Gestalt des Savonarola in Thomas Manns Fiorenza«, in: Person – Gruppe – Gesellschaft: Beiträge zur Sozialpädagogik und Sozialarbeit 4 (1977): 211–265, hier S. 244.
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Die Griechen beteten wohl: »Zwei und drei Mal alles Schöne!« Ach, sie hatten da einen guten Grund, Götter anzurufen, denn die ungöttliche Wirklichkeit giebt uns das Schöne gar nicht oder Ein Mal! […] Ja, das Leben ist ein Weib!41
Fiore wird, diesem Nietzsche-Bezug folgend, in der Thomas-Mann-Forschung zumeist als Allegorie des Lebens angesehen; doch nur als Allegorie der Schönheit, die dem Leben (Lorenzo) ihre Gunst freimütiger bezeigt (hat) als der Erkenntnis und dem Geist (Savonarola), kann sich Manns Drama konsequent erschließen. Der ›Wille zur Werkheiligkeit‹ spaltet das kunstreligiöse, ins Extrem gesteigerte und zerrissene Selbstbild in zwei Charaktere – Savonarola und Lorenzo – auf, die beide um die Schönheit, mithin um ihre Schöpfung, konkurrieren. Erst als das »Leben« (Lorenzo) nicht mehr lebensfähig ist, vermag der »Geist« (Savonarola) zu siegen: jener ›Gegenpol‹ des »Lebens«, zu dem auch der junge Thomas Mann tendiert. Gleichwohl wird am Schluss des Dramas die »Verbrennung der Eitelkeiten«, verbunden mit Savonarolas eigenem Feuertod, antizipiert: »Auch da reinigen die Flammen« – so dass der Triumph Savonarolas bereits seinen Fall vorwegnimmt (NB 1, S. 210). Der Bußprediger, daran lässt Fiorenza keinen Zweifel, wird am Ende selber büßen müssen: für seine innere »Verarmung« (ebd., S. 187), die »geistige Blasirtheit des Litteraten« (ebd., Bd. 2, S. 71), seine Hybris. Und so, wie Savonarola sich zum Gott erhebt, auch und indem er die traditionelle Vorstellung von Gott – symbolisiert hier durch das Kreuz – verrät, so verkauft er (wie Lorenzo) seine Seele: Ein Teufelspakt ohne das Auftreten des Teufels, um dessentwillen er am Ende allerdings gerichtet, nicht gerettet wird. Mann bekannte in einem Brief vom 28. März 1906 an Kurt Martens: »Fiorenza ist ein Traum von Größe und seelischer Macht. ›Es geht um Seelen, es geht um das Reich‹ – das ist Alles.« (21, S. 360) Thomas Mann zitiert an dieser Stelle seinen eigenen Lorenzo (3.1, S. 93), der als Lebe- und Sinnenmensch freilich ebenso von »Weltsehnsucht und Ruhmeserotik« erfüllt ist wie der Theokrat Savonarola (Brief an Julius Bab: 15. Januar 1913; 21, S. 506). Die Theomanie des Dominikanermönches ist psychologisch-pathologisch Ausdruck der Egomanie, die – ohne Askese – auch den Kunstmäzen und Musenfreund Lorenzo prägt. Savonarolas Triumph über Lorenzo im finalen dritten Akt wird im Sinne des asketischen Priesters ausgestaltet, der die »blonde Bestie« bezwingt: Als Lorenzo angesichts seines nahenden Todes von schauderhafter Angst ergriffen wird, nutzt der Dominikanermönch die Gunst der Stunde, um den Sterbenden gezielt zu schwächen. Das solcherart entkräftete »Leben«, Lorenzo, hat keine Widerstandskraft mehr: »S. muß den Lorenzo im Gespräch mit lauter ihm bis dahin innerlich fremden fürchterlichen Begriffen, wie Schuld, Sünde, Bußen 41 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Anm. 1), Bd. 3, S. 568f. (Aphorismus 339: »V i t a f e m i n a «).
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etc[.] ganz einschließen u. umstellen, sodaß er schließlich förmlich außer Athem ge- || räth u. um Gnade fleht.« So Thomas Manns Notizbuch (NB 1, S. 250). Hiermit allerdings wird auch und nicht zuletzt das Richten über sich selber impliziert. Tatsächlich schwankt die kunstreligiöse Thematik im gesamten Frühwerk Thomas Manns zwischen (Selbst-)Erhöhung, die bis zur (Selbst-)Heiligung forciert wird, und unerbittlicher (Selbst-)Anklage, dem rigorosen (Selbst-)Verdikt. Diese polaren Gegensätze sind mit tiefen (Selbst-)Zweifeln, (Selbst-)Hass und Minderwertigkeitsvorstellungen verbunden; das Richten über sich selber resultiert hier auch und nicht zuletzt – aber nicht nur – aus einem noch immer traditionsgebundenen Gefühl der »Scham« und Schuld – siehe oben –, sich die Substitution Gottes angemaßt zu haben. L e b e n heißt – dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich. D i c h t e n – Gerichtstag halten Über sein eignes Ich.
So der berühmte Vierzeiler von Henrik Ibsen, der Thomas Mann so sehr beeindruckte (14.1, S. 212).42 Und wir lesen abermals in Manns Notizbuch: »Ich bin im Vergleich mit H., dem Vornehmen, Kalten, ein weichmüthiger Plebejer, aber mit sehr || viel mehr Herrschsucht ausgestattet. Nicht umsonst ist Savonarola mein Held…« (NB 2, S. 83) Savonarola sei, so Thomas Mann, »der Sündigste; aber er hat gegen die Sünde, gegen sichselbst [sic] Partei genommen, und an diesem Conflict geht er zu Grunde.« (Ebd., Bd. 1, S. 116)43 42 Henrik Ibsen, »Ein Vers«, in: Henrik Ibsens Sämtliche Werke in deutscher Sprache, 10 Bde., durchgesehen und eingeleitet von Georg Brandes, Julius Elias und Paul Schlenther, von Ibsen autorisiert, Berlin 1898–1905, hier Bd. 1, S. 167. 43 Quasi-religiöse, neu überformte Heldenkonzepte, hier in einer Variante der zeitgenössischen Savonarola-Rezeption, stellen in den Künsten ein individuell ganz unterschiedlich in Erscheinung tretendes, virulentes Phänomen um die Jahrhundertwende dar (s. die Rezeption des Heiligen Sebastian [Anm. 25 dieses Kapitels], die Moses-Rezeption [Anm. 36 dieses Kapitels], aber auch – obgleich nicht bei Thomas Mann – die Rezeption Petri, Kains und Abels usw.). In einem Zeitraum von wenigen Jahrzehnten (ca. 1890 bis ca. 1920) erleben quasireligiöse Heroismen in den Künsten eine Konjunktur, die stets auf einer intensiven Rezeption der Werke Richard Wagners und/oder Friedrich Nietzsches basiert und die in ihrem interdisziplinären Zusammenhang ein Forschungsdesiderat darstellt. Literarisch manifest werden diese quasi-religiösen Heldenkonzeptionen z. B. bei Stefan George, Elsa Bernstein, Else Lasker-Schüler sowie Georg Kaiser; musikalisch z. B. bei Richard Strauss, Franz Schreker, Gustav Mahler und Hans Pfitzner; zudem in der die Einzelkünste sprengenden Kunst-LebenVermischung des Dadaismus. Während den Frauengestalten (neben den maskulinen Helden) in Wagners Werken ebenfalls ein Heldenstatus zukommt (vgl. Wagners »We i b d e r Z u k u n f t «, das den geliebten Mann durch Liebeskraft ›erlöst‹), ist das Heldentum bei Nietzsche immer männlich ausgerichtet. – Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen (Anm. 9), hier Bd. 4, S. 266 (Eine Mitteilung an meine Freunde; 1851).
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Es gilt, was bereits in Buddenbrooks fundamental war: Die von Nietzsche diagnostizierte Historizität tradierter alter Glaubensmuster zeigt sich im Frühwerk Thomas Manns nur mehr als scheinbare Historie. Die Begriffe »Sünde«, »Scham« und Schuld, »das Kreuz verraten« (3.1, S. 121) usw., an denen Thomas Mann (wie Nietzsche) sich weiter abarbeitete, führen dies eindringlich vor Augen. Werkheiligkeit, so sehr sie auch gewollt, so sehr sie kultiviert und dann in Fiorenza auch geradewegs erzwungen wird, erscheint Thomas Mann, summa summarum, selbst suspekt. Der »Wille zur Macht« erfordert zweierlei, damit er sich durchzusetzen vermag und über andere »herrschen« kann: Es ist dies zum einen Ehrgeiz (als Prämisse), zum anderen jedoch auch Energie, »Entschiedenheit« (3.1, S. 17) und Kraft (als Konsequenz). Ehrgeiz hat der junge Thomas Mann genau wie sein gequälter »Held« Savonarola: »Wie hätt’ ich keinen – da ich so litt? Ehrgeiz spricht: Das Leiden darf nicht umsonst gewesen sein. Ruhm muß es mir bringen!« (Ebd., S. 124) Jedoch ist es die Kraft, welche den Décadents ermangelt, wie Lorenzo (nicht nur auf die Renaissance gemünzt) bemerkt; und diese ist es, um die der Autor seinen »Helden«, den asketischen Priester, wie auch das »Leben« in der Gestalt Lorenzos eigentlich beneidet. Eine Kraft, die von der allgemeinen Zweifelsucht entschlossen sich abschließt, kann Ungeheures wirken. All die Kleinen, Feinen, sie glauben nicht etwa – denkt ja nicht, daß sie glauben! – sie fühlen Kraft und unterwerfen sich ihr… (Ebd.)
Eben diese »Kraft« macht den Ambitionierten zum Erfolgreichen, zum ›Messias‹ und »Diktator« (ebd., S. 33). Und so, wie Mann im Jahr 1938 über »Bruder Hitler« schreiben wird, sieht er auch in der Gestalt Savonarolas seine eigene Natur – ohne die »Kraft« jedoch – gespiegelt. »Aus eigner Kraft sich eine Welt zu baun«: So hatte, wenn wir uns erinnern, unser Buddenbrooks-Kapitel geendigt. Dies war Manns Wille, doch wie kann ein ›Schöpfer‹, ein prometheischer, alternativer ›Gott‹ nach eigener Auffassung kraftlos sein? Hier zeigt sich, dass Thomas Mann der Radikalität, wie Nietzsche sie im Begriff des »Übermenschen« postuliert hatte, zwar auf seine Art zu folgen sucht; der ›Wille zur Werkheiligkeit‹ – als dekadenter und zudem noch immer traditionsgebundener Wille – kann allerdings nicht anders, als damit unglücklich, zutiefst gespalten und sich dessen auch bewusst zu sein. Durch die erbarmungslose (Selbst-)Verurteilung entdeckt sich die scheinbare, provokative Konkurrenz zu Gott am Ende als die Suche nach der Konvergenz mit ihm: Der »Litterat als vollkommener Mensch, als Heiliger« geht so nur einen Umweg in der »Litteratur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur Liebe« (2.1, S. 275). Die (im Frühwerk Thomas Manns meist scheiternde) Vermittlung zwischen Geist und Leben, die sich durch Manns gesamtes Œuvre zieht, bedeutet in »lei-
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dende[r] Einheitssehnsucht« (2.1, S. 373) die – letztlich doch immer gesuchte – Aussöhnung mit Gott und damit die Versöhnung mit sich selbst. Fassen wir zusammen: ›Auf der Suche nach dem verlorenen Gott‹ wird Gott zunächst einmal – wie alle(s) andere(n) – ironisiert und damit künstlerisch wie künstlich abgewehrt. Im Verlauf des Frühwerkes festigt und steigert sich der kunstreligiöse ›Wille zur Werkheiligkeit‹, den der junge Thomas Mann aus Anregungen v. a. Wagners und Nietzsches, aber auch Schopenhauers kompiliert und als eigene ›Schöpfung‹ literarisch zu ›kreieren‹ unternimmt. Die Motivfelder werden dabei zusehends komplexer und elaborierter; dies geschieht in nicht streng chronologischer Reihenfolge in vier Entwicklungsstufen, vom passiv leidenden ›Märtyrertum‹ (1) über das ›dynamische‹ Prophetentum (2) über die Radikalität machthungriger Askese (3) bis schließlich hin zur Klimax im Drama Fiorenza (4), wo alle kunstreligiösen Formungen des Frühwerks komprimiert zusammenkommen. Wie die kunstreligiösen Motive, so steigern sich gleichfalls die Werk- und Selbststilisierung bis hin zur Heiligung und Vergottung auf der einen Seite, zugleich aber auch die Werk- und Selbstproblematisierung bis hin zur Verfluchung auf der anderen. Dass Thomas Mann »über sein eignes Ich« zu Gericht sitzt, ist Ausdruck sowohl dieser (Selbst-)Verdammung als auch dieser (Selbst-)Deifikation, da nur er selbst über sich richten kann. Der ›Wille zur Werkheiligkeit‹, der sich im Frühwerk Thomas Manns selber zum ›Gott‹ erhebt, ist der eigentümliche, paradoxale und bewegende Versuch, Werkgerechtigkeit zu erlangen, indem Werk-Heiligung stattfindet. Es ist der scheitern müssende Versuch, Heiligung, die Heilung sein soll, literarisch selber zu er-wirken.
II. Auch in narrativer Hinsicht steigern sich die Traditionsverlagerungen, denen im Buddenbrooks-Kapitel nachgegangen wurde. Wie dort, so unterscheiden wir auch hier zunächst zwischen dem Erzählen und dem Erzählten, d. h. zwischen der Erzählpragmatik auf der einen sowie der Handlung und der Welt des Textes auf der anderen Seite. Der erzählpragmatische ›Modus der unendlichen Melodie‹ in Anlehnung an Richard Wagner, der durch fließende Übergänge in Distanz und Fokalisierung gekennzeichnet ist, setzt sich in Thomas Manns frühen Erzählungen fort. Er wird dort noch ausgefeilter: intensiviert insofern, als Verba dicendi und Verba credendi, die in Buddenbrooks noch statthatten (und in der Tradition des realistischen Erzählens standen), nach Manns Romandebüt nunmehr entfallen können.
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Bereits in Manns Künstlernovelle »Die Hungernden« (1903) fehlt die traditionelle, noch im Realismus übliche inquit-Formel der markierten Redeeinleitung. Ohne diese Markierung geht der Bewusstseinsbericht (erzählte Rede im narrativen Modus) subtil und unvermittelt zunächst in den erzählten Inneren Monolog in Form einer ausführlichen erlebten Rede über (transponierte Rede zwischen narrativem Modus und dramatischem Modus), bevor ebenso fließend in den zitierten Inneren Monolog gewechselt wird (zitierte Rede im dramatischen Modus): Detleff stand erstarrt. Der Anschein von Behagen und Wohlleben, mit dem er, der Festtheilnehmer, das Theater verlassen, dem Kutscher gewinkt, seiner silbernen Dose die Cigarette entnommen haben mochte, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein. Unwillkürlich erhob er die Hand, im Begriff, sich vor den Kopf zu schlagen. Er that einen Schritt auf den Menschen zu, er athmete auf, um zu sprechen, zu erklären … und dann stieg er dennoch stumm in den bereit stehenden Wagen, so fassungslos, daß er fast dem Kutscher die Adresse zu nennen vergaß. [= Bewusstseinsbericht] Welcher Irrthum, mein Gott, – welch ungeheures Mißverständniß! Dieser Darbende und Ausgeschlossene hatte ihn mit Gier und Bitterkeit betrachtet, mit der gewaltsamen Verachtung, die Neid und Sehnsucht ist! Hatte dieser Hungernde sich nicht ein Wenig zur Schau gestellt? Hatte aus seinem Frösteln, seiner gramvollen und hämischen Grimasse nicht der Wunsch gesprochen, Eindruck zu machen, ihm, dem kecken Glücklichen, einen Augenblick des Schattens, des Nachdenkens, des Mitleidens zu bereiten? [= Erzählter Innerer Monolog in Form einer ausführlichen erlebten Rede] Du irrst, Freund. Du verfehltest die Wirkung. Dein Jammerbild ist mir keine schreckende und beschämende Mahnung aus einer fremden Welt. Wir sind ja Brüder! [= Zitierter Innerer Monolog] (2.1, S. 378f.)
Der Grad der narrativen Distanz wechselt in dieser Passage ebenso unmerklich wie die Fokalisierung: Externe Fokalisierung, Nullfokalisierung und interne Fokalisierung gehen im ›Modus der unendlichen Melodie‹ fließend ineinander über.44 Allerdings gilt der ›Modus der unendlichen Melodie‹, den wir bereits im Buddenbrooks-Kapitel nachgezeichnet haben, noch nicht für die ersten, ganz frühen Erzählungen. Thomas Manns früheste Erzähltexte sind noch nicht polymodal, d. h. mit wechselnden Fokalisierungstypen, sondern dominant monomodal perspektiviert, und auch der Grad der Distanz bleibt dort noch festgesetzter.
44 Diese Polymodalität, die durch das Ineinandergleiten wechselnder Fokalisierungstypen gekennzeichnet ist, wird nach Buddenbrooks lediglich in »Das Wunderkind« (1903) noch einmal auf abrupte Weise in Erscheinung treten. Zum Sonderstatus des »Wunderkindes« s. auch weiter unten – dort im Hinblick auf Genettes Kategorie der Stimme (Zeitpunkt des Erzählens).
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Was die zunächst noch gleichbleibende Fokalisierung anbetrifft, so sind Manns früheste Erzählungen jedoch weder an hauptsächlich unfokalisierten Erzähltexten des 19. Jahrhunderts noch an der dominant externen Fokalisierung bei Theodor Fontane ausgerichtet; es ist vielmehr die interne Fokalisierung, die in diesen frühesten Erzählungen mit einem homodiegetischen Erzähler koinzidiert. Das heißt, die ersten Erzähltexte des noch sehr jungen Thomas Mann (»Vision«, »Gefallen«, »Der Wille zum Glück«, »Der Tod«, »Enttäuschung«, »Der Bajazzo«) kennzeichnet ein Ich-Erzähler (der gelegentlich auch späterhin noch wiederkehren wird), wobei die Beteiligung des Erzählers am Geschehen variiert: Vom kaum beteiligten Beobachter bis hin zum autodiegetischen Erzähler (mit dem Ich-Erzähler als Hauptfigur) experimentieren diese ersten narrativen Texte mit diversen Intensitätsgraden erzähltechnischer Selbstbezogenheit. Der ›Modus der unendlichen Melodie‹ in Anlehnung an Wagner ist dort noch nicht zu konstatieren. Stattdessen zeigt sich die künstlerische Selbstentäußerung in diesen frühesten Erzählungen noch durchgehend direkt, fixiert und unverhüllt – bis zum »Kleinen Herrn Friedemann« (1897), wo zum ersten Mal ein heterodiegetischer Erzähler vorliegt, der keine Figur der Welt des Textes darstellt, und wo der gleitende ›Modus der unendlichen Melodie‹ in Distanz und Fokalisierung zum ersten Mal implementiert wird. Am 6. April des Jahres 1897 schreibt Mann dazu an Otto Grautoff: Wahrhaftig, mir ist, als dürfte ich meinen zukünftigen Werklein mit Lust und Zuversicht entgegensehen. Mir ist seit einiger Zeit zu Mute, als seien irgendwelche Fesseln von mir abgefallen, als hätte ich jetzt erst Raum bekommen, mich künstlerisch auszuleben, als wären mir jetzt erst die Mittel gegeben, mich auszudrücken, mich mitzuteilen … Seit dem »Kleinen Herrn Friedemann« vermag ich plötzlich die diskreten Formen und Masken zu finden, in denen ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann, während ich ehemals, wollte ich mich auch nur mirselbst mitteilen, eines heimlichen Tagebuches bedurfte …. (21, S. 89)
Diese »diskreten Formen und Masken« sind nichts anderes als der ›Modus der unendlichen Melodie‹: Er bedeutet, in Anlehnung an Richard Wagner, für Thomas Mann den Durchbruch im ›Wie‹ des Erzählens – als neue narrative Strategie fließender Modus-Übergänge. Auch der Zeitpunkt des Erzählens als späteres Erzählen (der Normalfall traditioneller Epik) ist in Manns ersten, ganz frühen Erzählungen durchaus noch nicht selbstverständlich. In Analogie dazu, wie der Ich-Erzähler in Manns frühesten Erzählungen vorerst noch unterschiedliche Intensitätsgrade der narrativen Subjektivität erprobt, erkunden diese ersten fiktionalen Texte Thomas Manns zunächst auch noch diverse Zeitpunkte der Narration. Die Erzählung »Der Tod« (1897) z. B. ist im Stil des Tagebuchs verfasst, so dass das eingeschobene Erzählen, vergleichbar
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mit dem Briefroman des 18. Jahrhunderts, besonders relevant wird: Späteres und gleichzeitiges Erzählen bestehen in »Der Tod« nebeneinander. Ausschließlich gleichzeitiges Erzählen ist ein erst in der Moderne populär gewordenes Verfahren, mit dem Thomas Mann in diesen frühesten Erzählungen ebenfalls experimentiert – auch noch im »Wunderkind« des Jahres 1903. Das scheinbar konventionelle Erzählen Thomas Manns ist also schon in den frühesten Erzählungen, wo noch kein ›Modus der unendlichen Melodie‹ vorliegt, trügerisch und trifft narratologisch so nicht zu; deutlich wird vielmehr Manns Ambition, sich über das vorerst noch unentschiedene, experimentelle Erzählen als Autor individuell zu profilieren. Thomas Manns früheste Erzählung, die aus dem Jahr 1893 datiert, ist in diesem Sinn zugleich auch seine radikalste. Dies, da das gleichzeitige Erzählen hier mit einem autonomen Inneren Monolog einhergeht, der 1887 in Édouard Dujardins Erzählung Les lauriers sont coupés entwickelt worden war und der wenig später, in Arthur Schnitzlers »Lieutenant Gustl« (1900), auch für die deutschsprachige Literatur bahnbrechend werden sollte. Diese früheste Prosaskizze Thomas Manns, »Vision«, zeugt insofern auch vom ausgeprägten künstlerischen Ehrgeiz ihres Autors, der seine eigene, charakteristische Erzählpragmatik erst in den Folgejahren finden sollte. »Dem genialen Künstler, Hermann Bahr«, ist Manns »Vision« gewidmet (2.1, S. 11) – eine Anspielung auf das Kapitel »Die neue Psychologie« in Die Überwindung des Naturalismus (1891), wo Bahr eine innovative Methode des Erzählens gefordert hatte, die das Unbewusste als »Protokollführer« im Gehirn der darzustellenden Figur nachzeichnen solle.45 Eben diesen psychologischen Effekt, die subtile Narration des Unbewussten, wird in Manns frühen Erzählungen schließlich zunehmend und immer nuancierter jedoch nicht der autonome Innere Monolog erzielen (der als Gedankenrede im konstant dramatischen Modus auf jeglichen Erzählrahmen verzichtet); vielmehr wird es der flexible, wechselnde ›Modus der unendlichen Melodie‹ nach dem Vorbild Richard Wagners sein, der in Manns Erzähltexten ab dem »Kleinen Herrn Friedemann« (1897) alternativ zu diesem Resultat gelangt. Bis hierhin zusammengefasst, ergibt sich also folgendes Zwischenresümee: Ab dem »Kleinen Herrn Friedemann« treten im ›Wie‹ des Erzählens erstmals wagnerische Neuerungen auf, die in den weiteren frühen Erzähltexten gesteigert werden. Dabei handelt es sich um Steigerungen jener modernen Traditionsverlagerungen, die bereits im Buddenbrooks-Kapitel manifest wurden, und hier spezifisch um die Weiterentwicklung des ›Modus der unendlichen Melodie‹, indem Verba dicendi und Verba credendi schließlich vollständig entfallen können. Die erzählpragmatische Anlehnung an Wagner ist es, die Manns typisch 45 Hermann Bahr, »Die neue Psychologie«, in: ders., Die Überwindung des Naturalismus [1891], hg. von Claus Pias, Weimar 2004, S. 89–101, hier S. 98.
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narrative Darstellung in den frühen Erzähltexten begründet: als authentische, individuelle und distinktive Schreibweise der melancholischen Moderne, die zum Durchbruch Thomas Manns als Autor führen sollte. Ab »Tonio Kröger« (1903) führt Mann schließlich auch eine ›Stimme der unendlichen Melodie‹ in seine narrativen Texte ein: Das Ineinandergleiten narrativer Ebenen mit leitmotivischer Signifikanz ergänzt und erhöht ab »Tonio Kröger« den ›Modus der unendlichen Melodie‹. Durch die ›Stimme der unendlichen Melodie‹ entsteht in »Tonio Kröger« erstmals eine leitmotivische Verbindung zwischen Form und Inhalt, dem Erzählen und dem Erzählten, dem ›Wie‹ und dem ›Was‹ der Narration. So, wie im ›Modus der unendlichen Melodie‹ Distanz und Fokalisierung fließend ineinander übergehen, gleiten nun auch die extra- und die intradiegetische Erzählebene erstmals subtil ineinander, indem beide leitmotivisch verknüpft werden. Die charakteristische Komplexität von Wagners Leitmotivik – als facettenreiche Wiederholung in Abwandlungen – wird hier zum ersten Mal im Ansatz eingeübt, indem bloße Wortwiederholungen des Erzählers (vgl. die »Maske« des Senators in Buddenbrooks) nun auf den Erzähler und die Hauptfigur verteilt und damit variiert werden. Das geschieht so, dass der Erzähler zunächst die Zuneigung beschreibt, mit welcher der junge Tonio Kröger Hans Hansen begegnet: »Sehnsucht war darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit«. (2.1, S. 254) Auf leicht modifizierte Weise wird dieser Satz am Ende der Erzählung dann noch einmal aufgegriffen – nicht jedoch vonseiten des Erzählers, sondern vom mittlerweile erwachsenen Tonio Kröger, der seinen Brief an Lisaweta Iwanowna (und damit sein erzähltes Erzählen) wie folgt beschließt: Schelten Sie diese Liebe [zu den »Blonden und Blauäugigen«] nicht, Lisaweta; sie ist gut und fruchtbar. Sehnsucht ist darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit. (Ebd., S. 318)
Die extradiegetische Erzählebene – als das Erzählen, das die Erzählung hervorbringt – und die intradiegetische Erzählebene – als das Erzählen innerhalb der Erzählung – gehen hier, mit Eberhard Lämmert zu sprechen, keine »konsekutive« (d. h. kausale, explikative), sondern vielmehr eine »korrelative« (d. h. spiegelartige) Form der Verknüpfung ein.46 Diese wird in einem ersten Ansatz durch das Netz der Leitmotivik nach dem Vorbild Wagners ausgestaltet. In »Tonio Kröger« beginnt Thomas Mann, die bislang rein statisch angewandten Leitmotive – siehe Buddenbrooks – in seine Erzähltexte dynamischer zu integrieren, so dass dort das ›Wie‹ und das ›Was‹ des Erzählens erstmals tat-
46 Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955, S. 43–67.
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sächlich miteinander interagieren. In der »Einführung in den Zauberberg« (1939) heißt es dazu: Man hat wohl gelegentlich – ich selbst habe das getan – auf den Einfluß hingewiesen, den die Kunst Richard Wagners auf meine Produktion ausgeübt hat. Ich verleugne diesen Einfluß gewiß nicht, und besonders folgte ich Wagner auch in der Benützung des Leitmotives, [….] und zwar nicht, wie es noch bei Tolstoi und Zola, auch noch in meinem eigenen Jugendroman Buddenbrooks der Fall ist, auf eine bloß naturalistischcharakterisierende, sozusagen mechanische Weise, sondern in der symbolischen Art der Musik. Hierin versuchte ich mich zunächst im »Tonio Kröger«. Die Technik, die ich dort übte, ist im Zauberberg in einem viel weiteren Rahmen auf die komplizierteste und alles durchdringende Art angewandt. (XI, S. 611)
Charakteristisch für Manns Leitmotivtechnik ist allerdings – und dies im Gegensatz zu Wagner – die weiterhin ambige Handlungsmotivierung, zu der wir weiter unten nochmals kommen werden. Seinem eigenen Künstlertum entsprechend, hat Thomas Mann die Werke Wagners und insbesondere die Leitmotivtechnik bereits früh als »episch« eingestuft. So schreibt er in seinem »Versuch über das Theater« (1908) – ein Jahr nach seinem eigenen Dramen-Misserfolg von Fiorenza –, dass der tradierte, poetische »Vorrang des Dramas« gegenüber den anderen literarischen Gattungen »eine Anmaßung« sei. Dabei denke er, so Mann, an Wagner (wer dächte nicht unausgesetzt an ihn, wenn vom Theater die Rede ist?). Ich habe oft Mühe, ihn als Dramatiker zu empfinden. Ist er nicht eher ein theatralischer Epiker? Keins seiner Gebilde verleugnet im Untertone das Epos, [… u]nd ich begreife nicht, wie man im ›Leitmotiv‹ ein wesentlich dramatisches Mittel erblicken kann. Es ist im Innersten episch, es ist homerischen Ursprungs … (X, S. 27)
Die narrative Darstellung im Frühwerk Thomas Manns gewinnt an Sicherheit, je mehr sie Wagners fließende Struktur in das eigene fiktionale Erzählen überführt und dieses Verfahren graduell verfeinert – als selbstbewusste Ausbildung und Kultivierung einer individuellen, charakteristischen Schreibweise, die schließlich, im »Tod in Venedig« (1912), auch zur ersten bedeutsamen Anachronie führt – ebenfalls in Anlehnung an Wagner. Denn auch die flexible Gestaltung der zeitlichen Ordnung ist ein formaler Aspekt von Wagners vielschichtiger Leitmotivtechnik; die Grundlage dafür entwickelt Mann nicht nur in den Kriterien des Modus (seit dem »Kleinen Herrn Friedemann«) und der Stimme (seit »Tonio Kröger«), sondern auch – in ersten Ansätzen – seit dem »Tod in Venedig« in dem Kriterium der Zeit. Im »Tod in Venedig« liegt das gesamte zweite Kapitel in Form einer externen, kompletten Analepse vor, die ihrem Umfang nach der Basiserzählung vorausgeht und bis an die Gegenwart der erzählten Geschichte heranreicht. Erst im Zauberberg (1924) werden der ›Modus der unendlichen Melodie‹, die ›Stimme der
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unendlichen Melodie‹ und die freiere Gestaltung der Zeit – dort auch weit über die zeitliche Ordnung hinausgehend – eine avancierte Wechselwirkung eingehen; indessen ist die Rückwendung im »Tod in Venedig« eine Voraussetzung dafür, indem zunächst noch eine narrative Technik eingesetzt wird, die doppelwertig auch als ›klassisch‹ gilt. Gérard Genette führt dazu aus: [U]nsere (westliche) Tradition […] hebt [… oft] mit einem betonten Anachronieeffekt an, denn bereits im achten Vers der Ilias blickt der Erzähler [….] gut zehn Tage zurück […]. Man weiß, dass dieser in medias res-Beginn, gefolgt von einem erläuternden Schritt zurück, einer der formalen topoi der epischen Gattung geworden ist, und man weiß auch, wie sehr [… die Epik in diesem Punkt ihren] fernen Vorfahren treu geblieben ist und das bis mitten ins »realistische« 19. Jahrhundert hinein [.]47
In einer solchen »aufbauenden Rückwendung«48 wird in Form eines »unmittelbar auf die Eingangsszene folgenden Einschubs […] eine Art Exposition nachgereicht, mit deren Hilfe die Hintergründe einer zunächst unvermittelt präsentierten Situation entwickelt werden.«49 Wir sehen: Das ›Wie‹ der Narration orientiert sich ab dem »Kleinen Herrn Friedemann« sukzessive immer nuancierter an dem Vorbild Wagners. Ab »Tonio Kröger« verbindet sich das ›Wie‹ dann auch erstmals dynamisch mit dem ›Was‹ der Narration, so dass Manns literarische Leitmotivtechnik in »Tonio Kröger« ihren eigentlichen Anfang nimmt: als gleitend offene Beweglichkeit nicht nur in Teilen der Erzählpragmatik, sondern in der fließenden Verknüpfung von Erzählpragmatik und erzählter Welt. Das Erzählte seinerseits ist allerdings in erster Linie nicht an Wagner, sondern an Nietzsche ausgerichtet. Die doppelte, ironische Handlungsmotivierung, die bereits Buddenbrooks durchzogen hatte, intensiviert sich unter Rekurs auf Nietzsches Skeptizismus in den frühen Erzähltexten noch weiter. Für die sich entwickelnde Leitmotivik erweist sich dies indessen als nicht nachteilig: Indem die zweideutige Handlungsmotivierung von Wagners Opern divergiert, ermöglicht sie eine distinkte Abgrenzung von Wagner und gleichzeitig auch eine Reverenz an ihn, da derart eine neue Art der Leitmotivik – die ironische – entsteht. Von dieser formalen Demarkierung im Hinblick auf die Leitmotivik abgesehen, lässt die gesteigerte Doppelmotivierung in Manns Frühwerk jedoch auch ihre gehaltliche Gezwungenheit erkennen.
