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German Pages 298 [300] Year 1987
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 17
Harro Segeberg
Literarische Technik-Bilder Studien zum Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereiches Sprachwissenschaften der Universität Hamburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Redaktion des Bandes: Rainer Wohlfeil
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Segeberg, Harro: Literarische Technik-Bilder : Studien zum Verhältnis von Technik- u. Literaturgeschichte im 19. u. frühen 20. Jh. / Harro Segeberg. - Tübingen : Niemeyer, 1987. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 17) NE: GT ISBN 3-484-35017-2
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Maisch + Queck, Gerlingen. Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
Editorische Notiz Einleitung Die Bilder, der Untersuchungsansatz und die Forschung I. Kapitel Technik und Naturbeherrschung im Konflikt I Johann Wolfgang von Goethes »Faust. Zweiter Teil« V. Akt (1832) und die Modernität vormoderner Technik 1. 2. 3. 4.
»Technikers Faust-Erklärung« Faust als »Ingenieur« Technik als Krieg gegen die Natur Fausts letzter Monolog
II. Kapitel Technik und Naturbeherrschung im Konflikt II Theodor Storms Erzählung »Der Schimmelreiter« (1888) als Zeitkritik und Utopie
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1. Der Siegeslauf der Technik im Spiegel einer »Deich- und Sturmfluth-Novelle« (Storm) - das Interpretationsproblem 55 2. Hauke Haien als »Faust ohne Transzendenz«? Zum Verhältnis von Heroismus und technischem Fortschritt 61 3. Hauke Haien und die Probleme des Deichbaus im 17. und 18. Jahrhundert . . 67 4. Zwei Rechner im Wettstreit: zur Figuration Hauke Haien und Elke Volkerts . 78 5. Hauke Haien als entzauberter >Übermensch< und der zeitgenössische Realkontext 84 6. Technik und Magie im Konflikt 92 7. Die Rahmenhandlung: zur Utopie eines enthärteten technischen Fortschritts . 100 III. Kapitel Zur Verschwisterung von Technik und Ökonomie I Der Einsturz der »Brück' am Tay« (Fontane) in Max Eyths literarischer Deutung (»Berufstragik« 1899) Mit einem Hinweis auf Max Maria von Webers popularliterarische Zeitbilder 107 1. Max Maria von Weber zum Kulturwert technischer Arbeit 2. Die Brücke als »Hieroglyphe für den Geist des Verkehrs der Neuzeit«
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3. Theodor Fontane »Die Brück' am Tay« - Realhistorisches Ereignis und poetische Fiktion 4. Technikhistorischer Rückblick 5. Eyths »Berufstragik«: Stellung im Gesamtwerk, Erzählfiktion und Erzählproblem 6. Der Held und sein Projekt 7. »Auch unsre Schlachten haben ihre Toten« 8. Die Rache der Natur als göttliche Vergeltung
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IV. Kapitel Zur Verschwisterung von Technik und Ökonomie II Bernhard Kellermanns Roman »Der Tunnel« (1913) als fordistische Utopie 173 1. Bernhard Kellermann als Popularautor und der Erfolg des Romans »Der Tunnel« 2. Technik ohne Kulturwert: der Romanheld Mac Allan 3. Mac Allan, Henry Ford und die Ford-Rezeption in Deutschland 4. Der Ingenieur als »Stahlnatur«
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V. Kapitel D i e Allmacht der Apparate und das »mechanistische Zeitalter« Ernst Tollers »Die Maschinenstürmer« (1922) und Georg Kaisers »GaseDramen (1918 und 1920) 209 1. Tollers »Maschinenstürmer« und Kaisers »Gas«-Dramatik im Kontext spätexpressionistischer Technik-Debatten 209 2. Der »Moloch« Maschine in Tollers »Maschinenstürmern« 212 3. Georg Kaisers »Gas«-Dramatik: der Dichter als »Ingenieur« 224 4. Handlung und Figurenkampf 228 5. »Gas« oder »Siedlung«? Kaisers Konfliktmuster und seine Aktualität 235 6. »Gas« oder Atom: zur Rezeptionsgeschichte 242 Schlußkapitel Vom Mechanismus der Gesellschaft und ihrer Apparate Zur Aktualität einer Projektion
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Literaturverzeichnis
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Personenregister
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Editorische Notiz
Die Studie wurde erarbeitet und geschrieben in den Jahren 1978 bis 1984 (mit Unterbrechungen). Das Typoskript lag im Mai 1984 abgeschlossen vor. Für die Druckfassung, die im September 1986 dem Verlag übergeben werden konnte, waren nur einige wenige geringfügige Änderungen notwendig. Die in der Zwischenzeit erschienene Forschungsliteratur wurde nur dann im Anmerkungsteil berücksichtigt, wenn sie die Ergebnisse der Arbeit erweitern oder zusätzlich präzisieren konnte. Bei der Überprüfung der Zitate aus den literarischen Quellen hat Karola Schulte (Hamburg) geholfen. Orthographie und Interpunktion wurden bei allen Belegen soweit wie möglich aus den jeweils benutzten Ausgaben übernommen; am Satzende führt dies, wenn ein Quellennachweis gegeben wird, gelegentlich zur Setzung eines Satzschlußzeichens im Zitat und nach dem Zitatnachweis in Klammern. Umstellungen im Wortmaterial wurden durch eckige, kleinere Hinzufügungen meinerseits durch runde Klammern gekennzeichnet. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Drucklegung der Arbeit mit einem großzügigen Zuschuß unterstützt. Weiter habe ich der DFG für ein Habilitationsstipendium zu danken. Harro Segeberg
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Einleitung Die Bilder, der Untersuchungsansatz und die Forschung
1. Die Bilder Die moderne Literaturwissenschaft ist übereingekommen, am Dichter nicht länger den Seher und Ausnahmemenschen herauszustellen. Wenn es daher richtig ist, daß dichterische Phantasie professionell vergrößert und damit schärfer sichtbar macht, woran sich auch die Phantasie des Alltagsmenschen abarbeitet, 1 so ist es hilfreich, mit einem Einblick in charakteristische Argumentationsschemata der in den Medien recht erhitzt geführten Technik-Debatte zu beginnen. Hervorheben möchte ich damit von Anfang an, worin die Arbeit über eine Erweiterung germanistischer Fachhorizonte hinauszielt: Sie fragt anhand einiger ausgewählter Fallbeispiele nach dem Anteil der Literatur am Entwurf von Technik· Vorstellungen, deren Geltung über den Bereich der literarischen Intelligenz und eines überwiegend schöngeistig interessierten Publikums hinausreicht. Ich skizziere deshalb zuerst einige in den Medien heutzutage ebenso ausgiebig wie griffig popularisierte Denkfiguren zur Technik, leite daraus den eigenen Forschungsansatz ab und erörtere danach die Vorarbeiten seitens der germanistischen Disziplin. Schon ein flüchtiger Blick in die Medien läßt erkennen, wie dort häufig diskutiert wird. Man streitet entweder handlungsbezogen oder dingorientiert über >die< Technik. Einerseits heißt es da ganz unmißverständlich, daß weder die Perfektion noch die Wirtschaftlichkeit einer Technik deren Anwendung erzwingen können; »die technische Apparatur hat sich den rechtlichen Anforderungen anzupassen und nicht umgekehrt«, so ein prominenter Beitrag zur Datenschutzdebatte. 2 Also: in der Intaktheit maschinellen Funktionierens wohnt kein autonomer Wille; denn zur Maschine vergegenständlichen sich stets zielgerichtete EinzelTechniken. Soziale Zwecksetzungen steuern daher in jedem Fall die technische Entwicklung, es bleibt nur die Frage, wo und wie die »geplante Forschung« einsetzen müßte. 3 Mit anderen Worten: »Die Technik kommt nicht über uns, sondern wir haben Entscheidungen zu fällen, was wir eigentlich wollen« - so der 1
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Vgl. Heinz Hillmann: Alltagsphantasie und dichterische Phantasie. Versuch einer Produktionsästhetik. Kronberg/Ts. 1977 ( = Athenäum Taschenbücher 2130). Spiros Simitis (hessischer Datenschutzbeauftragter): Datenschutz und innere Sicherheit. Zit. nach Frankfurter Rundschau v. 25. 1. 1980, S. 14. Wolfgang van den Daele u. a. (Hg.): Geplante Forschung. Vergleichende Studien über den Einfluß politischer Programme auf die Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt am Main 1979 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 229).
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technische Laie in einer über die Ziele und Auswirkungen der Mikroelektronik streitenden Expertenrunde (noch immer etwas erstaunt, ja »fasziniert« von dieser doch so naheliegenden Erkenntnis). 4 »Daß der Mensch die Technik beherrscht«, 5 sagt sich eben nur leicht, wenn man den damit gemeinten sozialen Prämissen von vornherein zustimmt und der von ihnen inspirierten technischen Entwicklung von oben her tatkräftig zuarbeitet. Derselbe Sachverhalt läßt sich nämlich auch ganz anders formulieren: »Die Mikroelektronik wird unser Schicksal« - ein Argument, ebenso einfach wie einschüchternd und daher weithin wirksam. 6 Statt Fragen nach den fertig eingebauten oder noch veränderbaren sozialen Optionen im allerneuesten technischen Gerät zu stellen, erzählen jetzt Vertreter der Elektronik-Branche denen da unten von einer unaufhaltsamen Entwicklung mit »heute noch nicht übersehbaren Konsequenzen«. 7 Hintergrund ist ein nur selten offen ausgesprochenes Einstellungsmuster: Techniken, die man hat, muß man in Gang setzen; eine Maschine, die funktioniert, drängt wie von selber zur massenhaft-schnellen Anwendung. Der Anwendungszwang geht nun von der Perfektion des Geräts aus. Schon wer die Einführung einer neuen Technik an vorher auszuhandelnde soziale Rahmenbedingungen knüpfen möchte, steht daher im Verdacht, eine irrationale und längst überwundene Tradition wiederbeleben zu wollen; wie die von Ernst Toller dramatisierte Maschinensturmbewegung vom Anfang des 19. Jahrhunderts, so stemme er sich gegen die Unaufhaltsamkeit eines stets siegreichen technischen Fortschritts - einzig der »jämmerliche Versuch, die Maschinen zu stürmen, die ihn fressen«, falle ihm noch ein. 8 Jedwede Technik-Kritik ist jetzt »Maschinenstürme9
rei«. Wir können schon anhand dieser wenigen Diskussionssplitter unsere eingangs geäußerte Vermutung weiter vertiefen: Technik-Vorstellungen entstehen nicht nur aus der isolierten Betrachtungsweise spezieller technischer Entwicklungen, sondern auch aus ebenso umfassenden wie das konkrete Urteil im voraus prägenden Einstellungsmustern (daß Schriftsteller daran mitwirken, ließ schon die Berufung auf Ernst Toller vermuten). Um deren Entstehung wird sich Technik4
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Marion Gräfin Dönhoff: Diskussionsbeitrag zum Zeit-Forum: Vom Werkzeug zum Denkzeug. Mikroprozessoren erobern die Technik. In: Die Zeit v. 19. 10. 1979, S. 33-37, S. 37. »>Technik-Feindschaft abbauen< (AEG-Chef Dürr)«. In: Frankfurter Rundschau v. 31. 3. 1981, S. 5. In: Frankfurter Rundschau v. 19. 1. 1980, S. 10. So der Untertitel des Beitrages, eines Berichts aus Amerika. A . a . O . Julian Exner zum Druckerstreik bei der »Times« in der Besprechung einer Londoner Theateraufführung von Tollers »Maschinenstürmer«, in: Frankfurter Rundschau v. 9. 1. 1979, S. 13. Das nachfolgende Zitat stammt aus der Rezension eines Spielfilms über die Einführung einer automatischen Backanlage in: Der Spiegel 12/1977, S. 158, ree.: Das Brot des Bäckers. Spielfilm v. E. Keusch. Zu weiteren Belegen vgl. die Anm. 49 zu Kap. V, 2. Ernst Berens: Der Traum vom einfachen Leben. In: Süddeutsche Zeitung v. 7./8. 3. 1981, S. 31.
Erforschung ebenso intensiv wie um die Neubegründung systematischer und historischer Forschungsparadigmen kümmern müssen; denn es steht zu vermuten, daß globale Einstellungsmuster auch ehrgeizige kognitive Forschungsprogramme überleben, und zwar einfach deshalb, weil (wie die Produzenten neuer Techniken seit langem wissen) ein tief sitzendes Bedürfnis danach besteht: im rasanten Tempo des Fortschritts verliere eben manch einer schnell die Orientierung, »die Gesellschaft« tue sich schwer, »mit Computern zu leben«.10 Wissenschaftliche Empirie macht die Analyse der Technik-Bilder in den Köpfen keineswegs überflüssig. Es reicht nicht aus, auf die Auflösbarkeit genereller Blockierungen durch sachkundig differenzierende Gegenargumente stillschweigend zu hoffen. Man muß vielmehr wissen, wie die Voraus-Urteile zur Technik entstehen und warum sie so viel Zustimmung finden. Literarische Texte bieten in dieser Situation einen unschätzbaren Vorzug. Stärker nämlich als bisher vermutet, beteiligen sich Schriftsteller auf ihre Weise am »Streit um die Technik«; 11 sie reden in Denk-Bildern über die ihre Leser immer stärker treffende, aber immer schwerer faßbar erscheinende Einflußgröße der Maschinen und der Technik, und sie versuchen sich an einer über den konkreten Einzelfall hinausreichenden allgemeinen Problemorientierung. Der Titel »Literarische Technik-Bilder« stellt also nicht (wie der Leser vielleicht zunächst vermutet hat) die Untersuchung von speziellen Symbol- oder Motiv-Reihen eines darauf eingegrenzten historischen Längsschnitts in Aussicht. Mit »Literarischen Technik-Bildern« sind vielmehr die sehr viel umfassender angelegten und künstlich imaginierten Wirklichkeitsbilder gemeint, in deren Rahmen das Bild einer Brücke oder eines Tunnels seinen spezifischen Signalwert dadurch erhält, daß die literarische Konstruktion des Gesamtbildes auf ein weithin verbreitetes globales Einstellungsmuster zurückgreift und es zugleich weiter zuspitzt. Literatur kann darin »Versionen« von Wirklichkeit anbieten (Uwe Johnson), die zudem mit anderen Versionen in ein Konkurrenz- oder auch nur Vergleichsverhältnis gebracht werden können. 12 So führt zum Beispiel das empirische Evidenzerlebnis eines Brückeneinsturzes (im III. Kapitel) zu literarischen und wissenschaftlichen Realitätskonstitutionen, die auf eine sehr unterschiedliche Weise »Wirklichkeitspartikel« wie ein spezifisches Brückendesign und dessen Konstruktionsdetails zu einem über diesen Einzelfall hinausreichenden bildhaften Deutungsmuster zusammensetzen und weiterreichen. 13 Zumal an den Bildern der Literatur läßt sich deshalb neben dem, was sie an konkreten Realitätsbezügen
10 So die IBM-Anzeige: Über Computer. Beilage zur Zeit v. 21. 11. 1975, S. 1-14, S. 1. " So Friedrich Dessauer: Streit um die Technik. Frankfurt am Main 1956. 12 Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn (veraltet) (1961). In: ders.: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt am Main 1975 ( = suhrkamp taschenbuch 249), S. 7-22. Bes. S. 13ff. Das Stichwort der »Version« fällt (in einem vergleichbaren Zusammenhang) in einem Gespräch mit Dieter Zimmer: Das Gespräch mit dem Autor: Uwe Johnson. Eine Bewußtseinsinventur. In: Die Zeit v. 26. 11. 1971, Literaturbeilage, S. 3. 13 Gotthart Wunberg spricht in seiner Theorie der ästhetischen Moderne sehr einleuchtend von spezifisch literarisch erzeugten »Aggregatzuständen der Wirklichkeit«, die er aller-
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verwerten, in der kontrastiven Analyse vor allem die Art und Weise ihrer Problemformulierung überprüfen. Darin nämlich können Schriftsteller verfestigend oder auflockernd auf die allgemeinen Einstellungsmuster zurückwirken.
2. Der Untersuchungsansatz Ich möchte die skizzierte These in der nun folgenden Arbeit anhand der exemplarischen Fallanalyse von zwei generellen Erklärungsmustern erörtern. Sie lassen sich im Vorwege idealtypisch so charakterisieren: Technik wird in literarischen Texten einmal von ihrer materialen Gegenständlichkeit her erklärt, die immer dann zur irreversiblen Faktizität gerinnt, wenn Autoren die soziale Herkunft, Struktur und Funktion einer Maschine durch deren weiterreichende dinghafte Eigendynamik überlagert sehen. Wer dagegen etwas unternimmt, betreibt (wie auch in der kurz zuvor skizzierten öffentlichen Debatte) »Maschinensturm«. Oder man kann die mit Hilfe einer Technik projektierten Handlungen, Beziehungen und Situationen thematisieren und von hieraus, falls erforderlich, den Charakter einer Maschine erklären; Schriftsteller können das in ihren fiktiven Ich- oder WirGeschichten mit verfremdend-verschärfender Deutlichkeit spiegeln. Für beide Erklärungsrichtungen kann ich, um die Studie überschaubar zu halten, nur einige wenige ausgewählte Fallbeispiele anbieten, wobei ich sie so ausgesucht habe, daß /7o/?w/aHiterarische wie /loc/iliterarische Auslegungsversuche sichtbar werden können. Daß dabei das Verhältnis von Technik und Naturbeherrschung im Mittelpunkt des Interesses steht, wird den mit den Turbulenzen der modernen Technik-Debatte vertrauten Leser nicht überraschen. Die von allen Seiten geübte Kritik technischer Rationalität erhält jedoch, so hoffe ich, eine Zuspitzung, die im jüngsten Streit um die Herrschaftslogik von Technik, Naturwissenschaft und Kapital zu sehr übersehen wird. Die Annahme »struktureller Affinitäten« (Otto Ullrich)14 oder totalitärer Grundstrukturen (Arno Bammé u. a.) 15 erhellt nämlich nicht die qualitativ sehr unterschiedlichen sozialen
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dings trotz der Anleihe bei einer naturwissenschaftlichen Terminologie nicht mit anderen, etwa wissenschaftlich erzeugten »Aggregatzuständen«, sondern mit »objektiver Wirklichkeit« so vergleicht, daß man glauben könnte, diese sei als pures Faktum verfügbar. Verfügbar aber sind immer nur nach bestimmten Regeln erzeugte Realitätskonstitutionen, die auf eine je eigene Weise >Faktisches< verarbeiten. »Wirklichkeitspartikel« sind anders auch in Alltagsrekonstruktionen nicht greifbar. Vgl. Gotthart Wunberg: Wiedererkennen. Literatur und ästhetische Wahrnehmung in der Moderne. Tübingen 1983, S. 25, 38. Otto Ullrich: Technik und Herrschaft. V o m Hand-Werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion. Frankfurt am Main 1979 (zuerst 1977) ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 227), S. 140. A r n o B a m m é u. a.: Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen Beziehung. Reinbek 1983 ( = Kulturen und Ideen, rororo sachbuch 7698), S. 182. Solche globalen Zuordnungen stören den Gebrauchswert dieses im übrigen mit vielen Vorurteilen gegen die neuen »Geist«-Maschinen aufräumenden Buches.
Gemenge-Lagen, in denen sich die im übrigen sehr unterschiedlichen Denkmodelle technischer Rationalität zum Konzept rigider Naturbeherrschung überhaupt erst verhärten. Vom absolutistischen Herrschaftsanspruch (Kapitel I) bis hin zu den Integrationsangeboten kapitalistischer Ökonomie (Kapitel III und IV) reicht die Spannweite literarisch gespiegelter Verschwisterungsversuche. Technik ist so gesehen weder an sich wertneutral noch zu jeder Zeit und überall totalitäre Herrschaft. Die Schriftsteller mit ihrem Gespür für die Verführbarkeiten ihrer Helden, die sie selber geschaffen haben, lenken den Blick des Lesers vielmehr auf die Mikroprozesse, die unterhalb der globalen Zuordnungen verlaufen. »Technik als Gegennatur« (Günter Ropohl) 16 wird zur Herrschaft über die Natur, weil (was zu zeigen sein wird) schon die sprachliche Präsentation von Naturerfahrungen auf Redeweisen und Metaphern zurückgreift, wie sie zur Charakterisierung antagonistischer sozialer Konfliktmodelle gebräuchlich sind. Man hat demgegenüber den Eindruck, daß manche ambitionierte Abrechnung mit >der< Technik einfach zu großflächig verfährt. Statt universale Verhängnisse zu vermuten, halte ich es für sinnvoller, die sozialen Einzelstrukturen zu untersuchen, die zur Verhärtung technischer Handlungskalküle führen können. Die Untersuchungsschritte der Arbeit sind deshalb so angelegt, daß sie zuerst die Ausbildung und dann die fortschreitende Verdinglichung ursprünglich handlungsbezogener Erklärungsmuster erhellen können. Statt der Perfektion der Geräte steht die Perfektion der von den literarischen Figuren vorgelebten Handlungsmuster im Mittelpunkt des analytischen Interesses. Der Ingenieur als Souverän über die Technik bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung. Die Arbeit beginnt deshalb mit einem Text, in dem >Technik< noch ohne Maschinen auskommt (Goethes »Faust. Zweiter Teil«, posthum 1832), und sie fährt dann fort mit einem Text, der die historischen Kulissen vormoderner Technik zum kritischen Rückblick auf den tatsächlichen Siegeslauf von Technik und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert ausnutzt (Th. Storms »Schimmelreiter« 1888). Die literarische Diagnose des Dichter-Ingenieurs Max Eyth gibt dann, zusammen mit den Schriften des Ingenieurs und Popularautors Max Maria von Weber, Gelegenheit zu prüfen, warum der Techniker selber seiner Triumphe nicht recht froh wird (M. Eyths »Berufstragik« 1899). Bernhard Kellermanns Erfolgsroman »Der Tunnel« (1913) erhebt die dafür verantwortliche Verschwisterung von Technik und kapitalistischer Ökonomie gleichwohl zum irreversiblen Handlungsgesetz moderner Technik. Worauf die Entfesselung eines solchen technischen Fortschritts hinausliefe, demonstrieren darauf die »Gas«-Dramen Georg Kaisers (»Gas« 1918 und »Gas. Zweiter Teil« 1920) in utopischer Zuspitzung; die Inszenierungs- und Rezeptionsgeschichte dieser »Gas«-Dramatik reicht bis in unsere Tage hinein. Der Ingenieur hat bei Kaiser seine Allmacht aufs höchste gesteigert und zugleich an die Apparate verloren, die er herstellt. Ein Ausblick am
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Günter Ropohl: Technik als Gegennatur. In: Götz Großklaus und Ernst Oldemeyer (Hg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur. Karlsruhe 1983 ( = Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten).
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Ende zeigt, inwiefern von hieraus noch Mißverständnisse der heute so heiß umstrittenen »Geist«-Maschinen provoziert sind. Der Untersuchungsansatz der Arbeit ist damit textbezogen entfaltet. Gefragt wird in exemplarischer Absicht nach dem Anteil von Schriftstellern an der Konstruktion des Wirklichkeitsbildes >Technikte J*twetfrfcçtrtb É^P ¿f>rfeCie* tóffel^^. Bild 2: Der Ingenieur. Kupferstich aus Christoff Weigel: Abbildung der Gemein=Nützlichen Haupt-Stände. Regensburg 1698. Verse von Abraham a Sancta Clara. - Für unseren Zusammenhang sind wichtig die in der pictura dargestellten Sachverhalte und nicht deren in inscriptio und subscriptio entfalteten >höheren< emblematischen Bedeutungen. Man vergleiche zur abgebildeten Ingenieurtätigkeit die Verse der Lemuren: »Gespitzte Pfähle, die sind da, / die Kette lang zum Messen« (V. 11519f.). 17
serbaukunst« (so ein zeitgenössischer Titel) aufmerksam verfolgte. 18 Daran hat sich auch nach dem Ausscheiden aus dem praktischen Verwaltungsdienst nichts geändert, und die ältere positivistische germanistische Forschung hat die vielfältigen empirischen Anregungen für den »Faust«-Dichter ausführlich dokumentiert. Von Deichbauten im Land der »tapfren Friesen«, 19 dem Hafenbau im Niederelbegebiet und in Bremerhaven (Bild 3), 20 der Austrocknung venetianischer und westpreußischer Sümpfe, 21 den Überlegungen zu den Ursachen von Sturmfluten in Petersburg und den Bedrohungen der Küstenlandschaften im sogenannten Baltischen Meer 22 bis hin zu kühnen Kanalprojekten in Süddeutschland, Amerika und Ägypten reicht das in der Tat weitgespannte Interesse. 23 Main-Donau-Kanal, Suez-Kanal und insbesondere Alexander von Humboldts »Vorschläge zu Canälen an verschiedenen Puncten« in Nord-, Mittel- und Südamerika waren für den »Faust«-Dichter bereits ernstzunehmende technische Großprojekte, wobei sich seine Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit eines »Durchstichs des mittelamerikanischen Isthmus« in Panama oder auch in Nicaragua richtete (Bild 4). 2 4 U m so erstaunlicher ist, wie sehr sich die neueren germanistischen Kommentare gegenüber dem in allen Einzelheiten nachweisbaren technikgeschichtlichen Hintergrund der letzten »Faust«-Szenen zurückhalten, und auch die einschlägige
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Hans Ruppert: Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958, S. 765-770. Das Zitat stammt aus der »Ankündigung« des gleichlautenden Buches von Carl Friedrich von Wiebeking. Dat. Darmstadt 28. Nov. 1796. A.a.O., S. 769. Vgl. auch Anm. 14. 19 So ein angebliches Goethe-Zitat, vgl. Rudolf Henning: Locale und litterarische Beziehungen zum 5. Acte des Faust. In: Vjs. für Literaturgeschichte 1 (1888), S. 243-248. S. 243. Die von Henning bereits genannte historische Quelle hat jüngst wieder ausgewertet: Karl-Heinz Wiechers: Das Thema Landgewinnung in Goethes Faust. Vortrag im Rahmen der Veranstaltungen der Goethe-Gesellschaft in Hamburg zum 150. Todestag Goethes. Soltau 1982. Vgl. weiter Karl Lohmeyer: Das Meer und die Wolken in den letzten beiden Akten des >Faust ι I.th^jK»
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auch Straßen) reichten vom äußersten Norden bis in den äußersten Süden des amerikanischen Kontinents. In Mittelamerika gab Humboldt einer Kanal-Route in Nicaragua den Vorzug; sie sollte den Golf von Papagayo mit dem Nicaragua-See verbinden und dann den San Juan Fluß ausnutzen (Humboldt: Essai politique, I, 2; vgl. S. 33, Anm. 62). 21
holländischer Wasserbaumeister sich etwas Besonderes denken würde.« 27 Und Goethes Interesse an technischen Problemen mache alles nur noch schlimmer; erklärbar sei Goethes Vorliebe für solche eigentlich unter seinem Niveau liegenden praktischen Tätigkeiten nur mit seinem Unverständnis für die Fortschritte einer strikt sich selber verpflichteten >reinen< Naturwissenschaft. 28 Mit dem »Faust«-Verriß des zu seiner Zeit berühmten Vertreters der exakten experimentellen Naturwissenschaften kommt eine bedeutsame Binnendifferenzierung der häufig als Einheit beschworenen naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz in den Blick. Der Kampf des Technikwissenschaftlers gegen weitabgewandte Spekulationen oder die Übermacht der »deduktiven Wissenschaft« (U. Wendt) 29 kann sich nämlich auch gegen den theoretischen Naturwissenschaftler richten, von dem es (bei M. Kraft) empört heißt, er habe dem Ingenieur und Unternehmer Werner Siemens bei dessen Begrüßung in der Berliner Akademie der Wissenschaften entgegengerufen: »Die Wissenschaft wird hier ihrer selbst willen gepflegt«. 30 Max Kraft polemisiert gegen diesen Ausspruch Du BoisReymonds, indem er explizit dessen Goethe-Tadel gegen seinen Urheber wendet: entlarvt habe sich hier ein elitäres Wissenschaftsverständnis, dem es nur um die »Befriedigung weniger Bevorzugter« gehe; Du Bois-Reymond habe anders als Goethe nicht den Bezug technischer »Bauten zur Menschheit und insbesondere der notleidenden Menschheit [begriffen]« (M. Kraft). Fausts Bauten sind so Anlaß, die Überlegenheit des Ingenieurs gegenüber jeder Art von theoretischer Erkenntniswissenschaft herauszustellen. Goethe demonstriere, daß nur die »endlichen«, »abgeschlossenen« Aufgaben in der technischen Praxis »das stolze Glücksgefühl der kühn vollbrachten schöpferischen Tat« vermitteln können (G. Hauck). »Die Gottähnlichkeit in der Erkenntnis zu beanspruchen, war ein freventliches Unterfangen; sie in der kühnen schöpferischen Tat zu erstreben, ist es nicht.« 31
2. Faust als »Ingenieur« Die bisher genannten Autoren wollten zeigen, daß der weltliterarische Text den autonomen Status der neuzeitlichen Technik bereits vor ihrem Siegeszug im 19. Jahrhundert abbildet. Um das zu beweisen, wird zu Recht nicht nach detail-
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Emil Du Bois-Reymond: Goethe und kein Ende. Rede bei Antritt des Rectorats der Koenigl. Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin. Am 15. Oktober 1882. Leipzig 1883, S. 10. Neudruck in: Karl Robert Mandelkow: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil III: 1870-1918. München 1979 ( = Wirkung der Literatur, Band 8), S. 103-117. Vgl. dazu genauer Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Band I: 1773-1918. München 1980, S. 189ff. und 193ff. Wendt: Technik (Anm. 6), S. 12. Kraft: System (Anm. 7), S. 17 und 25. Hauck: Faust-Erklärung (Anm. 9), S. 6 und 10.
Bild 5: Beispiele von Berechnungen zur Anlage und Ausbesserung abgeflachter Deichprofile nach Reinhard Woltmann: Beyträge zur Hydraulischen Architectur, Bd. 1, 1791 (vgl. S. 32, A n m . 60). V o n den Figuren erläutern die Fig. 2 die Neukonstruktion eines Deiches, die Fig. 3 das Auffahren der Erddecke, die Fig. 4 die Ausbesserung und die Fig. 5 und 6 die Verstärkung stark beanspruchter Deichprofile. (Vgl. zur Geschichte des Deichbaus weiter Bild 19 auf S. 70.)
Herten Konstruktionsplänen, sondern nach Strukturanalogien im Handlungsmuster der fiktiven Leitfigur gesucht. Die Kulturwerttheoretiker fanden in dieser Hinsicht in Fausts Idee eines neuartigen Deichbaus (nicht die hochaufragende, sondern die flach abfallende Deichlinie [Bild 5] soll die Kraft der heranflutenden Wogen brechen - wie es »des flachen Ufers Breite« vorführt, V. 10201f.) nicht nur das Ziel, sondern auch die grundlegende Methode der technischen Arbeit gespiegelt: Dem Faust, der die »zwecklose Kraft unbändiger Elemente« (V. 10219) bekämpft und besiegt, indem er die Natur mit Hilfe ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten überlistet (V. 10222ff.), gilt ihre Zustimmung. Fausts »tätig-freie« (V. 11564) Volksgemeinschaft schwebte auch dem Theoretiker der »Kulturmacht Technik« als Zielvorstellung vor. 32 Goethe selber hat es an anderer Stelle so wie die bisher angeführten Kulturwerttheoretiker formuliert: Der Mensch, der »den Besitz der Erde ergriffen und ihn zu erhalten Pflicht hat«, könne »durch die höchste Kraft des Geistes, durch Mut und List«, die Elemente nur dann »im einzelnen Fall bewältigen«, wenn er beachte, »was die Natur in sich selbst als Gesetz und Regel trägt.« 33 Und Faust verläßt sich dabei nicht nur auf Erfahrung oder Intuition; seine »Hydrotechnik« ist
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Wendt: Kufturmacht ( A n m . 6), S. 321f. G o e t h e : Bändigen und Entlassen der Elemente. In: Versuch einer Witterungslehre (1825) (zit. nach G o e t h e s Werke. Hamburger Ausgabe, Band 13. Hamburg 1962 4 [zuerst 1955]), S. 308-310. S. 309.
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vielmehr, wie es ein zeitgenössischer Experte verlangt, auf »Beobachtungen und Berechnungen« gegründet 34 - so wenn er zum Beispiel die Kunst der topographischen Vermessung anwendet (V. 11519f. : »Gespitzte Pfähle, die sind da, / Die Kette lang zum Messen«). Faust geht damit durchaus schon »ingenieurmäßig in modernem Sinne, das heißt bewußt rechnend und kalkulierend« (H. Straub) vor, und daher verwundert es nicht, wenn seine Planung noch den Beifall des Fachmannes im 20. Jahrhundert findet. 35 Faust lasse richtig zuerst mit Hilfe eines zwischen Dämmen geführten Grabens (V. 11227ff., 11092) die den Dünen vorgelagerte und zunächst nur bei Ebbe freiliegende Wattenlandschaft entwässern und dann durch Deichbauten das neu gewonnene Land sichern (V. 11091ff., 11222f.); die Deiche habe er fachgerecht durch »Buhnen« (V. 11545), das heißt durch zusätzliche Uferbefestigungen, vor größeren Sturmfluten geschützt. Vor dem Auge des Lesers entstehe so der exakt vermessene Grundriß einer künstlich >verlandeten< Küstenregion, die ein »großer, gradgeführter Kanal« - ein ausgebauter Entwässerungsgraben vermutlich - mit dem nunmehr weit vorgelagerten Meereshafen verbindet (V. 11143ff.). Entstanden ist ein »paradiesisch Bild« (V. 11086), das nur in der Sprache der Dichtung - und nicht etwa in den Berichten über zeitgenössische Realität existiert. Jeder Rückbezug des Gesamttextes auf eine einzelne Vorlage wäre verfehlt. 36 Darin liegt die Grenze der oben erwähnten positivistischen Arbeiten. Goethe hat vielmehr die sprachlich vermittelten Einzelbilder radikal verdichtet; die >realen< Konturen schieben sich ineinander, aber sie verwischen sich dabei nicht. Den damit gemeinten neuen Sinn kann am eindringlichsten der bildende Künstler veranschaulichen (vgl. Bild 6). Der Faust, der beobachtend und berechnend nach dem Vorbild der Natur »ein gestaltetes Leben dem Gestaltlosen entgegensetzt« 37 (Goethe), ist eine Kunstfigur.
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Carl Friedrich von Wiebeking: Vorschläge zur Verbesserung des Wasserbaus. Mit 1 hydrographischen Karte von dem Nieder-Rhein in 10 Bl. Darmstadt 1796, S. 8. Das Buch war in Goethes Bibliothek vertreten, vgl. Ruppert: Goethes Bibliothek (Anm. 18). Wie wichtig »Beobachtungen und Berechnungen« bei der Anlage von Deichen sind, betont das in Goethes Bibliothek gleichfalls vertretene Werk von Johann Georg Büsch: Übersicht des gesamten Wasserbaues. Bd. 1 und 2. Hamburg 1796 ( = Büsch: Versuch einer Mathematik zum Nutzen und Vergnügen des bürgerlichen Lebens, Th. 3, Bd. 2 und 3). Band 2, S. 33. Vgl. Straub: Bauingenieurkunst (Anm. 16), S. 138 (mit Kursivdruck des ersten Wortes). Zum Beifall des Fachmanns vgl. die Schilderung bei Karl Lohmeyer, der sich dabei auf die »freundlichen Mitteilungen von Oberbaudirektor Dr. Ing. Erich Lohmeyer« stützt: Goethe und die niederelbische Küstenlandschaft. In: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 26 (1934), S. 11-20. S. l l f . Kritisiert wird nur die Hast, mit der Faust vorgeht. Vgl. dazu unten S. 46f. Nur in dieser Hinsicht sind Dieter Bellmanns Einwände gegen die positivistischen »Faust«-Kommentatoren stichhaltig. Vgl. ders.: Vom Harz bis Hellas. Zur Sprache Goethes in »Faust II«, V. Akt. In: Friedhelm Debus und Joachim Hartig (Hg.): Literaturwissenschaft und Textedition. Neumünster 1973 ( = Festschrift für Gerhard Cordes. Zum 65. Geburtstag. Bd. 1), S. 1-22. Goethe: Elemente (vgl. Anm. 33). S. 309.
Bild 6: Federzeichnung von Max Beckmann. Nach J. W. Goethe: Faust. Der Tragödie Zweiter Teil. Mit Bildern von Max Beckmann. O . O . , o . J . [1957]. Vgl. Philemons Schilderung V. 11082ff., insbesondere die V. 11097ff. Der Zeichner versucht sich offenkundig vorzustellen, wie Fausts gewaltiges Kolonisationswerk mit seinen H ä f e n , Kanälen und den dem Meer abgerungenen Deichlandschaften sogar auf diejenigen gewirkt haben muß, die sich wie Philemon und Baucis bis zuletzt an ihren altvertrauten Boden klammern. Philemons Worte an einen Wanderer, den er vor längerer Zeit aus den damals noch ungezähmten Fluten gerettet hatte, gaben hier wahrscheinlich dem Maler den Denkanstoß: »Schaue grünend Wies' an Wiese, / Anger, Garten, Dorf und Wald.« Und: »Dort im Fernsten ziehen Segel, / Suchen nächtlich sichern Port. / Kennen doch ihr Nest die Vögel; / Denn jetzt ist der Hafen dort.« (V. 11096f. und V. 11099f.). Es ist also die bearbeitete Natur, die wie ein »paradiesisch Bild« (V. 11086) auf den Betrachter wirkt. Die vom Menschen unberührte Natur verkörpert sich dagegen nicht nur im Wuchs alter »Linden« (V. 11043), sondern eben auch in der »sturmerregten Welle« (V. 11049), die einst den Wanderer an die »Dünen warf« (V. 11050). Goethes Thema sind also Größe und Fehlschlag eines grandiosen Projekts zur Naturaneignung, das von einer heute gelegentlich etwas unterschätzten Problemstellung ausgeht. Inwiefern der Friede, den Philemon beschwört, gleichwohl trügerisch war, will die folgende Interpretation erhellen.
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Noch heute aber gilt das im literarischen Text so genau gespiegelte Unterscheidungsmerkmal als wichtig: Technik sei »finale«, nicht »kausale« Naturbetrachtung und daher mehr als »bloß angewandte Naturwissenschaft«; denn Naturgesetze werden hier im »Interesse der von Menschen gesetzten Ziele« umgelenkt (S. Moser). 38 Goethe hat diesem Vorhaben im letzten Monolog des erblindeten Faust eine auf den ersten Blick utopische Erhöhung gegeben: im Kampf gegen die Natur zählt nur die Tüchtigkeit des Einzelnen, vor diesem Gegner sind offenkundig alle gleich. Daher soll es möglich werden, gerade hier »auf freiem Grund mit freiem Volke (zu) stehn« (V. 11580) - Anlaß für Faust, das weltberühmt gewordene Wort zu sprechen: »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück/ Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick.« (V. 11585f.). Und in der Tat, kaum eindeutiger, so scheint es, läßt sich der Segen der Technik verkünden: sie diene überhaupt nur der »Menschheit« und nicht, wie arglistig behauptet, eigensüchtigen Zwecken. Ihre »Kulturarbeit« habe nichts mit »Gelderwerb« zu tun, vielmehr könne gerade sie die »Geister des Betrugs, der Übervorteilung, des harten egoistischen Drucks« verscheuchen (M. Kraft). 39 Die literarische Figur wird zur Verkörperung der später zum Stereotyp vereinfachten Idealfigur des Ingenieurs; selbstlos, männlich-kraftvoll und mit fanatischem Arbeits- und Pflichtethos versinnbildliche Faust den »Taten-Idealismus« des Ingenieurs, in dem sich »opferfreudiger Mannesmut« ungebrochen und ohne alle Verweichlichung verwirklicht (G. Hauck). 40 Faust ist, so sekundiert 1934 ein Germanist, die Vorwegnahme des nur »auf die Sache erpichten« Erfinders (Krupp habe das dann in der Realität eingelöst), und dieses »>epochemachende< Sinnbild der Technik (sei) heute (!) geradezu neu zu entdecken [...] als erste und nachdrücklichste Gestaltung des Wortes: Gemeinnutz geht vor Eigennutz.« 41 Die in diesem Einzelfall unverkennbar faschistisch inspirierte Inanspruchnahme legt den Gedanken nahe, der Kulturwerttheoretiker habe vielleicht doch etwas übersehen. Dem derart kritisch geschärften Blick fällt am literarischen Text auf, daß hier Mittelwahl und Ziel nicht zusammenstimmen wollen, ja eine dem Ideal innewohnende Paradoxie wird deutlich. Denn schon das Freiheitsideal, das aus diesem Kampf gegen die Natur entsteht, entbehrt nicht der nach innen gewendeten Härte (»nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,/ Der täglich sie erobern muß« V. 11575f.) - mit der Metapher vom »stählenden kulturweckenden Kampf« 42 ist eine gefährliche Verwertungsmöglichkeit angedeutet. Aus »gestähl-
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Simon Moser: Kritik der traditionellen Technikphilosophie. In: Hans Lenk und S. Moser (Hg.): Techne, Technik, Technologie. Philosophische Perspektiven. Pullach bei München 1973 ( = Uni-Taschenbücher 289), S. 11-81. S. 80. Kraft: System (Anm. 7), S. 27. Hauck: Faust-Erklärung (Anm. 9), S. 9 und 7. Zur patriarchalischen Struktur von Fausts Werk vgl. jetzt Klaus Theweleit: Männerphantasien 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Reinbek bei Hamburg 1980 (zuerst 1977) ( = rororo sachbuch 7299), S. 368. Arthur Mendt: Die Technik in der deutschen Dichtung der Gegenwart. Zeitschrift für Deutsche Bildung 10 (1934), S. 545-553. S. 549 (mit Sperrungen). Morris: Goethe-Studien (Anm. 22), S. 213.
ten Bewohnern« wird leicht die »Freiheit, wie sie deutschem Wesen entspricht.« 43 Technik verlangt nunmehr Stärke, die aus einem Rassemerkmal resultiert. Die Studie wird diesem Denkmodell noch häufiger begegnen (vgl. Kap. II, 2, S. 62ff. / Kap. 111,7, S. 155 u. S. 162f. / Kap. IV, 4, S. 202ff. / Kap. V,4 S. 231f.). Deutlich wird jedenfalls schon hier, wie vorsichtig man die Rezeptionsvorgaben des Textes abwägen sollte. Wer einsinnige Botschaften unterlegt, enthüllt meist den eigenen ideologischen Standort. Das gilt noch mehr von der Mittelwahl für die Durchführung des fiktiven technischen Großprojektes; eine förmliche Schlacht gegen die Natur soll - mit Hilfe der Magie - den Frieden mit ihr herstellen helfen (»Menschenopfer mußten bluten, / Nachts erscholl des Jammers Qual; / Meerab flössen Feuergluten, / Morgens war es ein Kanal« V. 11127ff.). Und auch nach dem Verzicht auf die Magie wird Faust nicht friedfertiger; Naturbeherrschung bleibt das Resultat einer auf Gewalt gegründeten Gesellschaft (Faust: »Es ist die Menge, die mir frönet, / Die Erde mit sich selbst versöhnet« V. 11540f.). Der sympathetisch berührte Interpret hat es ganz arglos mit großer Zustimmung registriert; es sei der »rücksichtslos heischende Herr« (und nicht etwa der einstweilen noch zurückgestellte »Gemeindrang« aus V. 11572), der hier tatsächlich kolonisiert (G. Freytag). 44 Was Faust so stets will, ist stillgelegte, weil gewaltsam pazifizierte Natur: »Im Innern hier ein paradiesisch Land, / Da rase draußen Flut bis auf zum Rand« (V. 11569f.). Die Gewalt nach außen rechtfertigt die Gewalt nach innen - zumindest für die Frage der Mittelwahl ist die Auskunft des Textes eindeutig (ob auch die Utopie dadurch zerstört ist, wird später genauer geprüft). Der Faust also, der handelt, ficht den Kampf gegen die Natur aus, ohne auf die alte Hybris zu verzichten. Zugespitzt kann man vielmehr sagen, daß sie sich nunmehr am Feindbild Natur entzündet, und Faust führt damit vor, welche Handlungsvorstellungen naheliegen, wenn man Natur nur so betrachtet. Die Reaktion der Techniker-Interpreten zeigt nun, wie scharf der Dichter hier das Grundsatzproblem im Vorwege formulierte. Insbesondere das arglose Überhören von Dissonanzen provoziert in der Konfrontation mit dem Text die aufschlußreiche Selbstdeutung des Interpreten. So sieht der Techniker selber im »Stolzgefühl«, das der »Kampf gegen die widerstrebende Natur« verleihe, das strenge Berufsethos des Ingenieurs gültig verwirklicht; bedauerlich sei nur, daß Faust weder »eine technische Hochschule [besuchen], (noch) sich dann tüchtig in der Praxis [umtun]« konnte; er hätte dann auf die »Hilfe von dämonischen Geistern« verzichten können (G. Hauck). 45 Auf jeden Fall: »Unbeugsam, wie ein unabänderliches Naturgesetz ist der Befehl, der dem Menschen gegeben ist: >Herrschet über die Erde«Natur-Vergewaltigung< mit Naturnotwendigkeit über kurz oder lang hereinbrechen mußte« (M. Kraft). Fügt der Interpret auch noch hinzu, daß Kritik hieran nur »in voller Unkenntnis der im wirtschaftlichen Leben maßgebenden Faktoren« geäußert werden könne, so ist die damit implizierte Instrumentalisierung der Technik nicht nur schon sehr früh erkannt, sondern bereits gerechtfertigt. 48 Die Identifizierung mit der literarischen Figur zeigt, worauf das hinausläuft: Sieht man in der Art, in der Faust vorgeht, ohne jede Einschränkung die »Gloriole (der) nur der Menschheit geweihten Arbeit des Technikers« (M. Kraft) aufleuchten, so gibt sich im bürgerlich-technischen Naturverhältnis, gemessen an seinem Ideal, in diesem Falle tatsächlich der »Prügelmeister« der Natur zu erkennen (E. Bloch). 49 In den Hinweisen der Ingenieure auf das »Faust«-Drama steckt also wohl doch mehr als nur der Wunsch, die eigene Festrede oder das dickleibige Gesamtwerk mit einer Leihgabe aus dem schlechthin unstrittigen Kulturgut auszuschmücken; Inanspruchnahmen ähnlicher Art sind, wie die wirkungsgeschichtliche Forschung innerhalb der Germanistik gezeigt hat, kein Einzelfall. 50 Gerade weil jedermann 47
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Max Maria von Weber: Aus der Welt der Arbeit. Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Maria von Wildenbruch. Berlin 1907. S. 47 und 89. Weber dokumentiert damit eine frühe Selbstkritik des Ingenieurs am Raubbau der Natur. Als Beleg für die These von Webers vgl. z.B. die Schrift des auch mit einem Roman (»Aus meiner Bergwerkszeit« v. 1911/ 1922) hervorgetretenen Ingenieurs Ludwig Brinkmann: Der Ingenieur. Frankfurt am Main 1908 ( = Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Band 21), S. 20f. und S. 31: Technik sei ein »Guerilla«-Kampf gegen die »ewig widerspenstige« Natur, bei dem der Ingenieur wie ein »Mineurkrieger« vorgehen müsse. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887). In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 5. München 1980, S. 357. Und Kraft: System (Anm. 7), S. 117. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Band I. Frankfurt am Main 1959 ( = Bloch, Gesamtausgabe, Band 5), S. 811. Und Kraft: System (Anm. 7), S. 25. Vgl. Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962.
glaubt, Goethes »Faust« als hinlänglich bekannt voraussetzen zu können, wird das Drama so gerne ideologisch überhöht und seine Auslegung ins Weltanschauliche ausgeweitet. Einer scheinbar vertrauten literarischen Figur werden die eigenen Wunsch- und Wertvorstellungen in den Mund gelegt - daß sie dadurch, genauer betrachtet, kritisiert werden, zeigt erst die Konfrontation von Text und Rezeption. Eine weitere Beobachtung am Text vermag diese Deutung zu stützen. Naturbeherrschung ist im ganzen V. Akt auch immer zugleich als Naturzerstörung angelegt. Natur ist für Faust nur eine beliebig verfügbare und daher hemmungslos verwertbare Größe, unerträglich wird sie für ihn, wenn sie sich nicht diesem berechenbaren Objekt-Verhältnis unterwirft. Deshalb fühlt er sich von den im Einklang mit einer so weit wie möglich sich selber überlassenen Natur lebenden Philemon und Baucis aufs äußerste provoziert (deren »Düne« und »offene Gegend« kontrastieren scharf zu Fausts »Ziergarten« und »gradgeführtem Kanal«): 51 »Die wenig Bäume, nicht mein eigen, / Verderben mir den Weltbesitz« (V. 11241f.) - Faust läßt die Idylle kurzerhand vernichten. Noch aufschlußreicher ist: Technik wird, nicht erst von ihren modernen Kritikern, 52 als Naturbeherrschung im zweifachen Sinne begriffen. Zur Unterwerfung der außermenschlichen Natur korrespondiere die Disziplinierung der ausführenden Arbeiternatur; die Schlacht gegen die Natur erfordere eine militärisch strenge Reglementierung (vgl. Kap. 111,7 und IV, 4). Insbesondere der Ingenieur der Frühzeit, der noch nicht über Energie-Maschinen, sondern nur über die massenhafte Ausnutzung menschlicher Muskelkräfte verfügte, bewährte seine Durchsetzungs- und Führungsqualitäten gegenüber dem >reinen< Typ des tüftelnden Erfinders dadurch, daß er als hervorragender Organisator »ganzen Heeren von Arbeitern« seinen Willen aufzwingt; »der Ingenieur war ein Heerführer, ein Organisator von Menschenkraft.« (C. Matschoß). 53 Max Eyth etwa sieht in diesem großen Ingenieur den legitimen Nachfahren der antiken Pharaonen, die - Feldherren und Priester zugleich - »mit autokratischer Gewalt« über »Land und Wasser [...] regierten.« 54 Erstaunlich - und für die Heroisierung der Faust-Gestalt sehr wichtig - ist, wie viel Licht die Techniker-Interpreten in diesem Rückblick auf vormoderne Produktionsverhältnisse finden. Die durch »die Vorausgeeilten, [...] die 51
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Das hat schon Erich Trunz in seinem Kommentar zur Hamburger Goethe-Ausgabe hervorgehoben ( a . a . O . , Band 3, S. 611). Vgl. jetzt auch Schlaffer: Faust (Anm. 25), S. 130. Otto Ullrich: Technik und Herrschaft. V o m Hand-Werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion. Frankfurt/M. 1979 (zuerst 1977) ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 277), S. 103 u . ö . Conrad Matschoß: Große Ingenieure. Lebensbeschreibungen aus der Geschichte der Technik. München 1937. Zit. nach Ulrich Troitzsch und Gabriele Wohlauf (Hg.): Technik-Geschichte. Historische Beiträge und neuere Aufsätze. Frankfurt/M. 1980 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 319), S. 85-91. S. 87. Max Eyth: Der Kampf um die Cheopspyramide. Eine Geschichte und Geschichten aus dem Leben eines Ingenieurs (1902). Heidelberg und Stuttgart o. J. ( = Eyths Gesammelte Schriften, Band 3), S. 17f.
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Führer, die der Masse den Weg zeigen« (M. Kraft), 55 geleistete »Vergeistigung« der bewußtlos-mechanisch erledigten Massenarbeitsleistung gilt als Vorgriff auf deren endgültig-durchgreifende Befreiung; die Maschine als »eiserner Arbeiter« werde auch dem menschlichen Arbeiter eine Leitungsfunktion als »Aufseher« bringen (U. Wendt). 56 Der Ingenieur als »Heerführer« und Feldherr der Arbeit ist also für die Kulturwerttheoretiker eine selbstverständliche und gern gebrauchte Argumentationsgröße (C. Matschoß); 57 nur so könne die »geistige« Arbeit die »mechanische« anleiten und diese selber, dadurch »vergeistigt«, sich zur großen Kulturleistung aufschwingen. »Faust II« liest sich nun in der Tat partienweise wie ein Vorgriff auf solche heroisierenden Vorstellungen (»Daß sich das größte Werk vollende, / Genügt ein Geist für tausend Hände« - V. 11509f.); der Techniker findet darin einen Epochenumschwung gespiegelt: Faust ist der »Weise der Neuzeit«, der »das Glück [...] in der geistigen Leitung mechanischer Arbeitskraft findet.« (U. Wendt). 58 Übersehen ist dabei nur, daß der literarische Text die Kehrseite des Ideals mit äußerster Drastik schildert. Oder genauer: als äußerste Zuspitzung eines den Anforderungen der Zukunft nicht mehr genügenden Arbeitsmodelles mit abgrundtiefer Ironie karikiert. Verständlich wird das, wenn man die realgeschichtlichen Vorbilder für Fausts Ingenieurtätigkeit beachtet und den Bau seiner Dämme und Kanäle nicht, wie die Baucis-Figur vorschlägt, mit dem Wirken der Magie erklärt. Die Interpretation tut gut daran, die konkurrierenden Erklärungsmuster zuerst zu sondern, indem sie genau darauf achtet, wer jeweils spricht. Wie sich die unterschiedlichen Sehweisen zueinander verhalten, wird später geprüft. Wenn ich recht sehe, lassen sich dann drei Erklärungsmodelle ausmachen, die man auf zwei grundverschiedene Arbeitsmodelle beziehen kann: Philemon und Faust sehen, jeder auf seine Weise und sehr viel genauer als bisher beachtet, die Technik massenhafter Handarbeit am Werke; Baucis setzt dagegen die »Feuergluten« (V. 11129) einer ins Gewand der Magie gekleideten, weil die Vorstellungskraft der Zeitgenossen übersteigenden, >übernatürlichen< neuen Energietechnik. Fausts Kanalbau und sein Kolonisierungswerk gehören, folgt man zunächst einmal der ersten Erklärungsrichtung, in den Kontext einer bis weit in das 19. Jahrhundert hineinreichenden Baugeschichte, in deren Verlauf die »Intelligenz« der großen Ingenieure und die »physische Kraft der Völker« die »gigantischen Werke« der »modernen Zivilisation« erzwingen mußten (Alexander von Humboldt). 59 (Vgl. Bild 7 bis 9, die die Größenordnungen veranschaulichen, in denen 55 56 57 58 59
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Kraft: System (Anm. 7), S. 13. Wendt: Technik (Anm. 6), S. 321 und 27. Matschoß: Ingenieure (Anm. 53), S. 87. Wendt: Technik (Anm. 6), S. 321f. Alexander von Humboldt: Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent. Fait en 1799, 1800,1801,1802,1803 et 1804 par Al. de Humboldt et A. Bonpland (1814-1825). Neudruck hg. ν. Hanno Beck. Band 1-3. Stuttgart 1970 ( = Quellen und Forschungen zur Geschichte der Geographie und des Reisens 8-10). Band 3, S. 129f. und 134.
Bild 8: Thomas Telfords Kaledonia-Kanal zwischen Inverness und Fort William in Schottland (1822 vollendet). Abgebildet sind Hafenbecken und Kanaleinfahrt in Inverness. Nach Anthony Burton: The Canal Builders, 1972 (vgl. unten, Anm. 61), S. 119 (nach einer Bildvorlage der Institution of Civil Engineers). Holstein- und Kaledonia-Kanal sind beide für Humboldt Beispiele für »ozeanische Verbindungen, ausgeführt in sehr großem Maßstab«. Der Nicaragua-Kanal (vgl. S. 20, Bild 4) sollte daher doppelt so groß wie der Holstein-Kanal, aber insgesamt kleiner als der Kaledonia-Kanal ausfallen. Der Kanal hätte dann, nach Humboldts eigenen Berechnungen, Schiffe mit einer Tonnage von 300-400 Tonnen aufnehmen können; für den augenblicklichen Stand des Welthandels sei das ausreichend (vgl. Humboldt: Relation historique, Bd. 3 [S. 31, Anm. 59], S. 131-134). die Z e i t g e n o s s e n G o e t h e s ihre technischen Projekte entwarfen; vgl. dazu auch B i l d 3 . ) D e r d a m p f g e t r i e b e n e Schaufelbagger hatte, obgleich in den Lehrbüchern der Z e i t bereits erwähnt, 6 0 d e n S p a t e n , die Spitzhacke und den Schubkarren des Erdarbeiters (Bild 10 ufld 11) vor allem aus K o s t e n g r ü n d e n n o c h k e i n e s w e g s durchgreifend e r s e t z e n k ö n n e n . 6 1 G o e t h e hat die entsprechenden D a r l e g u n g e n A l e x a n d e r v o n H u m b o l d t s z u m B a u e i n e s Kanals in Mittelamerika nachweisbar g e l e s e n u n d auch exzerpiert. 6 2 W e n n die Philemon-Figur Fausts Bautätigkeit 60
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D[avid] Gilly und J[ohann] A[lbert] Eytelwein (Hg.): Praktische Anweisung zur Wasserbaukunst. Vier Hefte (in versch. Aufl.). Berlin 1808-1820. Zweites Heft 18162, S. 46ff. Oder: Reinhard Woltmann (Hg.): Beyträge zur Hydraulischen Architectur. 4 Bde. Göttingen 1791-1799, Bd. 4, S. 220 bis 225. Geändert hat sich die zurückhaltende Bewertung des Dampfbaggers bei G[otthilf] Hagen: Handbuch der Wasserbaukunst. Dritter Theil, Bd. 4. Berlin 18652 (die erste Auflage 1841ff. war mir nicht zugänglich). Vgl. Anthony Burton: The Canal Builders. London 1972, S. 190f., zum 1822 vollendeten Caledonian Canal, der für das frühe 19. Jahrhundert den fortgeschrittensten Stand der Kanalbautechnik repräsentierte: »the effect of machinery was minimal«. Eingesetzt wurden dampfgetriebene Bagger zum Ausschachten der Schleusenbecken. Eine zeitgenössische Schilderung wird a . a . O . , S. 119ff., zitiert. Die Lektüre Goethes und seine Exzerpte sind bezeugt durch: Goethes Tagebücher. 10. Band. Weimar 1899 ( = Weimarer Ausgabe, III. Abt.), S. 94: »von Humboldt dritter Teil. Abends dasselbige fortgesetzt, zu meinen Zwecken ausgezogen.« (21. 8.1825). Vgl. auch die Eintragung zum 20. 8. 1825. Der dritte Band der »Relation historique« erschien
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Bild 9: Schleuse bei Forchheim im Ludwig-Kanal zwischen Donau und Main. Stahlstich von A. Marx. Nach F. Schultheis: Der Ludwigskanal. Nürnberg 1847. Goethe hat das schon von Karl dem Großen versuchte Projekt einer Verbindung zwischen Rhein, Main und Donau mehrfach bedacht (vgl. zu Eckermann am 29. 2. 1824 und 21. 2. 1827). - Aufgrund seiner von Anfang an zu knappen Abmessungen konnte sich der Kanal nicht lange gegen die Konkurrenz der neuen Bahnlinien behaupten. So betrug seine durchschnittliche Tiefe nur 0,95 m bis 1,46 m gegenüber 6,67 m im Kaledonia-Kanal; der Schleswig-Holstein-Kanal war für Schiffe mit einem Tiefgang von 2,6 m bis 3,25 m befahrbar. Heute gelten die Überreste des alten Ludwig-Kanals, vor dem Hintergrund des neuen Rhein-Donau-Kanals, als Kulturdenkmale und Bestandteil einer >heilen< Naturlandschaft. 1825. A m 22.8. 1825, a . a . O . , heißt es: »Später für mich im Garten. Alexander von Humboldt über die Verbindung des östlichen und westlichen Meeres. Vorschläge zu Canälen an verschiedenen Puncten.« Humboldt hat diese Vorschläge unterbreitet in: A l e x a n d r e ] de Humboldt: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Tom. 1-5. Paris 1811. Tom. 1, S. 223-261. (Eine zweite Auflage erschien 1825-1827.) In: ders.: Relation historique (Bd. 3 [Anm. 59], S. 117), die Goethe gerade studierte, wird auf den »Essai« verwiesen. Goethe hat auch die folgenden Darlegungen Humboldts zu diesem technischen Großprojekt gelesen. Vgl. Goethes Tagebücher. 11. Band. Weimar 1900, S. 22: »Ich fuhr fort das Humboldtische Werk über Cuba zu lesen. Besonders dessen Aufsatz über den Durchstich des mittelamerikanischen Isthmus.« (17. 2. 1827). Und a . a . O . , S. 24: »Abends allein, von Humboldts Cuba. [.. .]· Durchstich des Isthmus.« (21. 2. 1827). A m 7. 3. 1825 ( a . a . O . , S. 26) ist sogar ein Zusammenhang zwischen dem Nachdenken über »den projectierten Canal durch's mittlere Amerika« und der Arbeit am Faust (»Einiges an Faust«) belegt. Allerdings wird man diese Bemerkung wohl nicht auf die Ausführung des 5. Aktes beziehen dürfen, die die Forschung in die Jahre 1828/29 und vor allem 1830/31 verlegt (vgl. Jörn Göres in: Goethe: Faust. Zweiter Teil. Frankfurt/M. 19813 [= insel taschenbuch 100], S. 441f. und 455ff.). Die »Intention auch dieser Szenen« ist freilich, nach Goethes eigenem Zeugnis, viel älter ( a . a . O . , S. 457). Und das Arbeitsmodell massenhafter Handarbeit war das damals allgemein übliche; daß es Goethe bei der Ausarbeitung der Szenen vor Augen stand, ist von daher nicht zu bezweifeln.
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Bild 10: Eine englische Kanalmünze, die als Zahlungsmittel für die Kanal-Arbeiter ausgegeben wurde, zeigt deren charakteristisches Werkzeug. Foto von Richard Snell, nach Robert Harris: Canals and their Architecture. London 1969, S. 19.
kommentiert, wird das realgeschichtliche Arbeitsmodell als Hintergrund denn auch deutlich sichtbar: »Kluger Herren kühne Knechte / Gruben Gräben, dämmten ein, / Schmälerten des Meeres Rechte, / Herrn an seiner Statt zu sein.« (V. 11091«.)·
Die Kunst des Ingenieurs spielt also in dieser Lesart nicht deshalb in Fausts Kulturwerk hinein, weil er schon über künstlich erzeugte und rentabel verfielfältigte Energiequellen gebietet, sondern weil er die an ihrer Stelle erforderlichen Techniken einer massenmobilisierenden Arbeitsorganisation für sich einsetzt. Philemons Worte lassen genau erkennen, wie Faust dabei verfährt: geistige Leitung (»kluge Herren«) und ausführende körperliche Tätigkeit (der »kühnen Knechte«) sind streng voneinander getrennt. Realhistorisch gesehen ist damit das Problem des Ingenieurs gemeistert, der noch nicht in ausreichendem Maße über die Maschine als Mittel zur künstlichen Kraftentfaltung verfügte; das effizient organisierte Menschenmaterial war noch lange unentbehrlich. 63 Sogar das durch das Epitheton »kühn« signalisierte Selbstbewußtsein des Arbeitenden entspricht einem technikgeschichtlich verbürgten Faktum (der englische Erdarbeiter etwa wußte, was seine physische Schwerstarbeit wert war), 64 und auch die »klugen Herren« aus Vers 11091 sind ein Indiz dafür, wie genau sich Faust (in dieser Sehweise) auf ein exakt identifizierbares historisches Vorbild stützt; als vom Kaiser belehnter Territorialherrscher hat er offenkundig an weitere Subunterneh-
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D a ß noch der tatsächliche interozeanische Kanalbau des 19. Jahrhunderts mit diesem Problem zu kämpfen hatte, wird deutlich bei Gerstle Mack: The Land Divided. A History of The Panama Canal and Other Isthmian Canal Projects. N e w York 1944, S. 340 und 371. »A tragic waste of human life« wird beklagt. Der Stoßseufzer eines Ingenieurs war 1886 noch nicht in Erfüllung gegangen: »Machines do not mind malaria; [ . . . ] and . . . they are never tired.« (S. 340). Burton: Canal Builders ( A n m . 61), S. 201. D i e Bezahlung der Erdarbeiter war, verglichen mit der eines Fabrik- oder Landarbeiters, für damalige Verhältnisse sogar relativ gut.
Bild 11: Faschinenbau bei einer Stromcoupierung. Kupferstich aus J. A. Eytelwein: Praktische Anweisung zur Bauart der Faschinenwerke [...]. Berlin 1818:. In der »Einteilung der Faschinenwerke« (Kap. 1) werden auch »Buhnen« (vgl. »Faust II«. V. 11545) dazu gezählt.
mer delegiert. 63 Die Wasserbaukunst der Zeit spricht in solchen Fällen vom »Entreprise-Bau«, bei dem »man einem oder einigen Unternehmern« die Ausführung einzelner Bauvorhaben »für eine bestimmte Summe übergibt«. 66 Das Herbeischaffen der zumeist sich zum Tagelohn verdingenden »Civilarbeiter« war dann deren Problem. Über den Umgang mit der »rohen Menschenklasse« der Erdarbeiter wird daher in den Handbüchern der Zeit immer wieder gehandelt, wobei sowohl vor »übertriebener Strenge oder gar [...] Eigensinn« als auch vor »zu großer Nachgiebigkeit« gewarnt wird. Bedenken müsse man schließlich, daß sich die Tagelöhner »als freiwillige Menschen« auf der »abgesteckten Baugrube« einfänden (so ein maßgeblicher Autor und königlich-preußischer Baurat nicht ohne Stolz im kurz zuvor bürgerlich reformierten Preußen). 6 7 65
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Zur bis ins Mittelalter zurückreichenden Rechtsgeschichte solcher »Vergabungen« vgl. Julius Gierke: Die Geschichte des deutschen Deichrechts. I.Teil. Breslau 1901 ( = Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, 63. Heft), S. 124-155. Ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert wird geschildert v. A. W. Geerkens: Jean Henri Graf Desmercieres. Flensburg 1960. Vgl. dazu auch S. 69f. dieser Arbeit. Wiebeking: Wasserbaukunst (Anm. 14), Bd. 4, 1804, S. 63. Eytelwein: Praktische Anweisung (Anm. 60), H. 4 (1808), S. 25 und H. 1 (1809 2 ), S. 53. Die Anfänge kollektiver Organisation (durch die Wahl von Sprechern oder »Schachtmeistern« bei der »Festsetzung der Preise für die Erdarbeit«) werden dagegen nicht ohne Bedenken registriert; gewählt werden, so heißt es, »die brauchbarsten und am meisten unterrichteten Arbeiter«. A . a . O . , H. 4, S. 26.
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Für die Anleitung zur Massenarbeit verfügte das Zeitalter des Absolutismus allerdings über ein anderes älteres, an der Wende zum 19. Jahrhundert aber noch gerne in Anspruch genommenes Mittel. Die mit äußerster Härte durchgesetzte Disziplinierung der Söldnerheere zum reibungslos funktionierenden Truppenkörper 68 schuf, zumindest auf dem europäischen Kontinent, für manchen Experten immer dann ein kostensenkendes, wiewohl arbeiterintensives Organisationsvorbild, wenn es darauf ankam, ausgreifend-großräumige Planungen technisch ambitionierter Monarchen schnell zu verwirklichen; militärisch diszipliniert und an einen niedrigen Sold gewöhnt, arbeite der Soldat ebenso effizient wie preiswert, »vorausgesetzt, daß die Offiziere ihre Mannschaft so zum Fleiße anhalten, wie es eigentlich sein sollte.«69 Ein mit Goethe befreundeter Autor, der Baurat Carl Friedrich von Wiebeking, empfiehlt denn auch, die Soldaten »Compagnien- und Bataillons-Weise« und im »Accord« arbeiten zu lassen70 - Goethes Baucis sagt, daß Fausts Knechte »Hack' und Schaufel, Schlag um Schlag« (V. 11124), das heißt nach einem exakt vorherbestimmten Arbeitsrhythmus, führen mußten. Derart gedrillt kommen die von Ingenieuren, die wie Offiziere auftreten, befehligten »Arbeiterbataillone« noch in Bernhard Kellermanns »Tunnel«Roman (1913) zum Einsatz (vgl. Kap. IV, 4). Die Durchsetzung solch' straffer Arbeitsdisziplin war jedoch schon im 18. Jahrhundert nicht ohne Reibungen möglich. So kam es einerseits vor, daß Soldaten aufgeboten wurden, um »Kayers« (das sind Karrenarbeiter), die höhere Löhne erstreiken wollten, niederzuhalten. 71 Anderseits wurde empfohlen, von Anfang an das auf Staatskosten unterhaltene Militär auch in Friedenszeiten zu »nützlichen« Werken zu verwenden, statt daß »der Staat am Ende (einen) Canalbau übernehmen oder solche Vorteile bewilligen muß, die ihm eben so theuer als die Anlage des Canals selbst zu stehen kommen.« (v. Wiebeking). 72 Im kriegsmäßig gedrillten Soldaten sahen daher sogar die Kritiker des Absolutismus die am besten geeigneten Erdarbeiter; »große Straßen, Dämme und dergleichen öffentliche Werke anzulegen, dazu werden (sie) in Friedenszeiten genützt« (Adolph Frh. Knigge); zur Art der verlangten Arbeit heißt es kurz und bündig: »Handarbeit schändet niemand.« 73 Arbeiterheere in der
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Vgl. allgemein Werner Sombart: Krieg und Kapitalismus. München und Leipzig 1913 ( = W. Sombart: Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus, Zweiter Band), S. 28f. Wie weit dieses Arbeitsmodell tatsächlich wirksam war, darüber kann und will ich hier nicht befinden; zumindest für das englische Beispiel erscheint das als wenig wahrscheinlich (vgl. Burton: Canal Builders, Anm. 61). Wichtig ist für meinen Zusammenhang die ideologische Faszination, die von diesem Modell ausgeht. Wiebeking: Wasserbau (Anm. 14), Bd. 4, S. 67. A . a . O . , S. 68. Vgl. z.B. Goslar Carstens: Deichwesen und Deichrecht. In: L. C. Peters (Hg.): Nordfriesland. Heimatbuch für die Kreise Husum und Südtondern. Husum 1929, S. 545-575. S. 553f. Wiebeking: Wasserbau (Anm. 14), Bd. 5, 1807, S. 359 u. 366. Vgl. auch Bd. 1, S. 49f.; Bd. 4, S. 62ff. So Adolph Freiherr Knigge im Entwurf einer Sozialutopie in: Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien. 2 Bde. Göttingen 1791. Bd. 2, S. 233.
