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German Pages [670] Year 2021
A DA M SM I T H
Theorie der ethischen Gefühle
Auf der Grundlage der Übersetzung von Walther Eckstein neu herausgegeben von Horst D. Brandt
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG
philosophische bibliothek band 605
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1936-7
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INHALT
Einleitung. Von Walther Eckstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Entstehung und Aufnahme der »Theory« . . . . . . . . . . . . . . . xv 2 Das Verhältnis zwischen den sechs Originalauflagen . . . . . xxiv 3 Das Verhältnis der »Theory« zum »Wealth of Nations« und die Grundprinzipien der Smithschen Ethik . . . . . . . . . xlii
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ADAM SMITH THEORIE DER ETHISCHEN GEFÜHLE
Vorwort des Verfassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 ERSTER TEIL
Über die Schicklichkeit oder sittliche Richtigkeit der Handlungen erster Abschnitt Von dem Gefühl für das sittlich Richtige . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Von der Sympathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Von dem Wohlgefallen, welches durch gegenseitige Sympathie erzeugt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Von der Art und Weise, wie wir über die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit der Gemütsbewegungen anderer Menschen je nach ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unseren eigenen urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fortsetzung desselben Gegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Über die liebenswerten und die achtunggebietenden Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Abschnitt Über die Grade der verschiedenen Affekte, die mit der Schicklichkeit vereinbar sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1 Über die Affekte, welche ihren Ursprung vom Körper nehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2 Über jene Affekte, die ihren Ursprung einer besonderen Richtung oder Beschaffenheit der Einbildungskraft verdanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3 Über die unsozialen Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4 Über die sozialen Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5 Über die egoistischen Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3. Abschnitt Über den Einfluß von Wohlergehen und Mißgeschick auf das Urteil der Menschen über die Schicklichkeit der Handlungen, und warum es in der einen Lage leichter ist, ihre Billigung zu erlangen, als in der anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1 Darüber, daß unsere Sympathie mit dem Leiden, obwohl sie meistens eine lebhaftere Empfindung ist als unsere Sympathie mit der Freude, doch gemeinhin weit weniger die Heftigkeit dessen erreicht, was die ursprünglich betroffene Person naturgemäß fühlt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2 Über den Ursprung des Ehrgeizes und über die Standesunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3 Über die Verfälschung unserer ethischen Gefühle, die aus diesem unserem Hang entsteht, die Reichen und Großen zu bewundern, dagegen Personen in ärmlichen und niedrigen Verhältnissen zu verachten oder hintanzusetzen . . . . . . . . . . . 93
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ZWEITER TEIL
Von Verdienst und Schuld oder von den Gegenständen der Belohnung und Bestrafung 1. Abschnitt Über das Gefühl für Verdienst und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 103 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1 Daß alles, was sich als schicklicher Gegenstand der Dankbarkeit darstellt, auch Belohnung zu verdienen scheint, und daß ebenso alles, was sich als schicklicher Gegenstand des Vergeltungsgefühles darstellt, Bestrafung zu verdienen scheint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2 Über die schicklichen Gegenstände der Dankbarkeit und des Vergeltungsgefühles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3 Daß man wenig Sympathie mit der Dankbarkeit desjenigen empfindet, der eine Wohltat empfängt, wenn man das Betragen dessen, der sie erweist, nicht billigen kann; und daß man umgekehrt, keinerlei Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl desjenigen empfindet, der eine Schädigung erleidet, sofern man die Motive der Person, die sie ihm zufügt, nicht mißbilligt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4 Zusammenfassende Wiederholung der vorhergehenden Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 5 Analyse des Gefühls für Verdienst und Schuld . . . . . . . . . . . 116
2. Abschnitt Über Gerechtigkeit und Wohltätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1 Ein Vergleich dieser beiden Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2
Über Rechtsgefühl, Gewissensbisse und das Bewußtsein des eigenen Verdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
3 Über den Nutzen dieser Einrichtung der Natur . . . . . . . . . . 137
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3. Abschnitt Über den Einfluß des Zufalls auf die Empfindungen der Menschen in Hinsicht der Verdienstlichkeit oder Tadelnswürdigkeit der Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1 Über die Ursachen dieses Einflusses des Zufalls . . . . . . . . . . 150 2 Über das Ausmaß dieses Einflusses des Zufalls . . . . . . . . . . . 155 3 Über die Endursache dieser Regelwidrigkeit der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
DRITTER TEIL