47 Gérard Genette: Die Erzählung [1966–1972], aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort von Jochen Vogt, überprüft und berichtigt von Isabel Kranz, 3., durchgesehene und korrigierte Aufl., Paderborn 2010, S. 18f. 48 Vgl. dazu bereits Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens (Anm. 46), S. 104–108. 49 Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 10. Aufl., München 2016, S. 38.
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Die empirisch-numinose Handlungsmotivierung, welche Buddenbrooks geprägt hatte, tendiert nun zunehmend zur ›Motivierung der Werkheiligkeit‹ – mit der kunstreligiösen Thematik und ihren verschiedenen Entwicklungsstufen, die oben nachgezeichnet wurden, als forciertem numinosen Element, das seinerseits ironisiert wird. »Und es erfolgte zu Brangänens dunklem Habet-Acht-Gesange jener Aufstieg der Violinen, welcher höher ist, als alle Vernunft« (2.1, S. 352): Dieser Satz aus der Erzählung »Tristan« (1903) rekurriert nicht nur auf den biblischen Brief des Paulus an die Philipper und den sogenannten Kanzelsegen der Predigtliturgie (Philipper 4,7), sondern affirmiert auch den kunstreligiösen Bezug im Sinne der Werkheiligkeit – um ihn sogleich wieder zu destruieren. In diesem Sinn der Über-Steigerung – Ironisierung der Ironie – ist auch eine weitere Technik zu verstehen, die Thomas Mann in seinen frühen Erzählungen neu einführt: das selbstreflexive Erzählen. Auch die Metafiktion fungiert in Manns frühen Erzähltexten als eine forcierte Ironie, als eine ins Extrem gesteigerte und überspitzte ›Narration des Zweifels‹ unter Rekurs auf Nietzsche: Still! Wir wollen in eine Seele schauen. Im Fluge gleichsam, im Vorüberstreichen und nur ein paar Seiten lang, denn wir sind gewaltig beschäftigt. Wir kommen aus Florenz, aus alter Zeit; dort handelt es sich um letzte und schwierige Angelegenheiten [vgl. die eschatologische Anspielung im Sinne der Werkheiligkeit]. Und sind sie bezwungen, – wohin? Zu Hofe vielleicht, in ein Königsschloß, – wer weiß? Seltsame, matt schimmernde Dinge sind im Begriffe sich zurechtzuschieben … Anna, arme kleine Baronin Anna, wir haben nicht lange Zeit für dich! – - – (2.1, S. 381)
Mit diesem Absatz beginnt Thomas Manns Studie »Ein Glück« (1904). Deutlich werden hier diskrete Fiktionssignale des realistischen Erzählens überschritten, indem die narrative Instanz in einer dezidierten Fiktionsironie das Geschehen im Rahmen der Histoire als frei erfunden präsentiert. In der Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder (1933–1943) wird die Metafiktion schließlich auch den Wechsel von der Ironie hin zum Humor erproben, indem sie sich dort namentlich auf Laurence Sterne beruft.50 Hier jedoch – und auch noch (freilich minder ausgeprägt) im Zauberberg (1924) – ist die narrative Illusionsdurchbrechung des selbstreflexiven Erzählens nicht synthetisierend, sondern ironisch-analytisch. Die o. g. Studie »Ein Glück« beginnt explizit fiktionsironisch: Das »Königsschloß« des zitierten Erzähleingangs spielt auf Thomas Manns geplanten Roman Königliche Hoheit (1909) an; »[w]ir kommen aus Florenz« ist eine Allusion auf Manns aktuelle Arbeit an seinem Drama Fiorenza, wo – siehe oben – »letzte und schwierige Angelegenheiten« im Sinne der Werkheiligkeit traktiert werden. So wird die Auftragsarbeit an »Ein Glück« im ersten Absatz der Erzählung auch als solche kenntlich. 50 Vgl. dazu Yvonne Nilges, »›Humor und Größe haben viel miteinander zu tun‹: Thomas Mann und Laurence Sterne«, in: Thomas Mann Jahrbuch 24 (2011): 143–154.
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Der darauffolgende Absatz ist gleichfalls in forcierter Ironie verfasst, indem der Erzähler nicht nur intertextuell (»Tonio Kröger«), sondern ausdrücklich fiktionsironisch auf Vorlieben des Autors Thomas Mann verweist – die sodann in einer rhetorischen Frage abermals ironisiert werden: Dreitakt und Gläserklang, – Tumult, Dunst, Summen und Tanzschritt: man kennt uns, man kennt unsere kleine Schwäche. Ist es, weil dort der Schmerz die tiefsten, sehnsüchtigsten Augen bekommt, daß wir heimlich so gern an Orten verweilen, wo das Leben seine simplen Feste feiert? (2.1, S. 381)
An Stellen wie diesen wird ersichtlich, wie der ›Wille zur Werkheiligkeit‹ die erzählte Welt in Thomas Manns frühen Erzählungen grundiert. Auch in Manns frühen Erzähltexten bestimmt das theoretisch unzuverlässige Erzählen die ›Narration des Zweifels‹. Eine Steigerung liegt, verglichen mit Thomas Manns Romandebüt, jedoch nicht vor; das narrative Verfahren bleibt in dieser Hinsicht unverändert, indem es zwar ironisch ist, dies jedoch weiterhin im einfachsten Grad unzuverlässigen Erzählens.51
III. Die Steigerungen traditionsbezogener Verlagerungen zeitigen im Frühwerk Thomas Manns, wie wir gesehen haben, ungleiche Ergebnisse. In der ›religiösen Frage‹ wird aus der Ästhetik ein Ästhetizismus: ein ›Wille zur Werkheiligkeit‹, der die Verstärkung kunstreligiöser Traditionsverlagerungen mehr und mehr erzwingt – vom passiv leidenden ›Märtyrertum‹ über das ›dynamische‹ Prophetentum über die machthungrige Askese, kulminierend schließlich in der Verbindung all dieser Komponenten im Drama (!) Fiorenza (1907). 51 S. dazu Anm. 57 des Buddenbrooks-Kapitels. Als alternativen Terminus für »unzuverlässiges Erzählen« hat Dorrit Cohn den Begriff »discordant narration« eingeführt: Dorrit Cohn, »Discordant Narration«, in: Style 34/2 (2000): 307–316. Zur Anwendung des Konzepts im »Tod in Venedig« (1912) s. dies., »The Second Author of ›Der Tod in Venedig‹«, in: Probleme der Moderne: Studien zur deutschen Literatur von Nietzsche bis Brecht, hg. von Benjamin Bennett [u. a.], Tübingen 1983, S. 223–245. Auch Cohn zufolge bleibt die Ironie des unzuverlässigen Erzählens hier eine ›einfache‹. Den narratologischen Forschungsstand verlässt Kristian Larsson in Masken des Erzählens: Studien zur Theorie narrativer Unzuverlässigkeit und ihrer Praxis im Frühwerk Thomas Manns, Würzburg 2011, S. 245. Unzuverlässiges Erzählen wird im Licht der »Autorironie« dort differenziell gedeutet, indem das Kriterium des Wahrheitsanspruches in der erzählten Welt zurücktritt und Manns Autorstrategien der Maskierung im Gegenzug hervorgehoben werden. Durch diese abweichende Definition unzuverlässigen Erzählens erscheint das unzuverlässige Erzählen im Frühwerk Thomas Manns bedeutungsvoll; es ändert jedoch prinzipiell nichts an dem Umstand, dass das unzuverlässige Erzählen in Manns Frühwerk (und auch darüber hinaus) durch bloße Werturteile des Erzählers vergleichsweise schlicht und unauffällig bleibt. Das konkrete Geschehen in der Welt des Textes kann im Frühwerk Thomas Manns nicht angezweifelt werden.
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Der Künstler-Heilige, der Künstler-Prophet und der ›asketische Leidens-Priester‹ kommen hier im Dienst der »sacrae litterae« auf symptomatisch-intrikate Art zusammen. Dem Aspekt der (Selbst-)Erhöhung entgegen steht in diesem Kontext stets die (Selbst)-Entlarvung, die zum einen auf Manns frühen religiösen Prägungen und zum anderen auf Manns intensiver Nietzsche-Rezeption basiert. So zeigt sich Nietzsches spätere Skepsis dem Künstler, und hier besonders Wagner, gegenüber (dem Nietzsche Täuschung und Histrionentum vorwarf) in Manns eigener (Selbst-)Skepsis, was den Künstler und zumal den »Litteraten« anbelangt. In Manns Frühwerk ist die dekadente Fixierung auf den Tod, anders als später, der Tendenz nach dominant; sie wird dort als veritable ›Gegen-Schöpfung‹ zum »Leben« kultiviert und durchläuft eine ebenso kunstvolle wie künstliche Komplexität. Auf diese Weise entsteht ein ganz eigenes ›auratisches Kunstwerk‹, mit Walter Benjamin zu sprechen, das eine Konkurrenz zu Gott als die verdeckte Suche nach der Konvergenz mit ihm akzentuiert. Auf Nietzsches Diktum »Gott ist tot« folgt mithin eine ›Flucht nach vorn‹, welche die religiösen Traditionsverlagerungen, die Manns ersten Roman durchzogen hatten, eindringlich fortschreibt und im Sinne der Werkheiligkeit verstärkt. Eine Steigerung moderner Traditionsverlagerungen prägt auch die Erzähltechnik im Frühwerk Thomas Manns. Wie in der Religionsthematik, so führt auch hier der Einfluss Nietzsches zu einer ironischen Forcierung: Die Ironie – als ›Narration des Zweifels‹ – wird ihrerseits ironisiert, was sich zum einen in der ›Handlungsmotivierung der Werkheiligkeit‹ dokumentiert sowie zum anderen anhand der neuen, metareflexiven Illusionsdurchbrechung kenntlich wird. Das selbstreflexive Erzählen fungiert im Frühwerk Thomas Manns als weiterer, gesteigerter und übersteigerter Aspekt der analytischen Ironisierung. Wo jedoch nicht die Wirkung Nietzsches, sondern der Einfluss Wagners dominiert, wirkt die Steigerung moderner Traditionsverlagerungen sicherer, organischer, harmonischer – als milderer kunstreligiöser Ausdruck vor dem Hintergrund der Werk-Gerechtigkeit. Der gleitende ›Modus der unendlichen Melodie‹ in Distanz und Fokalisierung gewinnt im Frühwerk Thomas Manns durch die Tilgung von Verba dicendi und Verba credendi an Souveränität; ab »Tonio Kröger« (1903) entwickelt Mann auch eine ›Stimme der unendlichen Melodie‹, die durch das Ineinanderfließen narrativer Ebenen mit leitmotivischer Bedeutung den Beginn einer komplexen Leitmotivtechnik markiert. Ab »Tonio Kröger« übt der junge Thomas Mann sich darin, die narrative Leitmotivtechnik dynamisch zu gestalten, wofür »Der Tod in Venedig« (1912) mit seiner Analepse des zweiten Kapitels schließlich noch einen weiteren Entwicklungsschritt bedeutet: Hier tritt eine flexiblere Gestaltung der zeitlichen Ordnung neu hinzu.
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Demgegenüber erlauben Manns früheste Erzählungen bis zum »Kleinen Herrn Friedemann« (1897) (und z. T. auch noch darüber hinaus) einen aufschlussreichen Einblick in erzählpragmatische Alternativen zu der Adaption Wagner’scher Grundsätze. Das narrative Verfahren Thomas Manns erscheint dort noch nicht zielgerichtet, obgleich sehr wohl ambitioniert – Nietzsches »Willen zur Macht« ähnlich als Selbsttechnologie des Individuums, das »auf sich selbst einwirkt«.52 Die narrative Technik zeigt sich dort vergleichsweise auch radikal modern – durch gleichzeitiges Erzählen und, noch ausgeprägter, durch den autonomen Inneren Monolog (»Vision«; 1893). In Manns frühesten Erzähltexten rückt eine markante Ich-Betonung in den Blick, die als narrative Strategie der Subjektivität nachfolgend von diskreteren »Formen und Masken« in Anlehnung an die Verfahrensweise Wagners abgelöst wird.
52 Vgl. dazu Michel Foucault, Schriften in vier Bänden: Dits et écrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, aus dem Französischen von Reiner Ansén, Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann [u. a.], Frankfurt a. M. 2001–2005, Bd. 4, S. 969 (»Technologien des Selbst« [»Les techniques de soi«; 1982]).
(Kunst-)Religion und Erzählkunst II: Vom Nachteil und Nutzen quasi-religiöser Referenzrahmen
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Betrachtungen eines Unpolitischen (1918): Alte Heiligkeitspraktiken, neue Krisenreflexion Die Wachstumsschmerzen sind’s! – es kommt vom Werden. […] Die alte Art – doch nicht so schwer. (Hans Pfitzner, Palestrina, 1916)1
Die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) hat Thomas Mann während des Ersten Weltkrieges verfasst. Es handelt sich bei diesem Werk um metatextuelle ›Bruchstücke einer Konfession‹, die jenseits des fiktionalen Erzählens liegen, so dass dessen spezifische Merkmale im Folgenden nicht untersucht zu werden vermögen. Die nächsten Seiten pausieren daher mit einer Analyse der narrativen Technik; stattdessen konzentrieren sie sich vorläufig ganz auf die Weise, wie die Religionsthematik fortgeführt wird. Diese befindet sich bei Thomas Mann nach den forcierten Steigerungen, die im Zuge des Frühwerks in den Vordergrund gerückt waren, in einer Krise. In Abgrenzung vom Typus des »Zivilisationsliteraten«, unter dem wir uns nicht nur, besonders aber seinen Bruder Heinrich vorzustellen haben, bezeichnet Thomas Mann den Ersten Weltkrieg in den Betrachtungen als »Bruderkrieg[…]« (13.1, S. 213) – und zugleich als »Religionskrieg« (ebd., S. 572), mit welcher sehr persönlichen Ineinssetzung bereits das ›weite Feld‹ von Manns Identitätssuche während der Kriegsjahre umrissen wird. Der Krieg fungiert hier als Katalysator, der die Komplexität des Antagonismus mit sich selbst und anderen veranschaulicht. Nicht nur in der politischen, auch in der ›religiösen Frage‹ stellen die Betrachtungen eines Unpolitischen ein Werk »der Not und Pein« dar (13.1, S. 307); sie beleuchten jenen tiefgehenden Zwiespalt, der in Anlehnung an Nietzsche bereits das Frühwerk Thomas Manns geprägt hatte. Und doch können wir hier von einer Zäsur dem Frühwerk gegenüber sprechen – insofern, als die welthistorische Erschütterung nun erstmals nicht mehr nur kunstreligiöse Selbstapologie (und, als deren Kehrseite, rigide Selbstverurteilung) bei Thomas Mann hervorruft, sondern ebenso – und das ist neu – die Suche nach einem potenziellen, dauerhaft gangbaren und zukunftszugewandten Ausweg.
1 Hans Pfitzner, Palestrina: Musikalische Legende in drei Akten, Berlin 1916, S. 31 und S. 37.
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Der ›Wille zur Werkheiligkeit‹, der sich in Manns Frühwerk konstituiert und in Fiorenza (1907) seinen Höhepunkt erreicht hatte, war an einem nicht mehr steigerbaren Endpunkt angelangt: Die Radikalität von Fiorenza konnte in kunstreligiösen ›Gegen-Schöpfungen‹ nicht weiter ausgestaltet werden, der Weg forcierter Steigerungen hatte sich als Irrweg – und als fehlgeschlagene ›Passion‹ – erwiesen. Mit anderen Worten: Die ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ mittels der Werkheiligkeit war effektiv gescheitert – und was ab den Betrachtungen statthat, ist eine allmählich beginnende Umorientierung: eine leidvolle, da zunächst noch reizbare und abgeneigte Lockerung von bislang kultivierten Denkmustern und eine sukzessive Öffnung gegenüber Neuem. Es beginnt hier eine neue Suche, im Zuge derer Thomas Mann sich zunehmend gezwungen sieht, von der Werkheiligkeit zurückzutreten, Bisheriges zu überdenken und anders zu sortieren – so dass das religiöse Thema sich auf verschlungenen und mühevollen Pfaden wieder mehr der Werk-Gerechtigkeit annähert. Die Betrachtungen sind durch grundlegende Kontradiktionen gekennzeichnet. Dies liegt an dem gespaltenen Zweck, den Thomas Mann in diesem Text verfolgt – nicht nur im politischen Bereich, sondern auch im religiösen. Beide Komplexe, Politik und Religion, werden ab den Betrachtungen bei Thomas Mann in eins laufen.2 Die beginnende Lockerung kunstreligiöser Heiligkeitspraktiken erfolgt in den Betrachtungen nur nolens volens, d. h. aus innerem Widerstand heraus, und ist daher mit Schmerz verbunden. Indem die Betrachtungen eines Unpolitischen sich dem Wandel einerseits entgegenstellen – und damit auf dem Alten, ›Überständigen‹ beharren –, behindern sie eine transformative Wende in politischer wie auch in religiöser Hinsicht, die andererseits von Mann jedoch als notwendig erkannt wird. Die Depotenzierung der bisherigen Werkheiligkeit, die in den Betrachtungen statthat, ist daher eine relativ zu sehende: Im Vergleich zum Frühwerk ist eine Entschärfung zu beobachten, nicht jedoch eine Zurücknahme kunstreligiöser Praktiken. Die Ideen des Künstler-Heiligen und Künstler-Propheten, die beide auf Wagner rekurrierten, bleiben in den Betrachtungen eines Unpolitischen unangetastet. Gleiches gilt für das ebenfalls von Wagner stammende Leidenspathos, 2 Die Unterschiede im Ton, die hinsichtlich der Betrachtungen und Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918/1922) auszumachen sind, beruhen trotz inhaltlicher Parallelen im Hinblick auf »Kultur« und »Zivilisation« denn auch und nicht zuletzt auf Manns Bemühungen um eine ›humane‹ Sichtweise. Der Begriff »Humanität« wird in den Betrachtungen jedoch noch nicht zentral. Vgl. zum Untergang des Abendlandes Roger A. Nicholls, »Thomas Mann and Spengler«, in: The German Quarterly 58/3 (1985): 361–374, sowie – zumal bezüglich Spenglers Nachwirkung im Zauberberg (1924) – Barbara Beßlich, Faszination des Verfalls: Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin 2002.
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das Thomas Mann gewohnt war, als Leidens-Kult zu rezipieren. Was sich gegenüber dem Frühwerk nun jedoch verändert, ist eine ›Umwertung der Werte‹ den »Willen zur Macht« betreffend: Der Machtwille, der Manns frühe Erzählungen und Fiorenza unter Rekurs auf Nietzsche zusehends und bis zum Extrem durchzogen hatte, wird jetzt – in den Betrachtungen – scheinbar eliminiert. Tatsächlich löst der »Wille zur Macht« sich in den Betrachtungen jedoch nicht einfach auf. Er befindet sich vielmehr auf einem Weg der Sublimierung: Indem die bislang vorherrschende Ausrichtung an Nietzsches Machtwillen zu schwinden scheint, intensiviert Mann dazu umgekehrt proportional sein Anliegen, sich stattdessen als altruistischer Künstler-Heiliger im Sinne Schopenhauers zu begreifen. Manns Selbstpositionierung im literarischen Feld wird also im Vergleich zu früher defensiver; selbstreferenzielle Idealisierung ist in den Betrachtungen allgegenwärtig. Mag diese neue Stilisierung seiner selbst auch vorderhand als reaktiver Selbstschutz, als Exkulpation vor anderen und vor sich selber intendiert sein, so durchschaut Thomas Mann zugleich aber auch diesen Versuch der Selbsttäuschung: Hinter aller Selbstverteidigung in den Betrachtungen verbirgt sich letztlich doch der Wunsch, die »geistig-sittliche Bemühung […] um ein problematisches Ich«, wie es in der Vorrede heißt (13.1, S. 23), nicht nur zu lockern, sondern auch zu lösen und zu transzendieren. »Denn ein Zeitalter endigt«, heißt es 1919 im »Gesang vom Kindchen«: »[W]ir alle« seien »Werkzeug« Gottes (!). Niemals Kann [… die Kunst] entgegen sein dem Streben des Menschen zum Bessern; Und wer um das Vollkommene wirbt, der fördert das Gute. (VIII, S. 1098)
Das passiv leidende ›Märtyrertum‹ bleibt als kunstreligiöse Projektionsfläche des Frühwerks in den Betrachtungen bestehen, ebenso das ›dynamische‹ Prophetentum. Was wir allerdings jetzt nicht mehr vorfinden, sind Reminiszenzen der machthungrigen Askese (als Ausdruck des asketischen Priesters); sie werden nun in sanftere, verklärende kunstreligiöse Bahnen in subjektiver Ausformung der Lehre Schopenhauers umgeleitet. Demgemäß wandelt sich auch der Fokus von Thomas Manns selbstidentifikatorischen Bezugnahmen auf Christus: Nicht länger die Analogien des Christus imperator maximus (als Inkarnation des »Willens zur Macht«), sondern die Bezüge zum dolorosen Christus dominieren die Betrachtungen. Noch immer also haben wir es mit dezidierten Selbststilisierungen vonseiten Thomas Manns zu tun, die nun jedoch entradikalisiert sowie – in Ansätzen – diszipliniert werden. Dem »Protest« – als ›Protestantismus‹ – kommt als Kern und Telos von Manns Kunstreligion auch in den Betrachtungen noch immer eine wesentliche Rolle zu; »Der Protest« lautet bezeichnenderweise der Titel des ersten Kapitels. Die pro-
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testierende – und quasi-protestantische – Grundhaltung, die in den Betrachtungen verteidigt wird, sekundiert dabei wie schon beim frühen Thomas Mann zumal der Eigenbehauptung zwecks Selbststabilisierung, und analog dazu ist auch Manns weiter evidente »Künstlerschwäche für den Katholizismus« (2.2, S. 499) zu verstehen, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird. Gleichwohl handelt es sich in den Betrachtungen nicht länger um einen Protest, der wie im Frühwerk gegen Gott gerichtet wäre. Stattdessen sucht Mann sich dem Göttlichen, dem Religiösen und der Religiosität nunmehr auf eine neue Weise anzunähern. Die abwehrenden, angreifenden Mittel, die er dabei geltend macht – um sich jetzt nicht länger vom Numinosen, wohl aber vom Zivilisationsliteraten abzugrenzen –, müssen seine Suche freilich trüben, indem sie effektiv auf alten, trennenden Vorstellungen fußen und zu argumentativen Widersprüchen führen (wobei Thomas Mann seinen Versuch der Selbsttäuschung, wie schon gesagt, erkennt). Am deutlichsten tritt der Konflikt in Manns wechselnder Parteinahme für das »Leben« respektive für den »Tod« zutage – zwei Begrifflichkeiten, die das idiosynkratische Assoziationskonglomerat in den Betrachtungen inkonsistent durchziehen. Indem Thomas Mann Komplikationen weiter auf derselben Ebene – derjenigen des absolut gesetzten Geistes – aufzulösen unternimmt, kann keine eigentliche Lösung des Konflikts in Sichtweite gelangen. Auf hohem intellektuellen Niveau entstehen neue, von Ironie gekennzeichnete Zirkelschlüsse, die gleichwohl auf alte Unvereinbarkeiten und auf alte Kämpfe rekurrieren. Insgesamt führen die Betrachtungen eines Unpolitischen eine Zeit »zwischen den Zeiten« (13.1, S. 533) vor Augen, in der neuartige Einsichten mit Aussichten erst reifen, sich entwickeln und entfalten müssen; doch werden neue, von Lockerungen zeugende Erkenntnisse – einmal gewonnen, durch eine nachdrückliche Entscheidung für sich angenommen und konsolidiert – dann auch in Zukunft tragfähig für Manns weiteres Schaffen sein. »Was ist denn dieses lange Selbstgespräch und Schreibwerk anderes«, so Mann in den Betrachtungen, als ein Rückblick auf das, was ich war, was ich eine Weile mit Recht und Ehren war, und was ich, ohne mich alt zu fühlen, offenbar nicht länger werde sein können? Nein, unwissend wie der Letzte über die Bedeutung der Stunde bin ich wohl kaum, da ich ja sogar weiß, daß alt und für immer von gestern sein wird, wem es nicht gelingt, mit der neuen Zeit zu einem leidlichen Frieden zu kommen. Was mich angeht, so muß ich begreifen, daß ich wohl aufnehmen, lernen, Verständigung suchen, mich korrigieren, – mein Wesen und meine Erziehung aber nicht ändern, meine Wurzeln nicht ausreißen und anderswo einsenken kann. (13.1, S. 237)
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Dies gilt in politischer wie auch in religiöser Hinsicht. Der beginnenden, tastenden Lockerung vertrauter Denkmuster, die aus ›Kritik und Krise‹ bei Thomas Mann langsam erwächst, wollen wir uns nun eingehend zuwenden. *** In den Betrachtungen eines Unpolitischen verwendet Thomas Mann das Wort »Politik« als Synonym für »Demokratie«. Das Wesen des Politischen, so lesen wir, sei aggressiv, intolerant, doktrinär und radikal; es sei deutschfeindlich, musikfeindlich – mit einem Wort: kulturfeindlich, da es den Fortschritt verabsolutiere und »Seele, Freiheit, Kunst« zugunsten von zersetzendem Geist und sezierender Analyse, zugunsten von »Zivilisation, Gesellschaft […], Literatur« verraten habe (13.1, S. 35). Die Enumeration zeigt auf, wie Mann in den Betrachtungen sein inneres Dilemma nach außen – auf den Zivilisationsliteraten – projiziert. Denn fast alle diese Schlagwörter könnten, mutatis mutandis, gleichfalls auf das Frühwerk Thomas Manns gemünzt werden, wo – in Thomas Manns Sichtweise – die (wahrhaftige) Dichtung mit der (eigenen) Literatur kontrastiert hatte und wo im »Willen zur Macht« das öffentlichkeitswirksame, zuletzt immer politisch motivierte Interesse dominiert hatte. Die Zivilisation nicht nur als »etwas Geistiges, sondern vielmehr und sogar [als] der Geist selber« (13.1, S. 185): Hier weist Mann dem Zivilisationsliteraten eben das zu, was er von sich selbst wider besseres Wissen abzuweisen sucht – die »Auflösung« von Bindungen (ebd., S. 187), die der moderne Künstler durch seine einseitige Fokussierung auf den Intellekt befördere. Die »stärkste Waffe« zu diesem Behuf sei denn auch das, was Thomas Mann als Autor seinerseits perfektioniert hatte: die Psychologie, die mir immer als die Wissenschaft an sich, als die Erkenntnis selbst erschienen ist. Die Psychologie entmutigt jede Dummheit und Leidenschaft, sie entmutigt Leben und Kunst – durch Wissen. Denn die Kunst wird unmöglich, der Künstler wird unmöglich, wenn sie durchschaut sind. Die Psychologie wirkt also nichts weniger als kulturbildend, sondern im höchsten Grade fortschrittlich zersetzend, im höchsten Grade zivilisatorisch. Das alles liegt auf der Hand. (13.1, S. 188)
Indem nun aber Mann ausdrücklich »Leben und Kunst« für sich zu reklamieren sucht, tun sich Aporien auf, die den bekannten Gegensatz von »Geist und Kunst« zurückrufen, der Thomas Mann schon früher so beschäftigt hatte. Deutschland als die Synthese von beidem – Kunst und Geist –, als das »Land der Dichter und Denker«, mit Madame de Staël zu sprechen, wird in den Betrachtungen auch und v. a. in der Religionsthematik hochgradig symbolisch aufgeladen; denn, wie
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Mann in eigenwilliger Logik anführt: »Der Mensch ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein metaphysisches Wesen; der Deutsche zuerst.« (13.1, S. 308)3 Die nationalkonservativen Betrachtungen erheben das ›deutsche Wesen‹ auf einer Metaebene zum paradigmatischen Vermittler sämtlicher Antagonismen. Zugleich bürgerlich und aristokratisch – »der Individualismus ist in deutscher Sphäre […] eine aristokratische Weltanschauung« (13.1, S. 145) –, zugleich deutsch und »überdeutsch, das heißt: überaus deutsch« (ebd., S. 131), entzieht das ›deutsche Wesen‹ sich, man möchte meinen: per definitionem jedem Versuch der schlüssigen Definition. In dieser Janusköpfigkeit des Deutschseins spiegelt Thomas Mann die Problematik seines künstlerischen Selbstverständnisses. Denn Anti-Radikalismus […] ist die spezifische, die unterscheidende und entscheidende Eigenschaft oder Eigenheit des deutschen Geistes: dies Volk […] ist das Volk des Lebens. Der Lebensbegriff, dieser deutscheste, goethischste und im höchsten, religiösen Sinn konservative Begriff
sei mit dem Tod, so Thomas Mann, innig verwoben (ebd., S. 92).4 Für diese Dialektik steht denn auch Manns Gleichsetzung von Deutschtum und Musik5 sowie von Deutschtum und dem »Kreuz« – als Doppelsymbol des 3 Es ist der politische Konservatismus, in dem die Betrachtungen zum einen auf den protestantischen Theologen Ernst Troeltsch (1865–1923), zum anderen auf den Philosophen, Anthropologen und Soziologen Max Scheler (1874–1928) rekurrieren. Beide – Troeltsch und Scheler – werden in den Betrachtungen für Thomas Mann erstmals bedeutsam, beide allerdings noch nicht mit ausdrücklicher Rücksicht auf die Transzendenz. Was Troeltsch betrifft, so war Mann, während er die Betrachtungen verfasste, mit dessen und Max Webers Studien zur protestantischen Ethik über die Vermittlung von Emil Hammachers Hauptfragen der modernen Kultur (1914) bekannt geworden; vgl. dazu 13.2, S. 264. In den Betrachtungen eines Unpolitischen sympathisiert Thomas Mann mit Troeltsch und Scheler als politisch Konservativen zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Sowohl Troeltsch als auch Scheler werden für Mann und die ›religiöse Frage‹ später noch konstitutiv werden – Troeltsch durch seine Schrift Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (1923), Scheler durch Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928). Vgl. dazu das Zauberberg-Kapitel der vorliegenden Darstellung; in den Betrachtungen zeichnet sich diese Entwicklung jedoch noch nicht ab. 4 S. in diesem Zusammenhang auch Martin A. Ruehl, »A Master from Germany: Thomas Mann and the Faustian Charm of Albrecht Dürer’s Ritter, Tod und Teufel«, in: Images of Words: Literary Representations of Pictorial Themes, hg. von Rüdiger Görner, München 2005, S. 11–64. Dort wird Dürers Meisterstich (1513) als ikonologischer Schlüssel von den Betrachtungen bis zu Doktor Faustus (1947) verfolgt. Albrecht Dürers »Ritter, Tod und Teufel« wurde im Übrigen nicht nur von Thomas Mann, sondern bereits von Richard Wagner und von Nietzsche überaus geschätzt. Letzterer, der Weihnachten 1870 nach Tribschen eingeladen worden war, hatte Wagner dieses »Lieblingsblatt« geschenkt, was Thomas Mann sicher bekannt war. – Vgl. hierzu Nietzsches Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 23. Dezember 1870, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in acht Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., München 2003, hier Bd. 3, S. 170. 5 Vgl. zu diesem Komplex, auch und zumal das Dämonische betreffend, Hans R. Vaget, Seelenzauber: Thomas Mann und die Musik, Frankfurt a. M. 2006. Im allgemeinen Hinblick auf die Signatur der Zeit während des Ersten Weltkrieges s. auch Yvonne Nilges, »›Das Land ohne
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Christentums sowie des Leidens, welches spezifisch christliche Konnotationen überschreitet. Das Kreuz ist in der Tat für Mann ein hochbedeutsames, in sich gespaltenes Symbol, da es zum einen auf das Christentum als Institution verweist, deren Lehre, wenn wir uns zurückerinnern, Mann als sich selbst historisch werdende Leere erfahren hatte, an der er allerdings aus alter Traditionsgebundenheit, aus »christlich skrupulösen Konstitutionen« heraus mit schlechtem Gewissen festhält (13.1, S. 586). Zum anderen ist auch die zweite Bedeutung, die Mann dem Kreuz zuspricht, mit dem Gefühl der Scham und Schuld verbunden; denn das »Leiden« war in Manns Frühwerk ja kunstreligiös als ›Quasi-Passion‹ des Künstlers neu semantisiert worden, der christlich-institutionellen Sinnenteignung als ›gegenschöpferischer‹ Eigensinn entgegenstehend. Mit dem Ausdruck: »das Kreuz verraten« (Fiorenza [1907]: 3.1, S. 121) hatte Thomas Mann auch sich selbst für diesen ›Willen zur Werkheiligkeit‹ in quälender Vivisektion zur Rechenschaft gezogen. Den »Willen zur Macht«, den der junge Mann in diesem Punkt an sich gewahrt hatte, überträgt er in den Betrachtungen zur eigenen Entlastung nunmehr auf sein Alter Ego: den Zivilisationsliteraten. Denn dessen Fortschrittsgläubigkeit, so Mann, dessen »Tugend, auch die ›Demokratie‹, auch die Voluptuosität politischer Schwunghaftigkeit« bedeute letztlich ja »nur dies: den Verrat am Kreuz.« (13.1, S. 465)6 Der »Verrat am Kreuz« wird in den Betrachtungen somit als ›Sünde‹ des Zivilisationsliteraten angeprangert; gleichwohl entspricht er wörtlich Thomas Manns früherer Selbstverdammung. Im Gegensatz dazu wird Conrad Ferdinand Meyer in den Betrachtungen eines Unpolitischen als gewissenhafter Bürger-Künstler porträtiert, mit dessen Christentum-Bekenntnis Thomas Mann sich jetzt mit Nachdruck zu identifizieren sucht: »[D]en ›Verrat am Kreuz‹, er [Meyer] konnte ihn nie begehen«, »[c]ar malgré tous mes efforts d’échapper au christianisme«, sagt er in einem Brief [an Felix Bovet vom 14. Januar 1888], »au moins à ses dernières conséquences, je m’y sens ramené par plus fort que moi chaque année davantage…« Er war Christ […]; er wahrte Treue dem Leiden und dem Gewissen. Christlichkeit, Bürgerlichkeit, Deutschheit [.]