Größenordnung von mitunter bis zu 30000 Mann kamen so im Frankreich Ludwigs XIV. zum Einsatz; auf den Bauplätzen der Renaissance wurde sogar noch der Scharfrichter wie selbstverständlich in Bereitschaft gehalten. 74 Daß militärisch disziplinierte Arbeiter große Sümpfe entwässern und Festungen verteidigen können, davon erzählt noch Gustav Freytag. 75 Die bis ins 20. Jahrhundert hineinreichende Metapher von der »Arbeits-« oder »Produktionsschlacht« will derart mitunter ziemlich rückhaltlos militarisierte arbeiterintensive Organisationsmodelle zum Zwecke ideologischer Massendisziplinierung lebendig erhalten; daß moderne faschistische Staaten darauf verfallen, verwundert nicht. 76 Wieder will ich nicht behaupten, daß die bisher zitierten Techniker-Interpreten mit ihrer These vom Ingenieur als Gebieter über Menschen bewußt darauf abzielten; allerdings haben sie, sofern sie sich auf den Faust-Text beziehen, ein zu ihrer Zeit endgültig überlebtes Modell etwas leichtfertig aktualisiert. Die Konfrontation von Text und Rezeption kann in diesem Fall eine spezifische Verführbarkeit technischer Intelligenz sichtbar machen, deren praktische Auswirkungen die realgeschichtliche Analyse vielfältig dokumentiert. 7 7 Man kann also eine wichtige technische Lehrmeinung der Goethe-Zeit mit den Worten eines sachkundigen Zeitgenossen wie folgt zusammenfassen: ohne die »großen stehenden Heere« der frühen Neuzeit hätten die erforderlichen Arbeiter für die herausragenden Bauwerke »der ersten Mächte Europens« »gar nicht [...] herbeigeschafft werden können.« (v. Wiebeking). 78 Fausts eigene Erläuterungen weisen exakt in diese Richtung. Vor allem der Faust, der die Verwirklichung seiner letzten Utopie vorantreibt, löst sein Arbeiterproblem, indem er wie ein absolutistischer Gewaltherrscher vorgeht. Unübersehbar wird das, als er gelobt, auf magische Hilfen zu verzichten (V. 11403ff.); vor der »Natur« jetzt »ein Mann allein« (V. 11406), vermag er nur noch »Knechte«, und zwar massenhaft, aufzubieten (V. 11503ff.). Der Ingenieur-Unternehmer des 19. Jahrhunderts wäre eher an deren Einsparung interessiert, und die jedwede menschliche Arbeitsleistung vervielfachende Arbeitsmaschine böte ihm die Mittel dazu. Faust also spricht hier noch nicht wie ein hart kalkulierender konkurrenzkapitalistischer Unternehmer, der bestrebt sein müßte, durch die >Freisetzung< von Arbeitern seine Lohnkosten herabzumindern. Fausts Aufforderung an Mephisto (»Arbeiter schaffe Meng' auf Menge« V. 11 552) würde den privatkapitalistischen Bourgeois in ein äußerst 74 75
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Straub: Bauingenieurkunst (Anm. 16), S. Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman S. 631, 655, 656. Nationalsozialistische Vorstellungen zum »den Maschineneinsatz einzuschränken«. nieure im Dritten Reich. Düsseldorf und Droste Taschenbücher Geschichte 7219),
156f. und 133. in sechs Bänden (zuerst 1855). Stuttgart 1977, Autobahnbau liefen zunächst darauf hinaus, Vgl. Karl-Heinz Ludwig: Technik und IngeKönigstein 1979 (zuerst 1974) ( = Athenäum/ S. 308.
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Vgl. Ludwig: Technik und Ingenieure im Dritten Reich. Die dabei wirksamen antikapitalistischen Ressentiments lassen sich anhand der faschistischen Rezeption von Bernhard Kellermanns »Tunnel«-Roman von 1913 herleiten; ich hoffe, dies im Kapitel IV zeigen zu können.
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Wiebeking: Wasserbaukunst (Anm. 14), Bd. 4, S. 66f.
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ruinöses Projekt verwickeln; der Interpret müßte den Geschäftssinn der literaris c h e n Leitfigur b e z w e i f e l n . L e i s t e n kann sich ein s o l c h e s V e r f a h r e n nur, wer (wie Friedrich II.) über e i n e » h o h e V o l k s z a h l « als »die wahre Kraft e i n e s Staates« gebietet. 7 9 Wasserbauuntern e h m u n g e n v o n der G r ö ß e n o r d n u n g und Vielfalt, w i e sie Faust v o r s c h w e b e n , galten aus d i e s e m Grund o h n e h i n lange nur als staatliche o d e r doch zumindest staatlich b e g ü n s t i g t e U n t e r n e h m u n g e n für sinnvoll; ein Betätigungsfeld für den völlig auf sich allein gestellten r e n d i t e b e w u ß t e n E i n z e l u n t e r n e h m e r waren sie (sieht m a n einmal v o n d e m ganz anders gelagerten englischen Beispiel ab) 8 0 nach M e i n u n g einflußreicher E x p e r t e n in der R e g e l nicht. A l s förderlicher erschien d e m g e g e n ü b e r die u n b e g r e n z t e A l l m a c h t im »Wink E i n e s R e g e n t e n « , der über ein großes u n d in sich g e s c h l o s s e n e s Territorium verfügte. 8 1 D a ß das »Wort« eines absolutistischen »Herren« ( V . 11502) ausreicht, einen gewaltigen Kanal in kürzester Frist e n t s t e h e n zu lassen, entsprach n o c h im frühen 19. Jahrhundert einer weit verbreiteten Vorstellung der Z e i t g e n o s s e n . 8 2 D e r die Begrenztheit seiner Mittel b e d e n k e n d e B ü r g e r stützte sich d a g e g e n auf die E i s e n b a h n als Verkehrsmittel. 8 3 W a s s e r b a u k u n s t war, auch nach M e i n u n g der heutigen Technikgeschichte, o h n e ™ Zitat aus dem politischen Testament Friedrichs II. von 1768. Zit. nach Herbert Hassinger: Politische Kräfte und Wirtschaft 1350-1800. In: Handbuch der Deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Hrsg. v. Hermann Aubin und Wolfgang Zorn. Band 1: Von der Frühzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1981, S. 608-657. S. 614. 80 Vgl. J. R. Ward: The Finance of Canal Building in Eighteenth-Century England. Oxford 1974, S. 18, 27-29. 73-78. 81 Vgl. Büsch (Anm. 34), Bd. 2, S. 104 (hier das Zitat, als Beispiel dient die Autokratie in Rußland) und S. 117-128. Alexander von Humboldts Ansichten decken sich mit Büschs Einschätzungen. E r schlägt vor, die Kanalgesellschaft für den mittelamerikanischen Kanal sollte ihre Aktionäre unter solchen Regierungen und Privatleuten suchen, die es sich leisten könnten, nicht nur auf den Gewinn, sondern auch auf den »Einfluß, den Kanäle für die Industrie und den Nationalwohlstand« im allgemeinen ausübten, zu achten. Vgl. Humboldt: Relation (Anm. 59). Bd. 3. S. 142f. O b die vor allem von Büsch und Wiebeking vertretene »etatistische« Lehrmeinung noch den tatsächlichen Verhältnissen entsprach, darüber kann und muß ich hier nicht befinden. Wichtig war, daß Goethe diese Lehrmeinung kannte und - neben der staatlich inspirierten Hinzuziehung privater Unternehmer (s.o. S. 34f.) - in seinem Text verwertete. Die Frage, ob der Canal du midi »rentabel« war, blieb zum Beispiel noch unter den Kanal- und Eisenbahn-Anhängern des frühen 19. Jahrhunderts umstritten. Vgl. Gottfried Zöpfl: Die Idee eines Main-DonauKanals von Karl dem Großen bis auf Prinz Ludwig von Bayern (793-1893). München 1894, S. 9f. Vgl. zum grundsätzlichen Problem auch weiter Georg Schanz: Der DonauMain-Kanal und seine Schicksale. Bamberg 1894 ( = Studien über die bayrischen Wasserstraßen [2]), S. 26 u. 51f. 82
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Vgl. ein Huldigungsgedicht von 1836 auf den bayrischen König Ludwig I., in dem auf dessen Engagement für den Main-Donau-Kanal angespielt wird: »Du sprachst, und bald, nach wohlbedachtem Willen, / Wo jetzt wir Wald und Berg und Schluchten seh'n, / Da werden Schleußen (!) leeren sich und füllen, / Belad'ne Schiffe zieh'n und Flaggen weh'n. - « Zit. nach Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. München 1982, S. 42. So jedenfalls das Argument der Eisenbahn-Anhänger. Vgl. Schanz: Kanal (Anm. 81), S. 25. Zöpfl: Idee (Anm. 81), S. 17ff. Vgl. weiter Mahr: Eisenbahnen, S. 41f., 66, 96 u . ö .
die »Zusammenfassung größerer Räume unter einen Herrscherwillen« nicht denkbar. 84 Sie ist das klassische Betätigungsfeld für den absolutistischen Territorialherrscher, der mit der Landgewinnung und »Peuplierung« den Wohlstand seiner Staaten mehren möchte. Friedrich II. von Preußen, Peter I. von Rußland oder Napoleon hatten für die Zeitgenossen in vorbildlicher Weise den »mächtigen Einfluß (der Wasserbaukunst) auf den Wohlstand der Menschen« erkannt und genutzt. 85 Faust, der im V. Akt stets auch als Herrscher auftritt, trägt dem auf seine Weise Rechnung: Souverän gegenüber dem Kaiser und über einen Untertanenverband ohne jede ständische Differenzierung oder gar Privilegierung gebietend, 86 erinnert er an einen absolutistischen Territorialherrscher von allerdings imperialem Zuschnitt (Mephisto: »So sprich, daß hier, hier vom Palast / Dein Arm die ganze Welt umfaßt.« V. 11225f.). Herrscher- und Unternehmerrolle sind von Anfang an miteinander verknüpft (Faust: »Herrschaft gewinn' ich, Eigentum!« V. 10187). Schon die Eroberung des Welthandels hatte Faust mit Mephisto zusammen von oben her eingeleitet (V. 11167ff.), und auch in der Organisation der Massenarbeit folgt er dem machtstaatlichen Vorbild. An einen schlichten privaten Unternehmer, der sich wie in England mit vielen anderen zu einer Kanalgesellschaft zusammenschlösse, 87 erinnert in Fausts Handlungsweise nichts. Mit einem Wort: Faust kalkuliert nicht, sondern er befiehlt, und zwar die rückhaltlose Menschenausnutzung. So wie er könnte nur ein absolutistischer Gewaltherrscher sprechen,
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Die Streitfrage, ob man Eisenbahnen oder Kanäle bevorzugen sollte, war in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts noch durchaus offen. Vgl. Karl-Heinz Manegold: Technik, Handelspolitik und Gesamtstaat. Brandenburgische Kanalbauten im 17. Jahrhundert. In: Technikgeschichte 37 (1970), S. 101-129. S. 106. Dieser Sachverhalt gilt auch noch für das frühe 19. Jahrhundert. So konnte der große Wasserbau-Ingenieur Tulla erst im durch Napoleon geschaffenen Großherzogtum Baden seine weitreichenden Pläne durchsetzen. Vgl. Arthur Valdenaire: Das Leben und Wirken des Johann Gottfried Tulla. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 81 ( N F 4 2 ) (1929), S. 337-364, 588-616. Z G O R 83 (NF 44) (1931), S. 258-286. Wiebeking: Wasserbaukunst (Anm. 14), Bd. 2. 1799, S. I; Bd. 5, 1807, S. X. Zur Idee - nicht zur historischen Realität - absolutistischer Staatssouveränität ohne ständische Zwischeninstanzen vgl. z . B . die Hobbes-Interpretation bei Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. 2. Auflage. Freiburg und München o. J. [1969] (zuerst 1959), S. 18-31. Wie vorsichtig die aufgeklärtabsolutistischen Rechtskodifikationen zumal in Deutschland tatsächlich verfahren mußten, zeigt ders.: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Stuttgart 19752 (zuerst 1967) ( = Industrielle Welt, Band 7), S . 2 4 f „ 52-77. D a ß die Überlegenheit des englischen Beispiels gerade darauf beruhe, daß es technische Großprojekte von der Allmacht wie Willkür eines Einzelnen unabhängig mache, betont Charles Dupin: Voyages dans La Grande-Bretagne. 3 Bde. Paris 1820-1824. Bd. 3,1 ( = Teil V) 1824, S. 76-94. Bes. S. 76f., 89. Goethe kannte diesen Reisebericht (vgl. Goethe Tagebücher, Bd. 11 [Anm. 62], am 15.4., 19.4.; 20.6., 22.6., 25.6. 1827, S. 46ff. Und Goethes Tagebücher. Band 12. 1901, am 29. 1.1829). Faust verweist nur indirekt auf dieses Beispiel: sein Arbeitsmodell wird ad absurdum geführt. Die zukunftsträchtigen sozialgeschichtlichen Bezüge sind also, ebenso wie die technikgeschichtlichen, ironisch vermittelt. Vgl. unten S. 42.
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der über ein schier unerschöpfliches Menschenreservoir gebietet. Die Aufforderung an Mephisto erinnert nicht von ungefähr an die Soldatenaushebung im Absolutismus (»Bezahle, locke, presse bei!« V. 11554). Absolutismus und eine ins Gigantische gesteigerte vormoderne Technik bedingen also recht genau einander. Eine »relative Unschärfe« der Konturen (so Th. Metscher) wird man nur annehmen müssen, wenn man den industriellen Kapitalismus des Maschinenzeitalters hier überall wiederfinden möchte. 88 Auch daß man dann die am Ende des vierten Akts erfolgte Belehnung Fausts durch den Kaiser im Hinblick auf den fünften Akt für gegenstandslos erklären muß, 89 obwohl darauf angespielt wird (V. 11115ff.), befriedigt nicht. Die technikhistorischen Erläuterungen können also schon für den Wortsinn der »Faust«-Dichtung eine größere Plausibilität beanspruchen. Sogar die Frage, inwiefern Faust als »Revolutionär auftritt, ist jetzt eindeutig klärbar. Fausts technische Pionierleistung ist von Anfang an mit dem Handlungsmodell eines antiständischen und nur insofern revolutionär zu nennenden Absolutismus verbunden. Goethes lebenslange und von seinen Zeitgenossen häufig gescholtene Faszination für Napoleons propagandistisches Konzept einer Verbindung von Absolutismus und bürgerlicher Revolution macht diese historischen Anspielungen verständlich. 90 Daß Fausts Idee einer Herrschaft über das Meer von einem in sich geschlossenen, nach außen hin geschützten und von oben herab geeinten riesigen Landterritorium aus, direkt auf den Kampf Napoleons gegen das seebeherrschende England anspielen könnte, darüber haben »Faust«-Forscher und -Liebhaber noch am Ende des 19. Jahrhunderts in der Literaturbeilage einer großen Tageszeitung diskutiert. 91 Größere Beachtung hat ihr Vorschlag allerdings nicht gefunden. Entscheidend ist jedoch auch jetzt nicht die Zurückführung des literarischen Modells auf ein einziges realhistorisches Vorbild. Worauf es mir ankommt, das ist der Nachweis, daß nur eine die historische Vorstellungswelt des Autors ernstnehmende Interpretation die über dessen Zeit hinausweisenden Signale des Textes entdecken kann. 92 Bürgerliche Wirtschafts- und Verkehrsformen waren 88
So Thomas Metscher: Faust und die Ökonomie. Ein literarhistorischer Essay. In: Vom Faustus bis Karl Valentin. Der Bürger in Geschichte und Literatur. Berlin (West) 1976 ( = Argument-Sonderbände AS 3), S. 28-155, S. 85: »Die gesellschaftlichen Implikate sind häufig nicht ohne einen gewissen Zwang aus der Symbolstruktur der poetischen Bilder herauszupräparieren.« Vgl. weiter S. 119ff. 89 Metscher a . a . O . , S. 83. Für Metscher hat die Anspielung der V. 11115-18 keinen Aussagewert mehr. Vgl. Heinz Hamm: Der Theoretiker Goethe. Grundpositionen seiner Weltanschauung, Philosophie und Kunsttheorie. Kronberg/Ts. 1976 (zuerst 1975) ( = Literatur im historischen Prozeß, Bd. 5), S. 118-129. " H. Ulmann, Johannes Proelß und Α. M.: Faust und Napoleon. In: Allgemeine Zeitung. München, Beilage vom 18. 7. 1892, 28. 7. 1892 und 17. 8. 1892. 92 Mein Interpretationsvorschlag steht damit in einem klaren Gegensatz zu allen inhaltsund formbezogenen Versuchen, die den letzten Akt des »Faust«-Dramas mit den Erscheinungsformen (Th. Metscher) oder dem Marxschen begrifflichen Erklärungsmodell genuin prc'vaikapitalistischer Verkehrsformen (H. Schlaffer) in Verbindung bringen. Woran Goethe offenkundig viel eher denkt, das ist eine von oben her durchgesetzte und
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jedenfalls nach allem, was wir bisher wissen, für Goethe nur in Verbindung mit behutsam autoritären bis gewaltsam absolutistischen Ordnungsmächten denkbar. 93 Odoardos Statthalterschaft in »Wilhelm Meisters Wanderjahren« etwa regiert gleichfalls »mit unumschränkter Vollmacht«. 94 Einen »Kapitalismus der freien Konkurrenz« hat Goethe abgelehnt. 95 Wer meint, Goethe sei hiervon in der direkten literarischen Darstellung von Fausts Kolonisierungswerk abgewichen, wer also glaubt, Faust gehe schon wie ein privatkapitalistischer Unternehmer zu Werke, der verfehlt die ironische Pointe des Textes. Wortsinn, szenischer Kontext und technikgeschichtlicher Hintergrund erlauben eine andere, sehr zeitspezifische Deutung. Stets wird - so lautet jedenfalls Fausts Wunsch (V. 11502ff.) - am Ende des V. Aktes von Hand (»Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten«) und deshalb massenhaft (»Mann für Mann«) gearbeitet. So schnell wie möglich (»rascher Fleiß«), in riesigen Größenordnungen (»größtes Werk«), unter scharfer Kontrolle (»strenges Ordnen«), in einfacher Arbeitsteilung (»des Herren Wort« genügt für die »Knechte«) soll dadurch hergestellt werden, wozu man heute ein »ganzes Heer von Schaufelbaggern, Bulldozern, Traktoren« aufbieten müßte - nicht nur für den modernen Betrachter eine auf den ersten Blick befremdliche Vorstellung. Am historischen Ursprungsort dieses Arbeitsmodells galt die theologisch-magische Anleitung durch den Gott-König Pharao als unverzichtbar. 96 Der Hinweis Max Eyths (s.o. S. 29) erwies sich folglich als prinzipiell richtig. Auch Humboldt sieht die »moderne« Baukunst noch auf die »einfachsten (Arbeits-)mittel« der Pyramidenerbauer angewiesen, deren Leistungsfähigkeit er gleichwohl noch für steigerungsfähig hält. 97 Das daran angelehnte fiktive Handlungsmodell Fausts führt demzufolge nicht derart direkt, wie mitunter vermutet, ins Maschinenzeitalter. Thema ist noch nicht die Maschine, sondern die ihr vorausgehende Mechanisierung des Menschen, und gezeigt wird damit die spezifische Modernität im vormodernen Arbeitstypus. 98 Der Sozialwissenschaftler von von einem >Herrscher< dauerhaft kontrollierte Eigentumsgesellschaft, und der Code Napoléon gäbe dazu eine historische Anregung. Zur Bedeutung Napoleons, auch für G o e t h e , vgl. Hans Christoph Binswangen Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft anhand von Goethes Faust. Mit einem Nachwort von Iring Fetscher. Stuttgart 1985, S. 53f. Binswanger sieht allerdings Napoleon-Anspielungen nur in der Rolle des Kaisers im Drama entfaltet; Faust ist für ihn >der< Unternehmer schlechthin, vgl. a . a . O . , S. 34ff. u . ö . In dieser Sehweise erscheint von »Napoleons Tun« nur »dessen rückwärts gewandte, anachronistische Seite« (S. 54). 93 94 95 96
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Hamm: G o e t h e ( A n m . 90), S. 128. Vgl. Drittes Buch, 12. Kapitel. Zitat nach Goethe: Wanderjahre (Anm. 138), S. 409. Hamm: G o e t h e ( A n m . 90), S. 126f. Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt/M. 1977 (zuerst 1966 und 1964) ( = fischer alternativ 4001), S. 219, 230. Bes. S. 221f. D a s Zitat S. 229. Vgl. Humboldt: Relation ( A n m . 59), Bd. 3, S. 139. Humboldt erwähnt nur Dampfpumpen, die den Wasserstand in den Schleusenbecken regulieren können. Bei Schlaffer: Faust ( A n m . 25), S. 131-134, werden die Organisationsprinzipien eines privatwirtschaftlichen Industriekapitalismus zu direkt in diesen vormodernen Arbeitstyp
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heute hat sie wie folgt charakterisiert: der einzelne soll wie ein Maschinenteil und alle zusammen müssen wie eine riesige Maschinerie arbeiten; die lebende nehmen darin den Funktionsmechanismus der toten Maschine vorweg." Deshalb - so läßt sich folgern - will Faust nicht Menschen, sondern deren verwertbare Einzelteile (»tausend Hände« V. 11510) aufbieten, und Mephistos Lemuren sind der ebenso zynische wie höhnische Kommentar des Teufels dazu. Denn: erst zertrümmert und dann wieder künstlich zusammengeflickt, läßt sich die menschliche Natur zwar zur mechanisch-reflexhaften, weil bewußtlosen Erledigung stets wiederkehrender Teilarbeiten abrichten; die aus »Bändern, Sehnen und Gebein / Geflickten Halbnaturen« (V. 11513f.) sind, in dieser Hinsicht, einerseits das kongeniale Angebot des Teufels - anderseits aber ist der Erfolg der Dressur nicht sehr vielversprechend: zur Lemure verstümmelt, taugt der Mensch nicht einmal zur Aushebung der vorab vermessenen Gräben (»Warum an uns der Ruf geschah, / Das haben wir vergessen.« V. 11521f.). Im fiktiven sind die Prämissen des historischen Arbeitsmodells nicht nur gespiegelt, sondern bis ins Übermaß gesteigert und dadurch ad absurdum geführt: die derart ausgepreßte Arbeiternatur bricht schlicht in sich zusammen. Goethes Wort von den sehr »ernst gemeinten Scherzen«100 gilt, wenn ich recht sehe, auch für die technikhistorischen Prognosen seines Textes. Die entscheidenden zukunftsweisenden Bezüge sind, ebenso wie die entsprechenden sozialgeschichtlichen Anspielungen, ironisch vermittelt: Fausts Scheitern signalisiert indirekt, aber gerade deshalb um so nachdrücklicher die Notwendigkeit zur Herstellung der später mit Hilfe technischer Apparaturen künstlich erzeugten Energie-Ballung, und deren Ausbreitung allein konnte die Allgewalt eines Herrscher-Unternehmers überflüssig machen. Die »Feuergluten« der Magie (V. 11129) werden gerade in dieser streng historisierenden Lesart als Vorschein einer zwingend gebotenen technischen Revolution sichtbar, die die Arbeitsschlacht gegen die Natur auf einem ganz neuen Niveau inszeniert (V. 11123ff.). (Vgl. Bild 12 und 13, die die tatsächlich ausgeführten interozeanischen Kanalprojekte zeigen.) Goethe war mit Sicherheit über die Anfänge der »Feuermaschinen« im englischen Kanalbau informiert (vgl. Bild 14).101 Die politökonomische Erklärung für das soziale Projekt »Herrschaft hineinprojiziert. Das Einzelbild der »Lemuren« verweist jedenfalls noch nicht darauf; an ihrer Spitze steht gerade nicht der »Unternehmer-Ingenieur« (S. 132). Wie genau »an einer >noch< menschlichen Konstellation das Bild der Maschine« aufscheint, wird dadurch verwischt. 99 Vgl. Mumford (Anm. 96), S. 222. 229. '""Goethe an Sulpiz Boisserée am 24.11.1831. Zit. nach Goethes Briefe, Bd. 4 (vgl. Anm. 133), S. 460-462. S. 461. Zur Ironie in der Schlußszene vgl. generell Stuart Atkins: Irony and Ambiguity in the Final Scene of Goethe's Faust. In: Gottfried F. Merkel (Ed.): On Romanticism and the Art of Translation. Studies in Honor of Edwin Hermann Zeydel. Princeton 1956, S. 7-28. 101 Den Vorbildcharakter der »englischen Doks, Schleußen, Canäle und Eisenbahnen« erwähnt Goethe etwa, wenn er den Hafenbau in Bremerhaven kommentiert. Vgl. den Brief v. 10. 2.1829, zit. in: Kasten (Hrsg.): Goethes Bremer Freund (Anm. 20), S. 395. Die Verwendung von Dampfbaggern hat Goethe bei Dupin: Voyages, Bd. 3,2
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Bild 12: Ausbaggerungsarbeiten im Suez-Kanal (1869). Nach Asa Briggs: Iron Bridge to Crystal Palace. Impact and Images of the Industrial Revolution. London 1979, S. 198.
über die Natur< wird freilich schon in der Ausnutzung natürlicher Hilfsmittel (Mensch, Tier, Wasser und Wind sind hier zu nennen) mit aller Schärfe sichtbar. Denn, rücksichtsloser als Mephisto könnte man Technik als effizienzorientierte Strategie zur Kräftevervielfältigung nicht ans einstweilen noch machtstaatlich reglementierte Kapitalverhältnis anschließen: „Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, / Sind ihre Kräfte nicht die meine? / Ich renne zu und bin ein rechter Mann, / Als hätt' ich vierundzwanzig Beine.« (»Faust« I, Szene 5, V. 1824ff.). Diese »rein geistige Überlegung, die >Berechnungerklärenden< DenkGesetze in seinem Sinne ausnutzt. >Natur< wird nicht nur ausgeforscht, sondern ihr wird - wie ein Ingenieur und Schriftsteller um 1908 schreibt - ein »vorbedachter Wille zweckmäßig und höchst subjektiv« aufgezwungen. 47 Hauke Haien ist, wie der Faust des zweiten Teils, darin ein Leitbild für das finale Naturverhältnis des technischen Denkens der Neuzeit. Die Modernität des vormodernen Typus ist auch hier offensichtlich. Differenzen zeigen sich dagegen bei der Frage, auf welche Aufgaben sich Hauke Haien überhaupt einläßt, der über den Koog, den er dem Meere abgewinnen will, sagt: »nicht groß just; aber . . . (wie er gleich darauf ausführt) welch treffliches Weide- und Kornland mußte es geben und von welchem Werte.« (S. 69f.). Die meisten Anteile am Deichvorland hatte er zuvor schon gekauft. Im Gegensatz zu Goethe wird bei Storm also ein sehr viel kleineres, überschaubares und daher auch ertragversprechendes Landgewinnungsunternehmen thematisch. Storms Held ist Landbesitzer und nicht etwa auch noch, wie Faust, Landesherr. Oder, um das für die Faust-Figur charakteristische Leitwort entsprechend abzuwandeln: am Boden interessiert das »Eigentum« und nicht auch eine damit verknüpfte Territorial-»Herrschaft« (vgl. »Faust« II V. 10187). 48 Mit der Landgewinnung allein aber konnte nur noch »ein spezieller Theil der Hydrotechnik« (so ein Experte des späten 18. Jahrhunderts) in den Blick des Autors kommen. 4 9 Auf den Bau von Häfen und Kanälen läßt sich Hauke Haiens handfest-begrenzter Erwerbssinn gar nicht erst ein. Worauf Storms Leitfigur hinaus will, vermag allein die Konfrontation mit den jetzt maßgeblichen realgeschichtlichen Vorgaben weiter zu erhellen. 5 " Storm verwertet das historische 46
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Alois Riedler: Schnellbetrieb. Erhöhung der Geschwindigkeit und Wirtschaftlichkeit der Maschinenbetriebe. Berlin o.J. [1899], S. IX. »Maschinenwesen« und »Ingenieurkunst« sind im Original gesperrt. Ludwig Brinkmann: Der Ingenieur. Frankfurt am Main 1908 ( = Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Band 21), S. 20f. Der Vergleich mit dem Naturforscher (vgl. Frühwald: Hauke [Anm. 19]) entschlüsselt also den symbolischen Gehalt der Leitfigur nicht genau genug. Vgl. Kapitel I, 2 der vorliegenden Arbeit. Johan Nicolai Tetens: Reise in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus in Briefen [ . . . ] . Erster Band [mehr nicht erschienen]. Leipzig 1788, S. III. D i e landeskundliche Forschung hat für den nachfolgenden Analyseschritt gut vorgearbeitet. Anders als im »Faust«-Kapitel erübrigten sich daher umfangreichere eigene Recher-
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Vorbild einer zunehmend erwerbsorientierten Landgewinnung und nimmt ihm zugleich seine privatkapitalistische Stoßrichtung. Technikgeschichte erhält - literarisch gespiegelt - ein neues soziales Substrat. Denn, wenn Hauke Haien seine ersten Kenntnisse im Deichbau einem »holländischen Euklid« (S. 10) verdankt, so meint das mehr, als daß er, wie ein neuerer Textkommentator schreibt, eine der damals gebräuchlichen »zahlreichen populären Bearbeitungen« 5 1 benutzt hat: von Holland her gelangten die Methoden einer in den Grenzen der Zeit privatkapitalistisch motivierten Landgewinnung auf zweierlei Wegen bis nach Nordfriesland. Zum einen konnten schleswig-holsteinische Landesherren findige Deichbauingenieure und Wasserbautechniker aus den Niederlanden als »Teichmeister« und Deichgrafen zur Durchführung ihrer häufig freilich noch viel zu wagemutigen Projekte gewinnen. Johann Claussen Rollwagen ist ein in den Quellen zwar nicht unumstrittenes, aber durch die Stormforschung sehr prominent gewordenes Beispiel; 5 2 er selber verstand sich, wie auch sein Sohn Claas-Jansen Rollwagen, allerdings trotz seines unternehmerischen Geschicks noch weniger als Deichbau-Unternehmer, sondern eher als leitender Ingenieur. 53 Zum anderen gelang es den schleswig-holsteinischen Landesherren, eine zwar »landfremde«, aber kapitalkräftige »Unternehmerschaft« mit Hilfe weitreichender Privilegien zur Landgewinnung auf deren eigenes Risiko zu veranlassen. 54 Die einheimische Bevölkerung wurde dann, da durch Sturmflutschäden verarmt und zu keiner eigenen Deicharbeit mehr fähig, kurzerhand zu Gunsten ausländischer »Interessenten«, die man auch »Partizipanten« nannte, enteignet. 55 Storm war über solche Vorgänge mit Sicherheit aus einer seiner Quellen informiert. 56 Land wurde in diesen Fällen, wie ein gelehrter Zeitgenosse bemerkt hat, vor allem deshalb gewonnen, weil es beim Verkauf an landsuchende Bauern »einen chen. Ich stelle Holander, B a r z Deutung. A u c h scher Nachweis 51 52
53 54
daher im folgenden die Ergebnisse der Arbeiten von Geerkens, L a a g e , und Lohraeier zusammen, gebe ihnen allerdings eine eigene zugespitzte einige neue nuancierende Quellenzitate sind eingebaut. Ein bibliographizur landesgeschichtlichen Forschung erfolgt jeweils am Orte.
W a g e n e r ( H g . ) : Storm ( A n m . 5), S. 11. Dieter L o h m e i e r : Rollwagen - Claußen - Coott. Personalhistorische Anmerkungen zur Geschichte des Deichwesens in Nordfriesland im frühen 17. Jahrhundert. In: Nordfriesisches Jahrbuch, Neue Folge 16 ( 1 9 8 0 ) , S. 7 5 - 9 0 . L o h m e i e r , a . a . O . , S. 79. Fischer: Landgewinnung ( A n m . 4 4 ) , S. 145.
55
A . W . Geerkens: J e a n Henri G r a f Desmercieres. Flensburg 1960, S. 63ff. u . ö .
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V o r allem M . Antonius Heimreich: E r n e w r e t e Nordfresische Chronick. Schleßwig 1668. Diese Quelle hat zuerst ausgewertet Karl L a a g e ( H g . ) : Storm ( A n m . 5 ) , S. 134f. Das Titelblatt der von mir benutzten Ausgabe aus der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek hat eine leicht abweichende Schreibung. Z u vergleichen ist insbesondere Heimreich: Chronick, S. 383ff., über einen Vorgang aus Nordstrand aus dem J a h r e 1653. Heimreich, der als Pastor eine landesherrliche Enteignungsverfügung von der Kanzel herab verlesen mußte, spricht von »bitteren zehren der alten landeigener« (S. 3 8 8 ) . A u c h T h e o d o r Storms sachverständiger Ratgeber in Deichangelegenheiten, der »ProvinzialBau-Inspector« Christian E c k e r m a n n (so Storm an Paetel am 16. 12. 1887, zit. nach W a g e n e r : Schimmelreiter [ A n m . 5], S. 4 5 ) hat über diese und vergleichbare Vorfälle berichtet, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein - Lauenburgische Geschichte 21 ( 1 8 9 1 ) , 23 ( 1 8 9 3 ) , 25 ( 1 8 9 5 ) und 2 6 (1896).
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hohen Preis« brachte. 5 7 Daß die beim Deichbau »anzuwendenden Mittel [...] nicht nur practicabel und gut, sondern auch profitabel« sein müssen, galt - so ein Standardwerk der Zeit - als unumstritten. 5 8 »Überflüssige und unnöthige Kosten zu vermeiden«, war eines der »Fundamental-Prinzipien« in den eben zitierten »Anfangs-Gründen der Deich« und Wasser-Baukunst«. 59 Allerdings hatten die Teilhaber aus den Niederlanden oder auch aus Frankreich keineswegs stets dauerhafte Erfolge zu verbuchen; manches ihrer Unternehmen ist in den Sturmfluten der Nordsee untergegangen. 60 So hat der frühkapitalistische Erwerbstrieb, zumal wenn er überhitzt spekulative Züge annahm, keineswegs von vornherein den deichbautechnischen Fortschritt beflügelt. Beim Eindeichen wurde, wie ein Gelehrter der Zeit beklagt hat, 61 häufig die jeweils billigste Ausführung bevorzugt. »Windige Spekulanten« gab es auch in dieser >Gründerzeit< des Deichbaus; 6 2 daß - wie die Deichbaukunde der Zeit ausgeführt hatte die schwächste »Dossirung« zur teuersten Lösung werden konnte, 6 3 hatten viele Unternehmer offenkundig nicht beherzigt. Das vergleichsweise aufwendige, aber dauerhafte, abgeflachte Deichprofil kam daher erst im vorsichtig kalkulierten und ohne alle Hast ausgeführten Eindeichungswerk des ebenso vorausblickenden wie kapitalkräftigen Finanzmannes Jean Henri Graf Desmercieres zum endgültigen Durchbruch (vgl. Bild 19); sein Biograph weist ihm deshalb eine »Sonderstellung« zu. 64 Technische Mittel und Geldkapital erreichten, wenn man der Überlieferung glauben darf, bei diesem Desmercieres ihre jeweils größtmögliche Wirkung. Das neue Deichprofil war technisch und finanziell gesehen ein Gewinn. Kulturwerttheoretiker hätten hier folglich ihre These von der »doppelten Wirtschaftlichkeit« (J. Schenk) einer technisch effizient und finanziell ertragreichen Ingenieurtätigkeit bestätigt finden können. 6 5 Deren »sittlicher« Wert (J. Schenk) wäre darüber hinaus äußerst eindrucksvoll dokumentiert. 6 6 Denn, Desmercieres Ziel war es nach seinen eigenen Worten, für die, »denen das Glück nicht so wohl gewollt, [...] eine bequeme Gelegenheit zu einem vorteilhaften Etablissement zu verschaffen«. 67 Deshalb erleichterte er mit Hilfe langfristiger Abzahlungsverträge, der 57 58
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Tetens: Reise ( A n m . 49), S. 133. Albert Brahms: A n f a n g s = G r ü n d e der D e i c h = und Wasser=Baukunst. Anderer [Zweiter] Theil. Aurich 1773 2 , S. 2 (Hervorhebungen im Text). Für Fischer: Landgewinnung (vgl. A n m . 44), S. 130, galt Brahms bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts »als der unbestrittene Lehrmeister im Deich- und Wasserbau«. Brahms, a . a . O . , S. 17. Geerkens: Desmercieres (Anm. 55), S. l l l f . Und: Eckermann in: Z f S H L G 21 (1891), S. 221f., 232ff.; und in: 26 (1896), S. 3-14. Tetens: Reise ( A n m . 49), S. 134f. Barz: Schimmelreiter (vgl. A n m . 29), S. 93 und 88. Zur Zeit Storms vgl. oben S. 57f. Brahms: A n f a n g s = G r ü n d e (Anm. 58). Erster Theil 1767 2 , S. 81. Geerkens: Desmercieres (Anm. 55), S. 82. Julius Schenk: D e r Ingenieur. Das Wesen seiner Tätigkeit, seine Ausbildung: wie sein soll und wie sie ist. München und Berlin 1919, S. 6. A.a.O., S.6. So ein Aufruf von Desmercieres zum Landkauf aus dem Jahre 1770, zit. bei Geerkens: Desmercieres ( A n m . 55), S. 113ff. S. 114. Vgl. zum folgenden weiter a . a . O . , S. 81.
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Vom mittelalterlichem Stackdeich zum neuzeitlichen Seedeich Nach Unterlagen
des Marschenbauamtes
•
Husum
«J
f.
Stockdeich out All- Norstrand 159e (nach Petreus )
h b e ^ b m B 13 H B B U B f c » _ - _ n.i -)
μ Z
Rosendeich des Sieverstlether Kooçe» I6I0 (noch Dvchgrof Roii»ogen )
-V 31,30
^
5.
Deich des Sänke - Nisten- Hooçe* 192A/26
Bild 19: Theodor Storms Briefnotiz, er »werde nächstens auch einen Koog eindeichen können« (16. 12. 1887 an den Verleger Paetel) zeigt, wie intensiv er sich mit der Geschichte des Deichbaus befaßt hat. Bildvorlage nach Geerkens: Desmercieres (S. 68, Anm. 55), S. 76. Einrichtung v o n Pacht- und Erbpachthöfen die Bildung von Eigenbesitz in nur w e n i g begüterten H ä n d e n . A u c h H a u k e Haien will, wie bereits erwähnt, daß den »kleinen Leuten« durch seinen »neuen D e i c h [ . . . ] eine Wohlhabenheit ins Haus wächst« (S. 97). D i e s ideelle Motiv verbindet die fiktive mit der realhistorischen Landgewinnung. D i e Sonderstellung ihres Initiators wird allerdings in der literarischen Fiktion ganz anders hergeleitet. Auffällig ist, daß Storms Held seine rechtzeitig erworbenen A n t e i l e am neuen K o o g (vgl. S. 70) weder verkauft noch verpachtet oder sonst irgendwie veräußert. Er lebt vielmehr nach vollbrachtem Werk »einsam 70
s e i n e n Pflichten als H o f w i r t w i e als Deichgraf« (S. 111). D e r neu g e w o n n e n e B o d e n bleibt, mit Storms e i g e n e n W o r t e n aus einer anderen N o v e l l e gesprochen, » t o t e s Kapital«. 6 8 H a u k e H a i e n s Erwerbstrieb, der ihm, als er d e n Plan z u m E i n d e i c h e n f a ß t e , »wie ein R a u s c h [ . . . ] ins Gehirn stieg« (S. 70), ist also am E n d e , s o zeigt sich n u n m e h r , begrenzt auf d e n Horizont einer n o c h vorkapitalistischen, weil besitzaristokratisch verfaßten D o r f - » G e m e i n s c h a f t « . 6 9 W e r hier der beste sein will, der braucht e b e n d e n größten Grundbesitz.™ D e r »rechte Mann« (S. 52) m u ß auch der »reichste M a n n « (S. 65) im D o r f sein. D i e G r ö ß e d e s B e s i t z e s zeigt also an, was einer für die G e m e i n s c h a f t leistet. 7 1 » A r b e i t « u n d ( B e s i t z - ) » G e n u ß « (F. T o n n i e s ) 7 2 m ü s s e n einander entsprechen. D e r » B a n n ( d i e s e s ) alten bäuerlichen H e r k o m m e n s « wird auch in anderen N o v e l l e n Storms deutlich. 7 3 W e r dort z u m Beispiel glaubt, R e i c h t u m m a c h e alles käuflich, 68
Theodor Storm: Zur »Wald- und Wasserfreude«. In: Storm: Werke (Anm. 73), Band 3, S. 148. w Lothar Köhn: Dialektik der Aufklärung in der deutschen Novelle. In: D V j s 51 (1977), S. 436-458. S. 442. weist zu Recht auf den Einfluß des Storm-Freundes Ferdinand Tönnies hin. Dessen »Gemeinschaft und Gesellschaft« (zuerst 1887) hatte Storm vom Vf. erhalten. Allerdings wird bei Köhn nicht deutlich, worin die von Tönnies herausgestellte »Reziprozität« von »Arbeit« und »Genuß« (zit. nach Tönnies: Gemeinschaft [Anm. 72], S. 10) bestehen könnte. Im folgenden wird versucht, das zu zeigen. 711 Storm hat damit einen Wesenszug vormodernen Besitzdenkens mit erstaunlicher Präzision getroffen. Der Ethnograph Bronislaw Malinowski hat in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea exakt dieselben Merkmale gefunden: »Besitz [ist] äußeres Zeichen und Wesen der Macht«. Denn: »Besitzen heißt Ansehen genießen«, und die »natürliche Begierde nach Besitz« wird dadurch nicht geschmälert, sondern stimuliert. Vgl. Bronislaw Malinowski: Argonauten des westlichen Pazifiks. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von MelanesischNeuguinea. Mit einem Vorwort von James G. Frazier (zuerst 1922). Aus dem Englischen von Heinrich Ludwig Herdt. Hg. v. Fritz Kramer. Frankfurt am Main 1979 ( = B. Malinowski: Schriften in vier Bänden, hg. v. F. Kramer. Band 1). S. 94 und 129. Als Äquivalent zur Verpflichtung zur Freigebigkeit ( a . a . O . , S. 129f.) läßt sich bei Storm anführen, daß Hauke Haien seinen neuen Deich nicht nur für sich, sondern auch für die »kleinen Leute« anlegt (S. 97). 71
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Auch ererbter Besitz ist dann legitimiert, wenn er anzeigt, was die Vorfahren einst leisteten; der »Großvater« war dann »einer, der das Land geschützt hat« (S. 28). Wenn sich jedoch der »Familienverstand [verschleißt]« (S. 28). wird es Zeit für einen Wechsel. Hauke Haiens Vorgänger als Deichgraf ist so ein »Dummkopf« (S. 23). Das Gelächter der Dorfbewohner über ihn zeigt an. daß die Hierarchie des Besitzes hier, wie auch im Falle des dümmlichen Ole Peters, der »Deichgevollmächtigter« (S. 102) wird, vorübergehend versagt hat (vgl. S. 39f.). Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 1963 (Nachdruck der 8. Aufl. v. 1935), S. 10. Vgl. weiter a . a . O . , S. 11: »So kann als idealer Fall gedacht werden, daß dem größeren Genüsse aus dem Verhältnisse die schwerere Art von Arbeit für das Verhältnis, d.i. die größere oder seltenere Kräfte erfordernde Art entspreche: und folglich dem geringeren Genüsse die leichtere Arbeit.« (Hervorhebungen im Text). Theodor Storm: Draußen im Heidedorf. In: ders.: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. von Peter Goldammer. Berlin ( D D R ) und Weimar 1982' (zuerst 1956/1967). Bd. 2, S. 328. Die folgende Zitate stammen aus dieser Erzählung und aus »Renate«. Als Nachweis vgl. a . a . O . . Bd. 3, S. 89, 94 und Bd. 2. S. 328. 71
wird als »überthätig« bezeichnet. Gewinn gegen bäuerliches Herkommen und ihre traditionsverhaftete Rangordnung einzusetzen, gilt als »Hoffart«. Wer sich dieser »eisernen Notwendigkeit« nicht beugt, richtet sich entweder selber (»Draußen im Heidedorf«) oder wird als Atheist oder Hexe verfolgt und zugrundegerichtet (»Renate«), So nimmt es nicht wunder, daß das Prinzip, der »klügste Mann im Dorf« (S. 38) müsse ein besitzender Mann sein, auch im »Schimmelreiter« gilt; außer Kraft gesetzt wird es nur bei der Zulassung Hauke Haiens zum Eisschießen. Er darf, wiewohl nur Kleinknecht und noch ohne eigenen Besitz, mittun, weil alle ihn in Wahrheit schon für den wirklichen Deichgrafen halten (S. 39f.). Die Hierarchie des Besitzes hatte nicht flexibel genug reagiert. Im Grundsatz aber setzt Haukes tatsächlicher Aufstieg zum Deichgrafen die alte Rangordnung wieder ins Recht; durch Erbschaft und Einheirat (S. 52) vermehrt er seinen Grundbesitz rechtzeitig. Sein Vater und seine spätere Frau Elke hatten entsprechend vorgesorgt. Hauke Haiens technisches Projekt überschreitet also noch nicht die Grenzen zur frühkapitalistischen Natur-Verwertung. Technische »Arbeit« (S. 73) schafft hier >WerteNatur< zum beliebig verfügbaren Mittel für ihre jeweiligen Absichten. So vermessen Haukes »Gedanken« einerseits den neuen Koog nach »Demat«, einem »Landmaß in der Marsch« (S. 69 und 147),74 indem sie eine Deichlinie über das »grüne Vorland« (S. 69) ziehen, die einen besonders gefährlichen Priel abdämmt - sein »Kopf« kennt aber anderseits auch die »andere Kalkulation« eines rechtzeitigen Einkaufs »in dem dunklen Gefühle eines künftigen Vorteils« (S. 70). Die Konstruktion des neuen Profils und das Zusammenzählen der bereits erworbenen Anteile gehen gleichermaßen im »Kopf« eines Helden (S. 69) vonstatten, der es eben »versteht zu rechnen« (S. 94). Sein ärgster Widersacher Ole Peters sieht sich nicht zu Unrecht von Hauke Haien, unter Ausnutzung einer vorübergehenden Notlage, übervorteilt; »er hatte schon die meisten Anteile, da wußte er auch mir die meinen abzuhandeln« (S. 94). Hauke Haiens Rat, wenigstens kurz vor Baubeginn noch preiswert einzukaufen, kennzeichnet ihn endgültig als spekulationsfreudigen Charakter: »du hörst es ja, es sind genug, die jetzt die ihrigen Anteile um ein Billiges feilbieten, nur weil die Arbeit ihnen jetzt zuviel ist.« (S. 94). Daß der Mechanismus von Kauf und Wiederverkauf die Grenzen der Dorfgemeinschaft verläßt, ist allerdings, wie gezeigt, undenkbar.
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So Storms eigene Worterklärung, zit. nach Wagener (Hg.): Storm (vgl. Anm. 5), S. 21.
In dieser Hinsicht hat Theodor Storms literarisch inszenierte Landgewinnung ihre realhistorischen Entsprechungen in einer Epoche, die dem privatkapitalistischen Deichbau zeitlich vorausging; bis ins 17. Jahrhundert hinein waren noch die alten Deichverbände der Marschenbewohner, gestützt auf Mandate und Resolutionen ihrer Landesherren, tätig. 75 Der absolutistische Staat hatte, bevor er den Deichbau entweder selber übernahm oder an finanzkräftige Privatleute delegierte, die Landgewinnung der alten Deichkorporationen zunehmend kontrolliert und dadurch gleichsam verstaatlicht. Hauke Haiens Kosten-Nutzen-Kalkül verweist explizit in diese Richtung; was die Bauern aus dem neuen Koog »herausbringen«, werde die »ungeheuren« Herstellungskosten bei weitem übertreffen; denn, »wir arbeiten ja selbst und haben über achtzig Gespanne in der Gemeinde, und an jungen Fäusten ist hier auch kein Mangel.« (S. 72). Nicht die Schubkarre, die eingeführt wurde, um die Beschäftigung landfremder Deicharbeiter rentabel zu gestalten, 76 sondern die älteren »einspännigen Sturzkarren«, die die Bauern des Dorfes in Storms Erzählung bei »einigen Stellmachern« in Auftrag geben müssen (S. 91), symbolisieren einen noch gemeinschaftlich betriebenen Deichbau. 77 Haukes »Plan über die Verteilung der Arbeit und Kosten« rechnet vor allem mit der Eigenleistung aller direkten und indirekten Nutznießer (S. 93). Die Förderung der landesherrschaftlichen »Kasse« durch die »in kurzen Jahren« erwachsenden Abgaben aus den neuen »zirka tausend Demat« wird ebenso nicht vergessen (S. 74). 78 Deutlich wird anhand dieser Vermengung historischer Zeitbezüge, daß Theodor Storm nicht an geschichtlich authentischen Zeitbildern, sondern an der Stützung seiner Fiktionen durch wechselnde historische Einzelheiten interessiert war. Da diese Details aber anderseits für eine zwingend erscheinende Motivierung
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A u s eigener Kraft wurden die Korporationen schon seit dem 16. Jahrhundert nicht mehr aktiv. Vgl. Fischer: Landgewinnung (vgl. A n m . 44), S. 145. Über solche staatlich initiierten und geförderten Gemeinschaftsleistungen berichtet auch Storms Quelle Heimreich: Chronick ( A n m . 56). S. 153ff., 333f. u . ö .
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Lohmeier: Rollwagen ( A n m . 52), S. 78. So auch Klaus Klöckner: D i e Krise der Tradition in der Novelle Theodor Storms. Phil. Diss. Frankfurt/M. 1959 [Masch.], S. 110. Wenn der junge Hauke Haien die »Deicharbeit« (S. 13) als Arbeiter, der »Erde karren mußte« (S. 11). kennenlernt, so wird man annehmen müssen, daß er hier inmitten von Arbeitern tätig ist, die die Dorfgemeinschaft bezahlt hat. »Arbeiter« und »bestellte Aufseher« werden auch noch für Hauke Haiens eigenen Deichbau später engagiert (S. 105 und 95).
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Wenn bei Storm weiter der Deichgraf und einige wohlhabende Mitglieder der Dorfgemeinschaft als Erwerber eines der Gemeinde gehörenden Vorlandes auftreten (S. 70), so weist die Novelle auf Verhältnisse hin, wie sie sich erst wieder im 19. Jahrhundert in Grenzen einzustellen beginnen. Vgl. Geerkens: Desmercieres (Anm. 55), S. 85f. Theodor Storm hat als Notar 1867 für eine solche Interessengemeinschaft eine sog. »Beliebungsacte« aufgerichtet; das Land, das von einem privaten Eigentümer erworben wurde, sollte in »gemeinschaftlichen Besitz« übergehen. Vgl. Holander: Schimmelreiter ( A n m . 1), S. 81. Vorland und Anwachs wurden seit dem 17. Jahrhundert als ein »Regal« v o m jeweiligen Landesherren beansprucht. Vgl. Fischer: Landgewinnung (Anm. 44), S. 145. V o n hierher fällt auch auf Fausts Vorgehen neues Licht.
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seiner eigenen Geschichte unerläßlich waren, mußten sie, schon für sich genommen, jeweils plausibel wirken. Die Kenntnis der »kleinen Bausteine« ist für die Deutung der Novelle einfach wichtig. 79 »Schauplätze und Umgebung« oder »die Darstellung vorübergegangener Lebensformen« dürfen sich nur, wie Storm selber ausgeführt hat, »nicht als Hauptsache vordrängen«. 80 Der Autor hat daher in seiner Erzählung die Merkmale eines zwar noch gemeinschaftlich betriebenen, aber ansonsten weitgehend verstaatlichten Deichbaus so verarbeitet, daß die historisch verbürgten Einzelheiten die Ersetzung des auswärtigen Finanzkapitalisten durch die einheimische »hagere« (S. 17) Friesengestalt Hauke Haiens plausibel machen konnten. Daß die fiktive Figur in der Folgezeit dazu benutzt wurde, die technische Revolution im Deichbau zur friesischen Eigenleistung umzudeuten, 8 1 hat Storm vielleicht beabsichtigt, 82 aber ganz gewiß nicht vorhersehen können. Immerhin belegt diese Wirkung, wie vollkommen Storm die Illusion von Geschichte mit Hilfe sorgfältig dosierter historischer Anleihen zu erwecken vermochte. Hauke Haien als Symbolgestalt des friesischen Menschen und seiner nie erlahmenden Deicharbeit ist jedoch nicht nur eine Vertauschung von literarischer Fiktion und realer Geschichte; solche bis in die seriöse Forschung hineinreichenden Stilisierungen übersehen zudem, wie sehr schon der Text selber darauf hinweist, daß - so eine zeitgenössische Quelle - die »rechte teichzeit« 83 der Friesen vor allem durch die steil abfallenden Stack- und Bollwerkdeiche des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit repräsentiert wird (vgl. Bild 20). Denn Theodor Storm hat zwar keine Mühe gescheut, das im 19. Jahrhundert gerne hervorgehobene und auch von ihm unterstrichene »besondre Talent« der Friesen »für mathematische Wissenschaften« 84 in der Novelle zur Geltung zu bringen. Hauke Haiens Vater verkörpert den friesischen Hofbesitzer, dem man, wie Storm an Fontane schreibt, durchaus ein »Landmesserexamen« 85 zutrauen durfte (S. 9).
™ Laage (Hg.): Schimmelreiter ( A n m . 5). S. 139, betont anderseits zu Recht, daß man den »Schimmelreiter« nicht zur literarisierten Lokalgeschichte verkürzen dürfe. Vgl. dazu auch Storm selber in A n m . 80. 811 Storm an Erich Schmidt am 22. 5. 1883 und an Wilhelm Petersen am 14. 12. 1885. Zit. nach Laage (Hg.): Storm-Schmidt-Briefwechsel (vgl. Anm. 3). Bd. 2, S. 81. Und: Theodor Storm: Briefe. 2 Bde. Hg. von Peter Goldammer. Band 2: Briefe 1870-1888. Berlin ( D D R ) und Weimar 1984 2 (zuerst 1972). S. 342. Die Zitation der Autor-Intention soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir heute geneigt sind, die von Storm gegen die »kulturgeschichtlichen« Moden ins Feld geführte »Darstellung des rein Menschlichen« wiederum historisch einzuordnen. Storms Äußerung liest sich dann so. daß er menschliche Konflikte von relativer historischer Dauer gestaltet. D a ß seine ins 17. und 18. Jahrhundert zurückverlegte historische Chroniknovelle noch heute unser Interesse erregt, ist ein Beweis hierfür. 81 82 83 84
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Holander: Storm (vgl. A n m . 1), S. 16 und 114. So Barz: Schimmelreiter ( A n m . 29), S. 175f. Heimreich: Chronick ( A n m . 56), S. 151. Storm an Fontane am 16. 2. 1865. Zit. nach Theodor Storm - Theodor Fontane: Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jacob Steiner. Berlin (West) 1981, S. 124. A.a.O.
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Γ
Bild 20: Profil eines Stackdeichs nach einer zeitgenössischen Zeichnung aus dem Jahre 1688. Nach Otto Fischer: Nordfriesland. Berlin 1955 ( = F. Müller und O. Fischer: D a s Wasserwesen an der Schleswig-Holsteinischen Nordseeküste. 3. T., Bd. 2). S. 223.
Aber weder er noch die gleichfalls in der Novelle zitierte und auch historisch bezeugte Figur des Bauernmathematikers Hans Mommsen 86 können vergessen machen, wodurch sich der durchschnittliche Marschenbauer auszeichnet; ihn charakterisiert eine dumpfe »Trägheit« (S. 90), die sich damit begnügt, daß die tatsächlich schon längst veralteten Deiche bisher gleichwohl noch halten. Daß dieser Mangel an Kenntnis und »Aufklärung« eine »sachverständige Direktion des Deich- und Uferbaus« verhindert hat, ist auch realhistorisch bezeugt. 87 An eine Sturmflut denken die »Deichgevollmächtigten« der Novelle, von Ausnahmen abgesehen, lieber nicht (S. 88f.). Wie sehr sich die deshalb erforderliche staatliche Einflußnahme gerade in der zu Beginn des 17. Jahrhunderts geschaffenen Institution des Deichgrafen versinnbildlicht, wird in der Novelle sehr deutlich. Schon daß Hauke Haien ein »deichgräfliches Amtssiegel« (S. 74) führt, zeigt ihn - wie seine realhistorischen Vorbilder - als territorialstaatlichen Verwaltungsbeamten, dessen Titel die dem Amt verliehene landesherrliche Autorität bekräftigt. Daß diese landesherrlichen Amts1(6
Z u Hans Mommsen vgl. Claus Harms (Hg.): Schleswig-Holsteinischer G n o m o n , ein allgemeines Lesebuch insonderheit für die Schuljugend. Kiel 1843 2 , S. 43-46. Leider läßt Wagener (Hg.): Schimmelreiter ( A n m . 5), S. 56-58. beim Abdruck dieser Quelle Storms den letzten Abschnitt fort, der erhellen könnte, wie sehr Storms trotziger Einzelgänger Hauke Haien von dieser im Kern sehr durchschnittlichen Bauernfigur abweicht. So heißt es bei Harms u . a . : »er war ein Bauer und blieb einer in Essen, Trinken, Wohnung, Kleidung und Umgang. ( . . . ) Übrigens war Eigensinn seiner Seele so fremd, wie es Eigenutz war« ( a . a . O . . S. 45). *7 Tetens: Reise ( A n m . 49), S. 109 u. 120ff. Zum letzten längeren Zitat vgl. dens. in einer Denkschrift vom 20. 9. 1790, zit. nach Fischer: Landgewinnung (Anm. 44), S. 150.
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träger die alten Deichkorporationen zwar nicht auflösten, aber durch ihre neuen Befugnisse in ihrer praktischen Wirksamkeit außer Kraft setzten, wird gleichfalls an vielen Stellen bemerkbar. Die Fortdauer der herkömmlichen Institutionen und ihrer Funktionsträger, etwa der Deichgevollmächtigten, kaschierte nur deren reale Ohnmacht. So wird der Deichgraf Hauke Haien von den Deichgevollmächtigten weder gewählt noch nach vorangegangener Wahl von oben her bestätigt; eine solche, von Storms Quellen noch für das frühe 18. Jahrhundert bezeugte Beteiligung von »Gevollmächtigten«, wird in der Erzählung auffälligerweise nicht aufgegriffen. 88 Statt dessen ermittelt jetzt der Oberdeichgraf als zuständiger »Oberbeamter« (S. 66) im Gespräch mit dem ältesten »weißhaarigen Deichgevollmächtigten« und dem Pastor den aussichtsreichsten Kandidaten (S. 62f.). Die Ernennung Hauke Haiens durch den Landesherrn wird dann im Text zwar nicht erwähnt, entspräche aber den realhistorischen Gegebenheiten; die Deichgrafen wurden, so ein Historiker des Deichbaus, in diesen Fällen »ohne Mitwirkung der Deichinteressenten ernannt«. 8 9 Auch die fiktive Bedeichung wird wie ein - realhistorisch durchaus belegbarer - Verwaltungsakt vorbereitet: auf Antrag hin »bei der Herrschaft [ . . . ] durchgesetzt« (S. 90), wird sie dann durch einen landesherrlichen »Befehl« (S. 88) gegen die Widerstände der meisten Deichgevollmächtigten eingeleitet. Sogar daß sich die Landesherren gewisse Kontrollbefugnisse in der Bauaufsicht vorbehielten, 9 0 hat Storm beachtet: der Oberdeichgraf und »herrschaftliche Kommissäre« besichtigen den fertiggestellten Bau und weisen »Bedenken« der »Gevollmächtigten« gegen die Durchführung des neuen Deichprofils zurück (S. 109). Ich resümiere: wenn Storm, wie gelegentlich behauptet, den gründerzeitlichen Übermenschen als »kapitalistischen Unternehmer« (H. Vinçon) 91 hätte vorführen wollen, so bliebe es unverständlich, warum Hauke Haien den neu gewonnenen Boden nicht auch parzelliert und wie eine Ware veräußert (vgl. Bild 21). Erst damit erzielte der realhistorische Wegbereiter des deichbautechnischen Fortschritts seine ansehnliche Rendite. Die Historisierung der Erzählerperspektive zielt also nicht auf eine im Kern historische Problemstellung. Das Ergebnis ist vielmehr, paradoxerweise, eine idealtypische Problemformulierung mit je nach Bedarf und sehr freizügig ausgewählten historischen Anleihen. Denn, während realhistorisch gesehen die zur Technik der >reinen< Landgewinnung verkleinerte Wasserbaukunst erst durch ihre Verknüpfung mit einem gleichsam geläuterten, weil langfristig orientierten privatkapitalistischen Erwerbsmotiv die Hybris
88
Vgl. J. Laß: Sammlung einiger Husumischer Nachrichten. Flensburg 1750ff. Zweyte Fortsetzung 1752, S. 173f. A u f dem Deckblatt der Ausgabe in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek findet sich die Eintragung: »Th. Storm 1876«. 89 So H u g o Hinrichsen: Die Verwaltung der Deiche in den nordfriesischen Marschen vor 1800. In: Jahrbuch des Nordfriesischen Vereins für Heimatkunde und Heimatliebe 1925, S. 3-41. 9,1 Fischer: Landgewinnung (vgl. A n m . 44), S. 147. " So Hartmut Vinçon: Theodor Storm. Stuttgart 1973 ( = Sammlung Metzler, Band 122), S. 65.
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J\TL'i • im. fem.Çn>llversachlichte Daß nicht die Maschinentechnik des 19., sondern die Deichbaukunst des 17. und 18. Jahrhunderts der Novelle ihr Sujet gab, hat also, wie eingangs vermutet (s. o. S. 60f.). eine gegen die eigene Gegenwart gerichtete kritische Spitze. Theodor Storms statische Utopie eines gleichsam zur Ruhe gekommenen technischen Fortschritts antwortet damit in eigener Weise auf die wirtschaftlichen und ideologischen Umbrüche am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Ferne zur eigenen Zeit ist Programm. Storms Rückgriff auf die vormoderne Lebenswelt einer friesischen Dorfgemeinschaft ist, so betrachtet, ein besonders prägnanter Ausdruck für den antikapitalistischen Skeptizismus eines durch Gründerkrisen und »wirtschaftliche Wechsellagen« 173 verunsicherten Zeitbewußtseins. 174 Die Dynamik des modernen Kapitalismus ist in Storms Erzählung gleichsam stillgestellt. O b dieser Vorschlag zur Entdämonisierung der Technik heute erneut Aktualität hat, darüber muß der Leser selber befinden. Wichtig war der Hinweis auf die offene Struktur des Gesamttextes. Storms Erzählung braucht Leser, die - klug geworden durch neue Leseerfahrungen - selber weiterdenken möchten. Sind die Sehweisen erst einmal entzerrt, werden einem die neuen Lösungen vielleicht schon einfallen. Literatur löst keine Probleme, sondern macht sie besser sichtbar. D a ß - wie Storm sich über die Urteile seiner Freunde gefreut hat - »einer aus der alten Schule einmal wieder etwas geleistet hat«, 173 hat noch heute Gewicht.
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Vgl. Jürgen Kocka: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung. Stuttgart 1969 ( = Industrielle Welt. Band 11), S. 315ff. u . ö . Vgl. weiter A n m . 23. Vgl. Borchardt: Wachstum und Wechsellagen (vgl. Anm. 17). Sogar »sonst sehr ruhige und gemäßigte Kreise der Bevölkerung« zeigten sich nach einem Bericht des Berliner Polizeipräsidenten zutiefst beunruhigt. Zit. nach Wehler: Kaiserreich ( A n m . 23), S. 42. So Storm an Tönnies am 9. 5. 1888, zit. nach Wagener (Hg.): Schimmelreiter (Anm. 5), S. 49.
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III. Kapitel Zur Verschwisterung von Technik und Ökonomie I Der Einsturz der »Brück' am Tay« (Fontane) in Max Eyths literarischer Deutung (»Berufstragik« 1899) Mit einem Hinweis auf Max Maria von Webers popularliterarische Zeitbilder
1. Max Maria von Weber zum Kulturwert technischer Arbeit Daß die Utopie eines zur Ruhe gekommenen technischen Fortschritts nur abseits der Realgeschichte entfaltet werden konnte, macht auf andere Weise das nun folgende Kapitel der Arbeit deutlich. Die Studie wendet sich jetzt Texten zu, in denen sich neben dem Hochliteraten Fontane zwei zu ihrer Zeit prominente schriftstellernde Ingenieure aussprechen. Diese beiden »Dichter-Ingenieure« berichten aus der Binnenperspektive ihres Standes. Die Texte Max Maria von Webers und Max Eyths erzählen, trotz ihrer ganz unterschiedlichen formalen Prägung, von einer Grunderfahrung, deren Bedeutung weit über ihre Zeit hinausreicht: Die Ökonomisierung der Technik erleichtert ihren Durchbruch im 19. Jahrhundert und führt gleichzeitig zu ihrer immer stärkeren Anpassung an den kapitalistischen Rendite-Gedanken; dem Ingenieur fällt es keineswegs leicht, in das einzuwilligen, was da von ihm verlangt wird. Daß er andernfalls mit seinen »alten Idealen ins Abseits« geriete, ist jedoch eine Diagnose, die nur dem keine Sorgen verursacht, der (wie jüngst ein Wirtschaftsjournalist) zuerst an den marktgerechten Verschleiß und dann an den längerfristigen Gebrauchswert technischer Produkte zu denken bereit ist.1 Wenn man genauer sähe, was dabei verlorengeht, klänge dieser Rat vielleicht wenigstens etwas weniger frohgemut. Die Studie versucht deshalb zunächst einmal in Erinnerung zu rufen, was die Ingenieure des 19. Jahrhunderts unter dem »Kulturwert« ihrer Arbeit verstanden. Sie erörtert dabei zugleich ein vor allem von Max Maria von Weber entfaltetes Ingenieur-Ideal, das die Tugenden der alten Zeit mit den Anforderungen der neuen Zeit vermitteln möchte. Warum die Brücke zunächst die Verwirklichung dieses Ideals und dann dessen Wandel versinnbildlicht, machen bereits Max Maria von Webers essayistische Zeitbilder deutlich. Die heute geführte Technik-Debatte hat, zumal dort, wo sie kritisch geführt wird, die optimistischen Prognosen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts längst verabschiedet. Die damals geführten Auseinandersetzungen über den »Kulturwert« der Technik, die schon in die »Faust«-Rezeption hineinspielten (vgl. Kap. I, 1), sind so gut wie vergessen. Sogar als sie vom Soziologen Heinrich Popitz einer 1
Vgl. Alexander Mayr: Mit alten Idealen ins Abseits. In: Süddeutsche Zeitung v. 3./4. 12. 1983, S. 33.
