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German Pages 158 [160] Year 1970
DEUTSCHE TEXTE 18
T H E O R I E UND T E C H N I K D E S ROMANS IM 19. J A H R H U N D E R T
HERAUSGEGEBEN VON HARTMUT STEINECKE
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1970
In den Deutschen Texten werden poetische, kritische und theoretische Texte aus dem gesamten Bereich der deutschen Literatur bis zur Gegenwart sowie dazugehörige Materialien und Dokumente veröffentlicht. Die Wahl der Themen, die Zusammenstellung der Texte und die Anlage der Bände entsprechen der Zielsetzung der Reihe: die Deutschen Texte sind für den Unterricht in Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft an den Universitäten und den höheren Schulen bestimmt.
Redaktion der Reihe: Lothar Rotsch
ISBN 3 4 8 4 1 9 0 1 7 5 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1970 Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany Herstellung: Bücherdruck Helms KG Tübingen Einband von Heinr. Koch Tübingen
I N H A L T S V E R Z E I C H N I S
G E O R G WILHELM FRIEDRICH H E G E L
Ι Vorlesungen über die Ästhetik (1818-1828)
1
FRIEDRICH SCHLEIERMACHER
2 Ästhetik (1819-1832)
j
J O H A N N W O L F G A N G VON G O E T H E
3 Gabriele .von Johanna Schopenhauer (1823)
j
K A R L IMMERMANN
4 Vorrede zu Ivanhoe. Eine Geschichte vom Verfasser des Waverley (Walter Scott) (1826)
8
C A R L JULIUS WEBER
$ Democritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen (vor 1832)
10
CHARLES SEALSFIELD
6 Zuschrift des Herausgebers an die Verleger der ersten Auflage von „Morton oder die große Tour" (183 j) . . . .
12
LUDOLF WIENBARG
7 Wanderungen durch den Thierkreis (183$)
16
HEINRICH HEINE
8 Einleitung zum „Don Quixote" (1837)
18
THEODOR M Ü N D T
9 Die Kunst der deutschen Prosa. Aesthetisch, literargeschichtlich, gesellschaftlich (1837)
21
ARNOLD RÜGE
10 Zur Charakteristik von Sealsfield (1841)
24
O S K A R LUDWIG BERNHARD W O L F F
11 Allgemeine Geschichte des Romans, von dessen Ursprung bis zur neuesten Zeit (1841)
26
H E R M A N N MARGGRAFF
12 Die Entwicklung des deutschen Romans, besonders in der Gegenwart (1844)
29
V
GOTTFRIED KELLER
13 Über den „Grünen Heinrich" (I8JO, 1854, 1871, 1876, 1881) 14 Jeremias Gotthelf (185 j )
33 38
ARTHUR SCHOPENHAUER
15 Zur Metaphysik des Schönen und Aesthetik (vor 18 JI) . .
41
K A R L GUTZKOW
16 Vorwort zu „Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern" (i8$o) 17 Vom deutschen Parnaß (1854) 18 Der Roman und die Arbeit (1855)
42 44 45
K A R L ROSENKRANZ
19 Gutzkow's Ritter vom Geist. Roman in neun Büchern (1852)
49
ADALBERT STIFTER
20 Briefe an Gustav Heckenast. - Uber den Roman „Der Nachsommer" (1853, I8J6, 1857) 21 Brief an Gustav Heckenast. - Über Frey tags „Soll und Haben" (I8J6)
jo $3
ROBERT PRUTZ
22 Epos und Drama in der deutschen Literatur der Gegenwart (1854)
55
THEODOR FONTANE
23 Gustav Frey tag - Soll und Haben. Ein Roman in drei Bänden (1855) 24 Gustav Freytag - Die Ahnen (187$) 25 Über Zolas Romane (1883)
57 62 65
JOSEPH VON EICHENDORFF
16 Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857)
.
68
FRIEDRICH THEODOR VISCHER
27 Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen (1857) 28 Gottfried Keller. Eine Studie (1874)
. . . .
71 80
FRIEDRICH HEBBEL
29 Der Nachsommer. Eine Erzählung von Adalbert Stifter (1858)
82
RUDOLPH GOTTSCHALL
30 Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit (1858)
VI
84
O T T O LUDWIG
31 Epische Studien (vor 1865)
86
FRIEDRICH N I E T Z S C H E
32 Aus dem Gedankenkreise (1870-1871) 33 Aus dem Nachlaß
der Geburt der
Tragödie
95 96
FRIEDRICH SPIELHAGEN
34 Der Held im Roman (1874) 35 Der Ich-Roman (1881/1882) 36 Die epische Poesie und Goethe (1895)
96 100 104
WILHELM D I L T H E Y
37 Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters (1877)
108
PAUL HEYSE/THEODOR FONTANE
38 Briefwechsel. - Über Einheitsroman und Vielheitsroman (1878,1879)
112
MICHAEL GEORG CONRAD
39 Zola und Daudet (1880)
114
K A R L HILLEBRAND
40 Vom alten und vom neuen Roman (1884)
118
J U L I U S UND H E I N R I C H H A R T
41 Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart (1884)
120
GUSTAV FREYTAG
42 Erinnerungen aus meinem Leben (1886)
123
ARNO HOLZ
43 Zola als Theoretiker (1887)
128
FRIEDRICH E N G E L S
44 Brief an Margaret Harkness. - Ober Balzac (1888). . . .
132
NACHWORT
134
QUELLENVERZEICHNIS
138
LITERATURHINWEISE
142
REGISTER
147
VII
1
G E O R G WILHELM FRIEDRICH H E G E L : V o r l e s u n g e n ü b e r d i e
Ästhetik ( 1 8 1 8 - 1 8 2 8 ) Üher den Roman [ . . . ] Dies Romanhafte ist das wieder zum Ernste, zu einem wirklichen Gehalte gewordene Rittertum. Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats, so daß jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte. Dadurch verändert sich auch die Ritterlichkeit der in neueren Romanen agierenden Helden. Sie stehn als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins Unermeßliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun f ü r ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen. Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese K ä m p f e nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende sol-
1
eher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch so viel sich mit der Welt herumgerankt haben, umhergeschoben worden sein, - zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da. - Wir sehen hier den gleichen Charakter der Abenteuerlichkeit, nur daß dieselbe ihre rechte Bedeutung findet und das Phantastische daran die nötige Korrektion erfahren muß. [ . . . ] Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem Roman, der modernen bürgerlichen Epopöe. Hier tritt einerseits der Reichtum und die Vielseitigkeit der Interessen, Zustände, Charaktere, Lebensverhältnisse, der breite Hintergrund einer totalen Welt sowie die epische Darstellung von Begebenheiten vollständig wieder ein. Was jedoch fehlt, ist der ursprünglich poetische Weltzustand, aus welchem das eigentliche Epos hervorgeht. Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus, auf deren Boden er sodann in seinem Kreise - sowohl in Rücksicht auf die Lebendigkeit der Begebnisse als auch in betreff der Individuen und ihres Schicksals - der Poesie, soweit es bei dieser Voraussetzung möglich ist, ihr verlorenes Recht wieder erringt. Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse sowie dem Zufalle äußerer Umstände: ein Zwiespalt, der sich entweder tragisch und komisch löst oder seine Erledigung darin findet, daß einerseits die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere das Echte und Substantielle in ihr anerkennen lernen, mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen 2
und wirksam in dieselben eintreten, andererseits aber von dem, was sie wirken und vollbringen, die prosaische Gestalt abstreifen und dadurch eine der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen. - Was die Darstellung angeht, so fordert auch der eigentliche Roman wie das Epos die Totalität einer Welt- und Lebensanschauung, deren vielseitiger Stoff und Gehalt innerhalb der individuellen Begebenheit zum Vorschein kommt, welche den Mittelpunkt für das Ganze abgibt. In bezug auf das Nähere jedoch der Auffassung und Ausführung muß dem Dichter hier um so mehr ein großer Spielraum gestattet sein, je weniger er es zu vermeiden vermag, auch die Prosa des wirklichen Lebens mit in seine Schilderungen hineinzuziehen, ohne dadurch selber im Prosaischen und Alltäglichen stehnzubleiben. [ . . . ]
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FRIEDRICH SCHLEIERMACHER: Ästhetik ( 1 8 1 9 - 1 8 3 2 )
Der Roman [ . . . ] Es fragt sich, worauf die verschiedenen Forderungen beruhen, und da werden wir sagen müssen, es ist ein größeres Zerfallen des öffentlichen Lebens und ein Hineintreten des Privatlebens, worauf der eigentliche Roman sich gründet. Die Forderung, das Innere des Menschen darzustellen anders als im Moment, ist etwas Eigentümliches, die Handlung der Poesie Übersteigendes, da es ein Individuum eigentlich nur in subjektiver Auffassung gibt; und deswegen könnte es auch nur in diesem Gebiet vorkommen, wo das Subjekt so hervortritt. Ein einzelnes Wesen im Zusammenhang darzustellen, so daß das Leben zur Anschauung gebracht werden soll, wie es aus dem inneren Leben sich entwickelt, ist eine Aufgabe, die die Alten gar nicht kannten, und die sich erst in neuerer Zeit gebildet hat. Der Roman ist das eigentümliche Produkt derselben. Es gibt eine ungeheure Masse von Schreibereien in dieser Gattung, welche gar nichts enthalten, besonders bei uns, und es fragt sich, ob nicht die Gattung es mit sich bringt, daß selbst große Dichter, die sich damit beschäftigen, hier eigentlich aus dem Gebiet der Kunst herausgehen und die Sache ansehen, als sei 3
es ein verwildertes Epos. Um die Bedeutung dieser Gattung festzuhalten, muß man noch einen anderen Gesichtspunkt feststellen. Der Roman steht der Geschichtsschreibung sehr nahe, daß er eigentlich nur als Ergänzung derselben sein sollte und dann steht er auf einem bestimmten Platze der Kunst. Insofern er davon abweicht, geht er aus der Kunst heraus. Er unterscheidet sich durch die Prosa schon von der übrigen Dichtung, und was den Stoff betrifft und die Form, so nähert er sich der Geschichtsschreibung. So wie die Geschichtsschreibung uns etwas Entfernteres meldet, kann sich die Sache nicht lebhaft genug darstellen; die ganze Masse und Form des gewöhnlichen Lebens entzieht sich ihr. Der Roman hat nun gar nicht nötig, sich an geschichtlich wahre Begebenheiten anzuschließen oder geschichtlich bedeutende Personen festzustellen, aber er muß das gewöhnliche Leben seiner Totalität nach zur Anschauung bringen. Wir kennen auch eine ganze Reihe von solchen Werken, wo die Darstellungen wegen der Begebenheit etwas alteriert sind und dies ist eigentlich nicht recht. Eines solchen Effektes wegen soll man sich keine Alteration erlauben. Ähnlich verhält es sich mit der Rede, die in der alten Historie den Leuten in den Mund gelegt ist; doch ist wenigstens die Hauptidee derselben wahr. Was nun die vorerwähnte Klasse betrifft, so muß man dabei nicht stehen bleiben, sondern gleich über die eigentliche geschichtliche Darstellung im strengen Sinne weggehen; und dann erhalten wir den historischen Roman, wie wir viele haben. Man kann aber auch das Geschichtliche ganz liegen lassen, und sich nur auf die Lokalität und die Zeit beschränken, wo dann die Schilderung des gewöhnlichen Lebens allein übrig bleibt. Ist der Roman so, daß Zeit und Umstände unbestimmt bleiben, so ist dies etwas anderes und neigt sich sehr zur N o velle hin; aber wir müssen dabei nicht den Ausgangspunkt der Novelle beachten, wo eine größere Menge von Personen eine konstante Teilnahme an der Geschichte hat. Eine solche Komposition trägt schon den Charakter an sich, daß sie Kontraste in Begebenheit und Charakterschilderung will und dadurch ist eigentlich schon der Unterschied zwischen Novelle und Roman bestimmt. Es ist offenbar, daß in der wirklichen Geschichte selbst, so wie die Einzelwesen als starke Motive für die Zeit 4
heraustreten, doch das Einzelwesen nicht vollkommen unabhängig ist, sondern es wird in Gesellschaft durch bestimmte Gesichtspunkte und Ansichten zusammengehalten und dadurch ein Kreis gebildet, aus dem das Einzelwesen nicht herauskommen kann oder als Sonderling aus der Geschichte heraustritt. Dies kommt bei der Geschichtsschreibung auch zutage, und es fragt sich, wie der Roman dies aufnehmen kann. Wenn der Roman die Schilderung der Sitte und Gewohnheit, die ihn der Novelle nahebringt, verschmäht, so kann er in einer Reihe von Begebenheiten die Gesinnung der Menschen darstellen und sie im einzelnen Leben selbst aufeinanderwirken lassen, wie in der Geschichte. Dies ist der am meisten ethische Roman, wobei gewöhnlich ein Nationalcharakter zu Grunde liegt, woraus sich die Begebenheiten entwickeln, und diese Gattung erfordert kein geringes Maß von Talent und Geist. Doch soll nicht bestritten werden, daß geistreiche Romane nicht auch in der Gegenwart spielen könnten. (Rb. sie müßten nur dasselbe hier beobachten), z . B . Göthes Wahlverwandtschaften, wo Ansichten und Grundsäze entwickelt sind mit dem tiefsten Geist, die von dem größten Einfluß, von der größten Bedeutung für das gegenwärtige Leben sind. Wilhelm Meister dagegen möchten wir nicht diesem neuen Typus zuschreiben. Erstens ist die Negativität in dem Helden, in den Subjekten, offenbar zu groß. Die ganze Darstellung ist zu sehr für eine gewisse Klasse berechnet, zwar von dem größten Einfluß auf das Leben des Dichters, aber nicht für die Zeit, wogegen das Allgemeine, was darin ist, durchaus an Willkürlichkeit leidet. Nichts ist aber gemeiner als ein Roman, der dem Leser nichts Fremdes vor Augen bringt, nichts als was das gemeine, gewöhnliche Leben beut, und wo noch dazu die Unbestimmtheit der Zeit und der Meinungen hinzutritt. [ . . . ]
3
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: G a b r i e l e v o n J o h a n n a
Schopenhauer(1823) [ . . . ] Gabriele setzt ein reiches Leben voraus und zeigt große Reife einer daher gewonnenen Bildung. Alles ist nach dem Wirklichen gezeichnet, doch kein Zug dem Ganzen fremd; 5
die gewöhnlichen Lebensvorkommnisse sehr anmutig verarbeitet. Und so ist es eben recht: der Roman soll eigentlich das wahre Leben sein, nur folgerecht, was dem Leben abgeht. Epische, halbepische Dichtung verlangt eine Hauptfigur, die bei vorwaltender Tätigkeit durch den Mann, bei überwiegendem Leiden durch die Frau vorgestellt wird. Diesmal ist einem anziehenden weiblichen Wesen die schwerste Rolle zugeteilt, die sie mit höchster Zartheit und Anmut durch unerträgliche Leiden durchführt. Die Mithandelnden alle sind Opfer von klemmenden Widersprüchen, die sich aus notwendigen und zufälligen Weltverhältnissen hervortun; aus dem Konflikt des Wollens, der Pflicht, der Leidenschaft, des Gesetzes, des Begehrens und der Sitte. Jenes Ethisch-Allgemeine verkörpert sich nun im Kontrast der Charaktere, im Widerstreit der physischen und moralischen Kräfte, in Gebundenheit der Angewöhnungen, der häuslichen Zustände. Hier bedarf es nun keines großen Personals, aber vollständig und in sich selbst vermannigfaltigt soll es sein. Im Verlauf mehrerer Jahre treten die Personen auf und ab, entfernen sich, erscheinen wieder, haben gewonnen, verloren, sich verändert, ohne Widerspruch mit sich selbst. Gabriele webet und weset in der vornehmeren ausgebildeten Welt, die handelnden Personen sind sämtlich begütert und dadurch in den Naturzustand des freisten Handelns und Wirkens versetzt. Schlösser und Landhäuser veranlassen manche anmutige, bedeutende, notwendige Ortsveränderung; Reisen ins Bad, in die Ferne beleben die Tagesordnung. Als ich in diesem Sinne vor einer gebildeten Gesellschaft redete, fragte eine sorgsame Mutter: ob sie dieses Buch mit ihren Töchtern lesen könne? Dabei kam folgendes zur Sprache: Erziehung heißt die Jugend an die Bedingungen gewöhnen, zu den Bedingungen bilden, unter denen man in der Welt überhaupt, sodann aber in besondern Kreisen existieren kann. Der Roman hingegen stellt das Unbedingte als das Interessanteste vor, gerade das grenzenlose Streben, was uns aus der menschlichen Gesellschaft, was uns aus der Welt treibt, unbedingte Leidenschaft; für die dann, bei unübersteiglichen Hindernissen, nur Befriedigung im Verzweifeln bleibt, Ruhe nur im Tod. 6
Dieser eigentümliche Charakter des tragischen Romans ist der Verfasserin auf schlichtem Wege sehr wohl gelungen, sie hat mit einfachen Mitteln große Rührung hervorzubringen gewußt; wie sie denn auch, im Gang der Ereignisse, das Natürlich-Rührende aufzufassen weiß, das uns nicht schmerzlich und jammervoll, sondern durch überraschende Wahrheit der Zustände höchst anmutig ergreift. Durchaus wohltätig ist die Freiheit des Gemütes, kraft welcher allein die wahre Rührung möglich wird. Daher denn auch die Fazilität der allgemeinen Anordnung, des innern Ausdrucks, des äußern Stils. Ein heiteres Behagen teilt sich dem Leser mit. Einsichtige Anthropologie, sittlich-physiologe Ansichten, sogar durch Familien und Generationen durchgeführt. Abstufung der Verhältnisse und Ableitung. Verwandtschaft, Gewohnheit, Neigung, Dankbarkeit, Freundschaft, bis zur leidenschaftlichsten Anhänglichkeit. Keine Spur von Parteisinn, bösem Willen, Neckerei, vielmehr anmutiges Gefühl eines allgemeinen Wohlwollens; kein böses Prinzip, kein verhaßter Charakter, das Lobens- und Tadelnswerte mehr in seiner Erscheinung, in seinen Folgen als durch Billigung oder Mißbilligung dargestellt. Vom alten, schroffen, durch Eigensinn und Wahn zuletzt der Verrücktheit nahen Vater bis zur jüngsten, in die Welt tretenden, heitern Schönheit (wir meinen Ida), die zuletzt als frische Versucherin auftritt, ohne Wiederholung das Ähnliche. Jener würdige Halbtolle, im Unnatürlichen ganz wahr gehalten, wird gefordert, um die tragische Katastrophe hervorzubringen. Dem wunderlichen Vetter verzeiht man alles, seiner eigentümlichen Seltsamkeit und Beschränktheit wegen; er spielt den Grazioso in dieser Tragödie und steht den tätigsten des Calderon nicht nach. Eine gewisse Kränklichkeit gibt man der Hauptfigur als ihrer Individualität angehörig gerne zu, ja man fordert sie. Die schwereren Krankheitsparoxysmen betrachtet man wie eine Art längeren tieferen Schlafes, ohne den eine solche Organisation nicht bestehen könnte. Die übrigen Personen sind körperlich gesund, allenfalls verwundet; sie leiden nur an der Seele, nirgends wird man Schwächlichkeit gewahr. [ . . . ]
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4
Vorrede zu Ivanhoe. Eine Geschichte vom Verfasser des Waverley (Walter Scott) (x 826)
K A R L IMMERMANN:
[ . . . ] Der Roman Ivanhoe, von welchem hier eine Übersetzung erfolgt, zeigt die Eigentümlichkeiten der übrigen Walter Scottschen Dichtungen, und hat nach meiner Ansicht besondre Vorzüge, selbst vor den besseren. Der Verfasser knüpft, wie überall, seinen Faden zunächst an den Boden, auf welchem die handelnden Personen auftreten sollen, bereitet das Thema: die letzten Kämpfe der Angelsächsischen Zeit gegen die Normännische, geschickt in untern Kreisen vor, und steigert die Ausführung nach und nach durch die Szenen in Cedrics des Sachsen Halle, auf dem Turnier von Ashby, bei dem Sturme von Torquilstone, und auf dem Leichenbegängnisse Athelstans. Künstlerisch gedacht ist es, daß König Richard Löwenherz, auf welchem sich von Anfang an alles bezieht, und der als Mittelpunkt des Ganzen erscheint, zuerst unsichtbar ist, dadurch spart sich der Dichter den Raum aus für die Schildrung des Partheigeistes, den der Held des Romans beizulegen bestimmt ist. Es schadet auch nicht, daß Richard erst im zweiten Theile beim Einsiedler von Copmanhurst den Helm abnimmt, denn sein Bild prägt sich vorher schon genugsam in den Reden, Wünschen und Befürchtungen der übrigen Personen aus, auch können wir es dulden, daß der Dichter den Namen uns lange verschweigt, da wir über denselben nicht in Zweifel stehen werden. Mit vieler Kraft ist der Charakter des Helden gezeichnet, und dabei mit Laune und Mäßigung; seine ausgesprochne Physiognomie ist ein besondrer Vorzug der Dichtung, da Walter Scott sonst meistentheils nur die Nebenfiguren mit eigenthümlicher Gestalt versieht, und die Hauptpersonen unentschieden läßt. Ungeachtet des großen Reichthums an Gestalten, hat es der Dichter dennoch verstanden, Verwirrung zu meiden. Die drei Hauptreihen: der starre Cedric mit seinen Anhängern, der übermüthige Usurpator Johann mit den ihm subordinirten Figuren, und der wahre nur auf sich und seine Persönlichkeit gestellte König, mit Wilfried von Ivanhoe und den wackern Geächteten, sind leicht und faßlich von einander gesondert, berühren und durchschneiden sich auf natürliche und gefällige Weise. Es ist ein wahrer, dichterischer Gedanke, das Feste, 8
Tüchtige (Richard, Wilfried, Robin Hood,) in Nebel zu hüllen, und nur durch Thaten sprechen zu lassen, während das Unkräftige und Böse im vollen Tageslichte steht. Es wird dadurch ein gewisses Gleichmaaß hervorgebracht, welches besonders bei der Schildrung des Turniers und des Sturms auf Torquilstone schön wirkt. Am eigenthümlichsten zeigt sich der Genius des Verfassers in der Darstellung großer, bewegter Szenen der Menschenwelt. Die schon zum Theil angedeuteten Parthien: das Turnier, der Sturm, die Waldszenen bei Robin Hood, das Gericht der Tempelherrn, und das Begräbniß Athelstans von Conningsburgh, sind mit großem Verstände entworfen und bewundernswürdig klar ausgeführt. Dem Verfasser stehn hier reiche Farben zu Gebote, die Gruppen sind wohl vertheilt, die Verbindung überall sichtbar, und über dem Ganzen schwebt ein ruhiger Blick. Freilich zeigen sich in unserm Romane auch alle Schattenseiten der Walter Scottschen Dichtung. Die Unschuld und Frische der Darstellung wird sehr häufig gestört durch ein gewisses Herabsehn des Dichters aus seinem neunzehnten Jahrhundert, auf die Zeit, welche er schildert, und ausdrücklich als uncultivirt darstellt, durch müßige historische Expositionen, und übel angebrachte Gelehrsamkeit, die Harmonie leidet unter allzu ängstlicher Beschreibung des Einzelnen, durch Dehnung der Episoden (so ist ζ. B. das Gericht der Tempelherrn in Bezug auf das Ganze offenbar viel zu weitschichtig gehalten, auch nimmt das Judenpaar zu viel Raum ein) und durch leere Wiederholungen. Beziehen wir diesen Flecken auf die Quelle, aus welcher sie stammen, so müssen wir sagen: Walter Scott ist zwar ein höchst ausgestattetes Talent, jedoch nicht Dichter im reinsten und vollsten Sinne. E r ist halb Historiker, halb Poet, diese Spaltung wirkt erkältend auf sein bildendes Vermögen. Seine Phantasie umfaßt und beschaut viele Gegenstände, sie bildet auch im Großen und Ganzen richtig, es fehlt ihr aber die Kraft, das Einzelne organisch zu vollenden, sie umschwebt ihr Object, statt es beseelend zu durchdringen, sie stellt lieber die Sache, als die Person dar, und ist überhaupt mehr malerisch als dichterisch zu nennen. Daher das Gefühl einer gewissen todten 9
Vergangenheit, eine Trennung der dichterischen Betrachtung vom Betrachteten, eine entschiedne Unfähigkeit, feinere und verwickeitere Seelenzustände, tieferliegende Conflicte darzustellen. Daher endlich der gemischte Charakter seiner Productionen. Als Epen kündigen sie sich an, sind es aber nicht. Der Historiker stört den Poeten, und doch kann wieder die historische Wahrheit vor der Poesie nicht zum vollen Durchbruch kommen. Man sieht deutlich das Bestreben des Verfassers, Sitten und Gesinnungen der Vorzeit darzustellen, darüber leidet die Darstellung der Handlung, und das Ruhende, das Todte bekommt auf Kosten des Fortschreitenden, Lebendigen die Herrschaft. Statt daß die homerischen Helden ihre Kleider und Waffen anlegen, das Mahl bereiten, ihre Rosse zäumen, und uns sagen, welche Gegenden sie überschauen, ist bei Walter Scott Alles fertig, wenn er es uns zeigt. Die Gegenden werden beschrieben, die Speisen kommen bereitet auf den Tisch, die Helden erscheinen gerüstet und beritten; dem Dichter aber bleibt nur die ärmliche Freiheit, mit dem Stabe in der Hand dabei zu stehn, und das und jenes auszulegen. [ . . . ] [ . . . ] Seine Schöpfungen erscheinen mir wie Bruchstücke aus ungeheuren gewirkten Teppichen. Sie sind zuweilen mit einiger Willkühr ausgeschnitten, und es ereignet sich, daß hier ein Bein, dort ein Arm, an einem andern Orte ein halbes Gesicht von fremden Gruppen zu dem Segment gelangt ist. Was Gobelins uns in der Regel zeigen, großartige Compositionen, deutliche Formen, fröhliche derbe Färbung, das werden wir stets bei Walter Scott finden, jedoch an seinen Gobelins, wie an den gewirkten, die höhern Grade der Perspective, des Ausdrucks und des Colorits vermissen. [ . . . ]
CARL JULIUS WEBER: Democritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen (vor 1832)
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Die Romane [ . . . ] Die Theorie des Romans erwartet noch ihren Mann, und es wäre Verdienst, im zahllosen Romanenheer die Helden auszuzeichnen, was wir unten zu thun versuchen werden. Der Cha10
rakter des Romans beruht auf Idealisirung der Menschheit nach all ihren Individuen und nach allen möglichen Modificationen des Lebens, die ästhetisch darstellbar sind; seyen nun die Darstellungen ernst, oder komisch und satirisch, lyrisch, episch, didaktisch und dramatisch, - sentimental, moralisch-bürgerlich, abenteuerlich, verliebt oder humoristisch, alle Formen sind recht, aber keine Klasse macht klassisch, wo das Romantische fehlt, ganz verschieden von romanhaft. Romanhaft ist phantastisch, seltsam, verschraubt, - romantisch aber die idealische Mannigfaltigkeit im Zauber des Schönen. Das Ideal des Mährchens und des Romans ist der - Traum, Morpheus Apollo !* Der Geschmack an Romanen beruht auf dem natürlichen Interesse jeder Geschichte, ihre Verwicklung und Auflösung, auf den angenehmen oder scheußlichen Bildern, die sich der Phantasie vormalen, und den sanften oder heftigen Leidenschaften, die das Herz ergreifen. Der Geschmack an Romanen beweist, daß die Scenen dieser Unterwelt das Ideal der Seele nicht füllen, und daß sie etwas suche, wodurch sie sich höher hebe, und das findet sie nur in der Welt, die sie sich selbst oder der Dichter schafft. [ . . . ] Es ist schade, daß die Mehrzahl der Romane bloße Halbpoesie zu seyn pflegen, d. h. statt uns zu erheben oder uns das Wirkliche treu darzustellen, uns die verdorbene Welt in ihrer wirklichen Erbärmlichkeit noch zum Uberfluß idealisiren und erbärmlicher malen, als sie ist, wobei sich nur die gemeine Lesewelt ergötzen kann, was dem jugendlichen Genie, das sich zuerst durch Romanschreiben Luft zu machen sucht, gerade recht ist, und so wird dann die Leserei oder das Gegengift gegen die Langweile die Kupplerin körperlicher und moralischer Unzucht. Alles das wäre nicht, wenn man den H a u p t charakter des Romans, der weder Mährchen noch Idylle, weder Novelle noch Epos ist, sondern prosaische Charakterzeichnung der Menschheit - und deren Entwicklung durch Handlungen und Situationen — über dem Romantischen nicht aus den Augen verloren hätte. [ . . . ] Romane sind der Barometer des Zeitgeistes und der Kultur * Der weissagende Traumgott II
einer Nation, der Spiegel der Zeit, der Sitten und noch mehr der Krankheiten der Seele, und charakterisiren eine Nation. Im brittischen Roman schlägt der Humor vor, im französischen Witz und Spott, im deutschen Ernst, Gefühl und Häuslichkeit. [ . . . ] 6
C H A R L E S S E A L S F I E L D : Zuschrift des Herausgebers an die Verleger der ersten Auflage von „Morton oder die große Tour" (1835)
Walter Scott und meine Romane [ . . . ] Bis auf die letzten Jahrzehnte hat die Romanenliteratur, obwohl sie zur Richtung und Bildung des öffentlichen und häuslichen Lebens der bürgerlichen Gesellschaft nicht wenig beigetragen, nur eine untergeordnete Rolle in soferne gespielt, als sie weniger, als die übrigen Zweige der schönen Künste und Wissenschaften, von wahrhaft gebildeten und durch ihre sittliche sowohl als bürgerliche Stellung ausgezeichneten Charakteren betrieben wurde, und wenn dieß auch der Fall gewesen, doch nur als Nebensache betrieben wurde. Sehen Sie die Liste der Schriftsteller durch, die sich diesem Literaturfache widmeten, und Sie werden finden, daß nur Wenige dasselbe zu ihrem Hauptstudium gemacht, und wenn auch Einige der größeren Geister sich herbeigelassen, Romane zu schreiben, sie diese mehr als Nebensache, als eine Art Zeitvertreib, auf das Papier hinwarfen, in einer Weise, die einer Herablassung nicht unähnlich sah. Bis auf Sir Walter Scott war Romanschriftstellerei eine nichts weniger als geachtete Beschäftigung, und, wie gesagt, nur wenige, durch Geist und wissenschaftliche Vorbildung und politische oder bürgerliche Stellung ausgezeichnete Männer ließen sich herab, diesen als frivol betrachteten Zweig der Literatur zu kultiviren. Erst dieser wahrhaft große Mann erhob ihn dadurch, daß er ihm einen geschichtlichen Anklang gab, zu dem, was er gegenwärtig ist, einem Bildungshebel, der sich mit den mächtigsten der Gesammtliteratur messen darf. Wenn heut zu Tage der amerikanische und englische Staatsmann in seinen Congreß- und Parlamentsreden Walter Scott eben so zitirt, wie Horaz oder Taci12
tus, so ist dieses der geringste Vortheil; der größere ist der Umschwung, den dieser gewaltige Geist der Denk- und Urtheilskraft seiner Nation, ja der Welt, dadurch gab, daß er die Geschichte der Vergangenheit des für die moderne Zivilisation wichtigsten Reiches der Erde gewissermassen in das Bereich der Küche, des Kaminfeuers gebracht hat; daß er die Tausende und abermals Tausende von unzüchtigen, albernen, phantastischen und dummen Büchern verdrängte, die die Toiletten unserer Damen bedeckten und ihnen die Köpfe verdrehten. Diese geistig so wohlthätige Revolution, die Walter Scott vorzüglich in den beiden Schwesterreichen bewirkte, kann nur Derjenige einigermaßen würdigen, der das englische Volk und besonders seine Mittelklassen vor dem Erscheinen der Walter Scottischen Werke gekannt, und sie so mit dem heutigen zu vergleichen im Stande ist. [ . . . ] Ich kenne wieder keinen Schriftsteller, der von der Heiligkeit seines Berufes mehr durchdrungen gewesen wäre, als Walter Scott es in seinen ersten dreizehn Romanen war, worunter ich natürlich seine sechs Tales of my Landlord, Ivanhoe, Rob Roy, Waverley, Guy Mannering, the Antiquary, Woodstock, und den herrlichen Roman, in dem die unglückliche Amy Leicester so unübertrefflich gezeichnet ist, verstehe. Welche Selbstachtung, welche Achtung für das Vaterland weht nicht durch diese Werke! Wie meisterhaft weiß er uns nicht selbst mit schottischer Engherzigkeit zu versöhnen! Wie unübertrefflich sind nicht seine weiblichen Charaktere! Welch' eine Zartheit, Reinheit, hohe Sittlichkeit, z.B. in der altern Deans! Mit welchem Meistergriffel ist nicht eben die Huldigung, die die jüngere Deans der Tugend zu bringen bemüßigt ist, dargestellt! Wie furchtbar zieht sich nicht die zerfressende Heuchelei eines verfehlten weiblichen Daseyns durch ihr elendes glänzendes Leben hin! Der Verfasser der Briefe eines Verstorbenen sagt irgendwo, daß Göthe von dem großen Unbekannten eine nichts weniger als hohe Meinung hege, und daß er nicht begreifen könne, wie ein Mann, wie Walter Scott, ein Mann von seiner Stellung und Talenten, sich mit so langweiligen Darstellungen befassen könnte. Wenn der große Göthe dieß gesagt hat, so hat er ein Urtheil ausgesprochen, das grell gegen die feststehende Meinung der anerkannt am richtigsten beurtheilenden europäi13
sehen Nation anstoßt. Nicht bloß die englischen und schottischen gelehrten Autoritäten, die London- und Edinburgh-Quarterlies, die ganze Nation ist es, die Walter Scott als ihren ersten belletristischen Schriftsteller, nach Shakespeare, anerkennt, und zwar eben wegen seiner Romane anerkennt. In seinen in gebundener Rede geschriebenen poetischen Werken hatte Walter Scott bekanntlich nichts weniger als reüssirt; in seinen vermischten und geschichtlichen gleichfalls nicht. Es waren seine Waverleys, seine Tales of my Landlord, sein Ivanhoe, die die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkten, die ihn zum Liebling der Nation, zum Gegenstand ihrer Zärtlichkeit machten, ihm Auszeichnungen verschafften, die nur den um das Vaterland verdientesten Männern zu Theil werden. Und das war nichts als billig an dem Manne gehandelt, der sein Vaterland zum klassischen Boden erhob, die Jungfrauen desselben veredelte, die konstitutionelle Erziehung desselben beförderte. Göthe vermochte viel; aber es ist leichter gesagt als gethan, Romane von dem Gehalt der Bride of Lamermoor oder The Heart of Midlothian zu schreiben, und selbst der Premierminister eines deutschen Großherzogthums würde einige Schwierigkeit gefunden haben, in einem Lande, wo die Preßfreiheit auf sehr zweideutigem Fuße steht, mit Hülfe literarischer Schüler klassisch-historische Romane zu liefern; denn der Roman kann nur auf ganz freiem Boden gedeihen, weil er die freie Anschauung, Darstellung der bürgerlichen und politischen Verhältnisse in allen ihren Beziehungen und Wechselwirkungen bedingt. Aus eben diesem Grunde haben die Franzosen erst in den letzten Jahren Romane erhalten, die klassisch genannt werden können. Vor der Thronbesteigung Louis Philipps war ein Roman, wie Victor Hugo's „Notre-Dame de Paris," kaum gedenkbar. Das mag paradox erscheinen; aber es ist doch wahr. [ . . . ] Sie haben richtig bemerkt, daß in dem „Legitimen" ganz andere Prinzipe gegen einander streiten, als in Walter Scott. Wieder andere im „Virey"; in diesem letztern ist das Descriptive, die Geschichte, Hauptsache, obwohl der Faden, der vom „Legitimen" ausgeht, durch den „Virey und die Aristokraten" fortgeführt wird, aber noch nicht bis zu Ende gesponnen ist. 14
Die Tendenz dieses Buches ist eine höhere, als die des eigentlichen Romanes; sie nähert sich der geschichtlichen. Ich wünsche das Meinige beizutragen, dem geschichtlichen Roman jene höhere Betonung zu geben, durch welche derselbe wohlthätiger auf die Bildung des Zeitalters einwirken könne; mitzuhelfen, daß die tausend albernen, schädlichen, dummen Bücher, Moderomane genannt, und geschrieben, um die bereits unnatürlich genug gespannten, gesellschaftlichen Verhältnisse noch unnatürlicher straffer zu spannen, durch eine kräftigere Geistesnahrung ersetzt, durch ein Gegengift weniger schädlich werden. Es verhält sich mit der bürgerlichen Gesellschaft wie mit dem einzelnen Individuum, das nur dann vollkommen gesund ist, wenn es keines seiner Glieder fühlt, wenn ihm keines derselben sein Daseyn auf eine unangenehme oder schmerzliche Weise zu erkennen gibt, wenn alle Funktionen des Körpers ungehindert und leicht vor sich gehen. Wenn der Magen durch stetes Vollpfropfen sein Daseyn durch Schwere zu erkennen gibt, dann ist es Zeit zur Abhülfe; aber diese ist am leichtesten möglich, wenn der Kranke selbst seinen schlimmen Zustand durch und durch erkennt; dann kann er durch leichte Mittel abhelfen. Ihn zur Erkenntniß dieses Zustandes zu bringen, ist aber wieder keine ganz leichte Sache; denn der Kranke ist reizbarer als der Gesunde; es muß ihm seine mißliche Lage so schonend als möglich, und doch wahr beigebracht werden, und wird sie ihm dieß, dann haben wir freundschaftlich an ihm gehandelt, human, weit humaner, als wenn wir ihn sich selbst überlassen, und er so gezwungen wird, bei einem Arzte Zuflucht, ja Hülfe zu suchen, die immer precair ist, da sie von der Einsicht eben sowohl als der Rechtschaffenheit dieses Letztern abhängt. Dieses Prinzip der Aufklärung des geistigen Fortschrittes habe ich zum Gesichtspunkte genommen und werde ihm treu bleiben. Ich habe deßhalb vorgezogen, Thatsachen, lebende, ja geschichtliche Personen zu zeichnen, nach dem anerkannten Grundsatze, daß öffentliche Charaktere auch offen behandelt werden dürfen. [ . . . ]
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LUDOLF WIENBARG: W a n d e r u n g e n
durch
den
Thierkreis
(1835) Der Held im Roman [ . . . ] Die Kunst macht zwei Hauptforderungen an den Helden des Romans. Er soll gleich den übrigen im Roman auftretenden und handelnden Personen, Gestalt und Charakter haben und zweitens soll sich sein Charakter weder zu energisch, noch zu nihilistisch aufweisen. Beiden Forderungen suchten alle berühmte und gute Romanschreiber zu entkommen. Sie hüten sich wol, absurde Ungestalten, Papiermenschen, Lumpengesindel, wer sie auch macht - an die Stelle wirklicher Geschöpfe zu setzen. Sie verschreiben ihren Helden nicht aus dem Monde, sondern greifen ihn zweibeinig und gerupft, wie Gott ihn hier unter dem Monde umher laufen läßt, aus den übrigen Geschöpfen seiner Gattung heraus. Doch wie der liebe Gott selber sich die wunderlichsten Kostgänger aufgabelt und für die kurze Zeit ihres Lebens an seiner offenen und doch so geheimnißvollen Tafelrunde sitzen läßt, so wählen auch die Dichter sich nach Gelüsten manchmal einen etwas seltsamen und abenteuerlichen Helden, einen Haupthahn, der weit und breit seinesgleichen sucht, dennoch aber ganz natürlich organisirt ist; wie ein solcher durch den herrlichen Cervantes in dem Ritter von der traurigen Gestalt, Don Quixote von la Mancha, der Unsterblichkeit überliefert worden. Einem vollendeten Wichte wird nun überhaupt wol Niemand und in keiner Gattung des Romans, die Ehre der Hauptfigur übertragen; denn selbst der moderne Romanhistoriker, der mehr auf ein unterhaltendes, buntes Gewühl von Menschen und Auftritten, als auf die Einheit einer höheren Idee ausgeht und hinarbeitet, muß sich einen Helden erkiesen, der wenigstens so viele geistige Häkchen und Eigenheiten besitzt, als nöthig sind um den Faden der Begebenheiten, wenn auch nur leicht und lose, an seine Person aufzuhängen. Walter Scott's Waverley zum Beispiel gehört sicher nicht in die Reihe ungewöhnlicher und ausgezeichneter Menschen, er ist ein englischer Lieutenant und Lordssohn, wie's Hundert solcher gibt, bis auf den Zug des leidenschaftlichen Hanges für das Romantische — dieser eine Zug, den er übrigens mit fast allen Walter Scottschen Roman-
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helden theilt, befähigt ihn, den Schleier von der Poesie der schottischen Hochlande zu lüften, und sich mit Menschen, Gegenden, Begebenheiten in Verband zu setzen, deren so glänzend gerathene Schilderung der eigentliche Inhalt der drei Bände, und die Hauptabsicht ihres Verfassers war. Das nämlich ein solches Geschick zur Gelegenheitmacherei, ein solcher angeborner Hang zur Poesie gewisser Verhältnisse und gesellschaftlicher Zustände, denen der Romanschreiber selbst in der Regel am liebsten nachzuhangen pflegt, eine solche mehr leidende Empfänglichkeit, die sich allenfalls mit einem ziemlich quecksilbrigen und unruhig thätigen Wesen verbinden mag - erfüllt alle Forderungen, welche die heutige Theorie an den Romanschreiber hinsichtlich der Wahl des Helden zu machen pflegt. J a , sie verwirft höhere. Die Kritik drückt ihren Daum auf jeden Hahn im Korbe, dem der Kamm zu hoch steigen und zu kampflustig aufschwillen will. Der Held soll nicht allzu bedeckend, nicht allzu groß und thatkräftig sein, nicht der Strom, der alle übrigen, als Bäche, verschlingt und mit sich fortreißt, nicht die Trompete, die alle sonstigen Instrumente des Orchesters niederschmettert, nicht der heroische Wagenlenker, der die Rosse des Geschickes mit Peitschenhieben vor sich hertreibt. [ . . . ] Der Zeitroman [ . . . ] Junge Dichter, fühlt ihr Talent und Trieb, nach der höchsten Palme zu ringen, einen Roman zu schreiben,wandelt nicht die verfallene, menschenleere Straße einer abgestorbenen Zeit, klopft nicht an die Gräber um die Todten aufzuwecken — sie haben für euch nie gelebt, euer Herz kennt sie nicht — sie gehören entweder der Geschichte an, oder der Vergessenheit. Nur die Todten der Sage gehören dem Volke, der Poesie. Greift in die Zeit, greift in euren eigenen Busen. Vor allem aber, greift nicht eher zur Feder, werdet nicht früher Schöpfer, Gestalter, als bis ihr selber gestaltet. Greift in die Zeit, haltet euch an das Leben. Ich weiß, was ihr entgegnet. Nicht wahr, es ist verdammt wenig Poesie in dieser Zeit, in diesem Leben, das wir in Deutschland führen? Woher der Stoff zu einem zeitgeschichtlichen Roman? Ich 17