An Stellen wie dieser (13.1, S. 589) tritt hervor, wie Mann bestrebt ist, die einstige Werkheiligkeit nunmehr in ›wahre Christlichkeit‹ zu überführen – und offensichtliche Paradoxien in der Synthese eines höheren, metaphysisch-›deutschen‹ »Lebensbegriff[s]« aufgehen zu lassen.
Musik‹: England als Postulat deutscher Kulturhegemonie«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 13 (2014): 255–272. 6 Ganz ähnlich vgl. auch 13.1, S. 616, wo Thomas Mann dem Zivilisationsliteraten nochmals vorwirft, »›das Kreuz verraten‹ und verleugnet« zu haben.
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Wenn Thomas Mann also die »Christlichkeit« Conrad Ferdinand Meyers an dessen »Treue dem Leiden« gegenüber festmacht, so zeigt sich die Tendenz, das »Leiden« nun nicht länger kunstreligiös, sondern – vice versa – gerade als ethischen Kern des Christentums zu deuten und in diesem Sinn zu affirmieren (ungeachtet dessen, dass Meyer kein Deutscher, sondern Schweizer war; ein Umstand, der von Mann hier nicht beachtet wird). Entsprechend wird in den Betrachtungen auch mit dem Todeskult verfahren. Die »Sympathie mit dem Tode« – eine Lieblingswendung Thomas Manns, die er zuerst in einem Brief an seinen Bruder Heinrich vom 8. November 1813 (21, S. 535), dann in den Betrachtungen und noch im Zauberberg (5.1, S. 988) verwendet – war, ist und bleibt bei Mann kunstreligiös grundiert; doch in dem Bemühen, sich selber gegenüber dem Zivilisationsliteraten zu nobilitieren und die eigene »Christlichkeit« zu untermauern, stärkt Thomas Mann in den Betrachtungen formell das institutionalisierte Christentum, das er freilich informell, wie wir noch mehrmals sehen werden, durch idiosynkratische Bezüge unterläuft.7 Der Wunsch, sich dem Numinosen dennoch aufrichtig zu nähern, ist derweil auch hier nicht übersehbar. Das durchaus leidenschaftlich angegangene Bedürfnis, den ›Antichristen‹ Nietzsche für das Christentum gleichsam zu ›retten‹ (wiewohl ihn gleichzeitig auch exklusiv für sich zu ›reservieren‹, um ihn mit dem Zivilisationsliteraten nicht teilen zu müssen), zeugt davon. Nietzsche als tragischer Christ, der die ›Leere‹ des institutionalisierten Christentums zu überwinden suchte, durch seine – verdrängte – Traditionsbindung an christliche Glaubenssätze jedoch zerrüttet worden sei: Hier erkennt Thomas Mann eine Wahlverwandtschaft ebenso wie auch eine Gefahr, der er in den Betrachtungen durch seine eigene Verteidigung des Christentums entgegenwirkt. Denn obgleich die »sittigende Macht des Christentums« (so noch in »Goethe und die Demokratie« von 1949: 19.1, S. 625), in Goethes Spuren gehend, in den Betrachtungen schon angedeutet wird: Manns eigene traditionelle Bindung an das Christentum bleibt folgenschwer, indem er sich von alttradierten Glaubensmustern und frühen einschlägigen Prägungen nicht ohne eindringliche Skrupel lösen konnte. Meine Jugend, so darf ich sagen, hinderte mich nicht, den Ethiker in Nietzsche zu erkennen zu einer Zeit, als seine Mode- und Gassenwirkung auf eine Art von hektischer 7 Vgl. hierzu z. B. auch Thomas Manns Notizbuch: »Die ›Sympathie mit dem Tode‹ bringt es mit sich, daß man das Moralische nicht in der Vernunft und Zucht erblickt, sondern in der Hingabe an das Schädliche, sodaß man es als sittlich empfindet, zu verkommen. Christliche Sympathie mit dem || Elend, auch dem moralischen. Es steht sittlich höher, als die Tugend.« (NB 2, S. 228) Dieser Eintrag ist zwischen 1914 und 1916 entstanden und repräsentativ für Manns Bemühen, die ästhetizistische, kunstreligiöse Todesfaszination als dezidiert ›christlich‹ umzudeuten und zu apologisieren.
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Kraft- und »Schönheits«-Anbetung hinauslief. Die seelischen Voraussetzungen und Ursprünge aber der ethischen Tragödie seines Lebens, dieses unsterblichen […] Schauspiels von Selbstüberwindung, Selbstzüchtigung, Selbstkreuzigung mit dem geistigen Opfertode als herz- und hirnzerreißendem Abschluß, – wo anders sind sie zu finden, als in dem Protestantismus des Naumburger Pastorssohnes, als in jener nordisch-deutschen, bürgerlich-dürerisch-moralistischen Sphäre, in welcher das Griffelwerk »Ritter, Tod und Teufel« steht, und die immer die Heimatsphäre dieser strengen, durchaus nicht »südlichen« Seele geblieben ist? »Mir behagt an Wagner«, schreibt er [am 8.] Oktober 1868 an Rohde, »was mir an Schopenhauer behagt: die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft.« Das war um jene Zeit, als er zu Basel dreimal in einer Woche – der Karwoche – die Matthäus-Passion hörte… Kreuz, Tod und Gruft! […W]as war er denn selbst, wenn nicht Held, Genie und »Gekreuzigter« in einer Person? Denn wahrhaftig, man soll nicht glauben, daß die Unterschrift jenes Wahnsinnszettels an den dänischen Kritiker eine Blöd- und Unsinnsunterschrift war… (13.1, S. 161)
Mehreres wird aus dem Zitat ersichtlich: Nietzsche, in dem Thomas Mann sich spiegelt, soll dem Christentum gleichsam ›zurückerstattet‹ werden – genauer: dem Protestantismus als religiöser Heimat sowohl Nietzsches als auch Thomas Manns. Der kunstreligiöse Charakter von Manns Frühwerk wird als Bestandteil einer Christlichkeit verstanden, deren Bezugspunkt, so Mann, die ›Ernsthaftigkeit des Leidens‹ darstelle.8 Damit vermischt Thomas Mann kunstreligiöse Selbststilisierung (»Selbstkreuzigung«) und christlich-protestantische Glaubensinhalte, die im Leidenssymbol des Kreuzes untrennbar ineinander übergehen. Die ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ regrediert, so können wir zusammenfassen, vorderhand also zur ›Suche nach der verlorenen Glaubenstradition‹. Das ist bemerkenswert: Thomas Manns Orientierungssuche, die in einer zunehmend desorientierten Welt und an der Schwelle einer Zeitenwende nach neuem Sinn und Wegen in die Zukunft fragt, führt in den Betrachtungen eines Unpolitischen zu einer Retroversion, welche die persönliche und künstlerische Krise reflektiert. Die unfreiwillig starke Traditionsgebundenheit des Religionsbildes von Thomas Mann wird hier noch einmal fassbar. (Die christliche Auferstehung, die vom Tod weg und hin zum Leben führt, kommt im übergeordneten »Lebensbegriff« von Manns Ausführungen bezeichnenderweise hingegen nicht vor.) *** 8 Das Große am Christentum sei denn auch durch den »pessimistische[n] Todes- und Grabeskultus« bedingt, »der eine ganze ethische Welt bedeutet, die bis in den Protestantismus Bach’s hinübergerettet wurde (Matthäus-Passion)«: Dies wird Mann am 21. Dezember 1919 in sein Tagebuch notieren. – Thomas Mann, Tagebücher 1918–1955, 10 Bde., hg. von Peter de Mendelssohn und ab Bd. 6 von Inge Jens, Frankfurt a. M. 1977–1995, hier Bd. 1, S. 347. Zu Albrecht Dürers »Ritter, Tod und Teufel« (1513) vgl. bereits Anm. 4 dieses Kapitels.
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Wie steht es in den Betrachtungen aber genau um den Protestantismus? Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass bei Manns scheinbarer Regression v. a. der nostalgisch kultivierte Wunsch danach, die Sehnsucht nach kindlicher, einfacher Glaubenssicherheit der Vater seines Argumentationsgangs ist. Denn hinter Nietzsches Kritizismus kann Thomas Mann nicht mehr zurückgehen, was sich zumal in seinem Lutherbild dokumentiert, das ganz wesentlich von Nietzsche beeinflusst bleibt und Luther nach wie vor als Machtmenschen par excellence auffasst – obschon der »Wille zur Macht« ansonsten, wie gesagt, in den Betrachtungen wo immer möglich selbstschützend verneint wird.9 Hier zeigt sich Manns gedankliche Anknüpfung an ›den‹ Protestantismus als Konstrukt, als Kulturprotestantismus anstelle des theologischen Protestantismus, der sich nach Thomas Manns Erfahrung ja gerade überlebt hatte (siehe Buddenbrooks). Dass Mann gleichwohl am Protestantismus festhält, ist nun einerseits bezeichnend für sein konfessionell gebunden bleibendes – wiewohl in ›dem‹ Protestantismus bewusst vereinfachtes und nivelliertes – Religionsverständnis; andererseits verweist dieser Umstand mehr denn je auf seine Vorstellung vom Protestantismus als Protest, auf die wir schon Bezug genommen haben und die gerade wieder auf die Kunstreligiosität des Frühwerks rekurriert (Savonarola als Protestant avant la lettre usw.). Das aber heißt: Die Traditionsgebundenheit des Religionsbildes vermengt sich nun in zunehmendem Maße wieder mit solchen Konzeptionen, die ausdrücklich auf Nietzsche fußen. Dies geht so weit, dass die Religionsthematik im Punkt des Protestantismus vom Einfluss Nietzsches sogar wieder überlagert wird. Es ist dies ein Umstand, der sich tatsächlich bis ins Spätwerk Thomas Manns wie ein Ariadnefaden ziehen wird, zumal Manns Kenntnisse über den historischen Luther bis zu seinen Lutherstudien des Jahres 1954 (für den Fragment gebliebenen Werkplan Luthers Hochzeit) nur rudimentär waren und sich substanziell an der Darstellung Nietzsches ausrichteten. Da Thomas Mann die Theologie Luthers in jungen Jahren als sinnentleert empfunden (und in Buddenbrooks entsprechend dekuvriert) hatte, ist dies nicht überraschend.
9 Zu Thomas Manns Verständnis von Luther als Machtmensch vgl. auch das Frühwerk-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 36. Dass – und wie sehr – Nietzsche und nicht Luther von Thomas Mann favorisiert wird, legt auch die folgende Passage dar: »Der Moralist unterscheidet sich von dem Tugendhaften [dem Zivilisationsliteraten] dadurch, daß er dem Gefährlich-Schädlichen offen ist; daß er, wie es im Evangelium heißt, ›dem Bösen nicht widersteht‹, – was der Tugendbold allewege mit dem achtbarsten Erfolge tut.« (13.1, S. 434) Diese Aufforderung der Bergpredigt (Mt 5,39) »hat in der Luther-Bibel einen anderen Wortlaut (›widerstrebe nicht dem Übel‹)«, wohingegen Nietzsche die von Mann gebrauchte Wendung wörtlich in Der Antichrist (1894) verwendet. Vgl. hierzu 13.2, S. 489.
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In Bezug auf Luther orientiert Mann sich also nach wie vor an dem Vermittler seines jugendlichen Vertrauens: Nietzsche.10 Dies zeigt sich auch im weiteren Komplex des Lutherthemas, der Reformation. Diese sei, so Mann, wie Luther als Inbegriff des Machtmenschen mit Vorsicht und ambivalent zu sehen, »problematischer und deutscher« nämlich, »als der hochherzige Vereinfachungstrieb [!] des Befreiungsenthusiasten [des Zivilisationsliteraten] es wahr haben will.« (13.1, S. 555f.) Unter Rekurs auf Nietzsches Aphorismus »Die Reaktion als Fortschritt« aus Menschliches, Allzumenschliches (1878) erachtet Thomas Mann die Reformation in den Betrachtungen als progressiv und reaktionär in gleichem Maße, da sie theologisch nicht allein von revolutionärer Fortentwicklung, sondern – aus anderem Blickwinkel gesehen – auch von einem »Rückfall ins Mittelalter« zeuge (ebd., S. 556). In Wahrheit hat man in der Reformation ein Ereignis von echt deutscher Majestät zu verehren, ein Ereignis und Faktum der Seele, – undeutbar, unkritisierbar eigentlich, wie das Leben. […] Man kann dieses Ereignis revolutionär oder rückschlägig, umstürzlerisch oder erhaltend, demokratisch oder aristokratisch nennen: es ist alles auf einmal, es ist tief, trotzig, verhängnisvoll, programmwidrig, persönlich und groß. Denn es ist, nach gut deutscher Art, ganz und gar das Werk eines großen Mannes, einer zwar gewaltig nationalen, aber ebenso gewaltig und reich individuellen Persönlichkeit, – geboren aus ihren eigensten Kämpfen und Nöten, mit ihrem Stempel behaftet für immer. War die Reformation ein »Glück«? Nein, das war sie garnicht. (13.1, S. 558f.)
Und der protestierende Protestant Thomas Mann, der sich zuvor noch so entschieden zur nordischen Sphäre bekannt hatte, fährt in Nietzsches Perspektivismus fort, indem aus einer selektiven Bezugnahme auf die protestantische Theologie jetzt nachgerade eine kulturprotestantische Substitution derselben wird: Was man die »Ernüchterung« des Nordens nennt, ferner die Spaltung des Volkes, ferner der Dreißigjährige Krieg waren die Folgen für Deutschland. Goethes Meinung über Luther, über das Unglück der Zurückdrängung »ruhiger Bildung« durch den Glaubensdrang, führten wir schon an [13.1, S. 236]. Und Nietzsche nun gar, – man erinnert sich seiner Wut und Verzweiflung über das Ereignis »Luther in Rom«, über diesen Mönch und Pöbelmann, der sich »gegen die Renaissance empörte« und die Kirche wiederherstellte, der das Christentum wiederherstellte, nachdem es an seinem Sitz überwunden war. (Ebd., S. 559)
Die Reformation, so Mann, sei ebenso zwiespältig wie Luther – welch Letzterer zum einen in die Zukunft weise, zum anderen indessen, je nach Perspektive, zurück in die Vergangenheit; und »[n]icht nur Luther ist eine Kippfigur, sondern 10 Und, Luther und die Musik betreffend, besonders an Ernst Bertrams Nietzsche-Buch: Nietzsche: Versuch einer Mythologie (1918).
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auch das Mittelalter, in das er zurückführt und das sich dann unversehens als im positiven Sinne modern erweisen kann.«11 Hier ist vom Protestantismus als Konfession nichts übrig; »an das innere Pflichtgefühl appellierend«, heißt für Thomas Mann zwar »protestantisch« (13.1, S. 220), doch ist der namentlich theologische Bezug hier schon zurückgetreten zugunsten einer – neu stilisierten – Kunstreligion, die jetzt nicht mehr (wie noch im Frühwerk) den Literaten, sondern den »Dichter« als den »geborene[n] Protestant[en]« erachtet (ebd., S. 534). Wir sehen: Die tatsächlichen Prioritäten Thomas Manns kristallisieren sich im Laufe der Betrachtungen heraus. ›Thomas Manns Theologie‹ ist – trotz des Bekenntnisses zum Christentum und zum Protestantismus – nach wie vor weniger glaubensstark als vielmehr schwankend, zweifelnd, ›kultur- und kunstgläubig‹ geartet. Allerdings nobilitiert Mann in den Betrachtungen die Kunstreligion dergestalt, dass sie sich überkommenen christlichen Glaubensinhalten gegenüber nunmehr zugänglicher darstellt, als dies im Frühwerk noch der Fall gewesen war. Kunstreligiöse Konzepte werden, des »Willens zur Macht« bewusst entledigt, auf diese Weise dem Christentum scheinbar harmonisch akkomodiert. *** Dies zeigt sich auch und zumal anhand der beiden großen Digressionen, die in den Betrachtungen dem Katholizismus gelten. Sowohl bei Paul Claudels geistlichem Drama L’Annonce faite à Marie (1912) als auch bei Hans Pfitzners Oper Palestrina (uraufgeführt 1917) handelt es sich um eine dezidiert kunstreligiöse Rezeption vonseiten Thomas Manns, die seiner »Künstlerschwäche für den Katholizismus« (2.2, S. 499) subjektivistisch korrespondiert. Claudel, ein Vertreter des Renouveau catholique, wird für sein symbolisches Theaterstück, das Mann zunächst nicht im französischen Original, sondern in deutscher Übersetzung las (vgl. seinen Brief an Paul Amann vom 25. Februar 1916: 22, S. 121), in den Betrachtungen mit einem Panegyrikus gefeiert. L’Annonce faite à Marie – in deutscher Übertragung Verkündigung – spielt auf Mariä Verkündigung an; die Protagonistin trägt Züge einer Heiligen, welche der Jungfrau Maria angenähert sind. »Die Handlung spielt in einem Mittelalter freier Erfindung«,12 die Namen der Dramatis Personae und die Schauplätze, an denen 11 Bernd Hamacher, »Zurück in die Zukunft: Thomas Manns Lutherbild und die Modernität des Mittelalters«, in: Thomas Mann Jahrbuch 25 (2012): 115–127, S. 118. 12 Paul Claudel, Verkündigung [L’Annonce faite à Marie; 1912]: Ein geistliches Stück in vier Ereignissen und einem Vorspiel, aus dem Französischen von Jakob Hegner, 3. Aufl., Hellerau bei Dresden 1913, S. 9 (Regieanweisung).
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das Drama sich entfaltet, wurden von dem Übersetzer Jakob Hegner durchgehend germanisiert – ein Umstand, der Mann die Identifikation mit Claudels Werk erst nachdrücklich ermöglichte.13 Der Inhalt des heute weithin unbekannten Dramas sei hier auf knappem Raum skizziert: Die junge, tief gläubige Violäne liebt den an Lepra erkrankten Dombaumeister Peter von Ulm. Sie gewährt ihm in unschuldigem Mitgefühl einen Kuss, wodurch die Krankheit sich auf sie überträgt. Als deren erste Symptome sich bei Violäne zeigen, wird sie von Jakobäus, den ihr Vater zu ihrem Verlobten bestimmte, verstoßen; sie verlässt ihre Familie und lebt fortan als Aussätzige in einer Höhle. Jahre später erhält sie dort an Heiligabend Besuch von ihrer hartherzigen, gottesfernen Schwester Mara, die zwischenzeitlich Jakobäus geheiratet hat und Violäne nun verzweifelt ihren toten Säugling bringt. Die Verkündigungsglocken der Mitternachtsmesse ertönen; Violäne, lange schon erblindet, doch innerlich erleuchtet, betet die Heilige Nacht hindurch mit Mara, und durch ein Wunder erwacht Maras Säugling wieder zum Leben. Die Geburt Christi und die wunderbare Wiedergeburt des Kindes koinzidieren und erhellen einander, indem Violänes Heiligenstatus trotz ihrer bescheidenen Entgegnungen bestätigt wird. Das dem Leben zurückgegebene Kind hat nunmehr Violänes Augen. Die seit je auf ihre Schwester eifersüchtige Mara führt daraufhin den Tod der Hauptfigur herbei, deren ›unbefleckte Empfängnis‹, wahre Fähigkeit zur Mutterschaft und innige Gottesliebe sie zur Märtyrerin verklären. Das Leben Violänes war in den Worten des Dramas »[d]ie Berufung zum Tode, einer erhabenen Lilie gleich.«14 Für Thomas Manns »Liebe zu dieser Dichtung« (13.1, S. 441) sind verschiedene Aspekte von Bedeutung. In Claudels Drama vermochte Mann seinen ganz persönlichen Leidenskult wiederzuerkennen. Das Leiden als Stigma (wie bei dem verkannten Christus) wird von Violäne explizit thematisiert, indem sie dem aussätzigen Peter von Ulm zu Beginn die Imitatio Christi anempfiehlt: »Denn dem Leidenden sind die Tröstungen des heitern Trösters wenig wert, und sein Weh ist uns nicht, was es ihm ist. Leidet mit unserm Heiland.«15 Der Unterschied ist freilich, dass die gottesfürchtige, in ihrem Wesen schlichte Violäne diesen Rat im Wortsinne begreift, wohingegen Thomas Mann ihn umdeutet: Aus der Nachfolge Christi wird so die kunstreligiöse, stilisierte Identifikation mit den Worten Peters von Ulm (der als Dombaumeister seinerseits ein Künstler ist):
13 »Hat man bemerkt, in welchem Grade die ›Verkündigung‹ in Hegners Übersetzung als Originaldichtung wirkt?« (13.1, S. 441) 14 Paul Claudel, Verkündigung [L’Annonce faite à Marie; 1912]: Ein geistliches Stück in vier Ereignissen und einem Vorspiel (Anm. 12), S. 185. 15 Ebd., S. 18.
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Hart ist die Mieselsucht [< lat. »misellus«: »arm, unglücklich«], und schwer, diese schändliche Wunde [vgl. Jesu Wunden] mit sich zu schleppen, und zu wissen, daß man nicht genesen kann und daß nichts wider sie taugt, Doch daß sie jeden Tag weiterfrißt und tiefer dringt, und daß man allein [!] ist.16
Diesen Zusammenhang betont Thomas Mann denn auch in den Betrachtungen. Im französischen Original zitiert er die Äußerung Peters von Ulm: »Steig du [Violäne] in den Himmel mit einem Flügelschlag! Ich jedoch, um ein weniges höher zu kommen, bedarf der Arbeit [!] eines Domes und seiner tiefen Grundmauern.«17 Leiden als Stigma des Künstlers also, und auch das Leiden als Auszeichnung und als Erwählung (wie bei dem verkannten Christus) wird in Claudels Drama zentral, wobei Mann jetzt allerdings der eigenen Kunstreligiosität erstmalig Grenzen auferlegt. Es ist bezeichnend, dass Violäne ihrerseits sich nicht als Heilige versteht – und sich gerade deswegen umso bestimmter als solche erweisen kann. Entsprechend tritt der »Wille zur Macht« in Thomas Manns Betrachtungen so weit zurück, dass der Fokus der Selbststilisierung sich verändert: [G]ewiß, das Unheil unsrer Zeit ist groß. Sie sind ohne Vater [Gott]. Sie spähen aus und erkennen nicht mehr die Herrschaft und nicht mehr die Kirche. Dies ist der Grund, warum mein Leib an der zerfahrenden Christenheit Stelle sich mühn muß.18
Auch diese Stelle aus Claudels Drama wird in den Betrachtungen zitiert (gleichfalls im französischen Original: 13.1, S. 560f.): dort, wo Mann über sein Bedürfnis nach »Bindung« spricht (ebd.). Der ›Wille zur Bindung‹ ersetzt hier gezielt den »Willen zur Macht«: Claudels Violäne ist eine ›sanfte‹ Heilige, anders als der Heilige Sebastian gerne und erbötig leidend;19 und es ist in diesem Sinne der Verklärung, dass Thomas Mann sich selbst zum unschuldsvollen ›Quasi-Heiligen‹ erhebt, so dass der Leidenskultus abgeschwächt, die Verbindung zu tradierten Glaubensinhalten indessen gestärkt scheint. Der Schein ersetzt hier noch zu einem großen Teil das Sein. Das Motiv der rivalisierenden Geschwister bei Claudel (vgl. Thomas und Heinrich Mann in den Betrachtungen) dürfte Mann ebenso angezogen haben wie die Wagner-Reminiszenzen innerhalb des Dramas (z. B. trägt Violäne Züge der Elisabeth aus Wagners Tannhäuser [1845]).20 Und doch: Trotz seines Ästhetizismus, trotz 16 17 18 19 20
Ebd., S. 28. Ebd., S. 27 bzw. 13.1, S. 440. Ebd., S. 124. Zum Heiligen Sebastian s. das Frühwerk-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 25. Vgl. hierzu Joëlle Stoupy, La littérature française dans »Betrachtungen eines Unpolitischen« (1918) de Thomas Mann, Frankfurt a. M. 2015, S. 216–219.
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seiner Funktionalisierung des Katholizismus, der als altehrwürdiges und feierliches Antidot zur »Zivilisation« gedeutet wird (was auch Manns Reflexionen über katholische Kirchen darlegen: vgl. 13.1, S. 521ff.), ist Thomas Mann in seiner Behandlung des Religionsthemas authentisch. Der offenbare Widerspruch, auf alten Denkmustern zu insistieren, während gleichzeitig nach Neuem ausgeschaut wird, entfaltet sich am Beispiel von Claudels geistlichem Drama auf besonders eindringliche Weise. Von der Krisis kunstreligiöser Heiligkeitspraktiken, die in den Betrachtungen zugleich gepflegt wie auch kaschiert und sublimiert werden, zeugt auch und insbesondere die herausragende Faszination, die Hans Pfitzners Oper Palestrina (uraufgeführt 1917) auf Thomas Mann ausübt. Auch hier geht es um Kunstreligion, um die Selbststilisierung Thomas Manns zum nunmehr milden ›QuasiHeiligen‹ im Spiegel der Hauptfigur – und um den Versuch, die kunstreligiöse Sinnenteignung, die sich in dieser Stilisierung kundtut, in einen zumindest vordergründigen Einklang mit der (hier erneut) katholisch gefärbten Kulisse zu bringen. Auch bei Luther und dem Protestantismus soll in Manns Betrachtungen die Musik dazu gereichen, eine deutsche Identität mit Wurzeln im Christentum zu postulieren. Palestrina komplettiert diesen Gedankengang, der auf das Selbstverständnis des Künstlers rekurriert, jetzt in katholisch geprägter Szenerie. Die Auseinandersetzung Thomas Manns mit dieser Oper stellt durch den Musikbezug noch eine Klimax gegenüber dem Exkurs dar, der dem Theaterstück Claudels gegolten hatte; auch politische Implikationen kommen nunmehr neu hinzu. Das Künstlertum wird in Pfitzners Palestrina emphatischer vertreten als noch bei Claudel (wo es zwar existierte, allerdings nur in der Nebenfigur Peters von Ulm zum Tragen kam). Mehr noch: Die Künstlerproblematik bedingt in Palestrina geradezu die Handlung. Palestrina ist, wie Fiorenza, ein dezidiertes Künstlerdrama: ein vertontes unterdessen, hierin den romantischen Opern Richard Wagners ähnelnd. Anders als bei der Rezeption von Claudels Drama muss Manns Identifikation sich hier nicht länger in zwei Charaktere spalten (den Künstler Peter und die zur Heiligen verklärte Violäne), sondern kann ungeteilt auf eine Figur projiziert werden: die Hauptfigur, welche als Künstler und als Heiliger zugleich fungiert. Entsprechend lautet denn auch der Untertitel der Oper, deren Libretto Pfitzner selbst schrieb, eine [m]usikalische Legende in drei Akten. Kunstreligiöse Anknüpfungspunkte finden sich in der Oper allenthalben – zumal Mann und Pfitzner eine persönliche ›Allianz‹ verband, wonach die vergangenheitsorientierte »Sympathie mit dem Tode« (13.1, S. 460) die nationale »Kultur« in Ehren halten solle. Palestrina ist »die Oper vom Ende der Musik« – vgl. das »Finis musicae«, worunter Thomas Mann in den Betrachtungen
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all seine Ängste subsumiert: 13.1, S. 43; es ist zugleich ein Werk vom »Sieg der Politik gerade über die Kultur.«21 Dem Leidenskult jedoch, der in Manns Rezeption von Claudels Drama noch eine solch signifikante Stellung eingenommen hatte, wird nun, im Hinblick auf Palestrina, trotz all dieser Prämissen vergleichsweise nur wenig Raum gegeben. Dies ist denkwürdig, und es ist entscheidend für Manns Lockerung der alten Denkmuster. Alles Leiden am und über das Kunstschaffen ist vergeblich, indem Erfüllung sich nicht einstellt; Palestrina macht der Ruhm – als Attribut des Künstler-Heiligen – nicht glücklich. Sollt’ er dafür [den Ruhm] wohl gar noch dankbar sein? Ein Heiliger für seinen Heil’genschein? Und was denn hat sein Ruhm ihm eingebracht, Als der Kollegen Neid und offne Niedertracht?
So Palestrinas Sohn Ighino.22 Und doch kommt Palestrina die Rolle des Heiligen zu; dies aber, weil er – wie Violäne bei Claudel – von Ehrgeiz frei ist und den »Willen zur Macht« negiert. Daraus rührt nun die Erwählung (»Erwählter Du!«23) – als eine Orientierung an den alten Meistern. Beim Schreiben der Messe, seiner göttlichen Aufgabe, welche die Musik der Zukunft überbringt, indem sie die Musik ›erlöst‹ und reformiert, inspirieren Palestrina, ohne dass dieser es wüsste, denn auch Engel (und seine tote Frau Lukrezia): Ein Wunder mithin nicht nur bei Claudel, sondern auch bei Pfitzner, dessen explizit künstlerischen Kontext Thomas Mann auf sich reprojiziert. Auch Palestrina ist ein ›sanfter‹ Heiliger, der nicht gegen, sondern mit Gott, für Gott wirkt: ad maiorem Dei gloriam. Dazu aber gehört auch die Bereitschaft, Altes und Gewohntes gehen zu lassen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Und in dieser Einsicht, die bei Palestrina gleichfalls nicht bereitwillig erfolgt, spiegelt Thomas Mann sich ebenso wie in der stilisierten Unterordnung in Bezug auf Gott. So entsteht ein neuer, milder Typus des Künstler-Heiligen, an dem Thomas Mann sich modelt und welcher der transzendierten Individuation im Sinne Schopenhauers oberflächlich ähnelt.24 »Wer kann es wissen, / Ob jetzt die Welt nicht ungeahnte Wege geht, / Und was uns ewig schien, nicht wie im Wind verweht? –«25 Am Ende der Oper entsagt Palestrina dem ›Willen zur Werkheiligkeit‹, wie wir ihn im Frühwerk Thomas Manns noch vorfanden, entschlossen 21 Tim Lörke, Die Verteidigung der Kultur: Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne. Thomas Mann – Ferruccio Busoni – Hans Pfitzner – Hanns Eisler, Würzburg 2010, S. 154. 22 Hans Pfitzner, Palestrina: Musikalische Legende in drei Akten (Anm. 1), S. 13. 23 Ebd., S. 29. 24 Das Motto zu Palestrina entnahm Pfitzner Schopenhauer (ebd., S. 5). 25 Ebd., S. 17.
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und grundsätzlich. Es ist dies eine Annahme sowohl der eigenen Begrenztheit als auch neuartiger politischer Entwicklungen. »[E]rnst und weltschauend«, so die Regieanweisung, beschließt Palestrina die Oper mit folgendem bescheidenen – und sich bescheidenden – Gebet: Nun schmiede mich, den letzten Stein An einem deiner tausend Ringe, Gott, – und ich will guter Dinge Und friedvoll sein.26
Auch Pfitzners Palestrina rekurriert auf Wagner, und das nicht nur musikalisch. Meistersinger-Reminiszenzen sind unschwer zu erkennen, was die LehrerSchüler-Konstellation (Sachs/Stolzing bzw. Palestrina/Silla) anbelangt, doch liegt bei Wagner (im Jahr 1868) der Fokus auf der »Zukunftsmusik« des jungen Stolzing (der kein Heiliger ist), während Pfitzner das Interesse auf den alten Palestrina verlagert (der zum ›Quasi-Heiligen‹ verklärt wird). Allerdings sind sowohl Walther von Stolzing als auch Palestrina Künstler-Propheten, so dass Thomas Mann auch diesbezüglich an alte Heiligkeitspraktiken anknüpfen konnte. Die eigentümliche Mischung und wechselseitige Durchdringung von Kunstreligion und deren Depotenzierung tritt in Manns Beschäftigung mit Palestrina besonders ausdrucksstark hervor. Der katholische Rahmen der Oper bildet indessen auch hier weitgehend eine Projektionsfläche. Palestrina entbehrt nicht der Kritik an der katholischen Kirche als Institution; der römische Kapellmeister hat unter dem »Willen zur Macht«, der sich gerade anhand der Kurie exemplifiziert, zu leiden, und auch der ›Jahrmarkt der Eitelkeiten‹ im zweiten Akt ist nicht dazu angetan, Manns »Künstlerschwäche für den Katholizismus« (2.2, S. 499) jetzt plötzlich mit dogmatischen Inhalten zu füllen. Jedoch erweist sich in dieser alten »Künstlerschwäche« Manns ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ besonders nachdrücklich als Suche nach »Bindung« (13.1, S. 187 und S. 560), nach Halt, Vereinfachung und Einheit. Dass diese Einheit letztlich aber doch nicht in der ›Regression zur Tradition‹ – sei sie nun protestantischer oder katholischer Provenienz – gefunden werden kann, ist eine Erkenntnis, die sich für Thomas Mann als ›abtrünnigem Adepten‹ herkömmlicher Glaubensmuster im Laufe der Betrachtungen herauskristallisiert.27 *** 26 Ebd., S. 88. Anders als seine Hauptfigur und Thomas Mann sollte Pfitzner sich dem Zeitenwandel auch in Zukunft erbittert entgegenstellen. 27 In seinem »Zola«-Essay des Jahres 1915 hatte Heinrich Mann zumal katholisierende Tendenzen »in der Literatur und anderswo« scharf kritisiert: »Hier ist Lourdes, dumpfer Zauber des alten Glaubens, modernisiert und herabgesunken bis zur Spekulation auf Krankheit […].