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breiter interessierten wissenschaftlichen Öffentlichkeit herrschte eine eher ironisch gestimmte Tonlage vor. 2
vorgestellt
wurden,
Der Sozialwissenschaftler wirft den Befürwortern der Technik nicht ganz zu Unrecht vor, daß sie die Gleichsetzung von Kultur mit Kunst, Philosophie oder auch Religion durch deren um ihre Führungsrolle bangende Eliten akzeptiert hätten. Verwegene ideengeschichtliche Anleihen (bei der Hegeischen Metaphysik) oder gar die Verwechslung von Technik und lyrischem Gedicht (bei der Akzentuierung des spezifischen Charakters technischer »Geistes«-Schöpfungen) legten vor allem bei Autoren des frühen 20. Jahrhunderts den Eindruck nahe, daß sie sich auf die verengenden Perspektiven ihrer Kontrahenten eingelassen hatten. 1 Technik gehörte für diese ganz zweifelsfrei zur »Schicht des Unterkulturellen, des Reinpraktischen«; sie war Verkörperung der viel geschmähten »Zivilisation«. 4 D e r Kritiker Popitz hat dabei jedoch Argumentationsrichtungen übersehen, die sich um eine weitere Kulturvorstellung bemühten und sich auf die enge, aber lange nachwirkende Trennung von >Kultur< und >Zivilisation< gar nicht erst einließen. 3 Statt Ausgrenzung war die Auflockerung starrer Frontverläufe das Ziel. Kultur umfaßte nunmehr alles, was die vorfindbare >rohe< Natur im Dienste menschlicher Zwecksetzungen bearbeitet; gemeint sind die naturverändernden Tätigkeiten insgesamt und die daraus entstehenden Werke. Der schriftstellernde Eisenbahningenieur Max Maria von Weber erläuterte das so: »Was für das Individuum die natürliche B e g a b u n g ist, das ist für ein L a n d , einen Ort. seine geographische L a g e , während Charakter und Erziehung des Individuums bei einem Volke durch seine ethische, wissenschaftliche und politische Kultur repräsentiert werden.« 6 D i e »neue Ingenieurkunst« mit ihren künstlichen Land- und Wasserstraßen, Eisenbahnen, Tunneln oder Brücken verkörpere beispielhaft diesen gewaltigen »Kulturdrang der Menschheit«, der die Natur mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden überwinde, indem er zum Beispiel »feste Eisenpfade über Meeresarme« legt. Wie früher die »griechische Tempelstraße« so sei jetzt die Eisenbahn der Gradmesser für die Kulturhöhe eines Volkes. 7 2
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Heinrich Popitz u . a . : Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie. Tübingen 1976 1 ( = zuerst 1957) ( = »Soziale Forschung und Praxis«. B a n d 16). S. 1-8. Vgl. etwa E b e r h a r d Zschimmer: Philosophie der Technik. V o m Sinn der Technik und Kritik des Unsinns über die Technik. Jena 1919 (zuerst 1914). Und kritisch resümierend »zum größten Teil dieser ganzen Literatur« Popitz, a . a . O . , S. 4. Peter Mennicken: Anti-Ford. Oder von der Würde der Menschheit. Aachen 1924, S. 51. Zur Herkunft dieser Denkfigur vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 B d e . Bern und München 1969 2 (zuerst 1936). B d . 1, S. 7-17. U n d Michael Pflaum: Die Kultur-Zivilisation-Antithese im Deutschen. In: Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien. B a n d 3: Kultur und Zivilisation. München 1967, S. 288-427. Zit. nach M a x Maria von Weber: A u s dem Reich der Technik. Hg. v. Carl Weihe. 2 B d e . Berlin 1926 und 1928. B d . 2, S. 30. M a x Maria von Weber: Werke und T a g e . G e s a m m e l t e Aufsätze. Weimar 1869. S. 52 und 55. Die Grundlegung der Technikgeschichtsschreibung steht im Zusammenhang mit vergleichbaren Vorstellungen; die Kulturleistungen der Technik sind ihr Thema. Vgl. den
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Wie eng sich hier noch die Einstellungsmuster der literarisch-humanistischen und der technischen Kultur berühren, wird deutlich, wenn man sich an eine Äußerung Theodor Fontanes zur Notwendigkeit der Bearbeitung einer keineswegs immer nur idyllischen Natur erinnert. Gegen den Bau von Straßen oder Eisenbahnen den Zauber einer noch »unentweihten« Natur ins Feld zu führen, hält er dann für unsinnig, wenn »man einer Natur das nicht nehmen kann, was sie längst nicht mehr besitzt«. >NaturNatur< dabei nicht immer verliere, sondern auch gewinne, hält Fontane für wichtig. »Dampfschiffe« und »Lokomotiven« sind, wie bei von Weber, »Zeichen der Kultur«. 8 Was geschieht, wenn sich dieser Kulturwert technischer Arbeit in seinen Tauschwert entäußert, thematisieren die jetzt zu analysierenden Texte. Max Maria von Weber (1822-1881), Sohn des berühmten Komponisten Carl Maria von Weber, gehört neben Max Eyth (1836-1906), der aus einer schwäbischen Pfarrersfamilie stammte, zu den wichtigsten Repräsentanten des Typs »Dichter-Ingenieur«. 9 Obgleich beide, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, damit den Anspruch verkörperten, die zwei getrennten Kulturen miteinander zu versöhnen, hat sich in ihrer Rezeptionsgeschichte deren traditionsreiche Aufspaltung >bewährtunkörperlichen< literarischkünstlerischen Werken. Vgl. Ulrich Wendt: Die Technik als Kulturmacht in sozialer und geistiger Beziehung. Eine Studie. Berlin 1906, Kap. I. * Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Havelland. Berlin (West) 1982 ( = Fontane-Bibliothek Ullstein Buch Nr. 4503), S. 467. '' Zu Typ und Begriff vgl. Heinrich Wiesenthal: Dichter-Ingenieure. L. da Vinci. M. M. v. Weber. M. Eyth. H. Seidel. H. Dräger. Leipzig 1924 ( = Führende Männer. Hg. v. H. Wiesenthal u. Max Blücher. Bd. 1-15, Bd. 8/8a). '" Vgl. A n m . 6.
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1906) 1 1 vorgelegt - die Germanistik hat, wie schon bei den »Faust«-Deutungen ( s . o . Kapitel I, 1), auch diese Gesprächsangebote ignoriert. Im Falle Max Maria von Webers liegt das sicherlich mit darin begründet, daß hier ein dichterisches Werk im engeren Sinne bei näherem Hinsehen nur in Grenzen vorliegt. Ein poetisches Talent ist, trotz gegenteiliger Versicherungen, 1 2 nicht neu zu entdecken. D e r Absolvent des Dresdener »Technischen Instituts«, der nach einer Lehrzeit in der Maschinenbauindustrie zwei Jahre lang naturwissenschaftliche und nationalökonomische Vorlesungen an der Berliner Universität besuchte, sich weiter in den Konstruktionsbüros des Lokomotivfabrikanten Borsig umsah und sogar die Lokomotivführerprüfung absolvierte, reüssierte aufgrund dieser vielfältigen praktischen und theoretischen Ausbildung schnell als sächsischer, österreichischer und preußischer Eisenbahnbeamter. 1 3 Seine technische Karriere hatte er von A n f a n g an mit einer reichhaltigen schriftstellerischen Tätigkeit begleitet. N e b e n fachwissenschaftlichen Schriften im engeren Sinn (eine moderne Eisenbahngeschichte hat sie jüngst dankbar verwertet), 1 4 konnte vor allem der grenzüberschreitende populärwissenschaftliche A u t o r eine beträchtliche Breitenwirkung entfalten; seine stilistisch geschmeidig argumentierenden Darle11
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Carl Weihe: Max Eyth. Ein Lebensbild. Frankfurt am Main o.J. [1950], 3. erw. Aufl. (zuerst 1916). Zur weiteren Literatur über Eyth vgl. unten S. 139f. So nennt Carl Weihe M. M. v. Weber einen »gottbegnadeten Dichter-Ingenieur, der es verstanden hat, [...] die Welt der technischen Arbeit im kunstvollen Gewände der Dichtkunst darzustellen«. Vgl. C. Weihe: Max Maria von Weber, in: ders.: Reich der Technik (Anm. 6). Bd. 1, S. 3-48. S. 7. Von einer »Poesie der Schiene« spricht Max Jähns: Max Maria Freiherr von Weber. Biographische Skizze. In: v. Weber: Welt der Arbeit (Anm. 7), S. XIV-XLV. S. XLI. Ich stütze mich bei diesen knappen Angaben auf Max Jähns: v. Weber (Anm. 12). Weitere Informationen findet man bei Herbert Pönicke: Max Maria von Weber. In: Sächsische Lebensbilder 2 (1938), S. 406-415. Und ders.: Max Maria von Weber. Dresden 1936. Technische Institute, nach dem Vorbild der französischen »Ecole Polytechnique« auch »Polytechnische Institute« oder (in Berlin) »Gewerbe-Institute« genannt, hatten - in heutiger Terminologie gesprochen - »den Charakter einer Fachhochschule« für angehende Techniker. »Wer mehr lernen [wollte]«, mußte (so der zuständige preußische Ministerialbeamte) wie von Weber auf eigene Verantwortung Universitäten besuchen. Die Möglichkeit, ein eigenes technisches Studium mit einem akademischen Diplom abzuschließen, existierte noch nicht. Vgl. Lars U. Scholl: Der Ingenieur in Ausbildung, Beruf und Gesellschaft 1856 bis 1881. In: Ludwig (Hg.): Technik, Ingenieure und Gesellschaft (vgl. Anm. 7), S. 1-66, S.6ff. Zitate S. 7. Noch genauer (zu den Verhältnissen in Preußen) vgl. Peter Lundgreen: Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung. Ausbildung und Berufsfeld einer entstehenden sozialen Gruppe. Mit einer Einführung von Otto Büsch. Berlin 1975 ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 16). Den Ausbildungsgang von Eisenbahntechnikern im Königreich Hannover beschreibt Lars U. Scholl: Ingenieure in der Frühindustrialisierung. Staatliche und private Techniker im Königreich Hannover und an der Ruhr (1815-1873). Göttingen 1978 ( = Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, Band 10), S. 190-206. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München 1977 (= Hanser Anthropologie).
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gungen fanden nicht nur in technikwissenschaftlichen Zeitschriften, sondern auch in der »Deutschen Rundschau« oder in »Westermann's Monatsheften«, dem »Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart«, starke Beachtung. 15 Seine Erzählungen, die - so die wenigen Interpreten 1 6 - die Poesie der technischen Arbeit beschwören sollten, fallen demgegenüber schon quantitativ kaum ins Gewicht. Mit der Festlegung auf einen konventionellen Typ von >Dichtung< erweist man diesem Autor keinen Gefallen. Größere Erzähleinheiten von Eigengewicht hat er, anders als Max Eyth, nicht geschaffen. Nicht als Schöpfer einer »technischen Novelle«, 17 sondern als Mitbegründer einer formtypisch noch nicht festgelegten, weil in erster Linie stofforientierten Essayistik 18 könnte Max Maria von Weber ein um die Beachtung von Zweckformen erweitertes literarhistorisches Interesse beanspruchen. Autobiographischer Erlebnisbericht, kleinere Dialogszenen, Porträts großer Ingenieure, Reiseberichte oder wie im Plauderton vorgetragene Erläuterungen technischer Meisterwerke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschen in den »Gesammelten Aufsätzen« und »Skizzen« des Autors vor. Wenn Bedarf nach einer einheitlichen Klassifizierung besteht, so ist von zweckgebundenen popularliterarischen »Zeitbildern« 19 zu sprechen. Die wenigen Erzählungen (häufig mit der Bemerkung versehen »Alles Mitgeteilte ist faktisch«) 21 ' sollten den heroischen Einsatz von Lokomotivführern, Strekkenarbeitern oder Weichenstellern einem Leserkreis nahebringen, der diese Arbeiter sonst nur aus der Perspektive des Reisenden der ersten oder zweiten Wagenklasse wahrnahm (»Eine Winternacht auf der Lokomotive«). 21 Max Maria von Weber rundete mit ihrer Hilfe Sammlungen populären Charakters ab, die von »Werken und Tagen« (1869), vom »Schauen und Schaffen« (1878) seines Berufs15
B e i m Abdruck einer der letzten Arbeiten von Webers nennt die Redaktion der »Deutschen Rundschau« ihn, der kurz zuvor verstorben war, einen »unvergeßlichen Mitarbeiter«. In: Deutsche Rundschau 30 (1882, 1), S. 420-430. S. 420. Vgl. weiter M. M. v. Weber: D i e »Eiserne Weihnacht«. In: Westermann's illustrierte deutsche Monatshefte. Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart 47 (1879. 2 und 1880, 1), S. 604-626.
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Vgl. Jahns und Weihe in A n m . 12. So Jähns: von Weber (Anm. 12), S. XLI. Auch Johannes Mahr spricht von einer Geschichte der »Techniknovelle«. Vgl. Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. München 1982, S. 47. U d o Köster: Die Poetisierung des Diskurses. Entwicklungsgeschichte der nichtfiktionalen Gattungen 1874-1919. Unveröff. Typoskript, S. Iff. Vgl. auch ders.: Überlegungen zur Entwicklungsgeschichte der nichtfiktionalen Gattungen um 1900. In: Antal Mádl und Miklós Salyámosy (Hg.): Welt und Roman. Visegráder Beiträge zur deutschen Prosa zwischen 1900 und 1933. Budapest 1983 ( = Budapester Beiträge zur Germanistik 10), S. 123-138. S. 123ff.
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Jähns: v. Weber ( A n m . 12), S. LX, spricht von »kulturgeschichtlichen Novellen« oder »Zeitbildern« (im Original gesperrt). So der Zusatz zu v. Weber: Sturm auf den Schienen. In: ders.: Schauen und Schaffen. Skizzen. Stuttgart und Leipzig 1879 2 (zuerst 1878), S. 65. In: v. Weber: A u s der Welt der Arbeit (Anm. 7), S. 157-167.
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standes oder » A u s der Welt der Arbeit« (posthum 1907) 22 zumeist aus der Sehweise der großen Wegbereiter berichteten. V o m »rollenden Flügelrade«, 1 1 d e m L o b der Eisenbahn und ihrer Erbauer, kündete ein weitgereister Eisenbahningenieur, der nicht nur aus den deutschen Einzelstaaten der Zeit, sondern auch aus Frankreich, England und Nordamerika erzählen konnte. Der Lobpreis der Erfinder-Genies steht n e b e n d e m ergriffenen Hymnus auf den »anspruchslosen H e l d e n m u t schlichter Arbeiter«. 2 4 D e r Ingenieur als Vermittler zwischen den Ständen und sachkundiger A n w a l t der sozialen Belange der Arbeiterschaft findet hier ein frühes schriftstellerisches Porträt. 2 5 Zielscheibe der Kritik v o n Webers ist, neben dem lebensfernen Gelehrten, vor allem das A d e l s - und Juristenmonopol in den Eisenbahnverwaltungen der deutschen Territorialstaaten; der Aufstieg des sachkundig vorqualifizierten Fachpersonals werde dadurch behindert. 2 6 D i e Eisenbahnverwaltung sei, so glaubte von W e b e r , »in den H ä n d e n der Nichtfachleute oder derer [ . . . ] , die nur beim B e f e h l e n lernten«; der adlige Offizier und der bürgerliche Regierungsrat blockierten den Techniker. 2 7 Ohne Sinn und Wert militärischer Exaktheit grundsätzlich zu bezweifeln, sah von W e b e r überwiegend B e a m t e am Werk, die sich weder für »kühne Bauten oder [die] A n w e n d u n g neuer B a u m e t h o d e n « , sondern einzig um »die v o n hoher Stelle g e g e b e n e n Vorschriften« kümmerten. 2 8 Sein unentwegtes Loblied auf England wollte demonstrieren, daß die »Freiheit des Verkehrs« die 22
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Die von Jahns: von Weber (Anm. 12), S. XLI, genannte gleichnamige Sammlung aus dem Jahre 1865 habe ich bibliographisch nicht verifizieren können. Bibliographische Nachweise der übrigen Sammlungen in Anm. 7 und 20. Max Maria von Weber: Vom rollenden Flügelrade. Berlin 1882 ( = Allgemeiner Verein für deutsche Literatur, Ser. 7, Bd. 1). M. v. Weber: Der Bergsturz, in: ders.: Aus der Welt der Arbeit (1907) (Anm. 7), S. 33-54. S. 54. Daß die Führerstände der Lokomotiven mit Glaskabinen versehen wurden, schreibt von Weber zum Beispiel seiner eigenen »Denkschrift« über die »Gefährdungen des Personals beim Maschinen= und Fahrdienste der Eisenbahnen« (1862) zu. Max Jahns nennt als weiteren sozialreformerischen Titel eine Schrift von Webers über »Die Lebensversicherung der Eisenbahnpassagiere in Verbindung mit der Unterstützung und Pensionierung der Eisenbahn-Beamten und ihrer Angehörigen« (1855). Schivelbusch: Eisenbahnreise (Anm. 14). S. 107ff., hat eine weitere Schrift von Webers zur Belastung des Lokomotivpersonals ausgewertet. Zur Idee einer sozialen Vermittler-Rolle der Ingenieure vgl. Gerhard Zweckbronner: Je besser der Techniker, desto einseitiger sein Blick? In: Ulrich Troitzsch und Gabriele Wohlauf (Hg.): Technik-Geschichte. Frankfurt am Main 1980 (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 319), S. 328-356. S. 341ff. Zur Rolle von Juristenmonopol und »Assessorismus« vgl. allgemein den Beitrag von Karl-Heinz Manegold: Der VDI in der Phase der Hochindustrialisierung 1880-1900. In: Ludwig (Hg.): Technik (Anm. 7). S. 133-166. S. 140f. Den Hochmut der Geburtsaristokratie karikiert v. Weber in: Wo steht der deutsche Techniker? Ein Gespräch unter vier Augen. In: Deutsche Rundschau 30 (1882,1), S. 420-430. v. Weber: Werke und Tage (Anm. 7), S. 67. Und v. Weber: Wo steht der deutsche Techniker, a . a . O . , S. 420-430. A . a . O . , S. 422. Hier polemisiert der Autor gegen den theoretisch ungebildeten technischen Praktiker, der über untergeordnete Positionen nicht hinauskommt.
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»Freiheit der Geister« fördert und zugleich voraussetzt. 29 »Nur in einem Lande der ungehinderten Selbstbestimmung des Schaffens, im Schöße eines großen, freien Volkes konnte das Eisenbahnwesen entstehen, energisch sich entwikkeln.« 3 0 Max Maria von Weber sah dort ein Ingenieur-Ideal verwirklicht, das er seinen deutschen Fachgenossen als Gegenmittel gegen ihre häufig beklagte soziale Diskriminierung von Seiten des Bildungsbürgertums und der Geburtsaristokratie nahebrachte. Nicht allein als Fachmann, sondern noch mehr als Kenner der gesamten Kulturtätigkeiten des Menschen solle sich der Ingenieur präsentieren und damit sein gesellschaftliches Prestige dauerhaft sichern; 31 universal gebildet und daher mit den »höheren Studien der Geschichte, Philosophie, der Sprachen und der Kunst« vertraut, könne er das Odium des unbefugten »Eindringlings« in die Welt der »älteren Stände und Berufsclassen« am besten überwinden. 32 Die Anspielung seines Essay-Bandes »Werke und Tage« auf Hesiods gleichnamiges Epos geschah deshalb sicherlich nicht ohne Absicht. Die Kulturleistung des Ingenieurs scheut nicht den Vergleich mit klassisch-humanistischer Überlieferung. Hintergrund der Überlegungen Max Maria von Webers ist ein in den Kategorien von Bildung denkendes ständisches Gesellschaftsbild, bei dem sich die Angehörigen eines jeden Berufsstandes jenseits ihrer spezifischen Nützlichkeit durch ihre Teilhabe an der »guten Gesellschaft« mit ihrer Kunst der Konversation als »salonfähig« ausweisen müssen. 33 Max Maria von Weber will den Ingenieur, der nicht als ruppiger Autodidakt und »höherer Handwerker« auftritt, sondern sich wie ein englischer »Gentleman« mit Sinn für gepflegte Umgangsformen auch dort behauptet, wo »die hochzivilisierte Welt der Blüthen der Kultur bewußt und froh wird«. 34 J a , der Ingenieur muß nicht nur Berge, sondern auch »einen mit Trüffeln farcierten Schweinskopf [durchtunneln]« können. 35 Wie sehr der Autor damit einen heiklen Punkt in der öffentlichen Einschätzung der Ingenieure getroffen hat, zeigt ein Blick in den Unterhaltungsroman der Epoche. So präsentierte schon Friedrich Spielhagens »Hammer und Amboß« (1869) einen Helden, der die gesellschaftlichen Rituale der besseren Gesellschaft von Anfang an von Herzen verachtet; er vertraut eben nur auf seine Kraft und 29 30 31
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v. Weber: Werke und Tage (Anm. 7), S. 83. v. Weber: Welt der Arbeit (Anm. 7), S. 332f. Den ausschließlich auf die Professionalisierung seiner spezifischen Berufstätigkeit bedachten Ingenieur trennt von Weber sogar terminologisch als »Technikanten« vom universell gebildeten »Techniker«. Vgl. ders.: Reich der Technik (Anm. 6), Bd. 2, S. 8. Daß akademisch gebildete Diplom-Ingenieure wie Carl Weihe dem gerne zustimmen (vgl. a . a . O . , Bd. 1, S. 36), verwundert nicht. v. Weber: Reich der Technik (Anm. 6), Bd. 2, S. 7. Und M[ax] M[aria] Freiherr von Weber: Die Stellung des deutschen Technikers im staatlichen und sozialen Leben. Wien, Pest und Leipzig 1877 ( = Populäre Erörterungen von Eisenbahn-Zeitfragen VI.), S. 5 und 6. v. Weber: Reich der Technik (Anm. 6), Bd. 2, S. 5. A. a. O., S. 4, und Werke und Tage (Anm. 7), S. 47, S. 82. Vom Gentleman-Ideal spricht v. Weber z . B . in: Die Stellung des deutschen Technikers (Anm. 32), S. 10 u.ö. So v. Weber über sein Idol Robert Stephenson in: Werke und Tage (Anm. 7), S. 69.
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Arbeitsleistung. 36 Der Ingenieur, der einzig als Mann der Arbeit seine Chance sucht, hat keine Zeit für gesellschaftliche Verpflichtungen und Ablenkungen (so in Elisabeth Werners »Freie Bahn!« 1883). Im Gegenteil, ein Ingenieur, der sich in der feinen Welt aus »Geburts- und Geistesadel, Finanzwelt und Kunst, Militär und höherem Beamtentum« wie ein »Kavalier« aufführt, signalisierte in einem anderen Roman der Autorin (»Die Alpenfee« 1889) von vornherein einen Helden, der nicht auf sein Talent, sondern auf die »Jagd nach einer reichen Frau« setzt. Wie gefährlich auf der anderen Seite die Verachtung sozialer Konventionen sein kann, demonstrierte Wilhelm Hegelers »Ingenieur Horstmann« (1900) recht drastisch. Als dieser »Riese in seiner Arbeit« mit seinen plebejischen Manieren, seinem »ungeschlachten« Äußeren die »Vertreter des Staats, der gesellschaftlichen Ordnung« als »Canaillen« oder sogar »Sauhunde« beschimpft, behilft sich die >feine< Gesellschaft aus verschuldeten adligen Hauptleuten, spekulierenden Regierungsratswitwen und hochnäsigen, aber inkompetenten Regierungsvertretern damit, daß sie den »geschmacklosen Parvenü« für verrückt erklärt. 37 Die Provokation der alten, aber gleichwohl immer noch mächtigen Stände war also gerade für den homo novus nicht immer hilfreich. Die Ausweitung der fiktiven Lebensgeschichte zu einem »gleichsam zeitlosen [ . . . ] Eheroman« (K. Quenzel) 3 8 begrenzt allerdings den Aussagewert nicht nur dieses Unterhaltungsromans für unser Vorhaben. Ähnlich wie in den Romanen der Elisabeth Werner wird aus den Lebenskonflikten des Ingenieurs Horstmann recht schnell das Problem eines Helden, der sich in Liebesaffären verwickelt, die einer Figur von anderer sozialer Statur ebenso zu schaffen machen müßten. Ist es in Hegelers Roman »die Ehe zwischen einem Mann von fünfzig Jahren und einer schönen jungen Frau« (K. Quenzel), so konnten schon E . Werners Helden ihr Arbeitsethos erst entfalten, nachdem sie ihre privaten Verwicklungen entwirrt hatten. Wie dann zum Beispiel ein Brückenbau entsteht, war in Werners »Alpenfee« nicht mehr so wichtig. Das Lebenswerk des Helden wurde daher nur mit einigen wenigen Sätzen belobigt und gefeiert. 39 36
Das zeigt sich schon auf der Dampferfahrt des noch jungen Helden, als er lieber zu einem Kohlenjungen in den Maschinenraum hinabsteigt, als sich mit »zierlichen Dämchen« und anderen hochnäsigen Standespersonen zu unterhalten. Vgl. Friedrich Spielhagen: Hammer und Amboß. Roman. 2 Theile. Leipzig 1889 ( = F. Spielhagens ausgewählte Romane. Dritter und Vierter Band), Bd. 1, S. 9ff.
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Vgl. Elisabeth Werner ( = E . Bürstenbinder): Die Alpenfee. Roman. Leipzig 1932 16 (zuerst 1889), S. 84, 29, 38. Der Held wird, natürlich, durch eine umwegreiche Liebesgeschichte bekehrt. Der Held aus E . Werners Roman »Freie Bahn!« antwortet auf die Frage einer aristokratischen Dame, ob er während seiner Studienzeit in Berlin nicht auch am »glänzenden« Gesellschaftsleben teilgenommen habe, nahezu entsetzt: »Ich war in Berlin, um zu lernen und zu arbeiten!« E . Werner: Freie Bahn! Roman. Leipzig o. J. (zuerst 1893), S. 84. Vgl. weiter Wilhelm Hegeler: Ingenieur Horstmann. Roman. Leipzig o. J. (zuerst 1900), S. 35, 105, 15, 132, 71. Nachwort von Karl Quenzel zu Hegeler: Horstmann (Anm. 37), S. 374-376, S. 375. Auch das nachfolgende Zitat steht daselbst. Werner: Die Alpenfee (Anm. 37), S. 164, 386.
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Die Verhaltensunsicherheiten eines neuen Berufsstandes fanden jedenfalls bis weit in die Hochliteratur hinein Beachtung. Auch Fontanes Cécile erinnerte ihren Herzensfreund Gordon, den ehemaligen Ingenieur-Offizier aus guter Familie und jetzigen weltläufigen »Kabelmann« und »Zivilingenieur« in englischen Diensten, an seine »Gentleman«-Pflichten; Fontane selber glaubte, daß Industrielle wie die Siemens-Brüder der »eigentlichen Adelsaufgabe« »moralisch und intellektuell« gewachsen sein müßten: »neuzeitliche Vorbilder« zu sein. Im Jahre 1880 verlangte denn auch tatsächlich einer der Siemens-Brüder nach »Gentlemen, um endlich von den aufgedienten Mechanikern loszukommen«; gefragt waren »junge Leute aus guter Familie« und mit »guter Schulbildung«.40 Den Aufstieg des Ingenieurstandes mit Hilfe einer Akademisierung seiner Berufstätigkeiten anzustreben, beurteilte Max Maria von Weber skeptisch; dem »deutschen Professor« und seinen Schülern traute er nicht nur in der Paulskirche, sondern auch in den Eisenbahnverwaltungen nur wenig zu. Sein Vorbild sind die »Meister« der englischen Ingenieurkunst, die auch als Mäzene der schönen Künste und Wissenschaften die Ideale einer aufgeklärt-aristokratischen Lebensführung ins technische Zeitalter hinüberretten könnten. Dem »Fürst des Eisenbahnbaus« Robert Stephenson hat der Autor einen seiner großen populären »Aufsätze« gewidmet (»Im Hause Robert Stephenson's« 1867).41
2. Die Brücke als »Hieroglyphe für den Geist des Verkehrs der Neuzeit« Gerühmt wird weiter die geniale Einzelleistung. Diese Kontinuität zur »Faust«Aktualisierung (vgl. oben S. 29, 45, 53) ist ganz offensichtlich. Auffällig ist nun, wie programmatisch sich der Kulturwert technischer Arbeit in den Schöpfungen 40
41
Zit. nach Theodor Fontane: Cécile. Roman (1886). Stuttgart 1982. Hg. v. Christian Grawe ( = Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7791), S. 184, 19 und 177. Inwiefern Gordons Beruf als Ingenieur mit der Provokation St. Arnauds und dem Tod im Duell zu tun hat, wäre genauer zu prüfen. Immerhin meint St. Arnaud, Gordon sei »das Weltfahren zu Kopfe gestiegen« und deshalb »mißachte [er] die gesellschaftlichen Scheidungen, die wir, diesseits des Großen Wassers, vorläufig wenigstens noch haben.« A . a . O . , S. 189. Thematisiert wird also auch im Fontane-Roman die Rückwirkung einer neuen Berufsrolle auf das private Verhalten der Betroffenen. Zu den Äußerungen Fontanes über die Siemens-Brüder vgl. den Brief an Georg Friedländer vom 8. 7.1895. Zit. nach Theodor Fontane: Briefe. Vierter Band 1890-1898. Hg. von Otto Drude und Helmuth Nürnberger. München 1982 ( = Fontane: Werke, Schriften und Briefe, Abt. IV), S. 459f. S. 459. Zum Verlangen eines der Siemens-Brüder vgl. Jürgen Kocka: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung. Stuttgart 1969 ( = Industrielle Welt, Band 11), S. 169. Als Repräsentant des 19. Jahrhunderts wird Werner Siemens erneut von Carl Friedrich von Weizsäcker gewürdigt. Vgl. ders.: Werner Siemens. In: Wahrnehmung der Neuzeit. München und Wien 1983, S. 53-69. Die Reihenfolge der Zitate: v. Weber: Werke und Tage (Anm. 7), S. 67 und 73. Vom »Fürst des Eisenbahnbaus« spricht v. Weber in: Die Sterne im Süden (1861), a . a . O . , S. 14—45, S. 17. Zum Aufsatz über Stephenson vgl. a . a . O . , S. 45-82. 115
des Brückenbaus verkörpert, obgleich doch das 19. Jahrhundert - wie gerade Max Maria von Weber hervorhebt - vor allem im Zeichen des Siegeszuges der »beweglichen Dampfmaschine« 42 steht. Ja, mit einer leichten Übertreibung könnte man sagen, daß es leichter schien, die Wegbereiter der Lokomotive im Gewände des genialen Brückenerbauers zu feiern, und George und Robert Stephenson waren ja auch tatsächlich Maschinen- und Bauingenieur in einer Person. 43 Ein Blick auf die Technikgeschichte des 19. Jahrhunderts erläutert den realhistorischen Hintergrund für von Webers Ansichten. Am Bauingenieur faszinierte ganz generell weithin die Fähigkeit zur Organisation und Kombination gewaltiger maschineller und menschlicher Arbeitsmittel; der Maschinenkonstrukteur konnte demgegenüber nur über seine Einzelmaschine und ihr Bedienungspersonal gebieten. 44 Hinzu kommen allgemeinere, aber sehr handgreifliche technikgeschichtliche Ursachen; der Hoch- und Tiefbau insgesamt machte im Zuge der Verbreitung der Eisenbahn gewaltige Fortschritte. Die Eisenbahn brauchte vor allem deshalb Tunnel und Brücken, weil man den neuen Maschinen anfangs nicht recht zutraute, auch größere Steigungen zu meistern. 45 Weiter sind Argumentationsprobleme der Eisenbahn-Anhänger zu bedenken. Eine Bemerkung Max Maria von Webers legt offen, was ihnen Schwierigkeiten bereitet. Von Weber läßt - im »Gespräch unter vier Augen« - einen Grafen ziemlich unverblümt sagen, warum der Ingenieur in seinen Kreisen nichts gilt: »polternde Maschinen, schmutzige Hände, schweißtriefende Kerls, langweilige Zahlen - voilà die Technik!«46 Das »Eisenbahnleid« der Zeit war - da mit »Staub, Hitze und Kohlenqualm« verbunden 47 - nur wenig geeignet, solche Vorurteile zu entkräften. Die Lokomotive mit ihrem Ruß und Gestank konnte, auch wenn sie dichterisch verklärt wurde, ihre Herkunft aus der Sphäre industrieller Schmutzarbeit nicht verleugnen. Ins »Dampfroß« verwandelt, erweckte sie immer noch ein ambivalentes Gefühl: dem Rausch der raschen »Ent-hebung, Ent-fernung« 48 entsprach die Furcht vor dem Kollaps der künstlich entfesselten Feuergewalten. 49 Liegt die »Poesie [...] der Lokomotive« im »hastigen, aber wohl geregelten Zucken und Zerren ihrer gewaltigen Glieder, in dem stieren, nur auf ein Ziel losstürmenden Blick ihrer roten Augen« begründet (Max Eyth), so lassen die ausgewählten Tiermetaphern unschwer die Parallelisierung zum gleichfalls nie 42 43
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v. Weber: Welt der Arbeit (Anm. 7), S. 73. Hans Straub: Die Geschichte der Bauingenieurkunst. Ein Überblick von der Antike bis in die Neuzeit. 3. Aufl. Basel und Stuttgart 1975 (zuerst 1949), S. 214. Vgl. unten S. 142. So Conrad Matschoß: Große Ingenieure. München 19382, zit. nach Straub: Bauingenieurkunst (Anm. 43), S. 211. v. Weber: Wo steht der deutsche Techniker? (Anm. 26), S. 420. v. Weber: Schauen und Schaffen (Anm. 20), S. 241. Hermann Glaser: Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur in Deutschland. Vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik. Mit 236 Abbildungen. Frankfurt am Main 1981, S. 14. Zur Furcht vor dem Unfall vgl. Schivelbusch: Eisenbahnreise (Anm. 14), S. 117-141.
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Bild 26: Conway-Castle-Briicke, erbaut 1822-1826 durch Thomas Telford. Die äußere Form der Brücke ist ganz der Architektur des im Hintergrund erkennbaren Schlosses angepaßt. Nach Paul Zucker: D i e Brücke. Typologie und Geschichte ihrer künstlerischen Gestaltung. Berlin 1921, S. 107.
verläßlich gebändigten Raubtier erkennen - beide sind »voll heißer Wut und sprungbereiter Gier« (Gerrit Engelke). 5 0 Die Brücke kann demgegenüber den Eindruck von Ruhe, Festigkeit und Verläßlichkeit vermitteln. Sie ist, zumal wenn aus Stein gemauert, bestenfalls ein »ruhendes Ungeheuer«, das der Betrachter »schauend« und in Muße in sich aufnimmt. 5 1 Nicht nur darin vermag sie ein Defizit der Maschine, welche »darüber hinwegbraust«, 52 wettzumachen. Hinzu kommt, daß die Brücke zwar den wesentlichen Teil einer möglichst geradlinigen, die Natur im Idealfall wie ein Lineal durchschneidenden Streckenführung darstellt, 53 anderseits aber, aus einiger Entfernung betrachtet, als architektonisch gelungenes Bauwerk sich ins Landschaftsbild einfügt. Sie dient dann als Beispiel, wie man Naturabhängigkeiten unter gleichzeitiger Respektierung der Naturgegebenheiten abmildert; die Brücke ist, als Nutz- und Kunstwerk in einem, ein Zeugnis für die Möglichkeit einer Vereinigung von Ingenieurbau und Architektur. Der Brückenbau, der sich an den klassizistischen Kunstgeschmack der Zeit anlehnte (vgl. Bild 26), sollte den 50
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Max Eyth: Poesie und Technik (1904). Zit. nach Adolf Reitz: Max Eyth. Ein Ingenieur reist durch die Welt. Pioniertaten eines Landtechnikers. Heidelberg 1956, S. 225-265. S. 231f. U n d Gerrit Engelke: Lokomotive (1921 posthum), zit. nach Mahr: Eisenbahnen ( A n m . 17), S. 207f. S. 207. v. Weber: Werke und Tage ( A n m . 7), S. 56 und 55. So faßt Ludwig Brinkmann die Gegensätze zusammen, vgl. ders.: Der Ingenieur. Frankfurt am Main 1908 ( = Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, 21. Band), S. 15. Vgl. Schivelbusch: Eisenbahnreise ( A n m . 14), S. 25ff. 117
Bild 27: Britannia-Röhrenbrücke über den Menai-Kanal, 1849, lithographiert von G . Hawkins. D a s Bild zeigt die Verschiffung der am U f e r fertiggestellten Röhren, die darauf bei einsetzender Flut mit hydraulischen Pressen auf die Höhe der Brückenpfeiler gebracht werden mußten. Nach Francis D . Klingender: Kunst und industrielle Revolution. Frankfurt am Main 1976 (zuerst 1968), A b b . 95.
Bild 28: D i e Britannia-Brücke Stephensons wurde noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts benutzt. Nach Photo Fox Photos L t d . , London.
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technischen, ästhetischen und auch ethischen Wert der Ingenieurarbeit verkörpern. Zugespitzt kann man von einer beabsichtigten Trinität aus Technik, Ästhetik und Ethik sprechen, und Max Maria von Weber hat sie beispielhaft in zwei Bauwerken verwirklicht gefunden, auf die die Kunstgeschichte noch heute gerne hinweist: Robert Stephensons Britannia-Brücke (von 1846-1850 errichtet) und Thomas Telfords Menai-Straßenbrücke (von 1819-1826 gebaut), die beide, dicht beieinander liegend, den gleichnamigen Menai-Kanal in Wales überbrückten. 54 Zusammengenommen sind damit zwei Extreme englischer Ingenieurkunst: Stephensons monumentale, durch ihre kolossale Materialfülle fast schon erdrückend wirkende schmiedeeiserne Balkenbrücke (vgl. Bild 27 und Bild 28) und Telfords trotz aller Mächtigkeit der Steinformationen eher schwebend-leicht wirkende Kettenbrücke (vgl. Bild 29). Max Maria von Weber nimmt beide zum Anlaß, einen Hymnus auf die technische Allmacht, den Kunstsinn und den völkerverbindenden Kosmopolitismus der neuen Technik anzustimmen: »Ist die Welt so schön? Strebt der Mensch so stark zum Menschen?« (S. 55). 5 5 Die gewaltigen Portalbauten der Britannia-Brücke und die gleichsam »den Eingang zu einer Pyramide bewachenden Sphinxe« (S. 55) dokumentierten die Genialität ihres Schöpfers. »Das Bauwerk ohne Gleichen« (S. 54) schien wie für die Ewigkeit gebaut. Max Maria von Weber hat die historischen Anleihen im archaisierenden Baustil richtig gedeutet. Die »Elemente ägyptischen Styls« (von Weber, S. 54) unterstrichen auch für die englischen Ingenieure die Kulturhöhe einer Baukunst, die ihren antiken Vorläufern in nichts nachsteht: »In grandeur, capacity, and solidity, they are not exceeded by anything now remaining of the highest period of Egyptian and Roman power.« 5 6 Nichts schien den Siegeszug einer Technik aufhalten zu können, deren Schöpfer - wie die beiden Stephensons und Telford - in der Westminsterabtei neben den Monarchen, Staatsmännern und Heerführern Englands ihre letzte Ruhe fanden; der Ingenieur sah sich in ihnen sichtbar wie ein König geehrt. 57 54
Vgl. dazu Francis D. Klingender: Kunst und industrielle Revolution. Frankfurt am Main 1976 (zuerst 1968), S. 138f. Und Fritz Leonhardt: Zur Geschichte des Brückenbaus. In: Ota Bihalji-Merin: Brücken der Welt. Gesamtred. Liselotte und Claus Hansmann. Luzern und Frankfurt/M. o. J. [1970], S. 16-57. S. 42ff. Von Stephensons Menai-Brücke ist allerdings umstritten, ob und wie sie sich ins Landschaftsbild einfügt. Schon Max Maria von Weber sagt, daß »Stephenson's Bau massig, gewaltig, unerschütterlich in scharfen, geraden Linien und Kanten d a r ü b e r h e r r u h t ( a . a . O . , S. 55, Hervorhebung im Text); später findet sich sogar die Meinung, daß die »starren archaisierenden Formen [ . . . ] sich [ . . . ] absolut nicht mit dem Bilde der Landschaft [verbinden]«. Vgl. Paul Zucker: Die Brücke. Typologie und Geschichte ihrer künstlerischen Gestaltung. Berlin 1921, S. 93.
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v. Weber: Im Hause Robert Stephenson's. In: ders.: Werke und Tage (Anm. 7), S. 45-82. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden (wie schon in Anm. 54) mit bloßer Seitenangabe zitiert; Hervorhebungen im Text sind jeweils übernommen. Leitartikel »The Future of Civil Engineering«, in: The Engineer 8 ( 1 8 5 9 , 2 ) , S. 299f. S. 299. Leonhardt: Brückenbau (Anm. 54), S. 43.
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Bild 29: Die Menai-Brücke Thomas Telfords um etwa 1840, lithographiert von W. Gauci nach einer Zeichnung von Th. C. Dibdin, nach Klingender: Kunst (vgl. S. 118, Bild 27), Abb. 42. Diese die Harmonie des Bauwerks mit der Landschaft betonende Darstellung gibt einen Eindruck wieder, den auch Max Maria von Weber vermitteln möchte: Technik ist hier Friede mit der Natur.
Max Maria von Weber glaubte, anhand der Meisterleistungen aus der Frühzeit des Bauingenieurs eine Technik verherrlichen zu können, die sich den »zarten Respekt« vor der Verletzlichkeit und »Schönheit der Natur« - in des Wortes ökonomischer Bedeutung - noch »leistete Robert Stephenson habe seine Brücken stets so entworfen, daß er »kein Epheublatt [ . . . ] bei seinem Riesenbau knicken« mußte (S. 52). E r sei eben der Sohn eines »Mannes, der in eine gerade Eisenbahnstrecke eine schlanke Kurve legte, weil er es nicht übers Herz bringen konnte, eine g a r zu s c h ö n e Eiche niederschlagen zu lassen.« (S. 53). Noch die darin enthaltene Stilisierung der Realgeschichte 58 erlaubt einen Rückschluß auf eine Wunschvorstellung des Ingenieurs, die sich jenseits aller strikten Ökonomisierung seiner Kunst entfaltet. Worauf die Verhärtungen im Kampf gegen die Natur zurückzuführen sind, wird bei Max Maria von Weber nur ganz schwach und eher unfreiwillig deutlich. Die kurze Erzählung »Der Bergsturz« (1862) lobt den Heroismus von Streckenarbeitern, die nur knapp einer tödlichen Katastrophe bei ihrer riskanten Sprengarbeit entrannen. Die Ursachen für diese Gefährdungen lägen darin begründet, daß die »Höhlung«, die zum Anbringen der Sprengladung ins Gestein hineingetrieben werden muß, meist so niedrig ausfalle, daß die Arbeiter nach Zündung der Sprengladung »nur kriechend die furchtbare, grabähnliche Kluft« verlassen könn58
Schivelbusch: Eisenbahnreise (Anm. 14), S. 26ff.
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ten - der Gesichtspunkt, »Gestein, Material und Arbeitslohn zu sparen«, sei hierfür verantwortlich. 59 Schon hier hält diese Spielart des Ringens »mit den toten Naturgewalten« nur aus, wer über »stählerne Nerven« gebietet. 60 Die »poetischen«, ja »träumerischen Augen« eines »feinen, schlanken, schwarzgekleideten Gentleman«-Ingenieurs wirken vor diesem Hintergrund »fast störend« auf den Betrachter (S. 59). Max Eyths Erzählung »Berufstragik« erhellt exakt das Schicksal eines solchen Ingenieurs (s.u. S. 164). Die englischen Nachfahren der »Napoleon« und »Wellington« der Technik 61 versprachen sich von der Ökonomisierung ihrer Kunst allerdings ganz andere Wirkungen. Der Satz: »the engineers of the old schools are passing away«, wird in einer englischen Fachzeitung ohne elegische Nuance gesprochen. 62 Die Erkenntnis einer Schwäche begründet das Selbstbewußtsein der nachfolgenden Ingenieurgeneration. Vor allem Stephensons Britannia-Brücke galt bald als Beispiel für einen historisch verdienstvollen, aber nunmehr endgültig überlebten, weil zu aufwendigen Baustil; die ökonomischen Vorzüge des neuen Baustoffs Eisen seien nicht optimal genutzt. 63 Max Maria von Weber rettet sein Idol dadurch, daß er die entsprechenden Einsichten den Teilnehmern an einer Tafelrunde im Hause Robert Stephensons und ihm selbst in den Mund legt; der ohne alle Rücksicht auf andere, etwa ästhetische Gesichtspunkte »auf den Zweck direkt losschreitenden« Brückenkonstruktion gehöre - so Stephenson - die Zukunft (S. 69). »Die Eisenbrücke« ist - so ein anderer Teilnehmer - »der eigentliche Charakterausdruck, die eigentliche Hieroglyphe für den Geist des Verkehrs der Neuzeit.« (S. 71). »Die Hast unserer civilisatorischen Wechselwirkungen« (S. 70) verlange die schnelle Konstruktion von Brücken, die nur so lange stehen müßten, wie »die Dauer des rostenden Eisens« den Belastungen standhalte (S. 69). Nicht Stephensons »altenglisches Gesicht« (S. 72), sondern die »nur dem Amerikaner in so hohem Maße eigene, rücksichtslose Energie« lasse - so von Weber an anderer Stelle - von nun an »neue Monstreleistungen der Eisenbahntechnik« erwarten. 64 In einer englischen Fachzeitung heißt es ganz ähnlich: Aufgabe der Stephensons sei es gewesen, die technischen Möglichkeiten der neuen Ingenieurkunst überhaupt erst einmal zu entdecken, von nun an aber sei alles nur noch eine Frage der richtigen ökonomischen Berechnung. Die Stunde der kostenorientierten Technik erscheint als die Stunde ihres größten Triumphes, im Tauschwert sollte sich der Gebrauchswert der Technik entfalten: »How triumphant was the victory of the engineer who could show that the practibility of [...] leaping, at stupendous heights, chasms, which seemed to forbid the passage of civilised communication, 55 60 61
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Zit. nach: Aus der Welt der Arbeit (Anm. 7), S. 33-54. S. 36. A.a.O. So ein Leserbrief in: The Engineer 8 (1859,2), S. 314: »The >Napoleon< and >Wellington< of engineering are now passing to decay«. Leitartikel »The Future of Civil Engineering« (Anm. 56), S. 299. Vgl. dazu allgemein Straub: Bauingenieurkunst (Anm. 43), S. 217-226. Μ. Μ. v. Weber: Eine neue Monstreleistung der Eisenbahntechnik. In: ders.: Schauen und Schaffen (Anm. 20), S. 93-103. S. 97. 121
was only a question of pounds, shillings and pence! Reduced to such limits the problem lost nearly all of its importance.«65 Nun erst wird die Wirkung einer heute nur noch als literarische Reminiszenz bekannten Brücken-Katastrophe verständlich.
3. Theodor Fontanes »Die Brück' am Tay« Realhistorisches Ereignis und poetische Fiktion Die »Deutsche Bauzeitung« notiert in ihrem ersten Heft des Jahrganges 1880: »Eine am 29. v.M. von Dundee abgegangene telegraphische Nachricht meldet einen theilweisen, 13 Oeffnungen umfassenden Einsturz der ersten zu Anfang v. J. dem Verkehr übergebenen Tay-Brücke während eines außerordentlich heftigen Sturmes am 28. v.M. Abends. Die Katastrophe erfolgte während Passirung eines Personenzuges; letzterer ist mit sämmtlichen Insassen, welche derselbe geführt hat, deren Zahl aber noch unbekannt ist, ins Wasser gestürzt, -Ä66 Man muß versuchen, sich das Ausmaß des Unglücks anschaulich zu machen. Hier war nicht (was in der »Sturm-und-Drangzeit« des Brückenbaus mitunter vorkam)67 irgendeine Brückenkonstruktion an irgendeiner Stelle zusammengebrochen, sondern von einem bis dahin gefeierten »Riesenwerk moderner Ingenieurkunst«68 mit einer Gesamtlänge von über drei Kilometern war praktisch ein Drittel spurlos im Meer verschwunden (Bild 30). Der hochaufragende Mittelteil der Brücke schien wie hinweggefegt (Bild 31), nicht ein einziger der zwölf Brückenpfeiler hatte standgehalten. Der »Stolz aller Techniker von ganz England [war] vernichtet«,69 sogar eine führende amerikanische Fachzeitschrift meinte besorgt: »public confidence has suffered a severe shock«.70 Bis in französische und schweizerische Ingenieurvereine hinein wurde sogleich über die möglichen Ursachen des Unglücks lebhaft debattiert. 71 Eine neuere Darstellung resümiert daher zutreffend: »The Tay Bridge disaster [...] is to land communication what the Titanic disaster was to sea communica65 66
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Artikel »Railway Bridges« in: The Engineer 7 (1859,1), S. 428. Hervorhebung im Text. Notiz in: Deutsche Bauzeitung. Verkündigungsblatt des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine 14 (1880), S. 14. Zit. nach Paul Bonatz und Fritz Leonhardt: Brücken. Königstein im Taunus o. J., S. 7. Über entsprechende Unglücksfälle berichtete z.B. fortlaufend die Zeitschrift des Architekten- und Ingenieur-Vereins zu Hannover 22 (1876), S. 326, 582; 23 (1877), S. 639 u.ö. M.: Der Einsturz der Tay-Brücke bei Dundee. In: Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure 24 (1880), S. 69-82. S. 70. Carl Schattenbrand: Der Einsturz der Tay-Brücke, begründet durch statistische Berechnungen. In: Der practische Maschinen-Constructeur. Zeitschrift für Maschinen- und Mühlenbauer, Ingenieure und Fabrikanten 13 (1880), S. 134-139. S. 134. Vgl. Artikel in: The Iron Age. A Review of the Hardware, Iron and Metal Trades. New York, 29. 1. 1880, S. 1. Vgl. Mémoires et Compte rendu des Travaux de la Société des Ingénieurs Civils 1880,1. S. 283-293. Und: Die Eisenbahn. Schweizerische Zeitschrift für Bau- und Verkehrswesen 12 (1880), S. 8-10, 14-16.
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Bild 31: Ein Teil des herabgestürzten Mittelstücks der Brücke. Nach The Engineer 49 (1880, 1), S. 88, 30. 1. 1880.
tion.« 72 So kann es nicht wundernehmen, daß eine angesehene zeitgenössische englische Fachzeitschrift ernsthaft vorschlug, in Zukunft lieber ganz auf Brücken zugunsten der für alle Zeiten sicheren Tunnelbauten zu verzichten. 73 Eine vergleichbare Idee wird der Romanautor Kellermann zur Titanic-Katastrophe unterbreiten (s. u. S. 182). Die Analogie zwischen Realität und Fiktion unterstreicht die ähnliche Wirkung der beiden Desaster. Angesichts des Zusammenbruchs der TayBrücke zeigten sich die Experten jedenfalls derart verunsichert, daß sie glaubten, nur der Nachweis einer »force majeure« könne den »Kredit der noch jungen, wahrlich unschuldigen Brückenbautechnik« retten. 7 4 Die Nachricht, man habe bisher »niemals einen gleich heftigen Sturm am Tay [erlebt]«, 75 wies zunächst die Erklärungsrichtung. Triumphiert hatten, so schien es anfangs, die nie ganz kontrollierbaren und an dieser »äußerst exponierten Baustelle« 76 auch besonders tückischen Naturgewal72
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John Thomas: The Tay Bridge Disaster. New Light on the 1879 Tragedy. Newton Abbot 1972, S. 14. Notiz über: The Forth Bridge. In: The Engineer 49 (1880,1), S. 126f. S. 127: »the tunnel would be a permanent work, lasting for ever, perfectly safe«. Havestadt: Der Einsturz der Tay-Brücke bei Dundee. In: Deutsche Bauzeitung 14 (1880), 15-17. S. 17, Hervorhebung im Text. Der »Regierungs-Baumeister« Havestadt hat in diesem Jahrgang der Bauzeitung eine ganze Reihe weiterer Artikel zum Thema verfaßt. Zum Einsturz der Tay-Brücke (von einem »Edinburgher Mitarbeiter«), In: Deutsche Bauzeitung 14 (1880), S. 34-36. S. 35. Einsturz der Eisenbahnbrücke über den Tay bei Dundee (ohne Vf.). In: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen 20 (1880), S. 24f. S. 24.
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ten; der Tay habe sich am Unglücksort bereits zum Meeresarm ausgeweitet (vgl. Bild 32). »Die Stärke des Orkans (war) auf ein nicht mehr in Rechnung ziehbares Maß gestiegen«, so Max Maria von Weber, der die Tay-Brücke aus eigener Anschauung kannte, in einer populären deutschen Fachzeitschrift. 77 Angespielt wird damit auf eine offenkundig unausweichliche Fallhöhe im technischen Schaffen; gerade wo »kühn gebaut werden muß, wird keine Wissenschaft, keine Aufsicht den Eintritt von Unfällen und Zusammenstürzen ganz verhindern können« (v. Weber). »Wie überall, so verbürgen auch bei Schöpfungen der Technik nicht Wissen und Geschick allein den Erfolg«; daß die Tay-Brücke zusammenbrach, während der zu seiner Zeit berühmte Aquädukt von Alcantara in Lissabon das dortige Erdbeben von 1755 überdauerte und »inmitten der Trümmer einer ganzen Stadt [...] stehen« blieb, erscheint (nach v. Weber) als nicht mehr erklärbares Fatum. Aufschlußreich ist die Situation, in der solche Urteile fallen. Im Schock und noch ohne genaue Kenntnis über den Hergang des Unglücks sowie die Konstruktionsprinzipien der Brücke, behilft sich auch der Ingenieur zunächst einmal mit recht globalen Deutungsmustern. Versagt angesichts »weniger als zuverlässig verbürgter Daten« 78 die professionelle Deutung, so wird deutlich, welch' tief sitzende Besorgnis sie sonst beschwichtigt: vielleicht hat der Kalkül des Ingenieurs doch nicht so sicher wie vermutet >Natur< im Griff? Es falle einfach schwer, so Max Maria von Weber, »sich eine Vorstellung von der Gewalt« der »Naturerscheinungen [...] zu bilden [...], welche auf die Werke der Ingenieurskunst Einfluß üben.« 79 Nicht nur Fontane mit seiner berühmten "Brück' am Tay« (1880), sondern auch andere literarische Autoren versuchten, auf ihre Weise eine Vorstellung davon zu vermitteln; der Abstand des technischen zum literarischen Deutungsmuster ist in dieser Hinsicht geringer als häufig erwartet. Denn, im unvermutet heftigen Wüten des Orkans versinnbildlicht sich auch für den Popular autor aus der »Gartenlaube« Johannes Proelß die prinzipiell nicht beherrschbare Übermacht der Natur. 80 Das Entsetzen darüber wird in seiner Deutung jedoch verharmlost; der Autor findet sogar darin das Wirken einer gütigen Vorsehung bestätigt. »Der Todesgruß auf der Tay-Brücke« - so der Titel des Gedichts - wird wie ein »selig Lächeln« von einem jungen Brautpaar und von einem durch lebenslangen Liebesschmerz
77
78
79 80
Max Maria von Weber: Der Zusammensturz der Brücke über den Tay. Vortrag, gehalten im Verein für Eisenbahnbeamte am 9. März 1880. In: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen 20 (1880), S. 292-294, 307-309, 323-325. S. 324. Die folgenden Zitate finden sich a . a . O . , S. 293 und 325. Der Einsturz der Tay-Brücke (ohne Vf.). In: Der practische Maschinen-Constructeur 13 (1880), S. 54-56. S. 54. Μ. Μ. v. Weber: Zusammensturz (Anm. 77), S. 292. Johannes Proelß: Der Todesgruß auf der Tay-Brücke. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 1880,1, S. 250. Ein weiteres Tay Brücken-Gedicht von August Leverkühn (»Die Taybrücke«) hat Johannes Mahr aufgefunden. Vgl. Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung (vgl. Anm. 17). S. 164.
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gezeichneten Greis dem Sturmwind entboten, weil alle drei dem Unglück die Bewahrung vor noch Schlimmerem verdanken: »Von schweren Unglücks langem Bann, Erlöste der Tod den alten Mann . . . Die Liebenden aber hat er zart Vor aller Trübung des Glücks bewahrt.« Die hochliterarische Deutung Fontanes dagegen versucht, der »entsetzlichen Katastrophe« wirklich standzuhalten. »Die Brück' am Tay«, schon am 10.1. 1880 in der Zeitschrift »Die Gegenwart« veröffentlicht, hat mit ihrer Auslegung bis heute »eine Art Sensation gemacht« (so Fontane bereits am 15.1.1880). 81 Thema ist nunmehr einzig der Triumph der Naturkräfte über den Menschen, widerlegt wird dessen Zuversicht: »Und wie's auch rast und ringt und rennt, / Wir kriegen es unter, das Element.« Bekräftigt wird damit auch hier die antimoderne Skepsis der Altersweisheit; das »Bangen« der »Brücknersleut'« - sie übernehmen jetzt den Part der Philemon und Baucis - hat die Katastrophe richtig prognostiziert. Geirrt hatte sich dagegen, wer, wie ihr Sohn, auf die Segnungen einer lebenserleichternden, weil naturüberwindenden Technik hoffte. Die Unbequemlichkeiten einer eingeschränkten Naturbeherrschung (die älteren Dampffähren [vgl. Bild 33] mußten bei heftigeren Stürmen in ihren Häfen bleiben) waren doch nur scheinbar überwunden: »Und unser Stolz ist unsre Brück'; Ich lache, denk' ich an früher zurück, An all den Jammer und all die Not, Mit dem elend alten Schifferboot; Wie manche liebe Christfestnacht Hab' ich im Fährhaus zugebracht Und sah unsrer Fenster lichten Schein Und zählte und konnte nicht drüben sein.« Daß nicht ein - womöglich vermeidbarer - Fehler die Katastrophe verursachte, sondern Tragisch-Unausweichliches sich ereignete, unterstreicht eine von den Interpreten üblicherweise viel gelobte weltliterarische Anleihe. Die Schicksalshexen aus Shakespeares »Macbeth«-Drama geben dem Wüten des Sturmes eine unverkennbar dämonische Dimension. Ihr Anfangs- und Schlußwort klingt wie ein düsteres Menetekel für Wissenschaft und Technik. Denn, daß Menschen mit ihrer Hilfe über Fluß und Meer - schon immer die Verkörperung ungebändigter 81
Theodor Fontane an Mathilde Rohr, zit. nach Th. Fontane: Sämtliche Werke [Abt. 1]: Romane, Erzählungen, Gedichte. Bd. 6. Hg. v. Walter Keitel. München 1964, S. 955. Auch das Gedicht Fontanes ist nach dieser Ausgabe zitiert (vgl. a . a . O . , S. 285-287). Als heute noch einflußreiche germanistische Interpretation vgl. Fritz Martini: Th. Fontane: Die Brück' am Tay. In: Rupert Hirschenauer und Albrecht Weber (Hg.): Wege zum Gedicht. II. Interpretationen von Balladen. München und Zürich 19682 (zuerst 1963), S. 377-392. Mahr: Eisenbahnen (vgl. Anm. 17), S. 164ff., stützt sich weitgehend auf Martini.
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Bild 33: Eine der Dampffähren beim Anlegen im Fährhafen. Nach British Rail Archives in the Scottish Record Office.
feindlicher Götterkräfte im magisch-animistischen Naturdenken 82 - siegen könnten, war wohl doch eine Illusion: »Tand, Tand Ist das Gebilde von Menschenhand!« Die Ballade sieht diesen Vorgang im Kampf des vorwärtsstürmenden Zuges mit dem die Gewalt des Chaotisch-Elementaren symbolisierenden Orkan versinnbildlicht; der belebten Natur entspricht die personifizierte Maschine als Handlungsträger: »Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug, / Ich, der Edinburger Zug«. Die Brücke selber gewinnt demgegenüber keine konkrete Kontur. Insofern verwundert es nicht, daß es bei Fontane heißt: »Wie Splitter brach das Gebälk entzwei« die reale Tay-Brücke war jedoch aufgrund ihrer Eisen-Konstruktion berühmt. Der Baustoff Holz charakterisiert die vormoderne Brückenbautechnik; 83 zur Kennzeichnung der Hybris moderner Ingenieurkunst taugt er, realhistorisch gesehen, gerade nicht. 82
83
Lieselotte Hansmann: Die Brücke in Mythos und Brauch. In: Bihalji-Merin (Hg.): Brücken (vgl. Anm. 54), S. 71-75. S. 71f. Daneben kann das Wasser auch »Medium alles Werdenden, reinigender Entsühnung und Verjüngung« sein. Vf. spricht zu Recht von einer ambivalenten Einstellung des Mythos. Zum Übergang von Holz auf Eisen vgl. Fritz Leonhardt: Zur Geschichte des Brückenbaus. In: Bihalji-Merin (Hg.): Brücke (Anm. 54), S. 16-57. S. 41f. Straub: Bauingenieurkunst (vgl. Anm. 43), S. 217ff.
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Schon das erhellt: die reale und die fiktive Brücke am Tay haben nur wenig miteinander zu tun. Deutlich wird daran die Schwäche eines gleichwohl einflußreichen, weil griffig abstrahierenden Deutungsmusters, bei dem stets >die Natur< >die Technik< überwindet; beide Konfliktgrößen werden nicht genauer erläutert. Das reale technikgeschichtliche Ereignis verschwindet in seiner tragischen Überhöhung; es wird noch nicht einmal wirklich zur Kenntnis genommen. Fontanes Ballade ist die schnelle Reaktion des Dichters auf die ratlose Stimmung beim Eintreffen der ersten Unglücksnachrichten 84 - daß der Interpret von heute sie mit dem realhistorischen Vorgang gleichsetzt, zeigt die unverändert große Nachfrage nach solchen globalen Deutungsmustern; am Firth of Tay hatte, so heißt es, »die Natur [...] der Technik getrotzt«. 85
4. Technikhistorischer Rückblick Bei Fontane wäre es gar nicht sinnvoll, die Frage nach einer individuellen Verantwortlichkeit für die Tay-Brücken-Katastrophe zu stellen. 86 Schuld hat hier einzig die Hybris des modernen Menschen, der leichtfertig die Übermacht der Natur provozierte. Die Suche nach einer historischen Konkretisierung der Problemlage ist abgeblockt. Der Stand des Ingenieurs wäre damit insgesamt blamiert. Vor allem die englische Fachpresse hat diese Gefahr genau gesehen 87 und darauf, nachdem der erste Schock überwunden war, mit einer radikalen Umkehr der von Fontane poetisch überhöhten Argumentationsrichtung reagiert: »when a bridge breaks down [...], men do not think of assuming that nature has been to much for the engineer, but simply that a particular engineer has not understood his business«. 88 Zugrunde liegt dem das Ergebnis einer sofort nach dem Unglück gebildeten amtlichen Untersuchungskommission, deren Befund nun in der Tat die Problemformulierung des Dichters außer Kraft setzt; vor der Natur hatte schon längst der Kommerz über die Technik gesiegt. Die technikgeschichtliche Recherche verweist also in eine ganz andere Richtung. Thema ist jetzt nicht mehr die unvorhersehbare Zerstörung einer technischen Spitzenleistung (sie lag, zum Entsetzen der Zunft, gar nicht vor), sondern der vorhersehbare Zusammenbruch einer fahrlässig84
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So betont auch Fontanes Quelle, ein Bericht der Vossischen Zeitung v. 30. 12. 1979 (Nr. 364), daß »im Augenblick die Nachrichten über die entsetzliche Katastrophe noch so widersprechend sind«. Zit. nach Fontane: Werke I, Bd. 6 (Anm. 81). S. 952ff., S. 954. So (die sonst so differenziert wie kenntnisreich argumentierende Studie von) Glaser: Maschinenwelt und Alltagsleben (vgl. A n m . 48), S. 22. So spricht Martini: Fontane, Die Brück' am Tay (Anm. 81), S. 381. zustimmend von der »Düsternis eines in das Numinos-Magische zurückweisenden schicksalhaften Geschehens«. Vgl. den Leitartikel: The Tay Bridge Inquiry. In: The Engineer 49 (1880,1), S. 67, Sp. 3 ν. 23. 1. 1880: »The fall of the bridge is beyond question a stigma on British engineers.« Vgl. den Leitartikel: The End of the Tay Bridge Inquiry. In: The Engineer 50 (1880,2), S. 29. Sp. 2.
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leichtfertig, weil allzu preisbewußt kalkulierten Brückenkonstruktion. Oder mit den Worten eines technischen Experten gesprochen: »the wonder is, not that the bridge fell, but that it stood.« 89 Der Urteilsspruch der Untersuchungskommission war denn auch in der Sache eindeutig, und Max Eyth hat diesen Befund seiner Erzählung über die TayBrücken-Katastrophe zugrundegelegt. 90 Nur ein Kommissionsmitglied allerdings fand, da als Nicht-Techniker und Jurist zu keinerlei Rücksichtnahme gegenüber einem berühmten Fachkollegen verpflichtet, zum ersehnten, weil die Zunft entlastenden persönlichen Schuldspruch; die englische Fachpresse dankte es ihm erleichtert. 91 Sein Fazit lautete in unmißverständlicher Härte: »This bridge was badly designed, badly constructed, and badly maintained«; 92 das Resümee, so wie es Max Eyth bei der Materialsammlung für seine Erzählung exzerpierte, war eindeutig: »Bouch (der Erbauer der Brücke) ist für das Unglück verantwortlich.« 93 Sir Thomas Bouch (1822-1880), der auch bei Eyth ebenso berühmte wie viel beschäftigte und für seine Verdienste um die Tay-Brücke sogar in den persönlichen Adelsstand erhobene Konstrukteur, stand plötzlich im Mittelpunkt der Kritik. Wenn sich der Hauptvorwurf allerdings nunmehr gegen die schlanken und schmalen Eisenpfeiler des Mittelstücks richtete (sie hätten dem ungeheuren Winddruck eines am Firth of Tay jederzeit erwartbaren heftigen Sturmes auf die Dauer gar nicht standhalten können, und insofern wäre die Brücke über kurz oder lang auf jeden Fall zusammengebrochen), 9 4 so kann der Leser, der in den früheren Jahrgängen internationaler Fachzeitschriften blättert, nur erstaunt darüber sein, welch' einmütiges Lob für die Brücke insgesamt dort ausgesprochen wurde. Die »bis zur äußersten Grenze gehende Ökonomie in den Stärkedimensionen [der] [ . . . ] Pfeiler« 95 fand bei einem aus Deutschland angereisten Beobachter Anerkennung, und auch ein englischer Fachjournalist lobte das »eminent praktische und ökonomische Design« 96 der Brücke noch zu einem Zeitpunkt, als Thomas Bouch 89 90
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92 93 94 95
%
The Tay Bridge Inquiry. In: The Engineer 49 (1880,1), S. 301, Sp. 3. Vgl. Eyths handschriftliche Exzerpte in: ders.: Notizen für Berufstragik. S. 1-19 sowie 3 unpag. Seiten mit einer Lageskizze. S. 18f. In: Max Eyth: Dichterische Prosa [»Hinter Pflug und Schraubstock«] »Bilder am Wege«. Vorarbeiten 56 Bl. Nachlaß Max Eyth im Deutschen Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum Marbach a . N . Vgl. den Leitartikel: The Tay Bridge Inquiry. In: Engineering. An Illustrated Weeklv Journal 30 (1880,2), S. 31, Sp. 1-3. Ähnlich The Engineer 50 (1880,2), S. 29, Sp. 2 und 3' Vgl. Engineering 30 (1880,2), S. 24, Sp. 3. Eyth: Notizen ( A n m . 90), S. 18. Engineering 30 (1880,2). S. 24, Sp. 2 und 3. Zur Kritik im einzelnen vgl. unten S. 148ff. J. Piossek: D i e Taybrücke bei D u n d e e . In: Deutsche Bauzeitung 7 (1873), S. 51-53. Zitat S. 51. Da hier noch von Pfeilern aus Ziegelsteinen die Rede ist, kann der Betrachter sich damit beruhigen, daß die »Pfeiler das Ansehen eines soliden Fabrikschornsteins« haben ( a . a . O . ) . Zur Fortdauer der günstigen Urteile über die schlanken Pfeilerkonstruktionen nach der Umstellung von Stein- auf Eisenpfeiler vgl. die folgende Textstelle. Vgl. The Tay Bridge. In: Engineering 20 (1875.2). S. 289. Sp. 2. ( 8 . 1 0 . 1 8 7 5 ) : »an eminently practical and economical design«. Eyth hat auch diesen Artikel stichwortartig exzerpiert. Vgl. Eyth: Notizen (Anm. 90). S. 4.
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längst von Stein- auf Eisenpfeiler hatte umrüsten lassen (ein, wie sich zeigen sollte, verhängnisvoller Entschluß). 97 Von Thomas Bouch und seinen Mitarbeitern ließen die angesehenen Fachjournale Englands ohne jede Einschränkung während der Bauzeit verlauten, daß ein jeder Ingenieur es nicht versäumen dürfe, sie an den Stätten ihres Wirkens zu besuchen; »a small band of earnest workers will be there found making engineering history«. »The magnitude of the bridge, and the novelty and ingenuity of the means employed in its erection, entitle it to take rank with the most interesting civil engineering works ever carried to completion.« 98 Die französische und amerikanische Fachpresse schloß sich, mit Hilfe der Verwendung von Zitaten und Auszügen aus dem entsprechenden Leitartikel, solchen Lobsprüchen an. 99 Kein Wort darüber, daß der Bau einer Brücke, die immerhin einen Meeresarm überwinden sollte, besondere Vorsichtsmaßregeln erfordern könnte. Die amtliche Sicherheitskontrolle beschränkte sich auf Belastungsproben, die das Problem des Winddrucks einfach ausklammerten (»6 der schwersten Locs« wurden, wie Eyth richtig exzerpierte, einfach »auf die längsten Gitterbalken gestellt«). 100 Warum man so sorglos war, erhellt die bis in die kontinentale Fachwelt hinein verbreitete Überzeugung, daß der Ingenieur aus Kostengründen »mit dem Sicherheitsgrade unserer Brücken noch herabgehen könnte, ohne daß vielleicht (!) ein Einsturz entstehen würde«. 101 Deshalb hatte den technisch versierten Zeitgenossen zunächst fasziniert, was er hinterher verdammen sollte. Erklärbar ist das nur mit dem technikhistorischen Stellenwert des ganzen Unterfangens. Denn, nicht technische Perfektion als solche, sondern deren Ausrichtung am ökonomischen Kalkül machte die Tay-Brücke schon während ihrer Bauzeit berühmt. Zwar sei sie - so eine deutsche Fachzeitschrift - »bis jetzt die längste über ein dem Flutwechsel ausgesetztes Wasser erbaute Brücke«, »an Höhe« und Spannweite der einzelnen Brückenelemente aber werde sie von anderen »großen Brücken der Neuzeit« durchaus übertroffen. 11,2 Die »Kühnheit des Projekts« beruhe darauf, daß man mit einem vergleichsweise schmalen technischen Aufwand den Widrigkeiten einer außerordentlich stürmischen Natur trotzte; »wegen der verhältnismäßig geringen Geldmittel, mit welchen sie herge97
Vgl. unten S. 148-151. Engineering 20 (1875.2). S. 289. Sp. 1. Und Leitartikel: The Tay Bridge. In: The Engineer 35 (1873.1). S. 197. Sp. 1. Die Zeitschrift widmete daher der Brücke eine reich illustrierte Nummer ihres laufenden Jahrgangs - ein ziemlich außergewöhnlicher Vorgang. der dem bisher als Außenseiter geltenden Bouch die endgültige öffentliche Anerkennung einbrachte. Vgl. Thomas: The Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 40. w Vgl. z . B . Scientific American. A n Illustrated Journal of Art, Science and Mechanics. N e w York. 28 (1873), No. 19 ν. 10. 5. 1874, S. 294. Und: Encyclopédie dArchitecture. R e v u e mensuelle des Travaux publics et particuliers. Deuxième Série 3 (1874), S. 3 - 7 . '"" Eyth: Notizen ( A n m . 90). S. 10, nach Engineering 25 (1878.1), S. 164 und 181. "" E. Winkler: Über den Brückenbau auf der Wiener Weltausstellung 1873. In: Zeitschrift des Oesterreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines 26 (1874), S. 22-29. S. 23. Das Tay-Brücken-Projekt wurde hier der internationalen Fachwelt präsentiert. 1,12 Gustav Meyer: Die Tay=Brücke bei Dundee in Schottland. In: Glasers Annalen für Gewerbe & Bauwesen 3 (1878), S. 450-454 und 498-502. S. 450. w
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stellt ist«, müsse die Tay-Brücke »als eine der bedeutendsten Leistungen aller Zeiten im Gebiet der Ingenieur-Baukunst« gelten. 103 Gelungen schien damit ein auch im Lichte der bisher vorgestellten literarischen Spiegelungen verheißungsvoller und überfälliger Umbruch; die ins Monumentale ausgreifende Technik des Zivilingenieurs hatte sich als renditefähig erwiesen. Der bisher als Außenseiter geltende Bouch hatte aus diesem Grunde die Anerkennung eines seiner angesehensten Fachkollegen gefunden (daß derselbe Ingenieur später zu einem seiner Richter wurde, zeigt, wie schnell man bereit war, die eigenen Versäumnisse zu vergessen): »[the] great Tay Bridge will familiarise the minds of capitalists with large engineering works capable of earning their money's worth«. 104 Auf der Wiener Weltausstellung (sie spielt auch noch in Eyths Erzählung eine Rolle) wurde das Brückenprojekt als Zeugnis für die Überlegenheit einer neuen Ingenieurkunst präsentiert, die sich nach dem Vorbild Amerikas am Kriterium der »Billigkeit« orientiert. 105 Wesentliche Stilmerkmale der Brücke - die Leichtigkeit ihrer Konstruktion, das preiswerte Material, die Höhe und Weite der sogenannten Gitterbalken, die material- und arbeitssparende Bolzenverbindung (statt der aufwendigeren Nietenkonstruktion) sowie der Verzicht auf verstärkte »Endständer« an den jeweiligen Ufern 1 0 6 - dies alles verwies auf das Vorbild der »denkenden, rechnenden und sparenden amerikanischen Ingenieure«, die nicht mehr, wie noch Stephenson, über »unerschöpfliche Geldmittel« verfügten. 107 Der Ingenieur war, wie in Amerika längst üblich, auch als Geschäftsmann vorgegangen und hatte daher seinen »technischen Zweck mit der g e r i n g s t e n A r b e i t erreicht«; daher die »außerordentlich geringen Dimensionen« der Brücke. 108 Die Konkurrenz zwischen englischen und amerikanischen Konstruktionsprinzipien (in der englischen Fachpresse ein ebenso kontrovers wie heftig diskutiertes Thema) 109 schien damit eindeutig 1,13
A . a . O . , S. 502. So William H. Barlow, »President of the Institut of Civil Engineers«, zit. nach Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 62. 1115 Charles Bender: Vergleichung der amerikanischen und europäischen Balkenbrücken in wissenschaftlicher und wirthschaftlicher Beziehung. In: Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure 17 (1873), S. 656-664 und S. 714-732. S. 656. Die Kritik E. Winklers: Brükkenbau ( A n m . 101), S. 29, an Bender zieht nicht den Gedanken einer durchgreifenden Kostenminimierung in Zweifel, sondern polemisiert gegen Benders Zweifel am Wert europäischer Gelehrsamkeit für ein solches Vorhaben. Eyths Held trägt dem, wie sich zeigen wird, Rechnung: geschult und sattelfest in der Theorie, wird er eine »amerikanische« Brückenkonstruktion erfinden und durchsetzen können. ",6 Vgl. Winkler: Brückenbau ( A n m . 101), S . 2 2 , zur Charakterisierung amerikanischer Brücken. S. 26ff. wird die Tay-Brücke als Zeugnis einer weitgehenden Verwirklichung dieser Theorien beschrieben. 104
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So schon Karl Culmann: D e r Bau der eisernen Brücken in England und Amerika (zuerst 1852). Reprint Braunschweig 1975, S. 208 und 210. Hervorhebung im Text. Zitate nach Bender: Vergleichung (Anm. 105), S. 656 (Hervorhebung im Text); Culmann: Eiserne Brücken ( A n m . 107), S. 210. D i e s e Charakteristika »amerikanischer« Baukunst sahen die Zeitgenossen in der Tay-Brücke verwirklicht. Vgl. American v. English Bridges. In: The Engineer 38 (1874,2), S. 55f. U n d ein langer Leserbrief dazu, a . a . O . , 39 (1875,1), S. 275, Sp. 1 und 2.