Über die Grundlage der Urteile, die wir über unsere eigenen Gefühle und unser eigenes Verhalten fällen, und über das Pflichtgefühl. 1 Über das Prinzip der Selbstbilligung und Selbstmißbilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2 Von dem Verlangen nach Lob und dem Verlangen nach Lobenswürdigkeit; und von der Furcht vor Tadel und der Furcht vor Tadelnswürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3 Über den Einfluß und die Autorität des Gewissens . . . . . . . 211 4 Über das Wesen des Selbstbetruges und über den Ursprung und den Nutzen allgemeiner Regeln . . . . . . . . . . . 248 5 Über den Einfluß und die Autorität allgemeiner Regeln der Sittlichkeit und darüber, daß diese Regeln mit Recht als Gesetze der Gottheit angesehen werden . . . . . . . . . . . . . . 257 6 In welchen Fällen das Pflichtgefühl allein Prinzip unseres Handelns sein, und in welchen Fällen es mit anderen Triebfedern zusammenwirken soll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
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VIERTER TEIL
Über den Einfluß der Nützlichkeit auf das Gefühl der Billigung 1 Über die Schönheit, welche allen Erzeugnissen der Kunst durch den Anschein der Nützlichkeit verliehen wird, der sich in ihnen ausdrückt, und über den ausgedehnten Einfluß dieser Art von Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2 Von der Schönheit, welche der Anschein der Nützlichkeit den Charakteren und Handlungen der Menschen verleiht, und inwiefern die Wahrnehmung dieser Schönheit als eines der ursprünglichen Prinzipien der Billigung betrachtet werden kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
FÜNFTER TEIL
Von dem Einfluß, welchen der Brauch und die Mode auf die Empfindungen der sittlichen Billigung und Mißbilligung üben. 1 Von dem Einfluß des Brauches und der Mode auf unsere Begriffe von Schönheit und Häßlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2 Über den Einfluß des Brauches und der Mode auf die ethischen Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
SECHSTER TEIL
Wen nennen wir tugendhaft? Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 1. Abschnitt Über den Charakter des Individuums, insofern er auf dessen eigene Glückseligkeit einwirkt, oder über die Klugheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
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Inhalt
2. Abschnitt Über den Charakter des Individuums, insoweit er auf die Glückseligkeit anderer einwirken kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1 Über die Rangordnung, in welcher die Individuen von der Natur unserer Obsorge und Aufmerksamkeit empfohlen wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 2 Über die Rangordnung, in welcher Gemeinschaften von der Natur unserer Wohltätigkeit empfohlen wurden . . . . . . 370 3 Über universelles Wohlwollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
3. Abschnitt Von der Selbstbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Schluß des sechsten Teiles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 SIEBENTER TEIL
Über einige Systeme der Moralphilosophie 1. Abschnitt Über die Fragen, welche in einer Theorie der ethischen Gefühle untersucht werden sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 2. Abschnitt Über die verschiedenen Darstellungen, die man von dem Wesen der Tugend gegeben hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 1 Über diejenigen Systeme, welche die Tugend in der Schicklichkeit bestehen lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Über diejenigen Systeme, welche die Tugend in der Klugheit bestehen lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Über jene Systeme, welche die Tugend im Wohlwollen bestehen lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Über Systeme, welche jede sittliche Bindung aufheben . . . .
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3. Abschnitt Über die verschiedenen Systeme, die in bezug auf das Prinzip der Billigung aufgestellt worden sind . . . . . . . . . . . . . . 515 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 1 Über jene Systeme, welche das Prinzip der Billigung aus der Selbstliebe ableiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 2 Über diejenigen Systeme, welche die Vernunft zum Prinzip der Billigung machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 3 Über jene Systeme, welche das Gefühl zum Prinzip der Billigung machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
4. Abschnitt Von der Art, in welcher verschiedene Schriftsteller die praktischen Regeln der Sittlichkeit dargestellt haben . . . . . . . 537
Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
Z U DI E SE R AUS G A BE
Die vorliegende Neuausgabe der Theorie der ethischen Gefühle von Adam Smith in der Übersetzung von Walther Eckstein bietet den deutschen Text unverändert nach der 1926 erstmalig in der »Philosophischen Bibliothek« vorgelegten und seither mehrfach nachgedruckten Studienausgabe in zwei Bänden. Als Ausgangstext für seine Übersetzung der Theory of Moral Sentiments wählte Eckstein nicht die Erstausgabe von 1759, sondern die stark erweiterte und überarbeitete »Auflage letzter Hand« von 1790, die auch allen anderen späteren Ausgaben und Übersetzungen des moralphilosophischen Hauptwerks von Adam Smith zugrundegelegt wurde. Das besondere Verdienst seiner Ausgabe dieser Schrift sah Eckstein – damals zu Recht – auch darin, »daß hier zum erstenmal der Versuch unternommen wurde, die sechs bei Smiths Lebzeiten erschienenen Auflagen [des Werks] untereinander zu vergleichen und die Abweichungen dieser Auflagen voneinander anzugeben«. Auf die neuerliche Wiedergabe dieses Vergleichs der sechs Auflagen von 1759 bis 1790, den Eckstein teils in umfänglichen Deskriptionen der Abweichungen und teils in konkreten Einzelanmerkungen zum deutschen Text mitgeteilt hatte, wurde in der vorliegenden Neuausgabe aus guten Gründen verzichtet, da mit der heute maßgeblichen Ausgabe der Werke in The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith seit 1976 eine bessere und genauere Dokumentation der Unterschiede der verschiedenen Auflagen zugänglich ist, die – anders als Ecksteins Anmerkungen zu seiner Übersetzung – die Abweichungen im originalen Wortlaut kenntlich macht.