frage aber dagegen, woher entnahm Göthe ihn für Wilhelm Meister? - Versteht mich recht. Um alles in der Welt keinen Wilhelm wieder. Der ist abgethan, der ist Göthe's und seiner Zeit. Was und wer ist euer? Welcher Idee könnt ihr Leib und Seele verleihen? Was habt ihr erlebt und gestrebt? Welche Bekanntschaften, Ansichten und Lebensverhältnisse vermögt ihr in die Region der Poesie mit hinüberzunehmen? Ich gebe zu, und mir blutet das Herz dabei, ja wir leben in einer Zeit, wo der matte Quell der Poesie kaum über die ersten sechszehn Jahre unsers Lebensalters hinaufspringt. Aber gut. Haltet einmal Abrechnung mit der Zeit, entzieht einmal durch einen herzhaften Entschluß dieser heutigen deutschen Literatur den Schimmer poetischer Lügen, deckt einmal auf, ihr Dichter, was ihr schauet, laßt einmal den Staub wirbeln in der Wüste und zählt die Grashalme, die auf grünen Inselfleckchen wachsen, zeigt uns den Himmel, wie er grau und schmuzig über uns niederhängt, und fangt die Sonnenstrahlen auf, die sich auf euren Scheitel stehlen, reißt der Zeit den Mantel der Heuchelei, der Selbstsucht, der Feigheit vom Leibe und macht mit dem Kusse eures Mundes aller Welt bemerklich, wo nur noch ein ächter Faden, der rothe Faden der Poesie hinzieht, klopft, hämmert an alles taube Gestein und sucht die Erzadern zu erforschen, wie sparsam, tief und versteckt sie auch fortlaufen. Noch einmal haltet Abrechnung mit der Zeit, mit eurem eigenen Leben. Das Bischen Poesie, das sich darein verzettelt, das Bischen aufzuweisen, bringt euch Ehre und der Zeit Schande. Jetzt müßt ihr euch schämen. Wendet das Blatt. Die Philister nennen euch Lügner, Schaumblaser, Puppenspieler, Romanschmierer, und bei Gott, die Philister haben Recht. [ . . . ]
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HEINRICH H E I N E :
Einleitung zum „Don Quixote"
(1837)
[ . . . ] Bei Cervantes finden wir noch nicht diese einseitige Richtung, das Unedle ganz abgesondert darzustellen; er vermischt nur das Ideale mit dem Gemeinen, das Eine dient dem Andern zur Abschattung oder zur Beleuchtung, und das adeltümliche Element ist darin noch eben so mächtig wie das volkstümliche. 18
Dieses adeltümliche, chevalereske, aristokratische Element verschwindet aber ganz in dem Roman der Engländer, die den Cervantes zuerst nachgeahmt und ihn bis auf den heutigen Tag immer als Vorbild vor Augen haben. Es sind prosaische Naturen, diese englischen Romandichter seit Richardsons Regierung, der prüde Geist ihrer Zeit widerstrebt sogar aller kernigen Schilderung des gemeinen Volkslebens, und wir sehen jenseit des Kanals jene bürgerlichen Romane entstehen, worin das nüchterne Kleinleben der Bourgeoisie sich abspiegelt. Diese klägliche Lektüre überwässerte das englische Publikum bis auf die letzte Zeit, wo der große Schotte auftrat, der im Roman eine Revolution oder eigentlich eine Restauration bewirkte. Wie nämlich Cervantes das demokratische Element in den Roman hineinbrachte, als darin nur das einseitig rittertümliche herrschend war: so brachte Walter Scott in den Roman wieder das aristokratische Element zurück, als dieses gänzlich darin erloschen war, und nur prosaische Spießbürgerlichkeit dort ihr Wesen trieb. Durch ein entgegengesetztes Verfahren hat Walter Scott dem Roman jenes schöne Ebenmaß wiedergegeben, welches wir im „Don Quixote" des Cervantes bewundern. Ich glaube, in dieser Beziehung ist das Verdienst des zweiten großen Dichters Englands noch nie anerkannt worden. Seine toryschen Neigungen, seine Vorliebe für die Vergangenheit waren heilsam für die Literatur, für jene Meisterwerke seines Genius, die überall sowohl Anklang als Nachahmung fanden und die aschgrauen Schemen des bürgerlichen Romans in die dunkleren Winkel der Leihbibliotheken verdrängten. Es ist ein Irrtum, wenn man Walter Scott nicht als den wahren Begründer des sogenannten historischen Romans ansehen will und letztern von deutschen Anregungen herleitet. Man verkennt, daß das Charakteristische der historischen Romane eben in der Harmonie des aristokratischen und demokratischen Elements besteht; daß Walter Scott diese Harmonie, welche während der Alleinherrschaft des demokratischen Elements gestört war, durch die Wiedereinsetzung des aristokratischen Elements aufs schönste herstellte, statt daß unsere deutschen Romantiker das demokratische Element in ihren Romanen gänzlich verleugneten und wieder in das aberwitzige Gleise des Ritterromans, der vor Cervantes blühte, zurückkehrten. [ . . . ] 19
Ich habe Walter Scott den zweiten großen Dichter Englands und seine Romane Meisterwerke genannt. Aber nur seinem Genius wollte ich das höchste Lob erteilen. Seine Romane selbst kann ich dem großen Roman des Cervantes keineswegs gleichstellen. Dieser übertrifft ihn an epischem Geist. Cervantes war, wie ich schon erwähnt habe, ein katholischer Dichter, und dieser Eigenschaft verdankt er vielleicht jene große epische Seelenruhe, die, wie ein Kristallhimmel, seine bunten Dichtungen überwölbt: nirgends eine Spalte des Zweifels. Dazu kömmt noch die Ruhe des spanischen Nationalcharakters. Walter Scott aber gehört einer Kirche, welche selbst die göttlichen Dinge 'einer scharfen Diskussion unterwirft; als Advokat und Schotte ist er gewöhnt an Handlung und Diskussion, und, wie in seinem Geiste und Leben, so ist auch in seinen Romanen das Dramatische vorherrschend. Seine Werke können daher nimmermehr als reine Muster jener Dichtungsart, die wir Roman nennen, betrachtet werden. Den Spaniern gebührt der Ruhm, den besten Roman hervorgebracht zu haben, wie man den Engländern den Ruhm zusprechen muß, daß sie im Drama das Höchste geleistet. [ . . . ] Uber den Geist des Cervantes und den Einfluß seines Buches habe ich nur mit wenigen Andeutungen reden können. Über den eigentlichen Kunstwert seines Romans kann ich mich hier noch weniger verbreiten, indem Erörterungen zur Sprache kämen, die allzuweit ins Gebiet der Ästhetik hinabführen würden. Ich darf hier auf die Form seines Romans und die zwei Figuren, die den Mittelpunkt desselben bilden, nur im Allgemeinen aufmerksam machen. Die Form ist nämlich die der Reisebeschreibung, wie solches von jeher die natürlichste Form f ü r diese Dichtungsart. Ich erinnere hier nur an den „goldenen Esel" des Apulejus, den ersten Roman des Altertums. Der Einförmigkeit dieser Form haben die späteren Dichter durch das, was wir heute die Fabel des Romans nennen, abzuhelfen gesucht. Aber wegen Armut an Erfindung haben jetzt die meisten Romanschreiber ihre Fabeln von einander geborgt, wenigstens haben die einen mit wenig Modifikationen immer die Fabeln der andern benutzt, und durch die dadurch entstehende Wiederkehr derselben Charaktere, Situationen und Verwicklungen ward dem Publikum am Ende die Romanlektüre einiger20
maßen verleidet. U m sich vor der Langweiligkeit abgedroschener Romanfabeln zu retten, flüchtete man sich für einige Zeit in die uralte, ursprüngliche Form der Reisebeschreibung. Diese wird aber wieder ganz verdrängt, sobald ein Originaldichter mit neuen, frischen Romanfabeln auftritt. In der Literatur, wie in der Politik bewegt sich alles nach dem Gesetz der Aktion und Reaktion. Was nun jene zwei Gestalten betrifft, die sich Don Quixote und Sancho Pansa nennen, sich beständig parodieren und doch so wunderbar ergänzen, daß sie den eigentlichen Helden des Romans bilden, so zeugen sie im gleichen Maße von dem Kunstsinn, wie von der Geistestiefe des Dichters. Wenn andere Schriftsteller, in deren Roman der Held nur als einzelne Person durch die Welt zieht, zu Monologen, Briefen oder Tagebüchern ihre Zuflucht nehmen müssen, um die Gedanken und Empfindungen des Helden kund zu geben, so kann Cervantes überall einen natürlichen Dialog hervortreten lassen; und indem die eine Figur immer die Rede der andern parodiert, tritt die Intention des Dichters um so sichtbarer hervor. Vielfach nachgeahmt ward seitdem die Doppelfigur, die dem R.oman des Cervantes eine so kunstvolle Natürlichkeit verleiht, und aus deren Charakter, wie aus einem einzigen Kern, der ganze Roman mit all seinem wilden Laubwerk, seinen duftigen Blüten, strahlenden Früchten und A f f e n und Wundervögeln, die sich auf den Zweigen wiegen, gleich einem indischen Riesenbaum sich entfaltet. [ . . . ]
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THEODOR MÜNDT: Die Kunst der deutschen Prosa. Aesthetisch, literargeschichtlich, gesellschaftlich (1837)
Der Roman [ . . . ] Sobald wir in unserer bisherigen Darstellung die deutsche Sprache und Literatur auf diesem Punct haben anlangen sehen, begegneten wir auch einer vorzugsweise dazu ausgebildeten Kunstform der Prosa, welche dann vorwaltend auftritt, und in der die Aufnahmefähigkeit der prosaischen Sprache für das wirkliche und gesellschaftliche Leben sich als poetische Gattung 21
gestaltet. Dies ist der Roman, der eine so umfassende und elastische Formengebung hat, daß man zugleich die verschiedenen Elemente der Poesie, namentlich das Lyrische und D r a matische, darin verschmelzen sieht. So erstrebt er ein Totalbild der menschlichen Richtungen in jeder Ausdehnung, und die Prosa erscheint in ihm als das vereinende Gesammtorgan aller Zustände, sie mögen poetisch oder prosaisch sein. Die poetischen Elemente, welche den Roman hierhin und dorthin bewegen, muß die Darstellung an eine Einheit der Form zu fesseln suchen, die den eigentlich künstlerischen Charakter der Prosa ausmacht. Das Ideal in seiner mythischen Verhüllung ist das Märchen, welches der Aufzeichnung durch die Prosa von N a tur kaum angehört, und aus so poetischer Anschauung erwachsen ist, d a ß man annehmen kann, die meisten Märchen seien ursprünglich in metrischer Form vorhanden gewesen, wenn sie nicht etwa bei ihrer schriftlichen Überlieferung absichtlich aus Poesie in Prosa umgeschrieben sind. Den schillernden lyrischen Farben des Märchenstils gegenüber muß der Romanstil seine stärkere reale Haltung zu behaupten suchen. Der Roman stößt in seiner Auseinanderlegung der Wirklichkeit auch auf das Ideal, bald tragisch, bald ironisch, aber er spielt nicht damit in lyrischer Trunkenheit, wie das kindische Märchen, der Roman bezeichnet das Mannesalter, welches von Bewußtsein erfüllt und mit bedachten Fortschritten auf das Höhere und Allgemeine, das vor ihm in der Ferne liegt, losgeht. Es wurde früher erwähnt, wie in den Romanen zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts das Phantastische die Stelle des Idealen wunderlich genug vertrat. Geliert bezeichnete in seiner langweiligen „schwedischen Gräfin" gewissermaßen die nüchterne Restauration dieser phantastischen Romanwelt, ohne zu einer idealen Behandlung gelangen zu können, da er nichts als das Muster eines eleganten und correcten Romanstils darin aufstellen wollte. Die Wirklichkeit des deutschen Lebens behielt lange ihr steifes und sprödes Zopfthum an sich, ehe sie in Goethe's Romandarstellungen der freiere Geist der Geselligkeit durchdrang. Rabener, dieser Satiriker im altfränkischen Menuettschritt, giebt die galante Conversationssprache seiner Zeit noch in aller Breite wieder, obwohl sonst sein prosaischer Stil wegen Schönheit und Regelmäßigkeit damals sehr beliebt w a r und nur einige 22
tadelhafte Einflüsse des gottschedischen Geschmacks an sich trug. Welcher Abstand von dieser wohlgefälligen Sättigung in umständlichen Lebensformen zeigt sich aber plötzlich in den idealen Zerwürfnissen des Werther, dem alle bürgerliche Sprache und Einrichtung des Lebens zuwider ist! Der unklar begriffene Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit malt sich hier in der höchsten poetischen Steigerung der Prosa ganz nach subjectivem Genüge aus. Der Werther hätte, ungeachtet seiner hohen poetischen Grundlage, nicht in Versen geschrieben werden können, das Element der Prosa, das seine Stellung zur bürgerlichen Wirklichkeit des Jahrhunderts festhält, ist ein nothwendiges in ihm. Die lyrischen Fluctuationen dieser Prosa bezeichnen aber ebenso treffend den gebrochenen Zustand, in dem sich Individualität und Wirklichkeit damit gegen einander abzeichnen. Der Wilhelm Meister, dem Novalis mit Unrecht das Prosaische als einen Mangel an Poesie zum Vorwurf gereichen ließ, tritt aus der Mitte bürgerlicher Lebensprosa hervor, und die Darstellung bewegt sich darum in ruhiger Gleichmäßigkeit dieses Elements vorwärts. Aber ein höheres soll zugleich in diesem Roman erstrebt werden, gewissermaßen eine ideale Prosa der Wirklichkeit, nämlich die schönste Stufe menschlicher und gesellschaftlicher Bildung. Im Roman wird immer etwas gesucht, was noch nicht da ist, Wilhelm Meister sucht sich selbst sogar erst, d. h. er will ein Höchstes seines Charakters hervorbringen. Er strebt sich von der Prosa seines Herkommens und seiner Umgebungen los, und d a ß auf der Seite der idealen Prosa, die d a f ü r gewonnen werden soll, ein aristokratisches Element mit seiner bevorzugten Lebensgrazie sich hinstellt, bezeichnet die Constellationen des Jahrhunderts, dem der Roman angehört. Dem Roman mit seiner Ausdehnung in die Breite und Ferne des Lebens steht die Novelle mikrokosmisch gegenüber. Die Wahlverwandtschaften mit ihren sittlichen Conflicten, die sich in die Gruppirung der Verhältnisse verstecken, tragen dem Stoffe nach mehr einen novellistischen Charakter an sich, aber die epische Behandlung läßt das Gepräge des Romans hervortreten. Die Novelle, die wesentlich aus den Verhältnissen sich erzeugt, wie der Roman aus dem Charakter des Individuums, ist eine prismatische Zusammendrängung der Wirklichkeit, mit 23
Absicht eines bestimmten und schlagartig hervorzubringenden Effects. Die Lebensanschauung der Novelle ist nicht so universal und allseitig, wie im Roman, der deshalb einer gemessenen und ausführlichen Auseinanderlegung seiner Formen bedarf; die Novelle fängt ihre Verhältnisse in dem Brennspiegel einer charakteristischen Absicht, einer Zeittendenz, einer auf die Tagesbewegung berechneten Reflexion auf, und ist nach ihren Gegenständen der verschiedenartigsten Behandlung, der Vermischung des entgegengesetztesten Stils fähig. Diese Gattung kann alle Töne von Poesie und Prosa mit genialer Willkür vereinigen, und ist deshalb in neuester Zeit der eigentliche Mittelpunct für die productive Literatur der Prosa, oder für die Poesie überhaupt, welche sich mit der Prosa identisch gemacht hat, geworden. Die bürgerliche Lebensprosa des Romans hatte schon Jean Paul an der unaufhörlich wogenden Dichterbrust seiner Subjectivität so voll mit Poesie genährt und getränkt, daß Alles, sobald er es darstellte, schon durch seine Diction in einer poetischen Illumination der Wirklichkeit sich zeigte. Die Romane von Jean Paul haben den neueren poetischen Novellenstil in Deutschland vorbereitet, der sich von der jeanpaul'schen Diction nur durch eine piquantere Auslautung wirklicher Lebens- und Zeittöne unterscheidet, und darum in vieler Hinsicht straffer, materieller, und weniger in der Luft schwebend genannt werden kann. [ . . . ]
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ARNOLD RÜGE:
Zur Charakteristik von Sealsfield
(1841)
[ . . . ] Wir haben das Cajütenbuch nach seinen interessanten und frappanten Zügen, in denen wir allerdings fast eben so viele Vorzüge vor unserer trivialen Genialitäts- und HandwerksBelletristik finden müssen, der Anschauung des Publicums nahe zu bringen gesucht; wir hätten es aber freilich damit noch lange nicht als Kunstwerk gerechtfertigt, und wenn man uns nach dem Gesagten auch die gute Schilderung werthvoller Einzelheiten zugeben sollte, so ist es doch von da noch weit hin zu einem tadellosen Ganzen, dessen Theile gehörig ineinandergreifen, und zu einer lebendigen Bewegung der Charaktere gegen einander, die wir in manchen Romanen Walter Scott's 24
z.B. so sehr zu bewundern haben. Und es fragte sich, ob wir nicht sogar mehr thun, als der Verfasser im Bewußtsein seiner Intention selbst in Anspruch nimmt, wenn wir seine nationalen Charakteristiken einen guten Roman nennen. General Morse begleitet uns freilich durch die ganze Erzählung, er ist der Faden, an dem sie, wenn auch lose genug zusammenhängt [ . . . ] . Es schwebt also weder Capitain Murky, noch General Morse außerhalb der Einen Geschichte, deren Fäden weniger als deren Grundmassen in dem idyllischen Finale zusammentreten und zusammenrücken. Dies ist allerdings eine neue Art, auch dem Leser überraschend, denn dieser hat sich längst darein ergeben, daß es hier nur einem Lande nach dem andern und einem Abenteuer nach dem andern habe gelten sollen. So fällt nun freilich die Spannung hinweg; aber die Spannung nur auf diesen Ausgang und auf den Zusammenhang im Ganzen, desto größer ist die Spannung im Einzelnen: die umgekehrte Spannung, die Überraschung, tritt dagegen am Ende ein, und wie ein wohlthuender Blitz aus dem Chaos den göttlichen Umschwung des Himmels hervorhebt, so läuft die Erinnerung totalisirend und rundend bis an den Anfang - des Romanes wir sind so dreist, ihn so zu nennen - zurück. Und was ist denn der Roman? ja was alle Gattungen der Poesie? Wer hat das Recht, sie zu schaffen, und wer, sie zu fixiren, wenn sie geschaffen sind? Die Geschichte, die Alles schafft. Es giebt keine absolute Poesie, wie es keine fertig gewordene Philosophie giebt. Beides sind Blüthen (Bestimmtheiten, Kategorieen) der Geschichte, die Geschichte faßt sich in ihnen zusammen, und wie die Philosophieen eine Entwicklung der Geschichte, so sind die Poesieen und die bestimmten Formationen der Poesie nur in der historischen Entwicklung verständlich. Unser Autor aber ist eine solche Entwicklungsphase der Poesie, und selbst da, wo er das Chaos nicht an dem einen Feuerfaden der Composition zu erleuchten gewußt, ist er ein sehr deutlicher Fortschritt. [ . . . ]
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Allgemeine Geschichte des Romans, von dessen Ursprung bis zur neuesten Zeit
OSKAR LUDWIG BERNHARD WOLFF: (1841)
Zum Wesen des Romans [ . . . ] Die absichtliche Lösung jener Aufgabe, das künstlerische Bewußtseyn derselben, wichtige Lebensfragen zu entwickeln und zu beantworten durch concrete Darstellung des Vorhandenen oder als vorhanden Möglichen und Denkbaren trat erst spät in die Geschichte des Romans und bildet einen eigenen Hauptabschnitt derselben. Wann das geschah, davon wird nachher Gelegenheit seyn, zu reden. Die Nothwendigkeit einer solchen Aufgabe war aber stets vom Roman unzertrennbar, wie sie es von jedem Werke der Kunst ist, denn jedes Kunstwerk hat, gleich dem Menschen, Körper und Seele. Jener, die Form der äußeren Erscheinung, diese die tiefere geistige Bedeutung derselben; nur liegt der Unterschied darin, daß ein anderes Kunstwerk bloß um der Schönheit der Form willen geschaffen werden kann, der Roman aber nie, weil er das Leben darstellen soll, dem erst die in der Zeit herrschende Idee die äußere Gestaltung bestimmt und bildet. [ . . . ] als Abbild des Lebens will er eben so aufgefaßt und angeeignet werden wie dieses. Darum ist auch seine Form die weiteste, vielseitigste und bequemste und äußeres Maaß und äußere Beschränkung kennt er weiter nicht, als nur die der Wahrheit und der Einheit, die die Beschränkung des Innern auf das Äußere naturnothwendig übertragen und zugleich Schönheit und Harmonie bedingen. Soll das Leben gleichmäßig dargestellt werden, so muß die Darstellung einen Mittelpunkt haben, der alle Strahlen concentrirt und ihre Bedeutung zeigt, indem die Wirkung derselben an ihm zur Erscheinung kommt. Dieser Mittelpunkt ist im Roman der sogenannte Held desselben, der aber Alles seyn darf, nur kein Held. Ist er das, so wird die Wirkung des Einzelnen, Begabten auf die Menge gezeigt, aber nicht umgekehrt, und dann tritt Einseitigkeit ein. Alle andern auftretenden Personen können und müssen sich sogar, je nach ihrem Charakter, dem Helden (es sey erlaubt, der Kürze wegen diesen Ausdruck beizubehalten) und einander gegenüber so entschieden und wirksam wie möglich bewegen, Jener aber nicht; diese 26
sollen schieben, Jener geschoben werden bis er durch den R o man hindurch an den Schluß desselben zum vorgesteckten Ziele gelangt. Tritt der Held dagegen zu wirksam, zu mächtig ein, so ist das Werk kein Roman, sondern wird zur romantisch ausgeschmückten oder romantisch erfundenen Biographie. D a mit ist nun keineswegs gesagt, daß der Held nicht eigenthümlich seyn dürfe, sondern nur möglichst passiv, der Mittelpunkt des Spiegels, der ein großes Stück Welt und Leben, das um seiner Wahrheit willen als ein Ganzes und immer Gültiges dasteht, reflektirt. Das haben die besten und größten Romandichter auch stets gewußt und festgehalten, wie ζ. B. Cervantes, dessen Don Quijote mit seinem edeln Kern und seiner komischen Hülse, (und zwar in einer Steigerung) immer erst durch die äußeren Antriebe zu handeln veranlaßt wird und gerade handelnd am Meisten leidet [ . . . ] . Die Romane Balzacs [ . . . ] Aus Inspiration schafft er Nichts, denn das kann er nicht, aber er weiß Alles so mühsam, künstlich und genau zusammen zu setzen, daß man, auf den ersten Anblick getäuscht, es für natürlich halten möchte, bald aber den Trug vollkommen einsieht. Diesen großen Mangel sucht er durch äußerst feine Beobachtung, einen raschen und scharfen Blick in das Innerste des menschlichen Herzens und der menschlichen Verhältnisse, eine sehr ausgeführte, oft sich mit dem Geringsten, bis zur Ermüdung beschäftigende Darstellung und eine überaus gewandte Combination der Situationen zu ersetzen. Da er alle diese Eigenschaften im höchsten Grade besitzt, so leistet er in dieser Hinsicht wirklich Außerordentliches und alle seine Romane umfassen psychologische Studien vom höchsten Interesse und Werthe, wenn gleich nicht immer probehaltig. Dagegen aber fehlen ihm alle Gaben poetischer Jugend, die den wahren Dichter bis in das Grab unzertrennlich begleitet und die Urquelle aller seiner Werke bleibt. E r hat weder Enthusiasmus, noch warmes Gefühl, weder Beredsamkeit des Herzens, noch wahre Sittlichkeit. Nur das Laster in allen seinen Phasen weiß er zu schildern, und da das Laster in Frauen am Lockendsten und Interessantesten erscheint, so 27
hat er die Frauen auch zu seinem besonderen Studium gemacht, und ist unerschöpflich in den feinsten und treuesten Schilderungen verderbter, oder wenigstens krankhafter weiblicher Charactere. Einen physisch, wie moralisch gesunden Mann, ein durch und durch reines Weib vermag er aber nicht zu erfinden, und muß selbst den Figuren, die er schafft, unwillkürlich Rostflecken anhängen, die den glänzenden Spiegel ihrer Seele verunstalten. Das Ideale bleibt ihm durchaus verschlossen; es ist, als fehle ihm ein Sinn dafür. Alles nimmt bei ihm eine skeptische oder materielle Richtung. Kein Schriftsteller gehört so, wie er, zu den Pessimisten, denn das ganze Menschengeschlecht ist, nach seiner Ansicht, in Grund und Boden verderbt, viel verderbter, als man glaubt, und des Dichters Beruf, diese Verderbtheit nach allen Seiten hin zu analysiren und darzustellen, um auf das Deutlichste nachzuweisen, daß sie allein ihr Glück in der jetzigen Welt macht, und zu Ehren und Ansehen kommt, in prachtvollen Karossen fährt und die Menge beherrscht, während die Tugend, eben weil sie so dumm ist, tugendhaft zu seyn, in Elend und Jammer verschmachtet. Unter den Romanschreibern der Gegenwart möchte man mit vollem Rechte Balzac als den Historiker der Depravation, und zwar der raffinirtesten, bezeichnen. Die Aufgabe, die er zu lösen strebte, ist ganz dem Stoffe angemessen, denn er geht bei der Darstellung eben so raffinirt zu Werke. Der ausgebildetste Egoismus, leider überall die am Meisten gezeitigte Frucht unserer Tage, namentlich in Frankreich, wo seit fünfzig Jahren fast täglich neue Beispiele lehren, wie weit es der Einzelne zu bringen vermag, wenn er rücksichtlos nur sich im Auge hat, ist der Hebel, der alle Figuren, alle Situationen in den Balzac'schen Romanen bewegt. Auf der Stufenleiter der Selbstlinge vom elegantesten Dandy bis zum verworfensten Galeerensklaven, von der feinsten Dame, die ihr ganzes Leben hindurch mit dem Ehebruche ihr Spiel treibt und die Ihren in das Verderben stürzt, nachdem sie dieselben mit Schande bedeckt hat, bis zur gemeinsten H - e überspringt er keine Sprosse, Alle werden sie von ihm geschildert, und zwar mit ihren sämmtlichen, auf das Genaueste dargestellten Umgebungen. [ . . . ] Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, daß die Wahrheit seinen Darstellungen zugestanden werden muß, ein noch traurigeres, 28
daß er ein so großes Publicum und nicht bloß in Frankreich findet. Er gleicht einem geschickten, aber abgestumpften Anatom, der eine elegante blasirte Gesellschaft zu sich ladet, und ihr ein mit der größten Geschicklichkeit präparirtes Geschwür an irgend einem Theile des menschlichen Körpers, zu aufregender Unterhaltung, präsentirt, indem er ihr zugleich einleuchtend macht, daß die Mehrzahl der Erdbewohner so verdorbene Säfte habe, und man bloß deshalb nicht immer hinter die daraus entspringenden Folgen komme, weil die Mehrzahl sie zu verbergen wisse. - Sein Styl ist übrigens geziert, manierirt und incorrect. In Hinsicht auf psychologische Characterentwickelung und Feinheit in der Combination der Handlung und der einzelnen Situationen hat indessen der Roman der Gegenwart bedeutend durch ihn gewonnen. Wer die Depravation gewisser Stände in Frankreich kennen lernen will, braucht sich nur an ihn zu wenden; er ist da, wo er wirklich Bestehendes darzustellen hat, unerbittlich treu, so ζ. B. in dem Romane Un grand homme de province ä Paris - bekanntlich eine Fortsetzung der Erzählung Illusions perdues - wo er die Verderbtheit der Literatur und besonders der Journalisten in Frankreich auf das Genaueste so schildert, daß man sich mit empörtem Gefühl abwenden muß. - Bei den Handlungen im Ganzen ist es ihm dagegen hinsichtlich der Motive nicht immer auf Wahrscheinlichkeit zu thun; so z.B. geht er stets entsetzlich verschwenderisch mit dem Gelde um, auf einige hunderttausend Franken kommt es ihm nie an. Im Übrigen weiß er jedoch Alles sehr geschickt zusammen zu stellen. Der Jugend sind seine Romane vorzüglich deshalb gefährlich, weil eine faunische Lüsternheit stets seine Feder führt, und er doch Alles so kunstreich zu verschleiern weiß, daß es Einem auf den ersten Blick verhüllt erscheint, während gerade durch die feine Drapirung Alles um desto anreizender und verführerischer hervortritt. [ . . . ] 12
M A R G G R A F F : Die Entwicklung des deutschen Romans, besonders in der Gegenwart (1844)
HERMANN
Dieselben Neigungen und Liebhabereien der Zeit, welche der Entwicklung der dramatischen Poesie hinderlich gewesen sind,
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haben die Vegetazion der Romanlitteratur befördert und sie bis jetzt bei üppiger Blüthe erhalten. Wie lange Dies dauern, ob sie einmal wieder verschwinden und sich selbst erschöpfen oder aus Mangel an Theilnahme im lesenden Publikum untergehen wird, ist schwer zu bestimmen. Wenn einmal im Publikum das Bedürfniß für eine Dichtgattung fehlt, so wird sie, trotz aller Talente, die ihren Anbau fortsetzen mögen, sich nicht mehr auf die Dauer halten und höchstens noch ein Schein- und Schattenleben eine Zeitlang führen können. Dann helfen alle noch so gewaltsamen Anstrengungen, alle noch so scharfsinnigen neuen Wendungen, alle noch so klangvollen Posaunenstöße der Belobung nicht mehr, ebensowenig wie die tadelnde Kritik, sie sei noch so gerecht und gründlich, einem litterarischen Genre, welches gerade vom Publikum begünstigt ist, wesentlich schaden oder gar das Todesurtheil sprechen kann. [ . . . ] Dennoch wäre die dramatische Poesie, bei der Theilnahme, welche die Bühne als eine Stätte öffentlicher Kunstprodukzionen noch findet, die einzige, die unter günstigem Umständen mit der Romanpoesie in Konkurrenz treten könnte, wie sie vor Zeiten über die letzte glänzende Triumfe errang. Aber die dramatische Dichtung hat jetzt Alles gegen sich, die Romandichtung zur Zeit noch Alles für sich. Einmal bietet der Roman eine sehr bequeme Unterhaltung, um gewiße Mußestunden auszufüllen, eine leicht abzubrechende Lektüre, so daß man inzwischen noch Dies oder Jenes thun, denken und anordnen kann, während die Darstellung eines Dramas, deren Erfolg ohnehin jetzt von zum Theile mittelmäßigen Kräften abhängig und daher zweifelhaft ist, das Opfer eines ganzen Abends verlangt. In den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts las man wohl noch dramatische Dichtungen mit derselben erbaulichen Stimmung und demselben Interesse, wie man jetzt Romane liest; aber das Drama hatte zu der Zeit noch den Reiz der Neuheit, die erschütternden Katastrofen waren noch keine Alltagsbegebenheiten, und die tragischen Situazionen noch nicht abgenutzt; man gab sich überhaupt mehr dem Genüsse an der reinen Kunstform hin, während man jetzt diese Naivetät ziemlich verloren hat und in der Kunst, wie ja auch bei allen Handlungen und Lebenserscheinungen, kühl und ver3°
ständig fragt: wohin zweckt Das ab? in welchem Verhältnisse steht Das zu mir? was nutzt es mir? Fragen, welche die Naivetät des Kunstgenusses von vorneherein beeinträchtigen und zerstören. Denn wir sind, ob für immer oder nur für unsere auf das Praktische gerichtete Zeit, bleibe dahin gestellt, keine Männer der Kunst mehr, sondern Männer der politischen Debatte, des sozialen Raisonnements, des auf kommerzielle und industrielle Entwickelungen gerichteten Beobachtens. Der Roman hat aber die Fähigkeit zu raisonniren, die von Hause aus in ihm liegt, wacker benutzt; er hat sich fortlaufend mit der Zeit erneuert; er hat ihre Tendenzen, ihre Begehrnisse, ihre Händel, ihre Debatten in sich aufgenommen; er besitzt eine unendliche Expansionskraft und weitet sich mit jeder neuen Fase im Gebiete der Politik und Tagesgeschichte, der Filosofie, Ästhetik, Wissenschaft u. s. f. mehr aus, und, wenn dieses bunte Durcheinander auch nur wie leichter Schaum am Rande des Bechers aufliegt, so erscheint doch gerade dieser Schaum dem Leser wie ein Extrakt aller Weisheit und wird um so schmackhafter gefunden, je weniger stofflich und inhaltreich, je geistiger und luftiger er ist. Gerade die Eigenschaften, welche den Roman als Kunstform zweifelhaft erscheinen lassen, haben sein Glück gemacht. Er vermag sich in alle Formen einzupuppen, die Fysiognomie aller Dichtgattungen wiederzuspiegeln, in lyrische Ergüsse zu zerfließen wie bei Jean Paul, sich episch auszubreiten und dadurch das Flegma der Modernen in ein süßes Behagen einzulullen; aber er vermag auch, durch drastische Situazionen oder lebendigen Dialog dramatisch zu wirken; dann giebt er wieder ein Stück Geschichte oder Filosofie oder Ästhetik; oder er behandelt einen Artikel aus dem Lexikon der Liberalen, oder er läuft in eine Zeitungsbetrachtung aus; kurz! er ist, wie der Mensch der Gegenwart selbst, ein, zwar geschmackvolles, aber formloses Mischprodukt, eine bunte Ablagerung aus allen primären, sekundären und terziären Gebilden der Zeit, bald urgebirgiges Hochland, bald angeschwemmtes Flachland. Dabei ist er, selbst auf seiner höchsten Höhe, viel demokratischer, als das höhere Drama, welches des Kothurns nicht entbehren kann und sich leicht und unwillkürlich in Stellungen wirft, die an die Antike, nicht an die Modernität, an die Toga, nicht an den Frack erinnern. Der Roman 31
setzt sich von vornherein mit dem Leser auf einen vertraulichem Fuß und bringt ihm selbst die höchsten und allerhöchsten Personen in eine so familiäre Nähe, daß er sie am Liebsten geradeswegs mit Du anreden möchte, während die königlichen Personen im Drama stets die Majestät herauskehren und das Publikum in respektvoller Entfernung zu halten wissen. Denn der Roman führt uns auch die höchsten Personen gern in häuslicher Umgebung und mit ihren liebenswürdigen menschlichen Schwächen vor, was das höhere Drama vermeidet. Zwar hat sich auch das Drama in jüngster Zeit mehr auf das Genreartige geworfen und präsentirt sich jetzt gerne als historisches Familienstück; aber es läuft auch Gefahr, daß, bei seiner strengern Form, die Ecken, Mängel und Schwächen an ihm viel schroffer hervorspringen, als im Romane, der mit Beschreibung und Umschreibung und durch seine epische Ausführlichkeit und raisonnirende Umständlichkeit leicht auch sein Schlechtestes zum Besten kehrt. Dem Drama ist ohnehin so Vieles untersagt, was dem Romane gestattet ist, ζ. B. das Gebiet der Sinnlichkeit, die höhere Exstase der rein irdischen Liebe, welche manche Romane, ζ. B. die von Heinse, zu ihrem Hauptfundamente haben. Dem zur Aufführung bestimmten Drama ist ohnehin durch die überstrenge Theaterzensur, durch Hof- und Standesrücksichten ein hartes Gebiß angelegt, so daß es sich bei Weitem nicht so frei bewegen kann, als der Roman. Es darf sich der Zeitfragen nicht so bemächtigen, wie dieser, höchstens sie nur mit den Fingerspitzen leise berühren, während der Roman alle Hände voll Zeittendenzen haben darf, — und gerade dieser Umstand, daß das Drama mehr, als der Roman, verpflichtet ist, an den Thor- und Zollsperren sein verdächtiges Gepäck untersuchen zu lassen, hat ihm die Konkurrenz mit dem Romane, der auch hier und da Verdächtiges einzuschmuggeln weiß, wesentlich erschwert. Ohnehin ist das plastischer gegliederte und freier organisirte Drama, das sich vor Korpulenz hüten muß, auf eine strengere Diät angewiesen, als der Roman. [ . . . ]
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GOTTFRIED KELLER: Über den „Grünen Heinrich" (1850, 1854,1871,1876,1881)
Brief an Eduard Vieweg, j. Mai 18 [ . . . ] Die Moral meines Buches ist: daß derjenige, dem es nicht gelingt, die Verhältnisse seiner Person und seiner Familie im Gleichgewicht zu erhalten, auch unbefähigt sei, im staatlichen Leben eine wirksame und ehrenvolle Stellung einzunehmen. Die Schuld kann in vielen Fällen an der Gesellschaft liegen, und alsdann wäre freilich der Stoff derjenige eines sozialistischen Tendenzbuches. Im gegebenen Falle aber liegt sie größtenteils im Charakter und dem besonderen Geschicke des Helden und bedingt hierdurch eine mehr ethische Bedeutung des Romans. Unternehmung und Ausführung desselben sind nun nicht etwa das Resultat eines bloß theoretischen tendenziösen Vorsatzes, sondern die Frucht eigener Anschauung und Erfahrung. Ich habe noch nie etwas produziert, was nicht den Anstoß dazu aus meinem inneren oder äußern Leben empfangen hat, und werde es auch ferner so halten; daher kommt es, daß ich nur wenig schreibe, und weiß wirklich gegenwärtig nicht zu sagen, ob ich je wieder einen Roman schreiben werde oder nicht. Einige Novellen ausgenommen habe ich für die Zukunft nur dramatische Arbeiten im Auge. Mein Held ist ein talent- und lebensvoller junger Mensch, welcher, für alles Gute und Schöne schwärmend, in die Welt hinauszieht, um sich sein künftiges Lebensglück zu begründen. E r sieht alles mit offenen klaren Augen an und gerät als ein liebenswürdiger lebensfroher Geselle unter allerlei Leute, schließt Freundschaften, welche seinem Charakterbilde zur Ergänzung dienen, und berechtigt zu großen Hoffnungen. Als aber die Zeit naht, wo er sich in ein festes geregeltes Handeln, in praktische Tätigkeit und Selbstbeherrschung finden soll, da fehlt ihm dieses alles. Es bleibt bei den schönen Worten, einem abenteuerlichen Vegetieren, bei einem passiven ungeschickten Umhertreiben. Er bringt dadurch sich und seine Angehörigen in äußerstes Elend, während minder begabte, aber aufmerksame Naturen aus seiner Umgebung, welche unter ihm standen, reüssieren und ihm über den Kopf wachsen. E r gerät in die abenteuerlichste, traurigste Lage, abgeschnitten von aller Welt. 33
D a wendet sich das Geschick plötzlich günstiger; er tritt in einen Kreis edler Menschen, erholt sich, erwirbt sich, gewarnt und gewitzigt, eine feste Haltung und betritt eine neue Lebensbahn, auf welcher ihm ein schönes Ziel winkt. So r a f f t er sich zusammen, eilt mit goldenen Hoffnungen in seine Heimat, um seine Mutter aufzusuchen, von welcher er seit geraumer Zeit nichts mehr gehört hat, so wenig als sie von ihm. E r stößt vor den Toren der Vaterstadt auf ihr Leichenbegängnis, mischt sich unter die Begleiter auf dem Kirchhof und hört mit an, wie der Pfarrer in seiner Leichenrede den Tod der verarmten und verlassenen Frau dem „ungeratenen" in der Ferne weilenden Sohne beimißt. - D a er im Grunde ein ehrenhafter und nobler Charakter ist, so wird es ihm nun unmöglich, auf den Trümmern des von ihm zerstörten Familienlebens eine glückliche, einflußreiche Stellung im öffentlichen gesellschaftlichen Leben einzunehmen. Das Band, welches ihn nach rückwärts an die Menschheit knüpft, scheint ihm blutig und gewaltsam abgeschnitten, und er kann deswegen auch das lose halbe Ende desselben, das nach vorwärts führt, nicht in die Hände fassen, und dies führt auch seinen Tod herbei. [ . . . ] Vorwort zum „Grünen Heinrich" (i. Fassung, 1854) Von diesem Buche liegt der erste Band schon seit zwei Jahren, der zweite seit einem Jahre fertig gedruckt, während die Beendigung des dritten und vierten Bandes durch verschiedenes Ungeschick bis v o r kurzem verzögert wurde. Absicht und Motive blieben dabei unverändert dieselben wie am ersten Tage der Konzeption, während in der Ausführung während mehrerer Jahre der Geschmack des Verfassers sich notwendig ändern mußte, oder ehrlich herausgesagt: ich lernte über der Arbeit besser schreiben. Die ersten Bogen dieses Romanes datieren noch aus dem J a h r 1847, die letzten entstanden in diesen Tagen, und die Entstehungsweise des Ganzen gleicht derjenigen eines ausführlichen und langen Briefes, welchen man über eine vertrauliche Angelegenheit schreibt, o f t unterbrochen durch den Wechsel und Drang des Lebens. Man läßt den Brief ganze Zeiträume hindurch liegen, man wird vielfältig ein Anderer; aber wenn man das Geschriebene wie34
der zur Hand nimmt, fährt man genau da fort, wo man aufgehört hatte, und wenn sich auch in dem, was man betont oder verschweigt, der Wechsel des Lebens kund tut, findet sich doch, daß man gegen den, an welchen der Brief gerichtet, und in dieser Sache der Alte geblieben ist. Man hat den Brief mit einer gewissen redseligen Breite begonnen, welche eher von Bescheidenheit zeugt, indem man sich kaum Stoffes genug zutraute, um den ganzen schönen Bogen zu füllen. Bald aber wird die Sache ernster; das Mitzuteilende macht sich geltend und verdrängt die gemütlich ausgeschmückte Gesprächigkeit, und endlich zwingt sich von selbst, und noch gedrängt durch die äußeren Ereignisse und Schicksale, nicht eine theoretische, sondern im Augenblick praktische Ökonomie in die in der Eile besonnene Feder, so daß nur das Wesentliche sich lösen darf aus dem Fluge der Gedanken, um sich gegen den Schluß des Briefes hin wenigstens so viel Raum zu erkämpfen als nötig ist, mit der warmen Liebe des Anfanges zu endigen. So entsteht freilich nicht ein streng gegliedertes Kunstwerk, aber vielleicht ein umso treuerer Ausdruck dessen, was man war und wollte mit dem Briefe. Eine andere Frage aber ist es nun, ob das Gleichnis hinreiche, eine gewisse Unförmlichkeit vorliegenden Romanes zu entschuldigen oder zu beschönigen. Ich bin weit entfernt, dies versuchen zu wollen; einzig und allein möchte ich durch das Gleichnis die Hoffnung andeuten, der geneigte Leser werde wenigstens, wenn auch nicht den Genuß eines reinen und meisterhaften Kunstwerkes, so doch den Eindruck einer wahr empfundenen und mannigfach bewegten Mitteilung davontragen. - Besagte Unförmlichkeit hat ihren Grund hauptsächlich in der Art, wie der Roman in zwei verschiedene Bestandteile auseinanderfällt, nämlich in eine Selbstbiographie des Helden, nachdem er eingeführt ist, und in den eigentlichen Roman, worin sein weiteres Schicksal erzählt und die in der Selbstbiographie gestellte Frage gewissermaßen gelöst wird. Der eine dieser Teile ist viel zu breit, um als Episode des andern zu gelten, und so bleibt nur zu wünschen, daß die Einheit des Inhaltes beide genugsam möge verbinden und die getrennte Form vergessen lassen. — Über den eigentlichen Inhalt weiß ich hier nichts zu sagen als daß man das Buch leider als ein Tendenzbuch wird ansehen können, wäh35
rend es in der T a t nur insofern ein solches ist als es mit Absicht nichts verschweigt, was in den notwendigen Kreis seines Stoffes gehört. Stoff und Form aber will ich hiemit bescheidenst dem ungewissen Stern jedes ersten Versuches anheimstellen. Brief an Emil Kuh,
10. September