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entschieden. Die Tay-Brücke wurde der »frühamerikanischen« Stilrichtung zugeschrieben. 110 Die schon lange prognostizierte »vollständige Umwälzung [des] bisherigen Brückenbaues« hatte sich damit, wie es schien, endgültig vollzogen. 111 Auch Max Eyth hat, allerdings mit Einschränkung, die Klassifizierung dieser neuen Konstruktionsmethode als »frühamerikanisch« aufgegriffen; sein Vorbehalt möchte die Originalität des Bauwerks retten. 112 Verwirklicht sieht er sie darin, daß bei der Brücke das »Charakteristische [wie so] oft mehr wert [ist] als das Schöne« und Dekorative (S. 488) - exakt diesen Verzicht auf jeden äußerlichen Zierat meinte aber auch der von Eyth in dieser Hinsicht zu Unrecht getadelte »boshafte Kritikus« (S. 488). 113 Was der hier als Vorbild dienende reale Zeitungsautor sagen wollte, war, daß das Kostenprinzip auch eine neue und auf den ersten Blick schockierende Ästhetik begründen müsse; »two miles of an ugly type of lattice girders can hardly be ignored« (vgl. Bild 34), sie bildeten einen schneidenden Kontrast zu den umgebenden dicht bewaldeten Bergabhängen. 114 Solche »Eisengerüste, die mit ihren Pfosten, Streben, Trägern so hart und grau aufragen«, sind ästhetisch nur, wenn man damit im Sinne von »Aisthesis« die Stärke der Wirkung auf die »sinnliche Wahrnehmung« des Betrachters bezeichnen möchte; im »kalten Hauch«, der von ihnen ausgeht, soll die aufs äußerste gesteigerte Zweckmäßigkeit einer »rationellen Konstruktion« zum Ausdruck kommen. 115 Die eben zitierte »Ästhetik (der) Eisenbauten« (von 1907) liest sich wie eine der vielen zeitgenössischen Charakterisierungen der Tay-Brücke; es scheint, als habe sich schon hier die Technik der Eisenkonstruktion vollendet, deren »innere Wahrheit« die »sichere Sachlichkeit« sei, »mit der Geist und Technik in diesen Eisenwerken ihr Ziel auf kürzestem Wege mit konzentrierter Kraft zu erreichen wissen«. 116 Oder mit den Worten Max Eyths über seine Brücke gesprochen: »Hier war in Eisen und Stein Entschlossenheit, Wille, Lebenszweck« (S. 488). Darin verkörpere sie die »Poesie unsrer Zeit« (S. 515). 110
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1,3 114 115
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Vgl. Engineering 20 (1875,2), S. 289. Sp. 2 (Hervorhebung vom Verfasser). Eyth hat diese Charakterisierung als »early American« exzerpiert, vgl. ders.: Notizen (Anm. 90). S.4. R. Proell und C. Scharowsky: Der amerikanische und der deutsche Brückenbau in Eisen. In: D e r Civilingenieur Jg. 1878, S. 497-518. S. 467. Vgl. ähnlich C. O. Gleim: Der amerikanische Brückenbau der Neuzeit. In: Zeitschrift des Architekten- und IngenieurVereines zu Hannover 22 (1876), S. 73-114, 225-282. 395-446. Zu dieser Diskussion gehört auch Culmann: Eiserne Brücken (Anm. 107). Max Eyth: Berufstragik. In: ders.: Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Taschenbuch eines Ingenieurs (zuerst 1899). Stuttgart und Berlin o.J. 94. Aufl. S. 392-523. S. 488. Hiernach wird im folgenden mit bloßem Seitenverweis im Text zitiert. Die im Literaturverzeichnis ( D III, 2) genannte Erstausgabe, die über den bibliographischen Leihverkehr nicht zu beschaffen war, habe ich erst kurz vor der Drucklegung erwerben können; einen systematischen Textvergleich habe ich daher nicht mehr vornehmen können. Er muß einer kritischen Neuausgabe vorbehalten bleiben. Vgl. Engineering 20 (1875,2), S. 289, Sp. 2. Vgl. auch Anm. 110. Engineering 20 (1875,2), S. 289, Sp. 2. Alfred Gotthold Meyer: Eisenbauten. Ihre Geschichte und Ästhetik (zu Ende geführt von Wilhelm Freiherr von Tettau). Esslingen 1907. S. 4 und 6. Meyer: Eisenbauten ( A n m . 115). S. 6 (Hervorhebung von mir).
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Bild 34: Die Brücke über den Firth of Tay. Nach British Rail Archives in the Scottish Record Office.
Ich resümiere: Thomas Bouch - »a hard-headed, practical man« - wurde anfangs tatsächlich wie der Genius eines neuen technischen Zeitalters gefeiert 117 die Schärfe des Verdikts nach der Katastrophe hat er nicht überlebt. Er starb, obzwar schon vorher leidend, gleichwohl doch auch »in Folge der ungewöhnlichen Geistesaufregung« 118 bereits am 30. Oktober 1880. Die Zunft war da schon längst mit den Plänen zum Wiederaufbau der Brücke beschäftigt; man wollte an Ort und Stelle die beschämende Fehlleistung vergessen machen. Endgültig getilgt war die Schmach jedoch erst mit der Eröffnung der Brücke über den Firth of Forth im Jahre 1890.119 Bouch hatte hier ursprünglich gleichfalls eine ebenso elegante wie schlanke Hängebrücke (vgl. Bild 35) bauen sollen (und sogar schon mit den Vorarbeiten begonnen); die Überbrückung von Firth of Tay und Firth of Forth war von vornherein als gemeinsames Projekt geplant. Die tatsächlich gebaute Forth-Brücke - als mächtige Fachwerk-Auslegerbrücke mit einer Spannweite von 521 Meter von Sir John Fowler (1817-1898) und Benjamin Baker (1840-1907) 117 118
119
Engineering 20 (1875,2), S. 289, Sp. 2. So die Deutsche Bauzeitung 14 (1880), S. 482. Vgl. auch a . a . O . , S. 495: der »Einsturz der Tay-Brücke und die sich daran schließende peinliche Untersuchung (haben) sein Leiden beschleunigt«. Vgl. Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 201f. Die Diskussion um den Neuaufbau der Tay-Brücke begann praktisch zeitgleich mit der Einsetzung eines amtlichen Untersuchungsausschusses zum Einsturz der alten Brücke. Vgl. The Engineer 49 (1880,1), S. 49 (am 16. 1. 1880).
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Bild 36: Eisenbahnbrücke über den Forth (1883-1890). Abbildung nach Photo Fox Photos Ltd., London.
entworfen (Bild 36) - gilt noch heute als »großartige Ingenieurleistung«, 120 die (wie früher die Tay-Brücke) »die Schönheit nur in der Zweckmäßigkeit sucht«. 121 Das »charakteristische Aussehen« der Forth-Brücke verkörpere »die Tatkraft und den Mut ihrer Erbauer«. 1 2 2 Die Begrifflichkeit erinnert nicht von ungefähr an Eyths Einschätzung; sofern der Forth-Brücke ästhetischer Reiz zugesprochen wird, so liege er (wie bei der Tay-Brücke) »in der Größe, in der Kühnheit und in der Klarheit des konstruktiven Gedankens«, der sich gerade in einem derart schmucklos-nüchternen Bauwerk ausdrücke. Diese Eisenkonstruktion wirke wie ein »>Hohes Lied< der Technik« auf den Betrachter. 123 Wenn also der Verlag, der Eyths gesammelte Erzählungen seit 1899 herausgibt, auf dem Umschlagbild der neuesten Ausgabe ausgerechnet die Forth-Brücke abbildet, so hat er damit auf eine äußerst unfreiwillige Art und Weise das Kernproblem getroffen: hier war erreicht, wonach der Konstrukteur der TayBrücke vergeblich strebte. Die Erbauer der Forth-Brücke hatten seine Fehler beherzigt (so wurde vor allem dem Problem des Winddrucks erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet). 124 Das Tay-Brücken-Debakel war damit, wie es schien, endgültig bewältigt. Im deutschen zeitgenössischen »Handbuch der Ingenieurwissenschaften« wird die Bautechnik der Brücke in der zuständigen Abteilung »Der Brückenbau« (in der 120 121
122 121 124
Leonhardt: Brückenbau (Anm. 83), S. 52. H[ermann] Jordan und E[ugen] Michel: Die künstlerische Gestaltung von Eisenkonstruktionen. Berlin 1913, S. 140 (E. Michel). Jordan und Michel: Gestaltung (Anm. 121), S. 48 (H. Jordan). Bonatz und Leonhardt: Brücken (Anm. 67). S. 7 und 91. Über die dazu angestellten Versuche vgl. R. Kohfahl: Winddruck. In: Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure 44 (1900,2). S. 1021-1028. S. 1021f.
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ersten Auflage von 1880) zwar durchaus noch als technischer Fortschritt gewürdigt, ihr Zusammenbruch aber in den folgenden Auflagen mit abnehmender Ausführlichkeit registriert (die vierte Auflage von 1904 vermerkt ihn nicht mehr). 125 Die »Schlamperei« eines Einzelnen erweckt - im Reiseführer unserer Tage - nur noch touristische Neugier. 126 In der repräsentativen englischsprachigen Technikgeschichte sucht man vergeblich einen Hinweis darauf, warum sich ein derart berühmter Ingenieur in der Berechnung des Winddrucks so gravierend irrte (Bild 37). 127
5. Eyths »Berufstragik«: Stellung im Gesamtwerk, Erzählfiktion und Erzählproblem Die Studie mußte die vorangegangene technikhistorische Exkursion weitgehend auf eigene Rechnung veranstalten; das einschlägige Quellenmaterial wurde von der Technik-Geschichtsschreibung bisher so gut wie noch gar nicht ausgewertet. 128 Die Stimme der Fachjournale sollte plausibel machen, worum es sich bei der von Fontane etwas vorschnell und daher sehr mißverständlich inszenierten »schaurigen Weltsensation« 129 eigentlich handelt. Das Debakel markiert, wie gezeigt, die Risiken eines gleichwohl stets als notwendig hingestellten technikgeschichtlichen Wandels; das Unglück rührte an den Nerv eines aufstrebenden Berufsstandes. Der literarische Autor Max Eyth thematisiert also kein abwegiges Seitenthema der Technik-Geschichte; zumindest vom Stoff her verdient sein Text mehr als nur einen Verlegenheitsplatz in einer literarhistorischen Nische. Weiter wird es erst nach dem vorangegangenen Analyseschritt möglich, die spezifischen Intentionen des Erzählers Eyth herauszuarbeiten; denn Max Eyth erzählt die technische Geschichte des Unternehmens durchaus mit eigener Absicht. Wo für andere nur der Leichtsinn eines Einzelnen wirksam war, will er, wie schon der Titel seiner Erzählung zeigt, die »Berufstragik« eines ganzen Standes sichtbar machen, und die Frage ist, wie ihm die dazu notwendige 125
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Vgl. Th. Schäffer und Ed. Sonne (Hg.): D e r Brückenbau. Handbuch der Ingenieurwissenschaften. II. Band. 1. Abt. Leipzig 1880, S. 28f. (Bearb. F. Heinzerling). Und dass. 2. umgearbeitete und vermehrte Aufl. Leipzig 1889. 5. Abt. S. 55-57 (Bearb. F. Heinzerling). Dass. hg. Th. Landsberg. Dritte vermehrte Aufl. Leipzig 1903, S. 126 (Bearb. G . Mantel). In der vierten vermehrten Aufl. (von 1904) habe ich überhaupt keinen Hinweis mehr auf das Tay-Brücken-Unglück gefunden. Peter Sager: Schottland. Geschichte und Literatur. Architektur und Landschaft. Köln 1982 3 (zuerst 1980) ( = D u M o n t Kunst-Reiseführer), S. 230-232. S. 232. D a ß Fontanes Problemformulierung das Tay-Brücken-Dekabel nicht trifft, wird bei Sager knapp, aber zutreffend referiert. Deutlich wird aber nicht, worin Faszination und Verdikt der Zeitgenossen ihre gemeinsame Ursache hatten. Vgl. Charles Singer et. al. (Ed.): A History of Technology. Volume V; The Late Nineteenth Century 1850 to 1900. Oxford 1958, S. 502f. A u c h Thomas: Tay Bridge Disaster ( A n m . 7 2 ) , hält sich bei der Auswertung der publizistischen Stimmen sehr zurück. So Leonhardt: Brückenbau ( A n m . 83), S. 52.
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Bild 37: Die 1881 b e g o n n e n e n e u e T a y - B r ü c k e . Die Stärke ihrer Pfeiler wirkt b e s o n d e r s mächtig, w e n n m a n sie mit d e m Ü b e r r e s t eines alten Pfeilers (links im Bild) vergleicht (British Rail A r c h i v e s in the Scottish R e c o r d Office).
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Stilisierung, Umdeutung und literarische Überhöhung der realen TechnikGeschichte gelingt. Das Thema erhält dadurch zusätzliches Gewicht: Technik als »frühamerikanische Sachlichkeit« wird hier lange vor vergleichbaren Debatten im 20. Jahrhundert einer prinzipiellen Kritik unterworfen, die mehr als nur das Fehl verhalten einer Person herausstellen möchte. Daß der Tauschwert der Technik über ihren Kulturwert triumphiert, darin sieht der sonst so optimistisch gestimmte Dichter-Ingenieur Max Eyth den Ursprung tragisch-düsterer Verstrikkung. Eyth selber hat den Ausnahmecharakter der Erzählung, die sein erstes Erzählwerk, den Sammelband »Hinter Pflug und Schraubstock« (1899), beschließt, genau gesehen. Die dort gesammelten »Bilder am Wege« (so der erst vor der Drucklegung abgeänderte ursprüngliche Titel) 130 verkünden sonst eine ganz andere Botschaft; die Prosatexte und Gedichte rühmen den biederen Optimismus eines weitgereisten Firmenvertreters für Dampfpflüge und erzählen von seiner überall erfolgreichen deutschen Tüchtigkeit. Daß der Held Ingenieur ist, ist demgegenüber nur von zweitrangiger Bedeutung. Schon während der ersten Niederschrift der »Berufstragik« (im März 1898) notiert Eyth daher fast dankbar: »das Motiv der Geschichte ist neu und gut« (21. 3. 1898). Und nach der Vollendung des Rohentwurfes heißt es: »die größte [...] u[nd] ich denke, nicht die schlechteste [Geschichte:] wenigstens eine, die eine allgemeinere Bedeutung u[nd] einen tieferen Sinn hat, als manche der anderen« (1. 4. 1898).131 Mit Recht gilt daher die Erzählung »Berufstragik« als »Höhepunkt von Eyths dichterischem Schaffen«. 132 Sie steht im Zentrum der wenigen bisher unternommenen Versuche, den noch heute als Begründer der »Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft« hoch Geehrten 1 3 3 auch als Schriftsteller aufzuwerten. Eine detaillierte Textanalyse, die zugleich den technikhistorischen Hintergrund rekonstruierte, liegt gleichwohl noch nicht vor; das Verhältnis von Technik-Geschichte und literarischer Fiktion ist überhaupt noch nicht geprüft. Vorherrschend ist vielmehr die Tendenz zur Identifikation beider. Eyths »Enno«-Brücke wird wie die »Tay«-Brücke behandelt, so als seien beide »ein Wunder sinnvoller zweckvoller Menschenleistung«. 134 Der Autor aber hat mehr als nur die Namen der handelnden Personen und die Ortsbezeichnungen geändert; 130
Vgl. Max Eyth: [Autobiographisches] Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1866-1906. Mit verschiedenen Beilagen. 40 Bde. Deutsches Literaturarchiv/SchillerNationalmuseum Marbach a . N . Tagebuch 1898, am 23. 8. 1898: » D e n Vertrag mit der D . V . A . unterschrieben - Änderung des Buchtitels >Hinter Pflug und Schraubstocktragisch< endende Brükkenerbauer; darauf folgt Eyth, dessen erste Schritte ins Berufsleben bei der Firma Fowler in Leeds auf seine erfolgreiche Karriere als reisender Ingenieur für 1411
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So der Rezensent in: Deutsche Techniker Zeitung v. 5. 12. 1903. Zit. nach Sammelband I (Anm. 135). Fälschlicherweise ist hier vom Firth of Forth die Rede. So ist eine »technische Erholungssuite [ . . . ] mit Freund G.« zur Britannia-Brücke Stephensons in der Erzählung (S. 400f.) verwertet. Beide Male ist z.B. von einem »Paradies« die Rede, das man vorgefunden habe. Vgl. [Eduard Eyth (Hg.):] Wanderbuch eines Ingenieurs. In Briefen von Max Eyth. Erster Band: Europa. - Afrika und Asien. Heidelberg 1871. S. 65-68. Zitate S. 65 und 67. Die Neuausgabe der autobiographischen Schriften trägt den Titel: Im Strom unserer Zeit. Erster und zweiter Teil: Wanderbuch eines Ingenieurs. Mit einem Bildnis des Verfassers und einer Einführung von A. und Lili du Bois Reymond. Stuttgart und Berlin o . J . ( = Max Eyths Gesammelte Schriften, Bd. 5). Der im »Wanderbuch« abgedruckte Brief vom 28. 8. 1861 fehlt hier. Der Freund G. ( = Gutekunst) wird im Wanderbuch I (Anm. 141) mehrfach erwähnt. Er hatte, wie aus den handschriftlichen Originalbriefen Eyths hervorgeht, den Autor nach Manchester geholt: »Mittlerweile hatte mir Gutekunst geschrieben, ich sollte so rasch als möglich nach Manchester kommen, indem er hoffe, mir eine Stelle verschaffen zu können.« Max Eyth am 4. 6. 1861 an seine Eltern, zit. nach ders.: An [Eduard] Eyth u. [Julie Eyth]; a . d . J . 1861 und 1862. 42e. Br. [...]. 97 Bl. m. 179 besch. S. Nachlaß Max Eyth im Deutschen Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum Marbach a . N . Beide Freunde bewohnten in Manchester »ein kleines, nettes Häuschen, wie sie alle in der Pigotstreet sind, - ordentliche, freundliche Leute«. Vgl. Wanderbuch I (Anm. 141), S. 58. Eyths handschriftlicher Brief vom 11.7. 1861 nennt die volle Anschrift: »Manchester - 28 Pigotstreet. - Green Keys.« Daraus wurde in der Erzählung dann die »Grünheustraße« (s.u. S. 142). Einen weiteren Freund habe ich den handschriftlichen Originalbriefen nicht feststellen können.
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Dampfpflüge vorausdeuten. Ganz unten ist Schindler angesiedelt, der - einzig erfolglos - zunächst als Sprachlehrer für das Französische beginnt, am Ende aber wenigstens als Professor an einer thüringischen Gewerbeschule und anerkannter technischer Fachschriftsteller arbeitet. Die Stellung der Erzählung »Berufstragik« im Gesamtwerk »Hinter Pflug und Schraubstock« (der Leser lernt sie dort als letztes kennen, er ist also bereits über die Erfolge des Dampfpflügers Eyth unterrichtet) unterstreicht den Gesamteindruck: Erfolg hat, wer wie Eyth in stets überschaubaren und bestenfalls >mittelhohen< Konfliktlagen operiert. Das Erzählproblem, das daraus resultiert, wird im Verlauf der fiktiven Brücken-Geschichte sehr schnell deutlich, die am Anfang und Ende mit einer einfachen, in den Mittelpartien jedoch mit einer doppelten Perspektivierung arbeitet; die Erzähl-Figur Eyth berichtet entweder selbst, oder aber sie arrangiert und kommentiert die nur scheinbar authentischen Berichte des Brückenerbauers. Auch dann ist der fingierten Selbstaussage des Konstrukteurs die Sehweise der Erzähl-Figur Eyth wie eine stets implizit wirksame Erzählperspektive vorgeschaltet, und es fragt sich, ob der damit eingenommene Erzählerstandpunkt dem Erzählthema angemessen ist. Der Held selbst hält dem Freund, der Erzähl-Figur Eyth, immerhin vor, »bei deinen Dampfpflügen bist du sichtlich verbauert« (S. 432), und der Angesprochene ironisiert sich auch selber als »Maschinenbauer«, der Brücken bisher nur als romantische Verzierung von malerischen Landschaftskulissen gelten lassen wollte. 143 Der >MechanikusMaschinistenverein< angesehen.« Als »>vornehme Vere i n e ^ konnten dagegen »die Architekten- und Bauingenieurvereine [gelten].« Vgl. Wanderbuch I (Anm. 141). S. 61.
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(S. 393) und Bürgersteigen, die »sauber wie [ . . . ] Tanzboden« sind, kapitulieren müssen - »alles [ist] reinlich, nett und freundlich.« (S. 402). Das Engagement des Helden geht in Kulissen vonstatten, die einer »für den Anfang eines Romans so äußerst günstigen Szenerie« aus Eyths Autobiographie nachempfunden sind. 146 Thema der Erzählung aber soll sein das »harte, rücksichtslose Leben« (S. 439). Am Schluß des zweiten Erzählabschnitts hat es die Oberhand gewonnen. »Auf dem Kahlenberg« (wo sich die Jugendfreunde aus Anlaß der Wiener Weltausstellung von 1873 wiedertreffen) warten beide am Ende vergeblich darauf, daß sich Eyths »Vorgefühl« bewahrheitet: »Schindler kommt!« (S. 438). Nur »im erbärmlichsten Roman wäre er sicherlich gekommen.« (S. 439). In der Einführung des Lesers in die verwickelte Vorgeschichte des BrückenProjekts jedoch hat sich, was erst nur nachteilig schien, zum Vorteil gewandelt; durch Nachfragen des »umnachteten Dampfpflügers« wird sogar die »etwas langweilige Aufzählung von Pfeilern und Spannweiten« (S. 435f.) aufgelockert. Die Laienhaftigkeit der Erzähl-Figur Eyth provoziert die für den sachunkundigen Leser erforderlichen Auskünfte, und die derart belebte Darstellung auch komplizierter technischer Sachverhalte bedeutet keine geringe Leistung des Autors. Sie setzt sich fort in den - fingierten - Briefen des Brückenerbauers (»Die Brücke«).
6. D e r H e l d u n d sein P r o j e k t
Der Erzähler macht sich absichtlich klein, um seine Leitfigur besser hervortreten zu lassen. Es fragt sich, warum die Figur für ihn so wichtig ist. Zu erläutern ist deren technikhistorischer Symbolwert und ihre erzählerische Bedeutung. Ich beginne damit, den ersten Sachverhalt zu entfalten. In der Erzählung ist Harold Stoß der Schwiegersohn des nur nach außen hin für alles allein verantwortlichen Brückenerbauers; die reale Figur des Thomas Bouch ist zur fiktiven Figur eines (noch während des Brückenbaus) in den »Maschinenadel« (S. 456) erhobenen Sir William Bruce verändert, von dem es heißt, daß bei ihm die technische Phantasie jede Fähigkeit zur exakten Berechnung seiner kühnen Entwürfe ersetze (S. 431). Bruce steht für den älteren Typ des genialen Konstrukteurs noch ohne gründliche wissenschaftliche Ausbildung; 147 die mathematischen Fähigkeiten seines Schwiegersohns sind daher für ihn unverzichtbar. Stoß plant, leitet und verändert, falls erforderlich, den Bau der wirklich bahnbrechenden und nur nach außen hin Bruce zugeschriebenen Brücken. Statt der Ehre erhält er die Tochter als Lohn (S. 494). Eyths Quelle kennt nun zwar einen Ingenieur Allan Stewart, den Bouch gelegentlich in Fragen der mathematischen Berechnung konsultierte und der darüber einen viel beachteten Vortrag veröffentlichte. Bauleitung und Baukontrolle waren jedoch an eine Vielzahl 146 147
Vgl. die S. 407ff. der Erzählung mit Wanderbuch I (Anm. 141), S. 54f. Zitat S. 55. Straub: Bauingenieurkunst (Anm. 43). S. 215.
143
anderer Ingenieure delegiert. 148 Mit seinem Kunstgriff, Planung, Berechnung und Bauleitung auf eine fiktive Figur zu projizieren, erreicht der Erzähler eine historisch adäquate Problemexposition: Einerseits kann er der Erkenntnis Rechnung tragen, daß bei näherem Zusehen die großen Einzelnen ohne ihre sachkundig spezialisierten Helfer ihre genialen Entwürfe gar nicht verwirklichen könnten (schon Stephenson mußte sich mit einem seiner Mitarbeiter um sein Verdienst an der Britannia-Brücke streiten), 149 anderseits aber bleibt die Möglichkeit erhalten, anhand einer Zentralfigur, die für alles verantwortlich erscheint, Berufsethos und Ingenieur-Ideal neu zu begründen. Eyths Erzählung spiegelt damit eine Sozialerfahrung, von der auch der Popularroman der Zeit spricht; der Ingenieur ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumeist nicht mehr sein eigener Herr, indem er etwa als Ingenieur-Unternehmer arbeitet. Insbesondere der frisch diplomierte Ingenieur muß sich zunächst einmal als Angestellter in »ein ganzes Heer von Ingenieuren, Technikern und Verwaltungsbeamten« einreihen lassen (E. Werner »Freie Bahn!« 1893). Schon die Härte des Aufstiegskampfes gegen seinesgleichen hat viele Helden nahezu verzehrt, bevor sie sich tatsächlich bewähren können (vgl. Paul Grabeins »Hüter des Feuers« von 1912).150 Der Ingenieur als Held ist deshalb auch bei Eyth nicht mehr (wie noch vom selben Autor in das »Faust«-Drama hineingelesen [vgl. o. S. 29]) der selbstherrlich waltende Autokrat und Feldherr, weil - wie es heißt »viele Finger in einem so gigantischen Pudding stecken« (S. 462); die Ausnahmestellung des Ingenieurs wird neu definiert. Das Augenmerk richtet sich nunmehr auf diejenigen, die nach außen hin nur im zweiten Glied stehen, auf deren Kompetenz aber tatsächlich das Gelingen der Spitzenleistung beruht. Eyths Thema sind überhaupt die »Kleinen und Stillen, [die] bauen«; er möchte begreiflich werden lassen, daß sie die »wahrhaft Großen sind«.151
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Ü b e r die Vernehmung Allan Stewarts nach dem Unglück berichtet Eyths Quelle, die Zeitschrift Engineering 29 (1880,1), am 14. 5. 1880, S. 387f. D e n Vortrag Stewarts: On Designing Wrought Iron Girders, druckte ab The Engineer 33 (1872,1), S. 399ff. Darin sagte Stewart: »I assisted Mr. Bouch at his request with the calculations and detailed designs of the girders.« A . a . O . , S. 401, Sp. 1. Die Kompetenz Stewarts blieb nach dem Untersuchungsverfahren allerdings umstritten. Vgl.: Zum Einsturz der Tay-Brücke (ohne V f . ) . In: Wochenblatt für Architekten und Ingenieure 2 (1880), S. 9f.; 296-298. S. 298. B e z u g g e n o m m e n wird hier auf den Abschlußbericht der Untersuchungskommission. Zur Verteilung der Aufgaben unter den am Bau der Brücke beteiligten Ingenieure vgl. Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 32f. Und Eyths Quelle Engineering 29 (1880,1), S. 387ff.
149
Vgl. Culmann: Eiserne Brücken (Anm. 107), S. 177. " Werner: Freie Bahn! ( A n m . 37), S. 49. Paul Grabein: Hüter des Feuers. Roman. Leipzig 1912, S. 36ff. u . ö . Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund dieser Wandlung der sozialen Stellung des Ingenieurs vgl. Jürgen Kocka: Unternehmer in der deutschen Industrialisierung. Göttingen 1975 ( = Kleine Vandenhoeck Reihe 1412), S. 50ff. und 106ff. U n d L. U. Scholl in Ludwig (Hg.): Technik (Anm. 13), S. 1-66. S. 59f. 151 Max Eyth: D e r Schneider von Ulm. Geschichte eines zweihundert Jahre zu früh Geborenen (1906). Stuttgart und Berlin o.J. ( = Max Eyths Gesammelte Schriften, Bd. 2), S. 100. 15
144
Im »Schneider von Ulm« (posthum 1906) gilt das vom vormodernen Erfinder, der die Differenz des technischen Schaffens zum »bösen [Geist]« der »Gewinnsucht« verkörpert, dieses Ideal jedoch nur deshalb bewahren kann, weil er als unbefleckter »Märtyrer seiner Idee«152 am Unverstand der Zeitgenossen, aber auch an eigenen Unzulänglichkeiten scheitert. 153 Die Erzählung »Berufstragik« fragt nach den Folgen für das Handlungsideal und das Selbstverständnis des Technikers mit ihren gegen das Geldkapital gerichteten Spitzen, wenn der Ingenieur als »Ideenmensch« sich tatsächlich, wie es der Kulturwerttheoretiker programmatisch verlangte, in der Sphäre des »Reellen«154 behauptet: hier »[hängt] die Geldfrage über [ihm] wie ein Schwert« (S. 462). Er gerät, wenn er nicht m e h r wie Faust (vgl. o. S. 38ff.) - über absolutistische Machtmittel verfügt, unter den Druck der Ökonomie. Das Problem ist, wie sich der Kulturwert der Technik in der Sphäre der »Verbreitung und Anwendung« behaupten solle, wenn richtig ist, daß nur der wirtschaftlich denkende Ingenieur sich glaubhaft vom Erfinder als bloßem Träumer abgrenzen könne (so Max Eyths Essay »Philosophie des Erfindens« 1903).155 Daß der international erfolgreiche Bauingenieur im Unterhaltungsroman der Zeit von seinen Neidern als »schwerreicher [...] Bauspekulant« geschmäht wird (so geschehen in W. Hegelers »Ingenieur Horstmann« von 1900), dokumentiert, wie weithin verbreitet die Vorbehalte gegen die Wegbereiter »der rapiden Eisenbahnbauten« gewesen sein müssen. 156 Hegelers Held baut erst am Ende seines Lebens eine wirklich sichere Brücke, »als ob er einen Sühnetempel schüfe«.157 Daß Wirtschaftlichkeit nicht mit Bereicherung zusammenfiel, war bei solchen Voreinstellungen nicht leicht beweisbar. Charakteristisch ist, wie der Ingenieur bei Max Eyth demgegenüber die Geldfrage auffaßt: Er denkt in erster Linie an die Steigerung der Wirtschaftlichkeit in 152
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Eyth: Schneider. ( A n m . 151), S . 4 1 f . , und Max Eyth: Zur Philosophie des Erfindens. Vortrag (1903). Zit. nach Adolf Reitz: Max Eyth. Ein Ingenieur reist durch die Welt. Pioniertaten eines Landtechnikers. Heidelberg 1956, S. 241-265. S. 253. Eyth charakterisiert damit das noch unterentwickelte Durchsetzungsvermögen des vormodernen Erfinders. D e r Held ist »trotz aller Sehnsucht nach Flügeln« zu sehr ein »gewöhnlicher Schneider« ( a . a . O . , S. 475 und 472); die Verherrlichung einer »schönen Technik und einer neuen technologischen Schönheit« (so Felix Philipp Ingold: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909-1927. Frankfurt am Main 1980 [ = suhrkamp taschenbuch 576], S. 112) gelingt daher nicht. Der Roman handelt mehr von den Schwierigkeiten eines zünftigen Handwerkerdaseins als von der Problematik technischen Erfindens und Schaffens. Erst die »Straffung der Handlung macht das Buch aktuell«. Vgl. Horst Bissingers Geleitwort zu: Max Eyth: D e r Schneider von Ulm. Erster Band [mehr nicht erschienen], Magstadt 1964, S. 5. D e r R o m a n wurde, aus den zuvor genannten Gründen, nicht in die Untersuchungsreihe aufgenommen. Zitate nach Eberhard Zschimmer: Philosophie der Technik. Vom Sinn der Technik und Kritik des Unsinns über die Technik. Jena 1919 2 (zuerst 1914), S. 31 (mit Bezug auf Eyth) und S. 13. Eyth: Philosophie ( A n m . 152), S. 253. Vgl. auch a . a . O . , S. 249. Hegeler: Ingenieur Horstmann ( A n m . 37). S. 15 und 32. Der Eisenbahnbau als Spekulationsobjekt ist auch Thema von Friedrich Spielhagens Roman »Die Sturmflut« (1877). A . a . O . , S. 90.
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der Mittelverwendung; daß damit Gewinn für das investierte Aktienkapital erwirtschaftet wird, erscheint als Randbedingung. Ökonomie meint also zunächst einmal Sparsamkeit und dann erst die dadurch gewährleistete optimale Kapitalverwertung. Fortgeführt wird damit eine Vorstellung von »guter Öconomie«, die mit Sparsamkeit gleichgesetzt - einst das Selbstverständnis einer staatlich gelenkten Ingenieurkunst geprägt hatte. 158 Der Ehrgeiz des Ingenieurs richtet sich auch bei Eyth noch darauf, ein so großes Werk »außerordentlich billig« herzustellen; daß dabei »ein paar hübsche Schecks [...] im letzten Augenblick von Hand zu Hand« gehen, wird eher beiläufig und fast etwas verschämt registriert (S. 487). Trotz aller Anfälligkeit für die Vorzüge privaten Reichtums - Aktionäre, die nur darauf sehen, sind im Denken des Ingenieurs eine negative Größe. Bruce muß daher den Aktieninhabern der Eisenbahn- und Brückengesellschaft in einer Krisensituation klarmachen, daß »die Geldfrage [...] ohne Belang« sein müsse, wenn es darum gehe, ob man den »enormen Nutzen der Brücke« weiterhin finanzieren wolle (S. 459). Brücken sind, wie schon Fausts Kanäle und Dämme (s. o. S. 38 und Anm. 81), nur etwas für Finanziers, die vor allem an »die großen Verkehrsinteressen« (S. 459) und erst danach an ihre eigenen unmittelbaren Gewinnchancen denken. Der Ingenieur hat - wie später bei Ford (s.u. S. 192ff.) - die Aufgabe, eine produktive Verwendung des Geldkapitals zu gewährleisten. Daher ist es kein Gegensatz, sondern nur konsequent, wenn es von Bruce heißt, als er seinen künftigen Schwiegersohn nach einer imponierenden Schilderung seiner weltweiten Tätigkeiten engagiert: »das Traumgesicht verschwand, das Geschäftsgesicht kam zum Vorschein. [...] Ich brauche einen Rechner.« (S. 410). Da die Erzähl-Figur Eyth von ihrem Jugendfreund vorher berichtet hat, er habe in Deutschland an der Karlsruher Polytechnischen Schule »die Weisheit und die Formeln Redtenbachers eingesogen« (S. 397), so läßt sich der literarische Vorgang als fiktive Erfüllung einer real geäußerten Wunschvorstellung interpretieren: »Welch' herrliche Früchte müßte es tragen, wenn der kontinentalen Intelligenz einmal englische Mittel zu Gebote ständen« (so ein zeitgenössischer deutscher Technik-Wissenschaftler). 159 Eyths Held verkörpert so gesehen mit erstaunlicher Prägnanz das optimistische Handlungsprogramm kontinentaler Ingenieurwissenschaftler, die sicher waren, daß der Sieg des Kostenprinzips der bisher in England unterschätzten wissen158
159
Vgl. Carl Friedrich von Wiebeking: Allgemeine auf Geschichte und Erfahrung gegründete theoretisch-practische Wasserbaukunst. 5 Bde. Darmstadt 1798-1807. Bd. 4. 1805, S. 61. Zu Wiebekings Bedeutung vgl. oben Kap. I, 2. S. 34f. Wiebeking nutzt die Definition von Ökonomie als »Sparsamkeit« (S. 61), um gegen »gewinnsüchtige Entrepreneurs« polemisieren zu können (S. 64). Culmann: Eiserne Brücken (Anm. 107), S. 208. Daß der von Eyths Held als Vorbild genannte Ferdinand Redtenbacher nicht den Brückenbau, sondern den Maschinenbau mathematisiert hat, ist eine historische Inkonsequenz, die innerhalb des literarischen Textes nicht weiter auffällt. Sie dokumentiert nur noch einmal die Fiktionalität von Eyths Leitfigur. Zu F. Redtenbacher vgl. Walther Peter Fuchs: Die geschichtliche Gestalt Ferdinand Redtenbachers. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 107 (1959), S.205-222.
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schaftlichen Theorie zum Durchbruch verhelfen müsse. Der Technik-Historiker von heute resümiert, allein die hohen Materialpreise hätten schon dazu gezwungen, »die Bauglieder und Tragwerke auf Grund statischer Berechnungen möglichst exakt und ökonomisch zu bemessen«.160 Im literarischen Text heißt es, so »große Projekte« ließen sich jetzt nicht mehr »ganz mit dem Gefühl zwischen Daumen und Zeigefinger abmachen.« (S. 431). Stoß erläutert das anhand des Symbols für die bisherige Überlegenheit einer eher theoriefernen englischen Ingenieurkunst, wenn er erklärt, daß Stephensons Britannia-Brücke »mit der Hälfte des Eisens hätte gebaut werden können. [...] Wenn sie rechnen könnten, Eyth! wenn sie ihren Redtenbacher studiert hätten, diese Engländer!« (S. 401). Die Berufskarriere des Helden demonstriert, welche Erfolge möglich sind, wenn deutsche Gelehrsamkeit jede spekulative Verbohrtheit überwindet (sie wird in einer Nebenepisode karikiert, vgl. S. 425ff.) und der Ingenieur sich statt dessen wie ein Engländer aufführt: » so gradlinig, so furchtbar praktisch« (S. 425). Stoß hat Erfolg, weil er seine mathematische Begabung (von der, nach realem Vorbild,161 ein »durch alle technischen Zeitungen« laufender »Vortrag über Brückenkonstruktionen« [S. 423] kündet) von vornherein zur Erfindung kostensenkender Konstruktionsverfahren verwendet. Der erste große Triumph zeigt denn auch, wie fast schwerelos sich die neuen schlanken Konstruktionen von Bergrücken zu Bergrücken hinspannen lassen, weil der Ingenieur gelernt hat, »stoffliche Masse« in »Zug und Druckkräfte« zu verwandeln: 162 »ein kombiniertes Häng- und Sprengwerk, leicht wie ein Spinngewebe über einem höllischen Abgrund. [...] Bruce wird seitdem für den kühnsten Brückenbaumeister von England erklärt!« (S. 432). Es erscheint notwendig zu betonen, daß es sich dabei um »nichts Überirdisches« handelt (S. 432). Kein Zweifel, der Held soll eine triumphale technikhistorische Wende verkörpern; erst der Technik, die ökonomisch verfährt, gelingt der Sieg über die Schwerkraft. Eyths Enno-Brücke »machte den Eindruck, als ob die Gesetze der Schwere bei so gewaltigen Bauten keine Geltung mehr hätten« (S. 488), ihr Bau wirkt »wie ein Zauber, wie etwas, das im Traum geschieht; heimlich, still, wie von selbst.« (S. 464). Solche Brücken, die »wie ein Gespinst aus blauen Nebelstreifen« (Hegeler) »von Fels zu Fels über (eine) gähnende Schlucht« (Werner) 164 gelegt sind, kündeten bis in den Popularroman der Zeit hinein vom Triumph der Technik. Der Betrachter ihrer Schöpfungen reagierte mit »jener mit erhabenem 160 161 162
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164
Straub: Bauingenieurkunst (Anm. 83), S. 218. Vgl. Anm. 148. So Ludwig Brinkmann: Der Ingenieur. Frankfurt/M. 1908 ( = Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Band 21), S. 15. Hegeler: Ingenieur Horstmann (Anm. 37), S. 119. S. 369 wirkt die Brücke wie »ein verdichteter Nebelstreif, gleich dem Gebilde eines Traumes«, auf den sich gleich darauf selber tötenden Erbauer. Dieser tragische Ausgang hat bei Hegeler allerdings nichts mit der technischen Geschichte des Brückenbaus, sondern mit einer privaten Tragödie zu tun. Werner: Die Alpenfee (Anm. 37), S. 120. Auch hier erfährt man über die Baugeschichte im einzelnen wenig, über die privaten Verwicklungen des Helden dagegen alles.
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Grauen gemischten Bewunderung, [...] die uns stets überkommt, wenn wir etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns sehen« (Ferdinand von Saars »Die Steinklopfer« 1874).165 Zugunsten dieser allgemeinen Symbolbedeutung hat Eyth die konkrete Baugeschichte stilisiert bis verändert. Stilisiert soll heißen, daß der Autor die im einzelnen genau referierten »neunundzwanzig Jahre« Vorgeschichte und die Baugeschichte mit den privaten Lebensschicksalen seiner Helden verbindet (vgl. etwa S. 432ff.), wobei sich die Chronologie nur an zwei Stellen leicht verschiebt.166 Mit Veränderung meine ich, daß der Autor doch relativ unbekümmert mit technikhistorischen Retuschen arbeitet, weil der Leser, der seine Quellen nicht kennt, das kaum entdecken dürfte. Es entsteht vielmehr der Eindruck äußerster Abbildgenauigkeit bis ins Detail. Gleichwohl unterscheiden sich die reale Brücke über den Tay und Eyths fiktive Enno-Brücke in einer Hinsicht erheblich; bei jener wurde erst während der Bauzeit von Stein- auf Eisenpfeiler umgerüstet (weil sich der Untergrund als zu weich erwies), 167 bei Eyth dagegen erfolgt diese Umstellung noch vor Baubeginn. Und: während tatsächlich die neuen gußeisernen Pfeiler das Projekt zunächst erheblich verteuerten, spricht Eyths Held davon, daß es dadurch gelungen sei, »die Brücke [...] um siebzigtausend Pfund billiger« zu machen (S. 437); »der ganze Plan« wäre sonst buchstäblich »ins Wasser [gefallen]« (S. 436). Eyths gußeiserne »achtzig Fuß hohen Spindelbeine« (S. 437) sind von Anfang an eine gewaltige Kostenersparnis. Der konkrete Sachverhalt ist damit in sein Gegenteil verkehrt: Bei Eyth führen nicht technische Schwierigkeiten (wie tatsächlich geschehen) zur unvorhergesehenen Verteuerung, sondern die Ökonomie determiniert von vornherein das technische Design. Der Baustoff Eisen soll schon für sich genommen gegenüber dem Baustoff Stein das Prinzip Kosteneffizienz besser verkörpern (daß Eisen nur deshalb zur Ökonomie zwingt, weil es als Material teurer ist,168 tritt demgegenüber zurück). Eyth läßt dabei außer acht, daß 165
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Ferdinand von Saar: D i e Steinklopfer. In: ders.: Meisternovellen. Mit einem Nachwort von Hansres Jacobi. Zürich 1982 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur), S. 67. Eyth hat sich die D a t e n der Entstehungsgeschichte genau exzerpiert. Vgl. Eyth: Notizen ( A n m . 90), S. 10f., zu Engineering 29 (1880.1), S. 1 Iff. Für Bruce muß man nur Bouch und für die Nordflintshire-Eisenbahn die North British Railway setzen, um die historischen Realien in der Erzählung wiederzufinden. D i e zeitlichen Differenzen beziehen sich auf den ersten Beschluß, die Brücke zu bauen; er stammt, wie Eyth auch richtig exzerpiert hat, aus dem Jahre 1845 (und nicht 1847, wie sich aus Stoß' Bemerkung ergäbe, man habe drei Jahre vor der Fertigstellung der Menai-Brücke [im Jahre 1850] begonnen). D a s Jahr 1846 dagegen ergäbe sich, wenn man, wie H. Stoß (S. 433), 27 Jahre vom fiktiven Treffen der beiden Freunde auf der Wiener Weltausstellung im Jahre 1873 zurückrechnet. D i e ersten Kostenschätzungen und die dann tatsächlich eintretenden Kosten hat Eyth dagegen getreulich aus den Quellen übernommen. Thomas: Tay Bridge Disaster ( A n m . 72), S. 38ff. Eyth hat diesen Sachverhalt in seinen Notizen (vgl. A n m . 90), S. 13, gleichfalls erwähnt; »Der ursprüngliche Plan war: Backstein bis unter die Gitterbalken?« D a s Fragezeichen könnte freilich bedeuten, daß Eyth sich über dieses Detail der Konstruktionsgeschichte nicht ganz im klaren war. Straub: Bauingenieurkunst ( A n m . 83), S. 217ff.
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sich auch Pfeiler aus Ziegelsteinen drastisch verschlanken und insofern sehr gut in ein strikt ökonomisches Brückendesign einfügen lassen (ein Zeitgenosse wählt zur Charakterisierung der gemauerten Brückenpfeiler die durchaus passende Metapher von »Fabrikschornsteinen«). 169 Das Gegenbild des Autors Eyth sind ausschließlich die massigen Steinpfeiler der Britannia-Brücke, und sein Held muß seine Konstruktionspläne gegen die veralteten »klobigen Ideen« (S. 429) eines früher bei Stephenson und dann bei Bruce beschäftigten technischen Zeichners, eines alten »rostigen Kerls« (S. 431), durchsetzen. Behutsame »Vorsicht« (S. 434), die sich auf Althergebrachtes stützt, steht gegen die »feinsten Berechnungen« (S. 434). Für die risikofreudige Spielart technischen Fortschritts, die der Held verkörpert, sind eben von Anfang an starke Nerven vonnöten; für »ängstliche Gemüter« (S. 476) sehe »die Sache gruselig aus« (S. 464). Eyth läßt immerhin den Helden selber so sprechen, der damit den hochaufragenden Mittelteil der Brücke charakterisiert. Die Zeitgenossen hatten zur Tay-Brücke ähnliches festgehalten; »in der Tat machte die Brücke« aufgrund der »Ungewohntheit ihrer Dimensionen«, »einen etwas beklemmenden Eindruck«. 170 In Fiktion wie Realität mußte die Eisenbahngesellschaft eine Woche lang »nur Güterzüge über [die Brücke] leiten, damit das arme Publikum sich an die Sache gewöhnt.« (S. 476). Erst danach konnte der Personenverkehr beginnen. 171 Die Übereinstimmungen zeigen, welche Sehweise der Tay-Brücke in der fiktiven Enno-Brücke fortleben sollte; akzentuiert wird die Kühnheit und nicht die vorhersehbare Fehlerhaftigkeit des ganzen Unterfangens. Eines ist daher schon hier für den Leser deutlich: Eyths Held kann nicht scheitern, weil er einfach nur schludrig arbeitet. Seine Gefährdung besteht eher darin, daß er, gemessen an den Möglichkeiten seiner Zeit, zu hoch hinaus will. Um diese Interpretation auch in Kenntnis der Ergebnisse des Untersuchungsverfahrens aufrechtzuerhalten, muß der Autor den Befund seiner Quelle durch eigene Erfindungen beträchtlich erweitern: Harold Stoß weiß bei Eyth von Anfang an um das Problem des Winddrucks, und daher beunruhigt ihn die Zuverlässigkeit seiner Berechnungen zur Bruchfestigkeit gußeiserner Röhren (S. 427). Ganz abgesehen davon, daß sich keine der realhistorischen Ingenieurfiguren mit diesem Problem derart intensiv befaßte, 172 so unterlegt Eyth seiner Kunstfigur damit überhaupt ein fiktives Problembewußtsein; der »fragliche Winddruck« 173 hatte vor der Katastrophe 169 170 171
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Piossek: Tay-Brücke (Anm. 95), S. 51. v. Weber: Zusammensturz (Anm. 77), S. 294. Vgl. die Notiz in: Engineering 24 (1877,2), S. 380, Sp. 2: »It is the wise intention of the directors to use the bridge for goods traffic for some time before passenger trains begin to run, so that the public may have the fullest confidence in the stability of the structure.« Eyth hat auch diese Notiz exzerpiert, vgl. ders.: Notizen (Anm. 90), S. 9. Der bereits erwähnte Allan Stewart berechnete allein die notwendige Stärke der schmiedeeisernen Gitterbalken. Vgl. Anm. 148. Eyth: Notizen (Anm. 90), S. 16, über Bouchs Vernehmung vor der Untersuchungskommission. Vorher hatte sich dazu nur der (zweite) Bauunternehmer Edgar Gilkes in einer sehr optimistischen Prognose geäußert: »Even the most severe hurricane on record would
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weder den Chefkonstrukteur noch einen seiner Berater und Helfer ernsthaft irritiert. Zwar notierte noch zwei Tage vor der Katastrophe mit Recht ein technischer Experte: »If we seek for information amongst the papers of most of our great authorities on the subject of winds, [...] we find ourselves in hopeless confusion«; sowohl die Methoden zur Berechnung des Winddrucks als auch die Frage, auf welche Flächenmaße er sich besonders stark auswirke, seien heftig umstritten - gerade das aber erfordere die äußerste Vorsicht an exponierten Bauplätzen. So auch die Meinung der Untersuchungskommission. 174 Tatsächlich aber mußte Bouch in seinen Aussagen vor der Kommission zugeben, daß er zum Bau der Tay-Brücke keine speziellen Untersuchungen über Winddruck-Probleme veranlaßt hatte, ja daß er sich erst nach Baubeginn anhand eines Gutachtens zur Forth-Brücke mit dieser Frage befaßte 175 (die Unterschiede in Lage und Konstruktionsmerkmalen zwischen Forth- und Tay-Brücke ließ er dabei völlig unbeachtet, die Warnung vor plötzlich auftauchenden Sturmböen hat er schlichtweg übersehen). 176 Die Verwunderung der Zeitgenossen ist daher verständlich; einer der berühmtesten Konstrukteure war von einem schon damals als viel zu niedrig erkennbaren Belastungsquotienten ausgegangen177 und hatte daher sein viel gepriesenes Bauwerk trotz aller Gefährdung an einem stürmischen Meeresarm leichter und schwächer dimensioniert als eine seiner vorher im Landesinneren errichteten Brücken 178 - dem Grundsatz folgend: »Being weaker, it would be cheaper.« 179 Dieser Ausspruch ließe sich auch Eyths Brückenerzählung wie ein Motto voranstellen, der Autor nimmt also einerseits exakt die damit gemeinte realhistorische Motivierung auf. Nur hat sie bei ihm anderseits ganz andere Auswirkungen: die grobe Fahrlässigkeit wird zur tragischen Verwirrung, das blanke Nicht-Wissen ist durch düstere Vorahnungen ersetzt. Deutlich ist damit, worin Eyth die realhistorische Problemlage abändert, um darin dann die Gefährdung eines ganzen Berufsstandes (und nicht nur einer Einzelperson) spiegeln zu können: Bei Eyth
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equal only one-half this resistant power.« Zit. nach Engineering 22 (1876,2), S. 543, Sp. 3. Eyth: Notizen (Anm. 90), S. 8, hat dazu notiert: »Eine Berechnung des Winddrucks!!« Wrought Iron Bridgework. No. II. In: The Engineer 48 (1879,2), S. 462f. S. 462, Sp. 3, am 26. 12. 1879! Und zur Meinung der Kommission Engineering 30 (1880,2), S. 24, Sp. 2 und 3 (v. 9. 7. 1880). Klar und unmißverständlich spricht das allerdings nur der NichtTechniker, ein Jurist, aus. Vgl. zu den unterschiedlichen Positionen in der Kommission oben S. 130 u. Anm. 91. So seine Einlassungen vor der Untersuchungskommission, vgl. Engineering 29 (1880,1), S. 364f. S. 365, Sp. 1: »he did not specially make any allowance for wind pressure, but he had seen the report on the Forth Bridge.« (Die Äußerungen der Beteiligten, die als Zeugen vernommen wurden, sind in der Regel in indirekter Rede wiedergegeben.) So die Aussagen eines von Bouch für den Bau der Forth-Brücke konsultierten Sachverständigen in: Engineering 29 (1880,1), S. 363, Sp. 2-3. Vgl. Engineering 29 (1880,1), S. 363ff., und a.a.O. 30 (1880,2), S. 24, Sp. 3. Engineering 30 (1880,2). S. 24, Sp. 3. Vgl. dazu weiter The Engineer 50 (1880,2), S. 66, Sp. 3. Engineering 30 (1880,2), S. 388, Sp. 1 (Aussage Allan Stewarts).
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erschlägt der Zwang zur Kosteneffizienz das - realiter bestenfalls nur sehr schwach ausgeprägte - professionelle Gewissen; der weltweite Applaus für ein fehlerhaftes Bauwerk wirkt so gesehen allerdings sogar verständlich. Jetzt ist auch klar, warum Eyth dazu eine Kunstfigur erfinden mußte: der Sorglosigkeit Bouchs 180 (sie wird in der Figur des Bruce mehrfach überspitzt und karikiert)181 ließ sich diese Dimension nicht abgewinnen. Eyth unterlegt der Selbstquälerei des Helden unverkennbar die erst im Verlauf der Untersuchung von anderen Experten geäußerten Zweifel: »Drückt ein guter Sturmwind mit zwanzig, oder mit vierzig, oder mit fünfzig Pfund auf den Quadratfuß, der ihm im Wege steht? Du kannst all das in Büchern finden und wählen. Fragst Du die Herren Gelehrten aufs Gewissen, so hat es einer vom andern abgeschrieben. - Und dann: drückt der Wind auf eine Fläche von zwei Quadratfuß zweimal so stark als auf einen? Nicht einmal das wissen sie!« 182 Die Frau des Ingenieurs vermerkt dazu: »er hat Tage, an denen er wie Espenlaub zittert, wenn ein Wind geht« (S. 439), und die Erzähl-Figur Eyth erkennt deutlich: »in seinem Blick [ . . . ] lag etwas wie Angst.« (S. 434). »Es gibt eine spezifische Angst des Ingenieurs, zu weit, zu ungesichert vorgedrungen zu sein, er weiß nicht, mit welchen Kräften er es zu tun hat« (Ernst Bloch). 183 Die Übereinstimmung des dichtenden Ingenieurs mit dem TechnikDeuter unserer Zeit ist schon verblüffend. 184 Auch das vom literarischen Autor gewählte Illustrationsbeispiel kann eine über seinen konkreten Anlaß hinausreichende technikgeschichtliche Verbindlichkeit beanspruchen. Denn, trotz der aufgrund des Tay-Brücken-Debakels für den Bau der Forth-Brücke unternommenen Meßversuche - »die Frage des Winddrucks« war noch lange »nicht in befriedigen180
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Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 198f., will Bouch vom Vorwurf des Leichtsinns weitgehend entlasten, indem er auf die allgemeine Unkenntnis der Zeit verweist. Sie aber hätte, wie ausgeführt, die größtmögliche Vorsicht erfordert. Daß Bouch dagegen so leicht wie möglich baute, wird dadurch weder erklärt noch gar gerechtfertigt. Thomas hat allerdings Recht mit der Bemerkung, daß zumindest einer der Richter zuvor ähnlich ahnungslos wie Bouch war. Bouch wurde gewissermaßen geopfert, um die Unschuld der Z u n f t zu retten. Vgl. S. 456, 462, 486, 493. S. 439 und 493. Eyths Held nennt dort in etwa Zahlen, die ein Mitglied der Untersuchungskommission nach dem Unglück Bouch entgegenhielt: »It is said that Sir Thomas Bouch must be judged by state of our knowledge of wind pressures when he designed and built the bridge. Be it so; yet he knew or might have known that at that time the engineers in France made an allowance of 551b. per square foot for wind pressure, and in the United States an allowance of 50 lb.« Vgl. Engineering 30 (1880,2), S. 24, Sp. 3. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main 1959. Band 1 ( = Bloch, Gesamtausgabe, Band 5), S. 810. Zumindest in der Problemformulierung thematisiert der >linksromantische< Denker also doch mehr als nur die Statussorgen eines wertorientierten »Berufs-Intellektuellen«. Zitate bei Ulf Niederwemmer: Programmatische Skizze für eine Sozialphilosophie der Technik. In: Hans Lenk und Simon Moser (Hg.): Techne, Technik, Technologie. Pullach bei München 1973 ( = Uni-Taschenbücher 289), S. 173-197. S. 175 und 178. Man hat gelegentlich den Eindruck, daß der Kritiker an einer ideologisierten Globaldiskussion über Technik eine recht globale Vorstellung seiner Gegner zu erkennen gibt. In den eigentlich programmatischen Partien argumentiert der Vf. dagegen sehr differenziert.
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der Weise geklärt«; insbesondere blieb es schwierig, »bestimmte Gesetzmäßigkeiten« festzustellen. 185 Schon von Thomas Telford erzählte man sich, Freunde hätten ihn nach der erfolgreichen Erprobung seiner Menai-Brücke auf den Knien und ins Dankgebet versunken angetroffen; 186 die Notiz, daß sein Bauwerk 1863 gegen die Belastung durch den Winddruck verstärkt werden mußte, 187 erklärt, warum den Konstrukteur seine als besonders wirtschaftlich geltende Schöpfung188 beunruhigte. Eyths Erzählung diagnostiziert jedenfalls in aller Schärfe, woher die Angst des Ingenieurs rührt, sie demonstriert aber auch, wie der Techniker ihr begegnen könnte; seine Leitfigur heroisiert die aus einer sozialen Zwangslage resultierenden Handlungsanforderungen. Denn, wer stets den kostengünstigsten Weg einschlägt, müsse bereit sein, sich auf das äußerste Wagnis einzulassen. »Das haben wir Ingenieure vor andern Menschen voraus: unsre Geister kommen nicht aus der Welt, die war, sondern aus der, die sein wird. Sie quälen uns deshalb nicht weniger.« (S. 433). Oder: »man hat keine Erfahrung von Dingen, die noch nie gemacht wurden«, es gebe auch keinen verläßlichen »Instinkt« dafür (S. 431). Alle Versuche, jenes »Dritte, Unergründliche, Unerklärliche« (S. 431) mathematischer Gewißheit zu unterwerfen, beruhten auf »Grundsätzen«, zu denen das Prinzip Wirtschaftlichkeit nötigt. Eyths Held sagt, daß er danach »rechnete und rechnen mußte« (S. 437); die historische Vorbildfigur befindet gleichfalls: »The calculations are all based on certain assumptions«.189 »Die Unsicherheit in der Annahme der Rechnungskonstanten« macht noch für den modernen Technikhistoriker »die scheinbar erreichte größere Genauigkeit der Ergebnisse in Wirklichkeit illusorisch«.190 Von Anfang an ist damit klargestellt, worin sich der Held in einem höheren Sinn verrechnet: der mathematische Kalkül verringert nicht, sondern er verstärkt die Angstzustände. Einerseits bietet er die Möglichkeit, die Grenzen des Machbaren erst wirklich auszuloten, anderseits aber auch die Gewißheit, daß dabei mit jedem Schritt ins Unbekannte die Risiken anwachsen. Die Figur des William Bruce erfährt von daher eine zunächst überraschende Aufwertung; wer Brücken für »Gefühlssache« hält, 191 kann sich beruhigt auf seine Intuition verlassen, er ist frei von Angst (S. 431). Die Frau des Harold Stoß weiß die Unterschiede genau zu 185
So noch Friedrich Bleich: Theorie und Berechnung der Eisernen Brücken. Berlin 1924, S. 31 und 32. Ähnlich Straub: Bauingenieurkunst (Anm. 43), S. 222: »die rechnerische Erfassung der aerodynamischen Zusatzbeanspruchungen« stelle trotz aller Fortschritte »bis in die Gegenwart hinein« »ein schwieriges Problem« dar. 186 Vgl. die Notiz in: The Engineer 12 (1861,2), S. 343, Sp. 3. 187 Vgl. The Engineer 16 (1863,2) vom 4. 12. 1863, S. 321, Sp. 3. 188 So Leonhardt: Brückenbau ( A n m . 83), S. 42. 189 Zit. nach Stewart: Wrought Iron Girders (Anm. 148), S. 399, Sp. 2. "" Vgl. Straub: Bauingenieurkunst (Anm. 43), S. 292f. »Sicherheit« und »Wirtschaftlichkeit« sind auch bei Straub Ausgangspunkte aller Berechnung. Die erste Zitathälfte ist zudem kursiv gesetzt! 1,1 Eine Sehweise, die in einer zeitgenössischen Einschätzung des Tay-Brücken-Debakels ganz ähnlich lautet: »am besten wird die wahre Herzensmeinung des Konstrukteurs und Erbauers Aufschluß geben können, denn das Gefühl, welches jeden Konstrukteur bei Erscheinen der errechneten Zahlen überkommt, ist ein richtiger Maßstab.« So der
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benennen: ihr Mann habe »Nerven wie andre Menschen. Papa hat keine und glaubt, jedermann sei wie er.« (S. 434). Der tragische Held ist also durch sein Wissen gezeichnet; das Rechnen wird zur Manie, die seine Lage nur verschlimmert, es »sitzt [...] ihm im Gehirn« (S. 427f.). Jeder kräftigere Windhauch macht ihn »förmlich beklommen« (S. 451).
7. »Auch unsre Schlachten haben ihre Toten« Der Held ist verloren, noch bevor seine Schöpfung greifbare Gestalt annimmt. Der Kampf ist ungleich, der in den mittleren Partien der Erzählung anhebt. Die Vorausdeutungen darauf sind für den aufmerksamen Leser unübersehbar. Schon die Grundsteinlegung geht wie die Grablegung eines »viereckigen Selbstmörders« (S. 441) vonstatten; die gerade angeheuerten Arbeiter scheinen verängstigt »das Losgehen einer Sprengpatrone [zu erwarten]« (S. 442), bevor der erste Stein in »seinem feuchten Grab« versinkt (S. 442). Um so erklärungsbedürftiger ist, warum der Erzähler seinem Helden die von vornherein aussichtslose Konfliktlage eigentlich zumutet. Die Antwort liegt auf der Hand, wenn man beachtet, worauf beide - Erzähl-Figur und Held - keine Antwort wissen: die Prämisse äußerster Sparsamkeit im Handlungskonzept des Ingenieurs gilt als unantastbar. Manifest wird die dadurch gestiftete Problemaporie in der im Verlauf der Erzählung stetig fortschreitenden Verdinglichung einer ursprünglich handlungsbezogenen Technik-Auffassung. Soziologische Begrifflichkeit erhellt, wie der Prozeß im einzelnen verläuft. 192 Die Brücke ist zunächst »versachlichte, veräußerte« menschliche Höchstleistung, deren gestaltgewordenes Resultat wahrgenommen wird als Vergegenständlichung einer technischen wie einer privaten Verheißung: die Brücke, die getrennte Ufer vereint, wird auch Harold und Ellen Stoß dauerhaft verbinden; in diesem Sinn kann der Ingenieur, noch ohne jeden Vorbehalt, sagen, daß er sich »selbst [als] Stück des Ganzen« empfindet (S. 436). Entfremdung tritt ein, als sich die Verheißung in Bedrohung verwandelt und der Ingenieur die Verantwortung dafür von sich abwälzt; »es war wahrhaftig nicht meine Brücke« (S. 463), sagt der Held, gleich nachdem er einer äußerst riskanten Verringerung der Anzahl der Brückenpfeiler aufgrund von Kostenerwägungen zugestimmt hatte (bei Eyth wird dadurch das Problem des zu weichen Untergrunds gemeistert). 193 Dem Ingenieur erscheint eine Handlungsweise als Nöti-
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Leserbrief eines Ing.-Hauptmannes in: Glasers Annalen 6 (1880,1), S. 87ff. S. 89. Noch Straub (vgl. Anm. 190) spricht vom »statistischen Gefühl« (S. 292). Vgl. zum folgenden Peter L. Berger und Stanley Pullberg: Verdinglichung und die soziologische Kritik des Bewußtseins (1965). In: Hans Joachim Lieber (Hg.): Ideologie Wissenschaft - Gesellschaft. Neuere Beiträge zur Diskussion. Darmstadt 1976 ( = Wege der Forschung, Band CCXLII), S. 55-80. Tatsächlich wird die Anzahl der Säulen verringert, um die durch die Umstellung von Stein auf Eisen verursachte Verteuerung des Projekts aufzufangen. Vgl. die Aussage Bouchs vor der Untersuchungskommission in: Engineering 29 (1880,1), S. 364, Sp. 3.
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gung, die er selber von Anfang an so und nicht anders favorisierte, weil unterstellt wird, daß die Maximen, nach denen er vorgehen mußte, sich auch im Angesicht der nahenden Katastrophe nicht mehr revidieren lassen: »zu ändern war nichts mehr.« (S. 494). Die Äas/enökonomie gilt in ihrer strengsten Auslegung bis ans Ende. Für den Leser ist damit immerhin klargestellt, worin der Fluch der Tat besteht, der sich, projiziert auf ein materielles Symbol, am Schluß irreversibel verdinglicht; »ich kann nicht weg von der Brücke« (S. 497), sagt der Ingenieur, kurz bevor er den Unglückszug besteigt. »Die Enno-Brücke schleppe ich mit mir herum, so lange ich lebe. Eine ist genug.« (S. 497). Das Angebot einer Reise in eine »brückenlose Umgebung« (S. 498) kommt zu spät. Die Enno-Brücke wirkt auf ihren Schöpfer wie der »Festkarren Dschagannathas«, »den nur ein Gott aufhalten kann, wenn er über seine Hindus wegrollt.« (S. 494). Der DichterIngenieur Eyth wählt dieselbe Metapher wie später der expressionistische Hochliterat Toller (s.u. S. 223). Was erst Segen war, hat sich am Ende zum Fluch gewandelt. Das Handlungsideal selber blieb dabei unverändert. Wenn irgend sinnvoll, dann ist hier das populäre Urteilsschema vom Janusgesicht moderner Technik am Platze, nur hat sich im literarischen Spiegelbild ein sehr spezifisches Doppelantlitz bis zur Kenntlichkeit entstellt. Der Erzähler reagiert darauf mit einer konfliktverlagernden Erzählstrategie, die nur auf den Leser paradox wirken muß, der nach Transparenz und Lösbarkeit und nicht nach einer erneuten Steigerung der tragisch-ausweglosen Verstrickung sucht: der soziale wird zum Atour-Konflikt umgedeutet. Der Vorteil ist zwar nur begrenzt, aber für die Fortführung einer spannungsreichen Erzählhandlung unverzichtbar; der Ingenieur kann wieder kämpfen, wenn auch nicht gewinnen. Denn, für den Helden sind die konkret faßbaren menschlichen Gegner hinter den Ding-Symbolen, die ihn erdrücken, ja gleichsam verschwunden; seine Kampfbereitschaft lenkt er daher nunmehr gegen eine - ersatzweise personifizierte Natur. Daß sie nur äußerlich beherrschbar ist, weiß er gleichwohl. Stoß spricht daher mit den »gewaltigen Wassermassen« des »Enno« wie mit seinesgleichen. Obgleich der friesische Name »Enno«, dessen Ursprungsform nicht geklärt ist,194 auf Geheimnisvoll-Unbekanntes anspielt, versucht sich der Held einzureden, daß er einem längst bekannten Gegner gegenübersteht: »die Tage deiner Alleinherrschaft sind gezählt, [...] mein guter Enno.« (S. 444). Der Erzähler hat das paradoxe Verhalten seines Helden einleuchtend motiviert. Denn, wenn Harold Stoß einerseits seine Frau um die Nachsendung seiner Logarithmentafeln bittet, damit er zur Beruhigung »alle auf die Brücke bezüglichen Berechnungen noch einmal durcharbeiten« könne (S. 445), anderseits aber später bekennen muß, er werde seine »geheime Angst [...] mit allem Rechnen nicht los« (S. 463), so zeigt sich darin, warum sich gerade der Rechner auf die Personifikation der Naturgewalten verlegt: versucht wird damit, die Angst erregende Fremdm
Vgl. Wilfried Seibicke: Vornamen. Wiesbaden 1977 ( = Beihefte zur Muttersprache 2), S. 282, und Max Gottschald: Deutsche Namenskunde. Unsere Familiennamen. 5. Aufl. hg. v. Rudolf Schützeichel. Berlin (West) und New York 1982, S. 166. Hier wird als mögliche Ableitung die Zurückführung auf »Aginulf, Einolf« erkennbar.