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Zu dieser Ausgabe
Beibehalten wurden jedoch die Teile der Einleitung zur Ausgabe von 1926, in denen Eckstein zunächst die Zielsetzung des Werks herausstellt und sodann Art und Umfang der von Adam Smith vorgenommenen Änderungen am Corpus der Schrift in den sechs Auflagen von 1759 bis 1790 beschreibt und bewertet, sowie die von ihm gegebenen Sachanmerkungen zu den von Adam Smith zitierten bzw. herangezogenen Autoren und Quellen. Horst D. Brandt
EINLEITU NG
1. Entstehung und Aufnahme der »Theory« Die Theory of Moral Sentiments erschien zum erstenmal im Jahre 1759. Sieben Jahre früher war Adam Smith als Nachfolger Craigies zum Professor der Moralphilosophie an der Universität Glasgow ernannt worden, nachdem er ursprünglich als Professor der Logik (seit 1751) an dieser Universität gewirkt hatte. Als Professor der Moralphilosophie hatte Smith einen Vorlesungskurs über das gesamte Gebiet der Ethik zu halten, und dieser Kurs bildete die Grundlage von Smiths wissenschaftlichen Werken. Nach dem Bericht John Millars, eines Schülers von Smith (später Professor der Rechtswissenschaft in Glasgow), umfaßte dieser Vorlesungskurs vier Teile: Natürliche Theologie, Ethik im engeren Sinn, Rechtswissenschaft (vom historischen und, wie wir heute wohl sagen würden »soziologischen« Gesichtspunkt aus dargestellt) und schließlich Volkswirtschaftspolitik. Dieser letzte Teil des Kurses, von dem Millar sagt, er habe jene Maßnahmen des Staates behandelt, welche nicht auf der Gerechtigkeit, sondern auf der Zweckmäßigkeit beruhen, und welche dazu bestimmt sind, den Reichtum, die Macht und das Gedeihen des Staates zu fördern, bildete den Grundstock des 1776 veröffentlichten Werkes über das Wesen und die Ursachen des Wohlstandes der Nationen. Der zweite Teil des Kurses dagegen bestand, wie Millar berichtet, »hauptsächlich aus jenen Lehren, die Smith dann in der Theory of Moral Sentiments publizierte«. Smith beabsichtigte, wie er am Schluß der Theory erwähnt, auch den dritten Teil in Buchform der Öffentlichkeit zu übergeben, doch ist er zur Ausführung dieses Vorhabens nicht mehr gekommen. Eine Nachschrift des
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Walther Eckstein
3. und 4. Teiles der Vorlesungen (verfaßt von einem Studenten i. J. 1763) wurde 1896 von Edwin Cannan veröffentlicht.1 Es scheint, daß Smith in die Theory den größten Teil seiner Ethikvorlesungen (d. h. also des 2. Teils seines Vorlesungskurses) verarbeitet hat, denn Stewart berichtet (Account, S. 42), daß nach der Veröffentlichung des Buches der Abschnitt über Ethik einen bedeutend kleineren Raum innerhalb des Gesamtkurses in Anspruch nahm als früher. Ja, es ist möglich, daß Smith auch in der ganzen Anlage des Buches im wesentlichen dem Gedankengang der Vorlesungen gefolgt ist. Wenigstens würde sich daraus die wenig systematische Anordnung des Stoffes, das ziemlich häufige Vorkommen von Wiederholungen und selbst kleinen Widersprüchen – Fehler, welche von den Kritikern des Werkes immer wieder hervorgehoben werden – ebenso zwanglos erklären, wie auf der anderen Seite die große Lebendigkeit der Darstellung, die Fülle von Beispielen und Zitaten, die in ihrer Anschaulichkeit und Mannigfaltigkeit einen der Hauptvorzüge des Buches ausmachen. Der Titel des Buches: The Theory of Moral Sentiments ist in doppelter Hinsicht interessant. Einerseits scheint sich in der Wahl dieses Titels eine Reminiszenz an das Buch eines französischen Autors auszusprechen, das Smith gekannt und geschätzt hat. Es ist dies die Schrift Théorie des sentimens agréables 2 von Louis Jean L’Evesque de Pouilly, die Smith in seinem in der Edin»Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms.« Edited with an introduction and notes by Edwin Cannan. Oxford 1896. 2 Der volle Titel des Buches lautete: »Théorie des sentimens agréables, où après avoir indiqué les rêgles que la Nature suit dans la distribution du plaisir on établit les principes de la Théologie naturelle et ceux de la Philosophie morale.« Die mir vorliegende Ausgabe trägt die Jahreszahl 1749. Die Schrift war ursprünglich in Form eines Briefes an Lord Bolingbroke ohne Wissen des Autors 1736 in »Recueil de divers Ecrits sur l’Amour et l’Amitié« veröffentlicht und 1743 nachgedruckt worden, und zwar unter dem Titel »Reflexions sur les sentimens agréables et sur le plaisir, attaché à la vertue«. 1
Einleitung