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[ . . . ] Ihre Gedanken über eine Renovation des „Grünen Heinrich", welcher Pechvogel einmal Ihre Gunst gewonnen hat, sind mir sehr willkommen und anregend; sie treffen zum Teil mit dem zusammen, was ich selbst darüber gedacht. Die U m wandlung des jetzt von dritter Person Erzählten in Selbstbiographisches würde natürlich eine Umschreibung von W o r t zu W o r t erfordern, wobei dann das Auswüchsige von selbst beschnitten würde. Die Versetzung des Schlusses an den Eingang, welche Idee mir neu ist, leuchtet mir sehr ein; ich gewänne dadurch für den Buchanfang gleich Stoff für den guten Erzählerton, während der jetzige Eingang zu inhaltlos geschwätzig ist. Machen Sie mir hier keine Einwendungen! Größere Ökonomie und Knappheit ist nötig, wenn unsere Opuskula sich leidlich konservieren sollen. Die Nuditäten etc. müssen selbstverständlich wegfallen; sie stammen aus der Zeit, da dergleichen in der L u f t lag, sind völlig unnötig und hindern ein Werk, seinen Weg zu machen, abgesehen davon, daß es die roheste und trivialste Kunst von der Welt ist, in einem Poem den weiblichen Figuren das H e m d überm K o p f wegzuziehen. [ . . . ] Autobiographisches
(1876)
[ . . . ] A u f diesen Fahrten nahm ich den einst angefangenen R o m a n wieder zur Hand, dessen Titel „Der grüne Heinrich" schon existierte. Ich gedachte immer noch, nur einen mäßigen Band zu schreiben; wie ich aber etwas vorrückte, fiel mir ein, die Jugendgeschichte des Helden oder vielmehr Nichthelden als Autobiographie einzuschalten mit Anlehnung an Selbsterfahrenes und -empfundenes. Ich kam darüber in ein solches Fabulieren hinein, daß das Buch vier Bände stark und ganz unförmlich wurde. Ursache hievon war, daß ich eine unbezwing-
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liehe Lust daran fand, in der vorgerückten Tageszeit einen Lebensmorgen zu erfinden, den ich nicht gelebt hatte, oder, richtiger gesagt, die dürftigen Keime und Ansätze zu meinem Vergnügen poetisch auswachsen zu lassen. Jedoch ist die eigentliche Kindheit, sogar das Anekdotische darin, so gut wie wahr, hier und da bloß, in einem letzten Anfluge von Nachahmungstrieb, von der konfessionellen Herbigkeit Rousseaus angehaucht, obgleich nicht allzu stark. Es gibt Leute, welche fast alle möglichen Untugenden in blinder Kindheit antizipieren und wie Kinderkrankheiten ausschwitzen, während ζ. B. zu wetten ist, daß ein recht fleißiger und solider Gründer, der Millionen stiehlt, als Kind niemals die Schule geschwänzt, nie gelogen und nie seine Sparbüchse geplündert hat. Dagegen ist die reifere Jugend des grünen Heinrich zum größten Teile ein Spiel der ergänzenden Phantasie und sind namentlich die beiden Frauengestalten gedichtete Bilder der Gegensätze, wie sie im erwachenden Leben des Menschen sich bestreiten. Endlich aber mußte das Buch doch ein Ende erreichen. Der Verleger, welcher sich erst über die unverhoffte Ausdehnung und das langsame Vorrücken desselben beschwert hatte, interessierte sich zuletzt für den wunderlichen Helden und flehte, als Vertreter seiner Abnehmer, um dessen Leben. Allein hier blieb ich pedantisch an dem ursprünglichen Plane hangen, ohne doch eine einheitliche und harmonische Form herzustellen. Der einmal beschlossene Untergang wurde durchgeführt, teils in der Absicht eines gründlichen Rechnungsabschlusses, teils aus melancholischer Laune. Ich nahm die Sache auch insofern von der leichten Seite, als ich dachte, man werde den sogenannten Roman eben als ein Buch nehmen, in welchem mancherlei lesbare Dinge ständen, wie man sich Lesedramen gefallen läßt. So wurde der grüne Heinrich also begraben. Allein er schläft nicht sehr ruhig; denn wie ich höre wird der arme Kerl in den Mädchenpensionaten, wenn der Sprachund Literaturlehrer auf das Kapitel des Romanes kommt, stets heraufbeschworen und vor die unaufmerksamen Schülerinnen hingestellt, herumgedreht, hin- und hergeführt und muß als abschreckendes Beispiel dienen, wie ein guter Roman nicht beschaffen sein soll, und es hilft gegen diese grausame 37
Belästigung nicht der Umstand, daß der Ärmste ja mittelst der eigenen Vorrede die Erklärung in der Tasche mit sich führt, daß er kein rechter Roman sei. [ . . . ] Brief an Theodor Storm, n. April
1881
[ . . . ] Der Kritiker in der „Rundschau" hat mir gerade nicht zugesagt. Derselbe (Otto Brahm) hat an anderer Stelle die philologische Methode noch verkehrter angewendet, indem er die alte und die neue Ausgabe meines Buches mit Α und Β bezeichnete wie alte zu vergleichende Codices, um meine SelbstVerballhornung nachzuweisen, während er die Hauptfrage der Form: Biographie oder nicht? gar nicht berührte oder dieselbe ignorierte. Diese Frage umfaßt nämlich auch die andern nicht stilgerechten epischen Formen: Briefform, Tagebuchform und die Vermischungen derselben, in welchen nicht der objektive Dichter und Erzähler spricht, sondern dessen Figurenkram, und z w a r mittelst Tinte und Feder. Hier ist der Punkt, wo die K r i tik einzuspringen hat und der Schreiber den formalen Handel verliert. Diese Untersuchung ist aber nicht eine (dazu unwichtige) textkritliche, sondern eine rein ästhetische Sache und Arbeit und führt zu andern Gesichtspunkten etc. [ . . . ]
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GOTTFRIED K E L L E R :
Jeremias Gotthelf (1855)
[ . . . ] Dagegen wollen wir versuchen, noch einmal den Gesamteindruck zusammenzufassen, welchen Gotthelf und sein Wirken auf uns machte, und da müssen wir sogleich bekennen, daß er ohne alle Ausnahme das größte epische Talent war, welches seit langer Zeit und vielleicht für lange Zeit lebte. Jeder, der noch gut und recht zu lesen versteht und nicht zu der leider gerade jetzt so großen Zahl derer gehört, die nicht einmal mehr richtig lesen können vor lauter Alexandrinertum und oft das Gegenteil von dem herauslesen, was in einem Buche steht, wird dies zugeben müssen. Man nennt ihn bald einen derben niederländischen Maler, bald einen Dorfgeschichtenschreiber, bald einen ausführlichen guten Kopisten der Natur, bald dies,
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bald das, immer in einem günstigen beschränkten Sinne; aber die Wahrheit ist, daß er ein großes episches Genie ist. Wohl mögen Dickens und andere glänzender an Formbegabung, schlagender, gewandter im Schreiben, bewußter und zweckmäßiger im ganzen Tun sein: die tiefe und großartige Einfachheit Gotthelfs, welche in neuester Gegenwart wahr ist und zugleich so ursprünglich, daß sie an das gebärende und maßgebende Altertum der Poesie erinnert, an die Dichter anderer Jahrtausende, erreicht keiner. In jeder Erzählung Gotthelfs liegt an Dichte und Innigkeit das Zeug zu einem „Hermann und Dorothea", aber in keiner nimmt er auch nur den leisesten Anlauf, seinem Gedichte die Schönheit und Vollendung zu verschaffen, welche der künstlerische, gewissenhafte und ökonomische Goethe seinem einen so zierlich und begrenzt gebauten Epos zu geben wußte. Und hierin liegt die andere Seite seines Wesens. Kein bekannter Dichter oder Schriftsteller lebt gegenwärtig, welcher so sein Licht unter den Scheffel stellt und in solchem Maße das verachtet, was man Technik, Kritik, Literaturgeschichte, Ästhetik, kurz Rechenschaft von seinem Tun und Lassen nennt in künstlerischer Beziehung. Und wenn wir uns nicht gänzlich irren, so liegt der Grund dieser seltsamen widerspruchsvollen Erscheinung weniger in einem unglückseligen Zynismus als in der religiösen Weltanschauung des Verstorbenen. In der Tat scheint es mehr eine Art asketischer Demut und Entsagung gewesen zu sein, welche die weltliche äußere Kunstmäßigkeit und Zierde verachten ließ, ein herber puritanischer Barbarismus, welcher die Klarheit und Handlichkeit geläuterter Schönheit verwarf. Es hängt damit zusammen, daß er nie die geringste Konzession machte an die Allgemeingenießbarkeit und seine Werke unverwüstlich in dem Dialekte und Witze schrieb, welcher nur in dem engen alemannischen Gebiete ganz genossen werden kann. Er schien nichts davon nehmen noch hinzutun zu wollen zu dem, was ihm sein Gott gegeben hatte, und alles künstlerische Bestreben für eine weltliche Zutat zu halten, welche weniger in die Kirche als vor die heidnische Orchestra führe. Aber der gleiche Gott, der den Menschen die Poesie gab, gab ihnen ohne Zweifel auch den künstlerischen Trieb und das Bedürfnis der Vollendung, und wenn er schon in der Blume, die er zunächst selbst 39
machte, Symmetrie und Wohlgeruch liebt, warum sollte er sie nicht auch im Menschenwerke lieben? [ . . . ] Um anzudeuten, was wir mit der Bezeichnung eines großen epischen Talents oder, wie man will, Genies eigentlich verstehen, mögen hier statt einer theoretischen Abhandlung nur ein paar empirische Aphorismen stehen. Zu den ersten äußern Kennzeichen des wahren Epos gehört, daß wir alles Sinnliche, Sicht- und Greifbare in vollkommen gesättigter Empfindung mitgenießen, ohne zwischen der registrierten Schilderung und der Geschichte hin- und hergeschoben zu werden, d. h. daß die Erscheinung und das Geschehende ineinander aufgehen. Ein Beispiel bei Gotthelf. Nirgends verliert er sich in die moderne Landschafts- und Naturschilderung mit den Düsseldorfer oder Adalbert Stifterschen Malermitteln (welche uns andern allen mehr oder weniger ankleben und welche wir über kurz oder lang wieder werden ablegen müssen), und doch wandeln wir bei ihm überall im lebendigen Sonnenschein der grünen prächtigen Berghalden und im Schatten der schönen Täler und sehen die dräuende Gewitternacht der tapfern Gebirgswelt über die hellen Höfe hereinziehen. Und wo er das Naturereignis an sich selbst zum Gegenstande epischer Dichtung macht, wie in der „Wassernot im Emmental", da wird es zur lebendigen Person und in seinem gewaltigen Einherbrausen eins mit den Leidenschaften der Menschen, über welche es hereinbricht, sowie überhaupt dies kleine Büchlein ein wahres Muster- und Lehrbüchlein zu nennen ist für unsere heutigen Pfuscher und Produzenten aller Art; denn es enthält in richtig und glücklich abgewogenen Gegensätzen alle Momente eines reichen Stoffs selbst mit trefflich eingestreutem sachgemäßen Humor, und nichts fehlt als die gereinigte Sprache und das rhythmische Gewand im engern Sinne (im weitesten Sinne ist Rhythmus da in Hülle und Fülle), um das kleine Werkchen zum klassischen, mustergültigen Gedicht zu machen. Man lese es, und man wird uns Recht geben, erstaunend, wie arm und unbeholfen die Dutzende von gereimten Büchelchen sind, die uns alle Tage auf den Tisch regnen, mit und ohne Firma. Auch mit der behaglichen Anschaulichkeit des Besitzes, der 40
Einrichtung von Haus und Hof, der Zahl und Art der Haustiere, der fest- und werktäglichen Gewandung, des Essens und Trinkens weiß Gotthelf überall seine einfachen Schöpfungen sattsam zu durchtränken, ohne in das einseitige Schildern zu verfallen. Von den innern und edlern Kennzeichen wollen wir nur an die Höhepunkte in seinen Geschichten erinnern, welche immer wiederkehren und immer so neu und schön sind; nämlich an jene schweren oder frohen Gänge, welche seine Männer und Frauen tun in das Land hinaus, wenn sie bei entfernten Blutsfreunden oder bei den ihnen durch ihre guten Eigenschaften erworbenen Freunden und Getreuen Rat, Hülfe in der Not oder Teilnahme an ihrem Wohle suchen. Man betrachte nur eine dieser herrlich gezeichneten Wanderungen, und man wird durch ihren ausführlichen Verlauf und die daraus hervorstrahlende durchaus gesunde und begründete Rührung an die besten Zeiten der Poesie erinnert. Überhaupt ist es der seltene Vorzug unsers Mannes, daß er seinen Stoff immer erschöpft und entweder mit einer zarten und innigen Befriedigung oder mit einer starken Genugtuung zu krönen versteht, mit einer Befriedigung von solcher ursprünglichen, beseligenden Tiefe, daß sie mit der Erkennungsszene zwischen Odysseus und Penelope aus einem und demselben Quell zu perlen scheint. [ . . . ] 15
ARTHUR SCHOPENHAUER:
Aesthetik (vor Die Aufgabe
des
Zur Metaphysik des Schönen und
I8$I)
Romanschreibers
[ . . . ] Das e nihilo nihil fit gilt auch in den schönen Künsten. Gute Maler lassen zu ihren historischen Bildern wirkliche Menschen Modell stehn und nehmen zu ihren Köpfen wirkliche, aus dem Leben gegriffene Gesichter, die sie sodann, sei es der Schönheit, oder dem Charakter nach, idealisiren. Eben so, glaube ich, machen es gute Romanschreiber: sie legen den Personen ihrer Fiktionen wirkliche Menschen aus ihrer Bekanntschaft schematisch unter, welche sie nun, ihren Absichten gemäß, idealisiren und kompletiren. 4i
Die Aufgabe des Romanschreibers ist nicht, große Vorfälle zu erzählen, sondern kleine interessant zu machen. Ein Roman wird desto höherer und edlerer Art seyn, je mehr inneres und je weniger äußeres Leben er darstellt; und dies Verhältniß wird, als charakteristisches Zeichen, alle Abstufungen des Romans begleiten, vom Tristram Shandy an bis zum rohesten und thatenreichsten Ritter- oder Räuberroman herab. Tristram Shandy freilich hat so gut wie gar keine Handlung; aber wie sehr wenig hat die neue Heloise und der Wilhelm Meister! Sogar Don Quijote hat verhältnißmäßig wenig, besonders aber sehr unbedeutende, auf Scherz hinauslaufende Handlung: und diese vier Romane sind die Krone der Gattung. Ferner betrachte man die wundervollen Romane Jean Pauls und sehe, wie so sehr viel inneres Leben sie auf der schmälsten Grundlage von äußerem sich bewegen lassen. Selbst die Romane Walter Scotts haben noch ein bedeutendes Übergewicht des innern über das äußere Leben, und zwar tritt Letzteres stets nur in der Absicht auf, das Erstere in Bewegung zu setzen; während in schlechten Romanen es seiner selbst wegen da ist. Die Kunst besteht darin, daß man mit dem möglichst geringsten Aufwand von äußerm Leben das innere in die stärkste Bewegung bringe: denn das innere ist eigentlich der Gegenstand unsers Interesses. [ . . . ]
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K A R L G U T Z K O W : Vorwort zu „Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern" (18 j o)
Der Roman des Nebeneinander [ . . . ] Denn ich glaube, daß der Roman eine neue Phase erlebt. Er soll in der Tat mehr werden, als der Roman von früher gewesen. Der Roman von früher, ich spreche nicht verachtend, sondern bewundernd, stellte das Nacheinander kunstvoll verschlungener Begebenheiten dar. O, diese prächtigen Romane mit ihrer klassischen - Unglaubwürdigkeit! Diese herrlichen, farbenreichen Gebilde - des Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten! Denn wer sagte euch, ihr großen Meister des alten Romans, daß die im Durchschnitt erstaunlich harm42
lose Menschenexistenz gerade auf einem Punkte soviel Effekte der Unterhaltung sammelt, daß sich ohne Lüge, ohne willkürliche Voraussetzung, alle Bedingungen zu eurem einzigen behandelten kleinen Stoff so zuspitzen konnten? Die seltenen Fälle eines drastischen Nacheinanders greift im Grunde nur das Drama auf. Sonst aber - lebenslange Strecken liegen ja zwischen einer Tat und ihren Folgen! Wieviel drängt sich nicht zwischen einem Schicksal hier und einem Schicksal dort! Und ihr verbandet das alles so rasch? Ihr warft das, was dazwischenlag, sorglos beiseite? Der alte Roman tat das. Er konnte nichts von dem brauchen, was zwischen seinen willkürlichen Motiven in der Mitte liegt. Und doch liegt das ganze Leben dazwischen, die Zeit, die Wahrheit, die Wirklichkeit, die Widerspiegelung, die Reflexion aller Lichtstrahlen des Lebens, kurz das, was einen Roman, wenn er eine Wahrheit aufstellte, fast immer sogleich widerlegte und nur eine Tatsache gelten und siegen ließ, die alte Wahrheit von — unwahrer, erträumter Romanenwelt! Nein, der neue Roman ist der Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt - ! Da begegnen sich Könige und Bettler - ! Die Menschen, die zu einer erzählten Geschichte gehören, und die, die ihr eine widerstrahlte Beleuchtung geben. Der Stumme redet da auch, auch der Abwesende spielt mit. Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft nur das, was zwischen zwei seiner Schilderungen als ein Drittes, nur dem Hörer Fühlbares, in Gott Ruhendes, in der Mitte liegt. Nun fällt die Willkür der Erfindung fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt oder stellt wenigstens seine Beleuchtung der der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspektive des in den Lüften schwebenden Adlers herab und hat eine "Weltanschauung, neu, eigentümlich. Leider ist es eine polemische. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt und bekämpfen sich. Resultat: Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder den Glauben und das Vertrauen schöpfen - daß die Erde von einem und demselben Geiste regiert wird. Ein solcher Versuch, die zerstreuten Lichtstrahlen des Lebens in einen Brennpunkt zu sammeln, das ist die Geschichte, die 43
ich dir, lieber Leser, hier aufgerollt habe. Sie ist in den Tatsachen und in dem sozusagen allegorischen Rahmen keineswegs neu, sie ist es aber vielleicht in der Verknüpfung. Kurz konnte sie ihrer Natur nach nicht werden, denn um Millionen zu schildern, müssen sich wenigstens hundert Menschen vor deinen Augen vorüberdrängen. Denke nur immer, daß der Zweck und die Aufgabe so lautet: Die Missionäre der Freiheit und des Glaubens an die Zeit sind es ihren Gemeinden schuldig, ihnen zu zeigen, wie noch immer die ganze Fülle des Lebens von ihrem neuen Licht beschienen sein kann, und wie es sich noch mit den alten Lungen atmen läßt überall, in jedem Winkel Gottes, den der neue Luftzug der Idee, der Pfingstzeit neues Windeswehen, bestreicht. Die äußere Welt ist allerdings durch Künstlerhand allein nicht zu ändern. Laßt vorläufig unsere Minister und die Soldaten dafür sorgen! Aber die innere Welt, die, welche jeder in seiner Brust trägt, die kann schon eine umfassende, in allen Höhen und Tiefen des Lebens aus einem Gesichtspunkt betrachtete und eine festbegründete sein. Diese Allseitigkeit war nun mein Ziel. Ich sage nicht, daß ich ein Panorama unserer Zeit geben wollte. Wer vermöchte das? Die Aufgabe wäre nicht zu lösen, und anmaßend klänge es, wollte sich jemand ihrer anheischig machen. Aber ein gut Stück von dieser unserer alten - neuen Welt sollte aufgerollt werden, eines, gerade groß genug, um ein Menschenleben zu ermuntern, daß es nicht verzagt, sondern getrost in dem einen Geist der Freiheit und Hoffnung fortwandelt und sich die laufenden, tagesüblichen Bedrängnisse der innern Uberzeugung nicht zu sehr verdrießen läßt. [ . . . ]
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KARL GUTZKOW
: Vom deutschen Parnaß (1854)
Noch einmal über den Roman des Nebeneinander [ . . . ] Den Roman des „Nebeneinander", den ich aufgestellt habe, wird man verstehen, wenn man sich aus einem Bilderbuch die Durchschnittszeichnungen eines Bergwerks, eines Kriegsschiffs, einer Fabrik vergegenwärtigt. Wie da das nebeneinander existierende Leben von hundert Kammern und Kämmerchen, wo 44
eine von der andern keine Kenntnis hat, doch zu einer überschauten Einheit sichtbar wird, so wird der Roman des „Nebeneinander" den Einblick gewähren von hundert sich kaum berührenden und doch von einem einzigen großen Pulsschlag des Lebens ergriffenen Existenzen. Eine Betrachtungsweise, wo ein Dasein unbewußt die Schale oder der Kern des andern wird, jede Freude von einem Schmerz benachbart ist, von einem Schmerz, der über das, was jene himmelhoch erhebt, seinerseits tief zu Boden gedrückt sein kann, und wo andererseits eine Unbill auch schon wieder unbewußt den Rächer auf den Fersen hat, wird den Roman noch mehr als früher zum Spiegel des Lebens machen. Dem „sozialen Roman" ist das Leben ein Konzert, wo der Autor alle Stimmen und Instrumente zu gleicher Zeit, sie in- und nebeneinander vereinend, spielt oder leitet. Wiedergeben läßt es sich mit der Feder nur in der Form des Nacheinander, aber auf die Anschauung kommt es an. Ist diese soviel als möglich nach allen Lebensäußerungen zugleich gerichtet, und könnte man hoffen, daß diese von einem großen Hintergrund ausgehende Romanform in manche Dissonanz Wohlklang, in manche Verzweiflung Trost, in manches unbefriedigte und unlösliche Einzelne einen beruhigend lösenden Widerklang aus Sphären bringt, die mit dem nächst Geschilderten in einen sichtlichen Zusammenhang zu bringen unnatürlich erscheinen müßte, so wäre man vorläufig wenigstens da wieder angekommen, wo die Poesie überhaupt stehen soll, daß der Dichter Seher ist, die Poesie Religion. 18
KARL GUTZKOW : D e r R o m a n u n d d i e A r b e i t ( 1 8 5 5 )
Es ist Pflicht, gleich im Beginn ihrer Verbreitung falschen Begriffen entgegenzutreten; denn nur zu bald stehen sie fest und richten Verwirrungen an. Ein solcher falscher Begriff ist die neuerdings so ausdrücklich hervorgehobene Verweisung des Romans auf die Arbeits" Nur * Freytags kurz zuvor erschienener R o m a n „Soll und H a b e n " führt als Motto ein Wort Julian Schmidts: „Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, w o es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit." (Anm. des Herausgebers) 45
da solle der Roman verweilen, wo das Volk arbeite! Läßr man diese Lehre aufkommen, so würde sie uns die Romanliteratur zum unerquicklichsten Genüsse verwandeln. Gewiß ist es wahr, daß der alte deutsche Roman und die beiden von Goethe gegebenen klassischen Muster den Roman von der Arbeit zu sehr entfernt hatten. Man schilderte nur zu oft Menschen, die, ihren Träumen und Hirngespinsten nachgehend, ihren Gelüsten und Empfindungen lebend, kaum der wirklichen Welt angehörten. Die erste Bedingung dieser Welt ist der Kampf des Einzelnen mit dem Allgemeinen, die Stellung des Geistes zur Materie. Jene Goetheschen Gestalten aber und die meisten von Jacobi, Jean Paul und andern, die bis auf den heutigen Tag die von jenen aufgestellten Persönlichkeiten variierten, scheinen allerdings nur von der Luft zu leben. Sie sind nichts, tun nichts, sie reflektieren nur und folgen den Eingebungen, die ihnen der Dichter gibt, um irgendeine seiner allgemeinen Wahrheiten zu beweisen. Man hat schon oft gesagt und konnte es bis auf die neueste Zeit, z.B. bei den Romanen der Hahn-Hahn, wiederholen, hätten alle die von diesen Autoren aufgestellten Persönlichkeiten, so wie wir, ihre uralt hergebrachte Lebenssorge gehabt, sie würden nicht den Wirrwarr erlebt haben, in welchen sie als verwickelt dargestellt werden. Von diesen idealen Flaneurs zur Anempfehlung der Arbeit als ausschließlichen Hebels der Romanenwelt ist aber ein gewaltiger Sprung. Der Roman soll uns Menschen schildern, die dem Leben angehören, und da das Leben zum überwiegenden Teile nicht ohne Arbeit besteht, so soll man auch den Menschen des Romans ansehen, daß sie den allgemeinen Gesetzen unserer Lebensordnung nicht entrückt sind. Sie müssen in den Bedingungen unserer bürgerlichen Ordnung wurzeln; und haben sie nicht nötig, sonst noch etwas anderes zu tun, als wozu sie der Dichter im Interesse seines Themas verbraucht, so muß von ihnen diese Berechtigung bewiesen werden. Ungesagt aber darum bleibt, daß ihr Erwerb selbst der Gegenstand des Romans zu sein braucht; ungesagt, daß der Roman nur noch Berechtigung haben dürfe bei den Werkstätten des Schaffens, der Mühe und der Sorge. 46
Den Roman an die Welt der Arbeit verweisen, heißt ihn in seiner ganzen Natur aufheben; denn es ist gerade das Wesen des Romans, die Wochentagexistenz des Menschen gleichsam beiseite liegen zu lassen und seinen Sonntag zu erörtern. Wir verstehen unter Sonntag die Offenbarung seiner poetischen Natur, sei es nun im Leiden oder im Handeln. Der ewige Sonntag jedes Menschen ist sein Lieben, sein Gefühl für Freundschaft, seine Religion, sein Geschick. Es kann ihm dieser Sonntag, und wär' es ein ihn nur verklärender Kummer oder die Märtyrerschaft der Not, manchmal aus und mit der Arbeit entstehen, aber die Arbeit kann ebenso auch nur ganz äußerlich neben seinem Empfinden, Wünschen und Hoffen herlaufen. Der Sonntag des Menschen, der dem Romandichter gehört, ist ein Drittes, das über dem allgemeinen Leben und der besondern Existenz schwebt; der Sonntag sind die Bezüge des Lebens. Schon daß das so wenig an der Arbeit unmittelbar beteiligte Weib die das Romangetriebe in Bewegung setzende Unruhe ist, beweist, daß der Romandichter vom praktischen Menschen nur ein Stück in Anspruch zu nehmen braucht. Daß man in neuerer Zeit bei arbeitenden Menschen viel Poesie gefunden hat, kann nicht die Lehre aufstellen lassen, der Roman hätte nicht mehr den Menschen in seiner träumenden und idealen Neigung zu schildern. Wir würden das Feld der Poesie auf unverantwortliche Art begrenzen, wenn wir jeden Roman, der sich noch mit Glaube, Liebe, Hoffnung, mit dem Herzen und der Phantasie beschäftigt, jeden Roman, der die ideale Natur des Menschen vorzugsweise erörtert, diskreditieren wollten mit dem Motto: „Der neue Roman soll den Menschen bei der Arbeit aufsuchen." Im Gegenteil, er soll zwar immer den arbeitenden Menschen im allgemeinen schildern, d. h. den an die Bedingungen äußerer Existenz gebundenen, aber er soll an ihm das hervorheben und zur Sprache bringen, was mit der Arbeit nichts oder nur sehr wenig zu tun hat. Man ist auf diese Empfehlung der Arbeit nicht bloß durch die Unwahrheit der idealen Wilhelm-Meister-Sphäre gekommen, sondern auch wahrscheinlich durch das, was in neuerer Zeit vorzugsweise die „Dorfgeschichten" für eine tiefere Anlage der Charakterzeichnung getan haben. Aber gerade die „Dorfgeschichten" beweisen die Gefahr des neuen Satzes. So47
lange sie genrebildliche Züge aus dem Leben der Bauern hervorhoben, solange sie den ewigen Sonntag aller Menschen, ob nun des Menschen im besternten Hofkleide oder im Bauernkittel, zum Gegenstande des Romans wählten, konnten sie fesseln, nicht aber, als sie den Roman der wirklichen Bauernarbeit anbahnen wollten. Solange die Dorfgeschichte eine allgemeinmenschliche Wahrheit ausdrückte, war ihr der Genius der Poesie nahe. Die Poesie aber würde verschwinden, wenn wir die höchstens episodisch zu verbrauchenden Zustände des Bauernlebens mit Selbstzweck geschildert sehen sollten, ζ. B. da, wo es sich um Erbschaftsteilungen bei Bauerngütern, um Brandversicherungen, um ihre Folgen und ähnliches ganz und gar dem Bauernhofe und der Wirtshauschronik Zugehöriges handelte. Nehmen wir den Kaufmannsstand. Auch er hat seine Poesie. Er hat eine negative Seite des Träumens, die Freiligrath einst unter Kolonialwaren zum Sänger von Länder- und Völkerkunde machte; er hat eine positive Seite des Ringens und des Erwerbs. Aber dies Gebiet ist für die Poesie sehr eng. Will man es erschöpfen, so wird man bald monoton werden. Glaubt man gar die Poesie des Kaufmannsstandes im großen Stile fassen zu können, so wird man in die Nähe Ifflands kommen. Die Poesie des Handwerkers ist weiter; eine Spitzenklöpplerin, ein Steinschneider, eine Nähterin, ein Meister und Gesell in jedem Gewerbe bieten, da sie in freier Arbeit Werte schaffen, mannigfache Abwechselung; ein Kaufmann aber, dessen Wirken Spekulation ist, wird uns wohl Mitleid abgewinnen können, wenn sich die ihm notwendigen zwanzig Prozent nicht ergeben wollen, aber dies Mitleid kann nie ein erhebendes werden. Der Kaufmann beutet die Verlegenheiten des Bedarfs aus, und es liegt auch eine ganz hergebrachte Ehrlichkeit in seinem Gewerbe; man kann aber nicht ergriffen sein von seiner Rührigkeit, noch weniger, wenn ihm etwas mißlingt, mehr empfinden als ein allgemeines Bedauern. Die Arbeit in Ehren, aber zur Poesie dränge sie sich nicht ungestüm! Sie stoße nicht, Lastträgern des Packhofs gleich, den sinnenden Träumer an den Kopf. Der deutsche Roman vollends hat die erwiesenste Berechtigung, noch immer in seiner alten Sphäre der Idealität zu bleiben. Unser Volk wird 48
sich seinen innersten Trieb zu einem höhern Kulturleben nicht nehmen lassen, und mag auch die Materie sich mit Dampf, Elektrizität und Börsenschwindel noch so geltend machen, Romane, die sich mit Gegenständen des Glaubens, der Liebe, des Hoffens beschäftigen, werden uns und allen Nationen immer berechtigt bleiben, vorausgesetzt, daß sich in ihnen die Schicksale solcher Menschen kreuzen, die wenn auch keineswegs ganz real sind, doch die Elemente der Realität in sich tragen. Denn auch diese Freiheit bleibe dem Dichter unbenommen, sich wie Prometheus Menschen zu schaffen nach seinem Bilde; d.h. Menschen, die nur aus den allgemeinen Grundstoffen der ewigen Menschennatur gewoben und keineswegs Daguerreotypen einer alltäglichen Wirklichkeit sind.
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K A R L R O S E N K R A N Z : Gutzkow's Ritter vom Geist. Roman in neun Büchern (1852)
[ . . . ] Hiermit könnten wir wohl von dem interessanten Buche und seinem uns sehr werthen Autor Abschied nehmen. Allein wir können nicht von ihm scheiden, ohne nicht noch des Vorwortes zu erwähnen, das ihm so viel Eintrag gethan und so viel falsche Vorstellungen über die Ritter in Umlauf gebracht hat. Gutzkow stellt darin ausdrücklich in Abrede, mit ihnen einen Feuilletonroman geschrieben zu haben und benimmt sich gegen Eugene Sue sehr vornehm, als ob derselbe seine Mysterien von Paris und seinen irrenden Juden nur für große Kinder verfaßt habe. Welche Ungerechtigkeit! Welcher Selbstbetrug! Gutzkow schrieb seine Ritter zunächst als ein Werk, das als Beiblatt einer Zeitung bruchstückweise erscheinen sollte und in der That auch zuerst so erschien. Dieser Umstand entscheidet, denn er bestimmt die Behandlung. Ich will hier nicht die Beschaffenheit des Feuilletonromans überhaupt erörtern, aber ich frage, ob sie nicht dem Gutzkow'schen Werk aufgeprägt ist. Gern gebe ich zu, daß dasselbe in ethischer und deshalb auch in ästhetischer Hinsicht die Sue'schen Romane weit übertrifft: aber in der Fabel, in der Manier der Behandlung, im Vorwalten des rhetorischen Ausdrucks vor dem poetischen, in der Neigung zum Grellen, zum Criminali49
stischen, in der Weitläufigkeit der Schilderung, in dem Sichanpassen der Reflexion an die Durchschnittsintelligenz, in dem Hineinziehen der unmittelbaren Gegenwart, in diesem Allen würde ich die ursprüngliche Anlage eines Feuilletonromans nicht zu verkennen im Stande sein. Sodann blickte Gutzkow mitleidig auf den altern deutschen Roman, weil derselbe in der Form des Nacheinander nur einen Ausschnitt der Welt gegeben habe, während er aus der Vogelperspective das Nebeneinander eines allseitigen Weltbildes aufstelle. Welche Eitelkeit und welche Selbsttäuschung! Als ob die kleinste Geschichte ohne Raum und Zeit, also ohne ein Neben- und Nacheinander möglich wäre! Als ob sein Panorama der Gegenwart der Succession entbehren könnte! Als ob die poetische Totalität in einer encyclopädischen Vollständigkeit läge! Als ob die Poesie nach der Elle des empirischen Reichthums sich abmesse! Worin nun aber die Simultaneität dieser Ritter vom Geist sich so besonders von der in andern Romanen unterscheiden soll, ist schwer einzusehen. Ganz unparteiisch muß ich bekennen, daß mir in Sue's juif errant sowohl die äußere Mannigfaltigkeit des Weltbildes universeller und größer, als auch die Simultaneität des Geschehens charakteristischer zu sein scheint: denn von allen Weltgegenden her, selbst bis aus Ostindiens Fernen, sehen wir hier die verschiedensten Menschen auf das Haus in der Straße Rennepont zuwandern. [ . . . ]
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Briefe an Gustav Heckenast. - Über den Roman „Der Nachsommer" (1853, 1 8 5 6 , 1 8 5 7 )
ADALBERT STIFTER:
9. Juni 18f 3 [ . . . ] Das Buch, welches ich gerne Nachsommer heißen möchte, ist fast schon ganz fertig, die Zustände darin sind mir geläufig, und liegen mir als Materiale in großem Vorrathe im Herzen, was auch der Grund sein mag, daß ich nicht nur leichter arbeite als im historischen Romane, sondern daß ich auch von demselben gerne zur Erholung eine Parthie des Nachsommers des Vogelfreundes hernehme und entweder neu arbeite oder feile. Der Roman hat eine wissenschaftliche Seite, die von vorn $0
herein in keines Menschen Seele liegt, sondern die er sich erwerben muß, das Geschichtliche. Dieses muß so treu angeeignet werden, daß Dichter und Leser in der Luft jener vergangenen Zeiten athmen, und die Gegenwart für sie nicht ist, dies allein gibt Wahrheit. Aber zu dem ist nicht das historische Wissen allein genug, dies gäbe nur ein hölzernes Gerippe, sondern das historische Mitleben, dieses gibt den Gestalten Fleisch und Blut. Ich hoffe, daß Sie dieses Leben finden werden. Selbst die erfundenen Figuren müssen in die Zeit passen, daß der Leser sie nicht weg zu denken vermag. Diese Aneignung der Vergangenheit als eines jezt mitlebenden Theiles des Dichters ist das Schwerste, es sezt große historische Vorarbeit inniges Eingehen und Liebe zur Vergangenheit des Menschen und Vergessen seiner selbst voraus. Das Leichteste ist dann die dichterische Verklärung des Stoffes zu einem Schönheitsbilde, welches den Menschen entzükt und erhebt - ich sage das Leichteste, weil es in der Seele des Dichters ohne sein Zuthun waltet und webt, freilich für den, in dem es nicht waltet, ist es das Schwerste oder es ist ihm geradezu unmöglich. Wie viel wie wenig ich da leisten werde, liegt in des Himmels Schose, ich weiß es nicht, aber aus dem Ernste und der Ergriffenheit, die oft während der Arbeit in mir ist, und mich, ohne daß Gegenwehr hilft, überkömmt, dürfte zu schließen sein, daß auch andere Seelen werden erfaßt werden. Ich will Ihnen den Nachsommer, wenn er fertig ist, zum Lesen schiken. Herausgeben dürfen wir ihn erst nach dem Romane, ich bitte, folgen Sie hierin meinem poetischen Instinkte, und dringen Sie nicht auf die Herausgabe. Die Ursache ist die in einem einzigen Werke so wie in dem Leben eines ganzen Dichters nothwendige A b wechslung, der Gegensaz, der Wärme Klarheit und Frische verleiht. Darum ist jezt die ernste strengere Geschichtsarbeit vorzuführen. [ . . . ]
29. Februar
I8J6
Hier folgt der Schluß des 1. Bandes des Nachsommers. Möge das Werk so rein so edel einfach und innig sein, als es mein Gefühl beim Arbeiten ist. Seit ich alles und jedes bei Seite gelegt habe, und mich nur in dieses Werk versenkt habe, wird Ji
es mir immer theurer, die Tagesstunden, die ich damit verbringe, sind meine schönsten. Ich hoffe hiemit etwas zu „dichten" nicht zu „machen". Die ganze Lage so wie die Karaktere der Menschen sollen nach meiner Meinung etwas Höheres sein, das den Leser über das gewöhnliche Leben hinaus hebt, und ihm einen Ton gibt, in dem er sich als Mensch reiner und größer empfindet, daher das Buch öfter gelesen werden kann, und immer dieselbe Empfindung erfolgt, ja, wenn man den Zusammenhang bereits weiß, in noch höherem Maße erfolgen soll, weil man durch das Stoffliche nicht mehr beirrt wird d. h. wenn ich mich nicht selber irre, wenn das, was in mir beim Schreiben des Buches war, auch im Buche ist, was man nicht immer wissen kann. Hätte nur ein anderer das Buch geschrieben, und ich es blos gelesen, dann wüßte ich es schon. Die Gliederung soll organisch sein, nicht daß Handlungen im Buche neben einander liegen, deren einmal eine die lezte ist. Ich will mich bemühen und besinnen, daß jedes Fremde weg ist, und daß jedes Zugehörige da ist. Der i . B a n d rundet die Lage ab, und säet das Samenkorn, das bereits sproßt, und zwar mit den Blättern vorwärts in die Zukunft des jungen Mannes und Nataliens und mit der Wurzel rükwärts in die Vergangenheit des alten Mannes und Mathildens. Eine heitere Gegenwart soll alles umstrahlen und verschönern. Daß in beiden Richtungen in den folgenden Bänden wärmere Gefühle und tiefere Handlungen kommen müssen, liegt im Haushalte des Buches, welches wie ein Organismus erst das schlanke Blättergerüste aufbauen muß, ehe die Blüthe und die Frucht erfolgen kann. [ . . . ] 22. März
i8fj
[ . . . ] Wenn der Titel noch nicht gedrukt ist, so möchte ich statt des Beisazes ,eine Erzählung aus unseren Tagen' blos den Beisaz ,eine Erzählung' haben; denn sie spielt doch nicht in unsern Tagen, sondern um 30 und mehr Jahre zurük. Auch erscheint mir der Beisaz maniriert. Die Zeit muß der Leser finden. A m Ende sucht er durch den Beisaz verführt Dampfbahnen und Fabriken in dem Buche. [ . . . ] Wenn ich nicht alles Urtheiles bar bin, so müßte dieses Werk
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meine früheren weit übertreffen. Ich hoffe, daß die Reife des Mannes und der weitere Blik in ihm ist nebst der Ruhe der Heiterkeit und der Innigkeit der Kunst, welche breite Theile des höheren menschlichen Lebens umfaßt. So schwebt es mir vor. Ist es so, ist es nicht. In der Form habe ich die Einfachheit der Antike vor mir gehabt. Viele besonders moderne Leser werden verblüfft sein; denn es sind die heutigen Redekünste gar nicht vorhanden, ich muß gestehen, daß ich sie verachte, wie einen guten Theil der heutigen gespreizten aber leeren Musik. [ . . . ]
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Brief an Gustav Heckenast. - Über Freytags „Soll und Haben" (1856)
ADALBERT STIFTER:
7. Februar 18j6 [ . . . ] Freitag geht es in der Poesie wie den Virtuosen in der Musik. Sie können meistens in der Technik Außerordentliches leisten, ohne daß ihr Spiel Musik ist. Freitag macht Theile äußerst geschikt, ohne daß ein Hauch von Poesie vorhanden ist. Theile, sagt Jean Paul, kann das Talent auch machen, oft besser als das Genie - nur auf das Ganze kömmt das Talent nie. So auch Freitag. Er hat lauter Theile, die nie ein Bild machen, man muß in den 3 Bänden ewig neu anfangen, keine Begebenheit bleibt sie selber, kein Karakter bleibt er selber, und immer hat man an den Erlebnissen keine Freude. Z.B. Nichts ist trefflicher als das zähe und geduldige Warten des Veitel Itzig auf den Baron auf der Stiege mit dem Wechsel, ferner nichts natürlicher als der Mord in der Situation Veiteis mit dem Betteladvokaten - nur ist es ganz unmöglich, daß dieselbe Person die 2 Dinge thut. Hätte er Veitel entwikelt, wie er auf lauter schlechten aber lauter gesezlichen und von den staunenswerthesten Dulden und Leiden begleiteten Wegen endlich zum Besize des Gutes des Barons kömmt, so hätte das Ding ein Meisterwerk werden mögen, hätte er hiebei die Geschichte des Barons, als eines Mannes, der von geordneten Verhältnissen durch List und Schlechtigkeit der Juden in Unordnung geräth, in die Veiteis geschikt verflochten, den andern Juden als nöthige Nebenfigur und von Veitel überflügelt be$3
handelt, Finks unter allen am losesten daliegende Geschichte gar nicht eingemengt, die ehrenwerthe Firma als milde und bindende Luft um das Ganze gegossen Antons Schiksale mit der Baronsfamilie verflochten, manche trefflich behandelte Comptoirsscene nur als Entwiklungswege Antons behandelt, hätte er die zwei anonymen Revolutionen Gefechte Selbstmordversuche Spelunken geheimnißvolle Gewässer und Treppen zu ihnen hinab als ganzen spindlerischen Apparat weggelassen, so hätte auch das Buch ein treffliches werden mögen. Dann hätte freilich müssen der Verfasser Empfindung für Totalität haben. Wie das Buch jezt ist, halte ich es troz der Virtuosenkunststüke für Leihbibliothekfutter. Troz dem, daß mir ein parmal bei Einzelheiten die Augen feucht werden wollten halte ich doch das Buch für eiskalt, und zum Schluße ekelte es mich an. Alles ist nur erdacht und gemacht, daher nichts entwikelt und organisch. Was die Karaktere anlangt, halte ich Fink troz der Versuche des Autors, ihn aufzusteifen, für den mißrathensten. Er ist blos ein anmassender seichter Taugenichts. Von dem Baron begreift man blos nicht, warum er nicht längst zu Grunde gegangen ist, oder überhaupt je in geordneten Verhältnissen gelebt haben könne. Die Baronesse ist als Kind etwas und wird immer weniger. Veitel geht bis zur Verbindung mit Hippus prächtig, und wird endlich eine Figur nach Christian Heinrich Spieß, Ehrenberg ist schal, dessen Sohn ist nach meiner Meinung das gelungenste Bild, nur im Buche ganz überflüßig, er kömmt und geht, wie vieles Andere und man weiß nicht weßhalb, außer daß sie eben da gewesen sind. Die Kaufmannstochter ist schon tief gestellt durch ihre Leidenschaft für Fink, hebt sich etwas, bleibt immer schattenhaft, und ihre Heirath Antons ist wie eine Abfindung. Das Comptoirleben ist sehr hübsch, etwa hat der Autor hierin prakticirt; aber es liegt lose neben dem Andern, wie überhaupt alles lose neben einander in dem Buche liegt. Anton ist häufig ziemlich gut, sehr unerquiklich als Doctor im Hause des Barons, und dadurch, daß er sich einer Familie, bei der doch nichts heraus kömmt, als Finanzdoctor leiht, und doch nichts zusammendoctort, hiebei aber seine ganze Lebensstellung aufgibt, wird er geradezu ein Schwächling. Der Kaufmann, welcher sehr viel sein soll, ist doch nur eine Schattenfigur, bei 54