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heit einer aufs äußerste gesteigerten abstrakten Naturbeziehung wenigstens für Augenblicke auszuhalten. Der Ingenieur sagt selber, wie ihm sonst zumute ist: »Wer kann wissen, was unter dieser glänzenden Oberfläche liegt und liegen wird, ehe wir lustig drüber wegfahren!« (S. 444). Seine Lage verbessert der Held allerdings nur scheinbar damit. Denn, die Denkbilder, die die Natur beleben, verweisen auf magisch-animistische Konfliktmuster, in denen das Wasser, wie bereits dargelegt, als Manifestation dämonischungebändigter höherer Gewalten stets obsiegt, wenn man es nicht zuvor mit Hilfe eines Opfers besänftigt. Eine elementare Ordnung verletzt man in diesem Argumentationsrahmen nicht ungesühnt. 195 Brückenbau ist Frevel an der unberührten Natur; »die weite Bucht« liegt vor dem Ingenieur, »als ahnte sie nichts Böses: ein stilles, glückliches Bild, wie es die Natur schuf, ehe Menschen waren.« (S. 444). Trotz höher entwickelter Technik also keine Wandlung in der Einstellung zum dämonisierten Wasser, dessen Rache schon Faust zum Opfer fiel und das auch Fontanes Deutung beflügelte. Wie stark animistische Zwangsvorstellungen den Helden beherrschen, zeigt seine Deutung eines Unfalls, bei dem einer der großen »Gitterbalken« in den Fluten versinkt: »der reißende Strom jagte drüber hinweg, da und dort noch ein wenig gurgelnd, als habe ihm der ungewohnte Bissen nicht übel geschmeckt.« (S. 471). Die große Katastrophe ist hier präfiguriert. Wegweisend ist Eyths Denkvorstoß gleichwohl in zweierlei Hinsicht. Seine Erzählung erhellt einerseits, auf welche soziale Herausforderung die EigenHeroisierung des Technikers zum - wie sich zeigen wird - ziemlich rücksichtslosen Krieger gegen die Natur jetzt antwortet, und sie bietet zugleich eine die Beweislage unmerklich verschiebende Begründung. Denn, auch wenn der Held an der Verwirklichung seines im folgenden entfalteten Leitbildes noch scheitert - der Dichter-Ingenieur überlegt immerhin, wie man einer verdinglichten TechnikAuffassung eine handlungsbezogene Leitvorstellung wieder aufzwingen könnte: der Ingenieur muß sich dem Ding-Symbol, das ihn lähmt, innerlich angleichen. Gefordert ist dazu der schon von einflußreichen »Faust«- und »Schimmelreiter«Interpreten bemühte sprichwörtliche >stählerne< Wille (s. o. S. 26 und 62), begründet aber wird das mit den Tücken des Kampfes gegen die Natur (das Kostenprinzip, das die Risiken verursacht, wird dabei wie selbstverständlich vorausgesetzt). Die literarische Stilisierung der Baugeschichte der Brücke hat in dieser problemverlagernden Denkfigur ihren ideologischen Fluchtpunkt. Eyths Erzählung erhellt die soziale Genese eines Ideals, das der Popularroman seiner Zeit schlicht voraussetzt (vgl. oben S. 62ff.). Eyth verwertet zunächst einmal die für ihn leicht greifbaren Berichte der Zeitgenossen über eine den Widrigkeiten der Natur äußerst erfolgreich trotzende Bautechnik. 196 Die Ingenieure der Tay-Brücke mußten ihre Brückenpfeiler ohne feststehendes Gerüst (es hätte die Schiffahrt nur behindert) in ein tiefes, den 195 196
Vgl. Hansmann: Brücke (Anm. 82), S. 71ff. Vgl. weiter oben, S. 127. Diese Bautechnik der Brücke galt als technische Pionierleistung, wobei sich die Aufmerksamkeit insbesondere auf alles richtete, was unter der Wasseroberfläche vor sich ging. Vgl. Engineering 20 (1875,2), S. 289, Sp. 2: »Few engineers who have followed the 155
(fisi Bild 38: B a u u n d M o n t a g e d e r »Caissons« am U f e r . Nach T h e E n g i n e e r 35 (1873, 1), S. 204 4. 4. 1873.
Bild 39: Die V e r s c h i f f u n g der S e n k k ä s t e n . Nach T h e E n g i n e e r 35 (1873. 1). S. 201 4. 4. 1873.
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Bild 40: Ein Senkkasten wird als Pfeilerfundament versenkt. Nach The Engineer 35 (1873, 1). S. 204, 4. 4. 1873.
Gezeiten unterworfenes und von plötzlichen Sturmböen aufgewühltes Flußbett versenken, dessen - vermuteter - felsiger Untergrund sich zudem bald als Mischung aus Sand, Lehm, Geröll und Kieselsteinen herausstellte. 197 Die Ingenieure benutzten zur Pfeiler-Grundierung »Caissons«, das heißt wasserfreie zylinderförmige eiserne Senkkästen, »so groß wie ein kleines rundes Haus mit einem unförmlich hohen Schornstein in der Mitte« (S. 446), die - am Ufer montiert, an Ort und Stelle verschifft und versenkt - von innen her zu steinernen Pfeilerfundamenten aufgemauert werden mußten (Bild 38-41) - eine damals weit verbreitete Bautechnik, 1 9 8 die Eyths Held in vergnüglichem Plauderton seiner wißbegierigen Ehefrau (ungeachtet eines kleineren Flüchtigkeitsfehlers) 199 sachkundig erläutert
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1.8
1.9
progress of modern bridge-building will need to be told that in the structure such as the Tay Viaduct the chief interest centres in the most unobtrusive part of work - that below low water.« Vgl. Engineering 15 (1873,1), S. 116; 19 (1875.1), S. 15; 20 (1875,2), S. 289f. und 415; 476; 22 (1876,2), S. 165f. Und The Engineer 35 (1873,1), S. 198. F. Heinzerling (1880) in: Schäffer und Sonne (Hg ): Brückenbau (Anm. 125), S. 26ff. (mit Bezug auf die Tay-Brücke). D a ß man Fundament und Pfeiler von Anfang an gesondert versenkt hat, wie Eyths Brückenbauer (S. 446f.) berichtet, ist eher unwahrscheinlich. Die Quellen Eyths und andere technikgeschichtliche Darstellungen haben dieses Verfahren erst für die spätere (von Eyth aber vordatierte) Umstellung der Konstruktion von Stein- auf Eisenpfeiler bezeugt; vgl. Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 35ff. und 45. Weiter The Engineer 44 (1877,2), S. 228. Engineering 22 (1876,2), S. 166.
157
Bild 41: Ein zuvor v e r s e n k t e s P f e i l e r f u n d a m e n t wird weiter e i n g e g r a b e n , wodurch es bis auf d e n felsigen U n t e r g r u n d absinken sollte. Gleichzeitig werden die E i s e n w ä n d e von innen her a u f g e m a u e r t . Nach T h e E n g i n e e r 35 (1873. 1), S. 191, 4. 4. 1873.
(S. 445-451). Was der Erzähler damit signalisieren möchte, wird auch beim Bericht über den Aufbau, die Verschiffung und die Montage der sogenannten »Gitterbalken« deutlich (Bild 42, 43): Die Natur - hier das Wechselspiel von Ebbe und Flut - besorgt die Arbeit des Menschen, wenn er klug ihre Gesetze in seinem Sinne ausnutzt. Der Ingenieur beklagt nur, »daß wir sie (d.i. die »wundervolle Einrichtung« von Ebbe und Flut) nicht auch erfunden haben« (S. 449f.), obwohl er anderseits durchaus Unbehagen beim Wirken der »geheimnisvollen Naturkraft« empfindet; das Wasser hebe und versenke »mit einer fürchterlichen, alles zermalmenden Sicherheit [...] die gewaltigen Massen« (S. 447). Wie berechtigt das Mißtrauen war, soll dann die große Krise des Unternehmens beweisen, zu deren Darstellung Eyth fünf realhistorische Einzelereignisse bündelt, wobei er wiederum die Chronologie verschiebt und das Tatsachenmaterial stilisiert bis verändert. Bezug genommen wird auf den Tod des ersten Bauunternehmers (am 10. 4.1873), 200 einen Unglücksfall in einem der Senkkästen (am 26. 8. 1873),201 die Entdeckung des zu weichen Untergrunds Ende 1873,202 das Engagement eines neuen Unternehmers (im Juli 1874)203 und die endgültige Änderung in den Konstruktionsplänen sowie den Neubeginn der Arbeiten Mitte bis Ende 1875.204 Der Natur-Konflikt grundiert schon das - bei Eyth - erste Krisenereignis: ein Senkkasten zerplatzt (vgl. Bild 44), und für sieben (statt realiter sechs)205 Arbeiter, die, tief unten eingeschlossen, durch das Ausschachten des Meeresgrundes das allmähliche Absenken der Caissons bewirken sollten, kam jede Hilfe zu spät. Sie »mußten wie Mäuse in einer Falle elend ertrinken.« (S. 453). Wiewohl die Erzählung den Verdacht auf einen »schlechten Guß« in der Außenwand richtet (S. 452), also eine menschliche Fehlleistung annimmt, bucht der Ingenieur, der darüber berichtet, die Verunglückten als notwendige Opfer »im Kampf mit der feindlichen Natur [...]. Auch unsre Schlachten haben ihre Toten; es kann nicht anders sein.« (S. 452). »Das Leben ist hart. Wir hätten nicht in die Welt kommen sollen, wenn wir das nicht tragen können.« (S. 454). Der spezifisch menschlichen ist eine allgemein-naturhafte Ursache unterlegt, eine »Philosophie« (S. 454), die die Arbeiter (trotz verbesserter Arbeits- und Lohnbedingungen) keineswegs zur Wiederaufnahme ihrer aus Protest niedergelegten Arbeit bewegt. Der Ingenieur muß erst selber vorangehen und sich »jeden Tag in jedem Senkkasten eine Stunde lang aufhalten [...]. Dies half.« (S. 454). 200
Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 38. Engineering 22 (1876,2), S. 531, Sp. 3, nennt den 10.3.1873, a . a . O . 29 (1880,1), S. 11, Sp. 2, den März 1873 als Datum. Letzteres hat Eyth: Notizen (Anm. 90), S. 11, sich notiert. 201 Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 40. Eyth a. a. O., S. 3, hat sich nach Engineering 16 (1873,2), S. 165, den 28. 8. notiert. 202 Engineering 16 (1873,2), S. 469, Sp. 2. Vgl. Eyth: Notizen (Anm. 90), S. 3: »Schwierigkeiten. Lehm und Sand werden im Untergrund entdeckt, wo Felsen vermutet wurde.« Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 38, nennt einen Zeitpunkt gleich nach des Bauunternehmers de Bergue Tod (also Anfang 1873). 2< " Engineering 29 (1880,1), S. 11, Sp. 2. Früher: Engineering 22 (1876,2), S. 531, Sp. 3. 204 Engineering 22 (1876,2), S. 531, Sp. 3. 21,5 Vgl. The Engineer 36 (1873,2), S. 132; Bild-Erläuterung Sp. 2.
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Bild 43: Aufbau eines sog. »Gitterbalken«, das heißt eines Mittelstücks der Brücke. Nach The Engineer 35 (1873, 1), S. 204, 4. 4. 1873.
Aber nicht lange. Den - fiktiven - Bauunternehmer Lavalette hatte schon dieses Unglück »furchtbar angegriffen« (S. 453); zudem »sieht er nicht, wie er mit der Brücke und seinen zweihundertfünfzehntausend Pfund« (zu diesem Preis hatte er die Fertigstellung der Brücke versprochen) »zu Ende kommen soll.« (S. 453f.). Nur hierin (und im französisch klingenden Namen) besteht Übereinstimmung mit seinem - zu diesem Zeitpunkt schon längst verstorbenen - realhistorischen Vorgänger, der sein Angebot tatsächlich zu gering bemessen hatte. 2 0 6 Eyth dagegen muß seinen Bauunternehmer deshalb länger am Leben lassen, weil er ihm die Verantwortung für die Folgen der fehlerhaften Probebohrungen anlasten möchte (tatsächlich hatte Bouch sie selber vornehmen lassen und zu ihrer Überwachung eigens einen assistierenden Ingenieur abgeordnet). 207 Dem Blick auf die
206 207
Vgl. Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S. 32f., 40f. Vgl. seine Aussage vor der Untersuchungskommission in: Engineering 29 (1880,1), S. 364, Sp. 2: »Previously to depositing the plans he had caused borings to be made by Mr. Wylie, and a rock foundation was reported to exist across the whole width of the river, excepting some 250 yards on the north shore. He (witness) took the extra precaution to have his own assistant, Mr. Orr, present at the borings.« Eyths Held dagegen sagt S. 435: »Bei den Bohrungen selbst war ich leider nicht anwesend. Ich hatte damals mehrere Monate in Irland zu tun. Aber Bruce konnte sich auf Lavalette verlassen,
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ACCIDENT
Aï
THE
TAY
BRIDGE
WORKS-
Bild 44: Das Zerplatzen einer Luftdruckkammer, durch die man in das Pfeilerinnere gelangte. Nach T h e Engineer 3 6 ( 1 8 7 3 , 2 ) , S. 132. 29. 8 . 1 8 7 3 .
historischen Quellen erschließt sich eine weitere aufschlußreiche Veränderung: nicht am (vom Südufer aus gerechnet) fünfzehnten, sondern erst am sechsundzwanzigsten Pfeiler (und daher statt im September 1873 im Oktober 1875) wird bei Eyth das Mißgeschick entdeckt. 2 0 8 Der Autor akzentuiert damit den Symbolcharakter des Vorgangs: Exakt dort, wo die »zierlichen Stelzen« (Bild 45) des Harold Stoß den Mittelteil der Brücke auf »ihre schwindlige Höhe« (S. 465) anheben sollen, ist der vermutete »Felsgrund« plötzlich verschwunden, und nur »mächtige Sandlager« bleiben übrig (S. 457f.). Es ist, als ob dem Unternehmen an seiner heikelsten Stelle »sozusagen der Boden unter den Füßen verschwand.« (S. 461). Die Situation ist da, die das programmatische Pathos des Helden geradezu herausfordert: »Unsre Zeit braucht Leute von Stahl, soviel auch gewisse Narren über die Verweichlichung der Menschheit jammern. Es gibt solche, sonst gäbe es keine Ennobrücke, keinen Mont Cenis-Tunnel, keinen Telegraphendraht zwider diese Arbeiten ausführte. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, daß die Sache in zuverlässiger Weise behandelt wurde. Überdies ging sie mich nichts an. Meine Arbeiten begannen über der Sohle des Strombettes.« 208
D e r tatsächliche Sachverhalt ergibt sich auch aus Eyths Quelle: Engineering 2 9 ( 1 8 8 0 , 1 ) , S. 3 6 4 , Sp. 2. U n d a . a . O . , S. 196, Sp. 3 u . ö . Vgl. auch T h o m a s : Tay Bridge Disaster ( A n m . 7 2 ) , S. 38. Die tatsächlichen Abmessungen der neuen Pfeiler sind dagegen exakt aus den Quellen übernommen, vgl. Engineering 2 0 ( 1 8 7 5 , 2 ) , S. 2 8 9 , Sp. 3 ; 2 2 ( 1 8 7 6 , 2 ) , S. 165f. Vgl. Eyths Notizen ( A n m . 9 0 ) , S. 6. Eyths »Riesensenkkasten von einunddreißig F u ß Durchmesser« (S. 4 6 2 ) ist also authentisch.
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sehen England und Amerika. Aber nicht jeder hat Stahl genug im Blut, und so stirbt mancher an einem Herzleiden, ehe man sich's versieht.« (S. 458). Lavalette jedenfalls »legte sich [...] zu Bett« und starb (S. 458). Die Vermutung des Ingenieurs hat sich also bestätigt; »ich dachte in der letzten Zeit öfter, daß ihn die Brücke liefern werde. Jeder neue Pfeiler, den er aufstellte, schien ihn etwas mehr zu Boden zu drücken« (S. 457), obgleich doch »Energie und [...] Geschäftsgewandtheit« den »guten soliden Engländer« (S. 443), den »Unternehmer [...], auf den man bauen kann« (S. 455), auszeichnen. Klargestellt wird jedoch schnell, warum die alten Tugenden nicht mehr ausreichen; gerade sein »ernster Enthusiasmus« (S. 443) macht Lavalette anderseits so verletzlich. Den Fehler, den - in der Erzählung - »seine eignen Leute vor mehr als zehn Jahren« gemacht haben (S. 458), rechnet er sich selber zu, und von den Opfern der Brücke, den sieben toten Arbeitern, vermag er sich nicht loszureißen (»er wollte die sieben stillen Männer nicht verlassen« S. 453). Der Ingenieur dagegen befindet kurz und bündig: »genug der Sentimentalität« (S. 453 und 454). Das neue Ingenieur-Ideal entfaltet sich also erst jenseits der in der Lavalette-Figur charakterisierten menschlichen Irritierbarkeiten. Wie derBild 45: Einer der gußeisernen jenige aussehen muß, der dem Zwang der Dinge Pfeiler. Nach The Engineer 49 standhält, wird klar und unzweideutig beantwor(1880, 1), S. 26, 9. 1. 1880. tet: Gefordert wird eine »Rasse aus Hartguß« (S. 472). Äquivalent zum Material, das der Ingenieur bearbeitet, wird er also aufgrund eines rassischen Merkmals. In diesem Sinne zeigt Bruce, »aus welchem Metall er gemacht ist«; vor seinen Aktionären appelliert er an »Ausdauer und Zähigkeit der anglosächsischen Rasse« (S. 459). »Der Trotz dieser nordischen Mannen« bewältigt dann auch die Krise (S. 460). Lavalette versagte, weil er von einer »alten Hugenottenfamilie« abstammte (S. 443) und daher »etwas zu sanguinisch und etwas zu weich für sein Handwerk« war (S. 458). WATCH . I . Τ
Den ideologiegeschichtlichen Stellenwert der über den ganzen Text verstreuten einschlägigen Sentenzen sollte man behutsam, aber auch ohne Untertreibung bewerten; Ironie ist etwa in der Schilderung der Aktionärsversammlung unüberhörbar (S. 458f.). Der nordische Tatmensch als zukunftsweisender Ingenieur-Typ ist also vorerst nur als Möglichkeit entworfen; weder Bruce, der (wie Eyth
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selber) 209 am liebsten »im Gras liegen, den blauen Himmel ansehen« möchte (S. 407), noch Stoß verkörpern wirklich, was sie programmatisch versprechen. Anderseits ist damit aber immerhin angedeutet, wie sich das von aktualisierenden »Faust«-Interpreten in ihren Text nur hineingelesene Ingenieur-Ideal verwirklichen ließe. Daß der Techniker erst als rassisch hochwertiger Herrenmensch die erforderliche »stählerne Härte« (s.u. S. 202ff.) verbürgt, wird schon vor Kellermanns »Tunnel«-Roman ausgesprochen. Der Dichter-Ingenieur experimentiert mit einem Denkmuster, das dann wenig später der Popularautor, nicht ohne Zustimmung seitens der technischen Intelligenz, zu einschüchternder Größe entfalten möchte. Erst seinen Ingenieur erschüttern die Opfer des technischen Fortschritts tatsächlich nicht mehr. Harold Stoß hätte nur dann in diesem Sinne der drohenden Katastrophe standhalten können, wenn er seinem eigenen Ideal auch wirklich entspräche. Tatsächlich aber ähnelt er der Lavalette-Figur mehr, als er selber wahrhaben möchte. Der Leser bemerkt das allerdings nur, wenn er die vereinzelten Hinweise des Erzählers daraufhin zusammenfügt. Dem nordisch-herben Typ des männlich-harten Ingenieurs entsprach der Held, mit seinen »früher vollen, bräunlichen Wangen« (S.485), von Anfang an noch nicht einmal äußerlich. »Er war Österreicher, wenigstens zur Hälfte« (sein Vater, ein österreichischer Major, habe die Mutter, eine Engländerin, während der Feldzüge Radetzkys in Italien kennengelernt); »das leichtere, muntere Blut des Südens verriet sich in zahlreichen kleinen Zügen.« Die »Last des Lebens« kann so einer nur tragen, »solange sie nicht allzu schwer wurde.« (S. 397). Genauer besehen präsentiert der Autor also zwei gegenläufige Erzählstränge; je mehr sich der Held in sein heroisches Programm verrennt, desto deutlicher wird, daß er sich damit nur selber zugrunderichtet. Wenn die Erzähl-Figur Eyth am Ende berichtet: »kein Zweifel, mein guter Stoß war krank«, und: »es war etwas Irres in seinem Blick« (S. 485 und 495), so hat sich darin nur die bereits früh geäußerte Befürchtung des Jugendfreundes Eyth bewahrheitet, der seinen Gefährten beim ersten Wiedersehen zwar endlich »sehr viel männlicher«, aber doch auch »allzu ernst« gestimmt vorfindet (S. 424). Das Eilfieber eines Arbeitsethos, bei dem die Feierlichkeiten zur Grundsteinlegung nur als »halbverlorener Tag« gelten (S. 443), hat den »unverwüstlichsten Optimisten« von früher bereits gezeichnet, dessen »Lebensfreudigkeit« sich nur in entspannten, weil berufsfernen Geselligkeiten so recht hatte entfalten können (S. 397). Daß er dann »mit Miß Bruce Klavier [spielte]«, machte ihn, der ohnehin als »Landschaftszeichner« verrufen war, als Ingenieur vollends unmöglich (so sein eigener Bericht, S. 431). Von »studierter Rücksichtslosigkeit« (S. 432) ist dieser in Wahrheit schwache Held nur, wenn er seine Frau, obgleich sie »aus der Zunft« der großen Zivilingenieure stammt (S. 425), im technischen Fachgespräch wie »den kleinsten Zeichner« »Billy« behandelt (S. 432); ihr ansonsten aber bedeutet: »du hast Recht wie 209
Vgl. Eyth: Tagebuchaufzeichnungen (Anm. 130), Tagebuch 1873, am 20. 3. 1873 (auf einem Schiff bei Trinidad): »Ruhe ist das beste Gut.« Und a. a. O., am 26. 6. 1873: »Ruhe ist d[as] beste Gut - Wenn man's haben kann.«
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immer, wenn du nicht rechnest.« (S. 432). Nur für die »Liebesgeschichte«, nicht aber für die »Brückengeschichte« sei sie zuständig (S. 430). Als »kleine Eva«, aber »dabei nichts Gefährliches« (S. 407) ist diese Ellen Stoß von Anfang an das geeignete »reizende Frauchen für einen Ingenieur« (S. 428), der in seinem Kampf gegen eine nur äußerlich personifizierte Meeres-Natur nach einem leibhaftigen Ersatz-Objekt sucht; er findet es in einer von vornherein vermännlich ten und damit neutralisierten Weib-Natur, die er sich in die äußere Natur hineindenkt. Man muß dazu nur darauf achten, wie sehr die Enno-Bucht und Ellen Stoß einander gleichen. Denn, wenn Harold Stoß seine hoch aufragenden Pfeiler wie phallische Symbole in den weichen Untergrund der Enno-Bucht hineinstößt und ihr damit ein »eisernes Band« (S. 444) umlegt, so wird die Assoziation mit einem Keuschheitsgürtel, der sonst eine weibliche Vagina verschließt, auf eine eigenwillige Art und Weise nahegelegt: der Ingenieur nennt die Enno-Bucht einen »Hermaphroditen« (S. 444), spricht also von einem »geheimnisvollen« (S. 444) Zwitter mit den Geschlechtsmerkmalen beider Geschlechter. Auch seine Frau Ellen rechnet aber einerseits wie der technische Zeichner »Billy« und muntert anderseits »ihren geliebten Harold« auf mit ihrem koketten »Humor mitten zwischen zwei Küssen« (S. 430); ihre »weibliche Neugierde« beruhigt den Helden sichtlich: »Ganz (!) kannst Du Dich von Deinem Geschlecht eben nicht losreißen.« (S. 445). Der Ingenieur wendet sich daher »mit einem plötzlichen Ausbruch von Zärtlichkeit« an sie, wenn er Angst hat (S. 439). Am Ende wäre es sogar mit dem Jugendfreund Eyth »fast zu einem Kuß gekommen«, wenn der Erzähler »demselben nicht durch einen energischen Druck der Hand Einhalt getan hätte. [...] Aber in Stoß regte sich der alte Österreicher, und ich sah jetzt deutlich am Zittern seiner Lippen, wie weich er war.« (S. 485). Die neue Tatkraft, die »mit Gewalt« (S. 473) das Ende des Werks förmlich herbeizwingt, wird bei Eyth vom neu engagierten Bauunternehmer »Griffin & Co.« und seinen »jungen Leuten« (S. 473) mit ihrer »Clevelandfirma« (S. 461) verkörpert, die dabei »unter dem Vorwand von Übereifer manches schlechte Stück Guß- oder Schmiedeeisen in den Bau hineingeschmuggelt haben mögen«. »Die Gewalt« (und nicht etwa die technische Sorgfalt) »hat gesiegt«. (S. 473). Eyth gibt damit tatsächlich belegten, aber zunächst kaum glaubhaften Nachlässigkeiten (einzelne Säulen waren derart schlecht gegossen, daß Arbeiter die Löcher mit einer Mischung aus Wassermörtel, Wachs oder Lehm ausfüllten) 210 eine seiner Erzählintention angemessene Deutung. Der Ingenieur verletzt bei ihm seine Aufsichtspflicht, weil er sich vom Arbeitstempo der jungen Unternehmer »gerne anstecken« ließ.211 »Ich schrie, stampfte und telegraphierte genau wie sie. Ehrlich 210
211
Vgl. die Aussagen der Arbeiter aus der eigens für die Tay-Brücke eingerichteten Gießerei in: Engineering 29 (1880,1), S. 193 und 211-215. Weder der fiktive noch der reale Ingenieur haben die Mahnung eines sachverständigen Zeitgenossen beherzigt: »das beste Mittel, in Frieden mit gewissen Unternehmern auszukommen, ist stets auf den Krieg vorbereitet zu sein.« So eine Zuschrift in: Zeitschrift des Architekten- und Ingenieur-Vereines zu Hannover 26 (1880), S. 440, mit Bezug auf: The Engineer 48 (1879,2), S. 384.
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Bild 46: A m 25. 9. 1877 f u h r der erste P e r s o n e n z u g mit den D i r e k t o r e n der Eisenbahngesellschaft, die die B r ü c k e hatte b a u e n lassen, ü b e r das endlich fertiggestellte B a u w e r k . 20000 Z u s c h a u e r aus D u n d e e und U m g e b u n g sollen dabeigewesen sein (British Rail Archives in t h e Scottish R e c o r d O f f i c e ) .
gesagt, [...] es tat mir gut.« (S. 473). Denn überwunden scheint dadurch, was den Helden bis dahin gequält hatte; »selbst ein tüchtiger Herbstwind läßt mich seit einiger Zeit wieder ruhig schlafen« (S. 473). Die erste Fahrt über die neue Brücke (Bild 46), zusammen mit Griffins und Ellen Stoß unternommen, wird zum scheinbaren - Triumph über den Enno; »ein stolzes Gefühl« sei es, »mit bebendem Herzen über ein Werk von Jahrzehnten wegzufahren und zu fühlen, daß es steht, für alle Zeiten steht.« (S. 476).
8. Die Rache der Natur als göttliche Vergeltung Doch der Held siegt nur scheinbar, um die notwendige Fallhöhe zu gewinnen. Der »Aufruhr« (S. 506 und 495) der Naturgewalten triumphiert in einer dramatisch zugespitzten »Sturmnacht« (S. 500-512) - einem Erzählabschnitt, den Eyth selber in seinem Tagebuch »für den Glanzpunkt des ganzen Buches« hält. 212 Richtig ist das insofern, als das Erzählverfahren des Autors die bisher vorherrschende Sehweise des Unglücks weiter zuspitzt. Eyth akzentuiert die Stärke der 212
E y t h a m 2 0 . 4 . 1898 im T a g e b u c h ( A n m . 130).
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1898, zit. nach Eyth:
Tagebuchaufzeichnungen
Naturgewalten, während er menschliche Fehlleistungen abschwächt oder auf überpersönliche Zwangslagen zurückführt. Am Ende greifen gar höhere Mächte ein. Für jede Warnung, die möglich gewesen wäre, gilt das Wort eines - erfundenen - einfachen Brückenwärters: »es hätte nichts genutzt.« (S. 506). Gemeint hat er damit seinen eigenen - wider besseres Wissen - zu sorglosen Hinweis auf angeblich nur einige wenige »Malefizkeile« (S. 489) in den Querstangen, die - kreuzweise zwischen den Pfeilersäulen angebracht - die Standfestigkeit der Pfeilersysteme zu gewährleisten hatten (Bild 45). Tatsächlich aber hatten sich etwa einhundert Keile und Bolzen, mit deren Hilfe die Querverstrebungen untereinander und an den Säulen befestigt waren, bereits vor dem Unglück gefährlich gelockert - eine Schwächung der Konstruktion an ihrer empfindlichsten Stelle, weshalb (wie es auch im Roman heißt) »die ganze Brücke zitterte und schwankte, wenn ein Zug zu rasch drüberging« (S. 506). Eyth hat hier sehr genau zahlreiche Zeugenaussagen vor der amtlichen Untersuchungskommission verwertet, die von »gebrochenen Nieten - losen Querstangen«, einem gefährlichen Schwanken der Brücke und sogar von einem vorsorglichen »Aufgeben der Reise mit dem Zug« berichteten. 213 Daß die Züge meist zu schnell fuhren und dadurch die Brücke schon lange über Gebühr beanspruchten, wird gleichfalls durch die von Eyth exzerpierten historischen Quellen belegt.214 Für die Kommission war daher nicht zweifelhaft, womit der Einsturz der TayBrücke aller Wahrscheinlichkeit nach begonnen hatte: Die Querverstrebungen ohnehin zu schwach dimensioniert und nicht fest genug mit den Eisensäulen verbunden, nach Meinung vieler Experten (Bild 47)215 - hatten der Doppelbelastung durch Zug und Winddruck nicht länger standhalten können; die Brücke war schon durch vorangegangene Stürme überbeansprucht. Die Schlußfolgerung daraus war für den realen Brückenerbauer Thomas Bouch vernichtend: er hätte das Unglück bei einer angemessenen Überwachung und Instandhaltung seines Jahrhundertwerks vorhersehen und verhindern können. Daß er die entsprechenden Maßnahmen bei der Bahngesellschaft, deren leitender Ingenieur er war, nicht durchsetzen konnte, gilt als unverzeihlich.216 Der - auch bei Eyth etwas mißverständlich als »Brückeninspektor« geführte - Noble war, obgleich (wie die Quellen belegen) ein »äußerst gewissenhafter alter Mann« (S. 487), mit der Gesamtaufsicht weder beauftragt noch gar dazu imstande. Als ehemaliger Maurer ohnehin nur engagiert zur Überwachung der Pfeilerfundamente, hatte er die Schäden am 213 214
215
216
Vgl. Eyth: Notizen ( A n m . 90). S. 13, nach Engineering 29 (1880,1), S. 191f. Engineering 29 (1880,1), S. 191ff. Die von den Anwälten der North British Railway sorgfältig präparierten Lokomotivführer bestritten dagegen die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeiten. Vgl. Thomas: Tay Bridge Disaster (Anm. 72), S.131-135. Vgl. Engineering 29 (1880,1), S. 321. U n d a . a . O . , S. 132f.: das Fachjournal kritisiert jetzt die »disaccordance with ordinary English practice« (S. 133, Sp. 1). Warum er die extrem leichte Konstruktionsmethode wählte, hat Bouch vor der Kommission unmißverständlich begründet: »this was a saving of money«. Vgl. The Engineer 50 (1880,2), S. 66, Sp. 3. Vgl. Thomas: Tay Bridge Disaster ( A n m . 72), S. 72ff.
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Bild 47: Das rechte Bild zeigt die Verbindungsstücke zwischen den Querverstrebungen der Pfeiler (vgl. auch S. 163, Bild 45) und den gußeisernen Säulenelementen. Das linke Bild illustriert eine andere Verbindungsmethode, angewandt für den sog. »Double Viaduct« aus dem Jahre 1868. Sie erweckt schon auf den ersten Blick einen solideren Eindruck. Nach The Engineer 49 (1880, 1), S. 26, 9. 1. 1880, und a.a. O., S. 227, 26. 3. 1880.
Eisenwerk zwar festgestellt, aber unsachgemäß repariert und - da ohne jede Ingenieur-Ausbildung - aus Unkenntnis über die Tragweite nicht davon berichtet (nur über Risse in zwei geborstenen Säulen hat er Bouch informiert, weshalb der Konstrukteur tatsächlich wenige Tage vor dem Unglück seine Brücke noch einmal inspizierte). 217 Eyth dagegen erzählt nicht von gravierenden Fehlern in der Aufsicht und anderen persönlichen Versäumnissen, sondern von einer Standesbarriere, die die Unterrichtung des Ingenieurs über die längst erkannten Schäden verhindert habe; sein Brückenwärter, der mehr wußte, als er sich zu sagen getraute, entschuldigt sich für sein Schweigen so: »Da wären wir schön angekommen, wenn wir armen Teufel einem so hohen Herrn geschrieben hätten, daß seine Brücke einfallen wollte.« (S. 506). Nur indirekt ist damit angedeutet, was Eyths Quelle sehr viel deutlicher ausspricht: »the bridge had been previously strained by other gales«218 - der vom Erzähler Eyth heraufbeschworene »Höllensturm« (S. 511) war nicht mehr notwendig. Daß Eyth ihn gleichwohl bemüht, verweist auf seine ganz anders gelagerte Erzählintention. Die Differenz zwischen Tay- und Enno-Brücke zeigt sich noch einmal darin, wie beide zusammenbrechen. Denn, in der Beschreibung der erforderlichen Naturgewalten verfahren Quelle und Erzähler in exakt entgegengesetzter Richtung. Während bei den Experten der anfängliche »hurricane« sich recht schnell zum noch nicht einmal besonders 217
218
Vgl. seine Vernehmung vor der Untersuchungskommission in: Engineering 29 (1880,1), S. 320f. Und Bouch selber a . a . O . , S. 364f. Engineering 30 (1880,2), S. 24, Sp. 2 (Hervorhebung von mir).
starken Sturmwind abschwächt, 219 beginnt Eyth mit einem »Wetter, wie es im November und Dezember die schottischen Täler [...] gelegentlich durchbraust.« (S. 495). Aus den dabei mitunter entstehenden Windböen, die für Augenblicke einen gegenüber der normalen Windstärke mehr als viermal so starken Winddruck entfachen können, macht Eyth »eine Art Zyklon« (S. 511), in dem sich, wie absehbar (s.o. S. 155), die Rache der Natur verkörpert. Der Gang auf die zerstörte Brücke (Bild 48) wird zum Gang in die Fänge einer mythisch belebten Natur: »Über uns war die Nacht, ein Wühlen und Wallen, ein Sausen und Seufzen, ein Klatschen und Krachen, als ob der wilde Jäger und der fliegende Holländer sich in den Haaren lägen.« (S. 508). Bis in Einzelheiten hinein stellt der Erzähler dadurch klar, wer am Ende wirklich handelt. Als Stoß den Unglückszug besteigt, heißt es: »Stoß sprang ein, und der Sturm schlug sie (die Wagentür) zu.« (S. 499). Kurz darauf notiert der Erzähler: »das Unwetter hatte offenbar aufs neue Atem geholt.« (S. 501). Das animistisch-naturhafte Konfliktmuster hat am Ende eindeutig obsiegt. Der Brückenerbauer, der die lebendige Natur verletzt hat, muß mit dem eigenen Leben büßen; das Bauopfer, seitens der Arbeiter bereits erbracht (s.o. S. 160), genügt nicht. 220 Sieger sind die »einförmig, unablässig, in schwarzer Wut« (S. 508) heranrasenden Wassermassen, vor deren »unerbittlicher Gleichgültigkeit« (S. 514) sich der Held der Erzählung offenbar zu Recht von Anfang an ängstigte (s.o. S. 154f.). Es triumphiert das »in ungestörter Kraft und Freiheit [...] heraufstürmende Meer« (S. 510). Neu ist die Darstellung der handelnden Natur als Werkzeug göttlicher Vergeltung. Das Versagen des Ingenieurs, der zu wirtschaftlich kalkuliert hat, wird in die über alle Menschen verhängte Erbsünde eingebunden. Der Wartesaal, in dem der Brückenerbauer auf den letzten Zug wartet, mutet an wie »eine spanische Kartause«; »zwei Bibelsprüche« verkünden das
219
Vgl. am deutlichsten der Leitartikel vom 23. 1.1880 in: The Engineer 49 (1880,1), S. 67, Sp. 3: »It would be unwise to shut our eyes to facts, and the facts as they stand now appear to be that the Tay Bridge was blown down by a gale ( = Sturmwind, steife Brise). Several witnesses were called in Dundee to prove that the wind blew with the force of a hurricane, but their evidence is not confirmed by material witnesses. We have not heared that any houses were unroofed. The limit of damage appears to have been the uprooting of a few trees, the demolition of some fences, and the throwing down of some chimneypots. There is really no reason to believe that the gale was worse than many gales which have preceded it. However this wind, gale, or hurricane, overthrew not less than three-fifths of a mile of bridgework - an operation never performed by a hurricane before - and all the calculations [ . . . ] go to show, that a wind pressure of not much over 40 lb. on the square foot at the most would have amply sufficed to do what has been done, and it is known that this pressure has often been exceeded.« Vgl. The Engineer 50 (1880,2), S. 29, Sp. 3; nur in der ersten Überraschung habe man an die außergewöhnliche Kraft eines Sturmes geglaubt. Vgl. weiter a . a . O . , S . 55, Sp. 2. Und Engineering 29 (1880,1), S. 364, Sp. 1 und 30 (1880,2), S. 24, Sp. 3.
220
Der zumindest spielerische Umgang mit solchen Deutungsmustern ist auch an anderen Orten belegt. Vgl. Culmann: Eiserne Brücken (Anm. 107), S. 182, über einen Unfall mit Todesopfern beim Bau der Britannia-Brücke: »dies war der letzte Unglücksfall, der erwähnt wird, der Britannia-Geist hatte seine Opfer.«
169
Î f t ë ILLUSTRATED
«ΛΤΠΙΙιΛΥ
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SI χ P E H C E
B i l d 48: E i n e z e i t g e n ö s s i s c h e Illustration ( I l l u s t r a t e d L o n d o n N e w s ) .
drohende Verhängnis: »Bedenke, o Mensch, daß du dahin mußt«. Und: »Der Tod ist der Sünde Sold.« (S. 498). Gesühnt wird so die Vermessenheit dessen, der zu hoch hinaus wollte. Im Wirken der Natur manifestiert sich ein übernatürliches Eingreifen Gottes. Eyth legt diese religiöse Sinngebung seiner Brückengeschichte einem einfachen Menschen, dem Brückenwärter, in den Mund, der Stoß im »Wagen erster Klasse« an sich vorbeifahren sah: »Ja, ja, auch erster Klasse! Es ist alles eine Klasse, wenn der allmächtige Gott Brücken umbläst. Aber ich fürchte, man wird sie wieder aufbauen.« (S. 511). Die Enno-Bucht ist am Ende tatsächlich, woraufhin der Text behutsam, aber sichtbar (s.o. S. 155) vorausdeutete: »ein großes offenes Grab«, über dem »der Herr des Lebens und des Todes schwebte«. »Der alte Mann (d.i. der Brückenwärter) und ich knieten vor dem offenen Grab nieder und vor Ihm.« (S. 512). Mit dem Triumph entfesselter Naturgewalten über die konstruktivistische Hybris des Erfinders ist die Erzähler-Figur des Dichter-Ingenieurs Max Eyth exakt dort angekommen, wo sich der technikferne Literat Fontane von Anfang an aufhielt. Auch bei Eyth ist es am Ende sinnlos, zur Untersuchung der technischen Ursachen des Unglücks etwas beitragen zu wollen. »Was hätte ich [...] auch sagen können?« (S. 518) überlegt der Erzähler, als er vom entsetzten Herumrätseln der Zeitgenossen gleich nach der auf den ersten Blick unbegreiflichen Katastrophe berichtet. Die Umwege, die der Erzähler beschritt, lassen jedoch immerhin erkennen, welche ungelösten Fragen er zurückließ. Ein akademischer Vertreter der Technik bestätigt gleichwohl im Jahre 1980 Eyths Ansicht: Solange »Wirtschaftlichkeit« den »Ernstfall« der Technik bestimmt, bleiben »Weg und Sinn der Technik« von der »Erbsünde« überschattet. 221 »Wir fühlen auch, daß selbst im gut Gewollten noch das Böse gegenwärtig ist.« »Also Technik wohin? - Das kann ich nicht wissen, und das muß ich nicht wissen. Das weiß Gott.« 222 Ob mit dieser Konfliktverlagerung ins Jenseits einige Lösungsmöglichkeiten im Diesseits verschenkt sind, darüber wäre in Kenntnis der Erzählung Max Eyths vielleicht neu nachzudenken. Der Autor hat hier anhand einer verfremdeten literarischen Figur über Probleme gesprochen, die er sonst im häufig schier unerträglichen Frohsinn eines stets wohlgemuten Dampfpflügers versteckt hat. 223 221
222 223
Walter Traupel: Weg und Sinn der Technik. In: Hardi Fischer (Hg.): Technik wozu und wohin? Zürich 1981 ( = Züricher Hochschulforum Universität Zürich - ΕΤΗ Zürich. Band 3). S. 15-32. S. 30f. Traupel vertritt in der interdisziplinären Vortragsreihe, als Ordinarius für Thermische Turbomaschinen, mit anderen zusammen den »Standpunkt der Technik« ( a . a . O . . S. 13). A . a . O . , S. 31f. Daß Eyth keineswegs immer so fröhlich zumute war, wie seine autobiographischen Schriften nahelegen, wird anhand ganz anders gestimmter Tagebucheintragungen sichtbar. So heißt es am 6. 5. 1874: am 38. Geburtstag »ein trüber, kalter melancholischer Tag«. Am 22. 2.1870: »Hundedasein«; am 1. 3.1870: »Pillen genommen« und wegen »Pflugideen schlecht geschlafen«. Am 24. 8.1880 fand Eyth, nach einem allein in Leeds verbrachten Tag, plötzlich alles »öd und leer; müd und traurig«. Vgl. Eyth: Tagebuchaufzeichnungen (Anm. 130), Tagebuch 1870, 1874,1880. Ob die Ursachen für diese häufigen 171
Dieser Weltreisende aus Schwaben, der in seiner mehrbändigen Autobiographie (»Im Strom der Zeit« 1904-1905) seinen Zeitgenossen die Überlegenheit »deutscher Pionierarbeit auf dem Gebiete der Technik«224 suggerierte, meldet sich auch am Ende der Erzählung »Berufstragik« mit einem fröhlich deplazierten »Hinaus!« von Bord eines nach Peru aufbrechenden Schiffes zu Worte. Sein kerniger Schlußsatz über die Aussicht auf »neue Arbeit, neue Mühen, neue Freuden. Das ist Manneslos« (S. 523), bewegt sich nicht auf der Problemhöhe des zuvor entfalteten >tragischen< Technikerschicksals. Der Versuch, zwischen Harold Stoß und Max Eyth eine Gleichwertigkeit der technischen Risiken herzustellen, war schon zuvor in der Erzählung gescheitert (S. 501 und 496). Die Fehlleistung eines Dampfpflügers verletzt vielleicht einen ägyptischen Fellachen (in der Erzählung »Blut und Eisen«), 225 provoziert jedoch keine Jahrhundertkatastrophe. In der Rezeptionsgeschichte des Sammelbandes »Hinter Pflug und Schraubstock« hat sich gleichwohl der stets frohgemute »deutsche Ingenieur« behauptet. 226 Das Buch wurde schnell zum viel gerühmten Volks- und Jugendklassiker über den »Siegeszug deutscher Arbeit«. 227 »Vor allem für die junge Generation« werde hier deren zukunftsweisende Aufgabe entfaltet: »die errungene Weltstellung Deutschlands in Technik und Industrie zu behaupten und zu festigen«.228 Eyths biederem Patriotismus fehlt allerdings die chauvinistische Überspitzung wilhelminischer Erfolgsschriftsteller. 229
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Stimmungswechsel etwas mit seiner Arbeit als Verkaufsingenieur für Dampfpflüge zu tun haben, darüber erfährt man in seinen vielen Schriften nichts. Vielleicht ist aber dieses Aussparen schon Hinweis genug. So der Rezensent in: Deutscher Reichsanzeiger v. 1. 10. 1904. Zit. nach Sammelband I (Anm. 135). In: Eyth: Hinter Pflug und Schraubstock (Anm. 112), S. 76-184. S. 115ff. So der Rezensent in: Deutsche Techniker-Zeitung v. 30. 12. 1903, zit. nach Sammelband I (Anm. 135). Hervorhebung von mir. So der Rezensent einer Volksausgabe von »Hinter Pflug und Schraubstock« in: NationalZeitung v. 22. 11. 1905. Zit. nach Sammelband II (Anm. 135). Zum kontinuierlichen Aufstieg zum Bestseller vgl. Donald Ray Richards: The German Bestseller in the 20th Century. A complete Bibliographie and Analysis. 1915-1940. Berne 1968 ( = German Studies in America, No. 2), S. 5, 58, 96 und 125. Bes. S. 96: »It appears that this collection of Novellen became somewhat of a >standard< after having established itself on the market.« 1940 war das 298. Tausend erreicht. So die Münchener Neuesten Nachrichten undat. [1905], zit. nach Sammelband II (Anm. 135). Vgl. Niemann: Bild (Anm. 3 zu Kap. IV,1).
172
IV. Kapitel Zur Verschwisterung von Technik und Ökonomie II Bernhard Kellermanns Roman »Der Tunnel« (1913) als fordistische Utopie
1. Bernhard Kellermann als Popularautor und der Erfolg des Romans »Der Tunnel« Überblickt man den Unternehmerroman der wilhelminischen Epoche, so fällt auf, mit welcher rückwärtsgewandten Optik ein Autor wie Rudolf Herzog nur scheinbar nach vorn blickt. Die Eroberung des Weltmarkts ist in seinem Roman »Die Wiskottens« (1906) das Werk einer Industriellenfamilie aus Barmen-Elberfeld, in der ein »stahlfester Familiensinn« das Bindeglied einer nach Gutsherrenart vereinten Werksgemeinschaft darstellt.1 Die Organisationsform der Aktiengesellschaft gilt bei dem gleichgestimmten Hanns von Zobeltitz trotz vorsichtiger Annäherungsversuche an moderne Wirtschaftsprinzipien als Werkzeug von Spekulanten (»Arbeit« 1904).2 Diese Romane spiegeln mittelständische Ressentiments,3 aber noch nicht einmal in ideologischer Hinsicht die Probleme der Zukunft. Ins Konzept einer spezifisch deutsch-imperialistischen Weltmachtideologie integriert, verliert die industrielle Technik jedwede Irritationskraft. Erst Bernhard Kellermanns Erfolgsroman »Der Tunnel« (1913) führt den Leser - so auch ein Rezensent der technischen Kultur - auf die »Schlachtfelder der modernen Technik«. 4 Wie der Ingenieur sich dort verhalten sollte, macht dessen jetzt konsequent zu Ende gedachte und perfekt inszenierte literarische Heroisierung deutlich. Kellermann verdichtet und radikalisiert ein Ingenieur-Ideal, mit dessen Entfaltung insbesondere die akademischen Wortführer der TechnikerZunft schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine irritierende Erfahrung reagiert hatten: dem Aufstieg der Berufsgruppe insgesamt entsprach eine fortschreitende Bürokratisierung und Nivellierung der Stellung des einzelnen Ingenieurs.5 Die »Faust«-Aktualisierungen (vgl. Kap. 1,2) waren gleichsam ein letzter Versuch, wenigstens in Festreden diese Entwicklung für Augenblicke zu vergessen. In den Konstruktionsbüros der Großindustrie waren jedenfalls, wie bereits erwähnt (vgl. Kap. 11,1), weder der heroische Ausnahmemensch noch der ' Rudolf Herzog: Die Wiskottens. Stuttgart und Berlin 1914. 101.-110. Aufl. (zuerst 1906), S. 151. 2 Hanns von Zobeltitz: Arbeit. Roman aus dem Leben eines deutschen Großindustriellen. Jena 19053 (zuerst 1904), S. 181. 3 Vgl. ingesamt Hans-Werner Niemann: Das Bild des industriellen Unternehmers in deutschen Romanen der Jahre 1890 bis 1945. Berlin (West) 1982 ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 34), S. 91-97. 4 M. G.: »Der Tunnel«. In: Die Welt der Technik. 15. 7. 1913. Jg. 1913, S. 268f., S. 268. 5 Vgl. oben S. 106. 173
autodidaktische Einzelgänger länger willkommen. Im Konkurrenzkampf der Ingenieure untereinander wurde, wie auch Paul Grabeins Roman »Hüter des Feuers« (1912) bemerkt, 6 das akademische Zertifikat zunehmend wichtig.7 Kellermanns Versuch, das Loblied auf den Ingenieur als den »>Souveränder< Literatur mit einer s o u v e r ä n e n Mißachtung wirklich populärer L e s e s t o f f e a u s k o m m t . D i e Frage, w o m i t der A u t o r sich selber und seine L e s e r s o nachhaltig fasziniert hat, ist n o c h nicht einmal gestellt.
Technik. Der Tunnel. Die Stadt Anatol. Berlin und Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer Verlag 1948. In der D D R erschien der »Tunnel«-Roman allein von 1950 bis 1951 im Aufbau-Verlag in 4 Auflagen. So jedenfalls die Bibliographie in: Kellermann zum Gedenken (Anm. 13), S. 77. Eine textkritische Ausgabe (ohne Apparat) erschien als B. Kellermann: Der Tunnel. Roman. Berlin ( D D R ) 1959 ( = Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Hg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin von E[llen] Kellermann und U[lrich] Dietzel). Vgl. dazu das Nachwort v. U. Dietzel a . a . O . , S. 454-456, bes. S. 456: »Der Text unserer Ausgabe entspricht der noch zu Lebzeiten des Dichters mit seiner Autorisierung im Aufbau-Verlag veröffentlichten. Er wurde im Auftrage der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin überprüft und an Hand der Erstausgabe, die 1913 im S. Fischer Verlag erschien, ergänzt.« Die oben genannte Ausgabe des Suhrkamp-Verlages von 1980 ist eine Lizenzausgabe dieser Ausgabe. Nach einer abschließenden Prospektseite in: Kellermann: Nachlese (Anm. 10), nach S. 652 und Inhaltsverzeichnis, lagen von der Ausgabe im Rahmen der Werkausgabe der Akademie der Künste 1980 6 Auflagen vor. Hinzu kommt als Taschenbuchausgabe B. Kellermann: Der Tunnel. Roman. Berlin ( D D R ) 19722 ( = bb-Taschenbuchprogramm 146). 40
Werner Ilberg: Bernard Kellermann in seinen Werken. Berlin ( D D R ) 1959. Hg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Georg Wenzel: Das Gesellschaftsbild im erzählerischen Werk Bernhard Kellermanns. HalleWittenberg Phil. Diss. [Masch.] 1964. Z u einer weiteren Arbeit vgl. die Anm. 121. Martin Schwonke: Vom Staatsroman zur Science Fiction. Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie. Stuttgart 1957 ( = Göttinger Abhandlungen zur Soziologie, 2. Band), S. 66f. Hans-Jürgen Krysmanski: Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher utopischer Romane des 20. Jahrhunderts. Köln und Opladen 1963 ( = Dortmunder Schriften zur Sozialforschung, Band 21), S. 35-40. Zur Rezeption des »Tunnel« in der utopischen Literatur der D D R und als Überblick über die neuere Utopie-Forschung vgl. Horst Heidtmann: Utopisch-phantastische Literatur in der D D R . München 1982, bes. S. 44 u. 47. Hinzu kommt als populäre Einführung Claus Henneberg: Bernhard Kellermann. 1879-1951. In: Wolfgang Buhl (Hg.): Fränkische Klassiker. Eine Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen. Nürnberg 1971, S. 647-657. Ein informatives Verzeichnis der älteren Literatur über Kellermann (einschließlich der Rezensionen über den »Tunnel«-Roman aus den Jahren 1913 und 1914) findet sich bei Wenzel: Gesellschaftsbild. Dort auch Angaben über Erwähnungen Kellermanns in älteren Literaturgeschichten. Ich habe diese Angaben dankbar benutzt und um einige eigene Funde ergänzt. 181
2. Technik ohne Kulturwert: der Romanheld Mac Allan Eine erste Erklärung für die Faszinationskraft des Romans liegt in seiner Themenwahl begründet. Fast unmittelbar nach dem Untergang der Titanic (1912) im Jahre 1913 geschrieben, greift der nur in Grenzen utopische Roman in technischer wie in historischer Hinsicht zunächst einmal nur auf, was - wie der Erzähler selbst sagt ohnehin »in der Luft [lag]« (S. 51). 41 Nach der Brückenkatastrophe (vgl. Kap. 111,3) hatte nun - so ein Rezensent - eine gewaltige Schiffskatastrophe die Sicherheit von Tunnelverbindungen demonstriert.42 In Zeiten, in denen für fast jede wichtige Meeresstraße ein Tunnelprojekt entworfen wurde, bedeutete die literarische Idee eines Tunnels zwischen Amerika und Europa (so ein TechnikerInterpret) in der Tat nur, daß der Autor »die vorhandene Technik weiter ausmalt« (A. Riedler). 43 (Vgl. Bild 49 und 50). Das Ziel »einer unmittelbaren Verbindung zwischen dem sibirischen und nordamerikanischen Festland« durch die »Untertunnelung der Behringstraße« wurde in den Fachorganen der Zeit neben vielen anderen Projekten ernsthaft diskutiert.44 Schon der Bau des 1905 nach achtjähriger Arbeitszeit fertiggestellten Simplon-Tunnels im Zuge der Gotthard-Bahn hatte die Phantasie von Popularautoren mächtig angeregt (vgl. Wilhelmine von Hillerns »Der Gewaltigste« 1901). Kurd Laßwitz hatte bereits 1878 die Idee zu einem »großen deutsch-californischen Tunnel« entfaltet, der durch das Erdinnere führen sollte. »Dadurch hatte man den Vorteil« (so Laßwitz sehr kühn), »zum Durchfahren dieses Tunnels keiner anderen Kraft zu bedürfen, als der Schwerkraft«. 45 41
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Zit. wird im folgenden mit bloßer Seitenangabe im Text nach Bernhard Kellermann: Der Tunnel. Frankfurt am Main 1980 ( = Bibliothek Suhrkamp Band 674). Diese Ausgabe ist eine Lizenzausgabe nach der anhand der Erstausgabe von 1913 korrigierten Ausgabe letzter Hand. Vgl. dazu A n m . 39. Vgl. den Rezensenten in: Welt der Technik (Anm. 4), S. 268: der Roman »behandelt den Bau eines Tunnels, der Amerika und Europa miteinander verbindet und den Reisenden gestattet, innerhalb 24 Stunden den einen Kontinent mit dem anderen zu vertauschen, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, das Opfer einer >TitanicNiederschlag< offensichtlich nur ein Artikel erhalten: Das neue San Francisco (vgl. Anm. 71). Kellermanns Reiseberichte aus den Jahren 1910 und 1911 beschreiben nur die Zeit in Japan (»Ein Spaziergang in Japan« 1910 und »Sassa yo Yassa. Japanische Tänze« 1911). Ford: Mein Leben (Anm. 94), S. 131. >Amerikanische< Technik heißt deshalb für viele Zeitgenossen »statt Menschenkraft: Gerätekraft«. So Alfred Kerr: Newyork und London. Stätten des Geschicks. Zwanzig Kapitel nach dem Weltkrieg. Berlin 1923, S. 31. Und ders. in: Yankee-Land. Eine Reise. Berlin 1925, S. 58. Oder (um ein weiteres prominentes Beispiel zu zitieren) Albert Einstein: Meine ersten Eindrücke in Nordamerika (1933). In: A. Einstein: Mein Weltbild. Hg. von Carl Seelig (zuerst 1934). Frankfurt/M., Berlin (West) und Wien 1980 ( = Ullstein Materialien / Ullstein Buch Nr. 35024), S. 41-45. S. 42: »alles ist darauf angelegt, an menschlicher Arbeitskraft zu sparen«. Kellermann nennt als Beispiele einige sehr einfache Handarbeiten, wie z. B. das »Abladen eines Waggons« (S. 148), an denen Taylor ja auch selber seine Verwissenschaftlichung der Arbeit demonstriert hatte. Vgl. Taylor: Grundsätze (Anm. 67), S. 59ff., 67ff. u . ö . Die Taylorismus-Rezeption insgesamt antwortete aber auf die Erfordernisse einer zunehmend mechanisierten Produktion. Vgl. Homburg: Taylorsystem (68), S. 170f.
198
(S. 128ff.), die Tunnelzüge (S. 133) und »ein ewig wandernder Rost« (S. 131) (also ein Fließband, welches das herausgesprengte Gestein wegtransportiert) den Arbeitern keine Atempause lassen, so erfolgt die Vorgabe des Arbeitstempos insgesamt noch nicht, wie bei Ford, durch die für den Arbeitenden gar nicht mehr wahrnehmbare Ferneinstellung eines künstlichen Mechanismus. Die Umfunktionierung eines Transportmittels zum Disziplinierungsinstrument fehlt. Das entscheidende MißVerständnis des »Tunnel«-Erzählers besteht deshalb darin, daß Arbeitsmaschinen nach dem Vorbilde Fords die Erfindung einer Ingenieur-Figur, die wie Mac Allan als »geißelschwingendes Phantom über der Erde [stand] und zur Arbeit [anpeitschte]« (S. 169), einfach überflüssig machten. In Fords Fabriken ist, wie ein Reisebericht aus dem Jahre 1931 hervorhob, »nichts gewaltsam«,112 »der rhythmische Zwang, den die Bänder der Fabrik auferlegen«, reguliert alles (H. Hauser). 113 Der Einwand der Kulturkritiker gegen Ford ist daher gerade, daß er kein Ingenieur-Herrscher (wir können hinzufügen: im Stile des alten Faust) mehr ist: »Jeder Herrscher hat Größe. Kein einziger Zug Fords aber verrät Größe.« 114 Denn, statt durch Macht werde der Arbeiter durch eine effiziente Arbeitsorganisation und durch Lohnanreize >bezwungenIngenieur-Bataillone< befehligt (S. 75 u.ö.), Arbeiter werden - wie in Goethes »Faust« - wie Soldaten eines zur stumpfsinnigen Teilarbeit genötigten Massenheeres behandelt. Auch Mac Allans Projekt ist ganz auf den Verschleiß menschlicher Arbeitskraft gestützt. Mac Allans Arbeiteragenten sind deshalb »kalte, erfahrene Burschen mit dem raschen Blick von Sklavenhändlern« (S. 66). Wie den Mephisto an seinen Lemuren, interessiert sie nur »das Knochengerüst ihres Mannes, seine Muskeln und Sehnen« (S. 66). Geschult und gedrillt zur bewußtlosen Erledigung allerkleinster Teilarbeiten, muß der »einzelne Arbeiter« »automatisch und immer schneller« (S. 148), das heißt wie ein stetig perfektioniertes Maschinenteil arbeiten. Die menschliche »Kraftausnutzung bis ins Extreme«, »das hundsföttische Stückarbeit112 113 114 115 116 117
Heinrich Hauser: Feldwege nach Chicago. Berlin 1931, S. 225. A . a . O . , S. 232. Peter Mennicken: Anti-Ford oder Von der Würde der Menschheit. Aachen 1924, S. 42. A . a . O . , S. 43. Spengler: Mensch und Technik (Anm. 81), S. 74 u.ö. Vgl. auch Neef: Geschichte (Anm. 8), S. 15f.
199
Schindsystem« (A. Holitscher) braucht - wie bei Taylor (so dessen Kritiker) noch den überwachenden Menschen. 118 Daß Mac Allans Bohrmaschine »ein graues staubbedecktes Ungetüm« ist, das wie »ein Ungeheuer der Vorzeit« (S. 129) aussieht, hat eine unfreiwillige Pointe: diese Maschine entfesselt zwar Energie wie »Sprengstoff« (S. 129), diszipliniert aber noch nicht, wie zu ihrer Zeit längst üblich, wie von selber zur Arbeit. Kellermann diagnostiziert daher einerseits anhand seiner fiktiven IngenieurFiguren, wozu die rücksichtslos disziplinierte Arbeiternatur ausgenutzt werden könnte - und er glorifiziert dieses Arbeitsethos zugleich: Gerade die Arbeit, in der man sich erst dann verwirklicht, wenn man auf jede eigene Interessenwahrnehmung verzichtet, sie ist, so Mac Allan, zu Recht eine »Schlacht«, die täglich Menschen tötet, und die »Religion unserer Zeit!« (S. 233f.). Wer die Energie dieser Figur verherrlicht, 119 sollte also genau prüfen, worauf er sich da einläßt. 120 Warum die Ideale des Helden Mac Allan so gefährlich sind, zeigen mit allem Nachdruck die ideologischen Instrumentalisierungen aus einander widersprechenden Richtungen. Das Arbeitsethos, das nichts für sich selber beansprucht, eignet sich offenkundig glänzend zur weltanschaulichen Verwertung. So möchte eine DDR-Ausgabe noch 1972, unter ganz »anderen gesellschaftlichen Bedingungen«, mit Hilfe des Romans einen für den technischen Fortschritt »begeisterten Leserkreis« gewinnen, 121 und ein Interpret meint sogar, der Roman zeige die »weltverändernde Kraft des Menschen«, wenn er »in gemeinsamer Arbeit die Welt« seinem »Willen« unterwirft. 122 Schon Kellermanns rückhaltlose Begeisterung für »gigantische und beispiellose« technische Projekte jedweder gesellschaftlichen Herkunft stimmt skeptisch. Sein Blick ist zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg auf die wenigen »genialischen Männer« gerichtet, die in der Sowjetunion Stalins Brücken, Kanäle oder Großkraftwerke projektierten, die »an Kühnheit und Tiefe der Gedanken« alles 118
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Holitscher: Amerika (Anm. 47), S. 308. Vor einer Gleichsetzung von literarisch zugespitzter Kritik mit der sehr viel uneinheitlicheren historischen Empirie warnt Burchardt: Technischer Fortschritt (Anm. 68), S. 74 und 91. Kasper German: Helga und andere Schulgeschichten. Weimar 1957, S. lOlf. Daß man den »Tunnel« richtig nur in Sowjetrußland zu schätzen wußte, diese Belehrung durch sowjetische Kulturoffiziere nach 1945 könnte sich zumindest von heute aus gesehen nicht als »bedeutende«, sondern als problematische »Hilfeleistung [auf] kulturellem Gebiet« herausstellen. Zu den Zitaten vgl. S. Tulpanow: Kellermann und die sowjetische Öffentlichkeit. In: Tägliche Rundschau v. 4. 3. 1949. Beilage S. I. Und die Darlegung von Annemarie Auer im Nachwort zu: Bernhard Kellermann zum Gedenken. Aufsätze, Briefe, Reden. 1945-1951 (Auswahl). Berlin (DDR) 1952, S. 69-74. S. 71. Vorbemerkung zu Bernhard Kellermann: Der Tunnel. Roman. Berlin (DDR) 19722 ( = bb-Taschenbuchprogramm 146). Auch bei dem sonst vorsichtig argumentierenden Alfred Börner: Gesellschaftsordnung und Menschenbild im deutschen utopischen Roman des 20. Jahrhunderts. Phil. Diss. Jena 1966 [Masch.], S. 40-52, heißt es am Ende: »Die Neugeburt der Welt im Zeichen der Technik gelingt trotz aller Wehen«. (S. 52). Wenzel: Gesellschaftsbild (Anm. 40), S. 31. Zurückhaltender urteilt Ilberg: Kellermann (Anm. 40), S. 39-55. Ein »Friedenswerk« ist der Tunnel jedoch auch hier (S. 55). Vgl. dazu das folgende.
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Bild 51: Zeichnung eines TunnelProjekts von 200 km Länge unter der Straße von Korea. Die gleichfalls eingezeichnete Unterseeverbindung nach Moji sei - so Kellermann 1943 - bereits fertiggestellt; sie habe eine Länge von 8 km. Nach Kellermann: Phantastische Verkehrswege (S. 182, Anm. 44), S. 30 (Zeichnungen von H. u. B. von Römer).
•Λ.
bisher »in der Geschichte der Menschheit« Geleistete übertreffen. 123 Kellermanns Begeisterung für ein künstlich bewässertes, besiedeltes und industrialisiertes »Turkmenien« erinnert nicht von ungefähr an Fausts Visionen; die »Genialität« einiger »Hydrotechniker« und die Arbeitsleistung eines ganzen »Volkes« machen die bisher dem Menschen nur feindlich gesonnenen Sandwüsten Turkmeniens fruchtbar. 124 Kellermann rühmt deshalb sowjetische Ingenieure, die sich - wie Mac Allans Ingenieure - mit Hilfe »gewaltiger Sprengstoffe [...], die der Atomkraft nahe stehen«, im Zuge gewaltiger Kanalbauten durch Gebirge hindurch»sprengten«. 125 1943 hatte er »phantastische Verkehrswege«, das heißt »gigantische« Tunnelprojekte »von geradezu überwältigenden Ausmaßen«, in einer eindeutig nationalsozialistisch ausgerichteten Monatsschrift verherrlicht. 126 Der »kommende Friedensschluß« ist in dieser Umgebung eine gespenstische Voraussetzung technischen Fortschritts; daß die »Untertunnelung der 200 Kilometer breiten Korea-Straße«, ein »wahrhaft gigantisches Werk« (vgl. Bild 51), »Japans Großraumwirtschaft in Ostasien« fördern sollte, erscheint als unbedenklich. 127 Um nicht mißverstanden zu werden: nicht dem Autor Kellermann, sondern dem »Tunnel«-Erzähler gegenüber mahne ich zur Skepsis. Verführbarkeiten des Autors selber machen nur plausibel, warum er sich in der Erzähler-Rolle zu dem 123
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Bernhard Kellermann: Gigantische und beispiellose Pläne der Sowjetunion. [Typoskript] o. J. S. 1, 3. In: Bernhard-Kellermann-Sammlung in den Literatur-Archiven der Akademie der Künste der D D R . 1923 hatte Kellermann »einen Kongreß von zwanzig bis dreißig der schöpferischsten (!) Köpfe des Landes« (Hervorhebung im Text) für den Wiederaufbau Deutschlands verlangt. Vgl. Kellermann: Wiederaufbau (Anm. 83), S.465. Kellermann: Pläne (Anm. 123), S. 6. A . a . O . , S.7f. Kellermann: Phantastische Verkehrswege (Anm. 44), S. 26. A . a . O . , S. 25 und 28. Skeptisch stimmt den Autor (neben der Konkurrenz des Flugzeugs) vor allem das Kostenproblem. 201
Ingenieur-Ideal seines Bestsellers versteigen konnte. Sowohl Kellermann als auch den kurz zuvor zitierten Interpreten wird man zugute halten müssen, daß sie nicht recht bemerkt haben, worauf sie sich jeweils einlassen. Welche bedrohlichen Perspektiven der Roman tatsächlich eröffnet, hat man rechtsaußen entdeckt. Denn, Kellermann glaubt offenkundig, zur Durchsetzung seines rigiden Arbeitsethos eine neue Herrenrasse erfinden zu müssen. Der »Raubvogelschrei« Mac Allans (S. 87) und vor allem Strom, der »Deutschrusse aus den baltischen Provinzen« (S. 226), lassen diesen neuen Typus erkennen. Wie schon bei Eyth 128 ist es ein Rassemerkmal, das den Menschen für die »Schlachten« der Technik neu härtet. Verständlich wird das, wenn man beachtet, worauf sich der fiktive Ingenieur in Kellermanns Roman einläßt; die Abrichtung der Arbeiter zum toten Maschinenteil und deren Zusammenfügung zur »großen Maschine« (S. 76) der Massenarbeit kann nur von dem geleistet werden, der in sich selber »alle menschlichen Empfindungen« abstumpft (S. 360). Die Mechanisierung der fremden Körper setzt die Fähigkeit zur Maschinisierung des eigenen Leibes offenkundig voraus.129 Wer »die große Maschine in Schwung gebracht« hat (S.76), muß selber »lautlos und gleichmäßig wie eine gutgeölte Maschine« arbeiten (S. 96f.). Mac Allan ist hart und gefühllos wie sein stählernes »Allanit, das dem Diamanten nur um einen Grad an Härte nachstand.« (S. 55). »Wahrhaft gut« (S. 15) ist dieser Mac Allan von Anfang an nur, solange er nicht für sein Projekt arbeitet. 130 Denn, »eiskalt vor Energie« (S. 91) wurde schon der junge Mac Allan, als er sich, nur auf seine »harten Sehnen und Muskeln« gestellt, nach einem Grubenunglück »durchs Gestein wühlt« (S. 91). Mac Allan selber arbeitet hier exakt so wie später seine Maschinen-Arbeiter. Sein »Gang durch die Eingeweide der Erde« (C. Neubaur) 131 beginnt bereits hier. Mac Allans Grubenpferd Boney führt vor, wie er später mit seinen Arbeitern umgeht; dieser »alte, krummrückige, fette Schimmel« (S. 87) kann, anders als in Storms »Schimmelreiter«,132 nicht zum Symbol einer erlösten Naturkreatur werden, weil der Ingenieur ihn, trotz aller 128 129
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Vgl. Kap. III, 7, S. 163f. Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2. Männerkörper - zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Reinbek bei Hamburg 1980 (zuerst 1978) ( = rororo sachbuch 7300), S. 144ff. Die eingangs präsentierte Mischung aus privater Innigkeit und verbissener Arbeitsmoral wirkte ohnehin von Anfang an süßlich und künstlich. Mac Allans Frau erhält sich dessen Fürsorge nur für kurze Zeit dadurch, daß sie sich wie ein Hund zu seinen Füßen zusammenrollt: »Den Kopf an seinen Schenkel gelegt, schlief sie ein.« (S. 39). Mac Allan wird also nicht erst im »Auftrage des Syndikats« (so Ilberg: Kellermann [Anm. 40], S. 49) unmenschlich. Wer die Verantwortung für seine Verhärtung der »Börsenspekulation« und den »Finanzmagnaten« (so Tulpanow: Kellermann [Anm. 120], S. 1) allein anlastet, macht sich die Interpretation zu einfach. Mac Allan ist von Anfang für seine Aufgabe vorbereitet. Vgl. dazu bes. den Rückblick auf seine Jugendgeschichte und die nachfolgende Interpretation in meiner Arbeit. Caroline Neubaur: Zukunftsvision anno 1913. Bernhard Kellermanns wiederausgegrabener »Tunnel«. In: Süddeutsche Zeitung v. 21./22. 6. 1980. Wochenendbeilage. Vgl. Kap. II, 5, S. 96.