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Was aber dann? Die Betrachtungen eines Unpolitischen zwingen Thomas Mann dazu, in eine tiefere Dimension vorzudringen, die jenseits eines nur mentalen Gottes- (und Künstler-) Verständnisses liegt. Gerade durch ihre große Zeitgebundenheit nötigen sie Mann zur Aufhebung der Zeit, d. h. zu deren Transzendierung, soll die Transzendenz kein nur sich selber täuschendes Vexierspiel und nur ein ›Verschiebebahnhof‹ sein, auf dem gewohnte und liebgewonnene kunstreligiöse Muster zwar entschärft, jedoch, wie wir gesehen haben, unter der Hand durch neue – sanfter und schmeichelhafter anmutende – substituiert werden. Dies allerdings erfordert dann, von Selbststilisierungen jeglicher Observanz aufrichtig abzusehen. Es ist dies die größte Herausforderung, die Mann von jetzt an und im Grunde bis zu seinem Tod begleiten wird. Denn die Frage: »Wer bin ich […]?« (13.1, S. 126), die Suche nach dem eigenen Selbst in Relation zum Numinosen bleibt charakteristisch auch für Manns späteres Verhältnis zur ›religiösen Frage‹. Alle Qual um die Dinge ist Selbstquälerei, und nur der quält sich, der sich wichtig nimmt. […] Ich habe dem nichts entgegenzustellen als die Tatsache, daß ich ohne mich wichtig zu nehmen nie gelebt habe noch leben könnte; […] als die klare Einsicht, daß alles, was ich je leistete und wirkte […] – so viel und so wenig dies nun besagen möge – [,] ausschließlich darauf zurückzuführen ist, daß ich mich wichtig nahm. (13.1, S. 18)
Indessen, so Thomas Mann in den Betrachtungen: Man glaube es mir oder nicht: ich bin des Gedankens fähig, daß der Haß und die Feindschaft unter den Völkern Europas zuletzt eine Täuschung, ein Irrtum ist, – daß die einander zerfleischenden Parteien im Grunde gar keine Parteien sind, sondern gemeinsam, unter Gottes Willen, in brüderlicher Qual an der Erneuerung der Welt und der Seele arbeiten. [… A]n jenes zukünftige Europa glaube ich in guten Stunden, welches, einer religiösen Menschlichkeit und duldsamen Geistigkeit zugetan, seines heutigen verbissenen Weltanschauungszankes sich nur mit Scham und Spott wird erinnern können […]. Ich fand mich nationaler, als ich gewußt hatte, daß ich sei […]. Aber wohler, Gott weiß es, wird mir sein, wenn meine Seele wieder […] Leben und Menschlichkeit wird anschauen dürfen; besser, als durch dieses Buch, wird mein Wesen sich bewähren können, wenn die Völker […] in Würden und Ehren bei einander wohnen [.] (13.1, S. 530ff.) Welche Hoffnung bliebe hier dem, der die Wahrheit will? Tiefes Mitleid scheint die einzige Brücke. Lassen wir alles sich abwickeln wie in einer Oper, die Verstiegenheiten […], diese Prozessionen, die um Wunder beten, dies Bad der gequälten Seelen in schlechtem Schmutzwasser. Hoher Lyrismus des Mitleidens ist Lourdes. – Rom ist weniger. [… Der Vatikan] steht entfernt und unbeteiligt, er hat ein kaltes Amt. Hemmnisse der Wahrheit sind hier nicht Leiden und Verzückung: es ist die Macht [!].«- Diese Einwände ließen sich ohne Weiteres auf Claudels Drama bzw. Pfitzners Oper münzen. – Heinrich Mann, »Zola«, in: Die weißen Blätter 2/11 (1915): 1312–1382, hier S. 1354.
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In dieser Passage dehnt Manns Gottesverständnis sich aus zu einer höheren Religiosität, welche religio im ursprünglichen Wortsinn ist; und so, wie das ausschließlich mentale Gotteskonzept an dieser Stelle einer natürlicheren, zwangloseren Vorstellung des Religiösen weicht, so tut dies auch Manns Selbstentwurf als Künstler. Aus dem konventionellen »Glauben« an Gott, der für Mann problematisch bleibt (vgl. 13.1, S. 581) und auch in kunstreligiösen, hochelaborierten Operationen des Intellekts sein Ziel nicht finden kann, scheint hier ein Vertrauen in Gott auf: Dies insofern, als Gott als Quelle allen Seins, als metaphysisches Prinzip des Lebens selber ansatzweise neu verstanden und bejahend konnotiert wird. Das Wort »Gott« so frei für sich zu definieren, ist ein langer Lockerungsprozess für Thomas Mann, der sich in seinem Gesamtwerk dokumentiert und der bis ganz zuletzt zu keinem Abschluss kommen wird. Auch das Wort »Religion« ist für Mann zutiefst mit der – kollektiven wie persönlichen – Vergangenheit verbunden. Insofern bleibt auch dies ambivalent und veranschaulicht erneut den Zwiespalt, der die Betrachtungen auf ihrem Weg der Lockerung durchzieht. Wie mit jedem anderen Begriff, so ringt Mann auch mit diesem, weil er z. T. von alten Interpretationen überlagert wird. Diese sind sowohl theologischer als auch kunstreligiöser Natur und stehen mithin alle für die (alte sowie neue) »Tradition«, der Mann sich als ›Konservativer‹ zugehörig wissen möchte. So aufgefasst, bedeutet »Religion« auch und zumal »Gottesangst« (13.1, S. 621); sie ist, in dieser Lesart, kein Synonym für das Leben, sondern gegenteilig für den Tod – wobei in diesem Punkt Manns frühe religiöse Prägungen mit kunstreligiöser Härte konvergieren. Noch in seinem »Fragment über das Religiöse« von 1931 wird Mann darauf hinweisen, dass »das Religiöse« für ihn vornehmlich der »Gedanke an den Tod« sei (XI, S. 423). »Religion« steht, in dieser Auslegung, daher für Mann auch dem Ästhetizismus ganz besonders nahe: Dieser sei ein angespanntes, »drängendes Sichversuchen im Religiösen« (13.1, S. 262), denn die Verbindung von »Ehrfurcht und Zweifel […] macht das Wesen der ästhetizistischen Weltanschauung aus« (ebd., S. 252).28 Schließlich erblickt Thomas Mann in den Betrachtungen die derart konnotierte »Religion« auch als Ursprung nationalen Denkens, wodurch »die nationale Idee als Religion« erscheint: »[W]ir fassen den nationalen Krieg, bei dem
28 Und in dem Maße, wie Thomas Mann, durch seine Erziehung an überlieferte Glaubensinhalte gebunden, sich deshalb früher des »Verrats am Kreuz« bezichtigt hatte, richtet er nun über den Zivilisationsliteraten, der »das soziale Leben zu religiöser Weihe erhebt« (13.1, S. 355) und damit zwar keine kunstreligiöse, wohl aber eine »demokratische Heilslehre« (ebd., S. 397) vertrete; »auf Heiligung durch den literarischen Geist läuft sein ›Fortschritt des Menschenherzens‹ ohne Zweifel hinaus« (ebd., S. 506).
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Selbstbehauptung und Ausbreitung zusammenfallen und nicht zu unterscheiden sind, als Religionskrieg.« (Ebd., S. 571f.) Auch der Nationalismus, so ahnt Mann hier folgerichtig, führt auf quasireligiöse Weise das von Unerbittlichkeit, Spaltung sowie »Gottesangst« geprägte Religionsverständnis fort. *** Die selbstapologetischen Betrachtungen werden punktuell von Einsichten durchbrochen, die Thomas Manns vertrautes Religiositätsverständnis (konventioneller wie kunstreligiöser Provenienz) zwar nicht ersetzen, wohl aber allmählich lockern: dahingehend, dass der »Tod« nicht länger als das Ende, sondern als Chance zum Neuanfang gesehen werden kann – als Möglichkeit der Wiedergeburt in übertragener Bedeutung, als Verwandlung, in welcher der Tod über das Leben nicht das letzte Wort hat und sich selber transzendiert.29 »Zweifel« ist der Motor jeder Bemühung um ein freieres Bewusstsein. Das Leben Tolstois sei das eines »Gottsuchers«, bemerkt Mann in den Betrachtungen unter Rekurs auf Krieg und Frieden (1868/1869; 13.1, S. 548). Hier erblickt Thomas Mann in Tolstoi auch sich selbst; an Stellen wie diesen zieht er »Trost und Stärkung« aus der Ahnung, dass »der wahre Glaube […] keine Doktrin und keine verstockte Rechthaberei« sei. Es ist nicht der Glaube an irgendwelche Grundsätze, Worte und Ideen […]. Es ist der Glaube an Gott. Was aber ist Gott? Ist er nicht die Allseitigkeit, […] die allwissende Gerechtigkeit, die umfassende Liebe? Der Glaube an Gott ist der Glaube an die Liebe, an das Leben und an die Kunst. (13.1, S. 548f.)
Thomas Mann benutzt »die umfassende Liebe« hier freilich noch, um gegen den Zivilisationsliteraten zu polemisieren, der »trennend, doktrinär [… und] ohne Liebe« trotz seines »Liebesgeschreis« sei (13.1, S. 582). Polaritäten werden in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch befeuert; der ›Glaube an Parteien‹, d. h. »der Glaube an irgendwelche Grundsätze« und »Rechthaberei« dominiert in den Betrachtungen – insgesamt gesehen – noch gegenüber dem Gewahrsein göttlicher »Allseitigkeit«.30 29 Diese Verwandlung, die einer inneren Wandlung bedarf, ist konstitutiv auch für die Werke Hofmannsthals. In seinem Ariadne-Brief an Richard Strauss des Jahres 1912 heißt es: »Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpferischen Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln [.]« – Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt a. M. 1979/1980, hier Bd. 5, S. 295. 30 Ähnlich verfährt Mann mit Tolstoi, der im weiteren Verlaufe der Betrachtungen gegen Dostojewskis Patriotismus und Konservatismus ausgespielt wird: Tolstoi »korrespondierte […]
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Die Tendenz zu Fixationen, zum Festhalten an bestimmten Glaubens- und Verhaltensauffassungen, wird Der Zauberberg (1924) wenige Jahre später als die allgemeine Signatur der Zeit beschreiben, deren stetige Verschärfung schließlich zum Ersten Weltkrieg führen konnte. Das religiöse Thema ist auch – wesentlich – bei Thomas Mann die Suche nach sich selbst. In der Suche nach der Versöhnung mit dem Numinosen, die wir in den Betrachtungen eines Unpolitischen verfolgt haben, verbirgt sich eine Suche, die auch – wesentlich – nach neuem künstlerischen Selbstwert und nach neuen kreativen Ausdrucksmöglichkeiten fragt. Dabei kämpft Mann im »Bruderkrieg[…]« und »Religionskrieg« auch und insbesondere mit seinen alten Selbstvorstellungen, die in einem schmerzhaften, allmählich beginnenden Prozess der Lockerung von der thematischen Werkheiligkeit und Exklusivität zu Ansätzen größerer Offenheit hin überführt werden. Ich will an den Schluß dieses Kapitels zwei deutsche Sprüche stellen, die von Religiosität und von Freiheit reden. »Dieses Leben«, sagt Luther, »ist nicht eine Frommheit, sondern ein fromm werden, nicht eine Gesundheit, sondern ein gesund werden, nicht ein Wesen, sondern ein Werden.« Und Lessing spricht: »Nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich des Menschen Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht.« (13.1, S. 583)
mit einem amerikanischen Pastor, der ihn ›My dear brother‹ anredete. Das war, wenn mir recht ist, nicht mehr und nicht weniger als ein welthistorischer Skandal; und daß es dahin kommen konnte, ist Tolstois Schuld, die Schuld seiner Entartung [!] vom großen Slawendichter zum Propheten einer demokratischen Allerweltswohlfahrt. Sein Erfolg in der angelsächsischen Welt war außerordentlich, – womit aber über sein Niveau etwas ausgesagt ist. Wer verstünde in Amerika etwas von Dostojewski? […] Das Los aber, von einem reverend ›my dear brother‹ angeredet zu werden, ist dem Dichter der Karamasows erspart geblieben.« (13.1, S. 580f.) Der späte Thomas Mann, der sich selbst als »Freund« eines amerikanischen Pastors – Stephen Fritchman – im Umfeld der Unitarier bezeichnete, wird darüber anders denken. – Vgl. Heinrich Detering, Thomas Manns amerikanische Religion: Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann, Frankfurt a. M. 2012.
2)
Der Zauberberg (1924): Komplexe Verflechtungen
Wir sollen das arge Zuckerbrot, das jeder Erfahrungstag unserem historischen Pessimismus anbietet, nicht gierig schlingen, weil unser romantischer Instinkt an diesem Pessimismus hängt und ihn nicht lassen will. Wir sollen angesichts der Korruption dieses Gedankens den reinen Gedanken hüten, – denn sogar deutscher werden wir uns damit erweisen als durch den verbissen rückwärts gewandten Kult von Ideen, deren schließlich nicht minder totale Entartung uns in ein Unglück gestürzt hat, das würdelos wäre, wenn es uns nicht zu bilden vermöchte. (Thomas Mann, »Naturrecht und Humanität«, 1923 [15.1, S. 725f.])
Während und nach den Erschütterungen des Ersten Weltkrieges – d. h. während der langen Zeitspanne, welche die Hauptentstehungszeit des Zauberbergs (1924) umfasst – verlieren alte, schmerzlich verteidigte Glaubenssätze für Thomas Mann zunehmend ihren Absolutheitsanspruch. Die in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) begonnene Lockerung verhärteter Werkheiligkeit setzt sich unwiderruflich fort – und kulminiert schließlich im zweiten großen Roman Thomas Manns, der »dem Namen des ›Zeitromans‹« (5.1, S. 818) in vielschichtiger Weise Rechnung trägt. Im Zauberberg wird unter Rekurs auf die Zeit im Allgemeinen ein besonderes ›Zeitalter besichtigt‹: Es ist eine Rekapitulation im großen Stil, eine Bilanzierung »der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.« (Ebd., S. 9f.) Demgemäß fließen auch die Jahre nach 1918 retrospektiv in den Zauberberg mit ein: Die ganze (eigene) Moderne kommt zum Ausdruck – und mit ihr all die Widersprüche, Antagonismen und Konflikte, die, auf verschiedene »Vertreter« (ebd., S. 499) übertragen, im Zauberberg thematisiert werden. Der Roman schildert die ›geistige Lebensform‹ am Vorabend des Ersten Weltkrieges: ein gereiztes, zur Radikalität neigendes Wettbewerbsdispositiv, das durch kollidierende Überzeugungen und dysfunktionale Schlichtungsversuche bestimmt ist. »Es war die allgemeine Überkreuzung und Verschränkung, die große Konfusion« (5.1, S. 705), wobei »gerade das Mittlere und Gemäßigte hier ortsfremd und nur die Wahl zwischen Extremen gegeben war.« (Ebd., S. 759) Derart beschreibt Der Zauberberg – als Mikrokosmos multioptionaler Sinnstiftung und Subversion des Bildungsromans – die moderne »transzendentale Obdachlosigkeit«, die in diversen kompensatorischen »Quasi-Religionen« ihren umfassenden Ausdruck findet.1 1 Zu Georg Lukács’ Begriff der »transzendentalen Obdachlosigkeit« und zu Paul Tillichs Begriff der »Quasi-Religionen« s. bereits das Buddenbrooks-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 5 bzw. Anm. 65 und Anm. 66. Die zeitgenössischen »Quasi-Religionen«, die im Zauberberg geschil-
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Erzählt wird im Zauberberg der schreckhafte und grenzenlos verlockende Traum eines jungen Mannes, dem auf bestimmte, wenn auch unbewußt gestellte Fragen nur ein hohles Schweigen geantwortet hatte. Wie jedermann, nehmen wir das Recht in Anspruch, uns bei der hier laufenden Erzählung unsere privaten Gedanken zu machen, und wir äußern die Mutmaßung, daß Hans Castorp die für seinen Aufenthalt bei Denen hier oben ursprünglich angesetzte Frist nicht einmal bis zu dem gegenwärtig erreichten Punkt überschritten hätte, wenn seiner schlichten Seele aus den Tiefen der Zeit über Sinn und Zweck des Lebensdienstes eine irgendwie befriedigende Auskunft zuteil geworden wäre. (5.1, S. 349)
Insofern ist Der Zauberberg auch eine Annäherung an das und eine Analyse dessen, was – in Spaltung verhärtet und »verbissen« verteidigt – ins »Unglück« (15.1, S. 725f.) eines Weltkriegs führen konnte, da inzwischen nicht nur – siehe Buddenbrooks (1901) – traditionelle Glaubensinhalte, sondern auch quasi-religiöse Dogmen unterschiedlichster Erscheinungsform als Leere dekuvriert werden. Kunst-, Fortschritts- und Terrorreligion, Psychoanalyse, Spiritismus, Lebensphilosophie und Regenerationsbewegung der Jahrhundertwende: Sie alle firmieren im Roman als »Quasi-Religionen«, die sich selber nicht mehr hinterfragen und die in der Unbedingtheit ihrer Geisteshaltung keinen abweichenden ›Glauben‹ gelten lassen. Anders als noch in den Betrachtungen wird der eigene »Wille zur Macht« nun nicht länger geleugnet, indessen auch nicht mehr bejaht und gleichzeitig verurteilt, wie dies im Frühwerk noch der Fall gewesen war. Die ›Anderen‹ (der Typus des Zivilisationsliteraten usw.) erscheinen jetzt mit ihren hartnäckig ins Feld geführten Standpunkten nicht länger hauptsächlich als ›Fremde‹, sondern als Spiegel der eigenen Disposition. Teile von Thomas Manns (zeitweiligen) Ansichten sind, wie wir noch sehen werden, in sämtliche männlichen Hauptfiguren des Zauberbergs mit eingegangen. Dass dies nicht ursprünglich geplant war, sondern sich für Mann erst bitter über einen langen Zeitraum, aber folgerecht herausgebildet hat – wie seine demokratische Wende, die damit in Beziehung steht –, belegt die Konzeptionsgeschichte des Romans und der Charakteristika einschlägiger Figuren. Die langwierige Entstehungszeit des Zauberbergs, in die nicht nur der Erste Weltkrieg mit seinen Konsequenzen, sondern auch Thomas Manns Aussöhnung mit seinem Bruder Heinrich fällt, wird dergestalt zu einem anhaltenden Prozess weiterer Lockerung und Öffnung; vom Gegenstück zum »Tod im Venedig« (1912) dert werden – Kunst-, Fortschritts- und Terrorreligion, Psychoanalyse, Spiritismus, Lebensphilosophie und Regenerationsbewegung der Jahrhundertwende – habe ich erstmals 2018 untersucht: Yvonne Nilges, »Thomas Manns Zauberberg als Mikrokosmos multioptionaler Sinnstiftung«, in: »Polytheismus der Einbildungskraft«: Wechselspiele von Literatur und Religion von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von Tomas Sommadossi, Würzburg 2018, S. 157–174.
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bis zu »bewußter Selbstkorrektur« (15.1, S. 723) stellt Der Zauberberg für Thomas Mann ein kompliziertes Work in Progress dar. Dazu gehört, dass der »Sympathie mit dem Tode« (hier 5.1, S. 988) auch weiterhin eine zentrale Rolle zukommt. Symptomatisch für den Zauberberg ist abermals eine wechselnde, diffizil ausgestaltete Parteinahme für das »Leben« respektive für den »Tod«; doch während der Roman als Ganzes noch dem »Tod« zuneigt, entscheidet sein Autor sich um seiner »inneren Gesundheit« willen aus der Krise heraus nunmehr entschlossen für das Leben – mit der Todesverbundenheit als einer Entwicklungs-»Stufe […], die irrend zu überschreiten war« (15.1, S. 723 und S. 725). Das aber heißt: Aus der Formel »Todesromantik plus Lebensja«, die im Zauberberg noch vorherrscht (so in Thomas Manns Brief an Ernst Bertram vom 21. September 1918; 22, S. 251), erwächst im und durch die Arbeit am Roman deren sukzessive Umkehrung und gegenteilige Gewichtung – ein Lebensja plus Todesromantik. (Die Beschwerlichkeit des Loslassens von Altvertrautem, die Sehnsucht nach Unwiederbringlichem zeigt sich im Zauberberg auch intertextuell anhand des romantischen Gedichts »Der Lindenbaum« von Wilhelm Müller [1823], dessen Vertonungen von Franz Schubert und Friedrich Silcher [»Am Brunnen vor dem Tore«] noch auf den letzten Seiten des Romans bedeutsam werden.) Anders als Hans Canstorp, der den Weg der Lebensbereitwilligkeit nicht konsequent zu gehen vermag, ist Thomas Mann tatsächlich jetzt dazu bereit, sich nicht auf Dauer in der »Todesromantik« zu verlieren. Für den Autor des Zauberbergs bedeutet dies auch eine verstärkte Hinwendung zur Politik, wie sie in den Betrachtungen schon angeklungen war – dort freilich noch nicht als »Fürsprech der Demokratie« (15.1, S. 723). Die Verbindung der individuellen ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ mit einer kollektiven, politisch-praktikablen »Forderung des Tages« gewinnt für Thomas Mann nun den Charakter jener Konvergenz mit Gott, von der das FrühwerkKapitel dieser Darstellung bereits gehandelt hat. Es ist diese Konvergenz, welche die einstmals ausgeprägte Konkurrenz zu Gott ersetzt und die Mann seinerseits als Zeichen der Humanität versteht. In dieser – inzwischen gewollten und als Antidot zur Todesreligion ausdrücklich kultivierten – Vereinigung von Religiosität und Politik erblickt Mann eine zukunftsgerichtete Option der ›religiösen Frage‹: einen neuartigen Zugang zur heiklen Religionsthematik, der als Schlussfolgerung alles Erlebten für ihn sinnvoll und begehbar scheint. Der Zauberberg fungiert hierfür noch als Geburtshelfer, indem alle (quasi-) religiösen Konzepte, die Thomas Mann zur Disposition standen, alternativ durchgespielt werden – mit dem Ergebnis des Ungenügens und der Kapitulation. Während die ›religiöse Frage‹ im Zauberberg also noch um ein neues Selbstverständnis ringt, indem disparate Informationen zur Verwertung kommen und die Darstellung diverser Weltanschauungen die Unterscheidungsfä-
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higkeit ausbildet, entfaltet und konsolidiert sich die Erzählform in Anlehnung an Wagner stetig weiter. Dies wird besonderes an der Leitmotivtechnik ersichtlich, die im Zauberberg zur vollen Souveränität gelangt: Modus, Stimme und zum ersten Mal nun auch die Zeit (wie analog dazu der Raum) korrespondieren Wagners musikalischer Erzähltechnik, die Zeit wird nachgerade mythisiert; und doch tendiert die Handlungsmotivierung nach wie vor nicht zur Geschlossenheit, sondern zur Ironie – als weiterhin ambige, empirisch-numinose Handlungsmotivierung, welche die Unentschiedenheit der Religionsthematik in Anlehnung an Nietzsche reflektiert. Dies wollen wir im Folgenden eingehend analysieren.
I. a)
»Quasi-Religionen«
Wie wird die ›religiöse Frage‹ im Zauberberg gestaltet? Das Davoser Sanatorium in Manns Roman, das in Michel Foucaults Worten eine »Heterotopie« darstellt, erfüllt sämtliche Grundsätze der »Heterotopologie«, die Foucault in seinem Vortrag »Von anderen Räumen« 1967 formuliert hat. Tatsächlich ist der Berghof der erzählten Welt nachgerade exemplarisch für die Phänomene, die Foucault »Abweichungsheterotopien« nennt, und hat einen eminenten Bezug zu Heterochronien, wie man aus rein symmetrischen Gründen sagen könnte. Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben. […] Einen heterotopen Ort betritt man nicht wie eine Mühle. Entweder wird man dazu gezwungen wie im Fall der Kaserne oder des Gefängnisses, oder man muss Eingangs- und Reinigungsrituale absolvieren.
Eine solche ›Initiation‹, die »halb religiösen, halb hygienischen« Zwecken dient, durchläuft auch Hans Castorp in der multioptionalen Alterität der BerghofAtmosphäre: Heterotopien vereinen »mehrere reale [Gegen-]Räume, mehrere [Gegen-]Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort«.2 Die diversen »Quasi-Religionen« des Romans, die wir im Folgenden
2 Michel Foucault, »Von anderen Räumen« [»Des espaces autres«; 1967; aus dem Französischen von Michael Bischoff], zitiert in: Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt a. M. 2006, S. 317–329, hier S. 321f. und S. 324ff. Bereits Hans Castorps pragmatische Berufswahl wird vor diesem Hintergrund bedeutsam, denn »[d]as Schiff ist die Heterotopie par excellence« (ebd., S. 327).
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genauer in den Blick nehmen, konstituieren dergestalt heterogene Gegenräume, die im Davoser Sanatorium gepflegt werden und miteinander konkurrieren.3 Alt, d. h. aus dem bisherigen Œuvre Thomas Manns bekannt, sind zum einen traditionelle religiöse Glaubenslehren, zum anderen ästhetizistische, kunstreligiöse Überzeugungen. Auf beide wird im Zauberberg Bezug genommen. Was die tradierte Religion betrifft, so ist im Zauberberg der Prozess der Säkularisierung inzwischen noch weiter fortgeschritten, als dies in Buddenbrooks geschildert wurde; einstmalige Glaubensgewissheiten erscheinen beinahe vollständig aufgelöst. »Es kommt im ganzen Roman, in dem so unendlich vieles vorkommt, kein [einziger] christlicher Gottesdienst vor. […] Das herkömmliche Standardchristentum ist mausetot«,4 was sich auch daran zeigt, dass Hans Castorps »Vorfahren vor der Suppe gebetet hatten« (5.1, S. 26), er selbst jedoch – wie alle Bewohner des »Sündenberges« (ebd., S. 1079) – »sich befliß, den Sonntag zu ehren und auszuzeichnen«, indem »Streußelkuchen« und »Damentoiletten« das Hauptinteresse bilden (ebd., S. 169). Der Roman spielt im Kleinen wie im Großen auf den Sündenfall und die Apokalypse an,5 doch sind diese Reminiszenzen ausdrücklich kontrafaktischer Natur. Das heißt: Traditionelle Glaubenslehren werden als Heilskontrafakturen zwar zielgerichtet eingeflochten, doch nehmen sie in der erzählten Welt des Zauberbergs nun eine neue Stellung ein: diejenige eines historischen (und nicht sich erst historisch werdenden) Verständnisses von Frömmigkeit.6 Noch immer aktuell ist im Zauberberg jedoch die andere, alternative Ausformung des religiösen Themas, die Thomas Mann gleichsam als Gegenkonzeption in seinem Frühwerk ausgestaltet hatte. Gemeint ist die dekadente Kunstreligion.
3 Es ist sinnvoll, hier zwischen »Räumen« und »Orten« genauer zu differenzieren. Vgl. dazu Michel de Certeau, »Praktiken im Raum« [»Pratiques d’espace«; 1980; aus dem Französischen von Ronald Voullié], zitiert in: Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (Anm. 2), S. 343–353, hier S. 345: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.« Der »Ort« ist demnach von Bewegungslosigkeit bestimmt, der »Raum« hingegen – wie die Berghof-Atmosphäre in Thomas Manns Roman – von einer Dynamik, d. h. von individuellen oder sozialen Handlungen. 4 Hermann Kurzke, »Religion im Zauberberg«, in: Der ungläubige Thomas: Zur Religion in Thomas Manns Romanen, hg. von Niklaus Peter und Thomas Sprecher, Frankfurt a. M. 2012, S. 45–61, S. 55. 5 Vgl. dazu Werner Frizen, »Thomas Manns Zauberberg und die ›Weltgedichte‹ der Zeitenwende«, in: Arcadia: Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 22 (1987): 244–269. 6 Die Autor-Intentionen sind diesbezüglich andere geworden. S. hierzu auch Göran Hermerén, »Intention und Interpretation in der Literaturwissenschaft«, in: Hermeneutik: Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation, hg. von Axel Bühler, Heidelberg 2003, S. 121–154.
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Das Leben im Sanatorium, fernab vom »Flachland«,7 wird für Hans Castorp in der Welt des Textes zu einer »heilig-selbstverständlichen Unverbrüchlichkeit« (5.1, S. 226); »Sie haben Profeß getan«, bescheinigt ihm der darob besorgte Settembrini (ebd., S. 296), und noch am Ende der Romanhandlung betet Hans Castorp nicht etwa, sondern singt das Lied vom Lindenbaum »in stierer, gedankenloser Erregung […], ohne es zu wissen« (ebd., S. 1084).8 Die Kunstreligion wird im Zauberberg gründlich rekapituliert, und auch sie ist – wie die traditionelle Religion – für Mann eine dem Tode verbundene, d. h. eine Todesreligion.9 Als solche erscheint sie nach wie vor überaus anziehend, ohne jedoch, und das ist entscheidend, noch länger als Wegweiser für eine Zukunft in Betracht zu kommen, die anders, lichter als bislang Gewesenes sein soll. Ein exklusiver Künstler-Solipsismus existiert im Zauberberg nicht mehr – und eine Sakralisierung des Künstlers dementsprechend auch nicht. Vielmehr ist die Tendenz zur einheitsstiftenden Verallgemeinerung bezeichnend: Hans Castorp – und mit ihm der Mensch an sich, der »homo Dei«10 – ist das »Sorgenkind des Lebens« (5.1, S. 467). Als Konsequenz kommt dem Sonderstatus des Künstlers nun eine viel geringere Bedeutung zu als noch zuvor: Der Aristokratismus des Künstlers wird relativiert und so – auch er – intentionell gewissermaßen ›demokratisiert‹. Wenn es im Jahr 1925 in »Die Ehe im Übergang« heißt: »Wir [Künstler] sind Sorgenkinder des Lebens« (15.1, S. 1036), so schließt Thomas Manns Künstler-Bewusstsein sich dort nicht länger vom allgemeinen menschlichen Bewusstsein aus. Insofern ist es essenziell, dass Hans Castorp ein dezidierter Nicht-Künstler ist (wiewohl er mit der Kunst auf seine Weise dilettantisch liebäugelt). Wenn aber der Künstler seine Besonderheit im Vergleich zu früher ein gutes Stück weit einbüßt, so kann er auch nicht länger als Künstler-Heiliger und Künstler-Prophet auftreten. Diese Rolle des vermeintlichen Heilsbringers nehmen im Roman stattdessen andere »Vertreter« (5.1, S. 499) ein, zu denen wir gleich kommen werden; sie stehen allesamt für neue »Quasi-Religionen«, mit 7 Terence James Reed hat darauf hingewiesen, dass der Begriff »Flachland« bereits in Nietzsches Ecce Homo (entstanden 1888/1889) auftaucht: Terence James Reed, »Von Deutschland nach Europa: Der Zauberberg im europäischen Kontext«, in: Auf dem Weg zum »Zauberberg«: Die Davoser Literaturtage 1996, hg. von Thomas Sprecher, Frankfurt a. M. 1997, S. 299–318, hier S. 311. 8 Vgl. demgegenüber noch Tonys Gebets-Automatismus in Buddenbrooks (1.1., S. 754f.). 9 S. hierzu das Betrachtungen-Kapitel dieser Darstellung. 10 Vgl. hierzu Thomas Manns Vortrag »Joseph und seine Brüder« aus dem Jahr 1942: »Der Held jenes Zeitromans [Der Zauberberg] war nur scheinbar der freundliche junge Mann, Hans Castorp […;] in Wirklichkeit war es der homo dei [sic], der Mensch selbst mit seiner religiösen Frage nach sich selbst, nach seinem Woher und Wohin, seinem Wesen und Ziel, nach seiner Stellung im All, dem Geheimnis seiner Existenz, der ewigen Rätsel-Aufgabe der Humanität.« (XI, S. 657f.)