der keine rechte Plastik heraus kömmt, er handelt auch immer so seltsam, daß man keine Liebe zu ihm gewinnt. [ . . . ]
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Epos und Drama in der deutschen Literatur der Gegenwart (1854)
ROBERT PRUTZ:
[ . . .]Eine Zeit der Versuche und Anläufe, wie die unsere nun einmal in politischer und socialer Hinsicht ganz unzweifelhaft ist, kann auch in der Literatur unmöglich mehr als bloße Versuche und Anläufe leisten; ja es wird schon immer einige Anerkennung verdienen, wenn die Literatur nur wenigstens nicht in dieselbe Erschlaffung versinkt, die sich des politischen Lebens bemeistert hat und sich nicht gleich diesem einer völligen Unthätigkeit ergiebt. Nun aber ist es, ganz abgesehen von dem ästhetischen Werth der einzelnen Productionen, eine Thatsache, die jeder Blick in den Meßkatalog bestätigt, daß in Deutschland seit langem nicht so viel Romane und vielleicht noch niemals so viel erzählende Gedichte gedruckt worden sind, wie in diesem Augenblick. Fassen wir denn die Bedeutung dieser beiden Gattungen ein wenig näher ins Auge. Wir nannten das erzählende Gedicht vorhin eine Zwittergattung; ganz dasselbe wird bekanntlich auch dem Romane nachgesagt. Doch setzten wir auch sogleich hinzu, daß das erzählende Gedicht bei alledem eine vollkommen berechtigte Gattung; derselbe Vorbehalt wird auch hinsichtlich des Romans zu machen sein. Beide sind wesentlich moderne Gattungen; das Alterthum kennt sie entweder gar nicht oder doch erst von da an, wo seine eigene K r a f t bereits gebrochen und der Obergang in ein neues Zeitalter bereits angebahnt ist. Das Alterthum kennt in der erzählenden Gattung nur das wirkliche epische Gedicht; erst wie die Selbstauflösung der klassischen Welt beginnt, löst sich aus dem epischen Gedicht, vermuthlich unter Zuthun orientalischer oder sonstiger fremdartiger Elemente, einerseits Roman und Märchen, andererseits das erzählende Gedicht ab, für welche letztere Gattung (die Anfänge des griechischen Romans bei Heliodor, Achilles Tatius etc. sind hinlänglich bekannt) wir nur an das Gedicht des angebJJ
liehen Musäus von Hero und Leander, als an ein berühmtes und weitverbreitetes Beispiel, erinnern wollen. Diese Übergangsproducte, wie unerheblich der Mehrzahl nach an poetischem Werthe, sind doch höchst wichtig als Momente der fortschreitenden Entwicklung; sie leiten die klassische Zeit über in die moderne, die nun in Roman und erzählendem Gedicht ihren nächsten, eigentlichsten Ausdruck findet. Beide sind ihrer Natur nach episodisch; beide wurzeln theils unmittelbar in der Wirklichkeit des täglichen Lebens, theils schaffen sie sich eine eigene willkürlich phantastische Welt, die sie bald andächtig bewundern, bald ironisch wieder auflösen; beide endlich sind an keinen bestimmten Ort, keine bestimmte Zeit noch irgend andere nationale Voraussetzungen gebunden, sondern wie nach dem Zusammensturz der antiken Welt in unübersehbarer Fluth Völker und Sprachen sich mischen, so mischen auch in dieser modernen Gattung des Romans und der erzählenden Dichtung sich alle möglichen Zeiten, Völker, Umgebungen - und sogar noch einige unmögliche dazu. [ . . . ] Was aber bedeutet nun, um auf unsere eigentliche Frage zurück zu kommen, der so außerordentlich lebhafte Anbau dieser beiden Gattungen gerade im gegenwärtigen Augenblick? Er bedeutet, wenn wir recht sehen, daß die deutsche Poesie den Drang empfindet, sich den Zuständen der Wirklichkeit mehr anzuschließen, als es bisher der Fall war, und sich dabei doch zugleich die volle Freiheit der Phantasie und jene ungetrübte, heitere Laune des Poeten, die ihr in dem tendenziösen Streben der jüngsten Zeit verloren gegangen war, wiederzuerobern. Aus dem einen Bestreben geht der Roman hervor, dieses treueste Spiegelbild unsres modernen Lebens, aus dem andern jene erzählenden Dichtungen, welche sich Arabesken gleich auf dem dunkeln Grunde der Gegenwart emporranken, und denen, bei außerordentlich viel Schwachherzigem und Kindischem, das mitunterläuft, doch immerhin das zugestanden werden muß, daß sie die Poesie populär machen helfen und das Gefühl f ü r das Schöne wieder aufwecken in Regionen, die demselben unter dem Druck des Tages und der politischen Verstimmung der Zeit längst abgestorben waren. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, wollen wir beide $6
willkommen heißen; ja es soll nichts schaden, wenn vielleicht für die nächste Zeit unsere Romane noch immer prosaischer, unsere erzählenden Dichtungen noch immer phantastischer und spielender werden - es ist eine Schule, die unsere Poeten eben durchmachen und in der sie sich eben so sehr wieder an die Freiheit der Phantasie wie an die genauere Beobachtung des wirklichen Lebens gewöhnen müssen. Das wahre Ziel freilich wird nicht eher erreicht werden, als bis die beiden Richtungen, die sich jetzt noch getrennt entwickeln, wieder in eine dritte, höhere zusammenlaufen. Der Roman muß das erzählende Gedicht, das erzählende Gedicht muß den Roman in sich aufnehmen. Ersteres würde den Roman von den prosaischen Tendenzen, die ihm größtentheils noch anhaften, befreien und ihn, ohne daß er darum der Wirklichkeit untreu würde, in jenes heitere Gebiet der Phantasie und des schönen Spiels erheben, das auch dem Roman keineswegs verschlossen ist und auf dem sich auch in der That das Meisterstück dieser ganzen Gattung bewegt, der tiefsinnigste und großartigste Roman aller Zeiten, der zugleich auch der heiterste und ergötzlichste ist und auf den das vielgebrauchte und noch öfters mißbrauchte Wort von dem Roman als Epos der modernen Zeit seine volle Anwendung findet - der Don Quixote des Cervantes. [ . . . ]
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THEODOR FONTANE: Gustav Freytag - Soll und Haben. Ein Roman in drei Bänden (1855)
[ . . . ] wir glauben nicht zuviel zu sagen, wenn wir diese bedeutsame literarische Erscheinung die erste Blüte des modernen Realismus nennen. Der Baum stand seit lange prächtig in Laub, aber die Blüte, die, wie uns die Physiologie lehrt, nichts anderes ist als ein höher potenziertes Blatt, diese feinere Gestaltung fehlte. Sie fehlt nicht mehr. Der Freytagsche Roman ist eine Verdeutschung (im vollsten und edelsten Sinne) des neueren englischen Romans. Er lehnt sich entschieden an denselben an, ja, er ist im einzelnen eine Nachbildung desselben und doch wiederum, als Ganzes, so grundverschieden von ihm. Dickens, Thackeray und Cooper sind unverkennbare Vorbilder 57
gewesen. Die Judenherberge, Hippus und Veitel Itzig, die Familie Sturm (gegen die wir, beiläufig bemerkt, wie sehr oft auch gegen verwandte Schöpfungen des Bozschen Humors einige Bedenken hegen), insonderheit aber das Personal des Schröterschen Hauses, sie alle könnten in den „Pickwickiern", im „Oliver Twist" und „Nikolaus Nickleby" so gut eine Stelle finden, wie in Freytags „Soll und Haben". T.O.Schröter, Sabine, die Tanzstunde und vor allem die Rothsattels würden, gehörig rubriziert, von Thackerayschen Kapiteln schwerlich zu unterscheiden sein, und die Verteidigung des polnischen Gutes gegen die andringenden Rebellen, was ist sie überhaupt anderes als ein vom Hudson und Delaware an die Warthe versetztes Stück Kriegsgeschichte, einem Cooperschen Ansiedler-Roman so ähnlich wie ein Ei dem andern! Diese Ähnlichkeiten sind so groß, daß wir überrascht sind, unter den prinzipiellen und persönlichen Gegnern des Verfassers auf fast gar keine Angreifer nach dieser Seite hin gestoßen zu sein, und doch wäre es, mit einem starken Anschein von kritischer Gerechtigkeit, verhältnismäßig leicht gewesen, an diese Anlehnung den Vorwurf schwächlicher Erfindungsgabe und mangelnder poetischer Kraft zu knüpfen. Wir unsererseits fassen nun freilich die Sache anders. Es gibt Baumeister, die ein erbärmlich schlechtes Haus bauen, aber die unbestrittene Gabe der Dekorierung, des Genies innerhalb der Niedlichkeit haben. Zu diesen zählt Gustav Freytag nicht, vermutlich weil er nicht will. Er weiß zwischen Haupt- und Nebensache zu unterscheiden, und während er nicht Anstand nimmt, die Kandelaber und Konsolen, die Wendeltreppchen und Kaminsimse, die Ofenbleche und Feuerzangen da herzunehmen, wo sie nun mal erwiesenermaßen am besten zu haben sind, richtet er als ein wirklicher Meister seine Aufmerksamkeit auf den Grundriß, den Gedanken des Baues selbst, und hält Maß und Gesetz. Als Tapezierer ist er imitativ, als Baumeister ist er eben ein Meister in beiden Fällen weiß er, was er will. Der gebildete Philister, an dem ein zehnjähriges Leihbibliothekenabonnement nicht spurlos vorübergegangen ist, wird die imitative Seite des Verfassers allerdings bedenklich finden und sich mit einem Gefühl von Überlegenheit entsinnen, diese Art von Täfelung, von Deckenverzierung und Nischenarrangement schon anderswo geJ8
sehen zu haben. Aber dieser splitterrichtenden Alltagskritik kann eben niemand entgehen. Es ist das mißliche Vorrecht des Halbgebildeten, über die Einzelnheiten das Ganze zu übersehen, und es bedeutet wenig Überhebung, wenn wir unseren Stuhl von der ehrenwerten Gesellschaft etwas abrücken und diese Frage zwischen Nachahmung und Selbständigkeit durch den zutreffenden Spruch entscheiden: Woher ich dies und das genommen? Was geht's euch an, wenn es nur mein ward, Fragt ihr - ist nur der Bau vollkommen Woher gebrochen jeder Stein ward? Was den Freytagschen Roman zu einem Sieger über diejenigen macht, die ihn großgezogen haben und an denen er so recht eigentlich, wie ein Schüler am Meister, herangewachsen ist - das ist seine Idee und seine Form. Das künstlerische Zusammenwirken dieser beiden Faktoren erhebt den uns vorliegenden Roman auf die Schulter aller seiner Vorbilder, unter denen wir nicht einen kennen, der nach beiden Seiten hin exzellierte. Gewisse Vorzüge des englischen Romans sind aller Welt bekannt. Boz und Thackeray sind unübertroffen, vielleicht überhaupt unübertrefflich, in daguerreotypisch treuer Abschilderung des Lebens und seiner mannigfachsten Erscheinungen. Der letzte Knopf am Rock und die verborgenste Empfindung des Herzens werden mit gleicher Treue wiedergegeben. Sie sind vollendete Charakterdarsteller. Das höchste Lob, was wir nach dieser Seite hin gegen Freytag aussprechen können, ist das, daß er seine Vorbilder erreicht hat oder ihnen nahegekommen ist. Aber was ihnen fehlt, das ist entweder die ideelle Durchdringung oder die vollendete Form. Sie verfolgen häufig ein Nützlichkeitsprinzip, im günstigsten Falle eine Tendenz, sie machen den Egoismus, die Eitelkeit, die Scheinheiligkeit der Gesellschaft oder die Verderbtheit bestimmter Kreise und Klassen zum roten Faden ihrer Darstellung, aber das ist keine Idee in dem Sinne, wie wir es meinen. Wäre indessen auch über diesen Punkt zu streiten, so dünkt uns doch die Formlosigkeit des englischen Romans, vielleicht mit Ausnahme des historischen, der nicht hierher ge59
hört, ein unbestreitbares Faktum zu sein. Dickens und Thackeray „spinnen ihren Faden", wie der charakteristische Ausdruck lautet, und ziehen allerhand echte und unechte Perlen an demselben auf. Wenn der Faden eine beliebige Länge erreicht hat, so denkt entweder Publikum und Verleger oder im günstigsten Fall auch der Schriftsteller daran, daß es Zeit sei, abzuschließen. Er bindet die beiden Enden des Fadens rasch zusammen und nennt das Abrundung und Abschluß. Solche Art des Verfahrens ist innerhalb des deutschen Romans, der zu allen Zeiten mehr sein wollte als eine lose Aneinanderreihung von Charakterbildern, niemals heimisch gewesen, und der Freytagsche Roman bewahrt die alten Vorzüge seiner Gattung. Er hat eine mustergültige Form, und es ist diese und ihre mannigfache Art der Erscheinung, der wir uns zunächst zuwenden. „Soll und Haben", so behaglich es sich liest, ist keineswegs leicht und heiter hingeschrieben, sondern vielmehr ernstlich aufgebaut. Wir wählen diese Bezeichnung absichtlich. Wer das Ideal epischer Darstellung einzig und allein in naiver und fesselnder Herzählung der buntesten Ereignisse findet, wird sich hier entweder getäuscht sehen oder doch nicht begreifen können, warum so schrecklich ordentlich und gewissenhaft verfahren sei. Wir wissen dem Verfasser Dank dafür. Er hat nicht einen „Faden gesponnen", sondern er hat dem Drama und seinen strengen Anforderungen und Gesetzen auch die Vorschriften für Behandlung des 'Romans entnommen. Das dünkt uns ein Fortschritt, und wir legen um so lieber Gewicht darauf, als wir überzeugt sind, hierin keinem bloßen Zufall, sondern einer wohlüberlegten Absicht zu begegnen. „Soll und Haben" hat keine Episoden und Abschweifungen, ist kein bloßer Marstall, keine Manege für die Paradepferde des Verfassers. Wenn er sie reitet, so reitet er sie an rechter Stelle und nicht nur, um zu zeigen, wie fest er im Sattel sitzt. Wir lernen unübertrieben hundert verschiedene Persönlichkeiten kennen, aber wir wagen die Behauptung, daß das Fortfallen der kleinsten und unscheinbarsten als eine fühlbare Lücke empfunden werden würde, so organisch ist alles ineinandergefügt. Daher glückt es auch dem Verfasser, den Tod aus dem Bereiche seines Romans beinahe ganz fernzuhalten. Er hat nirgends überflüssige Per60
sonen und braucht deshalb keinen sterben zu lassen. Überblicken wir den Gesamtinhalt, so gewahren wir, daß derselbe die innige Verschmelzung dreier Dramen ist. Wir haben zwei Tragödien und ein Schauspiel. Der Mittelpunkt der einen Tragödie ist der Freiherr von Rothsattel, der Held der andern Veitel Itzig. Beide, so grundverschieden an Gesinnung wie an Lebensstellung, laden doch (wir lassen hier zunächst die Intentionen des Verfassers gelten) eine verwandte Schuld auf sich: Der eine will konservieren um jeden Preis, der andere um jeden Preis erringen. Die Strafe ereilt beide. Zwischen beiden Tragödien, und den Mittelpunkt des Ganzen bildend, steht ein bürgerliches Schauspiel, das den Titel „Anton Wohlfart" führt. Wir kommen an Krisen, die uns um das Schicksal unseres Helden besorgt machen, aber sein gutes Glück und seine gute Natur sind die endlichen Überwinder. Auch der Deus ex machina des bürgerlichen Schauspiels ist nicht vergessen, unterscheidet sich indes von dem üblichen Fürsten, der seinen Surtout aufknöpft und auf den Ordensstern weist, sehr wesentlich dadurch, daß wir von Anfang an seine Bekanntschaft machen und ihn in der Mitte des Romans in der sicheren Hoffnung verschwinden sehen, er werde wiederkommen und endlich alle Dinge zum besten führen. Es ist bekanntlich nichts Leichtes, ein Drama zu schreiben, das einigermaßen Anspruch auf diesen Namen hat, und die Schwierigkeiten werden schwerlich geringer, wenn es sich darum handelt, drei in sich geschlossene Geschichten zu einem Ganzen zu verweben und jeder einzelnen nur ebensoviel Lücke zu geben als nötig ist, um sie auf die beiden übrigen als auf ihre Ergänzung anzuweisen. Die Figuren haben alle eine Doppelstellung, und der unmittelbare Kreis ihrer Wirksamkeit, geschickt eingreifend in die anderen Kreise, macht aller Isoliertheit ein Ende und jeden einzelnen zum Teilnehmer am Ganzen. Es ist, als sähe man von einer Galerie herab den reizenden und verschlungenen Touren eines Contretanzes zu. Jetzt Pas de Basque am Platz, nun Chaine anglaise mit dem Paar gegenüber und endlich Grand tour und die Berührung aller untereinander. Wir haben bis hieher von dem Bau des Romans gesprochen und in der dramatischen Schule und Tüchtigkeit des Verfassers die Ursache für die vortreffliche Komposition des Romans 61
zu finden geglaubt. Hieher gehört auch die Feinheit seiner Motivierung und eine gewisse unwiderstehliche Gewalt seines Dialogs. Es möchte uns, indem wir dies aussprechen, der Vorwurf einer Art von Pleonasmus gemacht und darauf hingedeutet werden können, daß eine tüchtige Komposition jedesmal eine feine Motivierung verlange. Wir glauben, daß das nicht unumgänglich nötig ist. Man spricht von einer kühnen Komposition, aber von einer feinen Motivierung - hier liegt der Unterschied. Das Gesetzbuch der Komposition ist kurz wie die Zehn Gebote, die Motivierung ist umfangreich wie das preußische Landrecht; die eine handelt en gros, die andere en detail. In diesen Details nun ist Gustav Freytag Meister. D a wird im ersten Bande kein Nagel eingeschlagen, an dem im dritten Bande nicht irgend etwas, sei es ein Rock oder ein Mensch aufgehängt würde, und der blaue Ölfarbentopf, mit dem Karl Sturm die Leiterwagen anstreicht, hat seine spätere Bedeutung. Wir möchten fast behaupten, daß der Verfasser nach dieser Seite hin zu weit geht und durch freiere Bewegung an Begeisterung mehr gewonnen als an Korrektheit eingebüßt haben würde. [ . . . ]
THEODOR FONTANE: Gustav Freytag - Die Ahnen (1875)
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Was soll ein Roman? [.. .~\Was soll ein Roman? Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluß aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte. Das etwa soll ein Roman. [ . . . ] f . . . ] „Was soll der moderne Roman? Welche Stoffe hat er zu wählen? Ist sein Stoffgebiet unbegrenzt? Und wenn nicht, 62
innerhalb welcher räumlich und zeitlich gezogenen Grenzen hat er am ehesten Aussicht, sich zu bewähren und die Herzen seiner Leser zu befriedigen?" Für uns persönlich ist diese Fragenreihe entschieden. Der Roman soll ein .Bild der Zeit sein, der wir selber angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten. Sehr charakteristisch ist es, daß selbst Walter Scott nicht mit „Ivanhoe" (1196), sondern mit „Waverley" (1745) begann, dem er eigens noch den zweiten Titel „Vor sechzig Jahren" hinzufügte. Warum griff er nicht gleich anfangs weiter in die Geschichte seines Landes zurück? Weil er die sehr richtige Empfindung hatte, daß zwei Menschenalter etwa die Grenze seien, über welche hinauszugehen, als Regel wenigstens, nicht empfohlen werden könne. Seine besten Erzählungen liegen innerhalb des 18. Jahrhunderts oder am Eingang desselben. Der Erfolg ließ ihn später die Grenzpfähle weiter rückwärts stecken, aber nur wenige Male, wie in „Kenilworth" und „Quentin Durward", erreichte er die frühere Höhe. Noch einmal also: Der moderne Roman soll ein Zeitbild sein, ein Bild seiner Zeit. Alles Epochemachende, namentlich alles Dauernde, was die Erzählungsliteratur der letzten 150 Jahre hervorgebracht hat, entspricht im wesentlichen dieser Forderung. Die großen englischen Humoristen dieses und des vorigen Jahrhunderts schilderten ihre Zeit; der französische Roman, trotz des älteren Dumas, ist ein Sitten- und Gesellschaftsroman; Jean Paul, Goethe, ja Freytag selbst (in „Soll und Haben") haben aus ihrer Welt und ihrer Zeit heraus geschrieben. So die Regel. Aber, wie schon angedeutet, die Regel erleidet Ausnahmen. Wir zählen dahin den dramatischen Roman, den romantischen Roman und unter Umständen (aber freilich mit starken Einschränkungen) auch den historischen Roman. Diese haben das Vorrecht, die Frage nach dem Jahrhundert ignorieren und ihre Zelte allerorten und allerzeiten aufschlagen zu dürfen. Gehen wir auf diese drei Gruppen etwas näher ein. Zuerst der dramatische Roman. Er unterliegt denselben Gesetzen, denen das Drama unterliegt; denn in anderer Form will er dasselbe. Er will keine Bilder geben, weder Bilder unsrer
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eignen noch irgendeiner andern Zeit, und legt das Interesse nicht in das bunte und unterhaltliche Treiben mannigfacher, sondern in die großen Impulse weniger Gestalten. An die Stelle der äußeren Hergänge der durch Zeit und Ort bedingten Sondererscheinungen tritt die Leidenschaft, die, von Anbeginn der Zeiten, immer dieselbe war. Haß-, Ehrgeiz- und Eifersuchtstragödien sind das Eigentum aller Jahrhunderte, und wer darauf aus ist (auch im Roman) uns nicht der Zeiten Beiwerk, sondern den erschütternden Konflikt zu geben, der unausbleiblich ist, wo sich die wüste Begehrlichkeit eines allmächtigen Despoten und das unbeugsame Rechtsgefühl eines sittenstrengen Vaters gegenübertreten, der hat es frei, sich seinen Odoardo am Hofe des Tarquinius oder seinen Brutus am Hofe des Prinzen von Guastalla zu suchen. Die Frage nach dem „Wo" und „Wann" geht unter in dem allgemein Menschlichen des „Was". Der romantische Roman, dem alten Epos verwandt, hat gleicherweise das Recht der Einkehr in alle Jahrhunderte. Ob er Ernstes oder Heiteres behandelt, im einen wie im andern Falle durchklingt es ihn märchen- und legendenhaft, und dem realen Leben abgewandt, wird es für ihn zu etwas Gleichgültigem, in welcher vor- oder nachchristlichen Zeit er seine Zauber walten, seine Wunder und Aventüren sich vollziehen läßt. Wenn es beim dramatischen Roman das Ewige der Leidenschafts-weh. ist, was der Zeitenfrage spotten darf, so ist es beim romantischen Roman das Ewige der Phantasiewelt, die, wie ein Traumbild, über der wirklichen schwebt und den Gesetzen derselben nicht unterworfen ist. Was zu keiner Zeit geschah, darf in jeder geschehen. Auch der historische Roman ist an die Scottschen „Sixty years ago" nicht unter allen Umständen gebunden und darf die Historie rückwärts durchmessen, so weit sie reicht. Aber er wird es nur in ganz besonderen Fällen dürfen - die Mehrzahl der geschichtlichen Romane ist einfach ein Greuel. Er wird es dürfen, wenn sein Verfasser als ein nachgeborener Sohn voraufgegangener Jahrhunderte anzusehen ist. Diese Fälle sind häufiger als man denkt. Es gibt ihrer, die, während sie das Kleid unserer Tage tragen, in Wahrheit die Zeitgenossen Sikkingens oder Huttens sind und der Sprache des Hans Sachs 64
oder der Landsknechtlieder sich näher verwandt fühlen als einem Singakademie-Vortrag oder dem Schillerschen Kampf mit dem Drachen. Namentlich aus dem 16. Jahrhundert haben wir nicht wenige unter uns, die nun eine beständige Sehnsucht, ein Heimweh nach ihrer Welt und ihrer Epoche haben. Dies Heimweh nimmt alsbald die Form eines begeisterten Studiums, eines Forschens und Suchens an, um ihrer verlangenden Seele von dem Versäumten und Verlorenen wenigstens das Mögliche zurückzuerobern. Sie wandeln unter den Lauben mittelalterlicher Städte und erquicken sich an den Sprüchen, die an den Querbalken hoher Giebelhäuser stehen, sie sammeln Spottbilder und Volksballaden, Pamphlete und fliegende Blätter, lesen Urkunden und Pergamente und bringen es schließlich dahin, in einer untergegangenen oder nur noch in schwachen Resten bewahrten Welt besser zu Hause zu sein als in derjenigen, die sie äußerlich umgibt. Solche rückwärts gewandten Naturen haben natürlich, so es sie dazu drängt, ein unbestreitbares Recht, auch aus ihrem Jahrhundert heraus Romane zu schreiben, Romane, die nun in gewissem Sinne aufhören, eine Ausnahme von der Regel zu sein, indem sie faktisch Zeitläufte schildern, die für uns zwar untergegangen, für den verschlagenen Sohn eines voraufgegangenen Jahrhunderts aber recht eigentlich die Gegenwart seines Geistes sind.[...]
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THEODOR FONTANE : Über
Zolas Romane
(1883)
Brief an seine Frau, 12. Juni I88J [ . . . ] Mit Zola rück' ich jetzt rascher vorwärts, weil die Fehler, die mir anfangs haarsträubend erschienen, fast ganz verschwinden; die zuletzt gelesenen Kapitel sind wie die mir bekannten aus „L'Assommoir", gewandt, unterhaltlich, oft witzig und erheiternd, alles in allem aber doch eine traurige Welt. Darauf leg' ich indes kein großes Gewicht, das ist Anschauungs-, nicht Kunstsache. In Anschauungen bin ich sehr tolerant, aber Kunst ist Kunst. Da versteh' ich keinen Spaß. Wer nicht selber Künstler ist, dreht natürlich den Spieß um und betont Anschauung, Gesinnung, Tendenz. [ . . . ]
Brief an seine Trau, 14. Juni 1883 [ . . . ] Mit „La Fortune des Rougon" bin ich durch und fange heute noch „La Conquete de Plassans" an. Das Talent ist groß, aber unerfreulich. Besonders bemerkenswert ist sein Witz. Von Unsittlichkeit oder auch nur von Frivolität keine Spur (es ist grenzenlos dumm, daß gerade das diesen Büchern vorgeworfen wird), und selbst von Zynismus ist kaum was zu finden; es ist aber durchaus niedrig in Gesamtanschauung von Leben und Kunst. So ist das Leben nicht, und wenn es so wäre, so müßte der verklärende Schönheitsschleier dafür geschaffen werden. Aber dies „erst schaffen" ist gar nicht nötig; die Schönheit ist da, man muß nur ein Auge dafür haben oder es wenigstens nicht absichtlich verschließen. Der echte Realismus wird auch immer schönheitsvoll sein; denn das Schöne, Gott sei Dank, gehört dem Leben gerade so gut an wie das Häßliche. Vielleicht ist es noch nicht einmal erwiesen, daß das Häßliche präponderiert. Die Beimischung von Kleinlichem und Selbstischem, die selbst unsre besten Empfindungen haben, schafft wohl die sogenannten „Menschlichkeiten", aber nicht die nackte Gesinnungsgemeinheit, deren Verkünder Zola ist. Was von „Idealität" daneben herläuft (Miette und Silvester), ist Verzerrung, Poesie mit Albernheit verquickt. Man sieht, es paßt ihm nicht. [ . . . ] Brief an seine Trau, 2Juni
1883
[ . . . ] Das Talent ist kolossal, bis zuletzt. Er schmeißt die Figuren heraus, als ob er über Feld ginge und säte. Gewöhnliche Schriftsteller, und gerade die guten und besten, kommen einem arm daneben vor, Storm die reine Kirchenmaus. Und doch, im letzten ist er halb Pietsch, halb Goedsche. Von jenem hat er die Fülle und Farbe der Schilderung, von diesem das Ungezügelte, das Durchgängerische, die wildgewordene Fähnrichsphantasie. Hesekiel sagte seinerzeit sehr richtig: „Goedsche, du hast mal wieder zuviel Zahntinktur getrunken!" Ich hoffe, über Zola schreiben zu können. Was bis jetzt über ihn gesagt ist, ist alles dummes Zeug, geradezu kindisch. [ . . . ]
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Aus Entwürfen des Rougon"
zu einem Aufsatz
über Zolas
„La
Fortune
[ . . . ] Das sind die Elemente des Buchs. Wie steht es nun mit dem Wert desselben? Ist es gut oder schlecht? Dumm oder klug? Erschütternd oder lächerlich? Talentvoll oder schmökerhaft? Fleißig oder geschludert? Wahr oder unwahr? Schön oder häßlich? Republikanisches Heldenepos oder Pasquil? [ . . . ] Das Ganze wirkt als Negierung des freien Willens des Individuums. Der Mensch hat keine Seele, die kraft ihrer selbst, aller Schwächlichkeit und aller Verführung unerachtet, Großes, Schönes, Tugendhaftes, Heldenmäßiges kann, sondern der Mensch handelt unter dem Einfluß 1. seiner besondren Blutmischung, 2. seiner Nerven, die das sogenannte geistige Tun, und 3. seiner Sinne, die nun alle drei in ihrer Gesamtheit sein Tun bestimmen. Geschieht etwas Besondres, das ihm auf die Nerven fällt, oder sieht er oder riecht er etwas Besonderes, so ist er den Eindrücken davon Untertan, so daß sich sagen läßt: dieser oder jener Unglücksmoment, diese oder jene Verführung wäre unterblieben, aber der Geruch eines Seifkessels, der ihm auf die Sinne fiel, gab den Ausschlag. Die Sache ist gar nicht so dumm; ich bestreite nicht, daß er in der Mehrzahl der Fälle recht hat. Aber all das ist keine Aufgabe für die Kunst. Die Kunst muß das Entgegengesetzte vertreten, versichern. Und wer das nicht kann, muß schweigen. Ich hätte so geschrieben: Unmittelbar vor dem Römertore des Städtchens Plassans liegt der „Mittre-Platz". Vor hundert Jahren noch hieß er „MittreKirchhof" und war überwachsen und überwuchert, üppig gedieh alles, besonders auch die Fruchtbäume, die auf ihm standen. Zur Zeit der ersten Revolution ließ man diesen Kirchhof, auf dem nur sehr selten noch begraben wurde, eingehen, exhumierte die Gebeine (wobei mancher Unfug vorfiel) und schuf den Kirchhof in einen Platz um, der, zu der Zeit, wo unsre Geschichte beginnt ( I 8 $ I ) , nichts mehr von dem Graun besaß, das
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er früher besessen hatte. Nur um mitternächtige Stunde, bei zerrissenem Gewölk und Totenstille, wurde in der Seele des einen oder andern das Grauen wieder wach, das früher seine Stelle hier gehabt hatte. Diese 22 Zeilen (gedruckt höchstens 15) geben alles Nötige, auch die „Stimmung", auf die es ankommt, und stellen die Sache klar. Was Zola gibt, ist ein interessantes, aber konfuses Hin und Her, in dem es schwerhält, sich zurechtzufinden. Er hat keinen feinen superioren künstlerischen Sinn, er geht nur dem einen nach: einen Eindruck zu machen, ist „Impressionist". Diesen Eindruck erreicht er auch, viel viel stärker, als meine Zeilen ihn hervorbringen können, dennoch bin ich der Meinung, daß meine Methode des Vorgehens viel viel höher steht. [ . . . ] Großes erzählerisches Talent. Aber in Ammenmanier. Ganz unkünstlerisch im Großen und Kleinen, und deshalb doch nur von Tagesinteresse, a) Fehler der Komposition. [ . . . ] Seine Gleichgültigkeit gegen chronologische Anordnung, b) Fehler der Charakterzeichnung, c) Fehler in der Tendenz (große Kunstwerke müssen tendenzlos sein), d) Ungenauigkeiten. Er schildert, aber er schildert nicht korrekt, nicht scharf. Man hat es sich nachher zusammenzusuchen. [ . . . ] [ . . . ] Sein Realismus oder Naturalismus. [ . . . ] Dies ist alles mögliche Gute, nur nicht Realismus. Er gibt gelegentlich Häßlichkeiten, aber diese Häßlichkeiten sind nicht Realismus. Realismus ist die künstlerische Wiedergabe (nicht das bloße Abschreiben) des Lebens. Also Echtheit, Wahrheit. Diese großen Tugenden vermiss' ich im höchsten Maße. [ . . . ]
JOSEPH VON EICHENDORFF: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857)
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Der philosophische und der historische
Roman
[ . . . ] Die Verstandespoesie wird aber jederzeit vorzüglich durch den Roman repräsentiert. Daher jetzt die noch immer steigende Sündflut von Romanen, und fast keiner darunter, wo 68
nicht ein Stück modernster Philosophie abgehandelt und damit experimentiert würde. Es sind wesentlich Tendenzromane: für Sozialismus, für die frivole Salonweisheit, für Republik, Monarchie usw., die sich zum Teil untereinander auf das wütendste anfeinden, verleumden und bekriegen, aber sofort wie ein Mann zusammenstehen, wo es irgend etwa gilt, gegen das positive Christentum oder die Kirche Front zu machen. Hierbei spielt denn begreiflicherweise die alte Humanitätslehre wieder eine bedeutende Rolle: die Menschheit als ein Naturprodukt, ihre Veredelung als bloße Selbstdressur der ihr inwohnenden Kräfte. Da aber nun diese Kräfte in ihrem Grundtypus allerdings überall dieselben sind, so führt diese Ansicht notwendig zu einer wunderlichen Universalität und Weltbürgerei, die alles Eigentümliche planiert und verwischt. Es gibt fast keinen Winkel der Erde, wo sich unser Roman nicht schon angesiedelt und gemütlich fraternisiert hätte; Spitzköpfe und Rundköpfe, Rothäute und andere Bärenhäuter werden frischweg unter ein und denselben Allerweltshut gebracht, als ob die Natur überall nach einer philosophischen Schablone bilde, und es nicht, wie in jedem Dorfe Hinz und Kunz, so auch in der Geschichte der Menschheit besondere Völkerindividuen gebe. Diese vorherrschende Verstandesrichtung zeigt sich auch in der psychologisch-pragmatischen Liebhaberei unserer Romane. Welche langweilig breite Expositionen! Der innere Mensch wird, anstatt aller göttlichen Fügung und Leitung, aus lauter Lappalien und zufälligen Umständen, die sich bei seiner Geburt, Erziehung usw. maßgebend ereignet haben sollen, mathematisch konstruiert und erklärt: aus dem Fall des Kindes eine schiefe Nase, aus der schiefen Nase ein schiefer Charakter. Dieser pragmatische Aberglaube ist ohne Zweifel der nüchternste Fatalismus, und führt von selbst auf das Dogma von der sklavischen Nachahmung der Natur. Solch DaguerreotypPorträt gibt freilich jedes Härchen und jede Warze wieder, aber das materielle Licht erkennt eben nur den Leichnam; der geistige Lichtblick des Künstlers kann erst das Wunderbare im Menschen, die Seele, befreien und sichtbar machen. Und eben weil die Phantasie ganz in den Hintergrund gedrängt, und der Sinn von allem Mystischen und Wunderbaren abgewendet ist, 69
so gilt die Poesie in natürlich wachsender Schwerkraft immer mehr vom Sein zum Schein, von der Religion zur Moral, von der Moral zum bloßen Anstand und von dem stets biegsamen und zweideutigen Anstände zum ästhetisierten Materialismus, der in endlich errungener Freiheit mit den Lüsten spielt wie das Tier. Die Salonweisheit nebst obligatem Anstände haben besonders die Frauen zu ihrem Thema sich erwählt. Auch der Anstand aber, dieser echte Schein des Seins, hat seinen Pietismus und seine Freidenkerinnen. Der Pietismus erscheint hier als allerliebste Kirchengängerin mit einfach gescheiteltem Haar und einem zierlichen Herrenhuterhäubchen darüber, die vor lauter Besorgnis, sich gottselig zu kostümieren und zu bewegen, über jedes Steinchen stolpert und spröde die Männer verachtet, weil sie nicht ebenfalls Hauben tragen. Die Freidenkerinnen im Gegenteil lieben die Männer gar sehr, mit denen sie, so übel es ihnen auch bekommen mag, gern eine Zigarre rauchen. Sie halten abergläubig durchaus alles für erlaubt, ja für tugendhaft im sublimeren Sinne, was in der schlechten Gesellschaft der sogenannten guten Gesellschaft geadelt und salonfähig ist, und schminken das Laster so dick mit modernster Geistreichigkeit, daß sie die darunter hervorgrinsende Totenmaske selber nicht merken. Beides ist im Grunde, nur nach verschiedenen Seiten hin, dieselbe kokettische Vornehmtuerei. Der Hauptakt aber in diesen Frauenromanen ist fast ohne Ausnahme: Entsagung. Wir bezeichneten oben die Entsagung als den spezifisch christlichen Heldenmut. Es kommt jedoch hierbei einzig und allein darauf an, was aufgegeben, und wofür es aufgegeben werden soll. Es ist durchaus ein ganz ander Ding, ob Calderons Standhafter Prinz einem königlichen Heldenleben um Gott und der Ehre willen, oder ob eine alte Jungfer aus sentimentaler Schonung eigensinniger Papas und schlimmer Tanten oder aus emanzipierter Überbildung, welcher kein Mann gut genug ist, dem Ehebett entsagt; jener wird durch seine Selbstaufopferung erst recht ein königlicher Held, diese ist und bleibt eine klägliche alte Jungfer. Als Chorführer aber hat sich in neuester Zeit vorzüglich der historische Roman hervorgetan. Der historische und der philosophische Roman umschreiben so ziemlich die ganze Peri7°
pherie der Yerstandespoesie, indem dieser Ideale macht, jener sich breit auf die Wirklichkeit stellt. Das ist nur eine Teilung desselben Geschäfts, weshalb sie denn auch häufig ineinanderspielen; und es ist für diese Verstandesrichtung im Grunde gleichgültig, daß im philosophischen Roman aristokratisch ein Individuum, im historischen demokratisch das Volk den Helden vorstellt; denn beiderlei Helden lassen sich ebenso gut willkürlich idealisieren als modernisieren. Und beides hat unser historischer Roman sattsam besorgt. Es mag immerhin sein, daß der historische Roman erst durch den Freiheitskrieg, wo die Weltgeschichte wieder einmal erschütternd über den deutschen Boden schritt, bei uns in die Mode gekommen. Allein die romantischen Biwaks, die schottischen Sansculotten, die Rotmäntler und Baschkiren waren denn doch nicht das Welthistorische dieses Kampfes, sondern die unsichtbare Oriflamme der Begeisterung war es, welche die bewaffnete Völkerwanderung aufgerufen und geführt. Aber diese ist vergessen, und die schmutzigen Baschkiren sind geblieben. So ist ja auch bei Walter Scott, dem eigentlichen Vater unserer historischen Romane, keineswegs die Szenerie und sorgfältige Kostümierung das Bedeutende, diese ist vielmehr oft sehr langweilig; es ist die männliche Trauer, das Tragische des Untergangs einer edlen Nationalität. Was aber haben uns unser Van de Velde, Trommlitz, Blumenhagen u. m. a. dagegen geboten? Nichts als plauderselige Dekoration, Schwertergeklirr, Humpenklang und geharnischte Ritter mit Manschetten unter dem Eisenhandschuh und Gardereiter-Prahlereien im Munde. [ . . . ]
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FRIEDRICH THEODOR VISCHER:
Aesthetik oder Wissenschaft
des Schönen (1857) § 879. Die moderne Zeit hat an die Stelle des Epos, nachdem allerdings die Umwälzung der Poesie mit neuen Versuchen desselben, und zwar der religiösen Gattung, eröffnet worden war, den Roman gesetzt. Diese Form beruht auf dem Geiste der E r fahrung (vergl. § 36j£F. 466fr.) und ihr Schauplatz ist die prosaische Weltordnung, in welcher sie aber die Stellen auf-
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sucht, die der idealen Bewegung noch freieren Spielraum geben. Der Dichter ist selbstbewußter Erfinder und fingirt frei den Hauptinhalt, was jedoch die epische Naivetät nicht in jedem Sinn ausschließt. [ . . . ] Die Grundlage des modernen Epos, des Romans, ist die erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit, also die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt. Gleichzeitig mit dem Wachsthum dieser Anschauung hat die Menschheit auch die prosaische Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Lösung der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Individualität, die Amtsnormen, denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang physischer Übungen aus der lebendigen Vereinigung mit sittlichen Tugenden, die im Heroen lebte, sich scheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen Zug zur Mechanisirung der technischen Producte, des Schmucks u. s. w., die Raffinirung der Genüsse. Hegel bezeichnet nun mit einfach richtiger Bestimmung das Wesen des Romans, wenn er (Aesth. Th. 3, S. 395)* sagt, er erringe der Poesie auf diesem Boden der Prosa ihr verlorenes Recht wieder. Es kann dieß auf verschiedenen Wegen geschehen. Der erste ist der, daß die Handlung in Zeiten zurückverlegt wird, wo die Prosa noch nicht oder nur wenig Meisterinn der Zustände war; allein dieß ist nur scheinbar die einfachste Auskunft, denn das Wissen um die unerbittliche Natur der Realität ist jedenfalls im Dichter und theilt sich dem Gedichte mit; wo nun eine ganze Dicht-Art einmal auf dieß Wissen gestellt ist, sucht sie ihrem Wesen gemäß der Poetische gerade in einem Kampfe der innern Lebendigkeit des Menschen mit der Härte der Bedingungen des Daseins, und Zustände, die noch so flüssig sind, daß sie einer schönen Regung des Lebens keine Hindernisse entgegenbringen, entbehren daher für den Roman ebenso des Salzes, wie die plastische Schönheit der antiken Culturformen für den Maler. Ein zweites Mittel ist die Aufsuchung der grünen Stellen mitten in der eingetretenen Prosa, sei es der Zeit nach (Revolutionszustände u. s. w.), sei es dem Unterschiede der Stände, Lebensstellungen * Vgl. den Hegeltext S. 2 dieses Bandes. (Anm. des Herausgebers.)
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nach (Adel, herumziehende Künstler, Zigeuner, Räuber u. dergl.). Dieß ist eine sehr natürliche Richtung des Romans und wir kommen darauf zurück. Ein dritter, mit den beiden genannten begreiflich im innigsten Zusammenhang stehender Weg ist die Reservirung gewisser offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Ungewöhnliches durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegengewicht hält. Der bedeutendere Geist wird diese Blitze der Idealität aus tiefen Abgründen des Seelenlebens aufsteigen lassen, wie Göthe in den Partieen von Mignon, die wie ein Vulkan aus den Flächen seines W. Meister hervorsprühen; solche psychisch mystische Motive sind eine Art von Surrogat für den verlorenen Mythus, und wahrlich ein besseres, als jene absurde Oberleitung der geheimnißvollen Männer des Thurmes im W. Meister. Es versteht sich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Romantik rechtfertigen wollen. Der gewöhnliche Weg aber besteht einfach in der Erfindung auffallender, überraschender Begebenheiten. Hier ist es nun allerdings ganz in der Ordnung, daß im Roman der Zufall als Rächer des lebendigen Menschen an der Prosa der Zustände eine besonders starke Rolle spielt [ . . . ] .