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Pflege in den Arbeitspausen (S. 86), wie seine künftigen Arbeiter behandelt: »Er konnte keine Rücksicht nehmen. Trotz alledem waren sie gute Freunde.« (S. 86). Den Tunnelarbeitern gewährt er später mildtätige »Sonntagsaudienzen« (S. 172), während inmitten der »donnernden Arbeit« »seine Augen einen herrischen und triumphierenden Ausdruck« bekommen (S. 173). Mac Allans Augen sind überhaupt, sobald er nur über sein Projekt redet, »stählern und blinkend« (S. 55). Die >Stahlnatur< des Ingenieurs ist hier nun endlich literarisch verwirklicht. Seine Organe, riesenhafte »Bohrmaschinen« (S. 128), wühlen sich »in rasendem Tempo« (S. 128) in den Erd-Körper. Die Erde wird bei Kellermann wie ein riesenhafter Frauen-Leib von den Allanschen Bohrern zuerst »perforiert« (S. 128) und dann immer wieder aufs neue gewaltsam durchdrungen. »Vor und zurück, Tag und Nacht, jahrelang, ohne Pause« (S. 130) geht das. »Der Berg schrie, [...] er lachte wie ein Heer Irrsinniger, er delirierte wie ein Lazarett von Fieberkranken und endlich donnerte er wie große Wasserfälle« (S. 129) - Schmerz, Wahnsinn, orgiastische Verzückung und lustvolles Verströmen folgen unaufhörlich aufeinander. Mac Allans Bohrer ejakuliert, wenn er sein Zerstörungswerk vollbracht hat: »er zog [sich] zurück und spritzte etwas in die Löcher« (S. 129). Was auffällt, das ist die Orgie an Gewalttätigkeit, die der Erzähler damit entfesselt. Der Geschlechtsakt mit der Erde ist zugleich ein unaufhörlicher Mord an ihr. Ja, Mac Allans Bohrer verschafft sich erst gewaltsam eine der weiblichen Vagina vergleichbare Erdöffnung: durch »Doppelstollen«, »brandige schwarze Wunden« (S. 128),133 fährt er immer wieder in die Erdtiefen. Diese »Wollust des Zerstörens« (S. 129) läßt nicht von ihrem Objekt, bevor sie es nicht in ein Meer von Blut und Eiter (S. 128) zerfetzt hat. Der nach innen verhärtete Ingenieur entlädt hier einen Triebstau, vor dessen Entfesselung ihn sonst der Typ der gleichsam körperlosen Frau bewahrt hat. 134 Der Körperpanzer des Ingenieurs zerplatzt in zwanghaft immer aufs neue wiederkehrenden Destruktionsakten. Der fordistische Ingenieur geht wie ein soldatischer Destruktionstechniker vor. Diese Analogie wird noch deutlicher, wenn man das Augenmerk auf Mac Allans Nachfolger richtet. Der »Elektrotechniker« (S. 225) Strom erkämpft nämlich am Ende buchstäblich wie ein Stoßtruppführer des Ersten Weltkriegs den Endsieg im Tunnel. Für Mac Allan bleibt nur die Rolle des älteren, ausgebrannten Feldherrn (S. 360). Stroms »eisige Glasaugen und sein totes Gesicht« (S. 325) zeigen, worin er seinen Vorläufer noch überbietet: dieser Strom ist »ganz Panzer« (K. Theweleit). Seine Zerstörungslust war erst befriedigt, wenn er »ohnmächtig zusammenbrach« (S. 361).135 133
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Zu vergleichbaren Männerphantasien vgl. Theweleit: Männerphantasien 1 (Anm. 98), S. 188-209, insbesondere die Zitate S. 200f.: vergewaltigte zerquetschte Frauenkörper sind hier »schwarz voll Blut, zwischen Lende und Schenkel« oder »ein ungeheurer blutiger Rachen«; sie sind, wie Mac Allans perforierter Erd-Körper, »ein Brei von Blut und Koot«. Vgl. im »Tunnel«-Roman S. 128: »Wie Wunden waren diese Doppelstollen, brandige schwarze Wunden, die immerzu Eiter ausspien und frisches Blut verschlangen.« Die Frauenfiguren, mit denen Mac Allan zusammentraf, sind (wie bereits gezeigt) entweder >entleiblicht< (wie Maud) oder >vermännlicht< (wie Ethel Lloyd). Vgl. Theweleit: Männerphantasien 2 (Anm. 129), S. 188ff., der exakt dasselbe Phänomen anhand von Freikorpsromanen aufzeigt.
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Kaltblütig auch auf verlorenem Posten noch ausharrend, verkörpert dieser Strom schon 1913 mit seiner gegen sich selbst und gegen andere gerichteten Kälte und Menschenverachtung eine alsbald in Deutschland rege nachgefragte und von den Freikorps der Weimarer Zeit an die Waffen-SS des Zweiten Weltkrieges weitervermittelte soldatische Führernatur. 136 »Mager und hart« (S. 327) gleicht er schon von seiner äußeren Statur her dem Offizierskorps in Hitlers Eliteeinheit. 137 Wie dessen >Führer< führt er »Freiwillige« so lange vor, bis er »selber ohnmächtig zusammenbrach« (S. 361). Von mitleidloser Härte wird er - wie jene von ihren Soldaten - von den Tunneimen nicht geliebt, sondern gehaßt, aber auf jeden Fall geachtet (S. 359). Verlustraten spielen im Tunnel wie in den russischen Winterschlachten des Zweiten Weltkrieges keine Rolle: Strom ist - wie die frühen Eliteeinheiten der Waffen-SS - ein Spezialist für Krisensituationen, in denen er als einziger noch nach vorne vorgeht (S. 225).138 Wie die Elite-Offiziere Hitlers führt Strom stets die Spitze des Angriffs. »Er war ein Mensch, der tagelang ohne Essen, Trinken und Schlaf sein konnte. Er war fast täglich im Stollen und leitete stundenlang persönlich die Arbeiten am Vortrieb.« (S. 359). Auch wenn er sich selber bis zur Erschöpfung verausgabte, war er »acht Tage später [...] wieder in der >HölleArbeitsschlacht< ist er »triefend von Schweiß, schmutzig und kaum mehr menschenähnlich.« (S. 362).139 Innerhalb des Romans bleibt da nur der Kommentar, den Mac Allans zweite Frau Ethel Lloyd ausspricht: Der Tunnel habe alle »wahnsinnig« gemacht - »sie brauchen nur ein paar Jahre dabei zu sein.« (S. 325). Verständlich wird jedenfalls, warum sich Hitler am fanatischen Durchhaltewillen der die Erde durchbohrenden
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Dieser Traditionszusammenhang zwischen dem Ideal eines Stoßtruppenführers sowie eines Freikorpsoffiziers und dem ideologischen Leitbild des Führerkorps der Waffen-SS wird in der einschlägigen Literatur zur Geschichte der SS unterstrichen. Vgl. Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS. Gütersloh 1967, S. 411ff. Und George Stein: The Waffen SS. Hitler's Elite Guard at War 1939-1945. Ithaca and London 1966, S. 291ff. Hier wird die Vermittler-Rolle Ernst Jüngers hervorgehoben. Wichtig sind die Einschränkungen Bernd Wegners zur realhistorischen Umsetzung dieser Leitvorstellung: sie sei nur in den frühen Kerneinheiten der bewaffneten SS-Verbände bis etwa 1942 gelungen. Der Ausbau der Waffen-SS von einer Elite-Truppe zum Massenheer eines Weltanschauungskrieges habe danach deren »militärische Funktionsfähigkeit« im Sinne einer Auslese-Truppe erheblich beeinträchtigt. Vgl. Bernd Wegner: Hitlers politische Soldaten: die Waffen SS 1933-1945. Studien zu Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite. Paderborn 1982, S. 175ff. und 277ff. Zum Führerkorps der Waffen SS vgl. Stein: Waffen SS (Anm. 136), S. 281, 292. Und Wegner: Hitlers politische Soldaten (Anm. 136), S. 282ff. Stein: Waffen SS (Anm. 136), S. 75 , 287, zu einigen Beispielen bis 1942. Daß diese militärische Härte der Waffen SS später propagandistisch gewaltig übertrieben wurde, macht Wegner: Hitlers politische Soldaten (Anm. 136), S. 282ff., deutlich. Zu dem Verhalten der Ingenieur-Offiziere hieß es schon vorher: »Blind von Staub und Hitze kauerten die Ingenieure, vollkommen nackt, mit Staub und Schmutz bedeckt, in den Stollen und beobachteten die Registrierapparate.« (S. 362).
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Tunnelbauer aufrichtet. 140 Eine Verfilmung des »Tunnel«-Romans hatte schon 1933 der zeitgemäßen Aneignung dieses rassistisch getönten Techniker-Ideals den Weg bereitet. 141 Schon im Roman selber ist nicht nur die Kampftaktik faschistischer Eliteverbände, sondern die Strategie faschistischer Kriegsführung insgesamt vorweggenommen. Denn, der »Tunnel«-Erzähler läßt Massenheere - »Armeen schweißtriefender Menschen« (S. 75 u. ö.) - und Eliteverbände im Verbund kämpfen. Aus Ingenieuren, die - »mit Revolvern ausgerüstet« (S. 188) - die »Arbeiterbataillone« befehligen (S. 100 u.ö.), werden >Ingenieurbataillone< (S. 75), die entweder allein oder zusammen mit extra gehärteten »Höllen-Männern«, die als »Pace-maker« fungieren, voranstürmen sollen (S. 148). Exakt so kombiniert Hitler die Wehrmacht als Massenheer mit seiner SS, von der er sagte, daß sie »nicht zu groß werden« dürfe. »Ganz ohne eine gewisse Zahl« aber komme man auch im »technisierten« Krieg nicht aus.142 Von daher betrachtet wird Hitlers Vorliebe für die sonst von ihm eher verachteten amerikanischen Massenfabrikate verständlich; er brauche einerseits Kriegsmaschinen, »die fünf bis sechs Jahre halten« (das Ideal »deutscher Werkmannsarbeit« als Gegenbild zu Ford kommentiert er dann sehr spöttisch), anderseits aber setzt er auf den Führer, der mit »animalischer Kraft« vorgeht. 143 Hitler war - darin Mac Allan nicht unähnlich - Anhänger einer Technik, die sich nicht durch Perfektion, sondern durch das Konzept einer streng typisierten »Quantitätsrüstung« auszeichnete. 144 Hitlers eigene Projekte sind wie Mac Allans Tunnel: »Alles nur groß, aber technisch nicht viel Neues.«145 Daß sogar eine der später eingesetzten »Wunderwaffen«, die Flugbombe V I , im Anflug auf London »ein Geräusch wie ein altes T-Modell von Ford am Berg« verbreitet haben soll, klingt fast glaubhaft. 146 Es hat keinen Sinn, die soeben skizzierten unterschwelligen »faschistischen« Verwertungsangebote des Romans übersehen zu wollen. Daß sie die Wirkung des »Tunnel« in der Zeit des Nationalsozialismus beflügelt haben, kann man angesichts des fehlenden Quellenmaterials nur vermuten. Immerhin fällt auf, daß der Roman 1943 seine 373. Auflage erlebte. 147 Eindeutig belegbar ist dagegen auf 140
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So jedenfalls Hans-Jürgen Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. Reinbek bei Hamburg 1979 ( = das neue buch 108), S. 151. Vgl. Kraft Wetzel und Peter A. Hagemann: Liebe, Tod und Technik. Kino des Phantastischen 1933-1945. Berlin (West) 1977, S. 54f. Jochmann (Hg.): Hitlers Monologe (Anm. 107), S. 168 und 354. A. a. O., S. 210, 255 und 123. Zur Sympathie für Massenfabrikationen vgl. weiter a. a. O., S. 96 und 137. Zu Hitlers Konzept einer »Quantitätsrüstung« vgl. Ludwig: Technik (Anm. 60), S. 421ff. Dies Konzept galt zumindest bis 1942. Erst danach sollten die »Wunderwaffen« eine Wende des Krieges oder zumindest ein Remis erzwingen. So der Eisenbahnhistoriker Anton Joachimsthaler zu Hitlers Projekt einer Breitspurbahn. Zit. nach Christoph Rind: Hitlers Wahn mit der Bahn. In: Stern Nr. 4/82 vom 2 1 . 1 . 1 9 8 2 , S. 140-146. S. 146. So ein englischer Luftraumbeobachter, zit. nach Bild am Sonntag v. 28.6.1981: Fliegende Bomben. »Nur die Pest war schlimmer«, S. 54f., S. 54. Vgl. [Häupler:] Sein Hauptwerk »Der Tunnel« (Anm. 28).
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jeden Fall, worin der »Tunnel«-Erzähler im Jahre 1913 so bedenklich nach vorn blickte. Der Roman glorifiziert eben nicht nur in der Figur des Mac Allan gleichsam ein letztes Mal den Ingenieur als den Souverän über die Technik (vgl. oben S. 174). Der Roman präsentiert weiter in der Gestalt des Strom und seiner Berufskollegen einen Typus, der die heroisch überhöhten Ausnahmefiguren ablöst. Kellermanns Roman reflektiert damit auf eine verhängnisvoll zugespitzte Weise einen sozialen Wandel, der auch innerhalb der technischen Intelligenz nicht unbemerkt blieb: den Übergang vom Ingenieur als dem »Auserwählten«, dem »Riesen«, der an der »Spitze der Pyramide« steht, zum »Ingenieur des täglichen Lebens [...], der im kleinen Kreis« (und mit vielen anderen zusammen) »am großen Werk schafft« (L. Brinkmann). 148 Daß die Erhöhung dieses Ingenieurs auf Kosten seiner Angleichung an den soldatischen Destruktionstechniker vor sich gehen kann, bemerkt der Leser nicht nur bei Kellermann, sondern auch in den Schriften des bereits mehrfach zitierten AEG-Direktors und Ingenieur-Schriftstellers Ludwig Brinkmann. Er fordert für seinen Berufsstand die »Methode [...] des Mineurkrieges«, des »Guerilla«-Kampfes gegen die Natur, und er porträtiert deshalb schon 1908 den Ingenieur unverkennbar so wie die Soldaten der (zu dieser Zeit noch gar nicht vorhersehbaren) Materialschlachten des Ersten Weltkrieges: als »harter Kriegsmann« habe der Ingenieur etwas »Erdiges, Ehernes« an sich. Kellermanns rassische Erhöhung der Ingenieur-Figur zielt exakt in diese Richtung. Die Erkenntnisschärfe des Romans läßt sich von daher nur als sehr zwiespältig einschätzen. Ich will gleichwohl versuchen, durch einen abschließenden Vergleich mit Arthur Holitschers Amerika-Bericht zu zeigen, wie weit die Analyse reicht und wo die Glorifizierung anfängt. Ob noch an ihr Erkenntnisleistungen ablesbar sind - mit der Klärung dieser Frage schließt sodann ein Roman-Resümee, an dessen Ende noch einmal Oswald Spengler und Henry Ford das Wort erhalten. Über den ökonomischen Kalkül, der Menschenopfer wie Naturzerstörungen rechtfertigt, hatte Holitschers Reisebuch ein Jahr vor Kellermanns Roman schon berichtet: der - noch im 19. Jahrhundert angemahnte - Respekt vor der Natur (vgl. oben S. 120) sei dahin, weil das »Dynamit«, das das »Wegsprengen der Bäume und Wurzeln« besorge, nur »sechzig Cent« koste - ein Arbeiter zur »regelrechten Ausgrabung (aber) einen Tagelohn von vierthalb Dollar« fordere. 149 Wo Fundamente für Wolkenkratzer »mit Schießpulver und Dynamit herausgeknallt werden«, da »zischt und wettert« bereits der »Schachtbohrer« wie in Kellermanns fiktivem Tunnel, und »hin und hergeworfen [...] auf dem Eisenrand« riskiert das in den »Mutterleib« (!) der Erde eindringende Bedienungsper-
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Ludwig Brinkmann: Der Ingenieur. Frankfurt am Main 1908 ( = Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, 21. Band), S. 7f. Die nachfolgenden Zitate finden sich a . a . O . , S. 21 und 31. Zu den biographischen Angaben vgl. G. Lüdtke (Hg.): Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1924, 41. Jg. Berlin und Leipzig 1924, S. 113. Holitscher: Amerika (Anm. 47), S. 135.
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sonai alles. »Die Signalpfeife schrillt und warnt« wie in Kellermanns Stollen.150 Der Vorgang, den Holitscher nur andeutet, wird bei Kellermann dann beherrschend; der Beobachter bekundet seinen »unbegrenzten Respekt« vor einer Arbeit, deren Resultate er als »turmhohe Absurdität« empfindet. Bei dem Anblick der Arbeit denkt er nicht an die Millionen, die damit erwirtschaftet werden, »sondern an Leben und Tod, die hier am Werke sind«.151 Das Arbeitsethos wird, da seine Ziele als absurd erscheinen, um seiner selbst willen glorifiziert. Kellermanns Roman demonstriert gleichsam, um welchen Preis man hier weiterdenken konnte: die Arbeitsschlacht verlangt, absolut gesetzt, geradezu nach der »Stahlnatur« des Ingenieurs. Der »Tunnel«-Roman dokumentiert aber anderseits gerade dadurch in aller Schärfe, daß soldatische Kriegstechniken nicht einfach nur eine Perversion >an sich< sinnvoller Produktionstechniken darstellen. 152 Industrielle Produktion ist selber im Kern immer auch Destruktion. 153 Daß »viele neue Produktion [bedeutet], daß anderswo verschrottet werden muß«, ist keineswegs eine neue Erkenntnis.154 Ford hatte deshalb Erfolg, weil er »die Sache im großen Maßstab praktisch in Angriff nahm.« (H. Hauser). 155 Nur - »der Eindruck des Hellen und Metallischen«, der in Fords Fabriken das Zerstören und Ausschlachten veralteter Modelle verdeckte und ästhetisierte, 156 wird bei Kellermann vom Menschen verkörpert. Kellermanns Ingenieur, der wie der Sprengstoff vorgeht, den er anwendet, hat sich deshalb eine Zerstörungspotenz einverleibt, die nicht erst der Kriegstechniker herausstellt. Der Stoßtruppführer des Ersten Weltkrieges wiederholt nur diese Verleiblichung im Angesicht seriell betriebener Materialschlachten, indem er - wie Kellermanns Ingenieur die Lücken der Technisierung mit Hilfe seiner eigenen Körper-Maschine nach dem Vorbild der Realtechnik ausfüllt. 157 Solche sinnliche Vergegenwärtigung der künstlich produzierten Destruktionspotentiale wird erst vor den Computern eines modernen Raketen-Silos überflüssig. Die Destruktionsarbeit selber ist hier - darin den höchsttechnisierten Produktionsapparaten zumeist vorausgreifend 158 - nahezu vollständig automatisiert. Der Soldat als selber kämpfender Kriegstechniker hat ausgedient. 150 151 152 153
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A . a . O . , S. 48 und 50. A.a.O. Theweleit: Männerphantasien 2 (Anm. 129), S. 198. Vgl. Lars Clausen: Die Wiederkehr der Arbeit. In: Clausen und Franz Urban Pappi (Hg.): Ankunft bei Tönnies. Soziologische Beiträge zum 125. Geburtstag von Ferdinand Tönnies. Kiel und Hamburg 1981, S. 17-30. S. 24ff. A . a . O . , S. 25. Vgl. Heinrich Hauser: Feldwege nach Chicago. Berlin 1931, S. 227. A . a . O . , S. 225. Insofern hat die Utopie der »Stahlnaturen« also doch etwas mit der tatsächlichen Entwicklung der maschinellen Technik zu tun. Theweleits anderslautende Formulierungen sind zumindest etwas mißverständlich (vgl. Theweleit: Männerphantasien 2 [Anm. 129], S. 162). Vgl. Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt am Main 1978 (zuerst 1976) ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 274).
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Kellermanns Ingenieure >zeigen< also noch den Verhaltenszwang, dem sie sich unterwerfen. Ihre Verklärung zum Herrenmenschen dagegen stört, weil der Romanerzähler damit die zuvor geleistete Aufdeckung der tatsächlich wirksamen Handlungsabsichten und ihrer trickreichen Durchsetzungsstrategien nicht nur verdunkelt, sondern weiter festschreibt. Auch Oswald Spengler hat seiner Technik-Theorie eine sozialdarwinistische Zuspitzung gegeben. Ihre Erkenntnisschärfe behält sie nur in seiner sozialgeschichtlichen Lektüre, bei der man sie, ebenso wie Kellermanns Roman, mit Hilfe Henry Fords wieder präzisiert: »Technik ist nicht vom Werkzeug zu verstehen. [...] Jede Maschine dient nur einem Verfahren und ist aus dem Denken dieses Verfahrens heraus [entwickelt]« (O. Spengler). Maschinen sind nichts anderes als der »konkrete Beweis einer Geschäftstheorie« (H. Ford). 159
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Spengler: Mensch (Anm. 81), S. 7ff. (ohne die Hervorhebungen des Originals) und Ford: Mein Leben (Anm. 94), S. 2.
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V. Kapitel Die Allmacht der Apparate und das »mechanistische Zeitalter«. Ernst Tollers »Maschinenstürmer« und Georg Kaisers »Gas«-Dramen
1. Tollers »Maschinenstürmer« und Kaisers »Gas«-Dramatik im Kontext spätexpressionistischer Technik-Debatten Kellermanns Roman enthüllt die Aponen, in die sich ein Ingenieur verwickelt, der über die soziale Prägung seiner Technik nicht mehr nachdenkt. Das Antlitz des Krieges, das in Kellermanns Arbeitsschlachten bereits erkennbar ist, wird nur ein Jahr nach Erscheinen des »Tunnel«-Romans zur grausig-sinnfälligen Realität. Für die expressionistischen Autoren wird das Kriegserlebnis Anlaß, ihre Einstellung zur Technik grundlegend zu überdenken. Warum sie sich dabei selber blockieren, ist von Interesse, weil sich daran ein grundsätzliches Erklärungsproblem abzeichnet: Seit sich Technik zur Maschinentechnik vergegenständlicht, erscheint der soziale Prozeß als nicht mehr umkehrbar. Ja, gelegentlich hat es den Anschein, als sähe man gar nicht mehr, wer die Entwicklung der Technik vorantreibt. Denn: bei Kellermann sind es die von der Leitfigur verkörperten Handlungsmuster, von denen die Zwänge ausgehen, die das Verhalten der Einzelindividuen determinieren oder sie bei mangelnder Anpassungsbereitschaft vernichten. In Georg Kaisers »Gas«-Dramen und in Tollers »Maschinenstürmern« diszipliniert ein fiktiver Maschinen-Apparat den Arbeiter. Aus dem AanÜbermenschenSymbolfigur< der gescheiterten deutschen Revolution« (W. Rothe). 21 Tollers Erfolg hatte jedoch noch darüber hinausreichende Ursachen. Wer seinen Ansichten zustimmte, tat es kaum, weil er den - zumeist überschätzten Anspruch einer dramatisierten historischen Empirie wirklich ernstnahm.22 Tollers Erfolg beruhte vielmehr darauf, daß er in seinen »Maschinenstürmern« eine Verknüpfung herstellte, die einem bereits eingangs skizzierten Lebensgefühl (s. o. S. 210f.) den Anschein zweifelsfreier Evidenz verlieh: Die Fabrikmaschine des 19. Jahrhunderts wurde zur handgreiflichen Verkörperung eines - so ein Theaterkritiker der Uraufführung von 1922 - »die Seele mordenden« mechanistischen Zeitalters (M. Osborn). »Die Mechanisation unseres Zeitalters« offenbare sich 18 19 20
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Zit. nach Viesel: Literaten (Anm. 35), S. 36. Toller: Masse Mensch (Anm. 16), S. 81. So trotz aller Kritik Alfred Döblin: Ernst Toller: Die Maschinenstürmer (1922). In: Döblin: Die Zeitlupe. Kleine Prosa. Ölten und Freiburg i.Br. 1962, S. 48-50. S. 50. Stefan Grossmann: Toll, Toller, Am Tollsten. In: Das Tagebuch 3 (1922), S. 998ff. S. 998. Wolfgang Rothe: Ernst Toller in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1983 ( = rowohlts monographien 312), S. 51. Zum Verhältnis von Fiktion und historischer Realität vgl. unten S. 215ff. Wie ungenau schon Tollers technikhistorische Anspielungen ausfallen, hat Thomas Bütow bereits erläutert; die in der Erstfassung als Symbol dampfbetriebener Fabrikproduktion hingestellte »Mule« war realiter eine »wassergetriebene Spinnmaschine«. Vgl. Thomas Bütow: Der Konflikt zwischen Revolution und Pazifismus im Werk Ernst Tollers. Mit einem dokumentarischen Anhang. Hamburg 1975 ( = Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen, Band 36), S. 169, Anm. 3. Zu weiteren Ungenauigkeiten im Detail vgl. Malcolm Pittock: Ernst Toller. Boston 1979 ( = Twayne's World Authors Series [TWAS] 509), S. 83.
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so der Literarhistoriker W. Mahrholz 1926 - in der »Gleichförmigkeit der Maschinenarbeit [ . . . ] am direktesten«. 23 Die Maschine als »lebender Mechanismus« (so ein anderer Beobachter) 2 4 symbolisiere den Zwangscharakter von Sozialbeziehungen, die der Autor Toller selber an anderen Orten wie folgt charakterisiert hat: die »Dinghaftigkeit [ . . . ] starr gewordener Formen und Institutionen« habe jedwede geisterfüllte »Menschhaftigkeit« vernichtet. 25 Genormt und schematisiert, 26 müsse sich der Mensch wie eine von fremder Hand »aufgezogene Maschine« verhalten. 27 Toilers »Räder im Betrieb!« (H. Kienzl) 28 sind deshalb Symbol für das sonst unsichtbare Räderwerk einer von Walther Rathenau den Zeitgenossen immer wieder vor Augen geführten »mechanistischen Weltordnung«. 29 In den »Maschinenstürmern« hat die Maschine - so Toller selber - mehr als nur »materielle Bedeutung«. 3 0 Sie ist - so die Theaterkritik - einerseits »grandiose Wahrheit des Alltags und dennoch unreal« (M. Osborn), weil »ihr Pochen in allen Szenen schicksalhaft« über sich selbst hinausweist. 31 »Man sieht das Maschinenzeitalter, dieses selber sieht man.« (F. Engel). 3 2 Ich möchte im folgenden zeigen, warum Toller gerade mit dieser Verknüpfung sich selber jede Problemlösung verbaute. Es gibt für die von ihm unterstellten historischen Anleihen nicht die Spur einer Evidenz. Tollers literarische Diagnose 23
Max Osborn in: Berliner Morgenpost v. 13. 7. 1922. Zit. nach Günther Rühle: Theater für die Republik. 1917-1933. Im Spiegel der Kritik. Frankfurt am Main 1967, S. 386f. S. 386, unter Hinweis auf W. Rathenau. Werner Mahrholz: Ernst Toller. In: W. Mahrholz: Deutsche Dichtung der Gegenwart. Probleme, Ergebnisse, Gestalten. Berlin 1926, S. 480-482. S. 480. 24 Hermann George Scheffauer: The New Vision in the German Arts. Port Washington N.Y. / London 1971 (zuerst 1924), S. 251. 25 So Toller in: Leitsätze für einen kulturpolitischen Bund der Jugend in Deutschland (1919, entst. 1917). In: E. Toller: Kritische Schriften, Reden und Reportagen. München 1978 (= Ges. Werke, Bd. 1, Reihe Hanser 250), S. 31-34. S. 31. 26 A.a.O., S. 32, nennt Toller die »Schematisierung der Individualitäten« als Beispiel. 27 E. Toller: Die Wandlung. In: ders.: Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis 1918-1924. München 1978 (= Ges. Werke, Bd. 2, Reihe Hanser 251). S. 10-61. S. 30. Die hier gespiegelte »Militarisierung« der Bewegung (vgl. auch Toller: Leitsätze [Anm. 25], S. 33) stellt für Toller die extreme Ausformung gesellschaftlicher »Schematisierung der Individualitäten« (a.a.O., S. 32) dar. 28 Hermann Kienzl in: Steglitzer Anzeiger 1. 7. 1922 (in einer sonst sehr kritischen Besprechung). Zit. nach Rühle: Kritik (Anm. 23), S. 383-385. S. 385. 29 Zu W. Rathenaus Schriften vgl. unten S. 240f. Das Zitat stammt aus einer Kritik der Schrift Rathenaus »Zur Kritik der Zeit« aus den »Leipziger Neuesten Nachrichten« und ist als Werbematerial beigefügt der letzten Seite von W. Rathenau: Was wird werden? Berlin 1920. 30 Toller an Gustav Mayer am 7.2. 1921. Zit. nach Toller: Briefe aus dem Gefängnis. München 1978 (= Ges. Werke, Bd. 5, Reihe Hanser 254), S. 60. 31 Die beiden Zitate in ihrer Reihenfolge: M. Osborn am 13. 7.1922 in: Rühle: Kritik (Anm. 23), S. 386. An.: Wiener Theater. O.O.o.J. In: Theatermuseum Köln (Schloß Wahn). Mappe »Toller Die Maschinenstürmer«. 32 So Fritz Engel: Ernst Tollers »Maschinenstürmer«. Großes Schauspielhaus. In: Berliner Tageblatt v. 13. 7.1922. Sammlung Ernst Toller in der Akademie der Künste Berlin (West). Ähnlich Fritz Droop: Ernst Toller und seine Bühnenwerke. Eine Einführung mit selbstbiographischen Notizen des Bühnendichters. Berlin und Leipzig 19222, S. 14. 213
stellt vielmehr die realen Sachverhalte geradezu auf den Kopf und zementiert dann mit Hilfe einer Schein-Empirie die eigenen Voraus-Urteile im Denken. Ganz abgesehen davon, daß die sogenannten Maschinenstürmer noch kein klassisches Fabrikproletariat darstellten, mußte Tollers »Proletarier des 19. Jahrhunderts« 33 eine Rolle übernehmen, für die er sich überhaupt nicht eignet. Verstärkt wird diese Eigenprojektion noch durch ein lebensgeschichtliches Problem. Schon die Konfrontation von Fiktion und historiographisch rekonstruierter Empirie zeigt in aller Schärfe, woran Tollers riskante literarische Strategie scheitert: Dadurch, daß der Autor in seinem Drama die unkontrollierten Randerscheinungen im englischen »Luddismus« (Ned Ludd, wie Robin Hood ein fiktiver Rächer der Unterdrückten, hat der Bewegung ihren Namen gegeben) akzentuiert, hat er den Ausnahmefall zum typischen Fall stilisiert.34 Der Autor erklärt damit die - realhistorisch gesehen - in aller Regel sehr diszipliniert und genau kalkuliert angelegte Aktion der selektiven Maschinendestruktion (sie galt als nur im Ausnahmefall zulässige ultima ratio in dieser Frühform der englischen Industrieopposition) zur provozierten, fehlgeleiteten und putschartigen Einzelaktion; anders kann für Toller die maschinengeknechtete Arbeiternatur gar nicht mehr reagieren. Hintergrund ist der Versuch zur Erklärung einer eigenen politischen Desillusionierung. Gefangenenerschießungen im Verlauf der Münchener Räterevolution 35 führt Toller bereits im Drama »Masse Mensch« (1921) auf eine konstitutionelle Schwächung des Industrieproletariats zurück: »Von Marterkolben saugender Maschinen«, von »der Mechanik höhnischer Systeme« geknechtet, neige es zur blindwütig-gewaltsamen Aggression. 36 Im Haß auf die Maschine entlädt sich für Toller die Brutalität einer elend-verkümmerten Proletarierseele, die eben auch bereit sei, Unschuldige zu töten. Toller fand zu diesen »Handlungen blinder Leidenschaft« in der »Historie der Ludditen [...] mannigfaltige Parallelen«,37 und 33
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E. Toller in: Arbeiten, in: ders.: Quer durch. Reisebilder und Reden. Zuerst 1930. Reprint Heidelberg 1978. Mit einem Vorwort von Stephan Reinhardt, S. 275-296. S. 286. Vgl. als Einführung in den Problemkreis John Stevenson: Popular Disturbances in England, 1700-1870. London 1979, S. 135-162. Und Rolf Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1984 ( = Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen, Band 5), S. 65-82 (Kap. 5: Maschinensturm). Vgl. zum berühmten »Geiselmord« Hansjörg Viesel (Hg.): Literaten an der Wand. Die Münchener Räterepublik und die Schriftsteller. Frankfurt am Main 1980. Zu den Verwicklungen Tollers in die Räterevolution vgl. schon vorher Wolfgang Frühwald: Kunst als Tat und Leben. Über den Anteil deutscher Schriftsteller an der Revolution in München 1918/1919. In: Sprache und Bekenntnis. Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft. Hermann Kunisch zum 70. Geburtstag. Hg. von W. Frühwald und Günter Niggl. Berlin (West) 1971, S. 361-389. Vgl. Toller: Masse Mensch. In: Toller: Dramen (Anm. 27), S. 63-112. S. 80f. Toller: Jugend (Anm. 8), S. 225. Auf solche Zeugnisse des Autors stützt sich die bis in die zum Teil nur maschinenschriftlich vorliegende Dissertationsliteratur hineinreichende Forschungsmeinung, Toller habe tatsächlich ein »historisches Drama« geschrieben. So z.B. Rosemarie Agatha Johanna Altenhofen Emst Toilers politische Dramatik. Wa-
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diese möchte sein »Drama aus der Zeit der Ludditenbewegung« (so der Untertitel zu den »Maschinenstürmern«) zur allgemeingültigen Parabel verdichten. 38 Die Aufgabe eines »historischen Schauspiels« ist für Toller ohnehin nicht, die verwirrend vielfältige Empirie zu reproduzieren, sondern »durch Abstraktion« zur »Auflichtung jener Linien, die den Grund der Dinge bestimmten«, vorzudringen. 39 Gerade damit aber greift das Drama gründlich daneben. Denn das tertium comparationis hätte in der historischen Erfahrung einer Diktatur durch die Maschine selber liegen müssen; nur diese Projektion hätte die Aggressionen der »Ludditen« gegen das Produktionsmittel und nicht gegen die sozialen Wegbereiter des technischen Fortschritts richten können. Toller muß diese Annahme dem empirischen Verlauf der Geschichte nachträglich aufzwingen. Schon die Vermutung Tollers, der - vermeintliche - Proletarier des frühen 19. Jahrhunderts habe »dumpf unter der Last seines Geschicks« gelitten, 40 ist nicht richtig. Denn, man muß noch nicht einmal die heute viel diskutierte Einschätzung vom »Luddismus« als einer Vorstufe der englischen Arbeiterbewegung 41 teilen, um zu sehen, daß auch die Kritiker solcher Interpretationen 42 die Problematik des »Luddismus« keineswegs dort ansetzen, wo der Autor Toller sie vermutet. Auch wer »luddistische« Vorstellungen von einer »sittlichen« Ökonomie mit »gerechten« Preisen und »gerechten« Löhnen als Überreste eines ständisch-korporativen Denkens hervorhebt, unterstellt keine antitechnischen Ressentiments, sondern bezweifelt in erster Linie die Aktualisierbarkeit einer Protestbewegung, in der sich ständisch-korporative und klassenspezifische Handlungsmotive noch sehr stark vermengten. Die Kontroversen der Historiker haben ihren Ursprung nicht zuletzt darin, daß die »Ludditen« selber (wie viele andere von oben her kriminalisierte Aufstandsbewegungen auch) nur sehr wenig authentische Zeugnisse in schriftlicher Form überliefern konnten. Die Quellen derer, die sie besiegt hatten, flössen dagegen reichlich. 43
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shington University. Phil. Diss. 1976 [Masch.], S. 96. Diese Dissertationsliteratur wird hier nur dann angeführt, wenn sie unser Thema direkt berührt. Ernst Toller: Die Maschinenstürmer. Ein Drama aus der Zeit der Ludditenbewegung in England in fünf Akten und einem Vorspiel. In: Toller: Dramen (Anm. 27), S. 113-190. Nach dieser Ausgabe wird fortan im Text mit bloßer Seitenangabe zitiert. Toller: Arbeiten (Anm. 33), S. 281. A . a . O . , S. 286. Edward P. Thompson: The Making of the English Working Class. Harmondsworth 1977 (zuerst 1963). Auf ihn stützt sich weitgehend Michael Vester: Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß. Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis in England 1792-1848. Frankfurt am Main 1970 ( = basis Studienausgaben). Vgl. Malcom I. Thomis: The Luddites. Machine Breaking in Regency England. Newton Abbot 1970. Und M. I. Thomis and Peter Holt: Threats of Revolution in Britain 1789-1848. London 1977. Thomis beruft sich auf die älteren und sehr zurückhaltenden bis skeptischen Interpretationen von John Lawrence Hammond and Barbara Hammond: The Skilled Labourer. London 1979 (zuerst 1919). Als ebenso differenzierten wie souveränen Überblick über die Debatte vgl. die Einführung von John Rule zu Hammond and Hammond: The Skilled Labourer (1979), S. VII-XXXII. Vgl. Thompson: The Making (Anm. 41), S. 540. Und Thomis: Luddites (Anm. 42), S. 36. 215
Trotz aller Unstimmigkeiten im einzelnen entsteht in der neueren englischen Forschungsliteratur das Bild einer zumindest in einigen Regionen gut organisierten und geschmeidig operierenden lokalen Massenbewegung, deren Strategien keineswegs von vornherein auf blindwütige Gewaltaktionen hinauslaufen sollten. Verhandlungen mit Unternehmern und Petitionen an kommunale Magistrate, Demonstrationen, Streiks und selbst organisierte Hilfsmaßnahmen für maschinenbedingte Arbeitslose waren Aktionsformen solcher »Ludditen«. Nur im Rahmen dieser Aktionen und häufig überhaupt erst nach dem Scheitern aller genannten Mittel kam es zur gezielten Zerstörung jeweils genau bezeichneter Maschinen, die Waren unter Preis und dazu noch von schlechter Qualität herstellten; zumeist hatten deren Besitzer zuvor die Löhne gewaltsam heruntergedrückt und damit von den Arbeitern erkämpfte Regelungen verletzt. Die Opposition war also in erster Linie gegen die staatlicherseits geförderte Entstehung eines Laissez-faire-Kapitalismus gerichtet, zu dessen Gunsten Gesetzgeber und Rechtsprechung in England alle alten Schutzrechte der Arbeiter-, Gesellen- und Handwerkerassoziationen vernichten wollten und gleichzeitig, bis 1824, Arbeiterkoalitionen zu verbieten versuchten. Ned Ludd galt daher, wie schon sein nicht minder legendäres Vorbild Robin Hood, als heldenhafter »Redresser« konstitutionell verbürgter Rechte (zu denen ursprünglich auch die Zerstörung normwidrig produzierender Geräte gehörte). Gewaltmaßnahmen wurden von einem außergesetzlichen Notstand her begründet. Die Forderungen der »Ludditen«: staatlich geschützte Mindestlöhne, Kontrolle der Kinder- und Frauenarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die durch die neuen Maschinen verdrängten Arbeitskräfte (finanzierbar durch eine eigens dazu erhobene Tuchsteuer), staatliche Schlichtungsinstanzen für Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Unternehmern sowie Koalitionsfreiheit, implizierten das Verlangen nach einer sozialen Steuerung des technischen Fortschritts. Ihr Programm nahm in vielerlei Hinsicht - so zumindest die positiv urteilenden Historiker - Ideen der späteren Fabrikgesetzgebung in England vorweg.44 Aber auch unabhängig davon, wie man den sozialen Gehalt der »luddistischen« Teilbewegungen im einzelnen beurteilen möchte: Es besteht kein Zweifel daran, daß sich bereits diese frühe Protestbewegung keinesfalls blind gegen die Maschine an sich wandte. Gefragt wurde vielmehr danach, zu wessen Gunsten und zu wessen Nachteil sie ihre Arbeit verrichtete. In den vielfältigen Aktionsbündnissen des »Luddismus« vereinigten sich jeweils Tuchscherer, Weber und Strumpfwirker, die - etwa als Tuchscherer für damalige Verhältnisse hochqualifiziert und auch gut bezahlt - den Beginn der Industriellen Revolution nicht als Befreiung, sondern als Freisetzung, Dequalifizierung und Disziplinierung ihrer Arbeitskraft erlebten. So nimmt es nicht wunder, daß sie in der Maschine von vornherein eine gegen sie gerichtete soziale Waffe erblickten. Der Auflösung der Handarbeit lag jedenfalls ein für sie klar erkennbares unternehmerisches Interesse zugrunde: Die »Maschinen arbeiten zuverlässig«, ganz im Gegensatz zu den durch sie verdrängten 44
Vgl. Thompson: Making (Anm. 41), S. 498.
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streiklustigen und deshalb »unzuverlässigen« Tuchscherern (so eine zeitgenössische Quelle). 45 »Luddismus« ist also, historisch gesehen, als eine in die Illegalität abgedrängte und daher partiell gewaltsame Bewegung des Übergangs zu charakterisieren, in der sich rückwärtsgewandte und in die Zukunft weisende Vorstellungen noch bis zur Unkenntlichkeit vermischten. Streiten kann man daher über die Reichweite der sozialen Ziele, die die »Ludditen« sich setzten. Auf keinen Fall aber läßt sich, wie zu Beginn unserer Studie von anderer Seite geschehen (s.o. S. 2), mit diesem historischen Exempel jedweder Opposition gegen die Einführung neuer Techniken ein Hang zur irrationalistisch gesteigerten Maschinenfeindschaft unterstellen. Denn die Stärke der Bewegung liegt exakt dort, wo Toller (und mit ihm viele andere) ihre spezifische Schwäche vermuteten; die »Ludditen« ließen sich von einer vermeintlichen Eigenlogik der neuen Geräte nicht verblüffen; eine Zeitungsnotiz der Zeit vermeldet ausdrücklich: »the machines are not broken [...] for being upon any new construction«. 46 Nun wäre es allerdings wenig sinnvoll, dem literarischen Autor Toller einen Kenntnisstand vorzuhalten, den auch die deutschsprachige Sozialgeschichte erst in neuerer Zeit erreicht hat. 47 Tollers Drama ist vielmehr aufschlußreich, weil es die bei seinen eigenen historischen Gewährsleuten wirksamen und bis heute weithin akzeptierten Voreinstellungen zum Problem »Maschinensturm« so klar und durchsichtig wie sonst nirgends ausformuliert hat. In der Freiheit der Fiktion werden Denkkonturen sichtbar, die der Historiograph derart offen sonst nicht ausspricht: Wer die für einen renditebewußten Unternehmer selbstverständliche Verschrottung >unbrauchbar< gewordener Maschinen nicht auch dessen sozialen Kontrahenten zubilligt, läßt in der Tat erkennen, daß er den technischen Fortschritt keineswegs umlenken oder gar selber gestalten, sondern - am liebsten auf seinem Höhepunkt - einfach nur >beerben< möchte. 48 Toller hat hier lediglich ein von anderer Seite vorformuliertes lineares Entwicklungsmodell aufgegriffen und in der Auseinandersetzung seiner dramatischen Figuren veranschaulicht, worauf ein solcher Denkansatz hinausläuft. Wie weit man dabei in der Verzeichnung der historischen Sachverhalte gehen muß, ist so lange lehrreich, wie die entsprechenden Voreinstellungen noch nicht überlebt sind. Wenn heutzutage jeder Technik45
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Zit. bei Francis D. Klingender: Kunst und Industrielle Revolution. Frankfurt am Main 1976 (zuerst 1968), S. 98. Zit. nach Thompson: Making (Anm. 41), S. 581. Vgl. die harsche Kritik Dieter Grohs im Vorwort zu Edward P. Thompson: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Ausgewählt und eingeleitet von D. Groh. Frankfurt/M., Berlin (West) und Wien 1980 ( = Sozialgeschichtliche Bibliothek, Ullstein Materialien 35046), S. 5-28. Als Einblick in das zwischenzeitlich erreichte Niveau westdeutscher Protestforschung vgl. Jürgen Kocka: Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800-1875. Berlin (West) und Bonn 1983. Bes. S. 154-162. So Martin Henkel und Rolf Taubert: Maschinenstürmer. Ein Kapitel aus der Sozialgeschichte des technischen Fortschritts. Frankfurt am Main 1979, S. 9-17. Bezugspunkt der Kritik sind die Thesen der DDR-Historiographie zur >frühen< Arbeiterbewegung.
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kritik die V e r s i c h e r u n g v o r a u s g e h t , m a n sei kein » M a s c h i n e n s t ü r m e r « , so dokum e n t i e r t das eindrucksvoll die Zählebigkeit einer bereits auf den ersten Blick eigentlich unsinnigen U n t e r s t e l l u n g . 4 9 D e n n : s c h o n die B e z e i c h n u n g als > M a s c h i n e n s t ü r m e r ist ein äußerst mißverständliches und retrospektiv gebildetes pars p r o t o t o , dessen P r ä g u n g
Toller
h ö c h s t wahrscheinlich M a x B e e r s » G e s c h i c h t e des Sozialismus in E n g l a n d « ( 1 9 1 3 ) v e r d a n k t e . 5 0 E r s t diese V e r a l l g e m e i n e r u n g u n t e r n i m m t es, ein ü b e r h a u p t nur gelegentlich a n g e w a n d t e s Mittel z u m eigentlichen Inhalt einer B e w e g u n g zu e r k l ä r e n , die (wie dargestellt) g a n z a n d e r e Z i e l e verfolgte. D i e s e V e r z e i c h n u n g w a r j e d o c h s c h o n angelegt bei zwei G e w ä h r s l e u t e n , die die F o r s c h u n g bisher nicht g a n z zu R e c h t als historische » Q u e l l e n « Tollers ins F e l d führte. D i e V e r m u t u n g , T o l l e r h a b e - n e b e n d e m bereits g e n a n n t e n M a x B e e r - weiter » D i e L a g e der a r b e i t e n d e n K l a s s e in E n g l a n d « von Friedrich E n g e l s ( 1 8 4 5 ) und den ersten B a n d v o n M a r x ' » K a p i t a l « ( 1 8 6 7 ) für sein D r a m a ausgewertet, ist zwar richtig; T o l l e r hat in d e r T a t ( w o r a u f e r selber hinweist) 5 1 zur Schilderung d e r F a b r i k a r b e i t das d o r t v e r a r b e i t e t e M a t e r i a l zur Entwicklung der Industrie in E n g l a n d bis in die fünfziger J a h r e des J a h r h u n d e r t s v e r w e r t e t 5 2 (und dabei a u c h E n g e l s eigenwillige V e r e l e n d u n g s t h e o r i e m i t r e z i p i e r t ) . 5 3 D i e A n n a h m e stimmt j e d o c h nicht, was den
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So (um nur eine kleine Auswahl aus meinen über mehrere Jahre hinweg gesammelten Belegen zu geben): Wolf Biermann in der Frankfurter Rundschau v. 2 9 . 1 1 . 1 9 7 6 (S. 3) über seine Skepsis gegenüber Kernkraft-Kritikern: »das könnte ja unter Umständen auch mit Maschinenstürmerei was zu tun haben«; Erhard Eppler in der Zeit vom 1 4 . 1 . 1977 (S. 4): »ich kenne in der S P D keinen Maschinenstürmer«; die Frankfurter Rundschau am 10. 5. 1982 (S. 14) zum arbeitnehmerorientierten »Kleinen Wörterbuch der Rationalisierung«: »Kritik am technischen Wandel ist keine Maschinenstürmerei«. Daß diejenigen, die eine gerade vorherrschende Spielart des technischen Fortschritts mit diesem selber gleichsetzen wollen, solche Denk-Blockaden nach Kräften fördern, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. So fragt etwa der bayrische Kultusminister Hans Maier: »sollen wir die Jugend in einer Industriegesellschaft zur Maschinenstürmerei erziehen?« (Leserbrief an die Zeit Nr. 5/1978, S. 48); und der promovierte Historiker Helmut Kohl warnt (am 18. 3. 1984 in der Tagesschau der A R D ) vor den »Maschinenstürmereien des frühen 19. Jahrhunderts«.
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M[ax] Beer: Geschichte des Sozialismus in England. Stuttgart 1913, S. 74-78. Vgl. weiter ders. : Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe. Vierter Teil: Die Zeit von 1750-1860. Berlin 1922 2 , S. 71-75. Auf die Bedeutung Beers hat zuerst hingewiesen Dorothea Klein: Der Wandel der dramatischen Darstellungsform im Werk Ernst Tollers (1919-1930). Phil. Diss. Bochum 1968, S. 76ff. Toller an G . Mayer am 7. 2 . 1 9 2 1 in: Toller: Briefe (Anm. 30), S. 60. Vgl. dazu Ν. A . Furness: Toller and the Luddites: Fact and Symbol in >Die Maschinens t ü r m e r . In: The Modern Language Review 73 (1978), S. 847-858. Über die »Ludditen« selber erfährt man hier allerdings nur wenig. Zu Engels' eigenwilliger Verwendung der Empirie vgl. Doris Köster-Bunselmeyer: Literarischer Sozialismus. Texte und Theorien der deutschen Frühsozialisten 1843-1848. Tübingen 1981 ( = Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Band 2), S. 127ff. Von der »Übernahme Engelscher Forschungsergebnisse« (H. Marnette) wird man also, genau genommen, nicht sprechen dürfen. Vgl. anders Hans Marnette: Untersuchungen zum Inhalt-Form-Problem in Ernst Tollers Dramen. Phil. Diss. Potsdam 1963 [Masch.], S. 227.
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historischen Kern des Dramas angeht. Hier können weder Marx noch Engels mehr als Urteile aus zweiter Hand ohne eigene Quellenforschung anbieten. Gleichwohl haben schon sie behauptet, die »Ludditen« hätten, so Marx, »die Maschinerie (nicht) von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden« können und daher nicht deren »gesellschaftliche Exploitationsform«, sondern die »materiellen Produktionsmittel« angegriffen. 54 In diesen wollten die »Ludditen« aber gerade jene treffen, von daher hatten sie den sozialen Charakter der Maschinen sehr gut begriffen. Toller fand dagegen bei Marx eine ganz andere Argumentationsfigur vorgebildet. Marx hat ja als einer der ersten damit begonnen, der zur Maschine vergegenständlichten kapitalistischen Technik eine aus ihren menschlich-sozialen und daher äußerst lebendigen Ursprüngen ablösbare »verselbständigte« Gestalt zuzusprechen. Die Dämonisierung der Maschine wird dann notwendig, um dem zuvor abgetöteten Gegenstand nachträglich wieder Leben einhauchen zu können. Wo nichts Soziales mehr lebt, muß man eben annehmen, daß die Dinge selber sich in Bewegung setzen können. Denn daß die Maschine auf den Arbeiter einwirkt, ist ja unbestreitbar. Marx' Sprache schreckt vor dem Gebrauch der nunmehr erforderlichen Metaphern keineswegs zurück; vor den Augen der bisher nur an die Bedienung einzelner Maschinen gewöhnten Arbeiter lasse die Kombination von künstlichen Kraft- und Arbeitsmaschinen »ein mechanisches Ungeheuer [entstehen], dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt, und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierlich gemeßne Bewegung seiner Riesenglieder, im fieberhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht.«55 Toller muß in der Szenenbeschreibung vor dem Sturm auf die Maschine nicht mehr viel hinzusetzen; er weiß von »gigantischen Dampfmaschinen und mechanischen Webstühlen« in einem riesigen Fabrikgebäude zu berichten: »man [höre] deutlich das Surren der Transmissionen«, das »hellklingende Singen schnellaufender Wellen« und das »tiefe Brummen der Steuerhebel« (S. 176). Der Eindruck eines unterschwellig bedrohlichen, lebenden Wesens Maschine entsteht. John Heartfields Bühnenbild zur Uraufführung in Max Reinhardts Großem Schauspielhaus (vgl. Bild 52) hat - etwas überspitzt gesagt - einen genuin >marxistischen< Ursprung: »Der Vorhang hebt sich, und vor uns steht (so ein begeisterter Theaterkritiker) ein riesenhaftes Maschinenungetüm. Mit Eisengliedern, Schwungrädern, Kolben, Stangen, Kugeln, Treibriemen, Dampfmäulern, Gittern.« (M. Osborn). 56 Schon Max Beer hatte versucht, die dadurch hervorgerufene »Seelenstimmung« der 54
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Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1. Berlin (DDR) 1966, S. 452. A . a . O . , S. 402. Osborn in: Rühle: Kritik (Anm. 23), S. 386. Gebaut hatte diese Maschine, die sich im letzten Bild auch noch tatsächlich in Bewegung setzte, der technische Leiter der MaxReinhardt-Bühnen Franz Dworsky. Vgl. Walter-Jürgen Schorlies: Der Schauspieler, Regisseur, szenische Bühnenbildner und Theaterleiter Karl Heinz Martin - Versuch einer Biographie - Phil. Diss. Köln 1971, S. 120f.
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Bild 52: Abbildung nach einer Vorlage aus der Ernst-Toller-Sammlung in der Akademie der Künste, Berlin (West). J. Heartfields mit viel naturalistischen Details ausgestattete Phantasiemaschine versuchte, die von Toller gemeinte Eigendynamik des Maschinellen ins Visuelle hinüberzuspielen. Als die gewaltige Bühnenmaschinerie im letzten Bild zu arbeiten begann, reagierten denn auch manche Kritiker recht verschreckt (s.u. S. 223).
»Ludditen« weiter auszuschmücken: »die neuen Maschinen [ragten] wie fremdartige, monströse Wesen empor«. »Mit Staunen und Schrecken blickte das in Elendstiefen versinkende Proletariergeschlecht auf die vielarmigen, rastlosen, scheinbar mit unsterblichen Kräften ausgerüsteten Wesen«, die es zu vernichten gelte, solange »ihr Lebensalter noch in der Kindheit steckt.«57 Damit aber war, darauf habe ich eingangs hingewiesen, Tollers eigene Seelenstimmung getroffen. Toller konnte, zur Zeit der Niederschrift des Dramas ein inhaftierter politischer Strafgefangener, »alle unterdrückten Gedanken und Gefühle« in das Drama »pressen«, 58 wobei er ganz ohne Zweifel die Vorgaben seines Materials, expressionistisch gesteigert, weiter zuspitzte. So läßt er einen bei Max Beer immerhin noch gesehenen politischen Reifeprozeß nicht gelingen, dessen Schilderung (wie die neuere Historiographie vermuten läßt) auf populäre mündliche Erzähltraditionen des »Luddismus« selber zurückgreift. Der (so die Tradition) erfolgreiche Versuch eines William Cobbett, die Ausläufer des »Luddismus« in die Bewegung zur Reform des englischen Parlaments zu transformieren (tatsächlich bildeten die Zentren des »Luddismus« später die Zentren der Wahlrechts· und Gewerkschaftsbewegung) scheitert bei Toller in der Figur eines Jimmy Cobbett ebenso tragisch wie kläglich.59 Jimmy Cobbett muß, wie die von ihm 57 58 59
Beer: Geschichte (Anm. 50), S. 74. Toller: Arbeiten (Anm. 33), S. 288. Thompson: Making (Anm. 41), S. 658f., 703f. Zur Kritik an diesen Kontinuitätsthesen vgl. Thomis: The Luddites (Anm. 42), S. 22f.; dazu aber auch John Rule in: Hammond: Labourer (Anm. 42), S. XXVIf.
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verteidigte Maschine, sein Leben lassen (S. 186ff.)· Beer hatte dem »Luddismus« immerhin noch politische Ziele zugeschrieben, 60 für Toller handelt es sich offenkundig nicht einmal mehr um eine autonome Arbeiterbewegung. Der Sturm auf die Fabrik wird bei ihm von John Wible, einem »agent provocateur« der Unternehmer, inszeniert. Solche Fälle gab es zwar, aber sie bildeten realhistorisch gesehen keinesfalls die Regel. 61 Ich resümiere: mit dem Versuch, die eigenen Voraus-Urteile am historischen Fall zu belegen, unterlegt Toller der Maschine eine so von der Industriearbeiterschaft keineswegs authentisch bezeugte Eigendetermination. Der Autor, der ja, wie er selber sagt, nur nach der »gewissen Übereinstimmung im Historischen« strebt, 62 gestaltet keinen realhistorisch verbürgten Klassenkonflikt, sondern vermag sich von einer lebensgeschichtlich verankerten Eigenprojektion nicht zu lösen; die Maschine kann, so befürchtet Toller, ihre delegierte soziale Autorität in eine autonome dinghafte ummünzen, und diese ihre »gespenstige Erscheinunggroßen MännerMaschine< lediglich begrenzen, aber nicht einmal durch dessen Zerstörung aufhalten. »Ich kenne die Maschine und sage, was geschieht, ist Wahnwitz!« (S. 130), ermahnt Jimmy Cobbett die Arbeiter. Toller war ohnehin der Meinung, daß man die »Mechanisierung jeder einzelnen menschlichen Bewegung« perfektionieren müsse, um durch die damit erreichbare Intensivierung menschlicher Arbeit »die Summe der notwendigen mechanischen Arbeit auf ein Minimum [zurückdrängen]« zu können. 7 0 Anläßlich eines Besuches in der Sowjetunion läßt Toller sich in einem Rationalisierungsinstitut darüber belehren, daß dann »der Arbeiter, der früher für einen bestimmten Zweck acht Stunden brauchte, in Zukunft nur noch zwei bis drei Stunden brauchen wird«. 71 Entscheidend sei - so Toller selber - , »für wen der Arbeiter Arbeit leistet, ob für sich, seine Klasse, für die Gesellschaft oder für eine Minderheit von Ausbeutern.« »Denkt, wenn ihr statt sechzehn Stunden acht nur schafftet«, appelliert deshalb Jimmy Cobbett an die Arbeiter (S. 143). Die Theaterkritik hat diese Botschaft entsprechend verarbeitet: »Die Maschine, die den Arbeiter brotlos machte, [...] war ein gewaltiger Fortschritt« (F. Stößinger). 72 Nur in dieser Optik muß man 67 68
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Vgl. Furness: Toller (Anm. 52), S. 857. Alfred Kerr: Ernst Toller: »Masse Mensch«. Volksbühne. In: Berliner Tageblatt v. 30. 9. 1921. Sammlung Ernst Toller in der Akademie der Künste Berlin (West). Auch in: Rühle: Kritik (Anm. 23), S. 333f. S. 333. Ich lese also: »nicht Zweckdienst, Zinsdienst leistet Moloch (dem) Mammon«. Sonst ergäbe die Aussage wenig Sinn; denn ein »Moloch Mammon« kann für Toller keinen Zweckdienst leisten! Zur Inkonsistenz von Jimmy Cobbetts sozialer Utopie vgl. genauer Bütow: Toller (Anm. 22), S. 184ff. Ernst Toller: Russische Reisebilder. In: ders.: Quer durch (Anm. 33), S. 79-186. S. 121 und 123. A . a . O . , S. 123. Felix Stößinger: Tollers Maschinenstürmer. Die Uraufführung im Großen Schauspielhaus zu Berlin. In: Leipziger Volkszeitung 29 (1922), Nr. 156, 7. 7.1922. Feuilleton.
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»alle Arten von Fabriksabotage [...] verwerfen.« 73 Wer das nicht begreift, sei - so Lord Byron - »durch Verzweiflung stumpf« (S. 121). Auf andere Weise wiederholt sich damit eine Denkfigur, die schon der »bürgerliche« Ingenieur Max Eyths präsentierte (s. o. S. 154): Das Bewegungsgesetz einer für unumkehrbar gehaltenen Entwicklung wird auf ein Ding-Symbol projiziert, das dadurch eine materielle Zwangsgewalt ausübt. Tollers Maschine - »a living mechanism« 74 - ist wie Eyths Brücke ein blutrünstiger Moloch, ein »Juggernaut« (S. 138 u. 184), der - darin Eyths etymologisch verwandtem Festkarren »Dschagannathas« nacheifernd 75 - alles niederwalzt, was sich ihm in den Weg stellt. Deutlich wird daran, was Tollers Arbeitern ihren Verstand raubt. Vom »Tyrannen Dampf« (S. 182,186 u. ö.), »der uns packt und rasch zermalmt« (S. 138), führt ein gerader Weg zur ebenso sinnlosen wie zwangsläufig ausgelösten Revolte. Denn: wie soll man, »besessen vom Geist (dieser) Maschine« (S. 184), die mit ihrer Hilfe künstlich entfesselte Energie anders als ein »Höllenwerk« (S. 183), ja als den leibhaftigen »Gott-sei-bei-uns« (S. 139) empfinden? Tollers Ludditen sind hilflose, ohnmächtige Geschöpfe, die sich mit den Worten des Webers Ned Lud so charakterisieren müssen: »Wie steht man dumm im Kreis der schweren Dinge? . . . Da ist die Maschine und da?« (S. 173). Auch hier kann die Botschaft aus »Masse Mensch« nichts ausrichten: »Seele des Menschen bezwinge Fabrik!« (S. 81) diesen Konflikt aber hat der Autor selber gestiftet. Die spektakuläre Uraufführung der »Maschinenstürmer« in Max Reinhardts Berliner »Großem Schauspielhaus« (am 30. 6.1922) hat diesen Eindruck noch bekräftigt. Die Regie Karl Heinz Martins und das Bühnenbild John Heartfields hatten - so ein englischer Kritiker - statt der sozialen Aspekte die dinghaften akzentuiert. 76 Die »zermalmende Tragik« (F. Stößinger)77 der Tollerschen Konfliktkonstellation wurde dadurch offenkundig szenisch sichtbar. Insbesondere der letzte Akt, mit seinem Sturm auf die bis dahin verborgene »Riesenmaschine« (A. Döblin), galt als großartige Regieleistung. Sogar nach der Zerstörung der Maschine fragte man verschreckt: »Lebt sie noch?« (M. Osborn). 78 Der Schreckensruf »Ausstreckt sie die Pranken!« (S. 184) künde von der unaufhaltsamen »Geburt [...] des mechanistischen Zeitalters« (H. G. Scheffauer). 79 73 74 75
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A.a.O. Scheffauer: The New Vision (Anm. 24), S. 251. Vgl. Otto Springer (Hg.): Langenscheidts Enzyklopädisches Wörterbuch der englischen und deutschen Sprache. Teil 1: Englisch-Deutsch, 1. Band. Berlin (West) 19632 (zuerst 1962), S. 721 und 712: »Juggernaut —* Jagannath«, übers. = Dschagannath = Moloch. Vgl. Ashley Dukes: The Scene Is Changed. London 1942, S. 75. »Naturalistische« Tendenzen in der Ausgestaltung des Maschinensymbols hatte Dukes schon in seiner Rezension der Uraufführung konstatiert. Vgl. Dukes: Ernst Toller and The MachineWreckers. In: The New Statesman 20 (1922/23), S. 138f. Stößinger: Tollers Maschinenstürmer (Anm. 72). Döblin: Toller (Anm. 20), S. 50. Osborn in: Rühle: Theater (Anm. 23), S. 386. Und ähnlich Arthur Eloesser: Die Maschinenstürmer. In: Das Blaue Heft ( = Neue Freie Bühne) 3 (1922), Nr. 40/41, S. 878-880. S. 880. Scheffauer: The New Vision (Anm. 24), S. 251.
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3. Georg Kaisers »Gas«-Dramatik: der Dichter als »Ingenieur«
Georg Kaiser provoziert auf andere Weise ein solches Urteil. Bei ihm wird deutlich, wie es sich bildet. Seine beiden »Gas«-Dramen eignen sich für eine Analyse, die die Schrittfolgen einer sich selbst blockierenden Problemformulierung erhellen möchte, aufgrund einer Eigenschaft, die für manchen Kritiker die Zugehörigkeit Kaisers zum Expressionismus in Frage gestellt hatte: Seine Dramen sind von der kristallklaren Logik einer von allen empirischen Zufälligkeiten gereinigten, weil radikal abstrahierenden Denk-Dialektik gezeichnet. Sie sind »DenkSpiele« (B. Diebold) und leben von der künstlich arrangierten Steigerung der Konflikte »bis ins letzthin denkbare Extrem« (H. Denkler). 80 »Wenn aber Expressionismus im weitesten Sinne unmittelbarer Schrei der Seele sein will, [...] dann ist Kaiser geradezu ein Antipode des Expressionismus« (B. Diebold). 81 Statt diese Hinweise zur klischeehaft verkürzten Frage nach dem Verhältnis von »Literatentum oder Schöpfertum« (M. Freyhan) zuzuspitzen oder nach dem alles rechtfertigenden »Urerlebnis« (L. Lewin)82 zu suchen, wäre es sinnvoller gewesen, die konkreten Beobachtungen des Theaterkritikers Diebold aufzunehmen und auszuwerten. Fruchtbarer als der Versuch, die Dramen Kaisers in ein »Begriffsgatter« (Pausch/Reinhold)83 einzusperren, ist es, die Formel vom »Denkspieler« (Diebold) zu entdogmatisieren und sich - wie von Diebold schon vorgeschlagen - auf die eigentümliche Formstruktur der »Gas«-Dramen auch wirklich einzulassen. Die Reichweite ihres Denkvorstoßes ist anders nicht zu ermessen. Wer Kaiser schon den Gedanken an eine »Abstraktion aus den historischen Realvorgängen« vorhält, 84 verstellt sich die Einsicht in die damit verfolgten Absichten des Autors. Nur deren kritische Prüfung kann aber darüber entscheiden, ob der Autor als Dramendichter ein sinnvolles Denk-Experiment veranstaltet. Immerhin hat Kaiser selbst das Wort vom »Denk-Spiel« geprägt.85 80
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Vgl. Bernhard Diebold: Anarchie im Drama. Frankfurt am Main 1921, S. 368. Horst Denkler: Drama des Expressionismus. Programm - Spieltext - Theater. München 1967, S. 78. Diebold: Anarchie (Anm. 80), S. 370. Max Freyhan: Georg Kaisers Werk. Berlin 1926, S. 15. Ludwig Lewin: Die Jagd nach dem Erlebnis. Ein Buch über Georg Kaiser. Berlin 1926, S. 13. Vgl. Holger A. Pausch und Ernest Reinhold: Georg Kaiser. Kommentierte Bibliographie der wissenschaftlichen Sekundärliteratur. In: Arnold (Hg.): Georg Kaiser (vgl. Anm. 112), S. 172-191. S. 172f., über Diebolds Buch »Der Denkspieler Georg Kaiser« (1924). Vgl. Michaela Giesing, Theo Girshausen, Horst Walther: Moloch »Technik« - Die Gesellschaft auf dem Theater des »Expressionismus«. In: Theater in der Weimarer Republik. Hg. v. Kunstamt Kreuzberg, Berlin, und Institut für Theaterwissenschaft der Universität Köln. Berlin (West) und Hamburg 1977, S. 763-782, S. 768. Georg Kaiser: Das Drama Piatons oder Der gerettete Alkibiades; Der platonische Dialog (1917). In: Georg Kaiser: Werke. Hg. v. Walther Huder. Vierter Band: Filme, Romane, Erzählungen, Aufsätze, Gedichte. Frankfurt/M., Berlin (West) und Wien 1971, S. 544f. S. 545.