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Paul Tillich zu sprechen, die neben dem bereits bekannten Ästhetizismus jetzt als weitere, neue Alternativen im Roman thematisiert werden. Es ist also nicht länger der Künstler, dem im Zauberberg heilige Konnotationen zugesprochen werden. Dass »der Literat als vollkommener Mensch, als Heiliger« aufzufassen sei (5.1, S. 790), ist hier nur noch eine von Settembrini als »apologetischer Lobgesang« (ebd.) vorgebrachte ›überständige‹ Idee; eine solche, die bis zu »Tonio Kröger« (1903) zurückreicht. Die »reinigende, heiligende Wirkung der Literatur« (ebd.) ist ein wörtliches Zitat aus Manns früher Künstlernovelle (2.1, S. 275), das die Werkheiligkeit hier explizit zurückruft;11 im Zauberberg aber, von Settembrini ausgesprochen, ironisiert die Wendung nun sich selbst. Damit werden alte, teilweise konträre Positionen jetzt als unterschiedliche Erscheinungsformen ein und desselben Denkmusters durchschaut: des asketischen Priesters (Savonarola bzw. hier Naphta), des Zivilisationsliteraten (hier Settembrini) und des Autors selber. Wichtiger als die eigene Person (als Künstler) und als die Literatur nimmt Thomas Mann im Zauberberg indessen immer noch grundsätzlich die Musik. Hier fällt die progressive Lockerung kunstreligiöser Denkmuster am schwersten: Die Musik bleibt im Roman sakralisiert, mit dem Grammophon als »Schrein«, vom Wert eines »Tempelchens«, so dass Hans Castorp in der »Fülle des Wohllauts« – und eben nicht beim konventionellen Beten, siehe oben – »die Hände gefaltet hält« (5.1, S. 974). Auch alten, aus den Betrachtungen bekannten Mischformen, die bestrebt sind, herkömmliche Religionsinhalte mit musikalischer – nunmehr nicht länger literarischer – Kunstreligion zu vereinbaren, begegnen wir im Zauberberg. Eine Reminiszenz dieser speziellen, nuancierten Ausformung der »Quasi-Religion« ist v. a. die Assoziation des Davoser Zauber-/Sündenberges mit Richard Wagners Venusberg aus seiner Oper Tannhäuser (1845). Dort, wo die Kunstreligion hingegen nicht explizit musikalisch grundiert ist, illustriert Der Zauberberg noch eine zweite Variante des Ästhetizismus im Gewand traditioneller Religion: Die Taufschale »als Symbol der Geschichte und des Todes« wird in diesem Sinne funktionalisiert. »Man kennt das Gerät aus dem ›Ges.[ang] v.[om] K[indche]n.‹«, notiert Mann hierzu in sein Tagebuch vom 20. April 1919, »und so hat es autobiographische und vereinheitlichende [!] Bedeutung«.12 Dasselbe gilt für Hans Castorps wiederholt geäußerte Erwägung, Pastor zu werden – »aus Interesse für traurige und erbauliche Dinge, – so ein schwarzes Tuch, weißt du, mit einem silbernen Kreuz darauf oder R. I. P. …« (5.1,
11 Vgl. hierzu ausführlich das Frühwerk-Kapitel dieser Darstellung. 12 Thomas Mann, Tagebücher 1918–1955, 10 Bde., hg. von Peter de Mendelssohn und ab Bd. 6 von Inge Jens, Frankfurt a. M. 1977–1995, hier Bd. 1, S. 205.
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S. 282)13 Auch Hans Castorps »Totentanz« gehört hierher, d. h. seine nur scheinfrommen Besuche bei den »Moribunden«, die sein »Talent zum Kranksein« (ebd., S. 278) und seinen Todeskult auf problematische Weise begünstigen; doch »ohne unchristlich zu erscheinen, konnte Joachim keine Einwände dagegen erheben« (ebd., S. 477). Die heterotope Berghof-Atmosphäre bietet Hans Castorp einen geradezu idealen Nährboden für ein ins Morbide verkehrtes Religionsverständnis, im Zuge dessen eine ›heilige‹ »Quasi-Religion« der Krankheit und des Todes praktiziert wird: Das ritualisierte Fiebermessen nimmt ein gebetsähnliches Gepräge an, die Versammlung der Patienten im Speisesaal ersetzt den Kirchenbesuch in der Gemeinde. Die quasi-religiöse Fokussierung auf den Körper erinnert dabei an Foucault: »[A]usgerechnet zu einer Zeit, als die Zivilisation, grob gesagt, ›atheistisch‹ wurde, entwickelte die abendländische Kultur den so genannten Totenkult.«14 In welchem Zustand auch immer dem Körper prioritäre Bedeutung beigemessen wird: Stets verheißt er, als mit dem höchsten Stellenwert versehen, Macht. Der Konnex von heterotopem Abweichungsort und obsessivem Todesinteresse tritt im Zauberberg besonders virulent hervor, doch hatte er bereits das Frühwerk Thomas Manns durchzogen (vgl. z. B. die Erzählungen »Der Weg zum Friedhof« [1900: der Friedhof als Heterotopie], »Tristan« [1903: das Sanatorium »Einfried« als antizipative »Berghof«-Heterotopie], »Wälsungenblut« [entstanden 1906: der theatrale Raum als Heterotopie] und »Der Tod in Venedig« [1912: die Hauptstadt der Décadence als Heterotopie]). Die Tendenz, traditionelle Glaubenssätze mit kunstreligiösen Mustern zu verknüpfen, kennen wir, wie angemerkt, bereits aus Thomas Manns Betrachtungen – dort jedoch noch als weitgehend affirmative und exkulpatorische Eigenheit, während sie im Zauberberg als Heils-Kontrafaktur zutage tritt. 13 Vgl. hierzu auch 5.1, S. 168 und die Vorstufe dazu, publiziert 1918 als »Rede eines einfältigen jungen Mannes und fragmentarischen Romanhelden« in einem Vorabdruck (5.2, S. 169f.). Am 29. März 1917 hatte Thomas Mann an Lilli Dieckmann geschrieben: »Der Tod und die geistliche Stimmung, die er erzeugt, war mir von jeher auf besondere Art anziehend und vertraut, meine Bücher handeln eigentlich nur von ihm und wenn ich nicht Schriftsteller geworden wäre, so hätte ich, glaube ich, ganz gut Geistlicher werden können. Dazu ist nicht so sehr irgendwelche Gläubigkeit notwendig, sondern nur, oder doch hauptsächlich, eine bestimmte Grundstimmung, ein Sich daheim fühlen in der ethischen Atmosphäre von ›Kreuz, Tod und Gruft‹.« (22, S. 183) – Zu Nietzsches Wendung »Kreuz, Tod und Gruft« und ihrer Wirkung auf Thomas Mann s. detaillierter das Betrachtungen-Kapitel dieser Darstellung. 14 Michel Foucault, »Von anderen Räumen« [»Des espaces autres«; 1967; aus dem Französischen von Michael Bischoff], zitiert in: Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (Anm. 2), hier S. 323. Vgl. dazu auch Foucaults Konzept des machtorientierten utopischen Körpers: Michel Foucault, »Der utopische Körper« [»L’utopie du corps«; 1966], in: ders., Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, aus dem Französischen von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2017, S. 23–36.
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Das Tertium Comparationis, das konventionelle religiöse Inhalte mit der Kunstreligion verbindet, ist für Thomas Mann dabei der Ernst des Gegenstandes, der besonders als Todesverbundenheit erfahren und als Machtdemonstration erlebt wurde. Manns frühe religiöse Prägungen bestehen, so Mann selbst, aus »Gottesangst« (13.1, S. 621), und auch seine kunstreligiöse Todesreligion bedeutet in nuce eine Flucht vor dem Leben, die von einem alternativen »Willen zur Macht« geprägt ist. Die Frage, »wie ich mich zu dem Ganzen verhielt, zum Leben, weißt du, und seinen Anforderungen« (5.1, S. 282), stellt sich im Roman nicht nur Hans Castorp; doch anders als sein Protagonist entscheidet sein Autor sich schließlich, sein bisheriges Religionsverständnis nicht nur selbstkritisch zu überdenken, sondern auch zu korrigieren – und nach dem Numinosen, d. h. nach Orientierung, Halt und Sinn, fortan nicht mehr im »Tode«, sondern im »Leben« weiterzusuchen. Alles andere, so hält Mann sich nunmehr überzeugt, ist »nicht die Erlösung vom Übel, sondern die üble Erlösung« (5.1, S. 620f.). Vorderhand aber zeigt uns Der Zauberberg gerade dies: die Flucht vor dem Leben, vor sich selbst, vor anderen und in alldem auch vor der Transzendenz – sei es in der (nicht mehr aktuellen) tradierten Religion, in diversen Erscheinungsformen von Kunstreligion und schließlich auch in neu hinzukommenden, gouvernementalen »Quasi-Religionen«, denen wir uns jetzt zuwenden.15 Konspirativen ›Geheimgesellschaften‹ kommt in der multioptionalen Sinnstiftung des Zauberbergs eine besondere Bedeutung zu, die sich vom »Verein Halbe Lunge« (5.1, S. 81) über die Freimaurer bis zu den Jesuiten hin erstreckt und die sogar noch Weitreichenderes impliziert, wie nachfolgend zu zeigen sein wird. Zwei zentrale Figuren des Romans treten als Geheimbundemissäre auf: Settembrini (als Freimaurer) und Naphta (als Jesuit), während Dr. Krokowski (als Psychoanalytiker und später auch als spiritistischer Okkultist) zum einen ebenfalls als »Emissär« (5.1, S. 774), zum anderen aber auch als neuer, individueller ›Religionsstifter‹ und Quasi-Messias (hierin Peeperkorn verwandt) auftritt. Settembrini, Naphta und Krokowski exponieren sich in der Welt des Textes als »Proselytenmacher« und »Seelenfänger« (5.1, S. 774): Es sind Vertreter neuer, der Kunstreligion alternativ hinzugesellter »Quasi-Religionen«.
15 Foucaults Begriff der »Gouvernementalität« bezieht sich primär auf Machtpraktiken institutionalisierter Kollektive, ist sekundär jedoch auch auf individuelle Formen der Kontrolle anwendbar. Dies, da beide Lesarten – die »anatomische Politik« und die »Biopolitik« bzw. individuell geprägte Selbsttechnologien – jeweils vom »Willen zur Macht« ausgehen. S. hierzu Michel Foucault, Schriften in vier Bänden: Dits et écrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, aus dem Französischen von Reiner Ansén, Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann [u. a.], Frankfurt a. M. 2001–2005, hier Bd. 4, S. 236 (»Die Maschen der Macht« [»Les mailles du pouvoir«; 1981]) sowie ebd., S. 969 (»Technologien des Selbst« [»Les techniques de soi«; 1982]).
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Auch hier wird rekapituliert: Von der Fortschrittsreligion des Zivilisationsliteraten (die bereits in den Betrachtungen anklang) über den religiösen Radikalismus des »Terroristen« Naphta (5.1, S. 764: eine Terrorreligion, die, zumindest in Ansätzen, bis zu »Gladius Dei« [1902] und Fiorenza [1907] zurückreicht und dort bezeichnenderweise kunstreligiös geprägt war) bis hin zu Krokowskis Wissenschaftsreligion veranschaulicht Der Zauberberg Variationen eines Themas. Die jeweiligen Vertreter sind Propheten, so dass der einstmalige KünstlerProphet, der im Roman seinerseits nun nicht länger erscheint, auf andere Bereiche übertragen wird. Auch die Propheten alternativer »Quasi-Religionen« erweisen sich im Zauberberg als falsche Propheten – ebenso, wie der einstmalige Künstler-Prophet nun als solcher erfasst (und deshalb konsequenterweise auch nicht länger fiktional geformt) wird. Die Propheten des Zauberbergs sind als Vertreter ihres quasi-religiösen Kollektivs ebenso vom »Willen zur Macht« durchdrungen wie faktisch isoliert; sie buhlen, auf sich allein gestellt, manipulativ um Anerkennung und Bestätigung – auch dies allesamt Eigenschaften des vormaligen Künstler-Propheten. Dass Settembrini, der im Roman als erster »Emissär« introduziert wird, den »Fortschritt« zur prophetisch verkündeten »Quasi-Religion« erhebt, war bereits in den Betrachtungen vorgezeichnet worden – dort zumal in der Auseinandersetzung mit dem Bruder Heinrich, doch auch im Hinblick auf einen anderen Zivilisationsliteraten, Giuseppe Mazzini, der das »›Dogma‹ der Gleichheit ›zur Religion der Seelen erhoben‹« hatte (13.1., S. 429). Im Zauberberg wird Settembrini als »Drehorgelmann« nicht müde, darauf hinzuweisen, dass schon sein Großvater die Pariser Juli-Revolution »neben die sechs Tage der Weltschöpfung« gestellt habe (5.1, S. 238) – eine Legitimierung der Fortschrittsreligion qua (Familien-)Tradition, die einmal mehr auf die geistige Verwandtschaft zwischen dem Zivilisationsliteraten und Thomas Manns eigenen früheren Praktiken verweist. »Es schmeckte nach Sonntagspredigt, obgleich es in leichtem und scherzhaftem Plauderton vorgetragen wurde« (5.1, S. 93): Vor diesem Hintergrund nimmt Settembrinis ›Glaube‹ expliziten Heilscharakter an und zielt auf eine ›Offenbarungsreligion‹. Der ›Wille zur Werkheiligkeit‹, der einstmals dem Künstler-Propheten eigen gewesen war, wird in direkter Analogie jetzt auch symptomatisch für den ›Propheten‹ Settembrini, der mit der Soziologischen Pathologie das »Leiden« rigoros »auszumerzen« sucht (ebd., S. 373). Und auch hier treten intrikate Widersprüche zutage, denn auch Settembrini trägt Züge des Moralpredigers und darüber hinaus auch solche eines mephistophelischen Verführers (»Satana«: ebd., S. 88 und passim). Er »schalmeite Frieden, – obgleich da doch der heilige National- und Zivilisationskrieg gegen Wien war, zu dem er durchaus nicht nein sagte« (ebd., S. 676).
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Es ist jedoch bedeutungsvoll, dass Settembrini im Zauberberg mit auffallend mehr Empathie geschildert wird als noch der Zivilisationsliterat in den Betrachtungen. Dies deshalb, da Thomas Mann sich inzwischen bewusst in diesem Typus spiegelt, d. h. ihn als Alter Ego seiner selbst erkennen kann, dessen Denken nur in eine andere Richtung geleitet worden ist. Settembrinis Humanitätsvorstellung als kompensatorisches Heilsversprechen ist extrem – und damit nicht hilfreich für die Lösung von Konflikten, da sie ihrerseits bereits konfliktbeladen ist. Dass eine solche Geisteshaltung ›Krieg‹ begünstigt – den inneren, der mit sich selber ausgetragen wird, wie auch den äußeren, und zwar ganz unabhängig davon, welcher »Quasi-Religion« nun angehangen wird –, verdeutlicht Thomas Manns Roman. Settembrinis Freimaurerei rekapituliert zudem die existenzielle Verunsicherung, die mit Verschwörungstheorien zur Zeit des Ersten Weltkrieges einherging.16 Jedoch veranschaulicht Der Zauberberg, dass der Kataklysmus des Ersten Weltkriegs seinen Hintergrund in einer allgemein verbreiteten Tendenz zur Ideologisierung hatte, für die niemand, auch keine spezifische Organisation oder ›Geheimgesellschaft‹, zur alleinigen Verantwortung gezogen werden kann. Allerdings hat der Glaube, sich im alleinigen Besitz der ›Wahrheit‹ zu befinden, im Kollektiv ein besonders folgenschweres Wirkungspotenzial. Auf den heilbringenden Bundesgedanken – gleichgültig welcher Observanz – fällt im Zauberberg daher ein skeptisches, ja abrückendes Licht. (Ganz anders wird es später in den Josephsromanen [1933–1943] sein, doch wird diese positive Konnotierung dort nur darauf gründen können, dass Jaakobs Sohn – siehe den Doppelsegen der Josephsromane – keinen ideologisch gefärbten Bundesgedanken pflegt. Joseph wird gerade nicht vom »Willen zur Macht« erfüllt; der Bundesgedanke der Joseph-Tetralogie kann nur deshalb Früchte tragen, weil er als Gegenentwurf, mithin als Konsequenz aus dem scheiternden Bundesgedanken des Zauberbergs entsteht.) Während Settembrini den »Weltbund der Freimaurer« beschwört (5.1, S. 777), indem er gegen die Kirche als alternatives »religiöses Bekenntnis« Voltaires »›Écrasez l’infâme‹« setzt (ebd.), lesen wir aus Naphtas Munde Folgendes, wodurch die Austauschbarkeit heilbringender Ideologeme, die sich zu Ideologien auswachsen, ersichtlich wird: Die Idee des Bundes überhaupt ist untrennbar und schon in der Wurzel verbunden mit der des Unbedingten. Folglich ist sie terroristisch, das heißt: anti-liberal. Sie entlastet das individuelle Gewissen und heiligt im Namen des absoluten Zweckes jedes Mittel, 16 Vgl. zur Freimaurerei Manns Quelle, Friedrich Wichtls Weltmaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik: Eine Untersuchung über Ursprung und Endziele des Weltkrieges (1919), in der die internationale Maurerei (mit Juden als ihren besonderen Vertretern) für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich gemacht wird.
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auch das blutige, auch das Verbrechen. Man hat Anhaltspunkte, daß auch in Maurerlogen ehemals der Bruderbund symbolisch mit Blut besiegelt wurde. Ein Bund ist niemals etwas Beschauliches, sondern immer und seinem Wesen nach etwas in absolutem Geist Organisatorisches. Sie wissen nicht, daß der Gründer des Illuminatenordens, der eine Zeitlang mit der Maurerei beinahe verschmolz, ein ehemaliger Angehöriger der Gesellschaft Jesu war? (5.1, S. 767)
Der »Bund« kennzeichnet auch den Jesuiten Naphta als Geheimbundemissär, wiewohl seine im Roman sorgfältig konstruierte ›Theologie des Terrors‹ ihn kaum zum Prototypen einer spezifisch jesuitischen Konspiration macht.17 In Naphta begegnen sich vielmehr zahlreiche Typen: »[D]er Trick, das Kommunistische […] mit dem Jesuitisch-Katholischen (bei jüdischer Herkunft) zu verschmelzen, war nicht schlecht«, so Thomas Mann noch am 25. November 1950 in einem Brief an Hans M. Wolff.18 Naphtas Zerrissenheit wird dadurch potenziert: Als Jude, der zum Katholizismus konvertierte, der Ordensgemeinschaft der Gesellschaft Jesu angehört und die Idee eines kommunistischen Gottesstaats verficht, hat Naphta kein einheitliches Ergebnis im Sinn. »Alles war scharf an ihm« (5.1, S. 563): Aber dabei war keine Ordnung und Klärung, nicht einmal eine zweiheitliche und militante; denn alles ging nicht nur gegeneinander, sondern auch durcheinander, und nicht nur wechselseitig widersprachen sich die Disputanten [Settembrini und Naphta], sondern sie lagen in Widerspruch auch mit sich selbst. (Ebd., S. 702)
Diese Inkonsequenz tritt bei Naphta gesteigert und eben dadurch besonders auffällig zutage – etwa in seinem Hang zu exorbitantem Luxus, während er zugleich die »Satansherrschaft des Geldes« (ebd., S. 611) verdammt und das »Leiden« in sadomasochistischer Selbstzentrierung als wichtigsten Bestandteil der christlichen Lehre preist. Zugleich reaktionär und revolutionär, ist Naphta zumal ein ehrgeiziger, frustrierter Intellektueller. »Seine Form ist Logik, aber sein Wesen ist Verwirrung« (ebd., S. 614), und dadurch ähnelt er dem asketischen Bußpriester, der uns in Thomas Manns Frühwerk schon begegnet war. Die geistige Analogie, die Naphta und Hans Castorp – als den ›jüngeren Thomas Mann‹ – verbindet, analysiert Settembrini (in diesem Punkte) folgerichtig: Ich werde Ihnen diesen Mann [Naphta] mit einem Worte kennzeichnen. Er ist ein Wollüstiger […,] in einem weiteren und geistigeren Sinn, für den ich nachgerade Verständnis bei Ihnen sollte voraussetzen dürfen. […A]lle seine Gedanken [sind] wollüstiger Art […], denn sie stehen unter dem Schutze des Todes. (5.1, S. 619ff.) 17 Zur weitverbreiteten Jesuitenfeindschaft und antijesuitischen Verschwörungstheorien, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, vgl. z. B. Rita Haub, Die Geschichte der Jesuiten, Darmstadt 2007. 18 Dichter über ihre Dichtungen: Thomas Mann, 3 Bde., hg. von Hans Wysling unter Mitwirkung von Marianne Fischer, München/Frankfurt a. M. 1975–1981, hier Bd. 1, S. 578.
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Indem der »Tod […] zur großen Verführung« sowohl für Naphta wie auch für Hans Castorp wird (ebd., S. 620), illustriert Der Zauberberg hier einen »Willen zur Macht«, der – anders als derjenige, der Settembrini kennzeichnet – dem frühen Thomas Mann besonders nahestand. Naphtas Religionsauffassung akzentuiert den »Gegensatz [!] von Leben und Religion« (5.1, S. 697), der prophetisch angemahnt wird und auf alte Muster Thomas Manns verweist. (Dass Naphta ursprünglich als protestantischer Pastor namens Bunge konzipiert war, ist aus diesem Umstand heraus zu verstehen: der alten, eigenen Verbundenheit zu der als protestantisch aufgefassten Todesreligion.) Doch auch auf ein anderes, gleichfalls auf Angst beruhendes Extrem rekurriert der Roman im Falle Naphtas. Gemeint ist Manns eigenes, kurzzeitig radikales Umschwenken vom politischen Konservatismus zu sozialistischen Ideen im Frühjahr 1919. Manns Tagebuch zur Zeit der Münchner Räterepublik gibt davon Zeugnis: Unterdessen bedenke ich den Zbg., den wieder in Angriff zu nehmen jetzt wirklich erst der Zeitpunkt gekommen ist. Im Kriege war es zu früh, ich mußte aufhören. Der Krieg mußte erst als Anfang der Revolution deutlich werden […]. Der Konflikt von Reaktion (Mittelalter-Freundlichkeit) [Naphtas] und humanistischer Aufklärung [Settembrinis] durchaus historisch-vorkriegerisch. Die Synthese scheint in der (kommunistischen) Zukunft zu liegen [,]
so Thomas Mann am 17. April des Jahres 1919.19 Und am 30. April: Wie ist es möglich, nicht mit Sack und Pack zum Kommunismus überzugehen, da er den ungeheueren Vorzug der Entente-Feindlichkeit besitzt? Er hat den Charakter des Unfugs und des kulturellen Hottentottentums, würde ihn aber in Deutschland kaum auf die Dauer haben.20
Das impliziert die Geburt einer neuen »Quasi-Religion« aus dem Geiste alter Feindbilder, was – wenige Tage später – abermals zu einer radikalen Wendung führt, als die Ereignisse in München eskalieren. »Die Umstände sind von grauenhaftester Gefährlichkeit«, notiert Thomas Mann am 2. Mai in sein Tagebuch; den »Bolschewismus« bezeichnet er nun als »die entsetzlichste Kulturkatastrophe, die der Welt je gedroht hat«.21 Der »russisch-jüdischen Regierung« der Räterepublik22 hat Mann in der Folge dann auch die Idee entnommen, Naphta nicht nur als Kommunisten, sondern auch als konvertierten Juden darzustellen. Die »große Konfusion« (5.1, S. 705) ist im Jahr 1919 also noch allenthalben
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Thomas Mann, Tagebücher 1918–1955 (Anm. 12), Bd. 1, S. 200. Ebd., S. 217. Ebd., S. 223 und S. 222. Ebd., S. 216 (29. April 1919); diese Formulierung bezieht sich wohl auf Eugen Leviné und Max Levien (vgl. hierzu 5.2, S. 93).
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greifbar – und auch Thomas Mann noch immer anfällig für rasche, reaktive Abwehr- und Pauschalurteile.23 Während die Vertreter konspirativer ›Geheimgesellschaften‹ sich im Zauberberg als falsche Propheten erweisen, nimmt der Roman auch jene quasireligiösen ›Heilsbringer‹ unter die Lupe, die nicht als »Emissäre« eines Kollektivs, sondern individuell agieren. In diesem Kontext sind (partiell) Krokowski sowie (zur Gänze) Peeperkorn zu nennen, die eben jene Rolle ausfüllen, die in Thomas Manns früheren Werken der Künstler-Heilige eingenommen hatte. Die spezifisch kunstreligiöse Komponente fehlt nunmehr, wie dies im Zauberberg auch schon beim Propheten der Fall war; doch ist der quasi-religiöse ›Heilige‹ sowohl im Fall Krokowskis als auch Peeperkorns nicht minder einer spaltenden Denkweise verfallen, indem er sich nicht nur als Märtyrer, sondern auch explizit als ›Christus‹ inszeniert, den in Anlehnung an Nietzsche der »Wille zur Macht« kennzeichnet. Dr. Krokowskis psychoanalytische Wissenschaft wird von ihm selbst zur »Quasi-Religion« nobilitiert, in deren Ausübung er nicht nur als einschlägiger Vertreter (»dieser schamlose Beichtvater«; 5.1, S. 148), sondern auch als messianischer ›Heilsbringer‹ und ›Religionsstifter‹ in Personalunion firmiert: Wahrhaftig, er stand da mit ausgebreiteten Armen und schräg geneigtem Kopf hinter seinem Tischchen und sah trotz seines Gehrockes beinahe aus wie der Herr Jesus am Kreuz! Es stellte sich heraus, daß Dr. Krokowski am Schlusse seines Vortrages große Propaganda für die Seelenzergliederung machte und mit offenen Armen alle aufforderte, zu ihm zu kommen. Kommet her zu mir, sagte er mit anderen Worten, die ihr mühselig und beladen seid! […] Alle standen auf, rückten die Stühle und begannen, sich langsam gegen denselben Ausgang zu bewegen, durch den der Doktor den Saal verlassen hatte. Es sah aus, als drängten sie ihm konzentrisch nach, von allen Seiten, zögernd, doch willenlos und in benommener Einhelligkeit, wie das Gewimmel hinter dem Rattenfänger. (5.1, S. 198f.)
Später wird Krokowski in einer kontrafaktischen ›Erscheinung des Herrn‹ seinem potenziellen ›Jünger‹ Hans Castorp das ›Heil‹ der Psychoanalyse zu verstehen geben: Es war am Montag gewesen, daß Dr. Krokowski zum erstenmal im Zimmer erschienen war, – wir sagen »erschienen«, denn das ist das rechte Wort […; d]er Assistent [war] im 23 S. Manns impulsiven Tagebucheintrag, der erneut vom 2. Mai datiert (ebd., S. 223): »Wir sprachen auch von dem Typus des russischen Juden, des Führers der Weltbewegung, dieser sprengstoffhaften Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus und slawischer Christus-Schwärmerei. Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt besitzt, muß mit aller aufbietbaren Energie und standrechtlichen Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen. […] Dachte an die Möglichkeit, die russisch-chiliastisch-kommunistischen Dinge auch in den Zbg. einzubeziehen.«
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Zimmer […], ohne durch die Tür hereingelangt zu sein […], als sei er durch die Lüfte gekommen. [… E]r hatte mit der Fingerspitze leicht Hans Castorps Schulter berührt [.] (Ebd., S. 290f.)
Nach dieser ›Epiphanie‹ entwickelt der ursprüngliche Psychoanalytiker Krokowski sich im weiteren Verlauf der Welt des Textes zusehends zum spiritistisch orientierten Okkultisten, der sich, analog zu Christus, der Auferweckung der Toten, d. h. in seinem Fall der Totenbeschwörung zuwendet. Einen ähnlichen Weg – von der Psychotherapie zur Parapsychologie – war in München Albert von Schrenck-Notzing (1862–1929) gegangen, dessen spiritistischen Sitzungen Thomas Mann im Selbstversuch beigewohnt hatte (vgl. Manns Essay »Okkulte Erlebnisse« von 1923).24 Gemeinsam ist Krokowskis »Quasi-Religionen« die jeweils zugrunde liegende Betonung der Sexualität: Sowohl seine psychoanalytischen Vorträge zur »Liebe« als auch die Beschreibung seiner spiritistischen Experimente (Geburtswehen) zeugen von einer starken sexuellen Betonung,25 der das phallische Leitmotiv des Bleistiftes im Zauberberg entspricht. Ein weiteres variiertes Beispiel für quasi-religiösen Individualismus ist im Zauberberg schließlich auch Peeperkorn, der ähnlich wie Krokowski und der vormalige Künstler-Heilige nunmehr als ›Religionsstifter‹ auftritt. Bei ihm geht es derweil weder um Wissenschafts- noch Kunstreligion, sondern um eine andere Heilskontrafaktur. Gemeint ist die »theologische Theorie« (5.1, S. 913) des Menschen als »Gottes Hochzeitsorgan« (ebd., S. 946), der berauschende Sinnenkult des »Gefühls«, welcher erneut auch und nicht zuletzt sexuell aufgeladen ist. Auch hier wird wieder ein ideologisch trennender »Wille zur Macht« als Selbsttechnologie gezeigt, welcher sich zwar um Toleranz bemüht – Peeperkorn betrachtet jeden Menschen besonders, wie Christus –, der aufgrund der Unerbittlichkeit sich selber gegenüber aber scheitert. Mit seinem Selbstmord zieht Peeperkorn die ins Fanatische gesteigerte Konsequenz aus seinem persönlichen Kontrollverlust: Die Impotenz eines alternden Mannes stellt für ihn die »Sünde« dar, »die nicht vergeben werden kann« (5.1, S. 853). Sie ist für Peeperkorn die ›Sünde wider den Heiligen Geist‹: »das Ende, die höllische Verzweiflung, der Weltuntergang« (ebd., S. 855), weil »unsere religiöse Verpflichtung zum Gefühl« von Peeperkorn in ein sakralisiertes Extrem gesteigert wird, dessen dogmatisches Leistungsethos (!) ihn als neue Heilsprämisse zugrunde richtet (ebd., S. 913). Versagt der Mensch »im Gefühl, so bricht Gottesschande herein« (ebd.). Auch hier handelt es sich mithin um keine Religiosität, welche der Liebe, sondern um eine, die der Angst entspringt – Peeperkorns »Angst vor dem Versagen des 24 Zu Schrenck-Notzing vgl. zumal die Studie von Manfred Dierks: Thomas Manns Geisterbaron: Leben und Werk des Freiherrn Albert von Schrenck-Notzing, Gießen 2012. 25 Vgl. hierzu Marianne Wünsch, »Okkultismus im Kontext von Thomas Manns Zauberberg«, in: Thomas Mann Jahrbuch 24 (2011): 85–103, hier S. 99.
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Gefühls, die ihn die klassischen Hilfs- und Labungsmittel so lieben läßt« (5.1, S. 905). Sogar in der dem »Leben« so emphatisch zugewandten Peeperkorn-Figur hat Thomas Mann sich auf subtile Weise spiegeln können. (Der Umstand, dass Peeperkorn auch Züge Gerhart Hauptmanns sowie Tolstois trägt, trägt gleichfalls dazu bei.) In Peeperkorns individueller »Quasi-Religion« – deren charismatischer »König« er ist: Er repräsentiert eine »Herrschernatur« par excellence, eine »Persönlichkeit« voller »Format« (ebd., S. 850 und S. 869) – verbinden sich Christus- und Dionysos-Assoziationen. Das »Vingt-et-un«-Kartenspiel im Sanatorium wird als Kontrafaktur des Letzten Abendmals und eines Bacchanals geschildert; in Peeperkorn verschmilzt »das Bild des Schmerzensmannes« (ebd., S. 941), dessen Wunden und »Blutflecken« bei ihm zu »Rotweinflecken […] im Laken« werden (ebd., S. 917), mit dem Bild des »Heidenpriester[s]« (ebd., S. 894). Damit aber hat Peeperkorn seine geistigen Wurzeln nicht nur im pantheistisch-spinozistischgoetheschen Verständnis, sondern auch im Weltbild des späten Nietzsche, d. h. in der Lebensphilosophie und der Regenerationsbewegung der Jahrhundertwende. »Jetzt ist die Heilszeit – so lautet sein Lebenszeugnis. Aber die Heilszeit ist leer: sie besteht nur im Genießen auf Kosten des Gestaltens.«26 Auch Peeperkorn schließt als ›Religionsstifter‹ einen quasi-religiösen »Bund«: diesmal nicht zugunsten eines Kollektivs, sondern mit Hans Castorp, doch ist auch dieser Bundesgedanke ichbezogen und von Angst geleitet. »Junger Mann, wir sind Brüder, ich erkläre uns dafür. Sie sprachen von einem Du vollen Sinnes, – auch das unsrige wird vollen Sinn haben, den Sinn der Brüderlichkeit im Gefühl.« Dabei verherrlicht die »Form des Bruderbundes« (5.1, S. 927) nur Peeperkorns »Puschel« (ebd., S. 882): »seine Angst um das Gefühl, ihn sozusagen in Gethsemane im Stich zu lassen…« (ebd., S. 904). In der ›religiösen Frage‹ entzaubert Der Zauberberg alle alten sowie neuen Heilsversprechen, die im Zuge einer modernen Interpretationsgesellschaft offeriert werden. Unabhängig davon, ob diese Heilsversprechen institutionalisiert (wie in der traditionellen Kirche oder in quasi-religiösen Organisationen und ›Geheimgesellschaften‹) oder aber individualisiert (wie einstmals auch bei Thomas Mann) zum Ausdruck kommen: Immer veranschaulicht Der Zauberberg, dass alle vermeintlich gefundenen Alternativen zur tradierten Religion – ebenso wie diese selber – keine unbedingte Zustimmung mehr haben oder haben können. Das sind, auf das Religionsthema bezogen, die »Lehren des Zauberbergs«.27
26 Christoph Schwöbel, Die Religion des Zauberers: Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns, Tübingen 2008, S. 119. 27 Die Wendung stammt ursprünglich von Helmut Koopmann: »Die Lehren des Zauberbergs«, in: Das »Zauberberg«-Symposion 1994 in Davos, hg. von Thomas Sprecher, Frankfurt a. M. 1995, S. 59–80.