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burgh Review erschienenen Artikel »A letter to the authors of the Edinburgh Review« günstig besprochen hatte.3 Der Titel ist aber andererseits auch an sich bedeutungsvoll. Er bringt klar zum Ausdruck, daß das Werk eine deskriptive Darstellung der ethischen Gefühle und zugleich den Versuch einer Zurückführung dieser Phänomene auf gewisse Prinzipien enthalten soll. Das liegt schon in dem Ausdruck »Theorie«, welcher nach dem damaligen Sprachgebrauch die Beschreibung der Tatsachen und deren Zurückführung auf allgemeine Prinzipien ausdrückt. Smith hat übrigens seine Auffassung von der deskriptiv-erklärenden Aufgabe der Ethik gelegentlich in seinem nationalökonomischen Werk ausgesprochen. Er sagt hier (Wealth, Bk. V., Ch. 1, Pt. 3, Art. 2), in der antiken Moralphilosophie seien die Grundsätze des täglichen Lebens in methodischer Weise geordnet und durch einige gemeinsame Prinzipien in Verbindung gesetzt worden, in gleicher Weise, wie man versucht hatte, die Naturerscheinungen zu ordnen und miteinander in Verbindung zu bringen. Die Wissenschaft, welche darauf ausgehe, diese verbindenden Prinzipien zu erforschen und darzustellen, sei die eigentlich so genannte Moralphilosophie. – Dieser deskriptive und zugleich erklärende Charakter seines Werkes kommt deutlich auch in dem Untertitel zum Ausdruck, den Smith dem Buch beigegeben hat. Es soll eine Analyse der Prinzipien gegeben werden, mittels derer die Menschen Urteile über Verhalten und Charakter der anderen, sowie später auch über ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter fällen. Es ist dabei zu beachten, daß Smith unter Prinzipien nicht nur Grundsätze oder Grundlagen, sondern – einem im 18. Jahrhundert auch in der deutschen Literatur allgemein verbreiteten Sprachgebrauch4 entsprechend – auch Grundkräfte, Enthalten in »The Edinburgh Review, from July 1755 to January 1756«. Vgl. Ausdrücke wie »Magnetisches Prinzip«, »Geistiges Prinzip«, »Prinzipien der menschlichen Natur« usw. Im Texte der »Theory« wird wiederholt die Sympathie als ein Prinzip bezeichnet. 3
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Grundtriebe versteht, so daß es nicht ferne liegt, bei dem Wort »Prinzipien« im Untertitel in erster Linie an die Sympathie zu denken, deren grundlegende Bedeutung für das Zustandekommen ethischer Wertungen das Buch eben darlegen will. Daß die Aufgabe der Theory eine deskriptive ist, hat Smith übrigens auch an einer, bisher – so viel ich sehe – ganz unbeachtet gebliebenen Stelle des Werkes selbst ausdrücklich ausgesprochen. In einer längeren Anmerkung (II, 1, 5), in der sich Smith zu rechtfertigen sucht, weshalb er dem resentment (d. h. Vergeltungsgefühl) eine so große Rolle im menschlichen Gefühlsleben zuschreibt, sagt er, man müsse doch bedenken, »daß die vorliegende Untersuchung nicht eine Frage des Sollens betrifft, wenn ich so sagen darf, sondern eine Frage nach Tatsachen«. Diese Erklärung läßt manche Ausführungen der Theory in einem anderen Licht erscheinen, als sie viele der bisherigen Kritiker gesehen haben. So manche abfällige Kritik der Theory wäre wohl nie ausgesprochen worden, wenn man sich immer vor Augen gehalten hätte, daß Smith nicht sagen will, was sein soll, sondern daß er stets – oder doch wenigstens in erster Linie – erklären und beschreiben will, was tatsächlich ist. Die Aufnahme, welche die Theory of Moral Sentiments gleich bei ihrem ersten Erscheinen fand, war überaus günstig. Wir besitzen einen Brief David Humes,5 in welchem er Smith für die Übersendung eines Exemplars des neu erschienenen Werkes dankt und zugleich in humorvoller Weise über den großen Erfolg des Buches berichtet: die Nachfrage nach dem Werk sei ungemein rege, drei Bischöfe hätten an einem Tage Exemplare davon gekauft, der Herzog von Argyle und Lord Lyttelton, denen Hume das Buch geschenkt habe, seien voll des Lobes über seinen Inhalt, Smiths Freund James Oswald habe erklärt, er könne Der Brief (vom 12. April 1759) ist abgedruckt in Stewarts »Account«, S. 38, ferner bei Burton, »Life and Correspondence of David Hume«, II, S. 55. 5
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nicht sagen, ob er mehr Belehrung oder mehr Unterhaltung aus dem Werke gewonnen habe, der Verleger Millar verkünde triumphierend, daß in wenigen Wochen zwei Drittel der Auflage verkauft worden seien, und Charles Townshend (ein bekannter Staatsmann, später Staatskanzler) sei von der Lektüre so entzückt, daß er seinen Stiefsohn, den Herzog von Buccleugh, der Obhut Smiths anvertrauen möchte – ein Vorhaben, das später tatsächlich zur Ausführung gelangte. – Edmund Burke, dessen kurz vorher erschienene Schrift A philosophical inquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful seinen Namen in der gelehrten Welt bekannt gemacht hatte, veröffentlichte eine überaus günstige Besprechung im Annual Register, in der er sich in Ausdrücken höchsten Lobes über die Theory erging, wobei er insbesondere die zahlreichen glücklich gewählten Beispiele hervorhob, mit denen Smith seine Ausführungen belegt und durch die er eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe bewiesen habe. Burke meint, Smiths Darstellungsweise sei eher einem Gemälde als einer Beschreibung zu vergleichen. Eine andere, nicht minder günstige Rezension des Buches erschien im Juli 1759 in der von Ralph Griffiths herausgegebenen Monthly Review. 6 Die Rezension, deren Verfasser nicht genannt ist, lobt die klare und eindrucksvolle Sprache des Werks, die schönen und treffenden Erläuterungen und Beispiele, die es enthält, und seine lebendige und unterhaltende Darstellungsweise; der Referent nennt Smith einen guten und scharfen Beobachter der menschlichen Natur. Die Besprechung enthält eine ausführliche Inhaltsangabe der Theory und schließt mit den folgenden, charakteristischen Worten: »Das ganze Werk zeigt ein Maß von Feinfühligkeit und Verstandesschärfe, wie man es selten findet; und was noch beThe Monthly Review, or Literary Journal by Several Hands, Bd. XXI, S. 1–18, London 1759. In dem weiter unten (S. XXIV f.) erwähnten Brief an Strahan vom 4. April 1760 läßt Smith dem Herausgeber Griffiths für diese Besprechung danken. 6