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Am wichtigsten ist es, die provozierend zugespitzten Behauptungen Kaisers zur Bedeutung der Abstraktion in seiner Dramatik richtig einzuschätzen. Wenn Kaiser einerseits sein Desinteresse an der exakten Widerspiegelung der Realgeschichte in ihrer Vielfalt bekräftigt, so heißt das anderseits nicht, daß er an der Erkenntnis von »Welt- und Naturgeschichte« in einem universalen anthropologischen Sinn nicht interessiert sei.86 Kaiser sagt nur, worin ihm auch der strenge Wissenschaftstheoretiker auf seine Weise zustimmen müßte: Der naive Blick auf die empirischen Kontingenzen der Realhistorie allein offenbart keinerlei weiterreichende Einsichten; mit ihm nimmt man - so jedenfalls Kaiser - nur »wahllos vorgeworfenes Material« wahr. Erst der Dichter »konstruiert das Gesetz« und »schichtet den Krimskrams«; aus dem »hingeschmissenen Steinhaufen« wird nur auf diese Weise ein »Haus«. 87 Des Dichters »Gesetze« sind also - wie auch die Hypothesen des Natur- und Gesellschaftswissenschaftlers - zunächst einmal lediglich Denk-Gesetze, deren Gültigkeit der Dichter - darin anders als der empiriegeleitete Forscher - dann anhand fiktiver Verläufe vorführt. Erst dadurch entsteht für Kaiser ein »klares Bild aller unsinnigen Irrtümer der Menschheit«, 88 und der Leser oder Zuschauer kann Übereinstimmungen mit seiner eigenen Situation nur dann feststellen, wenn er überlegt, ob sich für seine eigene empirische Geschichte ein ähnlicher Verlauf als denkbar abzeichnet. Vergleichbar ist allein diese Fiktion im Kopf des Zuschauers mit der Fiktion des Autors. Die Frage des aufgeschreckten Betrachters: »Was ist anders?« 89 ist die Frage danach, ob die Voraussetzungen für Kaisers Denk-Experiment noch stimmen. Die ideologisch motivierte Kritik, die sich auf vereinzelte empirische Projektionsmöglichkeiten stützt, 90 führt also nicht weit. Blickeröffnend ist dagegen der relativ versteckte Hinweis darauf, daß der »straffe Bau« der Kaiserschen Dramatik auf die »Schlüssigkeit statistischer Kurven, einer Ingenieur Zeichnung überhaupt« hinweist (O. Prues). 91 Schon die zeitgenössische Kritik hatte bemerkt: »Man wittert den technischen Verstand des Konstrukteurs« (B. Diebold). 92 Ein 86
Georg Kaiser: Historientreue. Am Beispiel der »Flucht nach Venedig« (1923). In: Georg Kaiser: Werke Bd. 4 (vgl. Anm. 85), S. 576-579. S. 576. Geschichte reicht für Kaiser »von Adam bis zu meinem Sohn« (a. a. O., S. 576), und, so Kaiser in anderen Aufsätzen, der Mensch ist darin schlechthin »das All - allhier, allda - allfern, allnah - allseiend, allgegenwärtig«. (S. 569). Dichtung, die universale Gesetzmäßigkeiten konstruiert, um dadurch »Einheit zu wölben über Zerstreutem - Zerrissenem« (S. 554), setzt damit auf andere Weise fort, was der antike Mythos einst versuchte. Piatons Dialoge, Vorbilder für Kaisers Denk-Dichtung, rechnet der Autor hierzu (vgl. »Der Mythos« 1919 und »Der kommende Mensch oder Dichtung und Energie« [1922]). 87 Kaiser: Historientreue (Anm. 86), S. 577. 88 A . a . O . , S. 576. 89 Alexander von Cube: »Das rechnet sich selbst weiter«. Georg Kaisers Schauspiel »Gas« in Bochum inszeniert. In: Vorwärts v. 10. 10. 1958. Georg-Kaiser-Archiv im Archiv der Akademie der Künste, Berlin (West). Fortan zitiert als GKA Berlin (West). 90 So Giesing u.a.: Moloch »Technik« (vgl. Anm. 84), S. 765. " Otto Prües: Denkspieler und Dichter. Zum 75. Geburtstag von Georg Kaiser. In: Der Tag v. 24. 11. 1953. GKA Berlin (West) (Hervorhebung von mir). 92 Dbd. [ = Bernhard Diebold:] Georg Kaiser: »Gas«. Uraufführung [ . . . ] im Frankfurter
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unbefangener Beobachter hätte Kaiser ohnehin - so ein Zeitgenosse - »vielleicht für einen Ingenieur gehalten« (K. Otto). 93 Mit Hilfe einer leichten Übertreibung könnte man sagen, daß die Theaterkritik der Zeit den spezifischen Kalkül-Charakter der Kaiserschen »Gas«-Dramatik lange vor der zünftigen Germanistik erkannt hatte (vgl. auch Kap. V, 6). Die Hinweise der Forschungsliteratur auf das Kaisersche Verfahren der »ästhetischen Abstraktion« (H. Breioer) 94 bedürfen in dieser Hinsicht einer präzisierenden Zuspitzung. Noch nicht bemerkt ist, daß die eigentümliche Struktur der Kaiserschen Abstraktionen zumindest im Fall der beiden »Gas«-Dramen die innere DenkStruktur spezifisch technischer Kalküle nachahmt. Oder anders: Kaiser abstrahiert nicht nur, sondern seine Abstraktionen haben - wie das technische Denken der Neuzeit - einen ausgeprägt finalen Charakter. Bei Kaiser wird nicht kausal erklärt, sondern unter Verwendung kausaler Gesetzmäßigkeiten zielgerichtet neu konstruiert. Von daher ist auch die bisher schlüssigste Formulierung H. Denklers zurechtzurücken: Kaiser schaltet die »Determinationen und Kausalitätsgesetze der realen Wirklichkeit« nicht einfach aus, 95 sondern er wählt aus, spitzt zu und konstruiert damit ein »szenisches Experiment«, das die realen Verläufe nicht nachahmt, sondern durch die versuchsweise Isolierung und Radikalisierung der ihnen unterlegten Bewegungsgesetze im künstlich konstruierten Modellbeispiel noch überbietet. Kaisers »Gas«-Dramen beruhen auf der Auswahl, Radikalisierung und Anwendung hypothetischer Denkgesetzlichkeiten im Interesse dichterisch gesetzter Zwecke. Wie der Ingenieur die Naturverläufe, so isoliert der Dichter die Gesellschaftsverläufe im Experiment, um sie dort in seinem Sinne umlenken zu können. Kaisers Dichtung ist darin wie jeder »Artefakt« des Technikers eine »gegennatürliche« Schöpfung. 96 Der Schriftsteller tritt, wie von Brecht später gefordert, wie ein »Flußbauer« auf. 97 Seine Figuren sind - so ein Theaterkritiker wie die »Köpfe großer Wellenbewegungen« (Κ. H. Döscher), 98 die der Dramatiker gegeneinander gelenkt hat. Georg Kaiser hat in seinen »Gas«-Dramen das
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Neuen Theater: 28. November. o . O . o.J. [= Frankfurter Zeitung vom 29.11.1918]. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser-Gas. U. Frankfurt 1918 [...]«. Auch in: Rühle: Theater (Anm. 23), S. 125-127. S. 126. Zit. nach Heinrich Breioer: Georg Kaisers Drama »Koralle«. Persönliche Erfahrung und ästhetische Abstraktion. Mit einem biographischen Aufriß. Hamburg 1976 ( = Geistesund sozialwissenschaftliche Dissertationen, Band 42), S. 152. Vgl. vor allem die Arbeit von H. Breioer (Anm. 93). Denkler: Drama (Anm. 80), S. 78 und S. 79 (das nachfolgende Zitat). Vgl. Günter Ropohl: Technik als Gegennatur. In: Götz Großklaus und Ernst Oldemeyer (Hg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur. Karlsruhe 1983 ( = Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten), S. 87-100. S. 89 u.ö. Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater (1949). Zit. nach ders.: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt a.M. 1971 ( = Bibliothek Suhrkamp Band 41), S. 139. K. H. Döscher: Volksbühne: »Gas«. Schauspiel von Georg Kaiser, o. O. o. J. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser - Gas Berlin 1919«. Kaisers Abstraktionsprinzip ist also keineswegs als schlechthin »beliebig« zu kennzeichnen. Vgl. anders Hans
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technische Denken nicht nur thematisiert, sondern deren Formstruktur daraufhin entworfen. Kaiser macht also das expressionistische Kriegserlebnis (vgl. o. S. 21 lf.) mit einer so nicht wieder begegnenden literarischen Stringenz zum formalen Brennpunkt seiner Stücke. Das rechtfertigt die exemplarische Konzentration der Analyse auf die dadurch herausragenden Beispiele. Denn: Kaiser wollte in seinen »Gas«-Dramen den Krieg nicht länger - wie seine expressionistischen Kollegen nur anklagen, sondern im Theater »das Aufeinanderrennen der Maschinen, die Explosion, die Apokalypse« (E. Levi)99 als sinnlich erfahrbare Bühnenwirklichkeit entfesseln. Der Blitz der Theaterexplosionen soll den Blitz der Erkenntnis entzünden. Was Kaiser auf der Bühne inszeniert sehen möchte, ist gewissermaßen eine Theater-»Ästhetik des Schreckens«. Erstaunlich ist, wie wenig sich die mitunter an der stofflichen Aktualisierbarkeit der Dramen zu sehr interessierte Forschung auf diese formale Struktur der »Gas«Dramatik eingestellt hat. Ob Kaiser »das Wesen des technisch-industriellen Zeitalters« 100 deutet, ist als Frage nicht nur zu global gestellt, sondern solche Überlegungen provozierten weiter allzu häufig eine ausschließlich inhaltsbezogene und sogar darin noch nicht einmal zutreffende Antwort (vgl. u. S. 235). Die Formel vom Dichter als »Ingenieur«101 hat aber, wie gezeigt, mehr als nur metaphorische Bedeutung. Wer an den kargen Konstruktionen Kaisers den Dekor traditioneller Dichtkunst vermißt, verhält sich nicht anders als der verständnislose Betrachter technischer Bauwerke. Kaisers Dramen beziehen - wie die Eisenbrükken des 19. Jahrhunderts (s.o. S. 133ff.) - »ihre Schönheit aus ihrer Zweckmäßigkeit« allein (Diebold). 102 Wie der Dramendichter »Energie, die zur Entladung drängt«, nicht nur darstellt, sondern zum Bewegungsgesetz seiner Dramatik erhebt, ist folglich zu erhellen. Denn, so Kaiser: »Wirkung schießt nur auf aus Wundern von Darstellung von Energie [ • · • ] - das überwältigt, das demoliert den Zuschauer.« 103 Der Dichter gleicht also einem Ingenieur, der - wie in Kaisers Drama dann auch vorgeführt - die künstlich erzeugte Entfesselung von Energie bis zur explosiven Entladung vorantreibt. Der »dramatische Motor« (B. Diebold), 104 der Kaisers Dramen antreibt, wird so lange beschleunigt, bis er - wie die im Drama inszenierte Gas-Explosion - kollabiert und sich selber in die Luft jagt. Kaisers »Gas«-Dramen
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Dieter Groll: Untersuchungen zur Dialektik in der Dichtung Georg Kaisers. Phil. Diss. Köln 1964, S. 55f. Eduard Levi: Vom Völkerbund und vom Menschen. In: Der Revolutionär 1/13, S. 144. Zit. nach Giesing u.a.: Moloch »Technik« (Anm. 84), S. 769 und 782. Klaus Ziegler: Georg Kaiser und das moderne Drama. In: Hebbel-Jahrbuch 1952, S. 44-68. S. 51 (hier bezogen auf das Drama »Kanzlist Krehler«, 1921). Viele der neueren Deutungen zum Gas-Symbol betreiben noch solche Wesensschau (vgl. unten S. 235). Vgl. Bernhard Diebold: Der Denkspieler Georg Kaiser. Frankfurt am Main 1924, S. 22. Diebold: Denkspieler (Anm. 101), S. 22. Kaiser: Formung von Drama (1922). In: Kaiser: Werke (Anm. 85), S. 572-574. S. 573 und 574. Diebold: Denkspieler (Anm. 101), S. 22.
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geben also keinen Aufbau, sondern einen Einsturz. An ihrem Ende steht für den Zuschauer der Choc und nicht die begrifflich geklärte Einsicht. Ich charakterisiere daher zunächst den Zusammenprall der Figuren (Kap. 4), zerlege darauf die Mechanik der Kaiserschen Apparat-Systeme (Kap. 5) und beschreibe anschließend, wie die Theaterregisseure sie zur Explosion brachten (Kap. 6).
4. Handlung und Figurenkampf Den Zusammenhang von »sozialer Ordnung« und »industrieller Großproduktion«105 wird im Drama nur vermissen, wer übersieht, daß Kaiser über deren Verhältnis unabhängig von ihren jeweils sehr unterschiedlichen empirischen Konkretisierungen nachdenkt. Kaisers »Gas«-Dramen führen in abstrahierender Zuspitzung vor, was geschehen müßte, wenn sich jeglicher sozialer Fortschritt nur ein Ziel setzte: die Entfesselung eines stetig gesteigerten technischen Fortschritts. Gas steht dabei in beiden Dramen als dichterisches Symbol für eine bahnbrechend neue Energiegewinnung; es »bewegt neue Millionen Maschinen mit mächtigerem Antrieb. [...] Gas speist die Technik der Welt!« (S. 174).106 Möglich wurde diese neue Energieproduktion durch eine bedeutsame Veränderung der sozialen Rahmenbedingungen: Der Erfolg des Werks ist zuerst vom Unternehmer, dem »Milliardärsohn«, an die Arbeiter übereignet (sie alle sind, »nach Lebensjahren« gestaffelt [S. 174], am Kapitalertrag beteiligt, es gibt keinen einzigen Lohnempfänger mehr), und der Staat übernimmt am Ende sogar den Schutz dieses so überaus erfolgreichen Experiments (S. 219). Die Arbeitsproduktion wird durch diese Maßnahmen gewaltig gesteigert (S. 173f., 185, 194, 198, 205f.), darauf verlangt ein >totaler Krieg< die fortgesetzte Spitzenleistung (»Gas II« S. 228), schließlich aber bricht die erschöpfte Arbeiternatur schlicht in sich zusammen (S. 227, 229, 232f.). Der Kriegssieger >verstaatlicht< dann die Profitrate (das heißt: er schöpft sie ab und zahlt nur Lohn, »für Erhaltung der Kräfte«, an die Arbeiter), eine maximale Rüstungsproduktion ist unverändert das Ziel (S. 240f.). Kaiser versucht, damit ein gesellschaftsgeschichtliches Kontinuitätsproblem sichtbar zu machen. Sein autoritär verfaßtes sozialistisches Produktionskollektivdie Forschung sieht darin eine Anspielung auf das Resultat der Russischen Oktoberrevolution 107 - steht in einer genuin kapitalistischen Tradition; Fortschritt ist hier in der Tat linear gedacht. Man muß nämlich sehen, worauf sich alle Reformmaßnahmen nur erstrecken; verändert wird jeweils die Verfügungsgewalt über die Mehrwertrate, deren Maximierung steht überhaupt nicht zur Disposition. Mit anderen Worten: der Kapitalertrag wird zwar zunächst sozialisiert und dann 105
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Silvio Vietta und Hans-Georg Kemper: Expressionismus. München 1975 ( = UniTaschenbücher 362), S. 99. Zit. nach Georg Kaiser: Stücke, Erzählungen, Aufsätze, Gedichte. Hg. v. Walther Huder. Köln und Berlin (West) 1966. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden mit bloßer Seitenangabe im Text zitiert. Daniels: Expressionismus und Technik (Anm. 2), S. 187ff.
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verstaatlicht, seine Steigerung jedoch bleibt das Ziel der Produktion. »Sozialismus« heißt, wie auch von Max Weber angenommen, 108 Entgrenzung des technischen Fortschritts. Die Produktivkraft Technik wird von ihren privatkapitalistischen Fesseln befreit, und erst diese Entgrenzung erlaubt die alles überbietende Energieproduktion; »die Raserei der Arbeit war entfesselt« (S. 198). Sie aber mündet in »Gas I« ebenso schnell wie unaufhaltsam in eine gewaltige Explosion (S. 178), am Ende von »Gas II« steht die zwanghafte Selbstvernichtung der Kriegsgegner (S. 254). Schon in »Gas I« kollabiert also keine eigendynamische, sondern eine mutwillig und ohne jedes Bedenken entfesselte Technik. Kaiser gestaltet exakt die Fallhöhe einer entsprechend hochgezüchteten Apparatur. Katastrophen sind hier kein Rest-, sondern ein von Anfang an einkalkuliertes Normal-Risiko. Denn, je gewaltiger die künstliche Energieballung in der KalkülNatur der Maschine anwächst, desto größer ist die Gefahr einer gar nicht mehr berechenbaren Explosion: »Die Formel stimmt - und das Gas fliegt auf! [...] Der Fehler wird von jenseits diktiert« (S. 184). Berechenbar ist daran nur noch der Ertrag für die Produktionsmitteleigner: »Auf - Menschenopfer« sind sie in Zukunft »eingerichtet« - der »Turnus ist ja dann bekannt« (S. 197f.). Die Formel von den schlechthin »unkontrollierbaren Gewalten«, die die Forschungsliteratur vielfältig variiert, 109 verdeckt also die entscheidende Spitze des von Kaiser mit suggestiver Logik entfalteten Denkspiels: daß hinter dem »Hirn des Ingenieurs« »Gewalten ohne Kontrolle« regieren, gehört von vornherein zur sozialen Versuchsanordnung einer Technik, die den von allen Naturinhalten abstrahierenden Denkzugriff »über Menschenmaß [...] hinaus« perfektioniert hat. »Das Hirn des Ingenieurs hat das Äußerste berechnet.« (S. 184). »Kein Hirn rechnet straffer.« »Die Explosion geschah. [...] Nach ihrem Gesetz. Nicht nach seinem.« (S. 183). Ein Rückblick auf die bisher behandelten Texte kann zeigen, welche Problemstellung Kaisers »Gas« damit zuspitzt. Daß mathematische Kalküle Natur-Beziehungen stiften, die von der Eigendynamik der Naturverläufe absehen, hatte ja schon Max Eyths Ingenieur beunruhigt (s.o. S. 151ff.). Wer nun wie Kaisers Ingenieur diesen quantifizierenden Naturbegriff absolut setzt, hat am Ende ein völlig entleertes, weil von allen sinnlichen Erfahrungselementen abstrahierendes Naturbild vor sich. Dieses »Nichts an >NaturGas< >Atomkraft< zu meinen«, tat daher zum Beispiel in Erwin Piscators Inszenierung von 1958 »jeder Zuschauer« (F. Baukloh). Obwohl Kaiser noch »keine Ahnung von Atom« gehabt habe, sei er wie ein »minutiöser Rechner« vorgegangen; »er ging von bekannten Größen aus« (A. v. Cube).136 Sinnvoll sind solche Aktualisierungen jedoch nur, wenn man die Aufmerksamkeit des Zuschauers exakt auf den Kernpunkt der dichterischen Technik-Angst lenkt. Der Interpret darf nicht verdecken, wovor sich der Autor eigentlich fürchtet. Kaisers Thema ist jedenfalls nicht die »Gefahr, welche die Technik aus sich heraus für den Menschen darstellt«;137 der »technologische Progreß«138 ist vielmehr zu jeder Zeit sozial konditioniert - auch dort, wo er sich in den Köpfen der Akteure zum fanatischen Arbeitsethos verselbständigt (s.u. S. 240). Kaisers »Gas«-Dramen thematisieren exakt die sozialen Optionen, die - absolut gesetzt eine allzu risikofreudige Technik geradezu voraussetzen müssen; sie zeigen, worauf der kritisch geschärfte Blick achten sollte (und aus der Luft gegriffen 133 134
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Vietta und Kemper: Expressionismus (Anm. 105), S. 93. Schürer: »Gas«-Dramen (Anm. 112), S. 92. Vgl. weiter einen dpa-Bericht (ohne Verf.) im Mannheimer Morgen v. 2. 4. 1980 über eine Aufführung in Hamburg (Regie: Stephan Stroux): Eine Fabrik als Theater. Ein Hamburger Experiment mit Georg Kaisers »Gas«. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Vgl. z.B. Willi Fetz: Hiroshima - expressionistisch gesehen. Piscator inszenierte »Gas« von Georg Kaiser. In: Deutsche Woche v. 29.10.1958. GKA Berlin (West). Ähnlich Helmuth de Haas: Piscator gewann ein gewagtes Spiel [...]. Georg Kaisers »Gas« im Atomzeitalter. In: Die Welt v. 10. 10. 1958. GKA Berlin (West). Der Vf. spricht von »Piscators Hiroshima«. Friedhelm Baukloh: Vision vom Endspiel. Georg Kaisers »Gas« in Bochum vergegenwärtigt. In: Echo der Zeit v. 16.11.1958. GKA Berlin (West). Von Cube: »Das rechnet [...]« (Anm. 89). Die Theaterkritik vollzog damit eine Aktualisierung, die Walter Mannzen schon 1947 (wohl als erster) vorschlug: Kaisers Gas-Dramen seien im Zeitalter der »Atomforschung [ . . . ] keine Utopie mehr«. W. Mannzen: Georg Kaiser: »Gas« . . . heute? In: Der Ruf 1 (1947), Nr. 12. Rudolf Bussmann: Einzelner und Masse. Zum dramatischen Werk Georg Kaisers. Kronberg/Ts. 1978 ( = Monographien Literaturwissenschaft, Bd. 41), S. 86. Vietta/Kemper: Expressionismus (Anm. 105), S. 93. Vgl. auch S. 99: »Technologie« werde »als solche« kritisiert.
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erscheint es nicht, sich auch in der Kernenergiedebatte stärker darum zu kümmern). 139 Das Drama ließe sich so lesen als Appell zur Umkehr einer fahrlässig-falsch programmierten Entwicklung - wenn es nicht selber diese Lesart mit allem Nachdruck dementierte. Aufschlußreich ist die Erklärung, die der Schriftsteller dafür anbietet: seit der Apparat den Arbeitenden diszipliniert, gibt es kein Entrinnen. Herrschaft wirkt totalitär, sowie sie sich in einer Maschine vergegenständlicht, da sie es jetzt ist, die unabweisbar zur Erledigung zersplitterter Arbeitsfunktionen nötigt. Der ewigen Wiederkehr stets gleichbleibender minimaler Handgriffe wehrlos ausgeliefert, erstarrt der Arbeitende zum leblosen Anhängsel: stets »stand er« - so ein »Mädchen« über ihren »Bruder« - »wie tot und bediente. [...] Diese Hand war der Mensch!« (S. 201). Oder: »Sind zwei Augen, die starr wurden vom Blick auf Sichtglas, ein Sohn?« fragt eine »Mutter« (S. 202). »Ein Tag war sein Leben!« klagt eine »Frau« über das Schicksal ihres an den »Schaltblock« eines »Triebwagens« gefesselten Gatten: »Mein großer Mann war einen Tag bei mir.« (S. 203f.). Was geschehen ist, erhellt ein Rückblick auf Fausts letzten Kanalbau: die Arbeitenden sind wie dessen Lemuren nurmehr, wozu sie ihre stumpfsinnige Teilarbeit zurichtet. Was früher eine vorindustrielle Arbeitsorganisation erzwang, das reguliert jetzt der Maschinentakt im monotonen Gleichlauf. Die tote Maschine hat den Funktionsmechanismus der lebenden Maschinerie unwiderruflich verfestigt. Wie unwiderruflich, das zeigt sich, als die Arbeiter mit der Forderung des Milliardärsohnes konfrontiert sind, sich als die »Wunderwesen«, die »Vielfältigen«, eben als »Menschen« zu begreifen. Ihre Antwort ist: »Wir müssen arbeiten! / Unsere Arbeit ist es! / Wir sind Arbeiter!« (S. 185). Ihre Forderung, den Ingenieur zu entlassen und ansonsten Gas weiter zu produzieren, enthüllt sich in der Optik des Dramas als Unvermögen, einzusehen, daß jeder von ihnen »schon verstümmelt vor aller Explosion war« (S. 209). Die Masse ist nur fähig, zu begreifen, woran sie leidet, aber unfähig, zu sehen, wodurch sie selber tätig dazu beiträgt. Ihre Sprecher klagen über die Funktionalisierung des Menschen zum Arbeitsmittel und denken doch in Kategorien, die die Existenz des einzelnen mit seiner spezialisierten Berufs-Funktion gleichsetzen. Das Argument des Ingenieurs, der Milliardärsohn wolle sie zu »Bauern« machen, fanatisiert sie erneut zur technischen Höchstleistung (S. 212f.). Der Appell des Milliardärsohnes: »Du Bruder bist mehr als eine Hand!! — Du Sohn bist mehr als Augen!! — Du Mann lebst mehr als einen Tag!! — « mündet in der resignierten Einsicht: »Ich habe den Menschen gesehen — ich muß ihn vor sich selbst schützen!« (S. 214). Das 139
Der Arbeitende, der im Kernkraftwerk - automatische Sicherungssysteme überspielend den gefährlichen Störfall verursacht, will die Wirtschaftlichkeit eines kontinuierlichen Produktionsprozesses sicherstellen. Vgl. den Bericht aus dem Bundesinnenministerium zum seiner Zeit Aufsehen erregenden Störfall in Brunsbüttel, in: Frankfurter Rundschau v. 31. 7. 1978, S. 14. Für die Aufsichtsbehörden war das immerhin ein »Schlüsselerlebnis«. Vgl. bild der Wissenschaft 1/1981. S. 116.
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Äußerste, was diese Masse vermag, ist das Nachsprechen von Forderungen, die der große Einzelne in ihrem Namen ausspricht. Sie selber weiß nur: »Mehr für uns!!! / Was mit uns?!!« (S. 236). Auf andere Weise bestätigt sich bei Kaiser die Einschätzung Tollers, daß der »Dämon der Maschine« (H. Ihering) 140 dem Arbeitenden den Verstand geraubt hat. »Mit vollem Recht« 141 - so die Theaterkritik - zeigte Kaiser, daß die Arbeitermassen sich aus diesem Grund aus eigener Kraft nicht mehr befreien können. Der Autor hat - so scheint es - eine reale Problemlage lediglich zugespitzt. Dieser unterstellte Realitätsbezug war für das Verständnis der »Gas«-Dramen wichtig. Denn, nur die Annahme einer kollektiven Apathie auf Seiten der Arbeiterschaft rechtfertigt es, den großen Einzelnen als den Seher von allen anderen so scharf abzugrenzen. »Die tiefe Wahrheit« - so Kaisers Motto zu den »GaseDramen - »die findet immer nur ein einzelner« (S. 171). Weil er aber deshalb auch »ohnmächtig« bleibt (S. 171), muß die Frage, ob Kaisers Konfliktkonstellation mögliche Auswege verschüttet hat, exakt hier ansetzen. Ob die »Gas«-Dramatik empirische Sachverhalte nur stilisiert, wird wichtig. Authentische Arbeiterstimmen zur »Zerteilung, Atomisierung des Menschen« durch eine stumpfsinnig-monotone Teilarbeit im Maschinentakt finden sich nun zuhauf in einer »Massenuntersuchung« (von 1912) zur »psychologischen« und »physiologischen« Auswirkung der Mechanisierung der Arbeit. 142 »Betrachte die Maschine als meinen Feind, wenn sie so gleichmäßig, ohne aufzuhalten, ihren regelmäßigen Gang geht« (S. 46f.), heißt es etwa in einem Arbeiterzeugnis, das sich nahtlos in Kaisers Argumentation einfügen ließe. »Die Maschine ist ganz aus 140
Herbert Ihering: Gas. Volksbühne. In: Beri. Börsen Courier v. 26. 2. 1919. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn). Mappe »Kaiser-Gas Berlin 1919«. Neudruck (ohne unser Zitat) bei Tyson I (Anm. 195), S. 80ff. 141 Hermann Eßwein: Gas. In: Münchener Post v. 10.11.1919. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn). Mappe »Kaiser-Gas München 1919«. Ähnlich Hans Knudsen in: Die schöne Literatur 20 (1919), No. 8, S. 91: »>der Arbeiter< [sei] längst noch nicht reif [...] für reines Menschentum.« Zit. nach Tyson I (Anm. 195), S. 83f., S. 83. Oder Bruno Ertler in: Neues Grazer Abendblatt v. 29.12.1919, zit. nach Die Kritik 1 (1919), No. 3, S. 52-53. S. 53: »die alte Formel der Massendummheit« sei ein weiteres Mal gebrandmarkt. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 92ff. Zitat hier S. 93f. 142 Adolf Levenstein: Die Arbeiterfrage. Mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter. München 1912, S. 44, 1. Im folgenden mit bloßer Seitenzahl im Text zitiert. An dieser - so Levenstein - »Massenuntersuchung« waren für unseren Zusammenhang allerdings weniger die quantitativen als vielmehr die qualitativen Aspekte wichtig: daß Mechanisierung und Technisierung von Fabrikarbeit eher Polarisierungstendenzen und keineswegs universelle Depravierungen im Arbeiterbewußtsein auslösen, wird ja noch durch moderne industriesoziologische Untersuchungen bestätigt. Vgl. nur Horst Kern und Michael Schumann: Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein. 2 Bde. Frankfurt am Main, Köln 1970. Die - von Kaisers »Gas«-Dramatik aus gesehen zeitgenössische sozialwissenschaftliche Diskussion weist (soweit ich das verfolgen konnte) bereits in diese Richtung. Auf solche zeitadäquaten Vergleichsmöglichkeiten kommt es im folgenden vor allem an. 237
Stahl, nur Stahl, hat weder Herz noch Nerven, [...] steht aufrecht und kann ewig aufrecht stehen und arbeiten, [...] (sie) muß siegen in einem Kampf, der kein Kampf ist« (S. 47). Man wird am Ende selber »zum Automaten« (S. 99). Nur, daß damit jegliche Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung, zur Hoffnung auf Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft geschwunden sei, bestätigt sich nicht als zeitgenössisches sozialwissenschaftliches Urteil (S. 404-406). Auffällig ist vielmehr der Versuch, im »lawinenartigen Aufschwung« der »modernen Technik« die künftigen Kampflinien einer neu zu definierenden »Klassenlage« auszumachen (S. 285). Der Einfluß der »politischen und Gewerkschaftsbewegung« ist - revisionistisch wie auch revolutionär ausgeprägt - offenkundig beachtlich (S. 405). Zur »absteigenden Linie der Zersetzung« kontrastiert, so das Gesamtresümee der Studie, eine »aufsteigende Linie« zur »Neuschöpfung« eines ebenso dynamischen wie kämpferischen Arbeiterbewußtseins. Der sozialwissenschaftliche Autor spricht deshalb von einer neuen und »eigengearteten Seelenkultur« des Arbeiters (S. 404). Die Disziplinierung durch die Maschinerie ist offenkundig nicht so totalitär, daß sie keinerlei Freiräume zur psychologischen wie auch ideologischen Regenerierung freiließe. Der »>weltanschauungsmäßige< Gesamthabitus« der Arbeiterschaft ist daher eine Einflußgröße, auf deren Bedeutung die zeitgenössische Industriesoziologie nachdrücklich hinweist.143 Den »gleichgültig passiven Existenzen« werden die »zielbewußt aktiven« gegenübergestellt. 144 Wenn es jedoch in einer der in diesen Erhebungen breit dokumentierten Arbeiterantworten heißt, die Arbeit sei »monoton« und »bei zu langer Arbeitszeit lägen die Fabrikräume wie eine schwere Last auf (dem) Gehirn«, 145 so zeigt sich in aller Schärfe die reale Prämisse, die Kaisers Denkspiel isoliert: Je größer der Apparat ausfällt und je länger der einzelne ihm ausgeliefert ist, desto gewalttätiger und unentrinnbarer wirkt sein Zugriff. Die Arbeiter leben bei Kaiser in ihrer Fabrik wie Gefangene in einer hermetisch verschlossenen »Betonhalle; rund, dunsthoch« (S. 201). »Eine [...] Betäubung mit einem Raum von überall und nirgends« zersetzt auch für den Sozialforscher der Zeit das Selbstwertgefühl des Arbeiters. 14é
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Max Weber: Soziale Bestimmungsgründe des Leistungsniveaus. Jetzt in: Friedrich Fürstenberg (Hg.): Industriesoziologie I. Vorläufer und Frühzeit 1835-1934. Neuwied am Rhein und Berlin (West) 19662 (zuerst 1959), S. 37-42. S. 41. Die vollständige Abhandlung mit dem Titel »Zur Psychophysik der industriellen Arbeit« (1908-1909), aus der Fürstenberg einen Auszug abdruckt, ist abgedruckt in: Weber: Aufsätze (Anm. 108), S. 61-225. Marie Bernays: Das Berufsschicksal des modernen Industriearbeiters (1912). In: Fürstenberg (Hg.): Industriesoziologie (Anm. 143), S. 199-216. S. 215. Levenstein: Arbeiterfrage (Anm. 142), S.63. Vergleichbare Arbeiteraussagen finden sich - poetisch überhöht - auch in: Adolf Levenstein (Hg.): Arbeiter-Philosophen und -Dichter. Berlin 1909, S. 14 und 81f. Weitere informative Materialien zur Selbsteinschätzung von Industriearbeitern liegen vor in: A. Levenstein: Aus der Tiefe. Arbeiterbriefe. Beiträge zur Seelen=Analyse moderner Arbeiter. Berlin 1909. Eugen Rosenstock: Der Lebensraum des Industriearbeiters (1922). In: Fürstenberg (Hg.): Industriesoziologie I (Anm. 143), S. 219-228. S. 223.
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Der dichterischen Prognose liegt also eine Vermutung über die Auswirkung der Maschinenarbeit auf den Menschen zugrunde, die deren soziale Zwangsgewalt absolut setzt und ihr damit eine totalitäre Allmacht zuschreibt: durch Apparate »verstümmelt«, vermag sich der einzelne nicht mehr wirksam zur Wehr zu setzen (S. 214f.). Allmächtig ist der Apparat und ohnmächtig der Arbeiter, weil der Produktionsablauf wie ein »Automat« auf ihn einwirkt. Nur wenn er stockt, gibt es »Sekunden - [ . . . ] zur Besinnung« (S. 232), eine Umkehr gelingt jedoch nicht. Kaisers Figuren meinen also noch nicht den weitgehend menschenfreien Selbstlauf der maschinellen Mittel. Schon die leiseste Störung im sozialen Rahmen, ein unvorhergesehener Schichtwechsel zum Beispiel, bringt den aufs äußerste angespannten »Automat« Arbeit aus dem Konzept (S. 23 lf.). Die noch sehr einfach konstruierten Kaiserschen Apparate erzwingen vorerst überhaupt nur repetitive Teilarbeiten und erledigen noch keineswegs selber teilautomatisierte Arbeitsgänge; dieser reduzierte technische Standard macht daher massenmobilisierende Arbeitstechniken und die dazu erforderliche »Macht« des Großingenieurs, »mit Befehl und Strafe« einzugreifen (S. 241), unabdingbar. In den Lücken des Apparat-Systems bleibt der Mensch zur Erzwingung der Arbeitsdisziplin einstweilen noch unverzichtbar. Die charismatischen Fähigkeiten des Milliardärarbeiters sollen im zweiten Teil der »Gas«-Dramatik noch einmal »den Strom durchs Werk schicken, der alle mitreißt« (S. 230). Das Prinzip ständig gesteigerter Menschenausnutzung muß allerdings, wie schon in Goethes »Faust«-Drama, auch jetzt an sich selber scheitern. Der Versuch, durch »Strafen« (S. 231 und 245) eine Erhöhung der Arbeitsleistung zu erzwingen, führt zur Einsicht, daß »die Rechnung nicht [aufgeht]« (S. 233). Daß ein völlig abgestumpftes und bewußtloses Fabrikproletariat den auf immer bessere und kostspieligere Maschinen sich stützenden technischen Fortschritt behindern würde, offenbart sich, wie am Ende des »Faust«-Dramas, als ironische Pointe des Textes, die damit indirekt auf eine gegenläufige Dynamik der Empirie hinweist.147 Realhistorisch gesehen wurde nicht der Besitz von Massenarbeit, sondern der »Besitz besserer Arbeit« für den innovationsfreudigen Unternehmer wichtig. Die Erhöhung von Qualifikationsanforderungen machte es notwendig, die Arbeitszeit zu vermindern, statt, wie bei Kaiser, ständig auszuweiten.148 147 148
Zu den Grenzen der Arbeitsteilung vgl. de Bruyn: Arbeitsteilung (Anm. 148), S. 86ff. So konnten Unternehmen, die mechanisierte Fließbandarbeit eingeführt hatten, durch die Gewährung von Arbeitspausen die Arbeitsintensität beträchtlich steigern. Vgl. Heinrich August Winkler: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930. Berlin (West) und Bonn 1985 ( = Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts), S. 65f. Zur Entwicklung der Arbeitszeitverkürzung insgesamt vgl. die Tabelle für die Zeit von 1913/14 bis 1933 a. a. O., S. 47. Zur zeitgenössischen Diskussion vgl. Gerhart von Schulze-Gävernitz: Die Auswirkungen des wirtschaftlich-technischen Fortschritts auf die Industriearbeiterschaft (1892). In: Fürstenberg (Hg.): Industriesoziologie I (Anm. 143), S. 187-196. S. 191, 195f. Emst Bernhard: Höhere Arbeitsintensität bei kürzerer Arbeitszeit, ihre personalen und technisch-sachlichen Voraussetzungen. Leipzig 1909 ( = Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Heft 138), S. 79-89. M. C. G.
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Kaisers Schreckensvisionen verlängern also eine schon zu ihrer Zeit veraltete Spielart der Mechanisierung ins Utopische, bei der die tote Maschine die »animalische«149 Mensch-Maschine rücksichtslos und sogar wider alle ökonomische Vernunft ausbeutet. Für Kaiser hat sich jedoch gerade dadurch ein fanatisches Arbeitsethos, vom Takt der Maschine eingehämmert, in den Köpfen der Betroffenen verselbständigt. »Bewegung wurde Gesetz aus sich.« (S. 227). So der Großingenieur. Erst von daher wird es verständlich, warum der Milliardärsohn mit dem Ausruf »Die Maschinen ließen sich aufhalten - die Menschen nicht!« (S. 187) das Programm einer eingeschränkten, weil verlangsamten Energieproduktion ablehnt: schon der Apparat an sich ist eine Bedrohung, wenn wahr ist, daß sich sein Bewegungsgesetz in den Köpfen der Betroffenen unwiderstehlich festsetzt. »Noch saust das Rad in euch-« (S. 186) resümiert der Milliardärsohn erschrokken. Die Metapher des Rades signalisiert die Fortdauer eines künstlich erregten Bewegungsmechanismus und keinen >naturhaften< inneren Antrieb. 150 Das Prinzip der Mechanisierung herrscht so durchgreifend, daß es bereits im Unterbewußtsein fortwirkt. Die zum Automatismus gewordene Bewegung charakterisierte auch in der zeitgenössischen Malerei den mechanisierten Menschen. 151 Die damit verbundenen Zwangsvorstellungen sind noch heute Objekt psychoanalytischer Forschung. 152 Wie bei Toller so hat bei Kaiser die Mechanisierung des Arbeiters darin eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung. Dem verstümmelten Arbeiter entspricht bei Kaiser der Schreiber, der sich ein Leben außerhalb eines maschinenhaft organisierten Verwaltungsapparates nicht einmal mehr vorstellt (S. 186). Sogar der Ingenieur ist in das »Gebälk verschroben«, das er konstruiert hat (S. 189). Zur Maschinenarbeit korrespondiert also der »mechanisierte Beruf« (W. Rathenau), weil die Mechanisierung der Produktion die gleichgerichtete Organisation aller übrigen Lebensbereiche voraussetzt. 153 Die Realtechnik braucht - so Walter Rathenaus Befund - die nach ihrem Vorbild organisierte Verwaltung. »Die Entfesselung der Mechanik hat jede Schranke niedergeworfen«
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de Bruyn: Die Arbeitsteilung. Ein produktionspolitisches und sozialpolitisches Problem. Diss. jur. Zürich 1925, S. 100. Als Gegenstimme vgl. Karl Diehl: Arbeitsintensität und Achtstundentag. Jena 1923. v. Schulze-Gävernitz (Anm. 148), S. 189 (nach einer englischen Quelle zur Friihindustrialisierung). So heißt es bei Kaiser ausdrücklich weiter: »- Langsam beschwichtigen sich die Stöße. Bis zum Stillstand braucht es eine Zeit.« (S. 186). Daß diese Zeit ausbleibt, hat - wie ausgeführt wurde - soziale Ursachen (vgl. oben S. 228ff.). Diese Zusammenhänge übersehen Giesing u.a.: Moloch »Technik« (Anm. 84), S. 765. Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte (zuerst 1948). Mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos. Frankfurt am Main 1982 ( = Europäische Bibliothek 8), S. 47, 65, 130f. Vgl. dazu im einzelnen David Kadinsky: Der Mythos der Maschine. Aus der Praxis analytischer Psychotherapie. Mit einem Beitrag von Margot Kadinsky. Stuttgart, Bern und Wien 1969, S. 2-29 u.ö. Vgl. Walther Rathenau: Zur Kritik der Zeit. Berlin 1919 (16. und 17. Aufl.) (zuerst 1912), S. 90.
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(W. Rathenau). 1 5 4 Jedermann dient nur noch der mechanisierten Produktion und ihrer Verwaltung. Kaisers »Gas«-Dramen spiegeln also nicht nur die persönlichen Angstgefühle eines literarischen Intellektuellen, sondern in ihnen sind Einstellungsmuster verdichtet, die zuvor schon äußerst einflußreich, weil mit der Autorität des großen Industriellen versehen, Rathenau verbreitet hatte. 1 5 5 Der Vorwurf, einzig der Literat habe die Maschine verteufelt, griffe zu kurz. Sogar die Vorstellung des Milliardärsohns, man habe den Weg der Mechanisierung »furchtlos zu Ende [gehen]« (S. 188) müssen, hat ihre bei Rathenau entfaltete Entsprechung: »die Epoche der Mechanisierung« sei einfach »Schicksal der Menschheit« - »ohne den Eintritt einer Weltkatastrophe« (das heißt den Ausbruch des Ersten Weltkrieges) hätte - so Rathenau - niemand an eine Umkehr gedacht. 156 »Ein explodierender Vulkan« (S. 182) war auch bei Kaiser notwendig, um die Verblendeten aufzuschrecken. Nur deshalb kann der Miliardärsohn ausrufen: »Es begrub sich selbst. Auf seinem Gipfel - schlug es um. Deshalb sind wir entlassen.« (S. 188). Während jedoch Rathenau die mechanisierte Wirtschaft selber »der planvollen Ordnung, der bewußten Organisation, der wissenschaftlichen Durchdringung und der solidarischen Verantwortung (für) fähig« hielt, 157 verzichtet Kaisers Milliardärsohn programmatisch auf ein solches Vorhaben. Sich, wie von Rathenau empfohlen, mit einem gezähmten technischen Fortschritt abzufinden, ist innerhalb der Denk-Logik der »Gas«-Dramen unmöglich. Eine ähnliche Differenz bestimmt weiter das Verhältnis Kaisers zu Gustav Landauer, dem theoretischen Kopf der Landkommunenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kaisers Siedlungsidee verzichtet nämlich auf den Versuch »einer Vereinigung von Industrie, Handwerk und Landwirtschaft«, den Gustav Landauer vorschlug. 158 Landauers Bemühen, die »Technik um der Konkurrenz und des Rekords willen« von
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Rathenau: Kritik (Anm. 153), S. 65. Robert Kauf: Georg Kaiser's Social Tetralogy and the Social Ideas of Walther Rathenau. In: Publications of the Modern Language Association of America 77 (1962), S. 311-317. S. 311. Zum Einfluß Rathenaus auf das dramatische Gesamtwerk Kaisers vgl. weiter Manfred Kuxdorf: Die Suche nach dem Menschen im Drama Georg Kaisers. Bern und Frankfurt/M. 1971 ( = Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, No. 4). Die Ähnlichkeit der Denkfigur »Mechanisierung« bei Kaiser und Rathenau hatte schon Oskar Walzel in einer Aufführungsbesprechung bemerkt. Vgl. O. Walzel: Zur Dresdner Aufführung von Georg Kaisers »Gas«. o . O . 19. 2. 1920. G K A Berlin (West). Walther Rathenau: Von kommenden Dingen. Berlin 1917 (6.-13. Aufl.), S. 29. Und ders.: Die neue Wirtschaft. Berlin 1918, S. 28. Rathenau: Wirtschaft (Anm. 156), S. 28. Gustav Landauer: [Vorwort zur Revolutionsausgabe des »Aufruf zum Sozialismus«] [3. Januar 1919], In: Ulrich Linse (Hg.): Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918/ 19. Die politischen Reden, Schriften, Erlasse und Briefe Landauers aus der NovemberRevolution 1918/1919. Hg., eingel. und mit einem ausführlichen biographischen und bibliographischen Anhang versehen von Ulrich Linse. Berlin (West) 1974, S. 119-126. S. 125. Zur Geschichte der Landkommunenbewegung vgl. U. Linse: Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890-1933. München 1983 ( = dtv dokumente 2934).
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den »wundervollen Techniken« der »Arbeitserleichterung« 159 zu trennen, ist ungeachtet aller weltanschaulichen Affinitäten zwischen Kaiser und Landauer 160 innerhalb der Prämissen der »Gas«-Dramen nicht einmal mehr denkbar. Die Maschine wird mit der von ihr erzwungenen monotonen Arbeit gleichgesetzt und gilt daher grundsätzlich als unmenschlich. Die Abstraktion von aller Empirie verrennt sich damit in einen Standpunkt, dem man auch heute noch begegnet. Am Ende eines solchen Argumentationsweges steht das Bekenntnis zur »Ecke [...], die am nächsten zur Steinzeit liegt.« (R. Bahro). 1 6 1 Erst innerhalb dieses Denkmusters erhält Technik, obschon sozialer Prozeß, die Qualität einer historischen Invariante. Ein im Ursprung soziales Erklärungsmuster hat sich selber blockiert. Nur in diesem Bezugsrahmen wirkt es plausibel, wenn der Milliardärsohn mit der Aufforderung, »nun biegen wir aus«, zu einem einzigen Ausweg im Diesseits findet: »Über grünem Grund Siedler!« (S. 188f.). Ebenso überzeugend wirkt jedoch auch, daß der Ingenieur, genauso wie die Arbeiter, sich weigert, daran mitzuwirken. Denn, statt des Werks eine »grüne Siedlung« - diese Perspektive ist zu eng, wenn man dabei Maschinen nicht »umrichtet« (S. 187), sondern einfach nur abschaltet. Zurück bleiben daher der hilflose, weil jeder Mittel beraubte Wunsch nach einer Wiederkehr natürlicher Lebenszusammenhänge (S. 204f.); der Appell, als »Dulder im Werk« den »Stachel [zu verleugnen], der an euch blutet« (S. 250f.); oder aber der Aufruf zur Rebellion mit Hilfe eines Mittels, das die bisherigen Destruktionspotentiale noch überbietet - der Großingenieur aus »Gas II« rät, Giftgas einzusetzen. Alle anderen Alternativen sind am Ende nicht einmal mehr denkbar - vom Gegenbild heißt es in »Gas II«: » - - nicht von dieser Welt das Reich!!!!« (S. 251). 162
6. »Gas« oder Atom? Zur Rezeptionsgeschichte Kaisers »Gas«-Dramen präsentieren damit ein Denk-Experiment, in dem überprüft wird, welche Handlungsmöglichkeiten es noch gäbe, wenn Technik sich tatsächlich zum allmächtigen Apparatsystem, zum »eisernen Moloch« (B. Diebold) 163 vergegenständlicht. »Technik als Sozialbeziehung« (V. v. Borries) wäre 159
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Gustav Landauer: Die Botschaft der »Titanic« (1912). In: Martin Buber (Hg.): Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum von Gustav Landauer. Potsdam 1921, S. 100-106. S. 100 und 101. Vgl. dazu G. Landauer: Fragment über Georg Kaiser (1918). In: Buber (Hg.): Mensch (Anm. 159), S. 349-355. Zum Briefwechsel zwischen G. Kaiser und G. Landauer vgl. Gesa M. Valk (Hg.): Georg Kaiser: Briefe. Mit einer Einleitung von Walther Huder. Berlin (West), Frankfurt am Main und Wien 1980. Die Äußerungen Landauers und Kaisers über »Gas« I (S. 122, 135f., 142, 144, 146) thematisieren diese Differenz nicht. Rudolf Bahro, zit. nach Frankfurter Rundschau v. 18. 10. 1983, S. 14. Daß schon die zeitgenössische Kritik Kaisers Antithesen nicht immer gefolgt ist, macht Tyson II (Anm. 195), S. 662f. deutlich. Die Werkausgabe von 1971 (vgl. Anm. 85), Bd. 2, S. 86, liest hier: » — nicht von dieser Welt ist das ReichWW« Diebold: »Gas« (Anm. 92).
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dann zum »Kampf zwischen Mensch und Maschine« (H. Ihering) 164 verkürzt. Kaisers Ingenieure führen vor, in welchem Sinne man dann noch handeln könnte; sie erproben vor, was Ernst Jünger, essayistisch zugespitzt, später so ausgedrückt hat: als »technisches Glied« wie auch »als die eigentliche Intelligenz« kann der Einzelne sich dem Apparat unterordnen und ihn zugleich steuern. Nur als Objekt ist man noch Subjekt der Technik. 165 Der »Dämonie der Materie« (A. Polgar) 166 wird der eigene Vernichtungswille einverleibt. Ernst Jünger feiert solche Verschmelzungen als »organische Konstruktion«. 167 Die zu deren Steuerung erforderliche »kalte Glut« 168 muß nun aber auch der Dramendichter aufbieten; er hat ja sein Denkspiel nur daraufhin entfaltet. Wer von allen realen Prämissen so lange abstrahiert, bis ein Denkspiel übrigbleibt, das mit höchster Bewußtheit bis zur explosiven Selbstvernichtung der fiktiven Welt erhitzt wird, braucht dieselbe »Vernunftskälte eines fanatischen Geistes« (P. Hoffmann), 1 6 9 die auch seine Ingenieur-Figuren vorantreibt. Dieser Dichter kennt - wie seine Ingenieure - in seiner konstruktiven Phantasie »keine Sentimentalität«. »Er ist von durchdringender, erbarmungsloser Sachlichkeit« (F. Hollaender). 17ü Die »innere Kälte« seiner Stücke verträgt keine »Gefühlszutaten« (P. Fechter). 1 7 1 Kaisers »Gas«-Dramen nehmen in ihrer Formstruktur ein Bauprinzip vorweg, das später Ernst Jüngers Essayistik - in anderer Ausprägung - gleichfalls für sich beansprucht; beide reden nicht nur über Geschosse, sondern »beabsichtigen [selber] die Wirkung eines Geschosses«. 172 Kaisers dramatischer Kalkül ähnelt auch darin dem technischen Kalkül, dessen äußerste Verhärtung er vorführt. Die kurze Darstellung einiger ausgewählter Etappen der Rezeptions- und Inszenierungsgeschichte soll erhellen, daß sich die von Kaiser beabsichtigte Choc-Wirkung nur dann einstellt, wenn die Regisseure diesem Kalkül auch wirklich standhalten. Gefordert wird von ihnen - so ein Kritiker der fünfziger Jahre - eine dem Bauprinzip der »Gas«-Dramen entsprechende »apokalyptische« Regielust. 173 164
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Volker von Borries: Technik als Sozialbeziehung. Zur Theorie industrieller Produktion. München 1980 ( = Kösel Diskussion). Herbert Ihering: »Gas«. Schillertheater. o . O . o.J. [1928]. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser-Gas Berlin 1928«. Neudruck in: Tyson I (vgl. Anm. 195), S. 97f. (ohne unser Zitat). Ernst Jünger: Über den Schmerz. In: ders.: Blätter und Steine. Hamburg 1934, S. 154-213. S. 174. Alfred Polgar: Wiener Theater. In: Die Weltbühne 16 (1920,2), S. 736f. S. 736. Neudruck in: Tyson I (Anm. 195), S. 97f. (ohne unser Zitat). Jünger: Schmerz (Anm. 165), S. 174. Badeblatt Baden-Baden (ohne Verf.) v. 27. 9. 1919. Zit. nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 7, S. 154. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 85f. Zitat hier S. 85. Paul Hoffmann: Kaisers >Gas< - ein Stück von heute, o. O. Duisburg 27.10.1958. GKA Berlin (West). F. Hollaender zit. nach: Das Theater IX, 17/18 (September 1928). Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser-Gas München 1928«. Fechter: Kaiser »Gas« (Anm. 117). F. meint allerdings, Kaiser sei der Gefahr, solche Gefühlszutaten beizumengen, nicht immer entgangen. Jünger: Schmerz (Anm. 165), S. 155. de Haas: Piscator (Anm. 135).
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Man muß dabei zunächst einmal sehen, daß Kaiser die für das expressionistische Theater insgesamt kennzeichnenden Charakterzüge der Abstraktion und Stilisierung 174 in einer äußersten Zuspitzung darbietet. Der Zuschauer hat keine Möglichkeit, die Figuren der Dramen einem auch nur irgendwie angedeuteten konkreten sozialen Umfeld zuzuordnen. Kaiser fiktionalisiert - anders als Tollers »Maschinenstürmer« 175 - noch nicht einmal andeutungsweise ein historisches Milieu. Das Pathos, das Kaisers Figuren entfalten, sperrt sich daher gegen jede einfühlende Identifikation oder auch nur mitleidige Gefühlsaufwallung; es bleibt immer »kalt und dekorativ« (E. Polgar). 176 Kaiser präsentierte nicht »Menschen von warmem Blut«, mit denen die Zuschauer wenigstens zeitweise »hoffen und bangen« 177 konnten. Im Allgemeinen wurde - so die Kritiker - zu wenig das Individuelle sichtbar. 178 Kaiser verlangte vom Regisseur eine »Stilisierung, die die Individualitäten der Darsteller weitgehend einschmelzte«. 179 Kaiser war nicht in der Lage - so Brecht - , seinen »Ideen leibhaftige Kinder zu machen«. 180 Kaisers Figuren wirkten oft einfach nur wie »leidenschaftlich bohrende Sprecher ihrer Sache« (J. Bab). Negativ gewendet, hieß das: es hing »kein Fetzen Fleisch [ . . . ] mehr an den chemisch gereinigten Gerippen« (B. Diebold). 1 8 1 Angesichts der noch einmal gesteigerten Typisierung in »Gas II« vermerkte der Theaterkritiker den Auftritt der Helene Weigel erleichtert: »ein Menschliches sprach aus dem Skelett« (B. Diebold). 1 8 2 Die
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Vgl. allgemein Zmegai: Poetik (Anm. 116), S. 496. Zmegac weist weiter auf die bei den Autoren jeweils unterschiedlich ausgeprägten »Abstraktionsstufen« hin (S. 496). Vgl. oben S. 214ff. Polgar: Wiener Theater (Anm. 166), S. 736. W. G. in: Badische Landeszeitung (Karlsruhe) v. 15. 10. 1919, zit. nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 9, S. 266f. S. 266. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 87f. Zitate hier S. 87. So Fritz Sternberg, der Lehrer Brechts, zit. nach Ernst Schürer: Georg Kaiser und Bertolt Brecht. Über Leben und Werk, Frankfurt am Main 1971 (= Schriften zur Literatur, Band 17), S. 39f. So die Besprechung einer Aufführung in Tübingen (1957) (ohne Verf.): Georg Kaisers »Gas« in Tübingen. In: Stuttgarter Zeitung v. 4. 4.1957. Deutsches Theatermuseum München, Mappe »Kaiser-Gas«. Zur Bedeutung der Inszenierung auf »Provinzbühnen« vgl. die Nachweise in den Anm. 213 und 216. Bertolt Brecht: Über das Unterhaltungsdrama (1920). In: B. Brecht: Schriften zum Theater 1. Frankfurt am Main 1967 (= Gesammelte Werke in 20 Bänden - Band 15), S. 43f. Zitate: S. 43, 44 und wieder 43. Vgl. dazu auch das [Kölner Rundfunkgespräch] zwischen Sternberg und Brecht a.a.O., S. 146-153, S. 151ff. Und Brechts Augsburger Theaterkritik vom 26. 3. 1920 a. a. O., S. 8f. Julius Bab: Gas. In: Programm der Berliner Volksbühne v. 10. 4. 1919. GKA Berlin (West). Bernhard Diebold: Georg Kaiser: »Gas - Zweiter Teil«. o.O. o.J. [= Frankfurter Zeitung v. 15.11.1920], Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser - Gas U. Frankfurt 1918 / Gas II. Teil, Frankf. 1920«. Neudruck in: Tyson I (Anm. 195), S. 130ff. Zitat hier S. 130. Noch kritischer ders. in: Das literarische Echo 23 (1920/21), S. 393f. Neudruck (stark gekürzt) in: Tyson I (Anm. 195), S. 129f. Diebold in: Frankfurter Zeitung, a. a. O., und in: Tyson I, S. 131. Ähnlich Rudolf Frank o. O. o. J. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Mappe »Kaiser - Gas II«. Die Kritik wird insbesondere angesichts von »Gas II« heftig. Vgl. Dr. G. G. in: Volksfreund vom
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Reaktion: »Das sind wir ja nicht« (G. Schön), 183 war allerdings auch bei solchen außergewöhnlichen schauspielerischen Leistungen nie ganz auszuschließen. Hinzu kam die schnelle Szenenfolge, die - wie bereits gezeigt (s.o. S. 232ff.) ohne Rücksicht auf psychologische Wahrscheinlichkeit die Figuren in immer neue Situationen versetzte. Man kann den abrupten Wechsel von Detailszene, Großaufnahme und explodierenden Wortgefechten nicht besser charakterisieren als mit Yvan Gölls Bemerkung zum frühen Stummfilm: »Bild jagt Bild«. 184 Kaisers »Schauspiel« wurde auf vielen Bühnen nicht wie herkömmliches Theater »gespielt, [sondern] fast möchte man sagen: gefilmt«. 185 Wenn Kaisers »gespenstig unwirkliche« »Gas«-Welt wie eine »filmisch wirkliche [ . . . ] Trickwelt« inszeniert wurde, akzeptierte sogar der skeptische Kommentator diese Darstellung für die Dauer einer Aufführung als >realistisch< (F. Junghans). 186 Die »Unmöglichkeiten von Fabel und Begründung« waren für den Zuschauer am leichtesten erträglich, wenn er sich in das »Kino« 187 seiner Zeit versetzte. »Der mögliche Einwurf >Kino< widerlegte] sich hier selbst.« 188 Nur wenn sich der Film »verlangsamte«, werde der »dürre Skelettbau des Dramas« sichtbar (F. Zimmermann). 189 Kaisers »kino-
2.11.1920, in: Die Kritik 2 (1920), Nr. 47, S. 822, zit. nach Tyson I (Anm. 195), S. 126f. Oder Theodor Haubach in: Die neue Schaubühne 3 (1921), Nr. 1, S. 14-17, zit. nach Tyson I, S. 128f. 183 Gerhard Schön: Piscator inszenierte »Gas«. In: Bonner Rundschau v. 3. 10. 1958. GKA Berlin (West). Zur Resonanz der Piscator-Inszenierung vgl. unten S. 257f. 184 Yvan Göll: Das Kinodram (1920). Zit. nach Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929. Tübingen 1978 (= Deutsche Texte, dtv Wissenschaftliche Reihe 4307), S. 136-139. S. 136. Verleger und Theaterdirektoren, denen Göll Kaisers »Von morgens bis mitternachts« vorlegte, sollen geäußert haben: »Das ist ja Kino!« Unveröffentlichter Brief Yvan Gölls an Kaiser vom 25. 9.1920 (GKA Berlin [West]), zit. nach Schürer: Kaiser und Brecht (Anm. 178), S. 43. 185 R. A. über die Inszenierung Alfred Bernaus am Deutschen Volkstheater Wien o. O. o. J. [1920], Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser - Gas Wien 1924 [etc.]«. Zu dieser Aufführung vgl. auch Polgar: Wiener Theater (Anm. 166). 186 F. Junghans: »Gas«. Erste Premiere im Schiller-Theater. In: Neue Preußische Kreuzzeitung v. 9. 9.1928. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser - Gas Berlin 1928«. Zur hier besprochenen Aufführung Leopold Jeßners vgl. unten S. 247ff. 187 R. im Hamburger Fremdenblatt v. 30.1.1920 über die Inszenierung von »Gas I« an den Hamburger Kammerspielen (Regie Erich Engel). Im Text gesperrt. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn) Mappe »Kaiser - Gas Wien 1924 [etc.]«. In der Besprechung der Aufführung von »Gas. Zweiter Teil« (gleichfalls inszeniert von E. Engel) wird dieses Argument >kulturkritisch< gegen Stück und Autor gewandt. Vgl. W. W., a.a.O., v. 29. 11. 1920: Wer »Kino anstatt dramatischem Leben« entfessele, könne statt »Seele« nur »toten Intellektualismus« anbieten. Zit. nach einem Exemplar aus der Theatersammlung Hamburg. 188 R. B. in: Münchener Zeitung v. 11.11.1919 zur Inszenierung Rudolf Hochs am Münchener Schauspielhaus. Zit. nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 14, S. 371. Julius Ferdinand Wollf spricht anläßlich der Dresdner Inszenierung von Berthold Viertel vom »Kinoreiz« der Kaiserschen Gestalten. In: Dresdner Neueste Nachrichten v. 28. 2.1920, in: Die Kritik 2 (1920), Nr. 11, S. 242. Zit. nach Tyson I (Anm. 195), S. 95. 189 Felix Zimmermann: »Gas«. o.O. o.J. [= Dresdner Nachrichten v. 27.2.1920] GKA Berlin (West). Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 94f. Zitat hier S. 95. 245
mäßige Zusammenballungen« müßten wie »rasselnde, explodierende F e u e r r ä d e r abbrennen« und d e m Z u s c h a u e r »bis zur Nervenpeinigung« »das nahende E n t setzen« v e r k ü n d e n . 1 9 0 Die Hinweise B r e c h t s zum Filmstil Kaisers 1 9 1 waren also in der Theaterkritik vielfältig vorbereitet. D e r Vergleich mit Fritz L a n g s »Metropolis«-Film ( 1 9 2 7 ) und seinen »Seelenmarionetten« ( F . J u n g h a n s ) 1 9 2 war allerdings anderseits nie ganz vermeidbar. Fritz L a n g s plakative V e r g r ö b e r u n g expressionistischer Stilmerkmale machte die T h e a terkritiker auch auf die Schwächen der Kaiserschen Dramaturgie aufmerksam. D i e V e r m u t u n g , »die kindlichen Inszenierungsphantasien des Filmregisseurs Fritz L a n g « könnten die Regieleistung L e o p o l d Jeßners beeinträchtigt haben, mündet im - unfreiwillig prophetischen - Ausruf: »Dies Schauspiel schreit nach Piscat o r « . 1 9 3 Z u dessen monumentaler Inszenierung beider » G a s « - D r a m e n aus dem J a h r e 1958 wird es heißen: » D a r ü b e r hinaus kann auch C i n e r a m a nicht langen.« 1 9 4 D i e E i n w ä n d e der zeitgenössischen Theaterkritik resultierten also nicht nur aus deren >bürgerlicher< B o r n i e r t h e i t . 1 9 5 D i e Aufgabe, die Kaiser den Regisseuren 190
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Zimmermann, a . a . O . , spricht von den »rasselnden, explodierenden Feuerrädern« (Zitat nicht bei Tyson I, 94f.). Zu den übrigen Zitaten vgl. an. in: Geraer Zeitung v. 23. 9. 1919, zit. nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 6, S. 140f. S. 141. Vgl. Schürer: Kaiser und Brecht (Anm. 178), S. 43f. Junghans: »Gas« (Anm. 186). Inwiefern Kaisers Gas-Dramen Langs Film tatsächlich beeinflußt haben, wäre genauer zu überprüfen. Vgl. einstweilen die noch recht allgemeinen Bemerkungen von Sol Gittleman: Fritz Lang's »Metropolis« and Georg Kaiser's »Gas I«: Film, Literature, and the Crisis of Technology. In: Unterrichtspraxis 12 (1979, 2), S. 27-30. Ernst Degner: Jeßner im Schiller-Theater. In: »Abend« (Vorwärts) v. 8. 9. 1928. G K A Berlin (West). Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 10 (mit den zitierten Textstellen). Vgl. auch Tyson II, 681f. zu dieser Kritik. von Cube: »Das rechnet [ . . . ] « (Anm. 89). Dieser Eindruck entsteht gelegentlich in der Arbeit von Rüdiger Steinlein: Theaterkritische Rezeption des expressionistischen Dramas. Ästhetische und politische Grundpositionen. Kronberg/Ts. 1974 ( = Skripten Literaturwissenschaft 10). Die Ablehnung des Theaters Kaisers schließt jedoch nicht die Erkenntnis seiner Eigentümlichkeiten aus. Steinlein fragt nach den Prämissen der Ablehnung, ich nach den Einblicken in Kaisers Verfahren. Hinzu kommt, daß Steinlein im Rahmen seiner Arbeit nur 8 Kritiken zu Aufführungen von »Gas I« und 2 zu Aufführungen von »Gas II« hat auswerten können. Meine eigene Auswertung kann dagegen auf 135 Theaterkritiken zurückgreifen (diese Zahl erhöht sich auf 152, wenn man den mehrfachen Abdruck einiger nach 1945 erschienenen Theaterkritiken hinzuzählt). Zur Herkunft der Theaterkritiken, die nicht alle zitiert werden, vgl. den Nachweis des Archivmaterials im Quellen- und Literaturverzeichnis. Nach Fertigstellung der Kapitel über Kaiser erschien: Peter K. Tyson: The Reception of Georg Kaiser (1915-45). Texts and Analysis. Vol. 1,2. New York, Berne, Frankfort on the Main, Nancy 1984 ( = Canadian Studies in German Language and Literature, Vol. 32). Tyson bietet 40 Aufführungsbesprechungen zu »Gas I« und 10 zu »Gas II«, die sich nur zum Teil mit meinen eigenen Quellendokumenten überschneiden. Ich habe daher einige Zitate, die sich auf Kritiken stützen, die bei Tyson zum ersten Mal präsentiert werden, nachträglich eingearbeitet; Verweise auf Zitate aus meinem Quellenmaterial, die sich auch bei Tyson finden, sind gleichfalls für die Drucklegung neu erstellt. Da Tyson in der Regel Auszüge abdruckt, kann es vorkommen, daß trotz des Abdrucks
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stellte, ist in ihrer Schwierigkeit vielmehr gar nicht zu unterschätzen; die Abstraktion, die der Textvorgabe zugrundelag, lief schon für sich genommen Gefahr, eine Angst-Utopie zu entfalten, die einfach nur wie ein Zerrbild aussah. Die Versuchung lag daher nahe, durch direkte Anspielungen auf zeitgenössische Realien dem Zuschauer Konkretisierungen anzubieten. »Naturalistische« Überreste 196 in Kaisers Szenenanweisungen boten Anknüpfungspunkte dazu. Auch diejenigen Theaterkritiker, die Vorbehalte gegen Kaisers Abstraktionen geltend machten, hatten jedoch ein Gespür dafür, daß Realitätsanspielungen nur sinnvoll waren, wenn jedes einzelne Wirklichkeitsdetail einen visionären Verweisungscharakter entfaltete. Wo immer man ein Scheitern der Inszenierung oder auch nur ein Mißlingen einzelner Szenen verzeichnete, verwiesen die Kritiker auf einen zu direkten »Seitensprung ins Realistische« 197 als Ursache. Die Gleichsetzung der »Schwarzen Herren« mit »Abteilungsleitern oder Bureauvorständen« 198 mußte zum Beispiel selbst inmitten eines extrem stilisierenden »expressionistischen Bühnenbildes« 199 die Wirkung des Stückes beeinträchtigen. Den Auftritt von Soldaten und Offizieren im »vertrauten Feldgrau« empfand sogar ein Kritiker aus der Provinz geradezu als geschmacklos. 200 Angesichts eines Ingenieurs, der in Leopold Jeßners neusachlich geprägter Inszenierung von 1928 zu Jazz-Rhythmen herumtänzelte und im »eleganten Regenmantel und Reisemütze« (F. Junghans)201
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einer auch von mir benutzten Quelle das Zitat, auf das diese Arbeit hinweist, bei Tyson nicht vorkommt. Auch dieser Fall wird in den Anmerkungen eigens erwähnt. Die richtige Wahrnehmung von Strukturmerkmalen der Kaiserschen Dramatik bei gleichzeitiger Ablehnung ihrer Intentionen wiederholt sich in einem Teil der neueren maschinenschriftlichen Dissertationsliteratur über Kaiser. Vgl. etwa Gerd Neermann: Stil und Dramenformen der Hauptwerke Georg Kaisers. Phil. Diss, [masch.] Tübingen 1950. Vgl. Peter Schlapp: Georg Kaiser »Gas I«. Textanalyse und Konzept einer szenischen Realisation. Frankfurt am Main, Bern, New York 1984 ( = Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 671), S. 18ff., 109f. Die Dissertation, die 1982 abgeschlossen war, lag mir, aufgrund des freundlichen Entgegenkommens ihres Vf., schon vor der Drucklegung in Auszügen vor. Z u m Einfluß traditioneller Formelemente vgl. auch Hans Hoppe: Das Theater der Gegenstände. Bensberg - Frankenforst 1971 ( = Theater unserer Zeit, Bd. 10), S. 49-56. So W. G. in der Badischen Landeszeitung v. 15.10. 1919 in lobender Absicht zu einer Aufführung in Karlsruhe: »nirgends störte ein Seitensprung ins Realistische«. Zit. nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 9, S. 226. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 87f. Zitat dort S. 88. So Α . M.-K. in der Bayrischen Staatszeitung v. 11. 11. 1919. In: Die Kritik 1 (1919), Nr. 13, S. 349. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195) ohne unser Zitat, S. 88f. Daß diese der Aufführung wie dem Autor nicht gerade sehr wohlgesonnene Besprechung nicht völlig danebengriff, zeigt eine Bemerkung in einer sehr viel positiver eingestellten Kritik im Bayrischen Kurier v. 10. 10. 1919 (ohne Verf., a . a . O . , Nr. 14, S. 371): zum dritten Akt (in dem die Schwarzen Herren auftreten) wird ein »merkliches Nachlassen« der Inszenierung vermerkt. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 89f. Zitat dort S. 90. Bayrischer Kurier, a . a . O . , S. 371; Tyson I (Anm. 195), S. 90. Badeblatt Baden-Baden v. 27. 9. 1919 (ohne Verf.). Zit. nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 7, S. 154. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 85f. Zitat S. 85. Junghans: »Gas« (Anm. 186).