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Der Zauberberg ist ein Schwellenroman in Thomas Manns Gesamtwerk, ein Roman im Übergang. Er zieht Bilanz im großen Stil, und wir haben bislang nachgezeichnet, was Mann am Ende seiner Niederschrift alles als ungeeignet für eine tragfähige Zukunft ansieht. Geistige Positionen nehmen den Ton des Sakrosankten an und werden verbal und/oder physisch gewaltsam, ggf. auch autoaggressiv verfochten (siehe Naphta sowie Peeperkorn). Auf diese Weise wird Der Zauberberg – »placet experiri« – auch für Mann selber zum Experiment, das retrospektiv zu mehr Klärung und zu neuen Einsichten verhilft. Nicht nur »[i]n der Raumsemantik des Zauberbergs«, auch in quasi-religiösen Praktiken werden »bestehende Wissensordnungen und deren klassifikatorische Logik fragwürdig und das ›Denken in den tradierten Gegensätzen‹ zur Disposition gestellt.«28 Es gilt, künftig radikalisierte Ansichten jedweder Observanz und »Verwerfungen im Diskurs vom Eigenen und Fremden«29 zu vermeiden und sich stattdessen hin zu einer Mitte zu bewegen, die zugleich Vermittlung ist. Vor diesem Hintergrund tun sich für Thomas Mann zwei Wege auf, von denen allerdings nur einer – ebenfalls experimentell – auch in den Zauberberg eingeht. Dieser erste Weg, der im Roman am Rande eruiert wird, führt entlang mystischer Reminiszenzen. Der zweite Weg, der für den Zauberberg hingegen noch ohne Bedeutung bleibt, orientiert sich an politisch ausgerichteten Humanitätsideen, deren Bekenntnis zur Demokratie von der extremen Ausformung bei Settembrini freilich differieren soll. Der letztgenannte, zweite Weg – als praktische Humanität und Öffnung gegenüber der, in Goethes Worten, »Forderung des Tages« – wird, wiewohl er in den Zauberberg noch keinen Eingang findet, letztendlich der von Mann primär und dauerhaft gewählte Weg sein.
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Mystik; praktische Humanität
Für Thomas Mann war das Wort »Mystik« im Umkreis dessen angesiedelt, was im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in einer unscharfen Sammelbezeichnung als »Okkultismus« zusammengefasst wurde. Dieser war um 1900 zu einer 28 Julian Reidy, Raum und Interieurs in Thomas Manns Erzählwerk: Materielle Kultur zwischen ›Welthäusern‹ und ›Urdingen‹, Berlin/Boston 2018, S. 192. Das Zitat im Zitat bezieht sich hier auf Christian Müllers Studie über die Raumsemantiken im Zauberberg: »Strukturalistische Analyse des narrativen Raumes – erprobt an Thomas Manns Der Zauberberg: Binäre Opposition und ein Drittes«, in: Vom Nutzen und Nachteil der Theorie für die Lektüre: Das Werk Thomas Manns im Lichte neuer Literaturtheorien, hg. von Tim Lörke und dems., Würzburg 2006, S. 49–75. 29 Yahya Elsaghe, »Diskursanalyse«, in: Thomas Mann Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hg. von Andreas Blödorn und Friedhelm Marx, Stuttgart/Weimar 2015, S. 356–360, hier S. 357.
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neuen, modischen ›Leitdifferenz‹ geworden; der Begriff der »Mystik« war somit durchaus schillernd (und potenziell befremdlich) konnotiert.30 In einem sachlicheren Sinn, der über diese Zeitgebundenheit hinausgeht, ist die mystische Vorstellung des Einheitsbewusstseins indessen kompatibel mit dem Mythos, der für Thomas Mann im amerikanischen Exil später so wichtig werden sollte. Sie kann sogar als Ausgangspunkt für praktische Humanität verstanden werden. Bereits das theologische Lehrbuch des Hegel-Schülers Ludwig Noack, das Thomas Mann als Schüler konsultiert hatte, war entsprechenden Grundlagen gefolgt,31 und auch die Lehre Schopenhauers sowie Wagners Gesamtkunstwerkund Mythoskonzeption, welch Letztere in Joseph und seine Brüder (1933–1943) von Mann übernommen werden sollte, zielen auf die »Auflösung des SubjektObjekt-Verhältnisses« durch dessen Transzendierung.32 Mystik und Mythos sind beide hermetisch. Beide verfolgen den Anspruch, auf zeitlose, universelle Wahrheiten zu deuten – die Mystik auf transzendente, metaphysische, der Mythos auf immanente, anthropologische Konstanten. Beide basieren auf symbolhaftem Denken, d. h. einem Denken in Analogieketten, das mit dem Intellekt allein nicht fassbar ist, sondern einer bildlich beschaffenen Logik folgt. Diese Art Logik ist durchaus stringent, doch folgt sie einer anderen Rationalität als wissenschaftlich etablierte Logik, zu der sie sich komplementär verhält. Wie die Mystik, so läuft auch der Mythos Gefahr, instrumentalisiert zu werden; doch war der Mythos für (den späteren) Thomas Mann viel zugänglicher, als es die Mystik jemals werden sollte.33 Das komplexe Religionsthema bei ›Thomas Mann in München‹ ist, wie wir in dieser Darstellung erörtert haben, als Suche nach dem verlorenen Gewahrsein des 30 Vgl. dazu etwa Uwe Spörl, Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn 1997, sowie Priska Pytlik, Okkultismus und Moderne: Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn 2005. 31 S. hierzu das Buddenbrooks-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 21. 32 Das Zitat stammt von Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen [1919], 4. Aufl., Heidelberg 1954, S. 85. Jaspers kritisierte unterdessen, was auch für Thomas Mann ein substanzieller Faktor war: »In der mystischen Einstellung fehlt alles Rationale [.] Es gibt keine logische Form, keinen Gegensatz, keinen Widerspruch.« (Ebd.) Jaspers bevorzugte daher den von ihm später geprägten Begriff des »Umgreifende[n]«: Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1947, S. 109. 33 Vgl. zum Mythos das Standardwerk von Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985. Bezeichnenderweise hat Thomas Mann, als der Mythos durch die Nationalsozialisten korrumpiert wurde, den Mythos keineswegs ›entmythologisieren‹ wollen, sondern vertrat gerade dessen Humanisierung. Auch die theologischen Entmythologisierungsversuche Rudolf Bultmanns (Neues Testament und Mythologie; 1941), die während Thomas Manns Arbeit an Joseph, der Ernährer publiziert wurden und in der Folgezeit eine enorme Wirkung zeitigten, sollten für Mann bedeutungslos bleiben; demgegenüber kam Thomas Mann der Mystik nie so nahe wie später mythischen Zusammenhängen.
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Ganzen, als »leidende Einheitssehnsucht« (2.1, S. 373) im Anschluss an Nietzsches Diagnose »Gott ist tot« verstehbar. Manns späte Affinität zum amerikanischen, ›häretischen‹ Unitarismus und seine Verbundenheit zur faktisch überkonfessionellen Unitarian Church in den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Lebens sollten diese Linie weiterführen: als politisch-soziales Engagement zugunsten der »Einheit des Menschengeistes«, um mit Manns Rezeption der religionsgeschichtlichen Arbeiten von Alfred Jeremias (1932) zu sprechen. Zwar war auch der Unitarismus eine institutionalisierte Religion, doch »mit einem Minimum an religiöser Prätension«, wie Thomas Mann in der Entstehung des Doktor Faustus (1949) nachdrücklich betonte: »Es war die angenehmste kirchliche Erfahrung, die ich gemacht habe.« (19.1, S. 486) Für Thomas Mann bedeutete der Unitarismus eine letzte Konsequenz auch dieser [alten] Auseinandersetzungen, [… eine] entschlossene Abkehr von allen Artisten-Evangelien und aller Todesmetaphysik […, den] Ausdruck eines Willens zur klärenden Vereinfachung und zum Pragmatismus des hier und jetzt Notwendigen, der order of the day.34
Mystik kann daher als mit dem Mythos und der praktischen Humanität vereinbar angesehen werden – einerseits. Andererseits: Da das Wort »Mystik« – siehe oben – leicht als neue Variante quasi-religiöser Prägung missverstanden werden konnte und für Thomas Mann zudem auch immer intellektuell gebrochen blieb, war die Konnotation dieses Wortes für Mann ambivalent: faszinie-
34 Zu Thomas Mann und der Unitarian Church vgl. ausführlich Heinrich Detering, Thomas Manns amerikanische Religion: Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann, Frankfurt a. M. 2012, hier S. 204. Dass ein friedvolles Einheitsbewusstsein – ebenfalls ›im dunklen Drange‹ – letztlich auch das Bestreben Nietzsches war, wird in der Fröhlichen Wissenschaft (1882/1887) fasslich, wenn »Die zukünftige ›Menschlichkeit‹« ähnlich wie im Schneetraum des Zauberbergs imaginiert wird: als sich ihrer natürlichen (nicht unglücklich verzerrten) Göttlichkeit – als Teil des Göttlichen – bewusst. Denn, so Nietzsche im Aphorismus 337: »Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wundervolles Gewächs mit einem eben so wundervollen Geruche werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben [erst] an, die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied um Glied, – wir wissen kaum, was wir thun. […] [In ferner Zukunft jedoch müsste dies alles irgendwann] ein Glück ergeben, das bisher der Mensch noch nicht kannte, – eines Gottes Glück voller Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt und in’s Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses göttliche Gefühl hiesse dann – Menschlichkeit!« – Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, hier Bd. 3, S. 564f.
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rend und mysteriös zugleich, verlockend ebenso wie auch obskur, anziehend und gleichzeitig nicht wirklich zuzuordnen.35 Grundsätzlich lassen sich zwei Hauptrichtungen des »Okkultismus« unterscheiden: der praktische (empirische) und der theoretische (esoterische) Okkultismus.36 Beide sind der Versuchung ausgesetzt, sich als potenzielle weitere, dubiose Geheimideologien zu gerieren, die auf sektiererischen, extremen Denkweisen beruhen, und Thomas Mann war sich dessen wohlbewusst. Zum praktischen Okkultismus gehört der spiritistische Okkultismus, den wir im Hinblick auf Dr. Krokowski bereits nachgezeichnet haben. Er befasst sich mit okkulten Erscheinungen als wissenschaftlichem Forschungsobjekt und geht auf den Mesmerismus und den experimentellen Spiritismus zurück, wie er im Zauberberg durch das Gläserrücken der Sanatoriumsinsassen introduziert wird. Mit diesem empirisch-praktischen Okkultismus war Thomas Mann – siehe oben – durch Albert von Schrenck-Notzings mediumistische Experimente flüchtig selbst bekannt geworden. Der Philosoph Carl du Prel (1839–1899), dessen Buch Die Philosophie der Mystik (1885) nachweislichen Eindruck bei Mann hinterließ,37 war ursprünglich mit Schrenck-Notzing verbunden gewesen. Seit 1886 hatte er der neu gegründeten »Psychologischen Gesellschaft« angehört, innerhalb derer es bald zu Differenzen mit Schrenck-Notzing gekommen war, was 1889 zum Bruch zwischen den beiden führte. Für das Publikationsjahr der Darstellung du Prels – 1885 – ist jedoch auch seine Mitgliedschaft in der »Theosophischen Societät Germania« (»Loge Ger35 Vgl. z. B. folgenden Notizbucheintrag des Jahres 1917/1918, der den tieferen Gehalt des Wortes »Mystik« nicht erfasst: »Sehr oberflächliche Verschüttung des Religiösen, MystischEhrfürchtigen, Anbetenden beim Menschen. Laßt irgend etwas Wunderartiges, eine unbekannte und furchtbare || Natur- oder Himmelserscheinung eintreten, laßt einen Kometen sehr nahe kommen und ungeahnte Erscheinungen zeitigen, laßt irgend etwas Mächtiges, Dröhnendes, Unerhörtes, Zeichenartiges geschehen, und ihr werdet sehen, wie die Menschen, trotz Wissenschaft, Aufklärung, Unglauben, in mystischem Schrecken vor dem Dämonischen auf die Kniee fallen /wird/ . Die Emanzipation, der Vernunftstolz ist sehr schwach, viel hinfälliger, als man ahnt. Der ›Wilde‹, das vernunftschwache || Kind im Menschen nur dünn zugedeckt. Schauer, Aberglauben, [Eh] [,] religiöse Furcht ist nicht tierisch, sondern ›menschlich‹ im bescheidenen und stolzen Sinn.« (NB 2, S. 317) 36 Eberhard Bauer und Bernhard Wenisch, »Okkultismus«, in: Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, hg. von Hans Gasper, Joachim Müller und Friederike Valentin, 6. Aufl., Freiburg i. Br. 2000, S. 768–775, hier S. 769. 37 S. Manns Tagebucheintrag vom 28. April 1919, geschrieben inmitten des Chaos der Münchner Räterepublik: »Las nach dem Abendessen in Du Prels ›Philosophie der Mystik‹; auf Grund der schopenhauerisch-kantischen Ideen über die transcendentale und sinnliche, intelligible und empirische Natur des Menschen neue Aufregung zur Behauptung eines ethischen Individualismus gegen die Tugendpachtung der Aktivisten und eudämonistischen Revolutionäre.« – Thomas Mann, Tagebücher 1918–1955 (Anm. 12), Bd. 1, S. 215. Mann konsultierte du Prels Darstellung in der zweiten Auflage des Jahres 1910.
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mania«) belegt, die ihrerseits Vorläufer der »Deutschen Theosophischen Gesellschaft« und somit der »Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft« unter Rudolf Steiner war.38 Was Carl du Prel und Rudolf Steiner verbindet, ist die mystische Nähe zur Theosophie (die bei Steiner später, nach dem Bruch mit der »Theosophischen Gesellschaft«, zur »Anthroposophie« wurde). Die Philosophie der Mystik ist der Versuch, ›geheimnisvolle‹ Phänomene der mystischen Überlieferung zu überbringen und den reinen »Materialismus« auf diese Weise zu relativieren.39 Damit beanspruchte du Prels Philosophie der Mystik einen Brückenschlag zwischen Empirie und Esoterik, was Thomas Mann entgegenkam und imponierte. Du Prels Ausführungen zum Phänomen der Zeit finden im Zauberberg ihre Entsprechung (so v. a. das »transcendentale Zeitmass« betreffend, wie ein Unterkapitel in Die Philosophie der Mystik betitelt ist; dem korrespondiert zumal Hans Castorps Zeitempfinden während seines Schneetraums, der für ihn eine kurzzeitige Offenbarung darstellt). Bei du Prel lesen wir zum Wahrträumen, zur Zeit und zur Zeitlosigkeit: Und wenn etwa innerhalb eines minimalen Zeitteilchens eine so lange Reihe von Vorstellungen in uns abläuft, dass hierzu im normalen Zustande Stunden nötig wären, so folgt daraus unwiderleglich, dass diese Art von Bewusstsein unabhängig ist von dem materiellen Nervenapparate.40
Zeit als eine relative Größe, daher – letztlich – Zeit als eine Illusion: Diese mystische Betrachtungsweise konvergiert mit der Relativitätstheorie Albert Einsteins, dessen bahnbrechenden Entdeckungen Thomas Mann nicht folgen konnte. Gleichwohl faszinierte ihn, dass Einstein in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen Physik und Metaphysik ganz offenbar in Einklang brachte.41 38 Vgl. hierzu Norbert Klatt, Theosophie und Anthroposophie: Neue Aspekte zu ihrer Geschichte aus dem Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846–1916) mit einer Auswahl von 81 Briefen, Göttingen 1993. 39 Luca Crescenzi hat es unternommen, den Zauberberg erstmals mit du Prels Philosophie der Mystik zu lesen; Die Philosophie der Mystik wird hier jedoch missverstanden. So erblickt Crescenzi einschlägige Spuren nicht etwa in Hans Castorps Schneetraum, sondern im »Walpurgisnacht«-Gespräch: Luca Crescenzi, »Traummystik und Romantik: Eine Vision im Zauberberg«, in: Thomas Mann Jahrbuch 24 (2011): 105–118. Die Unterredung mit Madame Chauchat sei demnach nur eine »somnambule Träumerei« (S. 113), inspiriert durch du Prel, so wie Madame Chauchat und die Romanhandlung insgesamt nur einen Traum Hans Castorps vorstellten. Dem steht entgegen, dass du Prels Philosophie der Mystik ausdrücklich das Wahrträumen behandelt. 40 Carl Freiherr du Prel, Die Philosophie der Mystik, Leipzig 1885, S. 75. 41 Vgl. hierzu »Okkulte Erlebnisse« (1923): »Die Tatsache, daß ich von der Lehre des berühmten Herrn Einstein sehr wenig weiß und verstehe […], hindert mich sowenig wie jeden anderen intelligenten Laien, zu bemerken, daß in dieser Lehre die Grenze zwischen mathematischer Physik und Metaphysik fließend geworden ist. Ist es noch ›Physik‹, oder was ist es eigentlich, wenn man sagt (und man sagt heute so!), die Materie sei zuletzt und zuinnerst nicht materiell,
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Du Prels Philosophie der Mystik ist der »Versuch, ein philosophisches Lehrgebäude auf der empirischen Basis des Schlaflebens zu errichten«.42 »Unsere Stellung im Weltall« (so der Titel eines weiteren Unterkapitels in der Darstellung du Prels) lässt bereits an Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) denken, die für die Josephsromane (1933–1943) später bedeutsam werden sollte.43 Die mystische Vorstellung indessen, dass Zeit – wie Raum – auch außerhalb des visionären Schlafzustandes eine nur relative Qualität habe, hat Thomas Mann im Zauberberg zwar aufgegriffen, in letzter Konsequenz jedoch trotz allem missverstanden.44 Darauf, dass wir – so du Prel – »mehr« seien, »als wovon unser Selbstbewusstsein uns Kunde gibt«,45 deutet die Konzeption des »homo Dei« im Roman. Hans Castorps Schneetraum amalgamiert diverse Einflüsse philosophischer und künstlerischer Provenienz: Schillers Ästhetik des Schönen, Goethes Pädagogische Provinz der Wanderjahre (1821), Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), Mahlers Lied von der Erde (uraufgeführt posthum 1911), Werke des bildenden Künstlers Ludwig von Hofmann (1861–1945). Allerdings verwendet der Schneetraum des Zauberbergs auch explizit mystische Elemente. Denn es handelt sich hier um eine im Schlaf erlebte ›Ausleibigkeitserfahrung‹, bei der die Seele sich durch übernatürliches Wirken in andere Räume versetzt sieht. Während der V.[ision] erfolgt im Unterschied
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sie sei nur eine Erscheinungsform der Energie, und ihre ›kleinsten‹ Teile, die aber bereits weder klein noch groß sind, seien zwar von zeiträumlichen Kraftfeldern umgeben, aber sie selbst seien zeit- und raumlos?« (15.1, S. 615) Carl Freiherr du Prel, Die Philosophie der Mystik (Anm. 40), S. VI: Vorrede. Vgl. dazu auch das Betrachtungen-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 3. Zu Max Scheler s. auch die Studie von Willy R. Berger: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder«, Köln/Wien 1971. Die partielle Identität von menschlichem und göttlichem Geist, die stete Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch in der »rollenden Sphäre« und den mit Hilfe des Menschen ›werdenden‹ Gott führt Berger dort nicht auf Feuerbachs Projektionstheorie zurück, sondern auf den Einfluss Max Schelers. Der Mensch als Gottes Mitbildner, Mitstifter und Mitvollzieher: Thomas Manns synergetisches Religionsverständnis wird hier in Beziehung zur Stellung des Menschen im Kosmos gesetzt – ein Ausdruck, den Mann als Reminiszenz an Schelers philosophische Anthropologie und als Scheler-Reverenz in seinem »Fragment über das Religiöse« (1931) denn auch explizit verwendet (XI, S. 424). So im Begriff des »stehenden Jetzt« (5.1, S. 280), den Mann von Schopenhauer übernommen hatte. Denn »in Ansehung des Zeitgeheimnisses« (ebd., S. 279) bedeutet das »nunc stans«, mit dem Albertus Magnus und Thomas von Aquin die Ewigkeit bezeichnet hatten, ursprünglich gerade keine »Ewigkeitssuppe« im Sinne von endlos vergehender Zeit, sondern im Gegenteil eine vollständige Aufhebung der Zeit. Mystisch verstanden, verweist die Ewigkeit gerade nicht auf »Einerleiheit«, in der man »dir die Mittagssuppe« bringt, »wie man sie dir gestern brachte und sie dir morgen bringen wird« (ebd., S. 280); sie ist vielmehr durch eine völlige Außerkraftsetzung der Zeit gekennzeichnet, da Zeit im höchsten Sinn nicht existiert. Carl Freiherr du Prel, Die Philosophie der Mystik (Anm. 40), S. III: Vorrede.
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zur Erscheinung keine gleichzeitige Wahrnehmung durch die körperlichen Sinne. Dominierend sind [stattdessen] das visuelle und akustische Erleben des Sehers sowie seine Gefühlsreaktion darauf.46
Im Grunde seien »Tod und Leben nur aesthetisch ein Gegensatz. Religiös sind sie Eins – dasselbe Mysterium.« So Thomas Mann bereits am 30. Dezember 1914 in einem Brief an Kurt Martens (22, S. 53), und demgemäß »erinnerte« Hans Castorp sich in seiner Traumvision daran (5.1, S. 740): Die große Seele, von der du nur ein Teilchen, träumt wohl mal durch dich, auf deine Art, von Dingen, die sie heimlich immer träumt – von ihrer Jugend, ihrer Hoffnung, ihrem Glück und Frieden … und von ihrem Blutmahl. […] Wer aber den Körper, das Leben erkennt, erkennt den Tod. Nur ist das nicht das Ganze, – ein Anfang vielmehr lediglich, wenn man es pädagogisch nimmt. […] Tod oder Leben – Krankheit, Gesundheit – Geist und Natur. Sind das wohl Widersprüche? Ich frage: Sind das Fragen? Nein, es sind keine Fragen, und auch die Frage nach ihrer Vornehmheit ist keine. Die Durchgängerei des Todes ist im Leben, es wäre nicht Leben ohne sie, und in der Mitte ist des homo Dei Stand. […] In diesem Stande soll er […] freundlich ehrerbietig mit sich selber verkehren, – denn er allein ist vornehm, und nicht die Gegensätze. (5.1, S. 746f.)
So ist Hans Castorp, das »Sorgenkind des Lebens«, in Wirklichkeit der Mensch an sich – als »homo Dei«, der eine Individuation des Göttlichen darstellt und von demselben, aller Irrungen und Wirrungen zum Trotz, nicht separiert sein kann. Der Mensch Gottes wird hier als Bestandteil Gottes dargestellt: als »Teilchen« der Letzen Wirklichkeit – und das Leben als flüchtiger Traum. In der tödlichen Grenzerfahrung vermag Hans Castorp, wenn auch kurzzeitig, sich an inwendig verborgenes Wissen zu »erinnern«: Der Schneetraum befindet sich konzeptionell »in der Mitte«, wo auch »des homo Dei Stand« ist – zwischen Mundus intelligibilis (Settembrini und Naphta) und Mundus sensibilis (Peeperkorn), so wie er auch zwischen Tod und Leben angesiedelt ist, deren vermeintliche Gegensätze an dieser Stelle aufgehoben werden. Auch die Zeit scheint aufgehoben, da – siehe du Prel – tatsächlich in der Welt des Textes nur sehr wenig Zeit vergeht, die Hans Castorp allerdings sehr lange vorkommt. Augenblicke kamen, wo dir […] ahnungsvoll und regierungsweise ein Traum von Liebe erwuchs. Wird auch aus diesem Weltfest des Todes [dem Ersten Weltkrieg], auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen? (5.1, S. 1085)
So endigt Der Zauberberg, und die Anspielung auf Wagners mythisches Finale der Götterdämmerung (uraufgeführt 1876) verweist auf eine weitere im Kern
46 Peter Dinzelbacher, »Vision«, in: Wörterbuch der Mystik, hg. von dems., Stuttgart 1989, S. 514f., hier S. 514.
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mystische Vorstellung: diejenige des Endes, das zugleich – auf einer Metaebene – ein Neubeginn, ein Anfang ist: »Stirb und Werde«, Transformation. Die intuitive Einsicht, dass die Erlangung und Verfestigung des Friedens nur auf dessen zuvor erlebtem Gegenteil beruhen kann, illustriert Hans Castorps Schneetraum. So, wie die im Zauberberg dominante Farbe Blau für die Totalität des Menschen steht, welche die »dunkle Tiefe« ebenso wie auch die »lichte Höhe« in sich birgt,47 so gründet sich auch das »blaue Sonnenglück« (5.1, S. 740) einer gereiften Zivilisation auf der vorausgegangenen, erschütternden Erfahrung abgrundtiefer Barbarei.48 Die Erfahrung des Tiefpunktes ermöglicht weise Einsichten: Ernst blickt der schöne Knabe in Hans Castorps Schneetraum-Vision »rückwärts« (5.1, S. 744) zu dem rituellen Menschenopfer, das einer zurückliegenden, inzwischen überwundenen und abgelebten Ära angehört. Mir träumte vom Stande des Menschen und seiner höflich-verständigen und ehrerbietigen Gemeinschaft, hinter der im Tempel das Blutbad sich abspielt. Waren sie so höflich und reizend zueinander, die Sonnenleute, im stillen Hinblick auf eben dies Gräßliche? Das wäre eine feine und recht galante Folgerung, die sie da zögen! Ich will es mit ihnen halten in meiner Seele und nicht mit Naphta – übrigens auch nicht mit Settembrini, sie sind beide Schwätzer. Der eine ist wollüstig und boshaft, und der andere bläst immer nur auf dem Vernunfthörnchen […]. Es ist Philisterei und bloße Ethik, irreligiös, so viel ist ausgemacht. (5.1, S. 747)
Eine solche »Folgerung« ist das umfassende Anliegen des Zauberbergs mit seinen »alchimistisch gesteigerte[n] Gedanken« (5.1, S. 990). Tatsächlich verweist im Zauberberg viel auf die Alchemie als mystischen Prozess der Umwandlung, wobei hier zumal die Zahlensymbolik (die Kumulation der Zahl Sieben) sowie der Konnex von Hermes/Mercurius und der Einfluss des Faust-Stoffes bedeutsam sind. Es gibt »7 Stufen, die die Wandlung im alchimistischen Prozeß« versinnbildlichen;49 dem korrespondieren die einstmals sieben bekannten Planeten, die sieben Metalle und sieben Töne der diatonischen Skala.50 Die Zahl Sieben gilt als 47 Manfred Lurker, »Blau«, in: Wörterbuch der Symbolik, hg. von dems., 4. Aufl., Stuttgart 1988, S. 98f., hier S. 98. 48 Die Farbe Blau ist im Zauberberg sowohl die visionäre Traumfarbe (s. bereits Novalisʾ Blaue Blume) als auch mit großer Angst besetzt: s. Peeperkorns Hände, die »schwärzlichblau« anlaufen (5.1, S. 944). In den frühen Werken Thomas Manns waren blau schimmernde Adern eines der häufigsten Dekadenzzeichen gewesen. Es ist erst hier, im Zauberberg, dass die Ganzheit des Lebens in der Farbe Blau gespiegelt wird: als Antagonismen überwindend, als ›Gutes‹ ebenso wie ›Böses‹, das in der dualistischen Erfahrungswelt zusammengehört. 49 Christiane Pritzlaff, Zahlensymbolik bei Thomas Mann, Hamburg 1972, S. 41. 50 Herbert Silberer, Probleme der Mystik und ihrer Symbolik, Wien/Leipzig 1914, S. 229f. Silberers Darstellung, dessen Lektüre bei Thomas Mann nicht nachweisbar ist, sollte später wegweisend für C. G. Jungs Psychologie und Alchemie (1944) werden.
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heilige Zahl, da hier – analog zur Farbe Blau – die Totalität zum Ausdruck kommt. In der biblischen Apokalypse weist die Zahl Sieben »auf das Göttliche wie auf das Infernalische; Augustinus spricht von der Zahl der Sünde ([sieben] Todsünden)« ebenso wie »der Erlösung (7 Sakramente).«51 Die Zahl Sieben durchzieht den Zauberberg in kompositorischer Leitmotivik: Inhaltlich zeigt sie sich bereits andeutungsweise am Namen Settembrinis (»Satana« und quasi-religiöser ›Heilsbringer‹), sodann an der Quersumme von Hans Castorps Zimmernummer, an der Zimmernummer Madame Chauchats, an den sieben Minuten des rituellen Fiebermessens und den sieben Tischen im Speisesaal, wobei das Abendessen stets um sieben Uhr stattfindet; auch die sonntägliche Kurmusik auf der Terrasse, die den traditionellen Gottesdienst ersetzt, dauert »sieben Minuten« (5.1, S. 175). Formal dominiert gleichfalls die Zahl Sieben: Der Roman besteht aus sieben Kapiteln, wobei das fünfte Kapitel die ersten sieben Monate im Sanatorium, das sechste Kapitel die ersten sieben mal vier (d. h. 28) Monate und das letzte Kapitel die insgesamt sieben Jahre der erzählten Zeit beschreibt. »[D]iesem hermetischen Zauber […], worin alle alchymistischen Abenteuer dieses schlichten Stoffes sich abgespielt« haben (5.1, S. 1074), erliegt Hans Castorp, bis »der Donnerschlag […] den Zauberberg sprengt und den Siebenschläfer unsanft vor seine Tore setzt« (ebd., S. 1075). Der römische Gott Merkur, der traditionell mit dem Quecksilber verknüpft wird – vgl. die »Launen des Merkur« im Roman –, entspricht dem griechischen Gott Hermes, der als Stammvater der Alchemie nach mystischem Verständnis seinerseits wiederum mit dem ägyptischen Gott Thot übereinstimmt.52 Das lässt aufhorchen insofern, als auch hier grundlegende Aspekte der Josephsromane antizipiert werden; gleiches gilt für die mystisch-alchemistische Entsprechung von Oben und Unten, von Außen und Innen, die wir im Zauberberg vorfinden. Das Verschmelzen von Luft und Wasser, das Verwischtsein von oben und unten deutet etwa an, daß bei den »Müttern« (wie Mephistopheles schildert) alle Zeiten und alle Orte miteinander verschmelzen [Zeit und Raum als Illusion], daß es dort keine Grenzen zwischen einem »hier« und einem »dort«, einem »oben« und einem »unten« gibt, und daß daher Mephistopheles zu dem reisefertigen Faust sagen kann: »Versinke denn! – Ich könnt’ auch sagen: steige!«53
Mystik – in diesem weiter gefassten Sinne – kann als »Vorgefühl einer neuen Humanität« verstanden werden (15.1, S. 1002: »Vom Geist der Medizin«; 1925). Gleichwohl ist es wesentlich, an dieser Stelle nochmals festzuhalten, dass Thomas Mann sich zeit seines Lebens nie eingehend mit mystischem Gedankengut befasst hat. Seine Beschäftigung mit einschlägigen Bruchstücken nahm zwar mit stei51 Manfred Lurker, »Sieben«, in: Wörterbuch der Symbolik (Anm. 47), S. 660. 52 Herbert Silberer, Probleme der Mystik und ihrer Symbolik (Anm. 50), S. 74. 53 Ebd., S. 95.