§ 880. Die epische Forderung der Totalität bleibt stehen, doch nur in Beziehung auf die Culturzustände, der Roman trägt in weit engerem Sinne den Charakter des Sittenbildlichen, als das Epos; der Held ist nicht handelnd, er macht auf dem Schauplatze der Erfahrung seinen Bildungsgang, worin die Liebe ein Hauptmotiv ist und Conflicte der Seele und des Geistes an die Stelle der That treten. Die Auffassung ist daher ungleich mehr, als dort, auf das Innere gerichtet, der Styl aber geht noch weit enger in das Einzelne und ist wesentlich der ausgebildet charakteristische, individualisirende. So bildet der Roman einen vollen Stylgegensatz gegen das Epos; er ist aber ein mangelhaftes Gefäß für den Geist der modernen Dichtung, er steht, wie schon seine prosaische Sprachform zu erkennen gibt, bedenklich an der Grenze des sinnlich oder geistig Stoffartigen und diese innere Unsicherheit gibt sich namentlich durch die Art der Spannung und die Schwierigkeit des Schlusses zu erkennen. 73
ι. Der Roman hat nicht eine große National-Unternehmung zum Inhalt, welche ein Weltbild im hohen geschichtlichen Sinne gäbe; umfassend soll er nur sein in Beziehung auf das Zuständliche, rein Menschliche, indem er von seinem Punct aus Sitten, Gesellschaft, Culturformen einer ganzen Zeit und darin das Allgemeine des menschlichen Lebens darstellt. Der historische Roman begründet keinen Einwand gegen diese Beschränkung der vorliegenden Kunstform auf die vom Schauplatze der großen Thaten abliegende Seite der Wirklichkeit; es wird sich zeigen, daß in ihm das Gebiet der politischen Handlung nur den Hintergrund bildet. In diesen Grenzen soll der Roman ein desto reicheres Gemälde entwerfen, denn dem Geiste der Erfahrung steht Alles im Zusammenhang, sein Weltbild ist ein gefülltes, kennt keine Lücken. Er ist naturgemäß polymythisch und wie Aristoteles von der zweiten, „ethischen" Gattung des Epos sagt, in der Composition verwickelt. Wir haben in dieser das entfernte Vorbild des Romans erkannt (§ 874), sie als sittenbildlich im engeren Sinne bezeichnet und vom Romane gilt dieß natürlich noch mehr. Der Romanheld nun heißt wirklich nur in ironischem Sinne so, da er nicht eigentlich handelt, sondern wesentlich der mehr unselbständige, nur verarbeitende Mittelpunct ist, in welchem die Bedingungen des Weltlebens, die leitenden Mächte der Cultursumme einer Zeit, die Maximen der Gesellschaft, die Wirkungen der Verhältnisse zusammenlaufen. Er macht durch diesen LebensComplex seinen Bildungsgang, er durchläuft die Schule der Erfahrung. Hier tritt nun die große Bedeutung der Liebe ein. Die ganze moderne Welt erkennt in ihr ein Hauptmoment in der Ergänzung und Reifung der Persönlichkeit. Das Ziel des Romanhelden ist schließlich immer die Humanität, irgendwie gilt von jedem, was Schiller vom Wilh. Meister sagt: er trete von einem leeren und unbestimmten Ideal in ein bestimmtes, thätiges Leben, aber ohne die idealisirende K r a f t dabei einzubüßen; er wird vom Leben realistisch erzogen, er soll reif werden, z u wirken ( - im Unterschiede vom Handeln - ) , aber zu wirken als ein ganzer, voller, ausgerundeter Mensch, als eine Persönlichkeit. In dieser Erziehung ist denn die Liebe, da wir das rein Menschliche, Ideale im Weibe symbolisch anschauen, ein wesentliches Moment und zugleich Surrogat für
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die verlorene Poesie der heroisch-epischen Weltanschauung; die tiefsten Metamorphosen der Persönlichkeit, so haben wir schon zu § 877,1 gesagt, knüpfen sich an eine Leidenschaft, die auf sinnlicher Grundlage den ganzen Menschen ergreift, alle seine geistigen Kräfte in Bewegung setzt, an ihre Wechsel, Freuden, Leiden; sie wird so zu dem Bande, an welchem der innere Bildungsgang des Menschen, obgleich er seinem höheren Inhalte nach weit darüber hinausliegt, seinen Verlauf nimmt. Dieß führt zurück zu dem Wege der Gewinnung des Poetischen inmitten der Prosa, den wir im vorh. § zuletzt aufgeführt haben: die Geheimnisse des Seelenlebens sind die Stelle, wohin das Ideale sich geflüchtet hat, nachdem das Reale prosaisch geworden ist. Die Kämpfe des Geistes, des Gewissens, die tiefen Krisen der Überzeugung, der Weltanschauung, die das bedeutende Individuum durchläuft, vereinigt mit den Kämpfen des Gefühlslebens: dieß sind die Conflicte, dieß die Schlachten des Romans. Doch natürlich sind dieß nicht blos innere Conflicte, sie erwachsen aus der Erfahrung und der Grundconflict ist immer der des erfahrungslosen Herzens, das mit seinen Idealen in die Welt tritt, des Jünglings, der die unerbittliche Natur der Wirklichkeit als einer Gesammtsumme von Bedingungen, die von unendlich vielen Individuen in Wechsel-Ergänzung erarbeitet, über jedem einzelnen Individuum stehen, gründlich durchkosten muß, um Mann zu werden. Das Hauptgewicht fällt aber natürlich stets auf das innere Leben und wenn demnach der Roman im Unterschiede vom Epos immer vor Allem Seelengemälde ist, so wird dadurch das epische Gesetz, daß der Dichter uns überall nach außen, in die Erscheinung führen soll, in seiner Geltung zwar beschränkt, aber keineswegs aufgehoben; ja das Licht des tieferen Reflexes im Seelenleben macht die Außendinge nur um so bedeutsamer, beleuchtet die ganze Erscheinungswelt, namentlich auch die äußere Natur, um so gründlicher, dringt heimlicher in die feinsten Falten. Hier stehen wir nun am Hauptpuncte. Eine Welt von Zügen, die das plastisch ideale Gesetz des Epos ausscheidet, nimmt das malerisch spezialisirende des Romans wie mit mikroskopischem Blick auf, weil jene Idealität der Zustände, welche dieß nicht ertragen könnte, vorneherein gar nicht vorhanden ist, weil hier die Idealität vielmehr aus der Prosa der harten 75
Naturwahrheit eben durch die Rückführung auf ein vertieftes inneres Leben hergestellt wird. 2. Man hat den Roman ein verwildertes Epos, eine Zwittergattung genannt. Wir halten zunächst unsern in § 872 an die Spitze gestellten Satz fest, daß er eine wahrere Erscheinung ist, als alle Heldengedichte nach Homer, die der Kunstpoesie entsprossen sind; denn er will gar kein Epos sein, sondern stellt sich diesem als Product einer ganz andern Stylrichtung auf klar getrenntem Gipfel gegenüber. Aber dieser Gipfel ist viel niedriger, als der, worauf das Epos seine Stelle hat. Warum? Weil der Styl, der das Recht des tieferen Griffes in die härteren Bedingungen und Züge der Wirklichkeit aus der vertieften Innerlichkeit der Weltauffassung schöpft, seine wahre Heimath in einer andern Dicht-Art haben muß, in derjenigen nämlich, welche die Welt als eine von innen, aus dem Willen bestimmte darstellt, also der dramatischen. Er ist kein Epos mehr und doch kein Drama, er mag in diesem Sinn eine Zwittergattung heißen; ein verwildertes Epos aber kann man ihn nicht nennen, denn er hat die Trümmer des Epos, aus denen er allerdings entstanden ist, in etwas spezifisch Anderes verwandelt. Dagegen drängen sich schwere Bedenken auf, wenn man seine Stellung ganz allgemein vom Standpuncte der reinen, selbständigen Kunstschönheit betrachtet: hier bricht über eine kaum merkliche Schwelle der Charakter des Zwitterhaften in anderer, weiterer Bedeutung herein: der Roman hat zu viel Prosa des Lebens zugestanden, um einen sichern Halt für ihre Idealisirung zu haben; daher schwankt er so leicht nach zwei Extremen hin aus dem Gebiete des rein Ästhetischen weg: er wirkt sinnlich stoffartig, sei es in der gemeinen Bedeutung des Worts oder überhaupt im Sinne pathologischer Aufregung, und sinkt zur breiten, leichten oder wilden Unterhaltungsliteratur herunter; oder er wirkt didaktisch, tendenziös, nimmt jeden Streit der moralischen, socialen, politischen, religiösen Theorieen und Ideen unter dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals, daß das wahrhaft Schöne zwecklos ist. Die Literatur hat Romane erlebt, deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen. Das Interesse am Individuum und seinen Schicksalen, namentlich in der Liebe, bringt ferner eine zu stoffartige Spannung der Neugierde mit sich, wie wir dieß
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schon früher berührt haben. - Die innern Mängel kommen aber vorzüglich am Schlüsse zum Vorschein, denn dieser ist unvermeidlich hinkend. Die Frage ist nämlich einfach: was soll der Held am Ende werden? Zum politischen Heroen erzieht ihn der Roman nicht, unsere Ämter sind eine zu prosaische Form, um das Schiff, das unterwegs mit so vielen Bildungsschätzen ausgestattet worden ist, in diesem Hafen landen zu lassen. Es bleiben Thätigkeiten ohne bestimmte Form übrig, die aber sämmtlich etwas Precäres haben. Wilh. Meister wird Landwirth und ist dabei zugleich als wirkend in mancherlei Formen des Humanen und Schönen vorzustellen, allein der Dichter setzt doch einen gar zu fühlbaren Rest, wenn er, nachdem so viele Anstalten gehäuft waren, einen Menschen zu erziehen, uns ein so unbestimmtes Bild der Thätigkeit des reifen Mannes auf der untergeordneten, wenn auch ehrenwerthen Grundlage der bloßen Nützlichkeit gibt. Künstlerleben ist zu ideal, die Kunst thut nicht gut, die Kunst zum Objecte zu nehmen; geschieht es aber doch, so erscheint das Continuirliche einer bestimmten Thätigkeit, deren ideale Innenseite das Dichterwort doch nicht schildern kann, eben auch prosaisch. Dem Romane fehlt der Schluß durch die That, ebendaher hat er keinen rechten Schluß. Er hat die Stetigkeit des Prosaischen vorneherein anerkannt, muß wieder in sie münden und verläuft sich daher ohne festen Endpunct. Ein Hauptmoment des Roman-Schlusses ist die Beruhigung der Liebe in der Ehe. Hier verhält es sich nicht anders. Die Ehe ist eigentlich mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzustellen, in ihrer Erscheinung prosaisch und so läuft auch diese Seite der gewonnenen Idealität in zugestandene Prosa aus. Diesen Charakter, die Prosa nicht gründlich brechen zu können, gesteht nun der Roman auch dadurch zu, daß er in gebundener Sprache ganz undenkbar ist und mit bloßem entferntem Anklang des Rhythmischen sich begnügen muß. Allein die Sprachform wird auch zum rückwirkenden Motive, dießmal im schädlichen Sinne, und steigert die Versuchung, die an sich schon in der Dicht-Art liegt, stoffartige Massen von Historischem, Gelehrtem aller Art, unverarbeiteter Weisheit, Tendenziösem, Erbaulichem u. s. w. in das geduldige Gefäß zu schütten.
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§ 881. Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrschend das Privatleben zu seinem Schauplatz und sucht hier das Poetische entweder in der aristokratischen Gesellschaft, sei es im engeren, sei es, um die Erwerbung schöner Humanität in den bevorzugten Kreisen darzustellen, im weiteren Sinne des Worts, oder, und zwar in stets erneuter Opposition gegen diese Form, im Volke, oder im gebildeten Bürgerstande, vorzüglich in seinem Familienleben, und diese Gattung nimmt die breiteste Stelle ein. Über diese Sphären erhebt sich unvollkommen der historische Roman in das politische Gebiet und der sociale zu den großen Fragen über das Wohl der Gesellschaft. [ . . . ] Der bürgerliche Roman dagegen ist die eigentlich normale Spezies. Er vereinigt das Wahre des aristokratischen und des Volksromans, denn er führt uns in die mittlere Schichte der Gesellschaft, welche mit dem Schatze der tüchtigen Volksnatur die Güter der Humanität, mit der Wahrheit des Lebens den schönen Schein, das vertiefte und bereicherte Seelenleben der Bildung zusammenfaßt. Der Heerd der Familie ist der wahre Mittelpunct des Weltbildes im Roman und er gewinnt seine Bedeutung erst, wo Gemüther sich um ihn vereinigen, welche die harte Wahrheit des Lebens mit zarteren Saiten einer erweiterten geistigen Welt wiedertönen. In diesen Kreisen erst wird wahrhaft erlebt und entfaltet sich das wahre, von den Extremen ferne Bild der Sitte. Die Engländer, die der neueren Literatur überall die bedeutendsten Anstöße gegeben, sind auch in dieser Gattung vorangegangen. Der Urheber derselben, Richardson, ist Pedant im Ausmalen, peinlicher Anatom in der psychologischen Zergliederung, abstracter Moralist, und doch begründet er den scharf zeichnenden realistischen Styl, wie ihn die Kunstform fordert, weist auf das wahre Ziel hin, in diesem Styl ein Seelengemälde zu entfalten und ihr zum Mittelpuncte den gediegenen ethischen Gehalt unserer gebildeten bürgerlichen Stände zu geben. [ . . . ] Der soziale Roman schlummert als mehr oder weniger bestimmter Keim schon im Volksroman und im bürgerlichen. Es liegt beiden, namentlich dem ersteren, nahe, die brennende Frage über die Einrichtung der Gesellschaft, Unterschied und Kampf der Stände, Verhältniß zwischen Arbeit und Erwerb,
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Vergehungen und Strafen u. s. w. fühlbarer aus ihrem Erzählungsstoff hervorspringen zu lassen, ausdrücklich zu behandeln und näher oder ferner an die Grenze des Tendenziösen zu treiben; es kann aber einen Roman geben, der solche Fragen entschieden und doch nicht in unpoetischer Absichtlichkeit, sondern mit der Frische unmittelbarer K r a f t und Erfindung zu seinem Mittelpuncte macht; seine Sphäre ist entweder bürgerlich oder volksthümlich, das Gewicht aber, das auf diesem Mittelpuncte liegt, begründet seinen Namen, weist ihm seine eigene Stelle an. Immermann's Epigonen sind trotz ihren schwachen und nachgeahmten Partieen ein achtungswerthes Beispiel. Es wird freilich nur Wenigen und in wenigen Momenten gelingen, einen Inhalt, der seiner Natur nach in sehr bewußter Weise gedacht sein will, so in sich aufzunehmen, daß er ganz als Gestalt und Handlung vor dem Innern steht, und demnach so zu behandeln, daß also nicht der unorganische Weg der Tendenz eingeschlagen wird. Die geniale George Sand steht hoch in den endlosen Fluthen, welche der tendenziös soziale Roman in der neuesten Zeit aufgeworfen hat, nicht weil man sagen kann, sie habe jene Schwierigkeit gelöst, vielmehr sie ist ganz tendenziös, aber dem außer-ästhetischen Zwecke steht ein Auge, eine K r a f t der Zeichnung, eine Seele, ein Stylgefühl Raphael's zu Gebot, welche Bewunderung und Liebe fordern. § 8 82. Was die Stimmungsunterschiede der Phantasie betrifft, so zieht der Roman in vollem Umfang das Komische in seinen Kreis und bildet es zu einer besondern Form aus. Die ironische Auflösung des (romantischen) Epos war für seine Entstehung überhaupt und für die Begründung dieser Form ein wesentliches Moment, wogegen innerhalb des Epos das Komische nur sparsamen Raum findet und nicht eine eigene Form, sondern nur eine Parodie der Dichtart hervorbringen kann. Der Roman bewegt sich durch alle Stufen des Komischen bis zum Humor, der sich naturgemäß mit der sentimentalen Richtung verbindet. Der Stoffsphäre nach vereinigt sich das Komische mit der volksthümlichen oder bürgerlichen Opposition gegen den aristokratischen Roman. Der ernste Roman liebt glücklichen Ausgang, kann aber auch tragisch endigen. [ . . . ] 79
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FRIEDRICH THEODOR VISCHER: Gottfried Keller. Eine Studie (1874)
f . . . ] Keller betitelt seinen Grünen Heinrich „Roman". D a ß dies nur halb ernst gemeint ist, erkennt man sehr leicht, wenn man nur ein Stück hineingelesen; Kreyßig hat sich durch die Bezeichnung mystifizieren lassen, und schon die falsche Klassifikation mußte sein Urteil verstören. Es ist ein Mittelding zwischen Roman und Selbstbiographie und gehört hiemit überhaupt einem fraglichen Genus an. Gestehen wir uns nur, daß selbst Goethes „Dichtung und Wahrheit" Poesie und Geschichte in einer Weise mischt, die eben doch an einer gewissen Schiefheit leidet. Kein Vernünftiger wird darum die Tiefe und Großheit dieses Werks verkennen: den genetischen, organischen Geist, der dieses Gemälde des Werdens durchdringt, die stete Zusammenfassung des Individuums mit dem Allgemeinen, den weiten Kreisen der Wissenschaft, Kunst, Dichtung, der häuslichen und geselligen öffentlichen Zustände, worin dieser einzelne Werdende wurzelt und woraus er die Säfte seines Lebens saugt, seine Entwicklung schöpft, - ein breites, volles, episches Bild, durchleuchtet von Sternen hoher Weisheit und ewiger Wahrheit. Allein in gewissem Sinne doch zu sehr Kunstwerk; eine Selbstbiographie soll strenger, soll sachlicher sein. Nicht als müßte jede Menschlichkeit gebeichtet werden; gerade ein Zuviel der Entblößung ist erst recht ein Tun der Eitelkeit, die sich auf andern Punkten für das grausame Selbstgericht um so süßer entschädigt: das sieht man bei Rousseau. Also ohne Zudecken kann es nicht abgehen, dennoch hat bei Goethe eine zu weiche Künstlerhand die herbe Wahrheit überstrichen eine Glättung, wofür uns die ruhige Selbstironie, mit der er seinem Werden zusieht, und die schöne Geistesfreiheit, die sich darin offenbart, doch nicht entschädigen kann. Nun aber hat er, um abzurunden, auch hinzugedichtet; dazu liegt die Versuchung begreiflich genug im Kompositionsbedürfnis des Poeten. Es ist immer so eine Sache, wenn ein Dichter sein Leben beschreibt; denn wie schwer muß es ihm werden, von seiner Art zu lassen! Diese aber leitet ihn an, ein Kunstwerk zu schaffen. Nun ist nicht zu bestreiten, daß auch der Geschichtschreiber in gewissem Grad ein Künstler sein muß; er muß aus80
scheiden, erhöhen, gruppieren, um die in den Erscheinungen verhüllt liegende Einheit ans Licht herauszuarbeiten. Aber der Dichter wird schwer dem Reize widerstehen, mehr zu tun: zu erfinden, hinzuzudichten, zwar ganz dem Charakter gemäß und niemals ohne innere Wahrheit, aber doch bedenklich, denn der Leser sucht bei dem Geschichtschreiber faktische Wahrheit; es bleibt immer etwas Beunruhigendes, wenn man nicht genau sehen kann: was ist wirklich gewesen und geschehen? Es ist freilich ein starker Unterschied: Goethe gibt Selbstbiographie mit eingetragener Poesie, Keller einen Roman, also Poesie, nur mit offenem Durchblick auf Selbstbiographie; dennoch entsteht auch hier eine Mischung, aus der man nicht recht klug wird. Wir fassen dies gleich an dem Punkte, der uns zunächst angeht, da wir für den seltsamen Schluß eine Erklärung suchen. [ . . . ] Ist das Menschenherz und am meisten das Dichterherz in Gefahr, zu beschönigen und zu verschönern, wo es sich selbst schildert, so hat unser selbstbiographischer Poet dagegen offenbar einen eigenen dämonischen Trieb, sich zu verhäßlichen. Er übertreibt im Schlimmen, wenn andere im Guten übertreiben, er macht den Murrgeist, den störrischen Dämon in der Menschenbrust zu einem hart neben dem guten Geist wohnenden Teufel. So entsteht ein Widerspruch, zu grell, um begreiflich zu sein; denn wohl bewegt sich alle Individualität in Widersprüchen, aber es versteht sich, daß sie nicht dargestellt werden dürfen, als wären sie unlösbar. Das Schweigen gegen die arme Mutter wird in seinen Anfängen noch ganz natürlich aus Scham und Wahrhaftigkeit erklärt, da der ins Elend versinkende Sohn nichts Gutes zu berichten hat und nicht lügen will. Allein so lange, wie dann geschieht, fortgesetzt, und zwar mehr noch aus grillenhaftem Eigensinn fortgesetzt, erscheint es als unbegreifliche und unverantwortliche Barbarei. Wie ist nun das? Es führt ja eben zu dem Schlüsse dieser romanhaften Selbstbiographie, die so ganz unorganisch abfällt. Haben wir es mit dem wirklichen Menschen zu tun, hat sich dieser etwa tatsächlich einmal arg langes Schweigen gegen die ferne gute Mutter zuschulden kommen lassen und straft 81
er sich, indem er die Länge dieser Unterlassung über das Tatsächliche hinausdehnt, durch diesen peinlichen Schluß? Will er sagen: damals hätte man mir den Kopf abhauen sollen, spricht er ein Todesurteil gegen sich? Oder hat er aus irgendwelchem andern Grunde den abreißenden Schluß im Sinn, und übertreibt er darum die Länge des schuldvollen Schweigens? Dieser andere Grund aber, was für einer mag es sein? Halt! Steckt nicht ein Symbol dahinter? Will uns der Dichter nicht sagen: der alte grüne Heinrich ist tot und ein neuer steht auf? Ja, aber wo ist der neue, da die Toten ja tot sind? Nun — der, welcher es schreibt, der lebt ja doch! Und wer ist dieser Der? Ein Dichter. Soll es also heißen: der grüne Heinrich, der nicht wußte, was er werden soll, ist gestorben, und da der grüne Heinrich, der dies erzählt, ein Dichter ist, so könnt ihr jetzt merken, wer auferstanden, was er als Auferstandener geworden ist? Ich quäle den Leser mit dieser Dialektik wie ihn der Poet mit dem Schlüsse quält, dem die Dialektik gilt. Aber sie war nicht zu umgehen; sie rechtfertigt das Prädikat: eine Art schwebenden Mitteldings zwischen Poesie und Selbstbiographie. Wir stehen hier, dies mußte ich nachweisen, in der Wahl: entweder dem Selbstbiographen mit unzarten Schlüssen in sein Privatleben hineinzugreifen oder dem Dichter eine phantastische Symbolik, einen närrischen Sprung aus der Illusion der objektiven Darstellung in den Kopf des Lesers unterzulegen, und beides taugt nichts. Summa Summarum - eine tolle Art von Abschluß, ein Schnake, eine Mücke, eine „naupengeheuerliche Geschichtsklitterung". [ . . . ]
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F R I E D R I C H H E B B E L : Der Nachsommer. Eine Erzählung von Adalbert Stifter (I8J8)
Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen. Wir machen jedoch den Verfasser nur in geringem Grade f ü r das mißratene Buch verantwortlich; er war 82
sogleich bei seinem ersten Auftreten Manierist und mußte, verhätschelt, wie er wurde, zuletzt natürlich alles Maß verlieren. Anfangs schüchtern und durch die Erinnerung an Lessings Laokoon in der behäbigen Entfaltung seiner aufs Breite und Breiteste angelegten Beschreibungsnatur vielleicht noch ein wenig gestört, machte er bald die Erfahrung, daß dieser einst so gefährliche Laokoon in unseren Tagen niemand mehr schadet, und faßte Mut. Zuerst begnügte er sich, uns die Familien der Blumen aufzuzählen, die auf seinen Lieblingsplätzen gedeihen; dann wurden uns die Exemplare vorgerechnet, und jetzt erhalten wir das Register der Staubfäden. Man ging dem alten Salomon Geßner einmal mit einem Geburtstagsepigramm um den Bart, worin es hieß, zwei Musen rissen sich um ihn, und Gott Apoll lasse, „um diesen Streit zu schlichten, ihn malen im Gesang und im Gemälde dichten!" Das wurmte den deutschen Zwillingsbruder des Aristoteles, und er setzte in dem Hauptwerke seines Lebens für alle Zeiten zwischen beiden Künsten den unverrückbaren Markstein. Geßner malte aber doch noch wenigstens, was würde Lessing wohl zu Leuten sagen, die unter dem prahlerischen Aushängeschild der „Ursprünglichkeit" und des „gesunden Realismus" nur Farben reiben, ja oft sogar nur Farbstoffe zusammentragen? Man braucht die Ideen nur zu erlassen, wenn man den Zustand herbeiführen will, in dem die Palette selbst für ein Bild ausgegeben wird. Das Äußerste der Richtung scheint nun endlich in dem Stifterschen Nachsommer erreicht zu sein. Was wird hier nicht alles weitläuftig betrachtet und geschildert; es fehlt nur noch die Betrachtung der Wörter, womit man schildert, und die Schilderung der Hand, womit man diese Betrachtung niederschreibt, so ist der Kreis vollendet. Ein Inventar ist ebenso interessant, und wenn die Gerichtsperson, die es abfaßt, ihr Signalement hinzufügt, so sind auch alle Elemente dieser sogenannten Erzählung beisammen.
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RUDOLPH GOTTSCHALL: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit ( i 8 j 8 )
Die Komposition
des Romans
[ . . . ] Die Komposition des Romans muß, um diese Romantik unserer Zustände auszubeuten und die epische Spannung unserer Zustände durchzuführen, bestimmte Gesetze der Technik beobachten. Der Anfang des Romans führt uns gleich in das bewegte Leben; wir orientiren uns in unbekannten Physiognomieen und Verhältnissen, bis unser Interesse an ihnen lebendig, diese Lebendigkeit durch die Verschleierung einzelner Zustände und Charaktere gesteigert wird. Lange Beschreibungen von Gegenden, Verhältnissen, Charakteren sind besonders am Anfange des Romans von ertödtender Wirkung; der Faden einer fortgehenden Begebenheit muß uns diese Entwickelungen bieten. Die allmählich wachsende Klarheit soll mehr durch die Handlung, durch Gespräch und Brief, durch eine selbstständige Entwicklung der Helden von innen heraus hervorgerufen werden, als durch die Beschreibung des Dichters. Der Anfang des Romans ist gewiß am glücklichsten entworfen, wo wir gleich in irgend eine fesselnde Situation, einen Knotenpunkt der Handlung versetzt werden, dessen Fäden zugleich nach rückwärts und vorwärts weisen. Die Mitte des Romans führt nun diese Fäden weiter zu immer neuen Knotenpunkten der Entwickelung. Das Drama hat nur eine Kollision; der Roman verträgt deren mehrere neben- und nacheinander. Hier wird die eine gelöst, dort eine andere neuangeknüpft. Doch das vollkommene Austönen derselben in der Mitte muß von dem Romandichter vermieden werden. Ganz neue Anfänge sind hier gefährlich! Es muß alles iweinandergreifen, mindestens an einem Punkte der Bewegung. Wir haben schon früher gesehn, daß der Epiker spannt, indem er an einer fesselnden Stelle der Handlung abbricht und den Leser mit einer künstlich erzeugten Unbefriedigung entläßt. Dies Geheimniß der Technik ist für den Romandichter wesentlich. Er wandert von einer der verschiedenen Gruppen seines Romans zu andern und wählt gerade den Moment, in welchem die eine in eine spannende, noch ungelöste Situation versetzt ist, um sie zu verlassen und zur anderen fortzuschreiten. Die 84
gleichsam verzauberte Gruppe steht noch lebendig vor unserer Phantasie, während wir weiter eilen — sie gemahnt uns wie eine alte Schuld des Dichters, auf deren Abzahlung wir gespannt sind. Je größer der Kredit ist, den der Romandichter für seine poetischen Schulden in Anspruch nehmen darf, desto größer ist seine Kunst. Jede Erfindung des Romans ist ein Wechsel, der erst am Schluß fällig ist. Der Schluß des Romans selbst hat nun nicht jene logische Nothwendigkeit und Bestimmtheit, wie der Schluß des Drama's. Im Allgemeinen nimmt man an, daß der Schluß des Romans, wie der des Epos überhaupt, ein glücklicher sei, daß das bestimmte Ziel, das dem Helden oder dem Dichter vorschwebe, nach mancherlei Verwickelungen und Irrungen erreicht werde, daß der Schluß nach vielen Dissonanzen eine versöhnende Harmonie bringe. Doch ist das Gegentheil, ein tragischer Abschluß, keineswegs ausgeschlossen. Im breiten Verlaufe des Romans werden eine Menge von Fäden angeknüpft, treten eine große Zahl Personen auf, über deren Schicksal uns der Abschluß des Romans nicht im Dunkeln lassen darf. Hier ist besonders eine übereilte Abfertigung zu vermeiden. Der Roman ist voll eingeläutet und muß auch voll austönen - dem Geschick jeder Persönlichkeit, die unser Interesse wachgerufen, muß ein unverkümmertes Recht zu Theil werden. Für jene modernen Romane, deren Inhalt die innere, den Kreis der verschiedensten Verhältnisse durchlaufende Bildung des Einzelnen ist, wie Goethe's „Wilhelm Meister," Jean Paul's „Titan," Immermann's „Epigonen," Laube's „junges Europa," die „Wandelungen" der Fanny Lewald u. a., ist ein Abschluß nicht leicht zu finden, da der Prozeß der Bildung ein bis zum Tode fortdauernder ist und nur willkürlich an dieser oder jener Stelle unterbrochen werden kann. Der Roman schließt daher in der Regel, wo die Romantik der Existenz aufhört und ihre Prosa anfängt; er läßt eine Beruhigung des hin und hergehenden Strebens durch eine harmonische Ehe, die Wahl eines bestimmten Berufes u. dergl. eintreten. Dieser Schluß ist ohne schärfere dramatische Konsequenz; aber er genügt für den Roman, der ja nur ein Segment aus dem breiten Kreise des socialen Lebens herausschneidet und nicht, wie das Drama, eine scharfe Kollision in entscheidender Weise zum Ziele führt. 85
Dies Verlaufen in die Prosa des Lebens läßt die Grenzen des Romans nicht so scharf hervortreten, daß er als ideales Kunstwerk auf sich selbst ruhen könnte. Sein Zusammenhang mit äußerlichen Interessen, die für eine poetische Verklärung nicht durchsichtig genug sind, tritt nun auch in seinem Verlauf hervor; seine Form hat nicht genügende künstlerische Begrenzung, um das Hereinbrechen einer überfluthenden Prosa zu verhindern. Besonders nach zwei Seiten hin wird die reine Linie der Schönheit leicht überschritten: das unästhetisch sinnliche, materiell prickelnde, und das tendenziös didaktische Element trüben die künstlerische Reinheit des Romans und machen seine bequeme und geduldige Form zu einem Gefäß für die verschiedenartigsten Zwecke, welche außerhalb der selbstgenugsamen Harmonie des Schönen liegen. [ . . . ] 31
O T T O LUDWIG
: Epische Studien (vor 1865)
Wesen und Technik des Romans bei den Engländern Um das eigentliche Wesen des Romans und seine Bedingungen recht kennen zu lernen, darf man sich nicht an die Virtuosen in dem Fache wenden, sondern an die Romanschreiber zweiten Ranges und besonders an die Engländer dieser Klasse. Jene Virtuosen biegen die Form nach ihrer Eigentümlichkeit und sind nicht selten eben da am anziehendsten, wo sie sich völlig gehen lassen. Ferner sind sie auch in der Anwendung der Kunstmittel nicht so durchsichtig; sie wissen sie so zu variieren und zu verstecken, daß man dieselben schon kennen muß, um sie in der Maske herauszufinden. Man fange daher mit einem Autor zweiten Ranges an und gehe dann weiter zu denen des ersten. Mich dünkt, für das Studium der Technik des Romans kann es kein zweckmäßiger Muster geben als „Die alte Eichentruhe " von James. Aus diesem Roman läßt sich am leichtesten entwickeln, was der Roman verlangt. Er verlangt erstens Ruhe, Haltung, Abweisen jeder Art Ungeduld, zweitens je größer, d.h. länger und reicher er ist, desto mehr eine gewisse Äußerlichkeit. Die kleine Novelle oder Novellette wird ohne große Innerlichkeit so wenig gedeihen, als die Ballade, das erzählende Lied. Je umfangreicher das 86
erzählende Gedicht, je weniger ist ein auf psychologische Entwicklung gestelltes Problem durchzuführen, weil, wenn nicht der Leser, doch der Autor nicht im stände ist, sich in soviel Personen zugleich zu vertiefen und sie so vertieft auseinanderzuhalten, dann weil es etwas sehr Peinliches für beide hat, beständig das innre Auge so anzustrengen für die feinen Züge, noch mehr, wenn das Auge sich bald für die Übersicht erweitern und gleich immer wieder für das Einzelne verengern soll. Es muß durchaus ein richtiges Verhältnis bestehen zwischen der Größe des Bildes und der Größe der einzelnen Züge. Die einzelnen Glieder der einzelnen Figuren eines Freskobildes dürfen nicht Miniaturmalerei sein. Da ein Roman von großem Umfange uns lange beschäftigt, so muß er all unsre Kräfte beschäftigen, wenn nicht Ermüdung eintreten soll. Besonders ist krankhafte Einseitigkeit zu meiden, wie ζ. B. bei Thackeray die stete Wehmut, wenn auch lächelnde Wehmut, mit der er seine Figuren und ihr Thun anschaut. Vielmehr muß eine kräftige heitre Gesundheit die Stimmung des Autors beherrschen, und zwar eine immer gleiche. Der Schatten muß die Figuren herausheben und die Gruppen; er darf bloß Mittel sein. Thackeray macht uns den Eindruck eines Kindes, das statt mit seinem Spielzeug zu spielen, es zerlegt und findet, daß es aus Holz oder Teig gemacht ist, und Wehmut über die Zerlegung empfindet und doch nicht Liebe und Lust, genug zu den Dingen hat, um sie ganz zu lassen. Dann muß er die Dinge kennen, die er schildert. Nur so kann er unsern Glauben wecken und erhalten und die Mittelglieder zwischen den Effektscenen hinlänglich beleben und uns interessant machen. Der englische Romanschreiber behandelt seine Darstellung als ein Geschäft, daher als ein Praktikus, nie als ein Dilettant. Man sieht, er schreibt nicht, um sich selbst zu vergnügen, und schlürft daher nicht bloß den Duft aus gepflückten Blüten. Er läßt das Gewächs aus seinen Keimen naturgetreu entstehen, erst bekommt es eine Wurzel, dann einen Stengel, dann Blätter, endlich eine Blüte oder mehrere. Mit einem wahren Heroismus geht er dem an sich wenig Interessierenden nicht aus dem Wege, er behandelt es mit derselben Liebe als das 87
Interessanteste, und so nur kann der üppige Baum von Interesse erwachsen. Die Kunst des bedeutendem Autors liegt in der Gruppierung seiner Handlungs- oder vielmehr Begebenheitsstämme, in welcher er den Stamm und die Zweige der je höher gestellten Pflanze durch die Blüte der je weiter vornstehenden teilweise zu decken versteht. Höhe und Vorn und Hinten verstehe ich hier so, wie man es auf den Blumentopfstellagen sieht, die von unten und vorn nach oben und hinten aufsteigend gebaut sind. Die vorderste und unterste Pflanze ist die Vorgeschichte, deren Topf von einem Rahmen bedeckt ist, während sie selbst die Töpfe der andern verdeckt. Auch hier kann man die Methode des Taschenspielers als Muster setzen. Er sät einen Samen in einen Topf, dann nimmt er ein andres Kunststück vor, welches er vielleicht auch nicht ganz ausführt, nun zeigt er den Samen keimend, dann den Fortschritt des zweiten Stückes; er beginnt das dritte; nun zeigt er sprossende Saat u. s. w. Also a α, b α, c α. Das Thun des Romanschreibers erinnert an die ruhige Art, mit der man Arbeiter vom Fache arbeiten sieht, die sich nie übernehmen und vor Ungeduld, das Ganze fertig zu sehn, das Einzelne überhasten. Und in Wahrheit ist ein schönes Gebäude eines tüchtigen Grundes bedürftig. Der Maurer darf nicht beim Grundmauern sich übereilen, um nur bald die kühnen Zinnen und Gewölbe aufsetzen zu können. Er setzt vorsichtig und mit ruhigem Blute Stein an Stein, wählt mit Ausdauer die anpassenden Flächen aus. Er denkt nur daran, wie der Grund fest und dauerhaft zu legen sei; der Tag wird schon kommen, wo das Gebäude Gestalt erhält, die Zeit, sich an dem Werke zu freuen. Diese Kaltblütigkeit, dieses Unterordnen und Auseinanderhalten, diese vorsichtige, umsichtige Ruhe, diese Totalität, mit der er bei jedem Moment und dem, was eben nötig, mit ganzer Seele ist, diese Ausdauer, die nichts durch Ubereilen verderben will und jedem Anspruch genügt, dies ruhige Abwarten, das dem Engländer eigen, macht ihn zum großen Romanschreiber wie zum großen Staatsmann. [ . . . ] Dickens
und die deutsche
Dorfgeschichte
[ . . . ] Die Dorfgeschichte ist wie ein einzelnes Glied des Dickensschen Romans zu einem Ganzen geschlossen. Ein Charakterbild 88
aus jener Menge herausgenommen, eine Stimmung aus jener Mannigfaltigkeit von Stimmungen, eine Reflexion aus jenem Reichtum; sie ist der Geist jenes Romans in Form der Anekdote. Die Enge, das Arme, was solchergestalt der Dorfgeschichte Mangel gegen den Dickensschen Roman gehalten, wurde nun in den bessern Dorfgeschichten durch große Innigkeit, Zusammenhalten, saubre Ausführung aufzuwägen gesucht. Dazu gab die richtige Berechnung des deutschen Geschmackes oder auch richtiger Instinkt das Vorwalten der Reflexion und der Lyrik hinzu, das Vermeiden sowohl englischen Sichgehenlassens als auch englischer Kühnheit in der Kombination. Es wurde Rücksicht genommen besonders auf Bildung (nicht bei Gotthelf); das Karikierte fiel weg, mehr das Gemüt wurde beschäftigt als die Phantasie; in die Form der Anekdote nach und aus dem gewöhnlichen Leben wurde so viel deutsche Idealität gegossen, als sich damit vertragen wollte; das englische Behagen wurde in deutsches umgesetzt, aber ein Hauptteil der Wirkung blieb immer die Übertragung des Behagens und des stillen Vergnügens, mit dem der Dichter seine Gestalten anschaute, auf den Leser; daneben wandte sich der populäre Liberalismus an die politische Überzeugung des deutschen Mittelstandes. Es gälte nun, die Dorfgeschichte wiederum zum Roman zu erweitern, in welchem sie ihre Enge und Armut los würde und doch das nicht verlöre, was in ihr dem deutschen Volkscharakter angemessen war. Daraus entstünde dann nun wieder etwas dem Dickensschen Romane Ähnliches, etwas, das an Reichtum von Figuren und Handlung sich ihm näherte, aber in der Art der Komposition und Charakteristik und der Ausführung sich durch diejenigen Eigenschaften unterschiede, die in der Dorfgeschichte sich als Bedingung der deutschen Nationalität herausgestellt haben. Noch ein andrer Grund drängt zu größrer Innerlichkeit und mehr psychologischem Interesse der Komposition; es ist der, daß das deutsche Leben isolierter ist als das englische. Wir haben kein London, in welchem das Wunderbarste natürlich erscheint, weil es in Wirklichkeit so ist, keinen Verkehr mit Kolonien in allen Weltteilen, kein so großes politisches Leben; wir haben keine Flotten, und wenn wir dem Deutschen nationales Selbstgefühl geben, so fehlt dazu der Boden, aus dem es organisch hervorwüchse 89
und berechtigt erschiene, wir müßten es denn als Ausnahme darstellen. Also der Dickenssche Roman, aber beschränkter in der Extensität und dies durch die Intensität ersetzt, die Komposition und Ausführung nicht so salopp, die Charaktere nicht so grillig oder bloß äußerlich durch karikierende Übertreibung des charakteristischen Zuges bewirkt. Mehr das Gemüt als die Phantasie beschäftigt und durchaus nicht jenes Behagen vergessen. Dazu das Mittel, das wir schon im Dickensschen Romane finden - der Humor. Zu große Breite der Darstellung zu vermeiden, wiewohl die Trockenheit der Konturen des eigentlichen Dramas nicht anzustreben ist. Nur so viel Breite, als unumgänglich notwendig, Ungeduld abzuwenden oder nicht aufkommen zu lassen; durch Anschaulichkeit und lebendige Gegenwärtigkeit und Reichtum des Details für das Einzelne interessiert, damit die Spannung ein Gegengewicht habe. [ . . . ] Zwei Städte von Dickens [ . . . ] Im Romane ist das Detail die Hauptsache, da das Ganze gar nicht zur Überschaulichkeit mit einem Blicke, zum Zusammenfassen in ein sittliches Urteil bestimmt ist. Es verhält sich zum Drama wie das verbum activum zum verbum neutrum. Daher hat im Drama die Einheit in der Mannigfaltigkeit des Charakters, im Romane die Mannigfaltigkeit in der Einheit den Accent. Im Romane ist das Ausleben der Figuren der Zweck, nicht das Handeln, wie im Drama; dort ist das Handeln der Figuren Mittel zum Ausleben, hier umgekehrt ist das Ausleben nur als indirekte Motivierung des bestimmten Handelns da. Im Romane sind die Zustände, die Affekte die Hauptsache, wie im Drama die Leidenschaft, die Absicht. Deshalb muß der Romancharakter individueller in Zustande-, allgemeiner in Handlungsmotiven sein, wie der Dramencharakter allgemeiner im Zuständlichen, individueller im Handeln. Der Dramenheld macht seine Geschichte, der Romanheld erlebt die seine, ja man kann sagen: den Romanhelden macht seine Geschichte. Natürlich nicht im strengsten und ausschließlichen Sinne genommen, denn auch der Dramenheld ist zugleich Produkt seiner Geschichte; da er aber auch der Produzent ist, so ist er sein eignes Produkt. Im Romane umgekehrt; hier ist der Held Pro90
duzent, insofern er Produkt ist. Hier ist das Nichtich das Bestimmende, die Form, in welcher das Ich seine endliche Gestalt gewinnt, in seinem eignen Handeln folgt er gezwungen dem Handeln der Welt, dessen Objekt er ist; in der Tragödie hilft das Nichtich dem Ich sich selbst zerstören. Ich rede hier nur von der Tragödie, indem diese eigentlich der Gegensatz des Romanes oder Epos ist. Der reine Roman — ohne Mischung mit den Elementen der Tragödie - kann und darf nicht traurig ausgehen, weil seiner Natur gemäß das Schicksal des Helden mehr zu einer Naturwirkung werden müßte als zum Austrage eines ethischen Konfliktes durch diesen selbst. [ . . . ] Große Erwartungen
von
Dickens
[ . . . ] Wer die Sache organisch ansieht, wird, ohne erst die Erfahrung zu machen, überzeugt sein, daß der epische Dialog ein anderer sein müsse als der dramatische, und aus der Grundverschiedenheit der poetischen Arten die Unterschiede der Arten des Dialogs bestimmen können und zwar dem epischen im Gegensatz zum dramatischen das Merkmal des Mittelbaren, Retardierenden geben, worin das des mehreren Details, also die Mannigfaltigkeit und Ausführlichkeit der Wendungen liegt; der epische Dialog wird äußerlicher, objektiver sein; der Romandialog als epischer Dialog unserer Zeit gefaßt, jedoch das scharf charakteristische Moment des Dramatischen an sich haben; er wird allmählicher sein, mehr in feinen Zügen und Verschmelzung gehalten, als in raschem Fortschritt, an die Stelle des intensiven Nachdrucks wird der extensive treten; er wird der Wirklichkeit näher liegen als der dramatische. Mittelbarer, weil er durch das Medium des Erzählers geht. In dem Merkmale des Mittelbaren liegen eigentlich alle andern, die Schiller und Goethe in ihrem epischen Merkmal des Retardierenden (eine Eigenschaft für das Ding selbst) gesetzt haben. Er wird zuständlicher sein, sich auslebender, mehr um seiner selbst willen da zu sein scheinen, wie denn der Roman das Merkmal des emancipierten Einzelnen in höherm Grade an sich haben wird, als das Drama. Darin liegt die sogenannte epische Breite. 91
Im Dialoge des englischen Romans finden wir eine große Delikatesse der Sprechenden, selbst im Affekt, eine große Höflichkeit und Förmlichkeit, die nicht allein, was sie überhaupt sagen will, sondern auch die Ausdrücke, mit denen sie es sagen will, bevorwortet und sozusagen entschuldigt. Ob das eine Nachahmung der Wirklichkeit ist und die Engländer auch im gewöhnlichen Leben so verfahren, weiß ich nicht; doch wäre es sehr natürlich, daß sich dies aus der parlamentarischen Etikette auf die Gebildeten und etwas ungefüge (charakteristisch ungefüge) auf das Volk verpflanzt hat. Ich glaube, daß die Anreden der homerischen Helden ebenso aus der öffentlichen Art, zu verhandeln, in das homerische Epos herübergekommen sind. Bei Meistern in der Rede v im englischen Roman, ist diese Förmlichkeit mannigfaltigst variiert und durch Angabe andrer Motive die Einförmigkeit maskiert. Sie kontrastiert auf das schönste mit dem Inhalte, wenn eine treuherzige Natur sie anwendet und wohl aus der Förmlichkeit wider Willen herausfällt. Ein andrer Grund als die Förmlichkeit der Höflichkeit, wiewohl oft mit dieser vereint, ist die Förmlichkeit des Geschäftsmannes, z.B. des Anwaltes, der gewohnt ist von den Gerichtsverhandlungen aus, stets zu reservieren, nie sich bloß zu geben. Ähnlich beim Diplomaten, bei allen, die gewohnt sind, etwas zu verbergen. Diese Formen harmonieren besonders mit dem Kostüm, dem Ornat, dem speziellen Berufe, der etwas ihnen Analoges ist, ζ. B. beim Geistlichen, der überall etwas von der Kanzel, wie der Kaufmann vom Kontor oder Ladentisch, der Lehrer vom Katheder in seiner Art zu konversieren mit sich führen wird, er müßte denn ein sehr geriebener Gesellschaftsmensch sein. So charakterisiert sich auch das Geschlecht und zwar nicht allein in der Form, denn das zurückgezogenere weibliche wird nicht leicht kühne Behauptungen und dergleichen vorbringen, und thut es eine, so charakterisiert sie sich dadurch als Ausnahme. Der zu befehlen gewohnte wird durch die äußerste Höflichkeit, die er zeigen will, den Nachdruck, den jene Gewohnheit seiner Redeweise giebt, nicht ganz verstecken können. Der Soldat ebensowenig das kurz angebundene, das „ohne Umschweif" u. s. w. Wie oft kommen uns Nebenvorstellungen in die Gedanken, die wir unwillkürlich ins Gespräch hereinbringen, 9*
wenn wir nicht geniert sind. Die typische Wendung „darüber fällt mir ein". Das ä propos, das im gewöhnlichen Leben seinem Sinne entgegen gebraucht wird. Das Korrigieren (sich selbst z.B.), der absichtlich leichte oder schwere Ton, das mehrmale Anheben, das Unterbrechen, das Übersetzen des schon Gesagten ins deutlichere, wenn der Redner sieht oder fürchtet, der andre fasse ihn nicht, das Unterstreichen. Der scherzhaft gewandte Nachsatz zum ernsten Vordersatz und umgekehrt. Das sich in einen Affekt hineinsprechen, das sich aus einem Affekt heraussprechen oder sprechen wollen, das in andern Ton fallen und zum gewöhnlichen Umgangston zurückkehren. Das sich nicht gleich besinnen können. Das Antworten auf die Einwürfe, die einem einfallen, als hätte sie der andre vorgebracht. Das Wehren gegen eine Meinung, die wir bei dem andern mit und ohne Grund voraussetzen. Das leise bei sich, in Gedanken Fortführen eines Gespräches, dessen laute Fortsetzung dann einem Bache gleicht, der eine Zeitlang verdeckt geflossen u. s. w. Eine Hauptsache, womit Dickens sich wie Shakespeare von z . B . Goethe und Schiller unterscheidet, ist, daß seine Figuren nie wie ein Buch sprechen dürfen. Es ist wunderbar, die reiche Variation der Mittel zu sehen, durch welche den beiden Engländern gelingt, den Dialog vom Buchartigen zu emancipieren. Ein Mittel schon: den Charakter präzis in der Situation zu fühlen, ihn in der augenblicklichen Umgebung zu sehen. Ferner die mechanischen Mittel, das Kadenzierte zu unterbrechen, ζ. B. Parenthese, Umschreibung aus Zartgefühl, Furcht oder dergleichen, aus der Konstruktion fallen aus irgend einem Grunde, das Vertiefen, d.h. aus dem Dialog in den Monolog fallen, das Stammeln, Stottern u. s. w. der Verlegenheit, die Salbung des sich gern reden hörenden, der sich an seinen rhetorischen Wendungen einen Schmaus giebt. - [ . . . ] Der Romanmensch ist mehr Pflanze neben dem Tragödienmenschen; seine Neigungen, wenn auch vielleicht ebenso tief, gebieten nicht über eine so gefährlich rasche Thatkraft. Er ist nicht so einseitig, daher ist seine Kraft mehr verteilt. Er ist mehr zähe und biegsam, er fordert den Sturm nicht nach Eichenart heraus, trifft ihn dieser unaufgefordert, so biegt er sich und steht wieder
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auf, wenn auch nicht in der alten Gesundheit, zuweilen wurzelt ihn, schraubt ihm gleichsam der Sturm die Wurzel tiefer und fester in die Erde. Er faßt weit mehr Entschlüsse, als er ausführt, und führt manche nur halb aus. Dramatisch ist der Mensch, der seiner Welt an Energie überlegen seinen Stempel ihr aufprägt, und den nur ein Zusammenfassen der Weltkräfte und nur da sein ethisch verkehrtes Thun, also er selbst, ihr Bundesgenosse gegen ihn selbst wird, überwinden kann. Er imponiert der Welt, dagegen dem Romanhelden imponiert die Welt und drückt ihm ihren Stempel auf. Jene imposante Stellung zur, dieses relative Verschwinden neben der Welt ist ein unterscheidendes Hauptmerkmal. Und daraus schon folgt die Forderung einer möglichsten Mannigfaltigkeit und Breite der Welt, einer großen Zahl von Figuren, die ihm zum Teile an Kraft überlegen sind und ihm imponieren, auch die äußere Macht der Natur, gegen die seine Kraft verschwindet, während es der Dramenheld bloß mit einer moralischen Welt, das heißt mit Menschen zu thun hat, die alle einzeln neben ihm entweder theoretisch oder praktisch verlieren. Dort herrscht das Gefühl der Freiheit, der unzerbrechbaren Burg des Geistes, der sich niemand beugt, dessen Repräsentant physisch brechen kann, aber moralisch unzerbrechbar ist, hier das Gefühl der Notwendigkeit, der menschlichen Gebundenheit, des Ergebens in die Abhängigkeit von andern Mächten, des Ergebens nicht erst nach dem, sondern ohne Kampf, der instinktmäßigen selbstverständlichen Unterordnung von Anfang an, der der Gedanke des Trotzes gar nicht oder nur in der Verzweiflung kommt, die gar nicht weiß, daß ein solcher Gedanke existiert. So muß aber auch die epische Welt dem Leser so gezeigt werden, daß ihm der Gedanke, einer der spielenden Menschen könne sich aus eignem innern Antriebe gegen sie auflehnen wollen, gar nicht oder nur als ein lächerlicher kommen kann. Während im Drama der Held so imposant, die Welt im Einzelnen ihm untergeordnet dem Zuschauer scheinen muß, daß nur das ethische Gesetz im Innern des Helden (sei es auch nur vom Zuschauer in dessen Innerm vorausgesetzt, weil der Held doch Mensch) oder das Unzweckmäßige in der Zusammensetzung des Charakters des Helden ein zureichend Hindernis und eine 94
Macht erscheint, an der des Helden Wollen scheitern kann. Im Schauspiele muß der Held, nachdem er das Unsittliche in sich selbst besiegt und ausgestoßen, die Welt besiegen. Kurz, im Epos oder Roman ist die Welt, im Drama der Held das, was imponiert. Das Drama steht ganz auf ethischem Boden, der Roman oder das Epos mehr auf dem Boden der Sitte oder des Rechtes, des gesellschaftlichen Vertrages, im eigentlichen Epos des Naturrechtes, im Roman des positiven Rechtes. Im „Don Quixote" initiiert der Held, das wäre dramatisch, wenn nicht eben der Weltzustand, den er angreift, so überlegen, daß der bloße Gedanke solchen Kampfes komisch; ja wenn dieser Angriff in Wahrheit ein Angriff und der ganze Kampf nicht nur eine phantastische Fiktion des Don Quixote wäre. Sowie er in einen wirklichen Kampf geriete, würde der Roman zum Drama, aber eben in der Unangemessenheit des Helden zu seiner Aufgabe hebt sich das Dramatische auf und schlägt in den Roman um, ähnlich wie die Wirklichkeit des Ernstes, der dabei aufgeboten ist, ins Lächerliche umschlägt. Was den Roman poetisch neben dem Epos so sehr zurücksetzt - oder vielmehr ästhetisch - , ist eben, daß er auf dem Boden des positiven, des Civil- und Kriminalrechts steht und damit an der Natur aller Nebenvorstellungen, die diese beiden Institutionen begleiten, an Polizei, Häschern, Gefängnis, Zuchthaus, Schafott u. s. w. teilnimmt, ferner, daß das materielle Wohl im Romane von der Künstlichkeit unserer Verhältnisse und damit von der ganzen Prosa der gemeinen Wirklichkeit in Beschlag genommen wird; welche beiden Seiten er doch nicht entbehren kann, ohne das Moment des Charakteristischen einzubüßen, das der einzige Vorteil ist, den der Roman den Vorzügen des Epos entgegenhalten kann.