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sonders erwähnt zu werden verdient: in dem ganzen Buch wird die strengste Rücksicht auf die Prinzipien der Religion gewahrt, so daß ein ernster Leser nichts finden wird, woran er mit gutem Grund Anstoß nehmen könnte. Mit einem Wort – ohne Parteilichkeit gegenüber dem Autor – er ist einer der elegantesten und anziehendsten Schriftsteller auf dem Gebiete der Ethik, die wir kennen.« Auch in Frankreich fand die Theory, wie es scheint, bald nach ihrer Veröffentlichung eine günstige Aufnahme.7 Im Jahre 1764 erschien die erste französische Übersetzung unter dem Titel »Métaphysique de l’Ame«. Der Verfasser dieser (anonym erschienenen) Übersetzung, Marc-Antoine Eidous, gibt im Vorwort der Hoffnung Ausdruck, daß das Werk, das in England den größten Erfolg gehabt habe, auch in Frankreich freundlich werde aufgenommen werden. Die Comtesse de Boufflers-Rouvel erklärte 1770 den Söhnen eines Freundes von Smith gegenüber, die Theory sei in Frankreich in Mode gekommen und sie selbst hege die Absicht, das Buch nochmals ins Französische zu übertragen. Den gleichen Plan hatte der junge Herzog von La Rochefoucauld, der, wie er Smith 1778 mitteilte, bereits den ersten Teil der Theory übersetzt hatte, als ihm die Übersetzung des Abbé Blavet zu Augen kam, was ihn dazu bestimmte, von seinem Vorhaben AbEin zeitgenössischer Schriftsteller äußert sich allerdings skeptischer: »On a traduit depuis quelque temps la Théorie des Sentimens Moraux … Le traducteur ou le libraire, pour lui donner un titre plus piquant, l’a nommé spirituellement ›Métaphysique de l’Ame‹; cet ouvrage a beaucoup de reputation en Angleterre, et n’a eu aucun succès à Paris. Cela ne décide rien contre son mérite.« Als Grund für diesen Mißerfolg wird allerdings die Mangelhaftigkeit der erwähnten Übersetzung angegeben, wie es denn überhaupt schwer, ja beinahe unmöglich sei, Werke »metaphysischen« Inhalts in eine fremde Sprache zu übersetzen. (Correspondance littéraire, philosophique et critique adressée à un souverain d’Allemagne depuis 1753 jusqu’en 1769 par le Baron de Grimm et par Diderot. Première partie, tome quatrième p. 291 f.) 7
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stand zu nehmen.8 Blavets Übersetzung, die nach der 3. Auflage des Originals angefertigt war, erschien 1774. Der Übersetzer, der in seiner Widmung das Buch ein »unsterbliches Werk« und »un chef d’œuvre de raisonnement et de sentiment« nennt, erklärt in der Vorrede, er kenne kein Werk, das ihm ein stärkeres Verlangen, besser zu werden, eingeflößt habe, als dieses. Eine dritte Übertragung des Buches veröffentlichte im Jahre 1798 Mme. de Grouchy, die Witwe des bekannten Philosophen Condorcet. – Schon diese große Zahl von Übersetzungen und Übersetzungsversuchen beweist das Interesse, welches das gebildete Frankreich dem Werke Smiths entgegenbrachte. In Deutschland scheint die Theory gleichfalls sehr bald bekannt geworden zu sein. Lessing erwähnt sie 1763 in seinem Laokoon und zitiert ausdrücklich (in eigener Übersetzung) eine Stelle aus der 2. Auflage vom Jahre 1761.9 Chr. G. Rautenberg veröffentlicht 1770 seine, nach der 3. Auflage hergestellte Übersetzung des Werkes. Christian Garve zitiert das Buch in seinen Vermischten Schriften und bespricht es ausführlich in seiner »Geschichte der Ethik«, die die Einleitung zu seiner Übersetzung der Aristotelischen Ethik bildet (erschienen 1798). Garve erklärt hier das Prinzip der Moral, welches Smith aufstellt, zwar für ungereimt, nennt aber die Erklärungen und Anwendungen (dieses Prinzips) überaus lehrreich und bekennt, »mehr daraus gelernt zu haben, als aus den Werken vieler anderer, in ihren Prinzipien untadelLa Rochefoucauld nennt das Buch eines der besten in englischer Sprache verfaßten Werke. 9 Vgl. unten Anm. 2 (S. 41). Auch Herder zitiert wiederholt Smith. So (1769) in den »Kritischen Wäldern« I, 5, an welcher Stelle er gegen die Ausführungen Lessings polemisiert (Ausg. Suphan III, S. 39 ff.), ferner in der Vorrede zu Börmels Übersetzung der Klagegesänge des Jeremias (XII, 332), an dieser Stelle sogar ausdrücklich die »Theorie der moralischen Empfindungen« (d. i. der Titel der Rautenbergschen Übersetzung), so daß es wenigstens wahrscheinlich ist, daß auch er das Buch (wohl in Rautenbergs Übertragung) gekannt hat. 8