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gendem Alter stetig zu, doch vollzog sie sich auch später immer noch weithin auf der intellektuellen, nicht auf der Erlebnisebene. Diese wäre, mystisch gesehen, jedoch von Bedeutung, um nach dem anfänglichen Stadium der »Reinigung« zur nächsthöheren Stufe der »Erleuchtung« und schließlich zum höchsten Einheitsbewusstsein, der »Einung« (Unio mystica) überzugehen.54 Eine »definitive Umwandlung der Psyche« – als grundsätzlicher Ebenenwechsel – bleibt ein Intensitätsgrad des »mystische[n] Vorgang[es]«, den weder Hans Castorp als Folge seines Schneetraumes noch Thomas Mann erfahren. Doch haben wir bis hierhin nachverfolgen können, wie der Kataklysmus des Ersten Weltkrieges bei Mann auch hinsichtlich der Mystik zu ersten Lockerungen führte.55 Im Vergleich zu der leicht missverständlichen Metaphysik der Mystik, die für Mann tatsächlich ein schwer zugängliches ›Buch mit sieben Siegeln‹ bleiben sollte, ist die demokratische Wende für Mann ein rationaler Weg, sich in der Folge mit der ›religiösen Frage‹ zu beschäftigen. Auch dies ist ein Pfad, der Vergangenes zu überwinden sucht. Indessen: Dieser Weg erscheint geerdeter, handfester und alltagstauglicher. Es ist der Weg, den auch Thomas Manns Joseph gehen wird, wenn auch aus anderen Gründen als sein Autor. Joseph hat bereits gefunden, was im Œuvre Thomas Manns bis ganz zuletzt gesucht wird; er hat die Sinnfrage für sich beantwortet. Doch muss er in Joseph und seine Brüder seine Wahrheit auch verantwortungsvoll ins Leben integrieren. Um Mittler zu sein, d. h. um sein Wissen anschaulich, verständlich vorleben zu können, ist es unabdingbar, dass Joseph sich in der Mitte zwischen abstrakter Religiosität und konkreter Sozialverantwortung positioniert und zwischen beidem ein Gleichgewicht hält. Das ist Josephs äquilibristische »Gottesklugheit« in der Erfüllung seiner »Mondfunktion«: Er muss von seinem Doppelsegen sinnvollen Gebrauch machen, um zum Wohle aller, sich selbst eingeschlossen, auch segensreich zu wirken. Die gesellschaftliche Pionierarbeit, die praktische Verbesserung der Welt aufgrund höheren Wissens ist Josephs Lebensaufgabe und Bestimmung: Himmel und Erde, Religion und Politik werden von ihm konstruktiv miteinander verbunden und in der Balance gehalten. Für Thomas Mann jedoch bedeutet praktische Humanität nicht etwa die Zielsetzung, sondern das Mittel in der weiteren Verhandlung des religiösen 54 Michael Figura, »Unio mystica«, in: Wörterbuch der Mystik (Anm. 46), S. 593–506, hier S. 503. 55 Herbert Silberer, Probleme der Mystik und ihrer Symbolik (Anm. 50), S. 231. Vgl. hierzu auch Christiane Pritzlaff, Zahlensymbolik bei Thomas Mann (Anm. 49), S. XVI, dort Anm. 53: »So weit ging allerdings Thomas Manns Auseinandersetzung mit der Alchimie bei weitem nicht, wie mir Katja Mann versicherte. In der Thomas-Mann-Bibliothek, die mir zugänglich war, befand sich nur ein Buch über Alchimie. Es enthält keine Anstreichungen Thomas Manns und ist nach dem Zauberberg, nämlich 1937, erschienen. Es heißt: Die Macht des Charlatans von Grete de Francesco. Basel 1937.«
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Themas. Dasselbe gilt für den Humor, der ab den Josephsromanen in Manns Werken zunehmend manifest wird: »Der Humor eröffnet« Mann »die Möglichkeit, sich« entkrampfter »über Fragen zu äußern, über die man gewöhnlich schweigt«.56 Die ›religiöse Frage‹ wird derart für Thomas Mann zwar nicht beantwortet, die Suche danach allerdings – in Relation gesehen – (noch) gelockerter, gelöster sein, was auch die narrative Technik spiegeln wird. (Vgl. etwa die im Zauberberg so noch nicht denkbare ›Achronie‹ des »Thamar«-Hauptstücks in Joseph, der Ernährer [1943] unter Rekurs auf Laurence Sterne und Tristram Shandy [1759–1767].57) Das vorliegende Kapitel begann mit einem Zitat aus Thomas Manns »Naturrecht und Humanität« des Jahres 1923. Der Ausdruck »Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik« stammt ursprünglich von Ernst Troeltsch (1865– 1923). Es ist der Titel eines Festvortrages, den Troeltsch bei der zweiten Jahresfeier der Deutschen Hochschule für Politik 1922 in Berlin gehalten hatte. Bis dato war Thomas Mann nur oberflächlich mit dem Werk des protestantischen Theologen Troeltsch bekannt geworden – insofern, als dessen Kulturkonservatismus für ihn während des Ersten Weltkriegs relevant gewesen war. Mit Troeltschs Konservatismus hatte Mann damals sympathisiert.58 Anders als etwa bei Hans Pfitzner und ganz ähnlich wie bei Thomas Mann führte der Erste Weltkrieg bei Troeltsch jedoch zu einem Prozess des Umdenkens, der schließlich in ein Bekenntnis zur Demokratie mündete. Von einem solchen zeugen, was Thomas Mann betrifft, zumal »Von deutscher Republik« (1922) sowie »Deutschland und die Demokratie« (1925) – und, im Hinblick auf Ernst Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik. In diesem Festvortrag, den Mann genau studiert hat und durch den er sich bestätigt fühlte, wirbt Troeltsch für eine Annäherung von deutscher Seite an westliches Denken und für die Verständigung mit diesem, indem er das »Ideal einer zukünftigen Kultursynthese« entwirft:59 56 Ulrich Karthaus, Poetische Theologie: Überlegungen zu Thomas Mann, Frankfurt a. M. 2017, S. 150. Zwanglos angeordnet, verfolgt Karthausʾ Studie Manns literarische Auseinandersetzung mit der Religion als einer »kirchlich orientierten Deutung der Bibel« (ebd., S. 90). 57 S. dazu Yvonne Nilges, »›Humor und Größe haben viel miteinander zu tun‹: Thomas Mann und Laurence Sterne«, in: Thomas Mann Jahrbuch 24 (2011): 143–154, hier S. 150: »Im ›Thamar‹-Hauptstück finden wir wie auch bei Sterne […] eine zum Prinzip erhobene Übergehung alles chronologischen Geschehens. Im neunten Teil des Shandy etwa folgt das 18. auf das 25. Kapitel; ähnlich das Hauptstück über ›Thamar‹, das seinen präzisen Platz am Ende von Der junge Joseph gehabt hätte, nun aber anderthalb Bände und rund 900 Seiten später in Joseph, der Ernährer steht – ›weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist‹.« Das humoristische Desinteresse an der linearen Zeitabfolge wird im »Thamar«-Hauptstück freilich nur mehr ansatzweise – als tentative ›Achronie‹ – realisiert; es handelt sich, streng aufgefasst, noch immer um eine (als Achronie getarnte) Analepse. 58 Vgl. dazu das Betrachtungen-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 3. 59 Ernst Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, Berlin 1923, S. 20.
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Ob eine solche Selbstbestimmung und Selbstkritik einen Einfluß auf die weltpolitische Situation haben kann, ist eine Frage für sich. Hier herrscht vorerst noch der Streit und die absichtliche Schürung des Gegensatzes [!]. Es handelt sich vielmehr um eine Aufgabe, die rein von uns und unserer sachlichen Verpflichtung zur Selbstbesinnung ausgeht, wie sie die Ungeheuerlichkeit der Schicksale und die damit verbundene geistige Krisis uns auferlegt. Hier handelt es sich vorerst nicht mehr um Propaganda und Apologetik nach außen, sondern um Ordnung und Klarheit im eigenen Hause.60
Zu dieser einstweiligen »Ordnung und Klarheit im eigenen Hause« gelangt Thomas Mann noch nicht im Zauberberg, wohl aber mit Hilfe des Zauberbergs und durch den Zauberberg. Es ist dies eine – in politischer wie auch in religiöser Hinsicht – Lockerung alter, habitueller Denk- und Glaubensmuster, von der ausgehend sich die Entwicklung seines weiteren Schaffens eröffnet. Auch Troeltsch lehnt Ideologien und Extreme ab, die stets nur »Skylla und Charybdis« seien und »zwischen denen wir durch müssen. Wir müssen das offene Meer eines neuen unbefangenen und weitsichtigen Denkens über diese Dinge gewinnen.«61 Damit positionierte Troeltsch als abtrünniger Adept des Kulturkonservatismus sich ganz im Sinne Thomas Manns. Realisierbar, so Troeltsch, sei die vernünftige »Kultursynthese« aber nur durch die Arbeit von Generationen und durch die Bildung eines […] sich einigenden Gemeingeistes der führenden Köpfe. [Die Kultursynthese …] mutet uns keine grundsätzliche Umkehr und keine Verleugnung unserer geistigen Eigenart zu, sondern nur die Wiederbelebung verlorengegangener Ideen und die Auswirkung und Anpassung unseres Stammgedankens an die heute gewaltig veränderten Weltverhältnisse. Noch fehlt die geistige Einigkeit über [die …] Voraussetzungen. Ein Buch wie das in der Hauptsache von Nietzsche herkommende Spenglersche Untergangsbuch [1918/1922] und sein kolossaler Eindruck sprechen geradezu für das Gegenteil, für die schärfste Formulierung aller skeptischen, amoralistischen, pessimistischen, gewaltpolitischen und zynischen Folgerungen des romantischen Aesthetizismus und Individualitätsgedankens. Es folgert daraus auch ganz konsequent den Untergang. […] Es ist wie eine äußerste Bestätigung der Westeuropäer und streicht in dem unbesiegbaren Konflikt darum einfach die Flagge des Lebens. Wer leben will – und unser Volk will leben –, wird gerade diesen Weg nicht gehen dürfen, sondern die deutschen Traditionen, statt sie extrem zu vereinseitigen und dabei ihr relativ Bestes, die strenge fachmäßige Exaktheit, aufzugeben, in neue Berührung mit den großen Weltbewegungen bringen müssen.62
Das hat Thomas Mann nachhaltig geprägt. Hatte er sich früher bereits mit Troeltschs politischem Konservatismus identifiziert, so nun mit dessen Einsicht in Notwendiges: Lockerung, Öffnung und Abkehr von der Selbstzentriertheit,
60 Ebd., S. 18f. 61 Ebd., S. 24. 62 Ebd., S. 22f. Vgl. hierzu auch das Betrachtungen-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 2.
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ohne allerdings ins andere Extrem, die völlige Entäußerung der »deutschen Traditionen«, umzuschlagen. In seinem Zeitungsartikel »Naturrecht und Humanität«, der 1923 kurz nach Troeltschs Tod erschien, würdigt Mann Troeltschs Mut und Zielsicherheit, die hier von einem gelehrten Denker mit stärkender Bestimmtheit ausgesprochen wurde […;] das war, gefühlsweise, als dunkle Gewissensregung, seit Jahr und Tag in manchem Deutschen lebendig gewesen – in solchen vielleicht sogar, die im Zauberberge des romantischen Aesthetizismus recht lange und gründlich geweilt – und hatte zu Bekenntnissen geführt, die von einer Zukunftslosigkeit, die sich treu dünkt, als Zeugnis des Ueberläufertums und der Gesinnungslumperei übel begrüßt worden waren. (15.1, S. 724)63
»Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken« (5.1, S. 748): Dies erfordert schmerzhafte Weiterentwicklung und die Bereitschaft, über sich selbst hinauszuwachsen. Im Zuge des Zauberbergs entwickelt Thomas Mann eine neue, noch weiter gelockerte Angleichung ans Numinose, die mit seiner demokratischen Wende und dem Begriff zweckmäßiger »Humanität« untrennbar verbunden ist. Deren Erfordernis der Mitte und Vermittlung als eine zu kultivierende Äquilibristik wird vorweggenommen in einer neuen »Selbstverständlichkeit des Gebens und Nehmens« (ebd., S. 899), die für Manns Joseph später so zentral sein wird.
II. Während die ›religiöse Frage‹ somit einen Prozess der Lockerung durchläuft, ist die narrative Technik Thomas Manns im Zauberberg vielmehr durch Festigung gekennzeichnet. Die erzähltechnischen Steigerungen aus Manns Frühwerk entfalten und konsolidieren sich; dem wollen wir im Folgenden ausführlich nachgehen. 63 Eine länger währende Beschäftigung mit Troeltsch, auch mit dessen Theologie, ist bei Thomas Mann derweil nicht auszumachen. Troeltschs theologische Außenseiterrolle, die ausgehend von kulturgeschichtlichen Studien zur Rolle des Christentums in der Moderne eine religiöse Deutung der Wirklichkeit anstrebte, ohne dabei binnentheologische Apologetik zu betreiben, hätte Thomas Mann jedoch willkommen sein können: Die persönliche, auch eklektische Gottsuche durch alle Skepsis, Zweifel und (Gewissens-)Nöte hindurch wird bei Troeltsch geradezu existenziell. In Troeltschs Beschreibung des sogenannten »Neuprotestantismus« dokumentiert sich jener religiöse Individualismus, der Manns eigene Suche nach einem modernen Gottesbild bestimmt: Moderne Religiosität, so Troeltsch, sei eine »Religion des Gott-Suchens im eigenen Fühlen, Erleben, Denken und Wollen«. – Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, 20 Bde., hg. von Volker Drehsen, Friedrich Wilhelm Graf, Gangolf Hübinger, Trutz Rendtorff [u. a.], Berlin/New York 1998ff., hier Bd. 8, S. 310 (Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt; 1906).
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»Zeit und Erzählung« gewinnen im Zauberberg, anders als in den bisherigen Werken Thomas Manns, eine fundamentale Bedeutung für die Narration.64 In der »Einführung in den Zauberberg« (1939) bezeichnet Mann seinen zweiten großen Roman als »Zeitroman in doppeltem Sinn«: einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist, den er nicht nur als die Erfahrung seines Helden, sondern auch in und durch sich selbst behandelt. (XI, S. 611f.)
Tatsächlich kommt der narrativen Behandlung der Zeit (nach der Erzähltheorie Genettes) im Zauberberg eine noch zentralere Bedeutung zu als dem ›Modus der unendlichen Melodie‹ und der ›Stimme der unendlichen Melodie‹, die Thomas Mann in seinem fiktionalen Erzählen nach und nach in Anlehnung an Wagner eingeführt hatte. Und auch hier, im Hinblick auf die Zeit, ist es die musikalische Technik Richard Wagners, an der Manns eigene Erzähltechnik sich ausrichtet – als ›Zeit der unendlichen Melodie‹. Die ausgeprägte Flexibilität der Zeitgestaltung, die den Zauberberg bestimmt und die für Thomas Mann ein Novum darstellt, markiert zugleich auch die existenzielle narrative Komponente, die für eine virtuose Leitmotivik à la Wagner bislang noch gefehlt hatte: Indem der ›Modus der unendlichen Melodie‹, die ›Stimme der unendlichen Melodie‹ und die ›Zeit der unendlichen Melodie‹ eine großangelegte Wechselwirkung eingehen, schafft das mikrokosmische ›Wie‹ des Erzählens nun alle Voraussetzungen, um mit dem makrokosmischen ›Was‹ des Erzählens ein wirklich ausgereiftes leitmotivisches Beziehungsnetz zu bilden. In der komplexen Leitmotivik, zu welcher Der Zauberberg gelangt, fließen das Erzählen und das Erzählte reziprok vielfältig ineinander. Bereits im Frühwerk-Kapitel dieser Darstellung hatten wir das folgende Zitat verwandt: Man hat wohl gelegentlich – ich selbst habe das getan – auf den Einfluß hingewiesen, den die Kunst Richard Wagners auf meine Produktion ausgeübt hat. Ich verleugne diesen Einfluß gewiß nicht, und besonders folgte ich Wagner auch in der Benützung des Leitmotives, [….] und zwar nicht, wie es noch bei Tolstoi und Zola, auch noch in meinem eigenen Jugendroman Budenbrooks der Fall ist, auf eine bloß naturalistischcharakterisierende, sozusagen mechanische Weise, sondern in der symbolischen Art der Musik. Hierin versuchte ich mich zunächst im »Tonio Kröger«. Die Technik, die ich dort übte, ist im Zauberberg in einem viel weiteren Rahmen auf die komplizierteste und 64 Das Zitat bezieht sich auf den Titel von Paul Ricœurs Darstellung Zeit und Erzählung [Temps et récit; 1983–1985], 3 Bde., hg. von Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels, aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1988–1991. Für einen schematischen Vergleich von Ricœurs hermeneutischem und Genettes strukturalistischem Erzählzugang vgl. Thomas Herold, Zeit erzählen: Zeitroman und Zeit im deutschen Roman des 20. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 2016, S. 76.
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alles durchdringende Art angewandt. […. Eine perfektionierte Leitmotivik erfordert,] das symbolisch anspielende Formelwort nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts zu deuten. (XI, S. 611)
So gilt für das Verhältnis der Romanfiguren ebenso wie für die Leitmotivik: »Wunderlich hin und her laufende Beziehungen! Es reizt uns, ihre verschlungenen Fäden einen Augenblick allgemein sichtbar zu machen«. (5.1, S. 877) Die ›Zeit der unendlichen Melodie‹ beinhaltet die dynamisch fließende Gestaltung von Ordnung, Dauer und Frequenz und betrifft darüber hinaus auch den Zeitpunkt des Erzählens (der narratologisch der Kategorie der Stimme zugeordnet wird; gemeint ist in diesem Zusammenhang die Nivellierung von späterem und gleichzeitigem Erzählen). Im Zauberberg gleiten die Zeitverhältnisse bei Thomas Mann erstmalig ineinander und mythisieren somit effektiv die Zeit – in Antizipation der Josephsromane, doch ohne die charakteristisch mythische Geschlossenheit der Handlungsmotivierung. Wenden wir uns einleitend zunächst noch kurz dem Modus zu. Der fließende Grad der Distanz, d. h. die kaum merklichen Übergänge von dramatischem zu narrativem Modus, bleibt auch im Zauberberg bezeichnend. Ein breites Spektrum der Distanz dynamisiert die Narration, wobei hier auch dessen genaues Gegenteil vorsätzlich gepflegt wird. So gibt es gezielte lange Passagen im Zauberberg, zum Beispiel die Settembrini/Naphta-Dialoge oder der Abschnitt Forschungen, in denen der Sprecher seinen Erzählmodus nicht variiert und sich beim Leser die Langeweile einstellt, – die aber der Erzähler bereits im Vorsatz mit einkalkulierte.65
Die durch die unbewegliche Distanz bisweilen evozierte »Langeweile« dekuvriert die starren quasi-religiösen Denkmuster, deren dogmatische Verfechtung intellektuellen Reiz ausüben kann, deren hinderliche Selbstbezogenheit in Passagen wie diesen jedoch evident wird. Es ist der ›Modus der unendlichen Melodie‹, der die Distanz und auch die Fokalisierung im Zauberberg weithin bestimmt; Letzteres in Form subtiler Übergänge von Fokalisierungstypen, so dass die Polymodalität von der traditionellen Nullfokalisierung des Bildungsromans divergiert.66 65 Ursula Reidel-Schrewe, Die Raumstruktur des narrativen Textes: Thomas Mann, »Der Zauberberg«, Würzburg 1992, S. 48. 66 Auch das Handlungsschema des Bildungsromans wird – in der Welt des Textes – unterlaufen. Der Zauberberg ist weder ein dezidierter Bildungs- noch Anti-Bildungsroman und lockert in ›architextueller Liminalität‹ nicht nur quasi-religiöse Überzeugungen, sondern auch den Begriff der Schemaliteratur. »Der für die Gattung obligatorische harmonische Abschluss setzt einen Optimismus voraus, der offenbar immer schwerer zu begründen ist. Immerhin zeigt Thomas Mann aber auch, dass die Fragen, die den Bildungsroman bewegen, keineswegs als erledigt, als obsolet oder sinnlos empfunden werden. Die Geschichte des problematischen
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Auch die Kategorie der Stimme knüpft im Zauberberg an bereits Bekanntes an. So bleibt der ›melodische‹ Wechsel zwischen narrativen Ebenen, der erstmals in »Tonio Kröger« (1903) zu beobachten gewesen war, als ›Stimme der unendlichen Melodie‹ im Zauberberg bedeutungsvoll und unentbehrlich für die Leitmotivik.67 Wie entsteht im Zauberberg nun aber auch die neu introduzierte ›Zeit der unendlichen Melodie‹? Mit Rücksicht auf Genettes Kriterium zeitlicher Ordnung stellt das zweite Kapitel im Zauberberg, analog zum zweiten Kapitel im »Tod in Venedig« (1912), eine auch noch im Realismus angewandte »aufbauende Rückwendung« dar (dies in der älteren Terminologie Eberhard Lämmerts): Es liegt eine externe, komplette Analepse vor, die außerhalb der Basishandlung liegt und bis an die Gegenwart der erzählten Geschichte heranreicht, da sie das gesamte bisherige Leben des Protagonisten knapp vor Augen führt.68 Hinzu kommt im Zauberberg jedoch noch eine zweite signifikante Anachronie, die von der ersten deutlich abweicht und insofern auch als exemplarisch für die »Selbstkritik des Realismus« angesehen werden kann, die den Zauberberg in »narrative[r] Form« durchzieht.69 Gemeint ist die Hippe-Rückwendung im vierten Kapitel, die eine externe, partielle Analepse und das »Urbild« (5.1, S. 183) für die Bleistifthandlung mit Madame Chauchat am Ende des fünften Kapitels darstellt.
Einzelnen, der mit sich selbst und der Welt ins reine zu kommen versucht und um eine Orientierung seiner Existenz ringt, erscheint weiterhin erzählenswert.« – Markus Krause und Jürgen Jacobs, Der deutsche Bildungsroman: Gattungsgeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert, München 1989, S. 216. 67 Zur Verbindung von Thermometer und Zigarre s. etwa die von Hofrat Behrens scherzhaft so genannte »Quecksilberzigarre«, worüber Hans Castorp später reflektiert (5.1, S. 75f.). Indem der Erzähler diese Metapher in der Folge aufnimmt und sie abwandelt – als »gläserne Zigarre« (ebd., S. 267) –, werden Thermometer und Zigarre auf der intra- und extradiegetischen Erzählebene leitmotivisch miteinander verbunden. Das Thermometer ist aber auch mit Madame Chauchats Bleistift verknüpft – durch seine Fragilität und den Bezug, den Madame Chauchat in der »Walpurgisnacht« herstellt. Dort prophezeit sie Hans Castorp eine schlechte Fieberkurve und erinnert ihn unmittelbar im Anschluss daran, ihr den Bleistift zurückzugeben (5.1, S. 520). Schließlich sind auch Zigarre und Bleistift leitmotivisch miteinander verwoben. Dies geschieht über die subtile Diktion des Erzählers, die auf die Schrift gerichtet ist: »Der Chemismus seines [Hans Castorps] Magens hatte sich geregelt und angepaßt, Maria Mancini schmeckte, die Nerven seiner ausgetrockneten Schleimhäute kosteten längst wieder empfänglich die Blume dieses preiswerten Fabrikats, das er sich nach wie vor […] mit einer Art von Pietätsgefühl aus Bremen verschrieb [!]«. (5.1, S. 585f.) Vgl. dazu auch Björn Weyand, »Die Maria Mancini als Fetisch der Textur: Zur Semiologie des ›Leitmotivs‹«, in: ders., Poetik der Marke: Konsumkultur und literarische Verfahren 1900–2000, Berlin/Boston 2013, S. 147– 158. 68 S. hierzu auch das Frühwerk-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 47–49. 69 Andreas Kablitz, Der Zauberberg: Die Zergliederung der Welt, Heidelberg 2017, S. 570.
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Diese zweite Analepse divergiert nicht nur vom realistischen Erzählen. Indem die zeitliche Ordnung im Zauberberg jetzt noch beweglicher gestaltet wird und die Hippe-Analepse (als Bleistifthandlung aus Hans Castorps Jugend) sich mit der Basishandlung (der Bleistifthandlung der »Walpurgisnacht«) verknüpft, wird der Komplexität des Bleistift-Leitmotivs der Weg gebahnt. Die derart variierte Wiederholung des Motivs gewährleistet seine psychologische Vertiefung und Verdichtung – und impliziert darüber hinaus auch seine noch fundiertere Vernetzung in der Erzählstruktur von Manns Roman.70 Die Kunst vielschichtiger, subtiler Andeutung, die der Leitmotivik Richard Wagners nachempfunden ist, tritt auch im Hinblick auf die zeitliche Dauer, d. h. das narrative Tempo, eindrucksvoll zutage. Auch hier steht die Erzählgeschwindigkeit in kalkulierter Wechselwirkung mit der Handlung des Romans. Das Erzähltempo wurde weiter oben schon mit Rücksicht auf den Schneetraum indirekt thematisiert: Wir haben nachvollzogen, dass in der Welt des Textes nur sehr wenig objektive Zeit vergeht, die Hans Castorp subjektiv jedoch anders empfindet. War Morgen? Und hatte er die Nacht hindurch im Schnee [verbracht …]? […] Erstaunlich! Konnte es denn sein, daß er nur zehn Minuten oder etwas länger hier im Schnee gelegen und so vieles an Glücks- und Schreckensbildern und waghalsigen Gedanken sich vorgefabelt hatte, indessen das hexagonale Unwesen [der Schneesturm, hier eine Anspielung auf die hexagonale Symmetrie der Schneekristalle] sich so schnell verzog, wie es gekommen? (5.1, S. 750)
Die Relativität der Zeit, die hier zu ihrem vollen Ausdruck kommt, hatte Thomas Mann in Carl du Prels Philosophie der Mystik sorgfältig studiert, dort ausdrücklich mit »der empirischen Basis des Schlaflebens« als Hintergrund.71 Das relative, »transcendentale Zeitmass«, welches Die Philosophie der Mystik expliziert, wird – als narratives Verfahren betrachtet – im Schneetraum dadurch bewerkstelligt, dass die Erzählgeschwindigkeit des heterodiegetischen Erzählers variabel ausgerichtet ist, während aus der Sicht der erlebenden Figur (Hans Castorp) zeitdeckendes Erzählen vorliegt.72 In der erzählten Welt verhalten sich die objektiv messbare und die subjektiv erlebte Zeit (geschildert in interner Fokalisierung) inkongruent – und fließen dennoch ineinander.73
70 Vgl. dazu Anm. 67 dieses Kapitels. 71 Carl Freiherr du Prel, Die Philosophie der Mystik (Anm. 40), S. VI: Vorrede. 72 Zu diesem Terminus s. schon Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955, S. 83f. 73 Zur Diskrepanz von »clock time« und »experienced time« vgl. bereits Dorrit Cohn, »Telling Timelessness in Der Zauberberg«, in: Thomas Mann’s »The Magic Mountain«: A Casebook, hg. von Hans R. Vaget, Oxford 2008, S. 201–218, S. 204. Demgegenüber wird das Thema in Erica Wickersons narratologischer Zeit-Studie nur marginal behandelt: Erica Wickerson, The
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Die Relation von Erzählzeit und erzählter Zeit74 variiert im Zauberberg beträchtlich; sie tut dies variantenreich erneut in Anlehnung an Wagner. Wie die anachrone Anordnung der Zeit, so sind auch alle Grundformen theoretisch möglicher Erzähltempi (Szene, Dehnung, Raffung, Ellipse [= Zeitsprung], Pause) – u. a. im nuancierten Zusammenspiel von Stimme (Wer spricht?) und Fokalisierung (Wer sieht?) – Gegenstand eines für Thomas Mann neuen Erzählverfahrens, welches den Eindruck von Zeitlosigkeit vermittelt. Kennzeichnend ist, und dies in sämtlichen Realisierungstechniken, dass Zeitverhältnisse hier ineinanderfließen und verschmelzen. Denn die Erzählung gleicht der Musik darin, daß sie die Zeit erfüllt, sie »anständig ausfüllt«, sie »einteilt« und macht, daß »etwas daran« und »etwas los damit« ist […]. Die Zeit ist das Element der Erzählung, wie sie das Element des Lebens ist. [… Die Erzählung] hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann. (5.1, S. 816f.)
Das Erzähltempo ist im Zauberberg ebenso unbestimmt, wie es in der erzählten Welt der Zeitsinn der Figuren (innerhalb des Sanatoriums) und der Zeitsinn der Natur (außerhalb des Berghofs) ist. Dabei korrespondiert die Fluktuation in der Erzähldauer der religiösen Unentschiedenheit, die im Roman vergegenwärtigt wird. Die beträchtliche Variation des Erzähltempos im Zauberberg – vom selbstreflexiven Erzählen in weitschweifigen Pausen bis zu deren krassem Gegensatz in impliziten, d. h. unbestimmten Ellipsen – ist konstitutiv für den Roman und lässt sogar Extremgeschwindigkeiten ineinanderfließen. Diese entsprechen den Schwankungen, welche die Zeit in der Histoire bestimmen: »Die springen hier um mit der menschlichen Zeit, das glaubst du gar nicht« (5.1, S. 17) – bis hin zu Wetterkapriolen, im Zuge derer »die Jahreszeiten [… sich] vermischen« und »sich nicht an den Kalender« halten. Insbesondere »der Schnee« bringt – siehe Hans Castorps Schneetraum – »alles durcheinander« (ebd., S. 145).75
Architecture of Narrative Time: Thomas Mann and the Problems of Modern Narrative, Oxford 2017. 74 Zu Günther Müllers Begriffspaar s. bereits das Buddenbrooks-Kapitel dieser Untersuchung, Anm. 36. 75 Bemerkenswert in diesem Kontext ist bereits die starke Zeitraffung in der Analepse des zweiten Kapitels, wenn sie in Relation zur Zeitdarstellung des darauffolgenden dritten Kapitels angesehen wird: Auf die Schilderung von Hans Castorps gesamtem bisherigen Leben folgt die Erzählung eines nur einzigen Tages – auf ca. dreimal so vielen Seiten. Ab der Zäsur der »Walpurgisnacht« finden sich besonders große Raffungen und unbestimmte Ellipsen. Zu Zeitraffungen vgl. auch schon Helmut Koopmann, Die Entwicklung des »intellektuellen Ro-
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Der Effekt der Zeitlosigkeit, den die ›Zeit der unendlichen Melodie‹ im Zauberberg vermittelt, wird auch mittels der zeitlichen Frequenz realisiert. Neu und weitreichend ist hier ein quasi-repetitives Erzählen, das sich aus der flexibleren zeitlichen Ordnung im Zauberberg unmittelbar ergibt: In der bereits behandelten Anachronie des vierten Kapitels und in der »Walpurgisnacht« am Ende des fünften Kapitels wird im Grunde zweimal dasselbe geschildert, obwohl in den exakten Handlungsverläufen (beträchtliche) Differenzen bestehen und es sich nicht um dasselbe Geschehen innerhalb der Welt des Textes handelt. Dennoch findet ein zeitliches Ineinandergleiten der jeweiligen Vorkommnisse statt, eine Wiederholung in Abwandlungen, in deren Folge die Begebenheiten um den jeweils ausgeliehenen Bleistift subtil zu einem Vorgang kontrahiert werden, was auch über das Tertium Comparationis des exotischen Hintergrunds von Hippe und Madame Chauchat geschieht (vgl. besonders die den beiden Figuren gemeinsamen ›kirgisischen‹ Augen). Durch das quasi-repetitive Erzählen erlangt die Leitmotivtechnik im Zauberberg eine noch stärkere Akzentuierung: Die Bleistifthandlung erscheint nicht nur mehr doppeldeutig, sondern bereits andeutungsweise mythisch; die Ereignisabfolge wird mythisiert.76 Schließlich wird auch über den Zeitpunkt des Erzählens, der nicht der Kategorie der Zeit, sondern der Kategorie der Stimme angehört, eine ›Zeit der unendlichen Melodie‹ geschaffen – insofern, als hier eine Nivellierung von späterem und gleichzeitigem Erzählen statthat. Denn: Obschon auch im Zauberberg der Erzähler als »raunende[r] Beschwörer des Imperfekts« auftritt (5.1, S. 9) – und sich, was dies betrifft, in traditionellen Erzählbahnen bewegt –, so ist auch hier eine Mythisierung der Zeit, die schon auf Joseph und seine Brüder vorausdeutet, erkennbar. Der fließende Übergang vom späteren zum gleichzeitigen Erzählen kommt bereits im »Vorsatz« des Romans zum Tragen, wo der Erzähler die »Zeitform der tiefsten Vergangenheit« betont (ebd., S. 9), obgleich er fortan keineswegs in dieser (d. h. dem Plusquamperfekt), sondern im konventionellen Imperfekt ermans« bei Thomas Mann: Untersuchungen zur Struktur von »Buddenbrooks«, »Königliche Hoheit« und »Der Zauberberg«, 2. Aufl., Bonn 1971, S. 142f. 76 Das quasi-repetitive Erzählen setzt die Zeit, so scheint es, außer Kraft, indem der Eindruck entsteht, als würde wiederholt erzählt, was sich einmal ereignet hat, obwohl es sich um zwei verschiedene Geschehnisse in der erzählten Welt handelt. Dies ist ein gesteigertes Verfahren gegenüber »Tonio Kröger«. (Der erwachsene Tonio Kröger erlebt bei seinem Aufenthalt in Dänemark ein Déjà-vu – »Wie früher, ganz wie früher war es gewesen!« [2.1, S. 315] Leitmotivisch verbunden werden Vergangenheit und Gegenwart hier zumal durch die vermeintlich wiederkehrenden Figuren Hans Hansen und Inge Holm im Rahmen einer Tanzveranstaltung. Dies evoziert bei Tonio Kröger dieselben Empfindungen wie lange zuvor, doch wird dort nicht eine (teilweise) analoge Handlung noch einmal erzählt. In »Tonio Kröger« wird keine konkrete Ereignisabfolge aus der Vergangenheit in Abwandlungen wiederholt – und dadurch als ein zeitliches Geschehen suggeriert –, sondern es sind vorerst ›nur‹ Tonio Krögers Gefühle, die sich wiederholen und dadurch in eins fließen.)