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dem Gedankenkreise der Geburt der Tragö die (18 70-18 71)
F R I E D R I C H N I E T Z S C H E : AUS
1 9 j . Die neuere deutsche Romanschriftstellern als eine Frucht der Hegelei: das erste ist der Gedanke, der nun künstlich exemplificirt wird. So der Stil bei Frey tag: ein allgemeiner blasser Begriff, durch ein paar realistische Wörtchen aufge95
stutzt. Der Goethe'sche homunculus. Dies Gesindel, im Lobe der Romandichtung als der einzig zeitgemässen, schafft eine Ästhetik aus seinen Gebrechen, Gutzkow als missrathener Philosoph ist der transformed disformed, im Ganzen eine Caricatur des Schiller'schen Verhältnisses von Philosophie und Poesie. [ . . . ]
FRIEDRICH NIETZSCHE : A u s d e m N a c h l a ß
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Das „Objectiv-sein-wollen", z . B . bei Flaubert, ist ein modernes Missverständniss. Die grosse Form, die von allem Einzelreiz absieht, ist der Ausdruck des grossen Charakters, der die Welt sich zum Bilde schafft: der von allem „Einzelreiz weit absieht" - Gewalt-Mensch! Es ist Selbstverachtung aber bei den Modernen: sie möchten wie Schopenhauer sich in der Kunst „los werden" - hineinflüchten in's Object, sich selber „leugnen". Aber es giebt kein „Ding an sich" - meine Herren! Was sie erreichen, ist Wissenschaftlichkeit oder Photographie, d. h. Beschreibung ohne Perspectiven, eine Art chinesischer Malerei, lauter Vordergrund und alles überfüllt. - In der That ist sehr viel Unlust in der ganzen modernen historischen und naturhistorischen Wuth, - man flüchtet vor sich und auch vor dem Ideal-bilden, dem Sesser-machen, dadurch dass man sucht, wie Alles gekommen ist: der Fatalismus giebt eine gewisse Ruhe vor dieser Selbst-Verachtung. Die französischen Romanschriftsteller schildern Ausnahmen, und zwar theils aus den höchsten Sphären der Gesellschaft, theils aus den niedrigsten - und die Mitte, der bourgeois, ist ihnen allen gleich verhasst. Zuletzt werden sie Paris nicht los.
FRIEDRICH SPIELHAGEN: D e r H e l d im R o m a n ( i 874)
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[ . . . ] Und hier ist es nun, wo in der Technik des Romans der Begriff und das Wesen des Helden bestimmend eingreift, aus dessen Lehre wir deshalb jetzt das Notwendige mitzuteilen 96
haben: ob der Roman einen Helden haben muß? wer der Held ist? welches seine Würden und Bürden sind? Der aber hätte von dem Weben und Walten der epischen Phantasie keine Ahnung, welcher daran zweifelte, daß der R o man einen Helden haben muß, und zwar deshalb: weil der epische Dichter anders als Gestalten schaffend gar nicht gedacht werden kann; weil für ihn über einem Roman brüten und über Gestalten brüten, vollkommen dasselbe, ja, - wenn für so tief verborgene Dinge überhaupt noch bestimmte Bezeichnungen möglich und zulässig — weil der erste Keim des Romans und die erste dämmernde Ahnung einer bestimmten Gestalt absolut identisch sind. Die Entstehung eines Romans ohne diese Gestalt wäre für den Ästhetiker, was für den Naturwissenschaftler die generatio aequivoca: ein Gedankending, dessen Vorkommen in der Wirklichkeit noch niemand nachgewiesen hat. Ich habe von einer „ersten dämmernden Ahnung" dieser Gestalt gesprochen, und dadurch vielleicht der Vermutung Raum gegeben, als gleiche ihre Entstehung jedesmal dem zögernden, tastenden Aufdämmern des Morgenlichtes, aus dem nach und nach in der Hören Tanz sich der volle strahlende Tag entwickelt. Das ist aber keineswegs immer der Fall; für die kleine Welt, die der Dichter brütend in seinem Gehirne hält, kann auch ein plötzlicher Werde-Licht-Moment kommen, wie er nach der mosaischen Sage für die große kam. Aber ob allmählich, oder auf einmal geboren; ob in zerfließenden Umrissen, oder fast schon ausgerundet vor des Dichters inneres Auge tretend - die Gestalt, welche sich zuerst von den schwankenden, die sich zudrängen, loswindet und loslöst, ist der Held. Allerdings vorläufig nur so zu sagen: de jure, nach dem Rechte der Erstgeburt. O b er es auch de facto bleiben, ob er sein Recht zu behaupten, seine Obliegenheiten, Funktionen und Pflichten zu erfüllen imstande sein wird, ist eine ganz andere Frage, die uns sofort beschäftigen soll. Vorläufig müssen wir feststellen, daß einen solchen Erstgeburts- oder De-jure-Helden jeder Roman hat, auch der schlechteste, auch der, in welchem die erste Person nachträglich ihre Machtvollkommenheiten an eine zweite,
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oder gar an mehrere Personen abtritt; auch der Roman, von welchem selbst der Autor behauptet: er habe keine derartige Person, er habe keinen Helden, wie ζ. B. Thackeray von „Vanity Fair". Wenn hier der Zusatz „without a hero" nicht, wie ich vermute, eine Malice des Autors war und soviel sagen sollte, als: glaubt nicht, daß ich es auf die arme Becky Sharp gemünzt habe! ich meine euch alle, alle! keiner von euch ist um ein Haar besser als Becky Sharp! - im ästhetischen Sinne ist Becky Sharp die Heldin von Vanity Fair und nicht bloß de jure, sondern auch de facto. Was verstehe ich unter dem letzteren Ausdruck? oder: welche Obliegenheiten, Funktionen und Pflichten hat die erste Person zu übernehmen und zu erfüllen, um faktisch der Held - oder die Heldin, was ja natürlich ästhetisch gleichbedeutend ist - des Romans zu sein? Hier lassen sich nun mit vollkommener Deutlichkeit zwei Seiten in der Stellung des Helden unterscheiden. Die eine ist sein Verhältnis zum Dichter, ein Verhältnis, das ich, im Gegensatze zu dem zweiten, von dem wir sofort sprechen werden, ein rein persönliches nennen möchte. Ein rein persönliches Verhältnis und ein sehr inniges, das auch, wenn alles gut gehen soll, so bis zum Ausgang bleiben muß. Der Held ist nämlich gewissermaßen das Auge, durch welches der Autor die Welt sieht, in diesem Roman wenigstens, in diesem Stadium seiner Entwicklung wenigstens; und, wenn das zu viel gesagt ist — meistens wird es nicht zu viel sein —, so ist der Held doch ganz sicher der Gesichtswinkel, unter welchen uns der Autor das Stück Menschentreiben, das er aus dem Ganzen ausschneidet, gerückt hat, unter dem er wünscht, daß wir es betrachten möchten. Außerdem aber - und das ist noch viel wichtiger und damit beginnt seine offizielle Mission - der Held ist der Maßstab, welchen der Zeichner auf seiner Karte notiert; die Staffage, die der Maler in seiner Landschaft anbringt, damit man an ihr die Bäume im Vordergrunde und an den Bäumen im Vordergrunde die Hügel des Mittelgrundes und an diesen wieder die Berge messe, welche den Horizont abschließen. Ob dieser Maßstab ein Zoll oder eine Linie, ob diese Staffage ein Mammut oder eine Maus - das ist völlig gleichgültig; aber es 98
muß oben und unten und rechts und links und vorn und hinten dieselbe Relation stattfinden. Durch die ganze Odyssee wandelt der Sohn des Laertes, und Gefährten, Lotophagen und Kyklopen, ja die ewigen Götter selbst - man mißt sie, man wägt sie, man schätzt sie nach dieser unveränderlichen Gestalt; — durch die ganze Ilias, durch allen Staub des Blachfeldes, durch den heißen Tag und die ambrosische Nacht immer und immer schauen wir des Achilleus mächtiges Bild, schauen es selbst noch dann, wann er ganze Gesänge hindurch hinter den Falten seines Zeltes verschwunden ist, und wissen jeden Augenblick, daß ihm der Telamonier Ajas bis an die Augen und Odysseus bis an die Schulter und Patroklos bis ans Herz reicht. Diese Einheit des Maßstabes bedingt die Kongruenz der Teile und damit die Harmonie des Ganzen. Man denke sich, wenn das möglich wäre, Achilleus in der Odyssee nicht als Schemen, sondern handelnd auftreten, - es wäre, wie der Gott, der, sich erhebend, das Gewölbe des Tempels sprengt. Aber der Held - und darin besteht der schwierigste und zugleich wichtigste Teil seiner offiziellen Aufgabe, an welchem er dann nur zu oft scheitert — der Held ist auch, wie die Grenze der ins Weite und Breite strebenden epischen Kraft so auch die Schranke gegen das Hereinbrechen des Unorganischen, des Grenzenlosen d. h. er ist die Bedingung und Gewähr des Kunstwerks. Und damit verhält es sich folgendermaßen: Wenn wir es überhaupt als die Aufgabe des Romandichters bezeichnen können, das Leben so zu schildern, daß es uns als ein Kosmos erscheint, der nach gewissen großen ewigen Gesetzen in sich und auf sich selbst ruht und sich selbst verbürgt, so muß er, mit einer unwiderstehlich logischen und ästhetischen Notwendigkeit, aus diesen vielen Menschen einen aussondern, der gleichsam als der Repräsentant der ganzen Menschheit dasteht, und mit dessen Leben und Schicksalen er das Leben und die Schicksale anderer Menschen in eine Verbindung bringt, die in ihrer Innigkeit und Unabweisbarkeit ein Abbild und Typus der Solidarität der Menschengeschicke im großen und ganzen ist. Vielmehr sein soll, als solches gelten soll. Denn, da der 99
einzelne Fall doch niemals die Regel konstituieren kann; ein Menschenleben aber, noch so trefflich herausgearbeitet, noch so folgerichtig mit dem Lauf der Welt in Verbindung gesetzt, mit den Geschicken der Nebenmenschen kombiniert, doch immer nur ein Einzelnes bleibt, an welchem immer nur ein aliquoter Teil des allgemeinen Menschenloses illustriert werden kann, so kann auch, so zu sagen, die Rechnung nicht ohne Rest aufgehen, der Beweis nicht ganz erbracht werden, das Abbild das Urbild nicht völlig decken. [ . . . ]
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FRIEDRICH SPIELHAGEN: D e r I c h - R o m a n ( 1 8 8 1 / 1 8 8 2 )
[ . . . ] Man sieht, die innere Ähnlichkeit zwischen dem Dichter und seinem Helden oscilliert im Ich-Roman kaum weniger zwischen den Punkten möglichster Annäherung und weitester Entfernung als in dem Er-Roman, nur daß sie vielleicht doch noch ein wenig mehr nach jenem als nach diesem gravitiert; und so verhält es sich auch mit dem hier größeren, dort geringeren Grade, in welchem der Dichter seine individuellen Erfahrungen, Erlebnisse, Lebensumstände für den Romanzweck verwendet. Wenn Goethe bis zu der tragischen Peripetie im „Werther" seine wirkliche Relation zu der Geliebten und ihrem Verlobten annähernd treu geschildert haben wird und nun aus dem Schicksal des jungen Jerusalem den Mut nimmt, für Werthers Herzensschmerzen die Konsequenz zu ziehen, welche sein eigenes Liebesleid aus guten Gründen nicht haben konnte, so wird dieser psychologisch-ästhetische Vorgang im großen und ganzen typisch zu nennen sein für die analogen Vorgänge, die wir in einer langen Reihe von Ich-Romanen beobachten und konstatieren könnten, wenn uns die betreffenden Beweisstücke überall so ausführlich zu Gebote ständen wie in diesem Falle. Ist doch die Poesie überall darauf angewiesen, ja muß man es als ihre ganz eigentliche Aufgabe bezeichnen, daß sie aus den gegebenen Verhältnissen die idealen Konsequenzen zieht, welche das mit unzähligen gleichzeitigen Verpflichtungen überbürdete Leben nicht ziehen kann. Und auch hier unterscheidet sich der Ich-Roman nicht wesentlich 100
von dem anderen Genre; nur daß wiederum die Annäherung an die gegebenen Verhältnisse besonders in den Anfängen in den meisten Fällen eine größere sein wird, als es wohl sonst der Brauch. In die Knabengeschichte Copperfields hat Dickens, wie Forster nachgewiesen, ganze Kapitel aus seiner angefangenen (und eben um Copperfields willen nicht weitergeführten) Autobiographie eingeschaltet; auch die weiteren Etappen auf der Lebensbahn seines Helden waren dem Dichter durch seine eigenen Erlebnisse als Parlamentsstenograph, Schriftsteller u. s. w. vorgezeichnet, wogegen denn freilich Davids Ehe mit dem „Child-Wife" reine Erfindung ist und die zweite mit Agnes ein dauerndes Glück in Aussicht stellt, zu welchem bekanntlich des Dichters eigene Ehe schließlich einen betrübenden Gegensatz bildete. - Im „Simplicissimus" dürften die aktuellen Erlebnisse des Dichters wohl nur bis zum Schluß des dritten Buches stark und oft gewiß mit photographischer Treue benutzt sein, während vom vierten Buche von der Fahrt nach Frankreich an, die Phantasie immer freier waltet, um schließlich zur völligen Phantastik auszuarten und die Grenzen nicht bloß der eigenen, sondern aller möglichen Erfahrung zu überschreiten, aus Gründen, von denen wir weiter unten zu sprechen haben werden. — Wie nahe sich Keller an die eigenen Fata hält, wüßte ich nicht zu sagen; es scheint indessen, daß auch er demselben Gesetz der idealen Konsequenz gefolgt ist, als er in der ersten Ausgabe des Romans den Helden aus dem Leben scheiden ließ, während derselbe in der neuen sich wieder mit dem Dichter bescheidentlich des Lichtes der Sonne freuen darf. — Eine totale Abweichung von den wirklichen Verhältnissen des Dichters findet auf den ersten Blick im „Vicar of Wakefield" statt; aber es ist damit wie mit der oben festgestellten Differenz zwischen dem bekannten Charakter des guten Oliver und dem, welchen er seinem Helden gegeben: das Leben in der Familie des braven Pfarrers - er hatte es selbst an dem elterlichen Herde gelebt; die Scenerie von Wakefield ist die seines Heimatdorfes; und daß er selbst auf dem Bilde nicht fehle, dafür hat er durch die Gestalt des ältesten Sohnes George gesorgt, der in der „Geschichte eines philosophischen Vagabunden" ein klägliches Fragment (und noch nicht einmal das kläglichste!) aus der eigenen LebensIOI
geschichte des Dichters zum besten giebt.* - Eine fast völlige Unabhängigkeit nach dieser Seite beweist Auerbach in dem oben genannten Romane, dessen Helden er in Verhältnisse gebracht hat, die sich mit den aktuellen seines eigenen Lebens kaum irgendwo berühren; und er gleicht darin Thackeray, der die Erlebnisse der Helden seiner Ich-Romane fast durchweg mit völliger Freiheit erfindet, selbstverständlich in dem beschränkten Sinne, in welchem das überhaupt von dem epischen Dichter gesagt werden kann. Aber endlich, wenn der Ich-Roman, wie es scheint, unter denselben beschränkenden Gesetzen steht wie der Er-Roman, wo bleibt der Vorteil, welchen sich der Dichter versprach, als er das mühsam genug errungene Er in das ursprüngliche Ich zurück verwandelte? Und dies nun ist der Vorteil und zugleich dasjenige Moment, welches den Ich-Roman zu einer besonderen Species in der Gattung macht: der Dichter als Ich-Held und Selbsterzähler seiner Fata gewinnt die Freiheit, welche ihm als Erzähler der Fata eines dritten versagt war: seine subjektiven Ansichten und Meinungen ausgiebig mit einfließen zu lassen, ohne dabei dem Helden in die Rolle zu fallen; ohne den Leser aus der Illusion zu reißen, daß er es immer nur mit der einen handelnden Person zu thun hat und nicht mit zweien: mit der handelnden Person und dem Dichter, der außer der Handlung steht und mithin - im poetischen Sinne — gar keine Person ist und kein Recht hat, in dieselbe einzugreifen, wäre es auch nur in der Form von Reflexionen, mit denen er die Handlung begleitet und illustriert. Auch der Dichter des Er-Romans darf sich ja in der Person seines Helden (oder einer anderen Person) dergleichen Reflexionen gestatten, aber wie beschränkt diese Freiheit ist, weiß jeder, der sich praktisch mit der Sache befaßt hat. Die Reflexion, die dem Helden (oder einer anderen Person) in den * „ D a ß Goldsmith (im V i c a r ) vieles angebracht, w a s ihm selbst im wirklichen Leben begegnet w a r , wird allgemein zugegeben. Die Geschichte von George Primrose scheint eine genaue Kopie der Abenteuer und der täppischen E i n f a l t des Autors in seiner J u g e n d " R . Chambers: Cyclopaedia of English Literature II, p. 1 4 0 .
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Mund gelegt wird oder auch nur durch den Kopf gehen soll, muß mit Notwendigkeit aus der jeweiligen Situation herauswachsen; selten wird die Situation derart sein, daß sie dem Handelnden zu langen Überlegungen und zum Ausspinnen seiner Gedanken und Empfindungen Zeit läßt; und wenn es schon um die Monologe auf dem Theater ein mißliches Ding ist, wo wir doch den Betreffenden vor uns sehen und ihn sprechen hören, so ist das Experiment doppelt und dreifach gewagt im Roman und erfordert eine ganz exquisite Kunst des erzählenden Dichters, soll es nicht mißlingen und sich als bare Unnatur prostituieren. Dem Ich-Helden hingegen stehen solche Reflexionen gut, weil sie ihm natürlich zu kommen scheinen. Er ist in Aktion und ist es auch wieder nicht, d. h. er ist ja nur der, dem das alles einmal passierte, der inzwischen reichlich Zeit gehabt hat, sich die seltsamen Fata zurecht zu legen, sie mit voller Objektivität nicht bloß auf ihr Wie? und Was? zu betrachten, sondern auch auf ihr Warum? - warum das so kam und kommen mußte unter den gegebenen äußeren und inneren Verhältnissen und Zuständen, die ihm damals ein Rätsel waren, ihm aber mittlerweile den geheimen Zusammenhang offenbarten. Und eben, weil der Held aus der Kenntnis dieses geheimen Zusammenhanges heraus und mit dem Überblick über alles, was ihm von Anfang an bis zu dem gegenwärtigen Augenblicke begegnete, seine Fata berichtet, muß dieser Bericht eine ganz andere Färbung annehmen als die Erzählung des Dichters von den Schicksalen eines Dritten. Dürfen wir doch im letzteren Falle, soll nicht alle Spannung verloren gehen oder mindestens unser Interesse eine wesentliche Einbuße erleiden, gar nicht einmal von vornherein wissen, wie diese Schicksale verlaufen und ob wir auf der letzten Seite den Helden an die Schwelle des ehelichen Gemaches oder an das Grab geleiten werden! Bei dem Ich-Erzähler haben wir, auch wenn er nicht wie Odysseus leibhaftig vor den horchenden Phäaken, d. h. vor uns steht, die freundliche Gewißheit, daß der Betreffende allen Gefahren, die wir mit ihm werden durchkämpfen müssen, glücklich entronnen ist. Nun kann ja freilich, wie von Goethe im „Werther" die Form beliebt werden, daß der Dichter sich als Berichterstatter introduziert: 103
als der, welcher, „was er von der Geschichte des armen Χ. X. habe auffinden können, mit Fleiß gesammelt und wissend, daß wir's ihm danken werden, uns nun vorlege"; wo er dann freilich an einem bestimmten Punkte genötigt sein wird, sich „als Herausgeber an den Leser zu wenden" und die Mitteilung der Briefe, aus denen er bis dahin schöpfte, „durch Erzählung zu unterbrechen." Aber, wenn uns so von dem Dichter der Ich-Roman gleichsam in einem schwarzen objektiven Rahmen präsentiert wird, ruht doch auf dem Gemälde selbst, ausstrahlend von dem bewegten Herzen, dem abgeklärten Geiste des Ich-Helden, ein seltsam warmes, seltsam reizvolles Clairobscur, höchst verschieden in seiner anheimelnden Wirkung von der unbarmherzigen Helligkeit, in welcher der völlig objektive Dichter seine Gestalten und Situationen hinstellen mußte und dadurch selbst einen Schiller zu dem Fehlschluß verleitete, daß das Werk „nur im Gebiete des Verstandes liege, unter allen Forderungen des Verstandes stehe und auch an allen seinen Grenzen participiere." Gerade aber die Härte und Schärfe der Konturen, zu welcher den rein objektiven Dichter die Methode nötigt, und die ihn so leicht in den Verdacht bringt, daß er nur für den Verstand gearbeitet habe, mildert und verwischt jenes schimmernde, flimmernde Helldunkel, aus welchem die Gestalten jetzt klar hervortreten, um dann wieder in demselben zu verdämmern; und jetzt diese, dann wieder eine andere Seite zeigen in der ahnungsvoll vorausschauenden oder schwermütig retrospektiven Beleuchtung, welche der Selbsterzähler scheinbar nach seiner subjektiven Laune und Willkür, in Wahrheit aber nach dem strengen Bedürfnis seiner künstlerischen Zwecke auf sie fallen läßt. [ . . . ]
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FRIEDRICH
SPIELHAGEN:
Die epische Poesie und Goethe
(I895) [ . . . ] der legitime Erbe des alten Volksepos ist einzig und allein der moderne Roman, der seine Aufgabe, die weite Welt zu Umschweifen und sich liebevoll in das kleinste Detail zu versenken, nur lösen kann, wenn er das Wort - επος — ledig der 104
Fesseln von Metrum, Rhythmus und Reim, zur völligen Freiheit entbindet als Organon des durch kein ästhetisches Dogma, keine traditionelle Gepflogenheit beschränkten, völlig freien, die Welt durch das Medium der Phantasie betrachtenden Geistes. Übrigens ist mir fraglich, ob es Schiller mit seiner Verwerfung des Romans als vollberechtigter Dichtungsart unerbittlicher Ernst gewesen. Man sollte es meinen, wenn er mit weit übertriebener Geringschätzung von seinem eigenen Geisterseher spricht; und wird wieder zweifelhaft, wenn er den Wilhelm Meister enthusiastisch als ein vollwertiges Dichtwerk preist. Mir deucht, wenn nicht in diesem Falle, der ihm vielleicht persönlich zu nahe lag, so doch in tausend andern Fällen, die sich seiner objektiven Betrachtung boten, hätte dem scharfsinnigen Ästhetiker der gewaltige Unterschied zwischen dem Romanschreiber und dem Romandichter zum Bewußtsein kommen müssen; und daß sein herabsetzendes Wort von dem „Halbbruder des Dichters" die Meister des Fachs so wenig trifft, wie das Drama um seine Würde dadurch gebracht wird, daß auf einen wirklichen dramatischen Dichter tausend Dramenfabrikanten kommen. Gerade aber die Konfundierung des dichterischen mit dem nicht dichterischen Roman hat meiner Ansicht nach das MißVerständnis zuwege gebracht; und so dürfte in der reinlichen Trennung jenes von diesem die einzige Möglichkeit der Erklärung des Widerspruchs zu finden sein, wie ein Werk, das „ganz in dem Gebiete des Verstandes liegt", es dennoch fertig bringt, „das Herz mit allen Kräften der Dichtkunst zu ergreifen und einen immer sich erneuernden Genuß zu gewähren". Was verlange ich von einem „dichterischen Roman?" Dies: daß er zuerst - und ich möchte sagen: und zuletzt wie das homerische Epos, nur handelnde Personen kennt, hinter denen der Dichter völlig und ausnahmslos verschwindet, so, daß er auch nicht die geringste Meinung für sich selbst äußern darf: weder über den Weltlauf, noch darüber, wie er sein Werk im ganzen, oder eine specielle Situation aufgefaßt wünscht; am wenigsten über seine Personen, die ihren Charakter, ihr Wollen, Wähnen, Wünschen ohne seine Nach- und Bei105
hilfe durch ihr Thun und Lassen, ihr Sagen und Schweigen exponieren müssen. Weiter: daß die handelnden Personen, wie im homerischen Epos, ständig in Bewegung sind, so daß die Gesamthandlung an welcher sie alle, jede in ihrer Weise participieren — nicht einen Augenblick ins Stocken gerät. Die Gesamthandlung, über die laxere Praxis des homerischen Epos hinaus, wie einen bestimmten Anfang, so ein bestimmtes Ende hat. Wenn sie ihren Lauf vollendet, wie bei jedem wahrhaften Dichtwerk, ein bedeutendes Stück Menschenleben und -Treiben übersichtlich vor dem Leser liegt, so daß es als pars pro toto zwanglos genommen werden kann. Daß ich zu den Erfordernissen eine sprachliche Darstellung zähle, durch welche jede Absicht des Dichters mit völliger Klarheit hindurchscheint; und die, weil die Absichten des modernen Dichters überaus mannigfaltig und höchst subtil sind, auf die gebundene Rede verzichten muß, mag hier noch einmal flüchtig berührt werden; mit größerem Nachdruck die Bedingung der obligaten plastischen und farbenkräftigen Herausarbeitung der Natur, in welche die Menschen gestellt sind, und des gesellschaftlichen Milieu, in welchem sie sich bewegen, obgleich auch die Erfüllung dieser Forderung eine notwendige Folge des ersten Kardinalsatzes ist. Denn das Handeln des Menschen erweist sich in steter Abhängigkeit von der Natur und dem Milieu; und jenes kann vollständig, wie es doch soll, nicht dargestellt werden, ohne daß diese nicht mit in die Betrachtung und Darstellung gezogen werden müßten. Wohlverstanden: soweit die Abhängigkeit reicht. Keinen Schritt weiter! Der Frühlingsmorgen, wenn er zufällig für den handelnden Romanmenschen gleichgültig ist, existiert auch für den Dichter nicht. Nur mit den Sinnen seiner Menschen erfaßt der epische Dichter die Welt. Ein so zu stände gekommenes Werk aber erfüllt völlig die Bedingung, die man an ein poetisches stellen kann und muß, nämlich: daß es, wie im ganzen, so im einzelnen und einzelnsten, ein Produkt der Phantasie sei. Im ganzen: denn nur die Phantasie vermag, vorwärts und rückwärts schauend, ein so vielgegliedertes Gebilde zu überblicken; im einzelnen und ein106
zelnsten: weil, wenn, wie zweifellos, die Poesie kein andres Mittel hat, in der Phantasie des Lesers oder Hörers Personen lebendig zu machen, als sie handelnd darzustellen, diese Darstellung wieder einzig und allein der Phantasie gelingt. Die bloße prosaische Deskription vermag es nicht. Muß man doch selbst vom Porträt, wie es die Malerei oder Bildhauerkunst mit ihren so viel reicheren Mitteln zuwege bringen, behaupten, daß es im tieferen Sinne Leben hat nur durch die Darstellung des inneren Handelns, welches als vergangenes und gegenwärtiges seine Spuren in die Erscheinung grub und gräbt. Ich gehe noch weiter. Ein allen diesen Anforderungen völlig entsprechender Roman ist, trotz seiner Einkleidung in Prosa, als poetisches Werk dem vorzüglichsten versifizierten Drama, d. h. dem poetischen Produkt, welches, nach Aristoteles Vorgang, so ziemlich allgemein als das Höchste der Gattung angesehen wird, durchaus ebenbürtig; ja, es wäre eine wohl aufzuwerfende Frage, ob er nicht, rein ästhetisch genommen, den Vorrang vor diesem beanspruchen darf. Man möchte es fast glauben, wenn man bedenkt, daß man die vollendeten Romane aller Zeiten und Völker beinahe an den Fingern seiner Hände herzählen kann, während es doch der Dramen, welche allen strengsten Ansprüchen genügen, eine erkleckliche Anzahl giebt. Und welche dichterische Qualität und Potenz, derer der Dramatiker bedarf, müßte denn nicht auch der Romandichter in vollstem Maße besitzen? Die Handlung in ihrer Totalität, darf er sie weniger klar übersehen, als dieser? Und ist die Übersicht für ihn nicht vielleicht in dem Grade schwieriger, als seine Handlung wahrscheinlich eine viel kompliziertere ist, als die jenes? Darf das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen ihm in jedem Augenblicke weniger gegenwärtig sein? Die Rechenschaft, die er sich von den Charakteren seiner Personen, den Motiven ihres Handelns zu geben hat, weniger klar? Wobei man noch wohl bedenken mag, daß er sich bei ihrer Darstellung nicht auf einen so geschickten Helfershelfer gelegentlich verlassen kann, wie ihn der Dramatiker an dem Schauspieler besitzt; keine willigen Komparsen ihm die Vorführung eines komplizierten Auftritts erleichtern; kein Coulissenmeister ihm die Scenerie, in welcher der Vorgang sich abspielt, fertig liefert; keine geschäftige Hand ihm in seinen Zimmern die 107
Wände dekoriert und die Möbel zurechtrückt. Freilich, sieht man nur auf die augenblickliche Wirkung, wird der Romandichter immer hinter dem ästhetisch nicht höher zu schätzenden Dramatiker zurückstehen; aber auch hinter dem, welcher ohne besondere dichterische Qualitäten einzig auf den Effekt gearbeitet hat. Doch dieser Effekt und die oft recht unlauteren Mittel, durch welche er hervorgebracht wird - was wiegen sie auf der ästhetischen Wage? [ . . . ]
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WILHELM DILTHEY: Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters (1877)
[ . . . ] In Dickens wirkt das Genie des erzählenden Dichters mit einer wunderbaren Ursprünglichkeit, so gut als gar nicht durch irgendeine andere mitwirkende geistige Richtung modifiziert. Er empfand stolz und stark genug die Macht dieser dichterischen Phantasie über sein Leben, um sich darüber auszusprechen. E r war naiv und edel genug, dies ganz wahrhaft zu tun. Aber das schaffende Vermögen und die Werke von Dickens bilden zugleich ein Glied in dem höchst wichtigen und zusammengesetzten Vorgang, der den modernen Roman hervorbrachte. Es gibt wenige Vorgänge in der europäischen Literatur, welche für das Leben der breiten Schichten unserer Gesellschaft von gleicher Bedeutung wären, als dieser. Es ist unermeßlich, was heute an Romanen konsumiert wird. Aus den Leihbibliotheken wandern täglich unzählige schmutzige Exemplare auf die Sofas der unzähligen müßigen Frauen unserer sogenannten europäischen Gesellschaft. Auf geheimnisvolle Weise verschwinden einige von ihnen in die Zimmer der Töchter, andere verlieren sich in Bedientenstuben, in die Kammer der Nähterin, in die chambres garnies der Kommis, der Kaufmannsdiener. Leidenschaften, die im Leben versagt sind, werden in dieser Lektüre nachgeträumt. Hauff erzählt, wie jemand sein kümmerliches Essen durch die Lektüre von Romanen, die von opulenten Mahlzeiten mit Champagner berichten, sich erhöht: so wird die Bettelsuppe eines dürftigen Lebens durch das Nacherleben von Genüssen, Leidenschaften und Schicksalen aller 108
Art, zumal aber der höheren Stände, aufgebessert. Ist das alles ein Glück? Oder wird die Schlaffheit, die in Gefühlen schwelgt ohne zu Handlungen übergehen zu können, besonders in der gebildeten Frauenwelt nicht durch die Romanleserei maßlos gesteigert? Welchen Anteil von Schuld tragen diese Romane an der furchtbaren Zunahme von Nervenüberreizung, von abgespannter Passivität in der gebildeten Frauenwelt? Glück oder Unglück; das moderne Leben ist ohne diesen Opiumrausch schon nicht mehr zu denken. In der Art der Entstehung des modernen Romans lag von Anfang an diese Doppelseitigkeit, ja Zwiespältigkeit seiner Natur: er war Poesie, und große Poeten haben an seiner Schöpfung mitgewirkt, und er erhielt doch seine Nahrung aus dem Unterhaltungsbedürfnis. Auch die größten Dichter dieser Klasse von Literatur standen im Dienste eines lesehungrigen Publikums. In diesem sonderbaren, ja einzigen Vorgang der Entstehung der herrschenden Literaturgattung unserer Zeit nahm Dickens eine hervorragende Stelle ein. [ . . . ] Das alte Epos hat seinen Kern in den gemeinsamen großen Handlungen, das neue Epos in den Charakteren. Auch Dikkens wie jeder wahre und große Dichter dieses neuen Romans geht in seinem Interesse und in seiner Technik von den Charakteren aus. Diese bilden in seinen größten Romanen wie Copperfield und „Unser gemeinsamer Freund" in Abstufungen, Kontrasten eine Totalität, die den Menschen selber in der gegebenen Zeit der Gesellschaft zu repräsentieren geeignet ist. Nie hat ein Dichter die breite Mannigfaltigkeit menschlicher Charaktere der bürgerlichen Welt so zu umfassen verstanden. Aber mitten in dem scheinbar unermeßlichen Reichtum seiner Erfindungen bemerkt man hier schon die festen Grenzen, welche seine Lebenserfahrungen ihm ziehen und die er nicht zu überschreiten strebt. Er ist der Dichter der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit. Er überließ Bulwer die höhere Gesellschaft, in welcher dieser heimisch war. Er verzichtete auch auf die Darstellung intellektuell hervorragender Naturen, wie Bulwer vor und wie die Eliot unter anderen nach ihm sie gaben. Dieses alles lag ihm außerhalb des Gesichtskreises. In einer der Großstädte wandere ich, es ist Abend, Arbeiter 109
eilen nach Hause, Vergnügungssüchtige kommen, Flaneurs streifen umher. Eine Flut von Menschen aller Art wie mit dunkler Gewalt kommt immer neu, verschwindet, um neuen Platz zu machen. So ist es in Dickens' Romanen. Das sind nicht dieselben Personen wie manche Wunschbilder, die immer wieder in den Büchern beschrieben werden. Aus unbekannten Fernen strömen sie immer neu und anders hinzu und verlieren sich wieder. In Dickens' Romanen sind unzählige Menschen zusammengefügt, die sich alle voneinander bei aller typischer Ähnlichkeit doch unterscheiden. Keiner derselbe, jeder anders. Ihm hatte der Gang seines Lebens das arbeitsame geschäftige London von der untersten bis zu seinen höchsten Stufen zum Schauplatz seiner Erfahrungen und seiner Erfindungen gemacht. In der unerhörten Fülle der Charaktere, die er geschaffen, treten einige Klassen hervor, wie solche bei einem jeden Dichter nachgewiesen werden können. Scharf trennen sich die Menschen, in welchen ein harter Wille, ohne Gefühle von Sympathie mit der Gesellschaft, ja in verschiedenen Graden auch ohne Rechtschaffenheit dieser gegenüber, sich gleichsam in dem verworrenen Ringen der Existenzen seinen einsamen Weg bahnt. Nach seiner Art, die moralische Welt anzusehen, ruhen diese Personen nur auf sich selbst, unbedürftig anderer. Denn dies ist nun das Eigentümliche in der Ansicht von Dickens über die moralische Welt: er ist ganz davon erfüllt, daß nur die sozialen Eigenschaften des Menschen denselben zum Glück befähigen. Alle seine Erfahrungen scheinen ihn dahin geführt zu haben, daß nur in der Arbeit für andere, im Hegen von Sympathie und dem Sichausstrecken nach Sympathie Glück des Lebens zu finden sei. Die Energie des Willens und der Leidenschaft, die sich in ihrem Begehren abschließt, ist ihm in all ihren Formen, sowohl in der Vergewaltigung der Menschen zum eigenen Nutzen als in dem sentimentalen Streben nach persönlichem Glück, im Widerspruch mit der Natur des Menschen und der Konstitution der Gesellschaft. Diese Betonung der sozialen Gefühle als des Kernes von Moralität und Glück ist der echte Ausdruck englischen Geistes, wie dies die Moralsysteme von Locke, Shaftesbury, Hume, Adam Smith ebenfalls bezeugen. So stellt denn Dickens denen, die gewaltsam oder listig oder sentimental sich selber 110
wollen, diejenigen gegenüber, welche von sozialen Gefühlen bestimmt sind. Die Zahl der Charakterformen auf beiden Seiten ist wunderbar groß. [ . . . ] [ . . . ] Die ganze Gesellschaft liegt vor ihm als Reich von Erfahrungen, von Darstellungen, und auf diese Gesellschaft in all ihren Schichten, von der vornehmen Frau bis zu dem Haus und dem bescheidenen Kamin des Arbeiters will er wirken. In Heften, Monat für Monat, erschienen hier seine Romane. Ihre Form war die eindringlichste, die bis dahin irgendein Romanschriftsteller gefunden. Und vor ihm lag in diesem zur Riesenstadt heranwachsenden London der Extrakt der ganzen englischen bürgerlichen Gesellschaft von den großen Leitern der City bis zu den Lastträgern an der Themse, ja den Leichenfischern und dunklen Existenzen dort. [ . . . ] Inmitten einer so bewegten Gesellschaft arbeitete Dickens wie ein kraftvoller Schwärmer. Er hatte ein starkes Gefühl für alles, was echt und wirklichkeitsgemäß in allen diesen Bewegungen war. Er hatte als Reporter im Parlament das Scheinwesen in diesem verachten gelernt. Er trat gegen das Schuldgefängnis, die schlechten Schulen, die Armenhäuser, die verwickelte und undurchsichtige Jurisprudenz und die so bedingte Rechtsprechung (mit Bentham) auf. Vor allem aber war er überall gegenwärtig, wo es sich um die Verstärkung des Sinns für das Recht der Arbeiter handelte. In diese Stellung von Dickens brachte seine zunehmende Liebe zu Carlyle und dessen Schriften einen Zusammenhang, welcher eben durch eine echte Wahlverwandtschaft bedingt war. Der Schotte und das Londoner Kind sind durch Humor, durch Freude an allem Wahrhaften, Starken und Gütigen, vor allem durch tiefes, oft exzentrisch tiefes Gefühl verbunden. Beide wollten Wirklichkeiten gewahren und fanden diese vor allem in der Menschenwelt. Bei Carlyle war dies gegründet in seiner tiefen Transzendentalphilosophie, und Dickens, dem es aus dem Leben seiner Imagination entsprang, vertiefte sich gern durch Carlyle. Beide sahen die starken Realitäten der Menschenwelt klaren Auges, den Lebenshunger, die unermeßliche Verdauungskraft von Besitz und Herrschaft in vielen Individuis, in der Tiefe derselben aber als etwas Unüberwindliches Gewissen, wahre Arbeit, Aufopferung, ein die menschIII