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hafter und in ihren Beweisen weit strengerer Moralisten«. 1791 erschien die Übersetzung Ludwig Theobul Kosegartens, welche nach der 4. oder 5. Auflage angefertigt zu sein scheint. Ein 1795 erschienener Nachtragsband enthält einige Zusätze der 6. Auflage in deutscher Übersetzung. Kosegarten äußert sich in seiner Vorrede zwar lobend über Smiths Werk,10 verwirft aber grundsätzlich die Ethik Smiths, die er vom Boden der Kantischen Philosophie aus kritisiert. – Kant scheint übrigens selbst die Theory gekannt und geschätzt zu haben. Kants ethische Schriften weisen zweifellos zahlreiche Berührungen mit Smiths Werk auf, wenn man auch in Hinsicht mancher Parallelen, die Oncken in seinem Werk über Smith und Kant anführt, gewiß skeptisch sein darf. Daß Kant den Wealth of Nations gelesen hat, geht nicht nur aus den ausdrücklichen Zitaten dieses Werkes (Met. Anf. der Rechtslehre VI, 289 Ak. Ausg. und Anthropologie VII, 209 Ak. Ausg.), sondern auch aus gelegentlichen Anspielungen auf Smithsche Theorien (Arbeitsteilung, Interessenharmonie usw.) wie etwa in den »Ideen zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« ziemlich klar hervor. Wir besitzen aber auch ein überaus wertvolles Zeugnis dafür, daß Kant Smiths ethisches Hauptwerk gekannt und eine hohe Meinung von dessen Wert gehegt hat. In einem Brief von Markus Herz an Kant (Ak. Ausg. X, 126) heißt es, daß der Engländer Smith Kants Liebling sei.11 Da der Brief im Jahre 1771, also zu einer Zeit geschrieben ist, als der Wealth of Nations noch nicht publiziert war, kann sich das günstige Urteil Kants nur auf die Theory beziehen, deren deutsche Übersetzung (von Rautenberg) ein Jahr früher erschienen war. Auch der Hinweis Erwähnenswert ist, daß Kosegarten im Vorwort darüber klagt, wie wenige unter den zeitgenössischen Geschichtsschreibern der Ethik der »Theory« Erwähnung tun. 11 Die Stelle lautet: »Ueber den Engländer Smith, der, wie Herr Friedländer mir sagt, Ihr Liebling ist, habe ich verschiedene Remarken zu machen. Auch mich hat dieser Mann ungemein belustigt, aber gleichwol setze ich ihn dem ersten Teil von Home Kritik bey weiten nach.« 10
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des Briefschreibers auf »Home, Kritik« – gemeint sind offenbar Homes 1762 veröffentlichte Elements of criticism – deutet darauf hin, daß die Theory gemeint sein muß.12 Als Beweis dafür, daß Kant von der Theory einen tiefen Eindruck empfangen hat, kann aber ferner auch eine Nachlaßnotiz Kants gelten. In den Reflexionen zur Anthropologie (Ak. Ausg. XV, I, 334) sind an einer Stelle, wo davon die Rede ist, daß der Gründliche jeden Gegenstand »nicht bloß aus seinem, sondern aus Gemeinschaftlichem Gesichtspunkt« betrachtet, in Klammern die Worte beigefügt: »der Unpartheyische Zuschauer.« Es ist kaum möglich, diesen Zusatz anders, denn als ein Zitat aus der Theory aufzufassen.13 Wenn wir die hier angeführten Belege für die Aufnahme der Theory of moral sentiments überblicken und sehen, welches Interesse dieses Werk bei Smiths Zeitgenossen nicht nur in dessen engerem Vaterlande, sondern auch im deutschen und französischen Kulturgebiet bald nach seinem Erscheinen hervorrief, so werden wir sagen müssen, daß der Senat der Universität Glasgow im Recht war, als er in seinem Brief vom 1. März 1764, in dem er Smiths Verzicht auf das Lehramt bedauernd zur Kenntnis nahm, von Adam Smith behauptete: »his elegant and ingenious Theory of Moral Sentiments has recommended him to the esteem of men of taste and literature throughout Europe.«14
Auch die Herausgeber von Kants Briefen in der Akademieausgabe beziehen Markus’ Äußerung auf die »Theory«. Vgl. Ak. Ausgabe XIII, 54 (Anm.). 13 August Oncken erklärt in seiner Monographie »Adam Smith und Immanuel Kant«, Leipzig 1877, S. 97, es sei nicht zu entscheiden, ob Kant die »Theory« gekannt habe. 14 John Rae, »Life of Adam Smith«, London 1895, S. 173. 12
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2. Das Verhältnis zwischen den sechs Originalauflagen Bereits einige Monate nach der ersten Veröffentlichung der Theory scheint die Auflage so weit erschöpft gewesen zu sein, daß sich die Veranstaltung einer Neuauflage als nötig erwies. Darüber belehrt uns ein Brief Humes vom 28. Juli 1759, in dem er das Erscheinen einer 2. Auflage als unmittelbar bevorstehend ansieht und Smith auf einige Widersprüche seines Buches aufmerksam macht, die in der neuen Ausgabe zu beseitigen wären. Als Antwort auf Humes Einwände erschien in der 2. Auflage eine längere Anmerkung, in der Smith jedoch Humes Namen nicht erwähnt.15 Für die Neuauflage bereitete Smith auch noch eine Reihe anderer Zusätze und Verbesserungen vor, deren endgültige Redaktion er, wie es scheint, im Jahre 1760 seinem Verleger übergab. Der Brief (vom 4. April 1760), welchen Smith aus diesem Anlaß an Strahan, den Kompagnon seines Verlegers, schrieb, ist uns erhalten und möge hier, soweit er für den Gegenstand wichtig ist, seine Stelle finden, zumal Jentsch in seiner Smithbiographie, der einzigen ausführlicheren deutschen Lebensbeschreibung, den Brief so unrichtig wiedergibt, daß sein Inhalt geradezu ins Gegenteil verkehrt wird.16 Der Brief lautet in deutscher Übersetzung: »Lieber Strahan! Ich sandte vor vier oder fünf Posttagen die gleichen Änderungen, welche ich früher an Sie gesendet hatte, an Herrn Millar, und fügte eine ganze Reihe von Verbesserungen und Richtigstellungen hinzu, die mir seitdem eingefallen sind. Wenn etwa noch Druckfehler der vorigen Auflage übrig geblieben sind, die mir entgangen wären, so hoffe ich, daß Sie dieselben richtigstellen werden. Im übrigen möchte ich jedoch wünschen, daß Siehe Anm. 11 (S. 70). K. Jentsch, »Adam Smith, Leben und Lehre«, Berlin 1905, sagt (S. 34) , Smith gebe in dem Brief dem Verleger das Recht, Verbesserungen vorzunehmen; dieser möge Änderungen, die er für nötig halte, ohne Smiths Mitwirkung ausführen. 15