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zählen wird – in einer Zeitform also, die dem lateinischen Wortursprung zufolge gerade unvollendet ist. Begebenheiten »der tiefsten Vergangenheit«, der noch ›unbeendeten‹ Vergangenheit sowie der Gegenwart gleiten hier sowohl ironisch als auch schon andeutungsweise mythisch ineinander; »die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte […] spielt, oder […] sie spielte und hat gespielt« (ebd., S. 9) in einer ›Zeit der unendlichen Melodie‹. Die ›Zeit der unendlichen Melodie‹ nach dem Vorbild Richard Wagners ist es, welche »die hermetische Verzauberung« Hans Castorps »ins Zeitlose« bewirkt. Der Roman werde, so Thomas Mann in der »Einführung in den Zauberberg« (1939), »transparent […] für das Geistige und Ideelle« anhand »lauter Exponenten, Repräsentanten und Sendboten geistiger Bezirke, Prinzipien und Welten« (XI, S. 612). Vorwiegend indessen bleibt die ›religiöse Frage‹ in der erzählten Welt des Zauberbergs, wie oben darzulegen war, ein unentschiedenes zentrales Anliegen im Zuge einer »große[n] Konfusion« (5.1, S. 705), und analog dazu ist auch die Zeit im Zauberberg hauptsächlich ironisch konnotiert: [Hans Castorps Geschichte] verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, – eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei. (Ebd., S. 9)
Die Nivellierung von späterem und gleichzeitigem Erzählen wird ebenso am Ende des Romans bedeutungsvoll. Der ernste Ausblick am Schluss des Zauberbergs ist im rasanten Wechsel proleptischer und analeptischer Ereignisse gehalten, was den Strudel des Ersten Weltkriegs erzählpragmatisch imitiert und zu der sonstigen Zeitdarstellung des Romans in diametralem Gegensatz steht. Das Tempus ist hier weitgehend das Präsens: Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst. […] Augenblicke kamen, wo dir […] ahnungsvoll und regierungsweise ein Traum von Liebe erwuchs. (5.1, S. 1085)
Und obgleich Der Zauberberg mit einer mythischen Reminiszenz an Wagners Götterdämmerung schließt, wo das Ende der Welt zugleich auch deren Neubeginn bedeutet, ist der letzte Satz des Romans nicht etwa eine Aussage, sondern eine ungewisse Frage – auch hier also noch anders als später in Joseph, der Ernährer (1943), wohl aber dem Schlussgebet in Doktor Faustus (1947) ähnlich: »Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?« (Ebd.) Durch die effektive Mythisierung der Zeit wird die Mythos-Relevanz der Josephsromane in Ansätzen vorweggenommen. Dies jedoch auf zweideutige Weise: In der Joseph-Tetralogie wird die ›Zeit der unendlichen Melodie‹ die religiöse
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Kohärenz bestärken. Im Zauberberg hingegen hinterfragt sie diese noch zumeist, da keine weitgehend harmonisch numinose Handlungsmotivierung vorliegt. Die genuin verdichtende, mit Nietzsche zu sprechen: die »a d s t r i n g i r e n d e Kraft« des Mythos fungiert im Zauberberg nicht als »Zusammenbildner und […] Ve r e i n f a c h e r d e r We l t «.77 Mit anderen Worten: Die in sich selbst geschlossene Vermittlung von Oppositionsstrukturen, die den Mythos kennzeichnet, gelingt im Zauberberg in der Erzählpragmatik, jedoch nicht ebenso unwidersprüchlich in der Handlung und der Welt des Textes. Mit mythischen Inhalten wird Mann sich erst eingehend nach dem Zauberberg befassen; ihre narrative Form erreicht z. T. bereits Der Zauberberg, doch hier noch mit ironischer Tendenz.78 Die im Vergleich zum Frühwerk nun gemäßigte, gleichsam ›domestizierte‹ Ironie, die dergestalt den Zauberberg grundiert, gilt auch, wie wir nun zeigen wollen, für die Signale der Metafiktion, die doppelte, empirisch-numinose Handlungsmotivierung und die ambige Leitmotivik, deren interdependente »Kreuzungspunkt[e] in einem« übergreifenden »Beziehungsnetz« zusammenfließen.79 Selbstreflexives Erzählen in einem extensiven Ausmaß hatte der Erzähler in Thomas Manns Werken bislang noch nicht zur Anwendung gebracht; im Zauberberg ist dies erstmals der Fall. Die Metafiktion steht hier – im Zauberberg – zwischen dem Humor der späteren Josephsromane und der emphatischen Fiktionsironie der frühen Erzählung »Ein Glück« (1904), wo die erzählte Welt noch ihrerseits das Ziel der Ironie gewesen war, indem die narrative Instanz in einer forcierten Ironie die Welt des Textes als frei erfunden präsentiert hatte. So weit geht die narrative Illusionsdurchbrechung im Zauberberg nicht mehr; eine Ironisierung der Ironie ist hier nicht länger zu beobachten. Jedoch erreichen die metafiktionalen Exkurse im Zauberberg auch keine humoristische Überhöhung, wie sie für Joseph und seine Brüder späterhin zu konstatieren sein wird. Stattdessen ist Der Zauberberg auf moderatere Weise ambivalent gehalten.80 77 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Anm. 34), Bd. 1, S. 447 (Unzeitgemäße Betrachtungen IV [d. i. Richard Wagner in Bayreuth]; 1876). 78 Es ist bezeichnend, dass im Zauberberg auch nur ein einziges konkretes Datum von Belang ist: Hans Castorps erster »Faschingsdienstag« (5.1, S. 490) im Berghof-Sanatorium. Historisch korrekt wäre dies der 3. März des Jahres 1908; der Symbolik halber verlegte Thomas Mann den Tag jedoch nach vorne – auf einen »beinahe aus dem Kalender fallende[n] Abend«: einen »Extraabend, ein[en] Schaltabend, de[n] neunundzwanzigste[n] Februar« (ebd., S. 920). Dieser firmiert im Zauberberg als »Walpurgisnacht«, die ihrerseits jedoch in der letzten Nacht des April verankert ist. Settembrinis Faust-Zitat lässt sich daher ohne Weiteres auch auf die Zeitverwirrung münzen, die den Zauberberg durchläuft: »Der Berg ist heute zaubertoll« (ebd., S. 492). 79 Hermann Kurzke, Thomas Mann: Epoche – Werk – Wirkung, 4. Aufl., München 2010, S. 325. 80 Auch im Zauberberg bleibt der Grad des unzuverlässigen Erzählens weiterhin der einfachste; s. dazu Anm. 57 des Buddenbrooks-Kapitels und Anm. 51 des Frühwerk-Kapitels.
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Die (wenn auch nun temperierte) Ironie der Handlungsmotivierung und die demgemäß ironisierte Leitmotivik differieren nach wie vor von Wagner, indem sie – wie Manns ganze ›Narration des Zweifels‹ – weiterhin auf Nietzsche gründen und die religiöse Unbestimmtheit reflektieren. Auf der einen Seite offeriert die Relativität der Zeit im Zauberberg eine erhöhte Perspektive, die auf – siehe oben – mystische Inhalte verweist; auch das schon zitierte »hexagonale Unwesen« (5.1, S. 750) kann durch die fraktale Geometrie der Schneekristalle (zumindest theoretisch) im Sinne transzendenter Ordnung aufgefasst werden – oder aber als ein bloßes Durcheinander, das in wissenschaftlichen Zusammenhängen allenfalls notdürftig erfasst zu werden vermag. Denn die Relativität der Zeit kann auf der anderen Seite auch als diffuse ZeitVerwirrung angesehen werden, und dies sowohl von Hans Castorp als auch im Hinblick auf die Leserlenkung vonseiten des Erzählers. Beides ist möglich, und beides ist vorsätzlich angelegt, wobei die ironische Zeit-Verwirrung dominiert. In Hans Castorps oben zitierten Gedanken, die in transponierter Rede zwischen dramatischem und narrativem Modus in erlebter Rede vorliegen, ist die hermetische Schneetraum-Vision, zunächst noch als Offenbarung erfahren, bereits wieder dem Zweifel und der »Konfusion« (5.1, S. 705) gewichen, indem das soeben Erlebte als »[V]orgefabelt[es]« bezeichnet wird (ebd., S. 750): »Was er geträumt, war im Verbleichen begriffen. Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht.« (Ebd., S. 751)81 Janusköpfig wie die Darstellung des »Zeitgeheimnisses« (ebd., S. 279) wird auch die Leitmotivik präsentiert; dies in der weiter oben bereits besprochenen Zahl Sieben oder der verschlungenen Verschränkung von Thermometer, Zigarre und Bleistift (alles phallische Symbole).82 Stets ist der »Sinn- und Bedeutungshorizont« vielschichtig und dabei zumindest tendenziell ironisch, so dass Der Zauberberg »einen offenen Prozeß fortschreitender Deutungsmöglichkeiten fordert und in Gang hält«,83 der unterdessen in der ›religiösen Frage‹ des Erzählten – anders als in den Musikdramen bei Richard Wagner – nach wie vor zweideutig bleibt. Die Ambiguität der Zeitstruktur – in der Wahrnehmung der handelnden Figuren wie der Leserschaft – korreliert dabei auch mit der doppeldeutig angelegten Raumstruktur, die Thomas Manns Roman in unbestimmter Handlungsmotivierung prägt. Der Zauberberg ist, wie etwa »Der Tod in Venedig«, biregional ausgerichtet – vgl. die Opposition von »Flachland« und Berghof-Sanatorium, die weitere bi81 Vgl. dazu auch Anm. 78 dieses Kapitels. 82 S. Anm. 67 dieses Kapitels. 83 Markus Lorenz, Motivische Struktur als ästhetische Selbstreferenz: Zur Komposition von Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«, Bonn 2006, S. 17f.
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näre Differenzen impliziert: Heimat/Fremde, Gesundheit/Krankheit, Leben/Tod etc. –, und ebenso wie »Der Tod in Venedig« ist Der Zauberberg »restitutiv«: Revolutionäre Texte durchbrechen die klassifikatorische Ordnung der erzählten Welt, restitutive bestätigen sie. […] Das Sujet von Der Tod in Venedig lässt sich demgemäß als restitutiv, nämlich als tragisch scheiternder Ausbruch des Helden aus der Enge des [… bürgerlichen Lebens] beschreiben.84
Juri M. Lotmans strukturalistische Theorie des Ereignisses, mit deren Hilfe sich die narrative Tiefenstruktur eines Textes analysieren lässt, trifft für den »Tod in Venedig« wie für den Zauberberg zu. Nach Lotman liegt ein »Ereignis« vor, wenn eine textinterne Normalitätsannahme verletzt wird: Etwas ist nur dann als ein »Ereignis« anzusehen, wenn es sich in der erzählten Welt normalerweise nicht ereignet. Demgemäß definiert Lotman ein »Ereignis« als »die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes«.85 Dieser Vorgang stellt eine Normverletzung dar – im Zauberberg überschreitet der Protagonist zunehmend heimatliche Konventionen und Erwartungen –, die ihrerseits, so Lotman, meist auch mit einer semiotisch indizierten Ortsveränderung einhergeht. So auch in Thomas Manns Roman: Das Unzulängliche, hier wird’s für Hans Castorp unverhofft zur Offenbarung, zum »Ereignis« – und das Davoser Sanatorium verwandelt sich in einen »Zauberberg«, der eine hermetisch-mystagogische Faszination ausübt. Der Unterschied zum »Tod in Venedig« liegt jedoch nun im konsequenten Ineinanderfließen einstmaliger Grenzen, so dass nicht nur eine ›Zeit der unendlichen Melodie‹, sondern, analog dazu, auch ein ›Raum der unendlichen Melodie‹ entsteht – und damit nicht nur eine Mythisierung der Zeit, sondern auch eine Mythisierung des Raumes, die beide allerdings in Anlehnung an Nietzsche empirisch-numinos, d. h. im ›Was‹ des Erzählens ironisch unterlegt bleiben.86 84 Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 10. Aufl., München 2016, S. 161f. 85 Juri M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte [1970], aus dem Russischen von Rolf-Dietrich Keil, 4. Aufl., München 1993, S. 332. 86 Lotmans spatiale Semantisierung macht bereits Ursula Reidel-Schrewe für den Zauberberg geltend: Ursula Reidel-Schrewe, Die Raumstruktur des narrativen Textes: Thomas Mann, »Der Zauberberg« (Anm. 65). Dabei sieht sie Lotmans Konzept der Grenzüberschreitung – unter Rekurs auf Goethes Terminologie – in Manns Roman der Totalität des Lebens angeglichen: Begrenzung und Entgrenzung gleiten im Zauberberg systolisch-diastolisch ineinander. Dies betrifft die Zeit wie auch den Raum, für welch Letzteren Reidel-Schrewe das Begriffspaar »Systole« und »Diastole« in Analogie zu Roman Jakobsons Begriffspaar »Metapher« und »Metonymie« verwendet. Der russische Formalist und spätere Mitbegründer des Prager Linguistenkreises Roman Jakobson hatte die sprachliche Kontraktion und Expansion auf die Metapher bzw. die Metonymie übertragen. Nach Jakobson ist die Metonymie zumal kennzeichnend für die Epik (während die Metapher das Kennzeichen der Lyrik sei), so dass die
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Der Hans(eat) in den entrückten Schweizer Alpen: Subtil entsprechen sich die zeitliche sowie die räumliche ambige Leitmotivik, indem beide sich im Religionsthema vereinen. Oben und unten verwirren sich – oder können, wie wir oben nachvollzogen haben, (zumindest theoretisch) auch im Sinne mystischer Entsprechung zu einer höheren, d. h. letztlich tieferen Erkenntnis führen.87 So bemerkt Settembrini, der bezeichnenderweise soeben als »Satana« introduziert wurde (5.1, S. 88): »Potztausend, Sie sind nicht von den Unsrigen? Sie sind gesund, Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich? Welche Kühnheit, hinab bis in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen – « »In die Tiefe, Herr Settembrini? Da muß ich doch bitten! Ich bin ja rund fünftausend Fuß hoch geklettert zu Ihnen herauf – « »Das schien Ihnen nur so! Auf mein Wort, das war Täuschung«, sagte der Italiener mit einer entscheidenden Handbewegung. »Wir sind tief gesunkene Wesen, nicht wahr […]. Ganz freiwillig kommen Sie also herauf zu uns Heruntergekommenen und wollen uns einige Zeit das Vergnügen Ihrer Gesellschaft gönnen.« (Ebd., S. 90f.)88
Oben, unten, außen, innen: Im figurativen Sinn geht es im Zauberberg nicht nur hinaus ins Unbekannte, sondern auch in den Berg hinein – was erneut sowohl desorientierend als auch (zumindest theoretisch) erkenntnisfördernd sein kann. (Vgl. vor diesem Hintergrund auch die romantische Tradition: Novalis, E.T.A. Hoffmann und schließlich auch das Motiv des Venusbergs bei Ludwig Tieck, Achim von Arnim und Clemens Brentano, den Brüdern Grimm, Joseph von Eichendorff, Heinrich Heine, Ludwig Uhland und – im vorliegenden Kontext – besonders Richard Wagner.) In der Zeit- wie in der Raumstruktur von Thomas Manns Roman fließen (auch und nicht zuletzt) duale Prinzipien zusammen. Oppositionen finden zueinander und durchdringen sich. Und dennoch gilt: Trotz der Mythisierung von Zeit- und Raumverhältnissen tendiert Der Zauberberg zur – moderaten – Ironie, welche die Unbestimmtheit in der ›religiösen Frage‹ spiegelt.
komplex entwickelte Leitmotivik, semiotisch gesprochen, metaphorisch-metonymischen (bei Reidel-Schrewe: systolisch-diastolischen) Charakter hat. Die Tendenz zur Ironie indessen ist in dieser Abstraktion der Lebensganzheit ausschließlich kennzeichnend für das Erzählverfahren Thomas Manns. 87 Vgl. hierzu Anm. 53 dieses Kapitels. 88 Zum Raum im Zauberberg s. – vor dem Hintergrund verschiedener Erkenntnisinteressen – auch Anm. 28 dieses Kapitels sowie Katrin Max, »Herauf zu den Heruntergekommenen: Hans Castorps Zauberberg-Reise als Höllenfahrt«, in: Unterwelten: Modelle und Transformationen, hg. von Jörg Robert und Joachim Hamm, Würzburg 2014, S. 227–246; ferner Elisabeth Galvan, »Nord- und südliches Gelände: Zur Topographie des Zauberberg«, in: Lebenstraum und Todesnähe: Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«, hg. von Helmut Koopmann, Frankfurt a. M. 2015, S. 135–147.
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III. »Der Weg von der Religion zur Kunst schlecht, der von der Kunst zur Religion gut [.]« (Richard Wagner im Gespräch mit Cosima Wagner, 13. Januar 1880)89
Die Trennung von Religion und Narration, die in der vorliegenden Darstellung zur besseren Veranschaulichung vorgenommen wurde, ist in den Werken Thomas Manns nur theoretisch existent. Inhalt und Form sind nicht prinzipiell unabhängig voneinander anzusehen, sondern bedingen sich, was Der Zauberberg besonders eindringlich vor Augen führt. Bereits in Buddenbrooks waren Religion und Narration durch ein Tertium Comparationis miteinander verbunden gewesen: Es waren dies die Traditionsverlagerungen, welche sich im Frühwerk Thomas Manns – mit ungleichem Fokus (Nietzsche bzw. Wagner) – jeweils intensivieren sollten. Religion und Narration waren zunächst noch nicht so eng miteinander verflochten gewesen, wie dies späterhin der Fall sein sollte; und doch war die Gemeinsamkeit der Traditionsverschiebungen bereits sehr früh gegeben. Während die verstärkte Nietzsche-Orientierung, die vorwiegend inhaltlich statthatte (vgl. Nietzsches ›Theothanatologie‹), jedoch im Lauf der Zeit in eine substanzielle Krise führen sollte (als forcierte Kunstreligion und scheiternde Werkheiligkeit), bedeutete die analog dazu intensivierte Ausrichtung an Wagner, die in formaler Hinsicht immer deutlicher hervortrat, für den Autor Thomas Mann geradezu zunehmende Entfaltung. Die insofern unähnlichen Steigerungen anfänglicher Traditionsverlagerungen führten schließlich, wie im Zauberberg ersichtlich wurde, auch zu ungleichen Konsequenzen: Lockerung des religiösen Themas, Festigung der narrativen Technik. Und doch, so können wir an dieser Stelle resümieren, sind selbst in dieser ›Parallelaktion‹ Religion und Narration nicht wirklich voneinander separiert. (Kunst-)Religion und Erzählkunst stellen bei ›Thomas Mann in München‹ vielmehr zwei ineinander verschränkte, komplementäre Aufschlüsse über dieselbe ›religiöse Frage‹ dar. Sie erweisen sich als Variationen eines Themas, wenn wir genauer hinsehen – dem der quasi-religiösen Grundausrichtung nach Nietzsches Diktum »Gott ist tot«. Denn: Nicht nur Manns religiöse Motivik, sondern auch seine Erzählpragmatik – die sich an Richard Wagner ausrichtet – ist, unter der Hand, kunstreligiös orientiert (auf eine differente Weise), so dass das ›Was‹ des Erzählens Manns explizite Auseinandersetzung mit der ›religiösen Frage‹ darstellt, während das ›Wie‹ des Erzählens dieselbe implizit behandelt (als eine nicht eigens reflektierte kunstreligiöse Praxis). Thomas Manns »Passion« [!] (IX, S. 373) für Wagners 89 Cosima Wagner, Die Tagebücher, 2 Bde., hg. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München/Zürich 1976/77, hier Bd. 2, S. 475.
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Musiktheater zeigt sich in der narrativen Adaption von Wagners musikalischem Erzählverfahren, ohne dass Manns Kritik an Wagners Leitmotiv (»eine Monstranz […]«: 14.1, S. 121f.) diese Entwicklung hemmen würde. Für die Genese von Thomas Manns ›Laufbahn als Schriftsteller‹ sind Nachteil und Nutzen quasi-religiöser Referenzrahmen daher in gleichem Maße stilbildend. Dass Religion und Narration bei Thomas Mann zusammengehören, zeigt sich nirgends so deutlich wie in der Leitmotivtechnik, die – in ausgereifter Komplexität – das ›Was‹ mit dem ›Wie‹ des Erzählens souverän verflicht. Anfänge dieser elaborierten Leitmotivik waren ab »Tonio Kröger« (1903) zu beobachten gewesen, wo das Erzählte und das Erzählen zum ersten Mal begonnen hatten, sich ineinander zu verschlingen. Dies wird im Zauberberg (1924) schließlich vollendet und differenziert verwirklicht, nachdem die Erzählpragmatik bis dorthin entsprechend ausgebildet worden war: ab dem »Kleinen Herrn Friedemann« (1897) im ›Modus der unendlichen Melodie‹ (fließende Übergänge in Distanz und Fokalisierung) und ab »Tonio Kröger« in der ›Stimme der unendlichen Melodie‹, welche die erzählte Welt erstmals ausdrücklich inkludierte, so dass die beginnende komplexe Leitmotivik dort zwischen narrativen Ebenen zu gleiten anfing (Ineinandergleiten der extra- und intradiegetischen Erzählebene). In »Tonio Kröger« gingen das Erzählte und das Erzählen erstmals eine leitmotivische Verbindung ein, deren Reziprozität im Zauberberg schließlich zur vollen Ausprägung gelangt. Hier kommt zum ›Modus der unendlichen Melodie‹ und der ›Stimme der unendlichen Melodie‹ nun auch die ›Zeit der unendlichen Melodie‹ hinzu, die eine effektive Mythisierung der Zeit bewirkt: in Ordnung (flexiblere Anachronien), Dauer (erhebliche Erzähltempo-Variation), Frequenz (quasi-repetitives Erzählen) und sogar im Zeitpunkt des Erzählens, der erzähltheoretisch betrachtet nicht der Kategorie der Zeit, sondern derjenigen der Stimme angehört (Nivellierung von späterem und gleichzeitigem Erzählen). Die derart bewegliche ›Zeit der unendlichen Melodie‹, durch welche Zeitverhältnisse nun gänzlich ineinanderfließen können, verhält sich in Manns zweitem großen Roman analog zur komplexen Gestaltung des Raumes – bei gleichbleibender empirisch-numinoser, d. h. ambiger Handlungsmotivierung, die von der inneren Geschlossenheit bei Richard Wagner abweicht, die allerdings den religiösen Zweifel à la Nietzsche in einer neuen Art der Leitmotivik – der ironischen – veranschaulicht. Es ist eine moderate Ironie, zu der Thomas Manns Zauberberg nach der forcierten Ironie der früheren Werkheiligkeit zurückkehrt; dies, um abschließend
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nochmals mit Lyotard zu sprechen, als sein ganz eigener, markanter Ausdruck der »Melancholie der Moderne«.90 Durch temperierte Ironie ist es möglich, beiden Antipoden – Wagner ebenso wie Nietzsche – auf individuelle Weise treu zu bleiben: dem Zauber Wagners, »jenes imperialen Romantikers«, dem, wie wir gesehen haben, Thomas Mann trotz all seiner Kritik so viel verdankt, wie auch – zugleich – dem Skeptizismus Nietzsches (15.1, S. 792). Es ist das kunstreligiöse Konzept der Werkgerechtigkeit, das Thomas Mann letztlich am ehesten entspricht – in Religion und Narration. Noch am 8. Februar des Jahres 1953 wird Thomas Mann bemerken: Daß mein Schriftstellertum als ein unter religiösem Antrieb stehender Versuch der Rechtfertigung und Schuldbegleichung zu interpretieren ist, habe ich gelegentlich ausgesprochen [.]91
Werkgerechtigkeit in Konvergenz mit Gott ist die eine, geeinte Perspektive, zu der Manns Œuvre in Religion und Narration dauerhaft gelangen kann. Die resümierende Grafik auf der Folgeseite zeigt: Thomas Manns »Melancholie der Moderne« gilt für vertraute Glaubensinhalte ebenso wie für traditionelle Formen des Erzählens. Beide werden sie von Mann beträchtlich modifiziert – und innoviert –, indessen nie vollständig aufgegeben.92
90 Vgl. die Einleitung und das Buddenbrooks-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 5 bzw. Anm. 4. 91 Thomas Mann, Selbstkommentare: Joseph und seine Brüder, hg. von Hans Wysling, Frankfurt a. M. 1999, S. 328 (Brief an Eberhard Hilscher). S. hierzu auch das Buddenbrooks-Kapitel dieser Darstellung, Anm. 26. 92 Zum religiösen Kontext auch beim späten und ›letzten‹ Thomas Mann vgl. Yvonne Nilges, »Thomas Mann und die Religion«, in: Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert: Motive, Sprechweisen, Medien, hg. von Tim Lörke und Robert Walter-Jochum, Göttingen 2015, S. 51–74.
Gleiten zwischen narrativen Ebenen
Fließende Modus-Übergänge
gleichzeitigem Erzählen
Nivellierung von späterem und
›Stimme der unendlichen Melodie‹:
›Modus der unendlichen Melodie‹:
in Distanz und Fokalisierung
Stimme
Modus
(Mythisierung der Zeit)
Zeitverhältnisse fließen ineinander
›Zeit der unendlichen Melodie‹:
Frequenz: quasi-repetitives Erzählen
Dauer: Erzähltempo-Variation
Ordnung: flexiblere Anachronien
Zeit
(das Erzählen, die Erzählpragmatik)
(das Erzählte, die erzählte Welt)
Ambige Handlungsmotivierung
Das technische ›Wie‹ des Erzählens
Das religionsbezogene ›Was‹ des Erzählens
Religion und Narration im Zauberberg
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Personenregister
Adorno, Theodor W. [d. i. Theodor Ludwig Wiesengrund] 43 Albertus Magnus 136 (Anm. 44) Alexander VI. [röm.-kath. Papst, d. i. Rodrigo Borgia] 72 Amann, Paul 104 Annunzio, Gabriele D’ 67 (Anm. 25) Arnim, Achim von 154 Augustinus von Hippo 41 (Anm. 34), 139 Bab, Julius 76 Bach, Johann Sebastian 101 (Anm. 8) Bachtin, Michail Michailowitsch 22 (Anm. 5) Bahr, Hermann 82 Beethoven, Ludwig van 60 Benjamin, Walter 88 Bernstein, Elsa 77 (Anm. 43) Bertram, Ernst 103 (Anm. 10), 117 Bourdieu, Pierre 54 Bovet, Felix 99 Brentano, Clemens 154 Bultmann, Rudolf 132 (Anm. 33) Calvin, Johannes 39 Claudel, Paul 104–108, 110 (Anm. 27) Debussy, Claude 67 (Anm. 25) Deleuze, Gilles 13 (Anm. 9) Derrida, Jacques 50 (Anm. 55) Dieckmann, Lilli 122 (Anm. 13) Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 14, 112f. (Anm. 30) Dürer, Albrecht 98 (Anm. 4), 101 (Anm. 8)
Dujardin, Édouard
82
Eichendorff, Joseph von 154 Einstein, Albert 135 Engel, Friedrich 40 (Anm. 31) Ewers, Ludwig 33 Feuerbach, Ludwig 136 (Anm. 43) Fontane, Theodor 42, 47, 53, 81 Foucault, Michel 70 (Anm. 32), 118, 122, 123 (Anm. 15) Francesco, Grete De 140 (Anm. 55) Fritchman, Stephen 113 (Anm. 30) Genette, Gérard 10, 13, 19 (Anm. 2), 43ff., 47, 85, 144, 146 George, Stefan 59, 67, 72, 77 (Anm. 43) Gerhardt, Paul 24, 26 Goethe, Johann Wolfgang von 67, 100, 103, 131, 136, 153 (Anm. 86) Grautoff, Otto 81 Grimm, Jacob 154 Grimm, Wilhelm 154 Hammacher, Emil 98 (Anm. 3) Hauptmann, Gerhart 130 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 32 (Anm. 21), 58, 132 Hegner, Jakob 105 Heine, Heinrich 154 Hesse, Hermann 48 Hilscher, Eberhard 38 (Anm. 26), 157 (Anm. 91)
170 Hitler, Adolf 78 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 154 Hofmann, Ludwig von 136 Hofmannsthal, Hugo von 112 (Anm. 29) Ibsen, Henrik 77 Ingarden, Roman 26 (Anm. 13) Iser, Wolfgang 26 (Anm. 13) Jakobson, Roman Ossipowitsch 153 (Anm. 86) Jaspers, Karl 132 (Anm. 32) Jeremias, Alfred 133 Jung, Carl Gustav 138 (Anm. 50) Kafka, Franz 13 Kaiser, Georg 77 (Anm. 43) Keun, Irmgard 13 Kristeva, Julia 11 Lämmert, Eberhard 43 (Anm. 37), 83, 146, 147 (Anm. 72) Lasker-Schüler, Else 77 (Anm. 43) Lehnert, Herbert 39 Lesser, Jonas 14 (Anm. 13) Lessing, Gotthold Ephraim 113 Levien, Max 127 (Anm. 22) Leviné, Eugen 127 (Anm. 22) Lombroso, Cesare 63 (Anm. 19) Lotman, Juri Michailowitsch 153 Luhmann, Niklas 30 Lukács, Georg 22, 115 (Anm. 1) Luther, Martin 23, 26, 30, 37, 38 (Anm. 26), 49, 55 (Anm. 67), 57, 72, 102f., 107, 113 Lyotard, Jean-François 11, 20, 54, 157 Mahler, Gustav 77 (Anm. 43), 136 Mann, Heinrich 33, 75, 77, 93, 100, 106, 109 (Anm. 27), 116, 124 Mann, Joachim Siegmund 37 Mann, Katia 140 (Anm. 55) Marcus, Hugo 34 Martens, Kurt 76, 137 Marty, Elisabeth 37f. Mazzini, Giuseppe 124 Medici, Lorenzo de’ 72 (Anm. 36)
Personenregister
Mertens, Christian 27f., 33, 36 Meyer, Agnes Elizabeth 14 Meyer, Conrad Ferdinand 99f. Moltke, Helmuth von 72 Müller, Günther 43 (Anm. 36), 148 (Anm. 74) Müller, Wilhelm 117 Napoleon I. [franz. Kaiser, d. i. Napoleon Bonaparte] 72 Nietzsche, Elisabeth [später Elisabeth Förster-Nietzsche] 98 (Anm. 4) Nietzsche, Franziska 98 (Anm. 4) Nietzsche, Friedrich 12–15, 19, 34, 39f., 41 (Anm. 34), 49f., 52–55, 57, 59, 61ff., 65, 67, 69f., 72, 74ff., 77 (Anm. 43), 78f., 85f., 88f., 93, 95, 98 (Anm. 4), 100–103, 118, 120 (Anm. 7), 122 (Anm. 13), 128, 130, 133, 136, 142, 151ff., 155ff. Nordau, Max [d. i. Maximilian Simon Südfeld] 63 (Anm. 19) Novalis [d. i. Georg Philipp Friedrich von Hardenberg] 42, 138 (Anm. 48), 154 Noack, Ludwig 23, 28f., 32, 132 Paul, Jean [d. i. Johann Paul Friedrich Richter] 53 Pfitzner, Hans 77 (Anm. 43), 93, 104, 107ff., 110 (Anm. 27), 141 Platen, August von 19, 55 Prel, Carl du 134–137, 147 Ricœur, Paul 144 (Anm. 64) Robespierre, Maximilien de 72 Rohde, Erwin 101 Savonarola, Girolamo 63f., 71ff., 75, 77f., 102 Scheler, Max 98 (Anm. 3), 136 Schiller, Friedrich 12 (Anm. 8), 136 Schleiermacher, Friedrich 58 Schnitzler, Arthur 82 Schopenhauer, Arthur 31, 41f., 46f., 57, 59f., 61 (Anm. 12), 65ff., 70, 79, 95, 101, 108, 132, 136 (Anm. 44) Schreker, Franz 77 (Anm. 43)
171
Personenregister
Schrenck-Notzing, Albert von 129, 134 Schubert, Franz 117 Serner, Walter 11 Shakespeare, William 60 Silcher, Friedrich 117 Spengler, Oswald 94 (Anm. 2), 142 Staël, Germaine de 97 Stanzel, Franz Karl 47 (Anm. 50) Steiner, Rudolf 135 Sterne, Laurence 53 (Anm. 63), 86, 141 Strauss, Richard 77 (Anm. 43), 112 (Anm. 29) Thomas von Aquin 136 (Anm. 44) Tieck, Ludwig 154 Tillich, Paul 15 (Anm. 14), 54, 57, 115 (Anm. 1), 121 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 14, 84, 112, 113 (Anm. 30), 130, 144 Tomaschewski, Boris 52 Troeltsch, Ernst 39 (Anm. 29), 98 (Anm. 3), 141ff.
Tschechow, Anton Pawlowitsch (Anm. 59) Uhland, Ludwig
53
154
Voltaire [d. i. François-Marie Arouet] (Anm. 56), 125
51
Wagner, Cosima 63 (Anm. 20), 155 Wagner, Richard 12f., 15, 30ff., 42, 44f., 47–50, 54, 57, 59–67, 69f., 71 (Anm. 33), 74, 77 (Anm. 43), 79, 81–85, 88f., 94, 98 (Anm. 4), 101, 106f., 109, 118, 121, 132, 137, 144, 147f., 150, 152, 154–157 Weber, Max 39, 98 (Anm. 3) Wichtl, Friedrich 125 (Anm. 16) Wolff, Friedrich Wilhelm 40 (Anm. 31) Wolff, Hans Matthias 126 Zola, Émile 84, 109 (Anm. 27), 144 Zwingli, Huldrych 39