liehe Gesellschaft Verbindendes, das über das Individuum hinausreicht; dies als nicht sekundär, sondern als ursprünglich im Willen liegend, ja schließlich der Kern dieses sonst so problematischen Lebens. Hier empfing der Humor von Dickens eine eigene Vertiefung, mehr noch seine Sentimentalität eine Verinnerlichung. Dickens betonte mehr das Sympathische in dieser moralischen Anlage, Carlyle mehr das Heroische, und beide gingen mutigen Herzens einer gänzlichen Umgestaltung der Gesellschaft entgegen, sie sahen am Horizonte ein fernes Land der Zukunft, in welchem auf der wahrhaften Arbeit, dem menschlich umfassenden und vertieften Glauben, der Entwicklung aller Regungen von Sympathie und Pflicht die demokratische Ordnung Arbeiter und bisherige Herren verbänden. Beide arbeiteten in ihren Schriften an diesem Weltbesten. V o n hier aus ist nun der Bau der Romane von Dickens verständlich. Das Eigentümliche bei ihm liegt darin, daß er jeden Roman zusammensetzt aus Gruppen ganz heterogener Art, entsprechend den Momenten der sozialen Welt. Jede solche Gruppe ruft eine bestimmte Stimmung hervor. Er verwendet sie, um diese Stimmung aufs stärkste hervorzubringen. Er hält diese Stimmung mit innerer Konzentration fest. Unter ihrem Einfluß gestaltet seine Phantasie die Gruppe bis zum Exzentrischen. Die Charaktere zeigen immer dieselbe unveränderte Exzentrizität. Und im inneren Zusammenklang dieser Stimmungen, der dem Verhältnis zur Welt entspricht, liegt die höchste Wirkung seiner Romane. Innerer Gegensatz zu Cervantes und Goethe. Verwandtschaft mit Shakespeare. [ . . . ]
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P A U L HEYSE/THEODOR FONTANE: B r i e f w e c h s e l . - Ü b e r E i n -
heitsroman und Vielheitsroman (1878, 1879)
Brief Heyses an Wilhelm Hertz, 27. November
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[ . . . ] die Stärke unseres Freundes in chronikhaftem Detail, die Liebe zur Scholle, zu jedem Sandkorn in dieser Scholle, hat meines Erachtens auf die Gestaltung des Ganzen, mehr als gut 112
war, ihren zerstückelnden, zerbröckelnden Einfluß geübt.* Es ist in den ersten Büchern wirklich mehr Porträtgalerie als Erzählung, und was das schlimmste ist, nicht alle diese Figuren sind von solcher Wichtigkeit für die Geschichte selbst, daß wir ihr Interieur und Exterieur, ihren Kaffee und Kuchen, ihr Lieben und Hassen mit solcher Umständlichkeit zu erfahren brauchten. Ich z w a r höre aus jeder Zeile unsern lieben, klugen, feinsinnigen und witzigen Freund, wie er etwa von einer Exkursion heimkehrend, seine kleinen Abenteuer und neuen Bekanntschaften dem Rütli vortrug. Und wahrlich bin ich kein Kunstphilister und Kompositionspedant! und lasse mir viel gefallen, was mir gefällt. Nur fühl' ich einem Buch gegenüber einen stillen Kummer, wenn ich es allzu leicht wieder aus der Hand legen kann, so sehr es mich auf jeder Seite ergötzt hat. Ich will denn doch endlich auch gepackt, bezwungen, mir selbst entrückt werden, und dies ist mir hier erst im 4. Band geschehen. Die beiden Hauptstränge, an denen die „Handlung" fortgezogen wird, könnten unbeschadet der Wahrheit und Einfachheit, die ich sehr hoch schätze, straffer gespannt sein [ . . . ] . Brief Fontanes an Heyse, 9. Dezember
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[ . . . ] Meinst D u nicht auch, daß neben Romanen, wie beispielsweise Copperfield, in denen wir ein Menschenleben von seinem Anbeginn an betrachten, auch solche berechtigt sind, die statt des Individuums einen vielgestaltigen Zeitabschnitt unter die Lupe nehmen? Kann in solchem Falle nicht auch eine Vielheit zur Einheit werden? Das größere dramatische Interesse, soviel räum' ich ein, wird freilich immer den Erzählungen „mit einem Helden" verbleiben, aber auch der Vielheitsroman, mit all seinen Breiten und Hindernissen, mit seinen Porträtmassen und Episoden, wird sich dem Einheitsroman ebenbürtig - nicht an Wirkung, aber an Kunst — an die Seite stellen können, wenn er nur nicht willkürlich verfährt, vielmehr immer nur solche Retardierungen bringt, die, während * Heyse spricht von Fontanes „Vor dem Sturm". (Anm. des Herausgebers.) "3
sie momentan den Gesamtzweck zu vergessen scheinen, diesem recht eigentlich dienen. Nicht Du, sondern andere haben mir gesagt, daß der Roman schwach in der Komposition sei; ich glaube ganz aufrichtig, daß umgekehrt seine Stärke nach dieser Seite hin liegt. [ . . . ] Brief Heyses an Fontane, 2. Januar 1879 [ . . . ] Was die theoretische Frage betrifft, ob eine Massenkomposition nicht so gut ihr Recht habe wie der pyramidale Aufbau mit einem Helden an der Spitze, so kann ich nur erwidern, daß ich überhaupt keine abstrakten Kunstgesetze kenne, sondern jedes Werk darauf ansehe, was es wirkt, wirken will und kann und dabei nur die psychologischen Bedingungen, unter denen wir aufnehmen und genießen, zu Rate ziehe. Nach diesen wird es nun schwer, durch ein halb Dutzend neue Anfänge uns zu einem einheitlichen Interesse zu sammeln, und wenn der aus so viel Quellen zusammengenommene Strom sich dann wieder zerteilt, in weiteren fünf bis sechs Armen fortfließt, uns hie und da sanft auf einem Inselchen absetzt oder uns in einem Altwasser eine Weile zurückläßt, werden wir leicht undankbar für all das landschaftlich Reizende, was wir dabei entdecken. „Was man nicht liebt, kann man nicht machen." Aber auch was man zu sehr liebt, wird uns unter den Händen behindern. Ich habe nicht den mindesten Einwand gegen Deine Komposition; sie ist eher zu kunstvoll für meine Anschauung und Überschauung. Nur daß Deine Belesenheit, Bewandertheit, Betrautheit in diesen Gegenden Dich gedrängt hat, den ganzen Reichtum uns auszubreiten, alle lokalen und Familientraditionen, alles was dem Wanderer wichtig und erfreulich war, das erschwert stellenweise den reinen Eindruck der Handlungen und Charaktere, während es dem Buch wieder etwas ganz eigen Trauliches und Solides verleiht. [ . . . ] 39
MICHAEL GEORG CONRAD
: Zola und Daudet (18 8 O)
[ . . . ] Der einzig bedeutungsvolle, geistig dominierende Roman, dessen Gestalt und Methode im Einklänge mit dem wissenschaftlichen Charakter unserer Epoche steht und den konven114
tionellen Hirngespinnsten schlankweg den Rücken kehrt; dieser Roman, der auf den Ergebnissen der Beobachtung und Wissenschaft beruht und zunächst keine anderen künstlerischen Ansprüche macht, als für die Wahrheit der Sache den zutreffendsten, knappsten, lebendigsten Ausdruck zu finden, ohne idealisierende Flunkerei, ist der realistische oder naturalistische, le roman experimental, wie ihn Emil Zola kunstgerecht nennt. Aber nur der wahre Künstler kann ihn leisten, nicht der Photograph, wie unsere idealistischen Kritikschwätzer flunkern. Der Typus, das Urbild dieses Romanes ist „Madame Bovary" von Gustav Flaubert. Die Hauptzüge der neuen Kunstlehre, wie sie aus der ästhetischen Analyse dieses Werkes resultiert, sind etwa folgende: Treue Wiedergabe des Lebens unter strengem Ausschluß des romantischen, die Wahrscheinlichkeit der Erscheinung beeinträchtigenden Elementes; die Komposition hat ihren Schwerpunkt nicht mehr in der Erfindung und Führung einer mehr oder weniger spannenden, den blöden Leser in Atem erhaltenden Intrigue (Fabel), sondern in der Auswahl und logischen Folge der dem wirklichen Leben entnommenen Szenen, in deren Faktur und gesellschaftlicher Umrahmung die höchste Wahrheit als vollendete Kunst sich darzubieten hat; keine „Helden" mehr von Überlebensgröße, keine phantastischen Puppen in Riesenformat, sondern wirkliche Menschen, just so erhaben oder so erbärmlich, wie sie die Gesellschaft hervorbringt, also Wesen, deren Proportionen dem Maße der gemeinen Existenz entsprechen und die nicht wie Kolosse unter Zwergen, im Roman wie in einer Fabelwelt sich bewegen; die Schönheit des Werkes besteht nicht in der idealisierenden Vergrößerung im Rechten wie im Schlechten, sondern in der Harmonie und Wahrheit des Ganzen wie der Teile, in der höchstmöglichen Genauigkeit des „menschlichen Dokuments", von Künstlerhand in unvergänglichen Marmor gegraben; der Verfasser verschwindet vollständig hinter der Handlung und stört weder mit seinem Lachen oder Weinen, weder mit seinen eingeschobenen Reflexionen oder Sentenzen, noch sonst mit einer merklichen persönlichen Teilnahme den Gang der Ereignisse, die Charakterentfaltung der handelnden Person; der Roman bewahrt durchaus seine unpersönliche, objektive Einheit, die con"S
ditio sine qua non jedes durch sich selbst wirkenden, sein eigenes Leben bezeugenden Kunstwerkes. Eine einfache Vergleichung ergiebt die größten technischen Fortschritte, welche der naturalistische Roman seit Balzac gemacht hat, denn mit Ausnahme von zwei oder drei Werken hat dieser mächtige Autor sich nicht immer in den gewollten Kunstschranken zu halten vermocht; die Übertreibungen und Abschweifungen sind zahlreich, die persönlichen Launen durchbrechen die organische Einheit, ja zuweilen nehmen ganze Kapitel die unstatthafte Form einer Plauderei des Schreibers mit dem Publikum an. Erst Flaubert und Zola haben die definitive Formel des naturalistischen Romans gefunden. Ob letzterer diesem oder jenem Geschmack entgegenkommt, diesem oder jenem Publikum behagt, ist in diesem Augenblicke gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß sein Existenzgrund, seine Prinzipien und Absichten richtig erfaßt werden. Der Rest wird sich finden, d.i. die Trägheit des Geistes, die vor jedem neuen Schritte zittert, weil sie in jeder Veränderung nur Fallstricke, Abgründe, Dekadenz und dergleichen sieht, wird sich •allmählich der naturalistischen Formel fügen, wie sie sich einst der klassischen und romantischen gefügt hat. Die Entwickelung der Ideenwelt spottet jeder fremden Schranke. [ . . . ] In der Kritik anerkennt Zola, wie jeder schöpferische Geist, keinen andern Gott als sich selbst, im Roman keine andere Offenbarung, als die entgötterte, wissenschaftlich erfaßte Natur. Höchstpersönlich in der Kritik, zeigt er sich unpersönlich im Roman. Sein Roman ist, wie er selbst sagt, ein Protokoll, ein allgemein menschliches Dokument, dessen Autor nirgends sichtbar wird als in der Unterschrift. Die Diktion wächst deshalb aus der Sache selbst heraus und bringt zuweilen Wendungen und Worte von einer Urwüchsigkeit hervor, die kein Autor persönlich in guter Gesellschaft verantworten möchte. Zola verantwortet sie auch nicht; er wälzt jede Verantwortung auf das von seiner Person losgelöste Werk ab. Dies gilt hauptsächlich vom „Assommoir" Und der „Nana". Ihr findet meine Phraseologie oft unpoetisch, roh, gemein? ruft er aus; eh bien, ist es meine Schuld, daß die behandelten Zustände und Menschen unpoetisch, roh, gemein sind? Ich habe nichts davon und nichts dazu gethan. Ich habe als Autor Ii 6
keine andere Verpflichtung, als der Wahrheit der Natur zu ihrem vollen Rechte zu verhelfen. Mein Roman erschreckt, entsetzt, beleidigt Euch? Bon, bringt Eure Lamentationen vor den Richterstuhl der Wahrheit, mich aber laßt ungeschoren, denn ich bin nur ihr auserwähltes Organ. Zola ist die sittlichste Seele, der keuscheste Schriftsteller, aber einige Seiten seiner Werke wimmeln von Obszönitäten. Wem die Schuld? „Dem Reinen ist alles rein", bezeugt die Bibel. Zola zählt zu den einschneidendsten Moralisten, die Frankreich je hervor gebracht. Aber er hütet sich, den Verlauf der Lebensgänge seiner Helden nach einem metaphysischen oder theologischen Sittengesetz pathetisch zu arrangieren. Der metaphysische oder theologische Mensch existiert überhaupt nicht für ihn, sondern nur der physiologische; nur ihm vindiziert er faßbare Realität. Menschengeschichte ist ihm Naturgeschichte. Darum moralisiert er in seinen Romanen auch mit keiner einzigen Silbe; er bleibt kühl bis an's Herz, selbst wenn die Tugend schmählich unterläge und das Laster siegte. Stets siegt der Stärkere, lautet das Naturgesetz — allen Evangelien und Katechismen zum Trotz. Wo bleibt die Moral? fragt der ängstliche Leser, wo die sittenstärkende Nutzanwendung? - Sie liegt unausgesprochen im Vorgang selbst, im Charakter und Schicksal der Helden, antwortet der Romanzier; so und nicht anders spielt sich das wirkliche Leben ab - richtet Euch nun danach ein! Das allein ist die Moral der Geschichte. Ihr erwartet eine andere? Dann geht in die Kirche, vor die Kanzel, in den Beichtstuhl, aber nicht zum Romanzier, der ein Werkmann der Wissenschaft und nicht ein Sachverwalter religiöser Gläubigkeit ist! Diese Auffassung seiner schriftstellerischen Mission ist mit Zola's ganzem Wesen innigst verwachsen, ja, sie ist die Essenz seines Wesens, seiner persönlichen Bedeutung selbst. Bei allem Bewußtsein seiner Kraft und seiner reformatorischen Absichten handelt er vollkommen naiv. Er gehorcht keinem anderen Gebot als der Stimme seines Gewissens, dem Drang seines Geistes, dem Impuls seines Temperaments, folge daraus, was da wolle. "7
Was daraus folgen mußte, liegt auf der Hand: Feindschaft von allen Seiten. Man sagt der Welt nicht ungestraft die Wahrheit ins Gesicht. Der Unverstand, die Bosheit, der Neid machen gemeinsame Sache wider den kühnen Sprecher und suchen mit all' den schönen Mitteln, welche keine andere Heiligung als die des Zweckes für sich haben, ihm das Leben so sauer als möglich zu machen. [ . . . ]
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KARL HILLEBRAND: V o m a l t e n u n d v o m n e u e n R o m a n ( i 8 8 4 )
[ . . . ] Merkwürdiger Weise scheinen die Romanschriftsteller der jüngeren Generation, welche, wie Spielhagen, Zola, Henry J a mes und W. D. Howells, nicht müde werden, ihre eigene Kunst theoretisch-kritisch zu behandeln - was wohl einem Dickens nie in den Sinn gekommen wäre - sich jenes Unterschiedes der Zeiten gar nicht bewußt geworden zu sein, obwohl alle Theorien dieser Praktiker auf der stillschweigenden, zuweilen auch ausgesprochenen Voraussetzung der Überlegenheit des heutigen Romans über den früherer Zeiten, oder doch eines Fortschrittes in der Entwicklung dieser Gattung, beruhen. Dagegen wäre nun nicht viel einzuwenden, wenn die Herren sich klar wären, daß ein solcher Fortschritt nur die Technik betreffen kann, folglich von äußerst geringem künstlerischen Werthe ist. Der Fortschritt der Technik von Benozzo Gozzoli zu den Caracci ist ein sehr großer: Niemand wird darum zugeben wollen, daß der Kunstwerth der Galerie Farnese, trotz der geschicktesten Verkürzungen, größer sei als der einer Freske des Campo Santo mit allen ihren Zeichen- und Perspectivfehlern. Nun ist aber in jenen Erörterungen der Fachmänner das Bewußtsein, auch im Wesen der Sache einen Fortschritt erzielt zu haben, unverkennbar. Der neue Roman ist „finer" als der alte, sagt Howells ganz unbefangen, geben alle Andern deutlich zu verstehen, und sie meinen damit nicht nur eine Überlegenheit in der Composition, dem Dialog u. s. w., sondern auch ein sorgfältigeres Studium der Gefühle und Leidenschaften, eine feinere Schattirung der Charaktere, eine tiefere Kenntniß der Gesellschaft und ihrer Einflüsse aufs Individuum; denn daß die Alten alles Das nicht gekonnt oder 118
nicht gekonnt haben können, weil sie's sonst ja mitgetheilt hätten, liegt unsern Neuern, welche das „weise Verschweigen" nie gelernt, auf der Hand. [ . . . ] Das gesammte geistige Leben unseres Jahrhunderts, und vornehmlich der zweiten Hälfte desselben, ist durchdrungen von den wissenschaftlichen Gewohnheiten und der neuen Moral, welche kurz vor der französischen Revolution in Aufnahme kamen und seit der endgültigen Niederlage der Romantik um die Mitte unseres Jahrhunderts fast zur Alleinherrschaft gelangt sind. Beide aber, die wissenschaftliche und die moralische Anschauungsweise, sind nicht nur unempfänglich für Kunst, sie sind unverträglich mit ihr, sind ihre Negation. Der Roman, insofern er eine Kunstgattung ist, hat denn auch unter der Herrschaft dieser modernen Principien ebensoviel und mehr gelitten, als alle anderen Kunstgattungen, eben weil er seiner Form nach sich bequemer zur wissenschaftlichen Behandlung und moralischen Rechtsprechung gebrauchen ließ als alle andern. Wohl hat es schon lange vor der Revolution einzelne Menschen gegeben, welche den wissenschaftlichen und moralischen Maßstab auf Gebiete übertrugen, wo er ganz ungültig ist; aber es waren eben Einzelne. Heute beherrscht dieser doppelte Standpunkt die ganze Literatur, und da unsere Bildung ganz Buchbildung geworden ist, auch unsere Bildung. Wohl lebt die Menschheit auch heute noch weiter, als ob jene Principien nicht da wären — es würde ja unmöglich sein anders zu leben - aber sobald sie das Leben beurtheilen, erkennen oder reproduciren will, braucht sie nur noch diese beiden Maße. Wissenschaft nun geht auf die Erkenntniß der Welt und ihres ursächlichen Zusammenhanges; sie zerstört das individuelle Leben, um dessen Gesetze, d. h. das den individuellen Erscheinungen Gemeinsame zu finden. Die Kunst im Gegentheil sucht die Welt zu erkennen und zu deuten, indem sie die Einheit des individuellen Lebens erfaßt und reproducirt; sie eliminirt das Allgemeine, um das Besondere besser zu fassen und im Besonderen wieder das Zufällige, damit ihr das Wesentliche klarer werde. Da nun aber das Allgemeine bloß eine Abstraction unseres Verstandes ist, das wirkliche Leben sich nur im Besonderen äußert, so folgt daraus, daß die Kunst, in einem Ii
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Sinne, wahrer ist als die Wissenschaft. Doch berührt dieser Punkt unsere Erörterung nicht: worauf es uns ankömmt, ist darzuthun, daß die sog. wissenschaftliche Behandlung eines Stoffes nur der Kunst Eintrag thun kann, wie denn die Wissenschaft ihrerseits gar Erbauliches von den Ungeheuerlichkeiten zu erzählen weiß, welche die künstlerische Behandlungsweise der Wissenschaft hervorgebracht. Wenn aber z . B . Herr Zola die Ehre ablehnt, überhaupt Kunstwerke geschaffen zu haben, so werden deshalb die Männer der Wissenschaft noch nicht dazu geneigt sein, ihm Verdienste um die Wissenschaft zuzuschreiben. Sind seine Werke doch immer Erzeugnisse der Phantasie, folglich ganz werthlos für die Wissenschaft, die nur mit Realitäten zählt und auf derlei Phantasmen keine Gesetze begründen kann. Überdies ist alle wissenschaftliche Arbeit eine collective und progressive, die künstlerische eine individuelle und in sich abgeschlossene. Jedes neue Werk der Wissenschaft überholt das vorhergehende wenigstens theilweise, bis es endlich ganz veraltet ist. Die wissenschaftliche That bleibt unsterblich, aber das wissenschaftliche Werk muß untergehen. Würde sich Herr Zola dazu resigniren und bildet er sich alles Ernstes ein, „Nana" und „Potbouille" seien wissenschaftliche Thaten, d. h. Ringe in der unendlichen Kette der Wissenschaft? Gewiß nicht; im Grunde ist's auch den Herren nicht so gar ernst um die Wissenschaft. Was sie anstreben, ist mit den Werkzeugen der Wissenschaft und an Stoffen, welche Resultate der Wissenschaft sind, Kunstwerke herzustellen, weil ihnen die Werkzeuge der Kunst abhanden gekommen und sie den Maßstab für Beurtheilung der Stoffe verloren haben. Hier aber entsteht die Frage, ob ein solches Beginnen nicht von vornherein des Mißerfolges sicher ist. [ . . . ]
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JULIUS und HEINRICH H A R T : Friedrich Spielhagen u n d der
deutsche Roman der Gegenwart (i 884) [ . . . ] Jeder der Romandichter sucht ein allseitiges Gemälde seiner Epoche zu geben, er blickt wie im Kreise um sich herum, und nichts ist ihm zu gering, nichts seiner Feder unwerth, was wirklich ist, mag auch der eine mehr, der andere weniger 120
sehen. Die Epiker dagegen concentriren ihren Stoff, sie drängen ihre Handlung, ohne im einzelnen der epischen Breite zu vergessen, energisch einem Zielpunkte zu. So wird das Nibelungenlied fast zu einem Drama, die Ilias nicht etwa zum Gemälde des trojanischen Krieges, sondern zur Schilderung des Zornes des Achilles und seiner Folgen, und auch Firdusi führt sein Werk wie auf einer geraden Linie vorwärts. Mit einem Wort, der Romandichter ist Realist, der Epiker (in engerem Sinne) Idealist, jener ist mehr Maler, dieser mehr Plastiker, jener individualisirt, dieser typisirt, jener ist Demophile, dieser Aristophile. Letztere Bezeichnungen sind natürlich jeden politischen Nebensinnes zu entkleiden. Beiden gemeinsam aber ist die epische Objektivität, beide stehen über dem Getriebe und reden nicht in dasselbe hinein. Allerdings können gleich allen Gattungen der Kunst auch Epos und Roman sich miteinander vermischen, aber das Produkt dieser Mischung, und ein solches ist der historische Roman, wird niemals jene Vollendung aufweisen wie eine Dichtung, die in den Grenzen ihrer Gattung das Höchste zu sein versucht. Karl Hillebrand hat vor Kurzem der Ansicht Ausdruck gegeben, daß der heutige Roman mit geringen Ausnahmen zum bloßen Tendenzroman geworden sei, der, wenn auch in den besseren Dichtungen verdeckt, auf irgend eine Moral oder Spekulation hinauslaufe, die den reinen ästhetischen Genuß desto mehr herabdrücke, je stärker sie hervortrete. Diese Beobachtung ist zweifellos richtig, sie hat auch mir den ersten Anstoß zu diesem Waffengange gegeben, aber Hillebrand gründet sie weder tief genug noch weiß er klare Folgerungen aus ihr zu ziehen. Zunächst hätte Hillebrand seinen Vorwurf nicht allein gegen unsre Zeit, er hätte ihn gegen die Mittelmäßigkeit aller Zeiten richten sollen, denn es war stets ein Bedürfniß der Mittelmäßigkeit, Dichtung und Moral zu verquicken, und hier und da wurden auch große Talente von dieser Seuche ergriffen. Die Pamela und der Grandison leisteten in ihrer Weise dasselbe, was die modernen Naturalisten auf ihre Weise versuchen. Aber der feinsinnige Historiker hat auch die Ursache mißkannt, welche das ästhetische Mißbehagen an derlei Romanen erweckt. Die großen Romandichter, auf welche ich mich bezogen, sind Realisten vom Scheitel bis zur Sohle, sie gestal121
ten die Wirklichkeit, die volle, reiche Wirklichkeit mit allen ihren Flecken, mit allen ihren Verzerrungen. Diese Flecken, diese Verzerrungen sind aber, rein äußerlich betrachtet, nur zu o f t so widerwärtig, die Wirklichkeit selbst ist nur zu oft so nüchtern, kleinlich und gemein, daß der ästhetische Sinn abgestoßen wird, statt angezogen, daß an seine Stelle sein Widerpart eintritt, die Enttäuschung, der Ekel. Und dennoch haben die Meister es verstanden, die krasse Realität genießbar, selbst das Widerliche ästhetisch erfreulich zu machen. Wodurch? Sie sahen die Wirklichkeit in dem mildernden Lichte des Humors. Der Humor ist nichts anderes als die auf die Spitze getriebene Objektivität; der Epiker, der nur die Gipfel des Menschlichen sieht, bedarf keiner besonderen Anstrengung, um ruhig, klar und objektiv zu bleiben, der Romandichter jedoch, soll ihn das unendliche Durcheinander nicht verwirren, will er dem Gemeinen gegenüber nicht zum Prediger werden, muß die Besonnenheit so scharf anstacheln, daß ihr alle Dinge nicht bloß als verständlich, sondern als lachenswerth erscheinen, die einen mehr, die anderen weniger. Der Humor ist ein farbiger Spiegel, in welchem das Edle bloß liebenswürdig, das Gewaltige bloß kraftvoll, das Grelle bloß dämmernd erscheint, ebenso aber auch das Finstere bloß dämmernd, das Gemeine bloß toll, das Grausige bloß schauerlich, das Unverständige bloß tölpisch. Damit grenzt die Objektivität an ihr Extrem, die Tendenz, aber sie grenzt auch nur daran und verwandelt sich höchstens in eine allumfassende Theilnahme, welche kein Einzelnes bevorzugt. Ich komme auf den Punkt zurück, von dem ich ausging. Die Forderungen, welche ich an den Roman stellte, waren: der Roman soll das Denken und Sein einer bestimmten Epoche wiedergeben und zwar soll, wie ich jetzt hinzufügen darf, diese Epoche die Gegenwart des Dichters sein, und weiterhin, der Roman soll das ästhetische Bedürfniß voll und ganz befriedigen. Abstrakt wie geschichtlich glaube ich diese Forderungen genügend begründet zu haben und ich habe sie begründet, obwol sie in dieser Allgemeinheit schwerlich Widerspruch finden werden. Aber ich bedurfte der Begründung auch nicht um der Forderungen, sondern um ihrer selbst willen, denn sie sollte und hat weit mehr ergeben, als ein bloßes 122
Zeugniß für jene Allgemeinheit, sie hat die Forderungen dahin erweitert, daß die Wiedergabe der Epoche durchaus objektiv und realistisch zu halten ist und das ästhetische Bedürfniß am wirksamsten befriedigt wird, wenn der Humor die Wiedergabe durchleuchtet. Der Roman aber, der heute die Herrschaft hat, mag er sich nun nach Zola oder nach Spielhagen nennen, erfüllt die Forderungen weder im engeren noch im weiteren Sinne, er ist tendenziös statt objektiv, moralisirend statt ästhetisch, er wirkt peinlich statt erhebend, statt humoristisch, er gibt einen Ausschnitt aus einer Epoche statt eines Gesammtbildes, eine Linie statt einer Fläche. [ . . . ]
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GUSTAV FREYTAG:
Erinnerungen aus meinem Leben (1886)
Mein Roman „Soll und Haben" [ . . . ] Der Aufbau der Handlung wird in jedem Roman, in welchem der Stoff künstlerisch durchgearbeitet ist, mit dem Bau des Dramas große Ähnlichkeit haben. Vor allem eine poetische Idee, welche schon in der Einleitung sichtbar wird und den ganzen Verlauf der Ereignisse bestimmt. Für „Soll und Haben" ist diese Idee in dem leitenden Capitel auf Seite 9 in Worte gefaßt, der Mensch soll sich hüten, daß Gedanken und Wünsche, welche durch die Phantasie in ihm aufgeregt werden, nicht allzu große Herrschaft über sein Leben erhalten. Anton und Itzig, der Freiherr und Ehrenthal, und in geringerem Maße auch die andern Gestalten haben mit solcher Befangenheit zu kämpfen, sie unterliegen oder werden Sieger. Auch die Theile der Handlung sind in der Hauptsache dieselben wie im Drama: Einleitung, Aufsteigen, Höhepunkt, Umkehr und Katastrophe. In „Soll und Haben" sind die gelungene Schurkerei Itzigs, der Ruin des Freiherrn und Ehrenthals, und die Trennung Antons aus dem Geschäft der Höhepunkt des Romans, und die Rückkehr Antons in das Geschäft mit Allem, was daraus erfolgt, die Katastrophe. Bei der Beschaffenheit des Stoffes, welcher eine breite Ausführung der zweiten Hälfte nothwendig machte, nahm der Verfasser sich die Freiheit, die Umkehr in zwei Bücher zu scheiden, dadurch 123
hat die Erzählung sechs Theile erhalten, nothwendig wäre nur die Fünfzahl. Es hat Jahrhunderte gedauert, bevor die Handlung der Romane zu künstlerischer Durchbildung gelangt ist, und es ist das hohe Verdienst Walter Scotts, daß er mit der Sicherheit eines Genies gelehrt hat, die Handlung in einem Höhenpunkt und in großer Schlußwirkung zusammen zu schließen. Auch meine Weise der Arbeit war bei dem Roman dieselbe wie bei den Theaterstücken, ich erdachte mir zuerst die ganze Handlung im Kopfe fertig, dabei suchte ich sogleich für alle wichtigeren Gestalten die Namen, welche nach meiner Empfindung zu ihrem Wesen stimmten - keine ganz leichte und keine unwichtige Arbeit - , endlich schrieb ich auf ein Blatt den kurzen Inhalt der sechs Bücher und ihrer sämmtlichen Abschnitte. Nach solcher Vorbereitung begann ich zu schreiben, nicht vom Anfang in der Reihenfolge, sondern wie mir einzelne Abschnitte zufällig lieb und deutlich wurden. Zumeist solche aus der ersten Hälfte. Alles was durch die Schrift befestigt war, half natürlich der schaffenden Seele die neue Erfindung für noch nicht Geschriebenes anregen. In dem was ich wollte, war ich ganz sicher, nicht ebenso schnell kam mir für einzelne Abschnitte die Wärme, die zur Ausarbeitung nöthig ist, und ich habe manchmal längere Zeit warten müssen, bevor eine Situation von der Phantasie fertig zugerichtet war, was diese freundliche Helferin, wie ich überzeugt bin, dem Dichter auch besorgt, während er gar nicht über dem Werke ist, wohl gar während er schläft. Zuweilen aber blieb sie störrig und manche kleine Ubergänge wollten nicht herauskommen, z.B. nicht im letzten Buche die Rückkehr Antons zu Sabine und das Wiedersehen. Dies ist auch dürftig geblieben. Die Niederschrift habe ich, wie bei allen späteren Prosaarbeiten, nicht selbst besorgt, sondern dictirt. Dies war mir wegen meines kurzen Gesichts und der gebückten Haltung am Schreibtisch nach meiner Krankheit gerathen worden und ich hatte mich bei den Tagesarbeiten für die Grenzboten daran gewöhnt. Ich erhielt dadurch den Vortheil, daß ich Wortlaut und Satzfügung, während ich schuf, zugleich hörte, und dies kam dem Klang und Ausdruck oft zu Gute. Ein Übelstand aber war, daß die arbeitende Seele durch die Gegenwart des 124
Schreibers zu einem ununterbrochenen und gleichförmigen Ausspinnen des Fadens veranlaßt wurde und in Gefahr kam, sich an Stellen, wo sie träge zauderte oder wo die innere Arbeit noch nicht fertig war, durch ungenügenden Ausdruck über die Schwierigkeit wegzuhelfen. Deshalb vermochte diese Art der Niederschrift meine eigene Anspannung nicht zu mindern, denn was der Schreiber auf das Papier gebracht, arbeitete und besserte ich noch einmal gründlich durch. Es lohnt kaum, die Frage zu stellen, wie der erfindende Schriftsteller die Stoffbilder seiner Dichtungen gesammelt hat. Wo wächst das Farnkraut, wo liegt der Stein und auf welcher Hausschwelle sitzt das Kind, deren Formen der Maler in das Skizzenbuch aufnimmt, um sie f ü r sein Bild zu verwenden? Ist die Erfindung des Schriftstellers in der That Poesie und nicht schlechte Nachschrift der Wirklichkeit, so wird auch, was er etwa nach Vorlagen des wirklichen Lebens in ein Werk aufgenommen hat, so umgebildet sein, daß es etwas ganz Anderes, in der That ein Neues geworden ist. Das ist selbstverständlich. Deshalb bereiten die Ausnahmefälle, wo der Dichter sich mit größerer Treue der Wirklichkeit anschließen muß, ζ. B. wo er eine wohlbekannte historische Person in seine Dichtung setzt, ihm und seinem Werk besondere Schwierigkeiten. Denn leicht empfindet der Leser vor solchen Abbildern eine Besonderheit in Farbe, Ton und Schilderung, welche erkältet und die Wirkung des gesammten Kunstwerks nicht mehrt, sondern mindert. [ . . . ] Der Roman [ . . . ] Der Roman, viel gescholten und viel begehrt, ist die gebotene Kunstform f ü r epische Behandlung menschlicher Schicksale in einer Zeit, in welcher tausendjährige Denkprozesse die Sprache f ü r die Prosadarstellung gebildet haben. Er ist als Kunstform erst möglich, wenn die Dichtung und das Nationalleben durch zahllose geschichtliche Erlebnisse und durch die Geistes- und Culturarbeit vieler Jahrhunderte mächtig entwickelt sind. Wenn wir aus solcher späten Zeit auf die Vergangenheit eines Volksthums zurücksehen, in welcher jede erhöhte Stimmung in gebundener Rede austönte, so erscheint I2
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uns, was damals unter anderen Culturverhältnissen der nothwendige Ausdruck des Erzählenden war, als besonders vornehm und ehrwürdig. In Wahrheit aber ist die Arbeit des modernen epischen Dichters, dessen Sprachmaterial die Prosa ist, genau in demselben Grade reicher und machtvoller geworden, wie die Fähigkeiten seiner Nation, das innere Leben des Menschen durch die Sprache zu schildern. Denn die Geschichte der Poesie ist im höchsten Sinne nichts Anderes als die historische Darstellung der Befähigung jeder Zeit, dem, was die Seele kräftig bewegt, Ausdruck durch die Sprache zu geben. [ . . . ] in unserer deutschen Vergangenheit finden wir, seit der Prosaroman auftritt, in jedem Zeitabschnitt der Vergangenheit, daß die eigene Arbeit des Dichters im Zusammenfügen der Handlung weniger frei und in Schilderung der Charaktere weniger sicher und reich ist, als wir von einem Roman der Gegenwart verlangen. Das gilt für Deutsche selbst noch von Goethe's Romanen. N u n enthalten auch der moderne Roman und seine kleine Schwester, die Novelle, immer wiederkehrende Situationen, welche allen gemeinsam sind. Denn wie in alter Zeit der Gegensatz und Kampf zweier Helden, so ist in unserem Roman das Verhältniß zweier Liebenden die leitende Idee. Aber die Mittel, dies Gemeinsame durch Farbe und Schilderung immer wieder neu, eigenthümlich und fesselnd zu machen, sind unermeßlich größer, als in der Zeit des alten Epos. Und die Sprache? Die hohe Schönheit des rhythmischen Klanges bei Homer und den Nibelungen, ja auch noch bei Dante und Ariost, entgeht doch der Erzählung des modernen Dichters. Auch hier gilt der Vergleich, daß die Formen des Kindes eigenartige Schönheit haben, welche der Leib des Erwachsenen nicht besitzt. Dagegen hat dieser andere, welche im Ganzen bedeutender und mannigfaltiger sind. Jene alten Dichter schufen in Versen, weil es zu ihrer Zeit noch keine Prosa gab, die zu reichem Ausdruck seelischer Stimmungen und zu gehobener Schilderung befähigt war. Was uns als besondere Schönheit der Alten erscheint, ist im letzten Grunde der größte Mangel. Auch unsere erzählenden Dichter vermögen einmal ihre Erfindung mit rhythmischem, hohem Klang zu umkleiden, 126
und eine Literatur, welche Hermann und Dorothea unter ihrer werthvollsten Habe besitzt, wird die Bedeutung des Verses nicht gering achten dürfen. Aber der moderne Dichter weiß auch, daß er gegen die vornehme Schönheit, welche der Vers für unsere Empfindung hat, vieles Andere, was nicht weniger schön, reizvoll, fesselnd ist, in Kauf geben muß: die behagliche Fülle der Schilderungen, den scharf charakterisirenden Ausdruck, das Meiste von seiner guten Laune und dem Humor, mit welchem er menschliches Dasein zu betrachten vermag, das geistreiche Scherzwort, die scharf bestimmte Ausprägung eines Gedankens, nicht zuletzt die Mannigfaltigkeit und Biegsamkeit des sprachlichen Ausdrucks, welcher sich in Prosa bei jedem Charakter, bei jeder Schilderung anders und eigenartig äußern kann. Die ungebundene Rede ist in unserem wirklichen Leben ein wundervoll starkes und reiches Instrument geworden, durch welches die Seele Alles auszutönen vermag, was sie erhebt und bewegt. Deshalb dürfen wir auch ihre Herrschaft in der erzählenden Dichtung nicht für eine Minderung, sondern für eine Verstärkung des poetischen Schaffens halten. Der Roman ist auch von allen Gattungen der Poesie die, welche sich als Kunstform am spätesten entwickelt, später noch als das Drama; die Würdigung soll uns nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß schwaches und schlechtes Schaffen sich darin in übergroßer Reichlichkeit kund gibt. Welcher Gattung der Poesie hat, wenn sie gerade nach dem Zuge der Zeit obenauf war, die Masse des Schlechten gefehlt? Wären alle die epischen Gedichte des alten Hellas, welche schon den späteren Griechen sagenhaft waren, bis in unsere Zeit erhalten, wir würden bei dem Durchstudiren die allergrößte Langeweile empfinden, die Armuth der Dichter im Ausdruck der inneren Gemüthsprozesse, die unablässige, ewige Wiederkehr derselben Beschreibungen und der Kämpfe ohne inneres Leben, wäre gar nicht auszuhalten. Der Umstand, daß der schnell bereite Bücherdruck und die hochgestiegene Leselust das unberufene Schreiben so sehr begünstigen, ist ein Übelstand, aber ein unvermeidlicher. Unsere gesammte Bildung wird durch geschichtliches Wissen geleitet. Alles was in irgend einer Vergangenheit des Menschengeschlechts für groß, gut, schön und begehrenswerth galt, " 7
dringt, so weit es erhalten ist, in unsere Seelen und trägt dazu bei, uns die Ansichten und den Geschmack zu richten. Solch unermeßlicher Reichthum an bildendem Stoff ist unsere Stärke, aber auch unsere Schwäche, er verleiht uns dem Neuen gegenüber oft eine Tiefe der Einsicht und eine Größe des Urtheils, wie sie in keiner der vergangenen Perioden möglich waren. Ebenso oft macht er uns einseitig und verhindert unbefangene Schätzung dessen, was aus den Bedürfnissen unseres eigenen Lebens heraufwächst, ja er mindert uns zuweilen auch die Fähigkeit, frisch nach dem Zuge unserer Zeit zu gestalten. Nirgend wird dies auffallender, als bei den Urtheilen über den Werth einer künstlerischen Erfindung. Zur Zeit Shakespeares galt das dramatische Schaffen durchaus nicht für vornehme, kaum für eine ernsthafte Dichterarbeit, ebenso wie in der Gegenwart das Romanschreiben. Und doch ist wohl möglich, daß man in irgend einer Zukunft für den größten und eigenthümlichsten Fortschritt in der Poesie des neunzehnten Jahrhunderts gerade den Prosaroman betrachten wird, wie er sich seit Walter Scott bei den Culturvölkern Europas entwickelt hat. Deshalb wollen auch wir deutschen Romanschriftsteller uns nicht darum kümmern, wie man jedem von uns in der Folge das Maß seiner dichterischen Begabung abschätzen wird, sondern wir wollen das Selbstgefühl bewahren, daß wir gerade in der Richtung thätig sind, in welcher sich die moderne Gestaltungskraft am vollsten und reichsten ausprägt.