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der Druck ganz genau nach der Kopie vorgenommen werde, welche ich Ihnen übergeben habe. Ein spanisches Sprichwort sagt: »Besser ein Hahnrei sein, ohne es zu wissen, als kein Hahnrei zu sein und sich dafür zu halten.« Ebenso, sage ich, ist es zuweilen besser, ein Schriftsteller ist im Unrecht und glaubt, er sei im Recht, als er ist im Recht und glaubt, daß er im Unrecht sei, oder er argwöhnte auch nur, unrecht zu haben. Wenn ich Sie ersuche, mein Buch durchzulesen und alle Verbesserungen, von denen Sie wünschen, daß ich sie vornehme, auf einem Bogen Papier anzumerken und diesen an mich zu senden, so würde Ihnen das wohl, wie ich fürchte, zu viel Mühe bereiten. Wenn Sie sich jedoch dazu entschließen wollten, sich dieser Mühe zu unterziehen, so würden Sie mich damit sehr verpflichten; ich weiß recht wohl, wie sehr mich dies fördern müßte, und ich würde mir dabei doch das kostbare Recht des eigenen Urteils wahren, um dessentwillen unsere Vorfahren den Papst und den Kronprätendenten davongejagt haben. Ich glaube gerne, daß Sie weit unfehlbarer sind als der Papst, aber da ich Protestant bin, erlaubt es mir mein Gewissen nicht, mich einer anderen Autorität zu unterwerfen als der (heiligen) Schrift.« Die neue Auflage erschien 1761 und enthielt eine Reihe von Zusätzen und Änderungen. Zum Teil sind es unbedeutende Verbesserungen, die nur den Zweck haben, stilistische Unebenheiten auszugleichen oder einzelne Stellen klarer zu formulieren oder stärker zu betonen. Von größerer Bedeutung ist die bereits erwähnte Erwiderung an Hume, gegen dessen Einwände Smith seine früheren Ausführungen in Schutz nimmt. Wenige Jahre später, 1767, erschien die dritte Auflage der Theory. Sie enthielt bloß geringe Abweichungen gegenüber der vorhergehenden Auflage. Eine Änderung (II, 2, 3) scheint bloß vorgenommen worden zu sein, um eine Stelle, die den Theologen anstößig sein mochte, zu verbessern, die übrigen Korrekturen betreffen bloß stilistische oder orthographische Dinge. Daß Smith
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die Druckbogen selbst durchgesehen hat, geht jedoch nicht bloß aus diesen, immerhin geringfügigen Änderungen, sondern auch aus einem Briefe Smiths hervor. Der Brief trägt kein anderes Datum als »Freitag«, seine Abfassung wird aber von Rae deshalb in den Winter 1766/67 verlegt, weil Smith zu dieser Zeit in London war und damals am ehesten die nähere Orts- und Zeitangabe in dem Brief an den gleichfalls in London wohnhaften Verleger weglassen konnte. Für diese Abfassung des Briefes unmittelbar vor dem Erscheinen der 3. Auflage spricht aber auch ein anderer Umstand. In dem Brief spricht Smith davon, daß die »Dissertation« am Schlusse des Buches anzufügen sei; diese Bemerkung konnte nur vor der Veröffentlichung der dritten Auflage einen Sinn haben, da in dieser Ausgabe die Abhandlung zum erstenmal mitgedruckt wurde.17 Der Brief hat folgenden Wortlaut; »Mein lieber Strahan! Ich begebe mich heute nachmittags aufs Land und es ist darum nicht nötig, daß Sie mir weitere Korrekturbogen senden, bis ich zurückkehre. Die »Dissertation on the Origin of Languages« soll am Schlusse der »Theory« ababgedruckt werden. In dem gedruckten Exemplar desselben finden sich einige Druckfehler, die ich sehr gerne korrigiert hätte, ich habe aber keine Gelegenheit dazu, da ich kein Exemplar des Buches bei mir habe. Sie sind übrigens nicht sehr wichtig. Auf dem Titel der »Theory« und der »Dissertation« nennen sie mich bloß Adam Smith ohne Zusatz vor oder nach dem Namen !18 Adam Smith.« Daß Smith demnach auch die 3. Auflage vor dem Erscheinen einer Durchsicht unterzogen und doch größere Änderungen unterlassen hat, erscheint mir deshalb bemerkenswert, weil in die Vgl. den Brief bei Rae, a. a. O., S. 234 f. Rae sagt auch hier wieder, die Dissertation sei bereits in der 2. Auflage erschienen. Das ist unrichtig, ließe aber sogar die erwähnte Bemerkung in Smiths Brief unverständlich erscheinen. 18 Das Titelblatt der 3. Auflage enthält zwar nicht mehr die Worte: »Professor of Moral Philosophy in the University of Glasgow«, wohl aber den Titel: »LL. D.«. 17