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Bild 54: Szenenbild aus »Gas« in der Inszenierung von Leopold Jeßner am 7. 9. 1928 im Berliner Schiller-Theater. Nach einer Vorlage aus dem Theatermuseum Köln (Schloß Wahn).
Bild 55: Auch dieses Szenenfoto aus »Gas« (vermutlich aus dem fünften Akt) in der Inszenierung von Leopold Jeßner dokumentiert sehr deutlich die >naturalistischen< Anleihen im Bühnenbild. Nach einer Vorlage aus dem Theatermuseum Köln (Schloß Wahn).
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auftrat (Bild 54), meinten manche Kritiker sehr spitz, sie hätten sich von solch einem »Windbeutel« (F. Servaes) 202 bestimmt nicht in ihren eigenen Untergang hineinhetzen lassen (F. Junghans). 203 Jeßner habe auch sonst - so ein anderer Kritiker - Figuren präsentiert, die niemanden mehr erschreckten, dafür aber »Anspruch auf Duzbrüderschaft mit den Menschen von heute« (E. Heilborn) 204 erheben könnten. Die Inszenierung Jeßners habe insbesondere die Eingangsszenen »rückhaltlos auf Wirklichkeitsboden« gestellt (E. Heilborn) 205 und zu sehr »auf das Jenseitige« (F. Leppmann) 206 verzichtet. Da aber den Bühnenbildern seiner Aufführung an anderen Orten ein visionärer Verweisungscharakter denn doch bescheinigt wurde, 207 sagte sich mancher Kritiker angesichts eines zwiespältigen Gesamteindrucks: »Macht nichts! Der Jeßner hat den Georg Kaiser den breiten Volksmassen zugeführt.« 208 (Vgl. Bild 55). Die gleichen Schwierigkeiten zeigten sich nach 1945 bei den Versuchen, »Gas« und Atom miteinander zu verknüpfen. Wie sehr gerade eine vordergründige und aufdringliche Aktualisierung die »Gas«-Dramatik um ihre Wirkung bringt, wurde zum Beispiel 1979 anhand eines »manifesten Durchfalls« an den Theatern der Stadt Essen für die hier nahezu einhellig ablehnende Kritik überdeutlich. 209 Statt stilisierter Abstraktionen realistische Milieus anzubieten, erwies sich als Irrtum. 202
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Franz Servaes: Mensch und Maschine. Georg Kaisers »Gas« im Schiller-Theater. In: Berliner Lokal Anzeiger v. 8. 9. 1928. GKA Berlin (West). Neudruck (ohne unser Zitat) bei Tyson I (Anm. 195), S. 102f. Junghans: »Gas« (Anm. 186). Ernst Heilborn: Leopold Jeßner inszenierte Georg Kaisers »Gas«. September 1928. o. O. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser - Gas Berlin 1928«. Andere Kritiker waren, auch im Gegensatz zur Meinung von Junghans und Servaes (Anm. 201 und 202), der Auffassung, zumindest Lothar Müthels Interpretation der Ingenieur-Rolle habe alle neusachlich beeinflußten Realitätszitate gleichsam zu überspielen vermocht. Vgl., neben F. Koppen (Anm. 117), Fritz Engel im Berliner Tageblatt v. 8. 9. 1928 (GKA Berlin/West, Neudruck bei Tyson I [Anm. 195, S. 105]), Ernst Degner im »Abend« (Vorwärts) (a.a.O. und Tyson I, S. 101), Franz Leppmann in Β. Z. am Mittag (a.a.O. und Tyson I, S. 102), H. Kubsch o. O. o. J. (a. a. O.), Monty Jacobs in: Vossische Zeitung (Theatermuseum Köln, Mappe »Kaiser - Gas Berlin 1928«), Herbert Ihering o.O. o.I. (a.a.O. und Tyson I, S. 98), H. Bachmann in: Germania v. 8.9. 1928 (a.a.O.). (Die Neudrucke bei Tyson allerdings ohne Hinweis auf die Ingenieurrolle.) Sogar Franz Servaes, einer der Kritiker der Müthelschen Interpretation, bescheinigt ihm in der Auseinandersetzung mit dem Milliardärsohn eine »starke Überlegenheit« (vgl. Anm. 202). Heilborn: Jeßner (Anm. 204). Ähnlich urteilt [Paul] Fechter in der Deutschen Allgemeinen Zeitung v. 8. 9. 1928. GKA Berlin (West). Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 99f. Franz Leppmann: Georg Kaisers »Gas«. In: Β. Z. am Mittag v. 8. 8.1928. GKA Berlin (West). Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 102. Zitat daselbst. Kritik an der »Eingangsszene auch bei Lutz Weltmann in: Das Blaue Heft (= Freie Deutsche Bühne) 10 (1928) Nr. 19, S. 601f. S. 602. So F. Koppen: Georg Kaisers »Gas« (Anm. 117). Heilborn: Jeßner (Anm. 204). Zitat bei Wolfgang Stauch-v. Quitzow. In: General-Anzeiger v. 24. 2.1979. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Georg Kaiser - Gas Essen 1979«. Ähnlich kritisch äußerten sich nahezu alle Kritiken, die im GKA Berlin (West) und im Theatermuseum Köln greifbar sind. 249
Bild 56: Bühnenbild Volker Benninghoffs zur Inszenierung Peter Schlapps am Marburger Schauspiel (Spielzeit 1978/79). Nach einer Fotographie im Programmheft zu »Gas« aus dem Archiv des Marburger Schauspiels. D i e » G a s « - W e l t l ä ß t sich n i c h t d i r e k t m i t e i n e m A t o m k r a f t w e r k v e r k n ü p f e n . G e r a d e d u r c h d e n in d i e s e R i c h t u n g z i e l e n d e n V e r s u c h w u r d e e i n » K a t a s t r o p h e n alarm von gestern« ausgelöst,210 d e m auch eine aufwendige Materialsammlung, d i e v o n B r e c h t bis hin z u E r i c h F r o m m n a h e z u alle e i n s c h l ä g i g e n
warnenden
S t i m m e n z u W o r t e k o m m e n l i e ß , 2 " nicht m e h r a u f h e l f e n k o n n t e . 2 1 2 Eine
»Verfremdungstechnik«,
die
»mystischer
und
symbolreicher
als
bei
B r e c h t « 2 1 3 v e r f u h r , e r w i e s sich d e m g e g e n ü b e r in e i n e r A u f f ü h r u n g v o n P e t e r S c h l a p p a u s d e m J a h r e 1978 als e r f o l g r e i c h e r . D i e I n s z e n i e r u n g v e r s u c h t e z u m Beispiel, d u r c h » R e d u k t i o n , Abstraktion der äußerlich komischen Mittel ( G ä n g e , 210
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Hans Jansen: Katastrophenalarm von gestern. Carsten Bodinus inszenierte »Gas« von Georg Kaiser in Essen. In: Westdeutsche Allgemeine v. 27. 1. 1979. G K A Berlin (West). Vgl. Theater der Stadt Essen (Hg.): Gas. Schauspiel von Georg Kaiser. Materialien. 1979. Dem Archiv der Theater der Stadt Essen danke ich für die Übersendung eines Exemplars. So, nahezu dankbar, E o Plunien: Flugblätter für Gorleben. Versuch einer Aktualisierung: Georg Kaisers »Gas« in Essen. In: Die Welt v. 27. 1. 1979. G K A Berlin (West). (Se): Ein Theaterstück zum Nachdenken. Marburger Gastspiel mit »Gas« [...]. In: Waldeckische Landeszeitung v. 14. 11. 1978. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Georg Kaiser - Gas Marburg 1978«. Weitere positive Würdigungen dieser Inszenierung von Peter Schlapp finden sich in: Oberhessische Presse v. 31.10.1978 (v. U. Hermann); Frankfurter Rundschau v. 1. 11. 1978 (v. H. Köpke, der allerdings auch Kritisches äußerte); Wetzlarer Neue Zeitung v. 1. 11. 1978 (v. K. Brüggemann). Alles im G K A Berlin (West). Es scheint überhaupt, als habe Georg Kaiser nach 1945 wagemutigen Regisseuren kleinerer Häuser viel zu verdanken. So gab es - neben E. Piscators monumentaler Inszenierung von 1958 in Bochum - Inszenierungen in Erlangen (Regie Hans-Walter G o ß m a n n , 1953), im Landestheater Württemberg/Hohenzollern (Tübingen, Regie Ernst Kühr, 1957), in der Studiobühne Frankfurt am Main (Regie Konrad Höller und Wolfgang Wiens, 1961), im Theater am Belvedere/Wien (Regie J. Ganser, 1967), im Marburger Schauspiel (Regie Peter Schlapp), in der Hamburger »Fabrik« (Regie Stephan Stroux,
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Gesten)« die auf den ersten Blick eher absurd wirkenden Verhaltensweisen der »Schwarzen Herren« als durchaus normalen »Zynismus« erscheinen zu lassen (P. Schlapp). 214 Das ins »Surreale, Zeichenhafte« 215 gewendete Bühnenbild von Volker Benninghoff (Bild 56) führte fort, was schon die Szenenentwürfe und Bühnenbilder vieler Erstaufführungen der Jahre 1919 und 1920 angestrebt hatten. Man hat zu Recht gesagt, daß Kaisers »Gas«-Dramen den »dramatischen >Expressionismus< auch auf dem Provinztheater« durchsetzten. 216 Es gelang durchaus - so jedenfalls die Kritik - , Menschen und Kulissen »halb fremd, halb seltsam anziehend« 217 wirken zu lassen. Kaisers Kunst der »mathematischen Auflösung, der schematisierenden Berechnung« (H. Ihering) brauchte zur Entfaltung ihrer expressiven Dynamik das von allen empirischen Schlacken so weit wie möglich gereinigte szenische Umfeld. Nur dann wirkte »alles leicht, frei, geistig« (H. Ihering). 218 »Das unpersönliche Fluidum, das alle lenkt und beherrscht, die Übermacht der Technik« kam dadurch »stark zur Geltung« (K. H. Döscher); die »Erzeugung sinnlich-unsinnlicher Illusionen« (F. Engel) gelang. 219 Fabriklandschaften wurden nur wie im Schattenriß sichtbar (Bild 57). Realitätsanspielungen blieben auf stilisierte Spiegelungen in allgemein gehaltenen Konturen beschränkt (Bild 58). Versucht wurde so, eine in sparsamen Andeutungen verbleibende Szenerie an die »Abstraktionen des Kaiserschen Sprachstils« 220 anzupassen (Bild 59). Die Palette der Realisationen reichte von der Plazierung der Arbeitermassen auf kahlen »Gitterträgern« inmitten einer realistisch angedeuteten »Betonhalle« 221 bis hin zum Versuch, »die Eisenkuppel der Fabrikhalle lediglich durch (Licht-)Projektion [...] vorzutäuschen«. 222 Sogar
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1980). Nach GKA Berlin (West), Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Theatersammlung der Freien und Hansestadt Hamburg, Deutsches Theatermuseum München. Vgl. auch Leroy R. Shaw: Georg Kaiser auf der deutschsprachigen Bühne 1945-1960. In: Maske und Kothurn 9 (1963), S. 68-86. S. 77. Zur Wirkung Kaisers auf der »Provinzbühne« nach 1918 vgl. den nächsten Absatz. Peter Schlapp und Petra Hofmann-Paczkowski in: Gas (Anm. 113), S. 15 (Klammern im Zitat). Volker Benninghoff a . a . O . , S. 12. Giesing u.a.: Moloch »Technik« (Anm. 84), S. 764. W. G. in: Badische Landeszeitung v. 15. 10.1919. Zit. nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 9, S. 226. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 87f. Zitat S. 87. Ihering in: Berliner Börsen-Courier v. 26. 2.1919, zit. nach Rühle: Kritik (Anm. 23), S. 129. K. H. Döscher o . O . o.J. [1919] zur Berliner Erstaufführung. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser - Gas Berlin 1919«. Und Fritz Engel am 26. 2. 1919 o. O. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Mappe »Kaiser - Gas, Berlin 1919«. R. in: Hamburger Fremdenblatt v. 30.1.1920. Zit. nach Rühle: Kritik (Anm. 23), S. 124f. M . . . in: Düsseldorfer Generalanzeiger v. 29. 11. 1919. In: Rühle: Kritik (Anm. 23), S. 128. Bayrischer Kurier v. 10. 11. 1919 (ohne Verf.) zum Bühnenbild Cäsar Kunz' in München (Regie: Rudolf Hoch), nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 14, S. 371. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 89f. Zitat hier S. 90. Zur Entwicklung der Projektionstechniken vgl. im einzelnen Marianne Viefhaus-Mildenberger: Die Anwendung von Film und Projektion als Mittel szenischer Gestaltung. Phil. Diss. Köln 1958. Zugleich Emschelten (Westf.) 1961 ( = Die Schaubühne, Band 57).
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Bild 57: Der weiße Herr und der Schreiber, im Hintergrund die Silhouetten der Gasfabrik. Szenenentwurf von Robert Reppach zur Uraufführung im Neuen Theater, Frankfurt am Main (28. 11. 1918, Regie: Arthur Hellmer). Nach Weltstimmen Nr. 3 (Juli 1927), S. 99. d e r s k e p t i s c h e B e o b a c h t e r g e r i e t in d e n B a n n e i n e r s o l c h e n » T r a u m p h a n t a s i e « . 2 3 3 »Die symbolische Gespenstigkeit der Kaiserschen T h e a t e r k u n s t « sah der T h e a t e r k r i t i k e r B . D i e b o l d in s o l c h e n V e r s u c h e n g e t r o f f e n . 2 2 4
223
224
Α . M.-K. in: Bayrische Staatszeitung v. 11. 11. 1919, nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 13, S. 349. Zitat nicht im Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 88f. Unzufrieden war die Kritik mit der Wortregie R. Hochs, der man Monotonie bei der Präsentation der Arbeiter-Sprecher vorwarf. Vgl. Tyson II, S. 673. Diebold: Georg Kaiser »Gas« (Anm. 92).
252
Bild 58: Szenenentwurf von Helene Gliewe zu »Gas I«, Rheydt (Fritz Roland), 1929 (Projekt). Nach einer Vorlage aus dem Theatermuseum Köln (Schloß Wahn).
Bild 59: »Gas I«, Hamburg, Kammerspiele (Erich Engel), 1920. Szenenentwurf von Johannes Schröder. Nach einer Vorlage aus dem Theatermuseum Köln (Schloß Wahn).
253
U m diesen Eindruck zu verstärken, war »modernste Technik, [die] auf der Bühne mit[spielte]«, unverzichtbar. Von »Megaphon, Rohrpost, Licht- und Läuteapparaten, Signalbirnen, elektrischem Drahtgewirre« sprach Diebold wie von einer technischen Mindestausstattung. 225 Präsentiert mit Hilfe einer »bestrickenden Raum- und Lichtwirkung«, 226 vereinigte sich solche Bühnentechnik sogar auf einer Provinzbühne zur perfekten Simulation einer gigantischen Theatermaschinerie, die, wie von einem unsichtbaren Willen gelenkt, mit automatenhafter Zwangsläufigkeit abläuft. »Der dem Zwang der Maschinen bitter flucht, [hat] doch die ganze Schnelligkeit, Genauigkeit und ausbrechende Gewaltsamkeit seiner Technik von der Maschine hergenommen« (W. Handl). 227 Kaisers expressionistisches Theater machte, indem es »den Mechanismus (einer) entmenschten Zeit« spiegelte, »willentlich reine Kunst selber zur Mechanik« (B. Diebold). 228 Entfaltete sich in dieser Szenerie auch noch eine perfekt inszenierte Massenregie, die aus vielen »Einzelpersonen eine Masse mit einer Bewegung, einer Geste, einem Laut zu formen« wußte 229 (vgl. Bild 60), so fand die zur Destruktionstechnik radikalisierte Katastrophentechnik ihre kongeniale szenische Zuspitzung: »es ist, als ob der Militarismus sein Refugium auf der Bühne gefunden hätte«. 230 Aus der »Unterordnung [...] im Dienste eines Unmeßbaren, der Kunst« entstand das Bild einer Masse, die mit ihrer entindividualisierten Rhythmik und Gestik »das groteske Leben eines Tanks« 231 entfaltete. »In Bewegung und Minenspiel« wurde der »Maschine gewordene Mensch« 232 sichtbar, und die lebenden und die toten Bühnenmaschinen entfalteten eine Dynamik, die mit atemlosen Tempo zur explosiven Selbstvernichtung hindrang. Gelegentlich »krachte die Explosion so wirklichkeitsgetreu (vgl. Bild 61), daß der Pulverdunst noch bei Schluß der Vorstellung 225
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Diebold: Anarchie (Anm. 80), S. 372. Ähnlich, trotz aller metaphysischen Überhöhungsversuche, Freyhan: Kaiser (Anm. 82), S. 35ff. Geraer Zeitung v. 23. 9. 1919 (ohne Verf.), zit. nach: Die Kritik 1 (1919), Nr. 6, S. 140f. S. 141. Willi Handl: Volksbühne. Erstaufführung: »Gas« von Georg Kaiser. In: Berliner LokalAnzeiger v. 26. 2. 1919. GKA Berlin (West). Bernhard Diebold: Georg Kaiser: »Gas - Zweiter Teil«, o. O. o. J. [Frankfurter Zeitung v. 15. 11. 1920]. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser - Gas U. Frankfurt 1918 Gas II. Teil Frankf. 1920«. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 130ff. Zitat dort S. 130. Ähnlich schon Paul Schiemann zur Berliner Erstaufführung von »Gas I«, o. O. o . I . Deutsches Literaturarchiv Marbach, Mappe »Kaiser - Gas, Berlin 1919«. Oder Reinhold Zickel zur Frankfurter Uraufführung von »Gas II« in: Neue Blätter für Kunst und Literatur 3 (1920/21), S. 43. erka: Kammerspiele. »Gas, 2. Teil« (Regie Ernst Engel). In: Hamburger Echo v. 29. 11. 1920. Theatersammlung der Freien und Hansestadt Hamburg. Hervorhebungen im Original. Sogar ganz scharfe Kritiker sprachen anläßlich der Uraufführung in Frankfurt/M. von einer »mitreißenden Dynamik [ . . . ] in den gestaffelten Fluten der Massen.« Vgl. z.B. Fr. Frid. Windisch in: Das Blaue Heft ( = Freie Deutsche Bühne) 2 (1920), Nr. 15, S. 348-350. S. 349. erka. A . a . O . A.a.O. Schneider: Barmen. »Gas« (Anm. 118), S. 154. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195) ohne das Zitat.
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Bild 60: » G a s I« ( A m s t e r d a m e r E r s t a u f f ü h r u n g ) 18. 3. 1928. D e r Ingenieur u n d die Masse. Nach G K A Berlin (West).
Bild 61: D e k o r a t i o n s f o t o der A u f f ü h r u n g von G e o r g Kaisers »Gas«. Berlin, Schillertheater 1928. R e g i e : L e o p o l d J e ß n e r , B ü h n e : Emil Pirchan (Original im D e u t s c h e n T h e a t e r m u s e u m München).
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den Raum erfüllte« (E. Degner). Daß das Publikum sich der damit erreichten Choc-Wirkung freiwillig aussetzte, hat sogar die skeptischen Kommentatoren beeindruckt: »wir haben Theater, in denen solche Experimente mit Ausbrüchen belohnt würden, fast von der Knall-Wirkung der Gas-Explosion in Kaisers Drama« (M. Jacobs). 233 Daß Georg Kaiser »einen Zusammenbruch statt eines Aufbaus« (F. Zimmermann) gibt, hat Erwin Piscators monumentale Bochumer Inszenierung von 1958 gerade mit Hilfe eines kühnen Texteingriffs so konsequent wie keine Aufführung zuvor beherzigt. »Piscator inszenierte werkgetreu« (A. v. Cube), 234 obwohl er die beiden Teile der »Gas«-Dramatik so zusammenstrich, daß sich das Schwergewicht der Inszenierung in den nur selten gespielten »Zweiten Teil« hineinverlagern sollte (G. Schön). 235 Dadurch, daß »Gas II« direkt an den ersten Teil anschloß, war die im 5. Akt von der Tochter des Milliardärsohns angekündigte Geburt des neuen Menschen unmißverständlich als illusionäre Zwischenlösung gekennzeichnet. Schon ein scharfblickender Kritiker der Berliner Erstaufführung von 1919 hatte in diesem »Kaisermensch einer schönern Zeit« einen dramaturgischen »Notbehelf« gesehen, dem man keinen Glauben schenken dürfe (S. Jacobsohn). 236 Daß aus den Denkprämissen der »Gas«-Dramen nur die Selbstvernichtung folgen konnte, machte Piscators Inszenierung, unterstützt vom Bühnenbild Max Fritzsches, mit einer die Zuschauer mitunter überfordernden Härte sichtbar. »Wie er die Szene ins Optische reißt« (A. van Dyck), 237 hat die Kritik immer wieder begeistert. Einer »eisernen Wortregie« (A. v. Cube), 238 einer perfekten Massenchoreographie 239 und einer trotz aller Typisierung je nach Rollenfunktion 233
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Degner: Jeßner (Anm. 193). Zitat auch bei Tyson I (Anm. 195), S. 101. Monty Jacobs: »Gas«. Erstaufführung der Volksbühne. o . O . o. J. [1919]. Theatermuseum Köln (Schloß Wahn), Mappe »Kaiser - Gas Berlin 1919«. Zimmermann: »Gas« (Anm. 189), v. Cube »Das rechnet [...]« (Anm. 89). Zitat nicht bei Tyson I (Anm. 195), S. 94f. Gerhard Schön: Piscator inszenierte »Gas«. Georg Kaisers großes Drama auf der Bochumer Bühne. In: Bonner Rundschau v. 3.10.1958. GKA Berlin (West). Einen ähnlichen Versuch unternahm vor Piscator Rudolf Beer 1924 im Wiener RaimundTheater. Vgl. Alfred Polgar in: Die Weltbühne 20, 1 (1924), S. 894-897. Neudruck bei Tyson I (Anm. 195), S. 135-37. Noch schärfer verknappend als Piscator verfuhr 1979 eine Theatergruppe im »Direct Theatre« in New York. Der - nach Charlotte Beradt blendend gelungene Zusammenschnitt trug den kongenialen Titel »Approaching Zero« und erwies auch in den USA Kaisers Ideen als »noch aktueller als vor 60 Jahren«. Vgl. Ch. Beradt: Kaiser, Büchner, Goethe. Drei deutsche Stücke auf Off-Off-Broadway Bühnen. In: Frankfurter Rundschau v. 24.1.1979, S. 7. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Mappe »Kaiser - Gas«. Siegfried Jacobsohn in: Das Jahr der Bühne 8 (1918-19), S. 192-195. Zit. nach Tyson I (Anm. 195), S.79f. S. 79. Ähnlich aber auch B. S. in: Thüringer Landeszeitung v. 22.12. 1919, in: Die Kritik 1 (1919), No. 1, S. 18-19, zit. nach Tyson, a . a . O . , S. 91f. v. Dyck: Obgleich die Formel stimmt (Anm. 121). v. Cube: »Das rechnet [...]« (Anm. 89). v. Dyck: Formel (Anm. 121). Gerd Vielhaber: Menetekel der Katastrophe: Kaisers »Gas« in Bochum. In: Hamburger Abendblatt v. 14.10. 1958. Theatersammlung der Freien und Hansestadt Hamburg. Trippier: Fronknecht (Anm. 122).
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Bild 62: » G a s i und II«, Bochum (Regie: Erwin Pisacator). Die Auseinandersetzung zwischen Milliardärsohn und Schwarzen Herren findet auf der von Max Fritzsche entworfenen Kugelkalotte statt. Nach einer Vorlage im G K A Berlin (West).
differenzierenden Schauspielerführung gelang es - so Piscators B e w u n d e r e r - , Kaisers skeletthaft reduziertes Menschenbild244* so weit als irgend möglich auf einer knapp, aber beziehungsreich ausgestatteten Bühne zu verleiblichen. Max Fritzsches »technoide Kugelkalotte« (A. v. Cube) 241 wurde bald als Gasometer, 2 4 2 bald als Atommeiler (W. H. Thiem) 243 oder auch als Globus und Golgatha zugleich gedeutet 244 (Bild 62). Am Ende türmten sich hier die vom Giftgas skelettierten Leichen 245 - eine perfekt inszenierte Lichtregie hatte die Arbeitermassen mit Hilfe einer raffinierten optischen Täuschung und einer geräuschvoll eingeblendeten Film- und Fotomontage dazu deformiert. 246 240 241 242 243
244 245 246
v. Dyck: Formel (Anm. 121), spricht von Kaisers »Skelettierung des Menschen«. v. Cube: »Das rechnet [...]« (Anm. 89). de Haas: Piscator (Anm. 135). Ähnlich Fetz: Hiroshima (Anm. 135). Willy H. Thiem: Piscator inszenierte in Bochum: »Gas« und der Schrei nach dem neuen Menschen. In: Frankfurter Abendpost v. 2. 10. 1958. Theatersammlung der Freien und Hansestadt Hamburg. Vielhaber: Menetekel (Anm. 239). de Haas: Piscator (Anm. 135). Baukloh: Vision (Anm. 136). v. Dyck: Formel (Anm. 121). Paul Hoffmann: Erwin Piscator-Inszenierung in Duisburg. Kaisers »Gas« - ein Stück von heute. o . O . 27. 10.1958. G K A Berlin (West), v. Cube: »Das rechnet [...]« (Anm. 89). Und - trotz
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An diesem expressionistischen »Inferno, Piscators Hiroshima«, 247 schieden sich gleichwohl die Geister. Schrieben die einen: »Darüber hinaus kann auch Cinerama nicht« (A. v. Cube), 248 so bemängelten die anderen ein antiquiert wirkendes Bühnenspektakel. »Die Bombenteppiche des Zweiten Weltkrieges« hätten »ein anderes Muster« verlangt. 249 Der Zuschauer des Atomzeitalters sei »auf unsagbare Weise abgebrüht« (H. Schmidt). 250 Wer davon absehen wollte, registrierte an sich selber und den Zuschauern das Erlebnis einer Schrecksekunde, wie sie sonst nur im Angesicht einer realen Katastrophe eintritt: »gelähmt, gebannt [ . . . ] sitzt das Publikum geduckt, hockt und starrt und begreift« (H. de Haas). 251 Piscators »Warnung« wirkte wie ein »Schock [...]. Aber was ist der Ausweg?« (W. Fetz). 252 Immer innerhalb der Prämissen des Stücks gedacht, blieb der Eindruck eines »unfaßbaren, entsetzlichen, vernichtenden Menetekels« (A. v. Cube). 253 Zum inständigen Wunsch: »Möchte (das Stück) doch klärend und wachrüttelnd wirken« (v.Dyck), 2 5 4 kontrastiert die Erkenntnis, gerade der >normale< Abonnementzuschauer verlasse das Theater »verstört« (G. Hahn) 255 und »ratlos« (W. Fetz). 256 Die Illusion einer Explosion verbreitet lähmendes Entsetzen, aber keine weiterführende Einsicht. Ob hier eine abstrahierend-verfremdende szenische Lösung Abhilfe schaffen könnte, bliebe zu prüfen. Peter Schlapp hat dazu, in Fortführung seiner eigenen Regiearbeit, erst jüngst das Konzept einer Realisation unterbreitet, das Kaiser gewissermaßen mit Hilfe von Brecht noch überbietet. 257
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aller Kritik an der Wahl eines expressionistischen Beispiels - André Müller: Überholter Expressionismus. »Gas« von Georg Kaiser im Schauspielhaus Bochum. In: Theater der Zeit 13 (1958), Nr. 12, S. 49f. S. 49. de Haas: Piscator (Anm. 135). v. Cube: »Das rechnet [...]« (Anm. 89). Bert Markus: »Maschinen kann man anhalten, Menschen nicht«. Piscator inszenierte Kaisers »Gas« in Bochum. In: Düsseldorfer Nachrichten v. 30. 9.1958. G K A Berlin (West). D a auch die Skeptiker herausstellten, Piscator habe das Stück kongenial inszeniert, ging es im Kern um die Frage, ob die Kritiker expressionistische Ausdrucksmittel für veraltet oder aktualisierbar hielten. Skeptisch äußerten sich z.B. G. Schön in der Süddeutschen Zeitung v. 3. 10. 1958 (und nahezu textgleich in 10 weiteren z . T . überregionalen Blättern), Albert Schulze Vellinghausen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 16. 10. 1958 (alles G K A Berlin [West]), S. R. in der Frankfurter Rundschau v. 15. 10. 1958 (Theatermuseum Köln [Schloß Wahn]), und Müller: Expressionismus (Anm. 246). D a ß Piscators Inszenierung generell nur wenig Zustimmung fand (so Shaw: Kaiser [Anm. 213], S. 77) ist jedoch, wie unser Material dokumentiert, nicht richtig. Hannes Schmidt: Es gibt nur Tapferkeit. [ . . . ] Georg Kaisers »Gas« in Bochum. In: Neue Rhein-Zeitung v. 11. 12. 1958. G K A Berlin (West). de Haas: Piscator (Anm. 135). Fetz: Hiroshima - expressionistisch gesehen (Anm. 135). v. Cube: »Das rechnet [...]« (Anm. 89). v. Dyck: Formel (Anm. 121). Günther H a h n : »Gas« oder: Die tödlichen Formeln. Bochum gastierte mit Kaisers »Gas« in einer Piscator-Inszenierung im Theater Marl. In: Recklinghäuser Zeitung. G K A Berlin (West). Fetz: Hiroshima - expressionistisch gesehen (Anm. 135). Vgl. Schlapp: Georg Kaiser (Anm. 196).
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Schluß Vom Mechanismus der Gesellschaft und ihrer Apparate zur Aktualität einer Projektion
Sieht man, bevor sich der Blick nach vorne richtet, zunächst noch einmal zurück, so zeigt sich im Spiegel zeitlich weit auseinanderliegender Technik-Bilder ein >roter< Faden von überraschender Leuchtkraft. Der finale Natur-Kalkül des Ingenieurs wird zuerst noch unabhängig von seinen zukunftsweisenden realhistorischen Manifestationen im literarischen Modell vorgestellt (Kapitel I) und darauf in seinen >harten< und >weichen< Anwendungsmöglichkeiten gleichsam experimentell getestet (Kapitel II). Die Konfrontation von »technischer Kulturarbeit« und kapitalistischer Verwertung zeigt sodann, in welcher Hinsicht der ökonomische Kalkül die Prinzipien technischer Rationalität vereinfacht, schematisiert und gerade dadurch zu einer stets katastrophenverdächtigen Wirksamkeit freisetzt (Kapitel III). Die endlich vollzogene Verschmelzung von technischer Kräfte- und wirtschaftlicher Kostenökonomie führt schließlich zu Handlungszumutungen, die selbst ein von innen her gehärteter und dadurch seinen Schöpfungen angepaßter Ingenieur nur dann aushält, wenn man seine renaturalisierte »Stahl-Natur« zuvor rassistisch auflädt (Kapitel IV). Am Ende wird auch dieser bis zur Kenntlichkeit entstellte reine Destruktionstechniker von einer Technik beherrscht, deren apokalyptische Katastrophen er selber ins Werk setzt (Kapitel V). Georg Kaiser hatte - wie gezeigt - beide, den Ingenieur und den Apparat, dämonisiert. Was geschieht, wenn man den Apparat auf Kosten seines Konstrukteurs erhöht, hat Thea v. Harbous Roman »Metropolis« (1926) in seiner Verfilmung durch Fritz Lang (1927) verdeutlicht; Harbou/Lang haben darin das spätexpressionistische Technik-Bild beträchtlich vergröbert. Denn, der Ingenieur ist jetzt nurmehr Erfinder, der entbehrlich wird, wenn er seinen Maschinen-Apparat konstruiert hat. Der Erfinder lebt abseits in einem Haus, »das älter als die Stadt [war]«. Nur wenige kannten ihn überhaupt. 1 Gelenkt werden kann die »Maschinenstadt Metropolis« (S. 16) vom »Herrn über Metropolis« (S. 18), einem Finanzoligarchen wie in Vershofens »Fenriswolf« (s. o. S. 186), ohne fremde Mitwirkung. Erforderlich sind ein einziges »Gehirn« (S. 17) in einer schalldicht isolierten Schaltzentrale (S. 21f.) und einige wenige »Werkmeister« draußen (S. 53). Ein bloßer »Fingerdruck« auf eine »blaue Metallplatte« reicht aus, um das gewaltige 1
Thea von Harbou: Metropolis. Der Roman zu Fritz Langs utopischem Film. Frankfurt/ M., Berlin (West) und Wien 1978 ( = Ullstein Buch Nr. 3394), S. 44. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden im Text mit bloßer Seitenangabe zitiert. Auf Unterschiede zwischen Buch und Film kann ich im folgenden nicht eingehen; Langs heute noch viel gerühmte >Megamaschine< (vgl. S. 85, Szenenbild) zeigt zudem, daß er die These von der Allgewalt eigendynamischer Apparate eher noch zuspitzte.
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»Maschinentier« »brüllen [zu] lassen« (S. 17). Einmal in Gang gesetzt, frißt es mit »tückischen Augen« (S. 59) »lebendige Menschen« wie »Futter« (S. 16). »Das nie unterbrochene, pochende Summen der großen Metropolis wurde wieder vernehmbar.« (S. 17). Technik-Kritik stützt sich - wie schon bei Toller (s.o. S. 223) jetzt auch bei Harbou/Lang auf die Metapher vom »Götterwagen von Dschaggernaut« (S. 26). Die noch im Jahre 1984 geäußerte Vermutung, in der »utopischen Phantasie« Harbou/Langs sei ein »Angelpunkt des Systems Mensch/Technik« getroffen, 2 klingt schon erstaunlich. Strittig ist dabei nicht, daß Maschinen Menschen ebenso effizient wie dauerhaft disziplinieren können. Die Zerlegung der Kaiserschen Apparate bezeichnete jedoch exakt den Punkt, an dem die Dämonisierung der Maschinen von der Empirie gleichsam abhebt: Im Mechanismus eines maschinellen Ablaufs wird ein zwanghafter Automatismus vermutet, der - einmal in Gang gesetzt - wie von selber funktioniert. Die Intaktheit maschinellen Funktionierens hat, so scheint es, den sozialen Willen gleichsam in sich aufgesogen; die Maschine entwickelt doch eine autonome Autorität. Sie wirkt jetzt wie ein eigenmächtiges »Ding« auf den Menschen, und dem Dichter bleibt es überlassen, die unterstreichend dämonisierenden Metaphern zu finden. Schon der Apparat, der funktioniert, ist dann eine Bedrohung. Die Angst vor einer die Menschen förmlich überrollenden >Dingdie Dingetechnischen< Eigendynamik ableitet. Denn die Analyse der Tollerschen »Maschinenstürmer« hatte nachweisen können: dem auf die >Dinge< fixierten Technik-Bild lag ein Gesellschafts-Bild zugrunde, das die Entstehung jenes erst verursacht. Schon das Sozialsystem war für Toller wie eine allgewaltige mechanische »Mega-Maschine« ausgelegt, 7 die Übermacht der Einzel-Maschine versinnbildlichte diesen Befund (s.o. S. 213). Oder anders: Autor wie Rezipienten, die ihm zustimmten, fühlten sich von Anfang an schutzlos der Einwirkung absolut unzugänglicher, weil dinghaft erstarrter sozialer Einflußgrößen ausgeliefert, ja die Gesellschaft als Ganzes hatte sich für sie zum monolithischen Riesen-Apparat verfestigt. Sie ist daher nicht mehr das Gefüge konkurrierender menschlicher Aktivitäten, in deren Handlungsverlauf soziale Normen oder konkrete Sachen wie technische Geräte eine exakt benennbare verhaltensprägende Funktion erhalten könnten. Ins Diffuse aufgelöst hat sich damit eine Sozialerfahrung, die - wie in der »Faust«-Interpretation dargelegt - der Einführung der Maschine ja tatsächlich vorausliegt. Die Mechanisierung des Menschen ging - wie Fausts Lemuren signalisierten (s.o. S. 42) - der Maschinisierung seiner Arbeit voraus. Die »Vorstellung vom lautlos-wirksamen Ineinandergreifen der Maschinenteile« 8 unterstellt dagegen heute einen maschinellen Selbstlauf, in dem sich die These vom sozialen Selbstlauf versinnbildlicht. Statt Verlaufsanalysen sozialer Herrschaftsmechanismen zu stimulieren, wird eine angeblich technikgleiche Eigendynamik vermutet. Die Frage, wie genau und von wem diszipliniert wird, hat sich damit gleichsam verflüchtigt. 9 Ein »Rad unter Rädern« hat einfach jede Eigenfähigkeit 6
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Vgl. Bammé u.a.: Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen (vgl. A n m . 4 ) , S. l l l f f . u.ö. Lewis Mumford, von dem der Ausdruck stammt, versucht immerhin noch empirischhistorische Begründungen zu geben. Vgl. L. Mumford: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt/M. 1977 (zuerst 1964 und 1966) ( = fischer alternativ 4001). Vgl. Peter Glotz: Die Innenausstattung der Macht. Politisches Tagebuch 1976-1978. München 1979, S. 6. Am allseits gerne zitierten Sprachbild vom >Rädchen im Getriebe< ist ja vor allem seine nahezu beliebige Verfügbarkeit auffällig; man kann damit die sadistische Mordlust der KZ-Aufseherin wie auch die mangelnde Zivilcourage des hochdotierten Fußballprofis rechtfertigen. Vgl. den Bericht der Frankfurter Rundschau über die Strategie des Verteidigers der KZ-Aufseherin Hermine Ryan-Braunsteiner aus Majdanek: »die Frau, die sich den Ruf einer besonders grausamen Aufseherin [ . . . ] erworben hatte, [ . . . ] wurde von ihrem Verteidiger Hans Selas als >ganz kleines Rädchen< hingestellt.« Frankfurter Rundschau vom 6.5.1981. Der Fußballprofi Bernd Hölzenbein antwortet mit dem gleichen Sprachbild auf die Frage, warum er nicht anläßlich der Fußballweltmeisterschaft von 1978 in Argentinien öffentlich gegen die dort damals herrschende Militärjunta und deren Folterpraktiken protestieren wolle: »Wenn der DFB ( = Deutscher Fußballbund)
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verloren; das »Räderwerk«, das von selber abläuft, wird immer von fremder Hand und ganz oben aufgezogen. 10 Schon der allereinfachsten mechanischen Maschinentechnik wird damit eine Perfektion unterlegt, über die sich der empirische Technik-Erforscher zu Recht sehr wundert. 11 In einer Studie über Technik-Bilder, die deren soziale Prägung erhellen wollte, war wichtig zu zeigen, daß eine solche Projektion stattfindet. Wie eine entsprechende Übertragung verläuft, hat deshalb die Analyse spätexpressionistischer Technik-Bilder erhellt. Die Annahme eines ebenso einheitlichen wie starren und allgemeingültigen Bildes von >der< Maschine ist jedenfalls ein Konstrukt, das mit der Entwicklung der Realtechnik nichts zu tun hat. Vielleicht schreckt es ja doch ab, wenn man bemerkt, worauf man sich damit einläßt: Technik ist »totalitär« und damit schon selber »gewissermaßen ein anonymer Faschismus«12 - wenn dem so wäre, bliebe nicht mehr viel zu tun. Wie aber, wenn solches Denken doch zu früh kapitulierte? Der Exkurs in die Literatur war sinnvoll, wenn er diese Vermutung ein wenig plausibler gemacht hätte. Der explosive Knall literarisch hochgezüchteter Maschinenapparate könnte deren scheinbare Übermacht entzaubern helfen. Nur wenn sich - um noch einmal mit den Worten eines Kritikers Georg Kaisers zu sprechen - der dabei entfachte »Pulverdunst«' 3 gelegt hat, läßt sich »Über den Umgang mit Maschinen« (H. D. Bahr) 14 neu und entlastet nachdenken. Die Kritik literarischer TechnikBilder kann darin einer von den Technik-Wissenschaften selber geforderten »technologischen Aufklärung« (G. Ropohl) 15 mit Erfolg zuarbeiten. Diese Studie wollte dazu einen Beitrag leisten.
ein klares Wort dazu sagt, könnte ich mir vorstellen, daß es etwas nützt. Ich bin nur ein kleines Rädchen, ich kann da nichts machen.« Zit. nach Ulrich Pramann u.a. (Hg.): Fußball und Folter. Argentinien '78. Reinbek bei Hamburg 1978 ( = rororo aktuell 4536), S. 9-12. S. 11. 10 Vgl. Max von der Grün: Irrlicht und Feuer. Reinbek bei Hamburg 1967 (rororo 916) (zuerst 1963), S. 179. Vgl. auch S. 156f. Auch Arbeitnehmerorganisationen sind fest in dieses >Räderwerk< einmontiert; weder individuelle noch kollektive Gegenwehr ist daher denkbar. Eine genauere Romananalyse könnte zeigen, wie sehr die Erzählhandlung auf die Bestätigung der Rad-Symbolik hinausläuft. Nicht umsonst beginnt und endet der Roman am Bahndamm (vgl. S. 5 und S. 187f.); das Rädergeräusch bildet gewissermaßen die Leitmelodie. " Vgl. Günter Ropohl: Die unvollkommene Technik. Frankfurt am Main 1985 ( = suhrkamp taschenbuch 1213), S. 21-26. 12 Denn: »dann hört der Mord auf, Mord zu sein; das Rädchen ist schuldlos und frei - von Reue und Erinnerung.« Vgl. zu den Zitaten Ralph-Rainer Wuthenow: Count-down. Günther Anders: Philosophie der Technik als Alptraum und Apokalypse. In: Frankfurter Rundschau v. 12. 7.1980. Wochenendbeilage, S. II. Zur theoretischen Referenz des Autors vgl. die kritische Auseinandersetzung Wolfgang Krohns, ree. G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen I und II. In: Technik und Gesellschaft 1 (1982), S. 223-234. 13 Vgl. oben S. 256 und den Nachweis in Anm. 233. 14 Hans Dieter Bahr: Über den Umgang mit Maschinen. Tübingen 1983. 15 Ropohl: Technik (Anm. 11), S. 203-224.
262
Quellen- und Literaturverzeichnis
A.
ARCHIVMATERIAL
1. Archiv der Theodor-Storm-Gesellschaft (Husum) Mappe »Theodor Storm. Der Schimmelreiter«. Mappe »Schleswig-Holstein. Deichbauten, Watt und Sturmfluten«. 2. Schiller-Nationalmuseum / Deutsches Literaturarchiv Marbach: Nachlaß Max Eyth Max Eyth: [Autobiographisches] Tagebuchaufzeichnungen a.d. Jahren 1866-1906. Mit verschiedenen Beilagen. 40 Bde. Max Eyth: [Autobiographisches] E. Lebenslauf. 4B1. m. 4 beschr. S. Max Eyth: An [Eduard] Eyth u. [Julie Eyth]; a.d.J. 1861 und 1862. 42 e. Br. Darin e. Gedicht v. Max Eyth u.e. Br. v. Julie Kraut an Eduard Eyth. 97 Bl. m. 179 beschr. S. Max Eyth: [Dichterische Prosa] [»Hinter Pflug und Schraubstock«] »Bilder am Wege« [Erinnerungen eines Ingenieurs]. Konzept. Kap. 6: Blut und Eisen. 93 Bl. Kap. 13: Berufstragik. 141 Bl. Max Eyth: [Dichterische Prosa] [»Hinter Pflug und Schraubstock«] »Bilder am Wege«. E. Vorarbeiten. 56 Bl. Personalverzeichnis aus den Bildern am Wege. Notizen für Berufstragik. Max Eyth: [Dichterische Prosa]. [»Wanderbuch eines Ingenieurs«] Ms. v. d. Hd. Eduard Eyths, einzelne Bl. v. unbek. Hd. 434 Bl. Max Eyth: [Verschiedenes] Arbeitsnotizen a. d. Jahre 1897 u. o. D. 6 Blätter m. 6 beschr. S. Max Eyth: [Verschiedenes] Sammlung von 297 Kritiken seiner Werke und Vorträge m.e. Anmerkungen, msch. Ergänzungen u. Notizen v. unbek. Hand. 2 Bde. Bd. 1: 275 aufgekl. Zeitungsausschnitte auf 42BU. m. 70 beschr. S. Bd. 2: 154 aufgekl. Zeitungsausschnitte auf 40B11. m. 33 beschr. S. 3. Berlin Document Center, Berlin (West) Personalakte »Bernhard Kellermann« aus der Reichsschrifttumskammer. 4. Literatur-Archive der Akademie der Künste der D D R : Sammlung Bernhard Kellermann Bernhard Kellermann: Brief an K. W. Wagner v. 31. 7. 1949. Briefe von K. W. Wagner (21. 7.1949) und Walter von Molo (22. 7.1949) an Bernhard Kellermann. Generalmajor Scharow an B. Kellermann am 31. 12. 1947. Deutsche Übersetzung des russischen Originals. 263
Sergej Tulpanow: Rede anläßlich einer Kundgebung »Das freie Buch«. o.O. o.J. Julius Kellermann an die Redaktion der »Fürther Nachrichten« am 12. 11.1954. Bernhard Kellermann: Plan zum Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft. o.O. [vor 1925]. Masch, m. hs. K. 17 Bl., 17 S. Bernhard Kellermann: Gigantische und beispiellose Pläne der Sowjetunion. [Aufsatz. Über die großen Pläne zur Errichtung neuer Kraftwerke, der Bewässerung von Wüstenland, besonders über den »Turkmenischen Kanal«]. o.O. o.Z. Masch. 8B1., 8S. [Bernhard Kellermann:] Notizen für Turkmenistan [mit 3 Seiten nicht dazugehörigen Texten] [= Notizen für »Gigantische ... Pläne«]. o.O. [nach September 1950]. Masch. 8 Bl., 8 S. 5. Theatersammlung der Freien und Hansestadt Hamburg Theaterkritiken über am Orte.
und
G E O R G KAISERS »GAS«
»GAS. ZWEITER T E I L « .
Nachweis jeweils
6. Akademie der Künste, Berlin (West) SAMMLUNG ERNST TOLLER:
Theaterkritiken über
» D I E MASCHINENSTÜRMER«.
Nachweis
jeweils am Orte. GEORG-KAISER-ARCHIV:
Theaterkritiken über
»GAS«
und
»GAS. ZWEITER T E I L « .
Nachweis
jeweils am Orte. 7. Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft Universität zu Köln / Theatermuseum Schloß Wahn Theaterkritiken über ERNST TOLLERS »MASCHINENSTÜRMER« und und »GAS. ZWEITER T E I L « . Nachweis jeweils am Orte.
GEORG KAISERS »GAS«
8. Schiller-Nationalmuseum / Deutsches Literaturarchiv Marbach Theaterkritiken in Sammelmappen über Nachweis jeweils am Orte.
GEORG KAISERS »GAS«
und
»GAS. Z W E I T E R T E I L « .
und
»GAS. ZWEITER T E I L « .
9. Deutsches Theatermuseum München Theaterkritiken in Sammelmappen über Nachweis jeweils am Orte.
B.
GEORG KAISERS »GAS«
LITERATUR Z U M STREIT U M DIE
TECHNIK
Im folgenden werden Werke aufgeführt, die mir bei meinem Versuch, einen Überblick über die kontroversen Positionen der Technik-Debatte zu gewinnen, geholfen haben. Historische und systematische Technikforschung steht dabei neben weltanschaulich zugespitzter Populärwissenschaft. Zur älteren Literatur sei generell auf die von Hans Sachsse herausgegebenen Literaturführer und die Arbeit von H. Popitz hingewiesen. Technikhistorische Spezialliteratur zu den einzelnen Kapiteln der Arbeit wird im entsprechenden Anmerkungsapparat nachgewiesen. Die Aufnahme auch dieser Spezialliteratur hätte das Literaturverzeichnis unübersichtlich gestaltet.
264
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1980. Hans-Dieter Bahr: Kritik der Politischen Technologien Eine Auseinandersetzung mit Herbert Marcuse und Jürgen Habermas. Frankfurt am Main und Wien 1970 (= Kritische Studien zur Philosophie). Hans-Dieter Bahr: Über den Umgang mit Maschinen. Tübingen 1983. Arno Bammé, Günter Feuerstein, Renate Genth, Eggert Holling, Renate Kahle, Peter Kempin: Maschinen-Menschen. Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen Beziehung. Reinbek bei Hamburg 1983 (= Kulturen und Ideen, rororo sachbuch 7698). John Desmond Bemal: Sozialgeschichte der Wissenschaften. Science in History. Band 2 und 3. Reinbek bei Hamburg 1970 (zuerst 1954) (= rororo handbuch 6225 und 6226). Volker von Borries: Technik als Sozialbeziehung. Zur Theorie industrieller Produktion. München 1980 (= Kösel Diskussion). Burchard Brentjes, Siegfried Richter und Rolf Sonnemann: Geschichte der Technik. Hg. v. R. Sonnemann. Leipzig 1978. Wolfgang van den Daele, Wolfgang Krohn und Peter Weingart (Hg.): Geplante Forschung. Vergleichende Studien über den Einfluß politischer Programme auf die Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt am Main 1979 (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 229). Hardi Fischer (Hg.): Technik wozu und wohin? Zürich 1981 (= Zürcher Hochschulforum Universität Zürich - ΕΤΗ Zürich, Band 3). Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1957 (= rowohlts deutsche enzyklopädie 53). Gotthard Günther: Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik. Baden-Baden und Krefeld 1963. Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als »Ideologie«. Frankfurt am Main 1968 ( = edition suhrkamp 287). Karin Hausen und Reinhard Rürup (Hg.): Moderne Technikgeschichte. Köln 1975 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek 81 Geschichte). Bert Heinrich: Brücken. Vom Balken zum Bogen. Reinbek bei Hamburg 1983 (= rororo sachbuch 7711). Gert Hortleder: Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs. Zum politischen Verhalten der Technischen Intelligenz in Deutschland. Frankfurt am Main 1970 (= edition suhrkamp 394). Gert Hortleder: Ingenieure in der Industriegesellschaft. Zur Soziologie der Technik und der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz im öffentlichen Dienst und in der Industrie. Frankfurt am Main 1973 (= edition suhrkamp 663). Rodrigo Jokisch (Hg.): Techniksoziologie. Frankfurt am Main 1982 (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 379). Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979. Friedrich Georg Jünger: Die Perfektion der Technik. Frankfurt am Main 19685 (zuerst 1953). Tracy Kidder: Die Seele einer neuen Maschine. Vom Entstehen eines Computers. Reinbek bei Hamburg 1984 (zuerst 1981) (= rororo computer 8103). Friedrich Klemm: Technik. Eine Geschichte ihrer Probleme. Freiburg und München 1954 ( = Orbis Academicus II/5).
265
Eugen Kogon: Die Stunde der Ingenieure. Technologische Intelligenz und Politik. Düsseldorf 1976. Helmut Kreuzer (Hg.): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die »zwei Kulturen«. Stuttgart 1969. Evelyn Kroker: Die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert. Industrieller Leistungsnachweis, Konkurrenzverhalten und Kommunikationsfunktion unter Berücksichtigung der Montanindustrie des Ruhrgebietes zwischen 1851 und 1880. Göttingen 1975 (= Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, Band 4). David S. Landes: Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart. Köln 1973 (zuerst 1969) (= Studien-Bibliothek). Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München und Wien 1985. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt am Main 1979 (zuerst 1964/65). Hans Lenk und Simon Moser (Hg.): Techne, Technik, Technologie. Philosophische Perspektiven. Pullach bei München 1973 (= Uni Taschenbücher 289). Karl-Heinz Ludwig: Technik und Ingenieure im Dritten Reich. Düsseldorf 1979 (zuerst 1974) (= Athenäum/Droste Taschenbücher Geschichte 7219). Karl-Heinz Ludwig (Hg.): Technik, Ingenieure und Gesellschaft. Geschichte des Vereins Deutscher Ingenieure 1856-1981. Düsseldorf 1981. Peter Lundgreen: Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung. Ausbildung und Berufsfeld einer entstehenden sozialen Gruppe. Mit einer Einführung von Otto Büsch. Berlin (West) 1975 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 16. Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung). Karl-Heinz Manegold: Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen Fritz Kleins. Berlin (West) 1970 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 16). Karl-Heinz Manegold (Hg.): Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte. Wilhelm Treue zum 60. Geburtstag. München 1969. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Neuwied und Berlin (West) 1967 (zuerst 1964) (= Soziologische Texte, Band 40). Conrad Matschoß: Große Ingenieure. Lebensbeschreibungen aus der Geschichte der Technik. München und Berlin 19423 (zuerst 1937). Herbert Mehrtens und Steffen Richter: Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reichs. Frankfurt am Main 1980 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 303). Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt am Main 1977 (= zuerst 1964 und 1966) (= fischer alternativ 4001). Michael Pflaum: Die Kultur-Zivilisations-Antithese im Deutschen. Überblick über die Entstehung der Wörter Kultur und Zivilisation im Deutschen. In: Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien. Band 3: Kultur und Zivilisation. München 1967, S. 288-427. Heinrich Popitz, Hans Paul Bahrdt, Ernst August Jüres, Hanno Kesting: Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie. Tübingen 19763 (zuerst 1957) ( = »Soziale Forschung und Praxis«, Band 16).
266
Günter Ropohl: Die unvollkommene Technik. Frankfurt am Main 1985 (= suhrkamp taschenbuch 1213). Reinhard Riirup (Hg.): Technik und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1978 ( = Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 4 [1978], Heft 2). Hans Sachsse (Hg.): Technik und Gesellschaft 1-3. Pullach bei München 1974-1976 (= UniTaschenbücher 413, 570, 622). Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München 1979 (zuerst 1965) (= Goldmann Sachbuch 11217). Hans Schimank: Der Ingenieur. Entwicklungsweg eines Berufes bis Ende des 19. Jahrhunderts. Köln 1961. Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Bd. III: Erfahrungswissenschaften und Technik. Freiburg 19502. Lars U. Scholl: Ingenieure in der Frühindustrialisierung. Staatliche und private Techniker im Königreich Hannover und an der Ruhr (1815-1873). Göttingen 1978 (= Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, Band 10). Rolf Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1984 (= Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen, Band 5). Charles Singer et al. (Ed.): A History of Technology. 5 Vols. Oxford: 1954-1958. Vol. IV: The Industrial Revolution, Vol. V: The Late Nineteenth Century. C[harles] P. Snow: Die zwei Kulturen: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart 1967 (zuerst 1959 und 1963) (= Versuche 10). Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens. München 1931. Karl Steinbuch: Diese verdammte Technik. Tatsachen gegen Demagogie. Mit Beiträgen von Hans Hermann Cramer u. a. München und Berlin (West) 1980. Heinrich Stork: Einführung in die Philosophie der Technik. Darmstadt 1977 (= Die Philosophie. Einführungen in Gegenstand, Methoden und Ergebnisse ihrer Disziplinen). Hans Straub: Die Geschichte der Bauingenieurkunst. Ein Überblick von der Antike bis in die Neuzeit. Basel und Stuttgart 19573 (zuerst 1949) (= Wissenschaft und Kultur, Band 4). Albrecht Timm: Kleine Geschichte der Technologie. Stuttgart 1964 (= Urban Bücher 78). Wilhelm Treue: Technik in Wirtschaft und Gesellschaft 1800-1970. In: Hermann Aubin und Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der Deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Band 2. Stuttgart 1976, S. 51-121. Wilhelm Treue (Hg.): Deutsche Technikgeschichte. Vorträge vom 31. Historikertag am 24. September 1976 in Mannheim. Göttingen 1977 (= Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, Band 9). Wilhelm Treue und Kurt Mauel (Hg.): Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im 19. Jahrhundert. Acht Gespräche der Georg-Agricola-Gesellschaft zur Förderung der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik. Göttingen 1976. 1. und 2. Teil. ( = Studien zu Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, Band 2 und 3). Ulrich Troitzsch und Wolfhard Weber (Hg.): Die Technik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Braunschweig 1982. Ulrich Troitzsch und Gabriele Wohlauf (Hg.): Technik-Geschichte. Historische Beiträge und neuere Ansätze. Frankfurt am Main 1980 (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 319).
267
Klaus Tuchel: Herausforderung der Technik. Gesellschaftliche Voraussetzungen und Wirkungen der technischen Entwicklung. Bremen 1967. Otto Ullrich: Technik und Herrschaft. Vom Hand-werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion. Frankfurt am Main 1979 (zuerst 1977) (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 277). Otto Ullrich: Weltniveau. In der Sackgasse des Industriesystems. Berlin (West) 1979 (= Rotbuch 207). Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt am Main 1978 (zuerst 1976) (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 274).
C.
BIBLIOGRAPHIEN, TEXTSAMMLUNGEN U N D FORSCHUNGSLITERATUR ZUM T H E M A »TECHNIK IN DER LITERATUR«
Aufgenommen wurden vor allem neuere Arbeiten. Ältere Darstellungen sind verzeichnet, wenn sie als überblickartige Materialsammlungen angelegt sind. Zu älterer Spezialliteratur zu einzelnen Themen- und Motivkomplexen vgl. neben den einschlägigen neueren Stoff- und Motivkomplexen die Bibliographien von F. A. Schmitt u. Wilhelm Kosch. 1. Bibliographien Wilhelm Kosch: Deutsches Literatur-Lexikon. 2. vollst, neu bearb. und stark erw. Aufl. 4 Bde. Bern 1949-1958. Bd. 4, 1958. Artikel »Technik und Techniker in der Dichtung«, Sp. 296f. Franz Anselm Schmitt: Beruf und Arbeit in deutscher Erzählung. Ein literarisches Lexikon. Stuttgart 1952. Franz Anselm Schmitt: Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur. Eine Bibliographie. 3. völlig neu bearb. und erw. Aufl. Berlin (West) und New York 1976. 2. Textsammlungen Keith Bullivant und Hugh Ridley (Hg.): Industrie und deutsche Literatur 1830-1914. Eine Anthologie. München 1976 (= dtv bibliothek 6035). Bettina Clausen und Harro Segeberg: Soziale Maschinen. Literarische und soziologische Texte zu Industriearbeit und Technik. Stuttgart 1979. 2Bde.: Text- und Kommentarband. (= Deutsch in der Sekundarstufe II, Kurs 4). Karlheinz Daniels: Mensch und Maschine. Literarische Dokumente. Frankfurt am Main, Berlin (West) und München 1981 (= Texte und Materialien zum Literaturunterricht). Fritz Winterling: Die Darstellung der Technik in der Literatur. In: Hans Sachsse (Hg.): Technik und Gesellschaft 2. Texte: Technik in der Literatur. Pullach 1976 (= Uni Taschenbücher 570). Walter Wolff (Hg.): Technik und Dichtung. Ein Überblick über 100 Jahre deutschen Schrifttums. Leipzig 1923. 3. Forschungsliteratur Bettina Clausen und Harro Segeberg: Technik und Naturbeherrschung im Konflikt. Zur Entzerrung einiger Bilder auch über Kleist und Goethe. In: Text und Kontext 10 (1982), S. 47-63. Karlheinz Daniels: Expressionismus und Technik. In: Wolfgang Rothe (Hg.): Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern und München 1969, S. 172-193.
268
Α. Eggers: Der Ingenieurstand in der deutschen Literatur. In: Die Braunschweiger G. N. C.Monatsschrift, hg. v. der Firma Grimme, Natalis und Co. 14 (1927), S. 142-146. Volkmar Frobenius: Die Behandlung von Technik und Industrie in der deutschen Dichtung von Goethe bis zur Gegenwart. Phil. Diss. Heidelberg 1935. Rolf Geissler: Literarische Bildung und technische Welt. In: Die deutsche Schule 60 (1968), S. 174-186. Paul Ginestier: Le Poète et La Machine. Paris 1954. Hermann Glaser: Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur in Deutschland. Vom Biedermeier zur Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1981. Dirk Hoeges: Alles veloziferisch. Die Eisenbahn - vom schönen Ungeheuer zur Ästhetik der Geschwindigkeit. Rheinbach-Merzbach 1985 (= Literaturwissenschaftliche Monographien, Band 1). Henriette Hoffmann: Eine Untersuchung über Kapital, Industrie und Maschine von Goethe bis Immermann. Phil. Diss. Wien 1947. Felix Philipp Ingold: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909-1927. Mit einem Exkurs über die Flugidee in der modernen Malerei und Architektur. Frankfurt am Main 1980 (zuerst 1978) (= suhrkamp taschenbuch 576). Theodor Jost: Mechanisierung des Lebens und moderne Lyrik. Bonn a. Rh. 1934 (= Mnemosyne, Arbeiten zur Erforschung von Sprache und Dichtung, Heft 10). Hans Werner Kistenmacher: Maschine und Dichtung. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Phil. Diss. München 1913. Greifswald 1914. Erwin Koppen: Prolegomena zum Thema »Literatur und technische Revolution«. In: Fridrun Rinner und Klaus Zerinschek (Hg.): Komparatisitik. Theoretische Überlegungen und südosteuropäische Wechselseitigkeit. Festschrift für Zoran Konstantinovii. Heidelberg 1981, S. 113-126. Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. München 1982. Karl Robert Mandelkow: Orpheus und Maschine (zuerst 1966). In: Euphorion 61 (1967), S. 104-118. Leo Marx: The Machine in the Garden. Technology and the Pastoral Ideal in America. London - Oxford - New York 1964. Reprint 1977. Robert Minder: Soziologie der deutschen und der französischen Lesebücher. In: Alfred Döblin (Hg.): Minotaurus. Dichtung unter den Hufen von Staat und Industrie. Wiesbaden O.J., S. 74-87. Volker Neuhaus: Zur Darstellung von Industrie und Technik in der deutschen Literatur. In: Tilman Buddensieg u. Henning Rogge (Hg.): Die Nützlichen Künste. Gestaltende Technik und Bildende Kunst seit der Industriellen Revolution. Ausstellungskatalog Berlin (West) 1981, S. 228-236. Hans-Werner Niemann: Die Beurteilung und Darstellung der modernen Technik in deutschen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Technik-Geschichte 46 (1979), S. 306-320. Hans-Werner Niemann: Das Bild des industriellen Unternehmers in deutschen Romanen der Jahre 1890 bis 1945. Mit einem Geleitwort von Wilhelm Treue. Berlin (West) 1982 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 34). Gerhard Rademacher: Technik und industrielle Arbeitswelt in der deutschen Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts. Versuch einer Bestandsaufnahme. Bern und Frankfurt/M. 1976 (= Europäische Hochschulschriften I, 124).
269
Gerhard Rademacher: Das Technik-Motiv in der Literatur und seine didaktische Relevanz. Am Beispiel des Eisenbahngedichts im 19. und 20. Jahrhundert. Bern und Frankfurt/M. 1981 (= Europäische Hochschulschriften I, 425). Ilsedore Rarisch: Das Unternehmerbild in der deutschen Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rezeption der frühen Industrialisierung in der belletristischen Literatur. Mit einer Einführung von Otto Büsch. Berlin (West) 1977 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 17). Wolfgang Rothe: Industrielle Arbeitwelt und Literatur. In: Adolf Frisé (Hg.): Definitionen. Essays zur Literatur. Frankfurt am Main 1963, S. 85-116. Hermann Staf: Technik und Industrie im deutschen Drama. Phil. Diss. Wien 1948 [Masch.]. Oskar Walzel: Die Wirklichkeitsfreude der neueren schweizer Dichtung. Stuttgart und Berlin 1908. Harro Segeberg: Technik-Bilder in der Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts. In: G. Ropohl (Hg.): Interdisziplinäre Technikforschung. Beiträge zur Bewertung und Steuerung der technischen Entwicklung. Berlin (West) 1981 (= Angewandte Innovationsforschung 3), S. 153-167. Felix Zimmermann: Die Widerspiegelung der Technik in der deutschen Dichtung von Goethe bis zur Gegenwart. Phil. Diss. Leipzig 1913.
D.
BENUTZTE TEXTAUSGABEN U N D AUSGEWERTETE FORSCHUNGSLITERATUR z u DEN FALLSTUDIEN IN DEN HAUPTKAPITELN
I. Johann Wolfgang von Goethes »Faust. Zweiter Teil«, V. Akt. 1. Textausgaben Goethes Faust. Erster und zweiter Theil. Zum erstenmal vollständig erläutert von Heinrich Düntzer. Leipzig 18572. Faust. Eine Tragödie von Goethe. Mit Einleitung und erläuternden Anmerkungen von G[ustav] von Loeper. Erster und zweiter Theil. 2 Bde. Berlin 1870. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. 15. Band. Erste Abtheilung: Faust. Eine Tragödie. Der Tragödie Zweiter Theil. Hg. v. Erich Schmidt. Weimar 1888. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. 15. Band. Zweite Abtheilung: Lesarten zu Faust. Zweiter Theil. Hg. von Erich Schmidt. Weimar 1888. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Vierzehnter Band: Faust. Mit Einleitungen und Anmerkungen von Erich Schmidt. Zweiter Teil. Stuttgart und Berlin o.J. [1906], Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 3: Dramatische Dichtungen. Erster Band. Faust. Eine Tragödie. Der Tragödie Zweiter Teil. Faust in ursprünglicher Gestalt. (Urfaust). Hg. v. Erich Trunz. Hamburg 19626 (zuerst 1949). Band 13: Naturwissenschaftliche Schriften [1]. Hg. von Dorothea Kuhn. Hamburg 19622 (zuerst 1955). Goethe: Faust. Zweiter Teil. Mit Federzeichnungen von Max Beckmann. Mit einem Nachwort zum Text von Jörn Göres und zu den Zeichnungen von Friedhelm Fischer. Frankfurt am Main 19813 (= insel taschenbuch 100). Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 1-4. Hamburg 1962-1967. Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 2 Bänden. Hg. von Karl Robert Mandelkow. Hamburg 1965 und 1969.
270
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von Heinrich] H[ubert] Houben. Wiesbaden 1959, 25. Aufl. Hans Gerhard Graf (Hg.): Goethe über seine Dichtungen. Zweiter Theil: Die Dramatischen Dichtungen. Zweiter Band (Faust). Frankfurt a. M. 1904. Goethes Tagebücher. Weimarer Ausgabe, III. Abteilung. 10. Band: 1825-1826. 11. Band: 1827-1828. 12. Band: 1829-1830. Weimar 1899 bis 1901. Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Hg. von Karl Robert Mandelkow. Teil III: 1870-1918. München 1979 ( = Wirkung der Literatur, Band 8). 2.
Forschungsliteratur
Das Argument 99 (1976): Faust - Diskussion. Probleme der Ästhetik (V). Stuart Atkins: Irony and Ambiguity in the Final Scene of Goethe's Faust. In: Gottfried F. Merkel (Ed.): On Romanticism and the Art of Translation. Studies in Honor of Edwin Hermann Zeydel. Princeton 1956, S. 7-28. Dieter Bellmann: Vom Harz bis Hellas. Zur Sprache Goethes in »Faust II«, V. Akt. In: Friedhelm Debus und Joachim Hartig (Hg.): Literaturwissenschaft und Textedition. Neumünster 1973 ( = Festschrift für Gerhard Cordes. Zum 65. Geburtstag. Bd. 1), S. 1-22. Hans Christoph Binswanger: Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft anhand von Goethes Faust. Mit einem Nachwort von Iring Fetscher. Stuttgart 1985. Heinz Bluhm: Zur Entstehung und Interpretation der Szene »Großer Vorhof des Palasts« in der Fausthandschrift VH 2 . In: L. E. Kurth, W. H. McClain, H. Homann (Ed.): Traditions and Transitions. Studies in Honour of Harold Jantz. München 1972, S. 142-161. Walter Dietze: »Faust«, Vers 11580. Weimar 1975 (= Jahresgabe der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar). Otar Dshinoria: Das Ende von Goethes »Faust«. In: Goethe Jahrbuch 90 (1973), S. 57-106. Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Bonn 19572. Rudolf Fürst: Der Kampf mit dem Meere in Goethes zweitem Faust. In: Goethe-Jahrbuch 17 (1896), S. 219-223. Wilhelm Girnus: Einleitung zu Johann Wolfgang Goethe: Über Kunst und Literatur. Berlin ( D D R ) 1953. Heinz Hamm: Der Theoretiker Goethe. Grundpositionen seiner Weltanschauung, Philosophie und Kunsttheorie. Kronberg/Ts. 1976 (zuerst 1975) ( = Literatur im historischen Prozeß, Bd. 5). Heinz Hamm: Goethes »Faust«. Werkgeschichte und Textanalyse. Berlin (DDR) 1978. Guido Hauck: Technikers Faust-Erklärung. Festrede gehalten bei der Schinkelfeier des Architekten-Vereins in Berlin am 13. März 1891. Berlin 1891. Manfred Hausmann: Goethe und der Bremer Hafen an der Unterweser. In: Niederdeutsches Heimatblatt, Nr. 330, Juni 1977. Rudolf Henning: Locale und litterarische Beziehungen zum 5. Acte des Faust. In: Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte 1 (1888), S. 243-248. Schuyler Dean Hoslett: The Supermann in Nietzsche's Philosophy and in Goethe's »Faust«. In: Monatshefte für Deutschen Unterricht 31 (1939), S. 294-300. Hugo Jaekel: Goethes Verse über Friesland. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 24 (1892), S. 502-504. Harold Jantz: The Symbolic Prototypes of Faust the Ruler. In: Wächter und Hüter. Festschrift für Hermann J. Weigand. Ed. by Curt von Faber du Faur u.a. New Haven, Connecticut 1957, S. 77-91. 271
Hans Kasten (Hg.): Goethes Bremer Freund Dr. Nicolaus Meyer. Briefwechsel mit Goethe und dem Weimarer Kreis. Bremen 1926. Anneliese Klingenberg: Zur ökonomischen Theorie Goethes in den »Wanderjahren«. In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 32 (1970), S. 207-220. Max Kommerell: Faust Zweiter Teil. Zum Verständnis der Form. In: ders.: Geist und Buchstabe der Dichtung. Frankfurt am Main 19625 (zuerst 1939). Siegmund Levy: Goethe und Oliver Goldsmith. In: Goethe-Jahrbuch 6 (1885), S. 281-298. Karl Lohmeyer: Das Meer und die Wolken in den letzten beiden Akten des >FaustSchimmelreiter