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ARNO HOLZ : Z o l a als T h e o r e t i k e r ( 1 8 8 7 )
[ . . . ] Alle die hundert und aber hundert Kritiken, die uns Zola heute in sieben dickleibigen Bänden gesammelt vorgelegt hat, sind nichts weiter als immer nur wieder und wieder machtvoll wiederholte Variationen über ein und das selbe Doppelthema: „Jedes Kunstwerk resultiert aus seinem Milieu" und: „In der exakten Reproduktion der Natur besteht das Wesen der Kunst nicht". Irgendein Zweifel, ob diese beiden, ihrem innersten Bau nach so grundverschiedenen Melodieen nicht am Ende doch in eine unauflösliche Dissonanz ausklingen möchten, ist ihm, dem Schüler, ebensowenig aufgestiegen, 128
wie vordem seinem Meister. Er hat nur einfach weitergegeben, was ihm von diesem überliefert worden war. Nichts weiter. Mit einem Wort: der Praktiker Zola bedeutete einen Fortschritt, der Theoretiker Zola einen Stillstand. Aber, wendet man mir hier vielleicht ein, stammen denn nicht wenigstens gewisse Schlagworte von Zola? Schlagworte, ohne die wir in unserer modernen literarischen Diskussion einfach gar nicht mehr auskommen können? Und widerlegt nicht schon diese eine Tatsache allein meine Behauptung? Meine Behauptung nämlich, daß die „Oeuvres critiques" dem durch die „Philosophie de l'art" so erheblich emporgeschraubten Niveau unserer Kunstwissenschaft auch nicht die Höhe eines Sandkörnchens hinzugefügt hätten? Nein! Denn diese berühmten Schlagworte gliedern sich, wie alle derartigen Zeitprodukte, naturgemäß in zwei scharf voneinander abgesonderte Rubriken: die eine enthält alle diejenigen, denen eine Wahrheit zugrunde liegt; die andere alle diejenigen, die ihr - wahrscheinlich nur sehr kurz bemessenes Dasein einem Irrtume verdanken. Und es ist das eigentümliche Mißgeschick Zolas, daß immer nur die Nummern der zweiten Rubrik sein geistiges Eigentum sind. Die recherche de la paternit£, die in der Wissenschaft ja gottseidank noch nicht untersagt werden kann, führt uns darauf, daß die Nummern der ersten durchweg „anderweitigen Ursprungs" sind. Ich wähle zwei Beispiele: „documents humains" und „roman experimental"; also vielleicht gerade diejenigen beiden Wortverbindungen, die heute im Anschluß an Zola am häufigsten gebraucht werden. Von diesen sind mir die „documents humains" ebenso charakteristisch für die erste Rubrik, wie der „roman experimental" mir charakteristisch für die zweite zu sein scheint. Die documents humains würden in der Tat heute in unsere Diskussion geplatzt sein, auch wenn Zola sie nie zu Papier gebracht hätte. Man gestatte mir hier die folgende kleine Stelle von Georg Brandes zu zitieren, aus seinem bekannten, prächtigen Essay über den Dichter: „Nichts von dem, was Taine geschrieben, hatte solchen Eindruck auf ihn gemacht, wie der Aufsatz über Balzac, in dem 129
er seinen zweiten großen Führer fand. Dieser Aufsatz, der damals für eine der verwegensten literarischen Handlungen galt, stellte mit einem herausfordernden und übertreibenden Vergleich einen noch umstrittenen Romanverfasser an die Seite Shakespeares; er machte Epoche und führte in die Literatur einen neuen Ausdruck und einen neuen Maßstab für den Wert dichterischer und historischer Werke ein: Zeugnisse darüber, wie der Mensch ist. Taine Schloß nämlich folgendermaßen: „Mit Shakespeare und Saint-Simon ist Balzac das größte Magazin von Zeugnissen, das wir über die Beschaffenheit der menschlichen Natur besitzen (documents sur la nature humaine)." Zola machte hieraus sein ungenaues Stichwort: „documents humains". Dieser letzte Passus beruht auf einem kleinen Versehen von Brandes. Nicht Zola war es, der aus der Taineschen Phrase das „ungenaue Stichwort" machte, sondern das Brüderpaar der Goncourts. In ihren gesammelten „P^faces et manifestes littiraires" (Paris 1888, pag. 60) heißt es in einer Fußnote zu dieser Wendung ausdrücklich: „Cette expression, tres blagule dans le moment, j'en reclame la paterniti, la regardant, cette expression, comme la formule d^finissant le mieux et le plus significativement le mode nouveau de travail de l'^cole qui a succ£d£ au romantisme: Picole du document humain." Mithin liegen die Tatsachen so, daß Taine die Idee dieses Schlagwortes gehört, den Goncourts seine Form und Zola nur seine Verbreitung. Man versuche einmal eine ähnliche Probe mit den übrigen Formeln dieser Rubrik, und die Resultate werden sicher keine allzu auseinandergehenden sein! Bleibt also nur noch die zweite übrig, deren Urheberschaft ich Zola allerdings nicht bestreiten kann, von der ich aber behauptet habe, daß sie, weit entfernt die Diskussion zu fördern, diese vielmehr nur wieder mit neuen Irrtümern und neuen Mißverständnissen belastet hätte. Als das typische Beispiel dieser Rubrik war mir das Schlagwort „roman experimental" erschienen. Daß es schon vor Zola in Gebrauch gewesen, dürfte wohl schwerlich jemals nachweisbar sein. Es scheint ihm in der Tat zuzugehören, als das natürliche Produkt seiner Individualität, wie sein „L'Assommoir" oder sein „Germinal". 130
Enthielte es also eine Neuerkenntnis, das heißt, wäre es wirklich der adäquate Ausdruck eines bis dahin völlig übersehn gebliebenen Tatsachenbestandes, so würde meine Behauptung damit freilich eine irrige gewesen sein, und Zola hätte unsere Wissenschaft allerdings um jenes Sandkörnchen bereichert. Sehn wir zu! Zunächst: was ist ein Experiment? Ein Chemiker hält in seiner Hand zwei Stoffe; den Stoff χ und den Stoff y. Er kennt ihre beiderseitigen Eigenschaften, weiß aber noch nicht, welches Resultat ihre Vereinigung ergeben würde. Seiner Berechnung nach freilich χ plus y, vielleicht aber auch u, vielleicht sogar z. Selbst weitere Möglichkeiten sind keineswegs ausgeschlossen. Um sich also zu überführen, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als jene Vereinigung eben vor sich gehn zu lassen, das heißt ein Experiment zu machen - „une observation provoqu^e dans un but quelconque", eine Definition, die uns Zola in Anlehnung an Claude Bernhard, seinen dritten großen Meister, selbst gegeben hat, und gegen die ich durchaus nichts einzuwenden habe. Sie genügt vollkommen. Inwiefern identifiziert sich nun mit diesem Chemiker der Romanschriftsteller? Auch er hält, wie wir annehmen wollen, zwei Stoffe in seiner Hand, auch er kennt, wie wir annehmen wollen, ihre beiderseitigen Eigenschaften, aber auch er weiß, wie wir annehmen wollen, noch nicht genau, welches Resultat ihre Vereinigung ergeben würde. Wie nun zu diesem gelangen? Nichts einfacher als das, erwidert darauf Zola, der Theoretiker: er läßt eben genau wie sein gelehrter Musterkollege jene Vereinigung vor sich gehn, und die Beobachtung der selben gibt ihm dann das gewünschte Resultat ganz von selbst! „Ce n'est la qu'une question de degr^s dans la meme voie, de la chimie a la physiologie, puis de la physiologie a Panthropologie et a la sociologie. Le roman experimental est au bout". Freilich, freilich! Aber vielleicht ist es gestattet, vorher noch eine kleine Einwendung zu machen? Jene Vereinigung der beiden Stoffe des Chemikers, wo geht sie vor sich? In seiner Handfläche, in seinem Porzellannäpfchen, in seiner Retorte. Also jedenfalls in der Realität. Und die Vereinigung der beiden Stoffe des Dichters? Doch wohl nur in seinem Hirn, in seiner Phantasie, also jedenfalls 131
nicht in der Realität. Und ist es nicht gerade das Wesen des Experiments, daß es nur in dieser und ausschließlich in dieser vor sich geht? Ein Experiment, das sich bloß im Hirne des Experimentators abspielt, ist eben einfach gar kein Experiment, und wenn es auch zehn Mal fixiert wird! Es kann im günstigsten Falle das Rückerinnerungsbild eines in der Realität bereits gemachten sein, nichts weiter. „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment", wie man ja allerdings den RougonMacquart-Zyklus bereits „geistvoll" betauft hat, ist ein einfaches Unding; ein Kaninchen, das zugleich ein Meerschweinchen ist, und ein Meerschweinchen, das zugleich ein Kaninchen ist. Ein solches Kaninchen und ein solches Meerschweinchen hat es nie gegeben und wird es nie geben, gottseidank! Abgesehen natürlich in den Vorstellungen der Theoretiker. Bei denen ist eben alles möglich, auch Mondkälber und Experimentalromane...[...]
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FRIEDRICH ENGELS:
Brief an Margaret Harkness. - Über
Balzac (1888) Anfang April
1888
[ . . . ] Ich bin weit davon entfernt, darin einen Fehler zu sehen, daß Sie nicht einen waschechten sozialistischen Roman geschrieben haben, einen Tendenzroman, wie wir Deutschen es nennen, um die sozialen und politischen Anschauungen des Autors zu verherrlichen. Das habe ich keineswegs gemeint. Je mehr die Ansichten des Autors verborgen bleiben, desto besser für das Kunstwerk. Der Realismus, von dem ich spreche, kann sogar trotz den Ansichten des Autors in Erscheinung treten. Gestatten Sie mir ein Beispiel. Balzac, den ich für einen weit größeren Meister des Realismus halte als alle Zolas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gibt uns in „La con^die humaine" eine vortreffliche realistische Geschichte der französischen „Gesellschaft", indem er in der Art einer Chronik fast Jahr für Jahr von 1816 bis 1848 die immer zunehmenden Vorstöße der aufsteigenden Bourgeoisie gegen die Adelsgesellschaft schildert, die sich nach 181 j rekonstituierte 132
und, soweit sie es vermochte, das Banner der vieille politesse franjaise wieder aufrichtete. Er schildert, wie die letzten Überreste dieser für ihn vorbildlichen Gesellschaft allmählich dem Ansturm des vulgären, reichen Emporkömmlings unterlagen oder von ihm korrumpiert wurden; wie die grande dame, deren eheliche Untreue nur ein Mittel der Selbstbehauptung war, das der Art, wie über sie in der Ehe verfügt wurde, vollkommen entsprach, der Bürgersfrau Platz machte, die ihren Ehemann um des Geldes oder der Garderobe willen genommen hat; und um dieses zentrale Bild gruppiert er eine vollständige Geschichte der französischen Gesellschaft, aus der ich, sogar in den ökonomischen Einzelheiten (zum Beispiel die Neuverteilung des realen und persönlichen Eigentums nach der Revolution), mehr gelernt habe als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen. Gewiß, Balzac w a r politisch Legitimist; sein großes Werk ist ein ständiges Klagelied über den unvermeidlichen Verfall der guten Gesellschaft; alle seine Sympathien sind bei der Klasse, die zum Untergang verurteilt ist. Aber trotz all dem ist seine Satire niemals schärfer, seine Ironie niemals bitterer, als wenn er gerade die Männer und Frauen in Bewegung setzt, mit denen er zutiefst sympathisiert, — die Adligen. Und die einzigen Leute, von denen er immer mit unverhohlener Bewunderung spricht, sind seine schärfsten politischen Gegner, die republikanischen Helden vom Cloitre Saint M£ry, die Leute, die z u dieser Zeit (1830-1836) wirklich die Vertreter der Volksmassen waren. D a ß Balzac so gezwungen wurde, gegen seine eigenen Klassensympathien und politischen Vorurteile z u handeln, daß er die Notwendigkeit des Untergangs seiner geliebten Adligen sah und sie als Menschen schildert, die kein besseres Schicksal verdienen; und daß er die wirklichen Menschen der Zukunft dort sah, wo sie in der damaligen Zeit allein zu finden waren, - das betrachte ich als einen der größten Triumphe des Realismus und als einen der großartigsten Züge des alten Balzac. [ . . . ]
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NACHWORT
Weder der Erfolg von Goethes „Wilhelm Meister" noch die Hochschätzung durch die Frühromantiker brachten dem Roman die allgemeine Anerkennung im Bereich der Dichtungsformen. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein galt der Romanschreiber, wie schon bei Schiller, als „Halbbruder" des Dichters. Noch 1886 konstatierte Gustav Freytag resigniert, „Romanschreiben" werde nicht als „ernsthafte Dichterarbeit" angesehen. Die Gründe für diese Beurteilung waren meistens die gleichen: der Roman bediente sich der Prosa und schilderte die Wirklichkeit, war also in zweifachem Sinn „prosaisch" und stand damit der „wahren Poesie" entgegen. In den Ästhetiken fand die „Zwittergattung" keinen rechten Platz, meistens folgte ihre Behandlung als Anhang zu einem weit ausführlicheren Kapitel über das Epos. Von Hegel über Prutz und Vischer bis zu Spielhagen bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Epos und Roman wichtig. Bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts setzt allerdings eine andere Entwicklung ein. Schriftsteller wie Immermann, Gutzkow, Mündt und Wienbarg proklamieren den Roman zum bedeutendsten dichterischen Ausdrucksmittel. In der Tat verdrängt der Roman seit dieser Zeit nicht nur das Versepos, sondern beginnt auch, das Drama als wichtigste Dichtungsform abzulösen. Doch selbst als die Werke von Stifter, Keller, Raabe und Fontane zeigten, welchen künstlerischen Rang der Roman erreichen konnte, glaubten die Theoretiker noch, ihre Anerkennung des Romans eigens rechtfertigen zu müssen. So versuchte man den Roman dadurch aufzuwerten, daß man ihn als legitimen Nachfolger des alten Epos pries oder daß man die Bauformen des Dramas auf ihn übertrug, um seine Nähe zum Drama zu zeigen (Ludwig, Frey tag). Erst unter dem Einfluß der Entwicklung in Frankreich und England setzte sich der Roman in der zweiten Jahrhunderthälfte endgültig durch und nahm die Stellung ein, die er auch im 20. Jahrhundert noch behauptet. Die wichtigste Frage für den Roman des 19. Jahrhunderts ist sein Verhältnis zur Wirklichkeit. Hegels These, der Roman als „bürgerliche Epopöe" setze eine „bereits zur Prosa geord-
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nete Wirklichkeit" voraus, war für die Literaturwissenschaft bis heute von größter Bedeutung. Der prosaische Charakter des Romans, der auch Hegel noch als Negativum gilt, wird in den dreißiger Jahren zum entscheidenden Merkmal seiner Zeitgerechtheit. Gerade weil der Roman am geeignetsten ist, die „Wirklichkeit", das „Leben", die „Zeit" zu erfassen, wird er nun zur wichtigsten Dichtungsform. Das Thema „Roman und Wirklichkeit" beschäftigt seither Romanciers und Theoretiker in zunehmendem Maße. Vom Realismusverständnis der Jungdeutschen bis zu dem Ludwigs und Fontanes und dem „konsequenten Realismus" der Naturalisten schillert der Begriff allerdings vielfach in seiner Bedeutung. Nach der Jahrhundertmitte weicht die spekulative Haltung dem Roman gegenüber mehr und mehr einer pragmatischen Einstellung. Bereits bei Vischer, dem letzten bedeutenden Repräsentanten der philosophischen Ästhetik, nehmen die kritischen Romaninterpretationen einen wichtigen Platz ein. Gutzkows Thesen über den „Roman des Nebeneinander" sind die theoretische Fundierung und Rechtfertigung der eigenen Romantechnik; das gleiche gilt für Freytags Ausführungen zum Bau des Romans. Neben die weiterhin diskutierten inhaltlichen Fragen (Verhältnis zur Gesellschaft, historischer Roman - Zeitroman) treten nun in stärkerem Maße Überlegungen zur Technik des Romans (Erzählhaltung, Rolle des Helden, Funktion der Dialoge, Komposition des Romans). Dabei zeigt sich die Tendenz, „Regeln" aufzustellen, deren Einhaltung den Roman von dem „Fluche" erlösen soll, „eine Halbkunst zu sein, in der jeder Stümper nach Belieben herumpfuschen kann" (Spielhagen). Praktische Anweisungen stehen vor allem in den akademischen Poetiken und Lehrbüchern über den Roman im Vordergrund (Gottschall, Kreyßig, Mähly, Keiter, Scherer). Da die meisten dieser Werke jedoch nur das Bekannte sammeln und ordnen und nichts wirklich Neues zu einer Romanpoetik beitragen, wurde die Auswahl hier sehr knapp gehalten. Wichtiger sind die unsystematischen, in Rezensionen und Essays verstreuten Äußerungen von Literaturkritikern und Schriftstellern wie Marggraff, Rüge, Prutz, Dilthey und Hillebrand.
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Die meisten bedeutenden deutschen Romanciers - etwa Gotthelf, Stifter, Raabe oder Keller - haben sich nur selten in allgemeiner Weise zu Fragen des Romans geäußert. Ihr Beitrag zur Geschichte der Romanpoetik liegt fast ausschließlich in ihren Werken; die Theorie des Romans ist im Roman selbst enthalten. Sie ist allenfalls - so bei Keller und Fontane - gelegentlich in Besprechungen oder brieflichen Bemerkungen zu eigenen oder fremden Romanen direkter zu fassen. Mit der Aufnahme solcher kritischen Äußerungen wurde versucht, die Bedeutung dieser Romanciers für die Entwicklung der Romanpoetik wenigstens anzudeuten. Die Kritiken und Interpretationen sind dabei nach Möglichkeit so gewählt, daß sie bezeichnend für die Vorstellungen der Rezensenten wie für die besprochenen Werke sind. In verschiedenen Fällen wurde die Analyse eines Romans durch seinen Autor einer oder mehreren Kritiken des Romans gegenübergestellt (Keller und Vischer über den „Grünen Heinrich", Stifter, Fontane und Freytag über „Soll und Haben"), so daß sich die verschiedenen Ansichten gegenseitig erhellen oder in Frage stellen. Es gibt nur wenige deutsche Romankritiken des 19. Jahrhunderts, die zu den Meisterwerken der Literaturkritik zu zählen sind. Das liegt zum einen wohl daran, daß die Maßstäbe zur Beurteilung des Romans weit umstrittener blieben als etwa beim Drama; zum anderen wurden nur wenige Romane - wie früher Goethes „Wilhelm Meister" - zu einer Herausforderung für die Kritiker und einem ständigen Beispiel für die Theoretiker. Das trifft weit eher auf verschiedene ausländische Romane zu. Die Werke von Scott, Dickens, Balzac, Flaubert, Zola werden häufiger zitiert und analysiert als Romane Kellers oder Raabes. Da eine Auswahl wie die vorliegende ohnehin kein vollständiges Bild entwerfen kann, schien die Konzentration auf wenige Romanciers sinnvoll; sie gab die Möglichkeit, ihr Bild durch mehrere kritische Stimmen zu ihrem Werk differenzierter zu zeichnen. Mit der ausführlichen Berücksichtigung der ausländischen Vorbilder sollten die Nachteile der notwendigen Beschränkung der Sammlung auf deutsche Beiträge zur Poetik des Romans abgeschwächt werden. Ihre Einwirkungen werden so wenigstens indirekt, im Spiegel der deutschen Auseinandersetzung mit 136
ihnen, sichtbar. Dadurch kommen auch Themen zur Sprache, zu deren Erörterung der deutsche Roman nur selten Anlaß gab: vor allem das Verhältnis des Romans zur gesellschaftlichen und sozialen Wirklichkeit. Der immer wieder erhobene Vorwurf, dieser Frage ausgewichen zu sein, trifft die deutschen Romantheoretiker und -kritiker weit weniger als die Romanciers. Bisher gibt es weder eine Geschichte der deutschen Romanpoetik des 19. Jahrhunderts noch eine Sammlung der sehr verstreuten Texte dazu. Auch das vorliegende Bändchen kann bei dem knappen zur Verfügung stehenden Raum nur einige Stationen andeuten und Hinweise geben, die zur weiteren Beschäftigung mit den Texten führen wollen. Die deutschen Beiträge zur Romanpoetik des 19. Jahrhunderts werden in der internationalen Diskussion als quantit6 nigligeable behandelt. Vielleicht gelingt es diesem Textbuch, eine etwas differenziertere Beurteilung anzuregen. Die zeitliche Abgrenzung des Bändchens ist rein pragmatischer Natur und markiert keine grundlegenden Wendepunkte in der Geschichte der Romanpoetik. Der Band führt die Entwicklungslinie weiter, die in den beiden ersten Bänden dieser Reihe zur Romanpoetik von Dieter Kimpel und Conrad Wiedemann begonnen wurde; sie soll in einem 4. Band bis zur Gegenwart fortgesetzt werden. Die Anordnung der Texte ist chronologisch, mehrere Texte eines Autors wurden jedoch hintereinander abgedruckt. Der Quellennachweis unterrichtet über die Druckvorlagen und den Erstdruck der Texte. Die Entstehungszeit ist zusätzlich vermerkt, wenn sie einige Zeit vor dem Erstdruck liegt. Schreibung und Interpunktion richten sich nach den angegebenen Vorlagen; lediglich wichtige Hervorhebungen des Originals wurden einheitlich durch Kursivschrift wiedergegeben. Kürzungen innerhalb der Texte sind durch [ . . . ] gekennzeichnet. Bonn, im Dezember 1969 Hartmut Steinecke
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QU E L L E N V E R Z E I C H N I S ι Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik [entst. 1 8 1 8 - 1 8 2 8 , E D 1 8 3 5 - 1 8 4 2 ] . Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin: Aufbau 1955. Über den Roman - S. 557—558, 983. 2 Friedrich Schleiermacher: Ästhetik [entst. 1 8 1 9 - 1 8 3 2 , E D 1842 und 1 9 3 1 ] . Hrsg. von Rudolf Odebrecht. Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter & Co 1 9 3 1 . Der Roman - S. 277-279. 3 Johann Wolfgang von Goethe: Gabriele von Johanna Schopenhauer [ E D 1823]. Abdruck nach: Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. Bd. X I V . Zürich: Artemis 1950. S. 3 1 9 - 3 2 1 . 4 Karl Immermann: Vorrede zu „Ivanhoe. Eine Geschichte vom Verfasser des Waverley (Walter Scott). Nach der neuesten Originalausgabe übersetzt und mit einem einleitenden Vorworte versehen." Hamm: Wundermann 1826 [= E D ] . S. V - I X , X I V . 5 Carl Julius Weber: Democritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. - Sämmtliche Werke. Bd. 20. Stuttgart: Hallberger 1838 [= E D , entst. vor 1832]. Die Romane - S. 366-367, 3 7 0 - 3 7 1 . 371· _ 6 Charles Sealsfield: Zuschrift des Herausgebers an die Verleger der ersten Auflage [von „Morton oder die große Tour"]. [Offener Brief Sealsfields vom 1. Januar 1835.] Abdruck nach: Sealsfield, Gesammelte Werke. 7 . T e i l : Morton oder die große Tour. 3. A u f lage. Stuttgart: Metzler 1846. Walter Scott und meine Romane S. 5-7, n - 1 3 , 1 8 - 1 9 . 7 Ludolf Wienbarg: Wanderungen durch den Thierkreis. Hamburg: Hoffmann und Campe 1835 [= E D ] . Der Held im Roman - S. 240243; Der Zeitroman - S. 255-257. 8 Heinrich Heine: Einleitung zum „Don Quixote" [ E D 1837]. Abdruck nach: Heine, Werke in 10 Bdn. Unter Mitwirkung von Jonas Frankel, Ludwig Krähe, Albert Leitzmann und Julius Petersen hrsg. von Oskar Walzel. Bd. V I I I . Leipzig: Insel 1 9 1 3 . S. 1 4 1 - 1 4 3 , I 43~I44>146-147· 9 Theodor Mündt: Die Kunst der deutschen Prosa. Aesthetisch, literargeschichtlich, gesellschaftlich. Berlin: Veit & Comp. 1837 [= E D ] . Der Roman - S. 3 5 6-3 61. 10 Arnold Rüge: Zur Charakteristik von Sealsfield. Das Cajütenbuch oder nationale Charakteristiken vom Verfasser des Legitimen, des Virey - von Sealsfield [ E D 1 8 4 1 ] . Abdruck nach: Rüge, Sämmtliche Werke. 2. Auflage. Bd. 3. Mannheim: Grohe 1847. S. 306, 308-309. 138
1 1 Oskar Ludwig Bernhard W o l f f : Allgemeine Geschichte des Romans, von dessen Ursprung bis zur neuesten Zeit. 2. vermehrte Ausgabe. Jena: Friedrich Mauke 1850 [ED 1 8 4 1 ] . Zum Wesen des Romans S. 6-7, 7 - 9 ; Die Romane Balzacs - S. 626-628, 630-631. 1 2 Hermann Marggraff: Die Entwicklung des deutschen Romans, besonders in der Gegenwart. In: Deutsche Monatsschrift für Litteratur und öffentliches Leben. Hrsg. von Karl Biedermann. Jg. 1844, Bd. 2 [= E D ] . S. 58, 58-60. 13 Gottfried Keller: Über den „Grünen Heinrich" - (a) Brief an Eduard Vieweg, 3. Mai 18 jo - Abdruck nach: Keller, Gesammelte Briefe in 4 Bdn. Hrsg. von Carl Helbling. Bd. 111,2. Bern: Benteli 1953. S. 1 5 - 1 6 . (b) Vorwort zum »Grünen Heinrich" (1. Fassung) [ED 1854] - Abdruck nach: Keller, Sämtliche Werke. Hrsg. von Jonas Frankel und [ab 1942] Carl Helbling. Bd. 16. ErlenbachZürich und München: Eugen Rentsch 1926. S. 1 - 3 . (c) Brief an Emil Kuh, 10. September ι8γι - Abdruck wie (a), Bd. III, 1. Bern: Benteli 1952. S. 1 6 1 . (d) Autobiographisches [ E D 1876] - A b druck wie (b), Bd. 2 1 . Bern: Benteli 1947. S. 20-22. (e) Brief an Theodor Storm, 11. April 1882 — Abdruck wie (a), Bd. Ι Ι Ι , ι . Bern: Benteli 1952. S.455-456. 14 Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf [ E D 1855]. Abdruck wie 13 (b), Bd. 22. Bern: Benteli 1948. S. 108-109, 1 1 2 - 1 1 4 . 15 Arthur Schopenhauer: Zur Metaphysik des Schönen und Aesthetik [entst. vor 1 8 5 1 , E D 1 8 5 1 ] . Abdruck nach: Schopenhauer, Sämtliche Werke. Hrsg. von Arthur Hübscher. Bd. 6: Parerga und Paralipomena. 2. Bd. 2. Auflage. Wiesbaden: Eberhard Brockhaus 1947. Die Aufgabe des Romanschreibers — S. 468-469. 16 Karl Gutzkow: Vorwort zu „Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern" [ED 1850]. Hrsg. von Reinhold Gensei. Bd. 1. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart: Bong & Co [ 1 9 1 2 ] . Der Roman des Nebeneinander - S. 4 1 - 4 3 . 17 Karl Gutzkow: Vom deutschen Parnaß [ED 1854]. Abdruck nach: Gutzkow, Werke. Auswahl in 12 Teilen. Hrsg. von Reinhold Gensei. Teil 12. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart: Bong & Co [ 1 9 1 2 ] . Noch einmal über den Roman des Nebeneinander - S. 1 1 1 - 1 1 2 . 18 Karl Gutzkow: Der Roman und die Arbeit [ED 1855]. Abdruck wie 17, Teil 10, S. 1 3 8 - 1 4 1 . 19 Karl Rosenkranz: Gutzkow's Ritter vom Geist. Roman in neun Büchern [ED 1852]. Abdruck nach: Rosenkranz, Neue Studien. Bd. 2. Leipzig: Koschny 1875. S. 245-246. 20 Adalbert Stifter: Briefe an Gustav Heckenast. - Über den Roman „Der Nachsommer" - (a) 9. Juni 18JJ - Abdruck nach: Stifter, Sämtliche Werke. Hrsg. von August Sauer und Gustav Wilhelm. 139
Bd. ι8. 2. Auflage. Reichenberg: Fr. Kraus 1 9 4 1 . S. 1 6 9 - 1 7 0 ; (b) 29. Februar 18 j6 - Abdruck wie (a), S. 3 1 2 - 3 1 3 ; (c) 22. März 18jy - Abdruck wie (a), Bd. 19. Prag: J . G. Calve 1923. S. 14. 2 1 Adalbert Stifter: Brief an Gustav Heckenast.- Über Freytags „Soll und Haben". Abdruck wie 20 (a). 7. Februar 18j6 - S. 302-304. 22 Robert Prutz: Epos und Drama in der deutschen Literatur der Gegenwart. In: Prutz, Neue Schriften. Zur deutschen Literaturund Kulturgeschichte. Bd. 2. Halle: Schwetschke 1854 [ = E D ] . S. 184-186, 1 8 9 - 1 9 1 . 23 Theodor Fontane: Gustav Freytag - Soll und Haben. Ein Roman in drei Bänden [ E D 1 8 j y ] . Abdruck nach: Fontane, Sämtliche Werke Band X X I , 1. Literarische Essays und Studien. Gesammelt und hrsg. von Kurt Schreinert. 1 . Teil. München: Nymphenburger 1963. S. 2 1 5 - 2 1 9 . 24 Theodor Fontane: Gustav Freytag - Die Ahnen [ E D 1875]. A b druck wie 23, Was soll ein Roman? - S. 239-240, 242-244. 25 Theodor Fontane: Über Zolas Romane. Abdruck nach: Fontane, Schriften und Glossen zur europäischen Literatur. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Werner Weber. Bd. 1. Zürich und Stuttgart: Artemis 1965. Briefe an seine Frau, (a) 12. Juni 1883 S. 199; (b) 14. Juni 1883 - S. 199-200; (c) 2}. Juni 1883 - S. 2002 0 1 ; (d) Aus Entwürfen zu einem Aufsatz über Zolas „La Fortune des Rougort" [entst. 1883, E D 1964] - S. 205-207. 26 Joseph von Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands [ED 1857]. Abdruck nach: Eichendorff, Werke und Schriften. Hrsg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse. Bd. 4. Stuttgart: Cotta 1958. Der philosophische und. der historische Roman - S. 409-412. 27 Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. 3.Teil. Stuttgart: Carl Mäcken 1857 [ = E D ] . S. 1303, 1304-130$,1307-1311, 1313-1314, 1314-1315. 28 Friedrich Theodor Vischer: Gottfried Keller. Eine Studie [ E D 1874]. Abdruck nach: Vischer, Kritische Gänge. 2. vermehrte A u f lage. Hrsg. von Robert Vischer. Bd. V I . München: Meyer & Jessen 1922. S. 241-242, 243-244. 29 Friedrich Hebbel: Der Nachsommer. Eine Erzählung von Adalbert Stifter. 3 Bände. Pesth, Heckenast [ED 1858]. Abdruck nach: Hebbel, Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. Bd. 3. München: Hanser 1965. S. 682-683. 30 Rudolph Gottschall : Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit. Breslau: Eduard Trewendt 1858 [ = E D ] . Die Komposition des Romans - S. 383-385. 31 Otto Ludwig: Epische Studien [entst. vor 1865, E D 1 8 9 1 ] . A b -
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druck nach: Ludwig, Werke in 6 Bdn. Hrsg. von Adolf Bartels. Bd. 6. Leipzig: Max Hesse [1908]. Wesen und Technik des Romans bei den Engländern - S. 337-339; Dickens und die deutsche Dorfgeschichte - S. 3 5 0 - 3 5 1 ; Zwei Städte von Dickens - S. 395; Große Erwartungen von Dickens - S. 402-404, 4 1 0 - 4 1 1 . 32 Friedrich Nietzsche: Aus dem Gedankenkreise der Geburt der Tragödie [entst. 1 8 7 0 - 1 8 7 1 ] . Abdruck nach: Nietzsche, Gesammelte Werke. Musarion-Ausgabe. Bd. III. München: Musarion 1920. S. 384. 33 Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß [entst. in den 80er Jahren]. Abdruck wie 32, Bd. X V I I . München: Musarion 1926. S. 367. 34 Friedrich Spielhagen: Der Held im Roman [entst. 1874]. Abdruck nach: Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig: Staackmann 1883. S. 70-74. 35 Friedrich Spielhagen: Der Ich-Roman [ E D 1 8 8 1 / 1 8 8 2 ] . Abdruck wie 34, S. 2 0 6 - 2 1 1 . 36 Friedrich Spielhagen: Die epische Poesie und Goethe [ED 1895]. Abdruck nach: Spielhagen, Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik. Leipzig: Staackmann 1898. S. 53-57. 37 Wilhelm Dilthey: Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters [ED 1877]. Abdruck nach: Dilthey, Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1954. S . 2 5 5 - 2 5 6 , 3 1 0 - 3 1 1 , 314, 3 1 5 - 3 1 6 . 38 Paul Heyse/Theodor Fontane: Briefwechsel. - Über Einheitsroman und Vielheitsroman. Der Briefwechsel von Theodor Fontane und Paul Heyse 1850-1897. Hrsg. von Erich Petzet. Berlin: WeltgeistBücher 1929. (a) Brief Heyses an Wilhelm Hertz, 27. November 1878 - S. 1 3 2 - 1 3 3 ; (b) Brief Fontanes an Heyse, 9. Dezember 1878 - S. 1 3 5 ; (c) Brief Heyses an Fontane, 2. Januar 1879 S. 1 3 8 - 1 3 9 . 39 Michael Georg Conrad: Zola und Daudet. In: Die Gesellschaft. Jg. 1 , 1885 [ = E D , entst. 1880]. S. 746-747, 748. 40 Karl Hillebrand: Vom alten und vom neuen Roman. In: Deutsche Rundschau. Bd. 38, 1884 [ = E D ] . S. 423-424, 425-426. 41 Julius und Heinrich Hart: Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart. Kritische Waffengänge, 6. Heft. Leipzig 1884 [= E D ] . S. 1 3 - 1 6 . 42 Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben [ E D 1886]. Abdruck nach: Freytag, Gesammelte Werke. 2. Auflage. Bd. I. Leipzig: S. Hirzel 1896. Mein Roman »Soll und Haben" - S. 1 7 9 - 1 8 1 ; Der Roman - S. 204, 206-208. 43 Arno Holz: Zola als Theoretiker [entst. 1887, E D 1890]. Abdruck 141
nach: Holz, Das Werk. i. Ausgabe. Bd. 10. Berlin: Dietz 1925. S. $4-59· 44 Friedrich Engels: Brief an Margaret Harkness. - Über Balzac. Abdruck nach: Karl Marx - Friedrich Engels. Über Kunst und Literatur. Eine Sammlung aus ihren Schriften. Hrsg. von Michail Lifschitz. Berlin: Henschel 1953. Anfang April 1888 - S. 124.
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REGISTER Das Register verzeichnet und vervollständigt die Namen und Werktitel, die im Text genannt werden. Bei fremdsprachigen Werken ist zusätzlich der deutsche Titel angegeben, wenn er im Text verwendet wird. Griechische und lateinische Werke sind mit den gebräuchlichen deutschen Titeln verzeichnet. Mit * bezeichnete Seitenzahlen beziehen sich auf eigene Texte der genannten Autoren. In Klammern gesetzte Seitenzahlen bedeuten, daß das Stichwort im Text nicht direkt erscheint. Achilles Tatius JJ Apuleius, Lucius 20 - Der goldene Esel 20 Ariosto, Ludovico 116 Aristoteles 74, 83, 107 Auerbach, Berthold 102 - Waldfried (102) Balzac, Honori de 27, 28, (29), 116, 129, 130, 132, 133 - La comidie humaine 132 - Un grand homme de province & Paris 29 - Illusions perdues 29 Bentham, Jeremy 1 1 1 Bernard, Claude 131 Blumenhagen, Philipp Georg 71 Brahm, Otto 38 Brandes, Georg 129, 130 Brutus, Lucius Iunius 64 Bulwer, Edward George Earle B.-Lytton 109 Calder0n de la Barca, Pedro 7, 70 - El principe constante (Der standhafte Prinz) (70) Caracci, Annibale u. Agostino 118 Carlyle, Thomas m , 1 1 2 Cervantes Saavedra, Miguel de 16, 18-21, 27, 57, 1 1 2 - El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha (Don Quixote) (16), 18, 19, (20), (21), (27), 42, $7, 9J Chambers, Robert 102 Conrad, Michael Georg * 1 1 4 - 1 1 8 Cooper, James Fenimore 57, j8 147
Dante Alighieri 126 Daudet, Alphonse 114 Dickens, Charles 39, 57-60, 88-91, 93, 101, 108-112, 118 - Great Expectations (Große Erwartungen) 91 - Nicholas Nickleby (Nikolaus Nickleby) 58 - Oliver Twist $8 - Our Mutual Friend (Unser gemeinsamer Freund) 109 - The Personal H i s t o r y . . . of David Copperfield (David Copperfield) (ιοί), 109, 113 - The Pickwick Papers (Die Pickwickier) j8 - A Tale of Two Cities (Zwei Städte) 90 Dilthey, Wilhelm «-108-112 Dumas, Alexandre (p£re) 63 Eichendorff, Joseph von *6S-yi Eliot, George (Mary Ann Evans) 109 Engels, Friedrich *i32-i33 Firdusi 121 Flaubert, Gustave 96, 115, 116 - Madame Bovary 115 Fontane, Emilie (6j), (66) Fontane, Theodor "'57-68, 112, * i i 3 - i i 4 - Vordem Sturm (112), 113 Forster, John 101 Freiligrath, Ferdinand 48 Freytag, Gustav 45, 53, (54), 57-60, (61), 62, 63, 95, »123-128 - Die Ahnen 62 - Soll und Haben 45, 53, (54), (55), 57, 58, (59), 60, (61), (62), 63, 123, (124), (125) Geliert, Christian Fürchtegott 22 - Das Leben der schwedischen Gräfin von G. 22 Geßner, Salomon 83 Goedsche, Hermann 66 Goethe, Johann Wolfgang von 5, »5-7, 13, 14, 18, 22, 39, 46, 63, 73, 80, 81, 85, 91, 93, 96, 100, 103, 104, 112, 126 - Dichtung und Wahrheit 80, (81) - Hermann und Dorothea 39, 127 - Die Leiden des jungen Werther 23, 100, 103 - Die Wahlverwandtschaften 5, 23 - Wilhelm Meisters Lehrjahre 5, 18, 23,42, 47,73, 74, 77, 85,105 Goldsmith, Oliver (101), 102 148
- The Vicar of Wakefield 101, 102 Goncourt, Edmond u. Jules de 130 Gotthelf, Jeremias (Albert Bitzius) 38-41, 89 - Die Wassernot im Emmental 40 Gottschall, Rudolph »84-86 Gottsched, Johann Christoph 23 Gozzoli, Benozzo 118 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoph von - Der Abenteuerliche Simplicissimus teutsch 10 Gutzkow, Karl »42-49, 49, jo, 96 - Die Ritter vom Geiste 42, (43), (44), 49, 50 Hahn-Hahn, Ida Gräfin von 4 6 Harkness, Margaret 132 Hart, Heinrich u. Julius "'120-123 Hauff, Wilhelm 108 Hebbel, Friedrich »82-83 Heckenast, Gustav 50, (JI), 53 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich »1-3, 72 Heine, Heinrich »18-21 Heinse, Johann Jakob Wilhelm 32 Heliodor 55 Hertz, Wilhelm 1 1 2 Hesekiel, George 66 Heyse, Paul » 1 1 2 - 1 1 4 Hillebrand, Karl »118-120, 121 Holz, Arno »128-132 Homer 76, 92, IOJ, 106, 126 - Ilias 99, 121 - Odyssee (41), 99, (103) Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 12 Howells, William Dean 118 Hugo, Victor 14 - Notre-Dame de Paris 14 Hume, David 1 1 0 Hutten, Ulrich von 64 Iffland, August Wilhelm 48 Immermann, Karl Lebrecht »8-10, 79, 85 - Die Epigonen 79, 8j Jacobi, Friedrich Heinrich 46 James, George Payne Rainsford 86
- The Old Oak Chest (Die alte Eichentruhe) 86 James, Henry 118 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 24, JI, 42, 46, 53, 63, 85 - Titan 85 Jerusalem, Karl Wilhelm 100 Keller, Gottfried ''33-41, 80, 81, (82), 101 - Der grüne Heinrich 33, 34, (3$), 36, (37), (38), 8ο, (8ι), (82), (ιοί) Kreyßig, Friedrich 80 Kuh, Emil 3 6 Laube, Heinrich 85 - Das junge Europa 85 Lessing, Gotthold Ephraim 83 - Emilia Galotti (64) - Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie 83 Lewald, Fanny 85 - Wandlungen 8j Locke, John 110 Louis Philippe 14 Ludwig, Otto "'86-95 Marggraff, Hermann "'29—32 Mündt, Theodor '''21-24 Musäus $6 - Hero und Leander 56 Nietzsche, Friedrich *9j-96 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 23 Pietsch, Ludwig 66 Prutz, Robert *5$-57 Pückler-Muskau, Hermann Ludwig Fürst von (13) - Briefe eines Verstorbenen 13 Rabener, Gottlieb Wilhelm 22 Raffael (Raffaello Santi) 79 Richardson, Samuel 19, 78 - The History of Sir Charles Grandison 121 - Pamela, or Virtue Rewarded 121 Rosenkranz, Karl '49-50 150
Rousseau, Jean-Jacques 37, 80 - Les Confessions (80) - Julie ou La nouvelle Hilo'ise (Die neue Helo'ise) 42 Ruge, Arnold "'24-25 Sachs, Hans 64 Saint-Simon, Claude Henry de Rouvroy 130 Sand, George (Amandine-Aurore-Lucie Baronne de Dudevant) 79 Schiller, Friedrich 65, 74, 91, 93, 96, 104, 105 - Der Geisterseher 105 - Der Kampf mit dem Drachen 65 Schleiermacher, Friedrich ' 3 - 5 Schmidt, Julian 45 Schopenhauer, Arthur :>4i—42, 96 Schopenhauer, Johanna 5, (7) - Gabriele 5, (6), (7) Scott, Walter 8 - i o , 1 2 - 1 4 , 16, (17), 19, 20, 24, 42, 63, 64, 7 1 , 124, 128 - The Antiquary 13 - The Bride of Lammermoor 14 - Guy Mannering 13 - The Heart of Midlothian (13), 14 - Ivanhoe 8, (9), 13, 14, 63 - Kenilworth (13), 63 - Quentin Durward 63 - Rob Roy 13 - Tales of My Landlord 13, 14 - Waverley; or 'Tis Sixty Years Since 8 , 1 3 , 1 4 , 16, (17), 63 - Woodstock; or, The Cavalier 13 Sealsfield, Charles (Karl Anton Postl) ' ' 1 2 - 1 5 , 24< (25) - Das Kajütenbuch oder nationale Charakteristiken 24, 25 - Der Legitime und die Republikaner 14 - Morton oder die große Tour 12 - Der Virey und die Aristokraten 14, (15) Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Earl of 1 1 0 Shakespeare, William 1 4 , 9 3 , 1 1 2 , 1 2 8 , 130 Sickingen, Franz von 64 Smith, Adam 1 1 0 Spielhagen, Friedrich *96-ιο8, n 8 , 120, 123 Spieß, Christian Heinrich $4 Spindler, Karl J4 Sterne, Laurence - The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman 42 iji
Stifter, Adalbert 40, *5O-JJ, 82, 83 - Der Nachsommer jo, 51, (J2), (J3), 82, 83 Storm, Theodor 38, 66 Sue, Eugene 49, 50 - Le juif errant (Der irrende Jude) 49, jo - Les mysteres de Paris (Die Geheimnisse von Paris) 49 Tacitus, Cornelius 12 Taine, Hippolyte 129, 130 Tarquinius Superbus 64 Thackeray, William Makepeace $7-60, 87, 98, 102 - Vanity Fair 98 Tromlitz, August von (Karl August Friedrich von Witzleben) 71 Van der Velde, Karl Franz 71 Vieweg, Eduard 33, (37) Vischer, Friedrich Theodor ^71-82 Weber, Karl Julius * i o - i 2 Wienbarg, Ludolf * 16-18 Wolff, Oskar Ludwig Bernhard "'26-29 Z o l a , fimile 6 5 - 6 8 , 1 1 4 - 1 1 8 , 1 2 0 , 1 2 3 , 1 2 8 - 1 3 2
-
L'Assommoir6j, 116, 130 La conquete de Plassans 66 La fortune des Rougon (65), 66, 67, (68) Germinal 130 Nana 116,120 Pot-Bouille 120 Les Rougon-Macquart 132