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Zeit zwischen der Veröffentlichung der 3. und 4. Auflage Smiths Aufenthalt in Frankreich fällt (Februar 1764 bis Oktober 1766), der nach der Behauptung einiger neuerer Nationalökonomen eine weitgehende Änderung in Smiths Überzeugungen zur Folge gehabt haben soll.19 Wäre dies richtig, so müßte man doch wohl Spuren eines solchen Gesinnungswandels in der 3. Auflage der Theory finden können, die unmittelbar nach Smiths Rückkehr aus Frankreich publiziert wurde. Auch die 4. Auflage, die 1774 veröffentlicht wurde, scheint von Smith durchgesehen worden zu sein, da er gerade anfangs 1774 in London war und die Auflage einige kleine Verbesserungen aufweist, die aber keine sachlichen Änderungen bedeuten. Diese Auflage enthielt auch zum erstenmal den ausführlichen Untertitel, der auf dem Titelblatt unserer Übersetzung deutsch wiedergegeben wurde. Die 5. Auflage (1781) war dagegen ein vollkommen unveränderter Abdruck der 4. Einer gründlichen Umarbeitung unterzog Smith das Werk im Jahre 1789. Nach dem Bericht des ältesten Biographen, Dugald Stewart, sandte Smith die Zusätze, die er für die neue Auflage verfaßt hatte, bereits am Anfang des seinem Tode vorangegangenen Winters (d. h. also im letzten Viertel des Jahres 1789) an den Verleger, so daß er – Smith starb am 17. Juli 1790 – die Veröffentlichung des Werkes noch erlebte. Der Verleger hatte erst die Absicht, die Zusätze, welche Smith der neuen Auflage beigeben wollte, in einem separaten Band herauszugeben, damit sie den Besitzern der älteren Auflagen nachgeliefert werden könnten. Adam Smith erhob jedoch gegen dieses Vorhaben Einspruch, da ein solcher Nachtrag mit dem Wesen dieses Buches unvereinbar sei (die Zusätze der dritten Auflage des Wealth of Nations 1782 waren allerdings auch separat in einem Nachtrag veröffentlicht worden). Es ist uns ein Brief Dugald 19
Siehe unten S. XL ff.
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Stewarts vom 6. Mai 1790 erhalten, in dem er Smith berichtet, er habe auf der Durchreise durch London mit den Verlegern Cadell und Strahan gesprochen, die ihm die schriftliche Versicherung gegeben hätten, daß seit der 5. Auflage der Theory, die 1781 gedruckt worden war, keine Ausgabe erschienen sei (es scheint, daß Smith auf Grund einer Zeitungsnotiz das Gegenteil vermutet hatte) und er habe ihnen zugleich Smiths Entschluß mitgeteilt, in eine abgesonderte Publikation der Zusätze nicht einzuwilligen. In der Vorrede der 6. Auflage sagt Smith, er sei bisher verhindert gewesen, das Werk einer so sorgfältigen Revision zu unterziehen, wie er es schon lange gerne getan hätte. Diese Bemerkung scheint bei den Biographen Smiths den bereits früher erwähnten Irrtum veranlaßt zu haben, daß Smith überhaupt keine Veränderungen in den früheren Auflagen vorgenommen habe.20 Was Smith hier aber sagen wollte, war wohl nur, daß er in den dreißig Jahren seit der ersten Veröffentlichung des Werks keine gründliche Revision desselben vorgenommen habe und daß er schon lange die Absicht hatte, auf Grund der reichen Lebenserfahrung, die der Sechsunddreißigjährige ja noch nicht besitzen konnte, sein Werk nun im hohen Alter noch einmal durchzusehen und aus dem Schatz seiner Erfahrungen Beispiele aus dem Leben und der Geschichte beizubringen (das meint Smith wohl mit dem Worte »illustrations«, das ich mit »Erläuterungen« wiedergegeben habe), um dadurch jene Theorien zu stützen, die er als junger Mann in diesem Werke aufgestellt, aber wie ihm nun vielleicht scheinen mochte, nicht genügend durch Tatsachen erhärtet hatte. Die neue Auflage weist nebst einer Reihe sehr umfangreicher Zusätze und Änderungen auch eine Anzahl von Weglassungen Vgl. etwa Rae, a. a. O., S. 425: »A Revision of the Theory of Moral Sentiments was a task, Smith had long had in contemplation. The book had been thirty years before the world, and had passed through five editions, but it had never undergone any revision or alteration whatever.« 20
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auf; trotzdem ist der Umfang des Werkes gegenüber der 5. Auflage beträchtlich angewachsen. Die Zusätze der neuen Auflage zeigen deutlich die reicheren Erfahrungen des Alters und sind auch stilistisch so abgerundet, daß Smiths Biograph John Rae (S. 425) sagen konnte, Smith habe in stilistischer Hinsicht nie etwas Besseres geschrieben. Freilich sind die Zusätze von einer gewissen Breite und Weitschweifigkeit nicht frei zu sprechen, wenn auch Hasbachs Behauptung, das (neu hinzugekommene) 6. Buch zeige die nachlassende Spannkraft des Geistes und enthalte »neben einigem Ausgezeichneten viel greisenhafte, rührselige Gesprächigkeit« gewiß zu weit geht. Immerhin ist zuzugeben, daß sich in den neu hinzugekommenen Partien mancherlei Betrachtungen finden, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gegenstand des Werkes stehen. So etwa die pädagogischen Ausführungen (VI, 2, 1) über die Vorteile einer Erziehung im Elternhause und die ausführlichen soziologischen Betrachtungen (wie wir heute etwa sagen würden) über die verschiedenen Gemeinschaftsformen wie Familie, Clan, Nachbarschaft und Geschäftsverbindung (ebd.), Staat und internationale Beziehungen (VI, 2, 2), und über das Verhältnis der Stände zum Staatsganzen (ebd.). Interessant scheint mir hierbei, daß Smith vielfach ganz modern anmutende Ansichten vertritt, so wenn er die Zuneigung zwischen Verwandten mehr auf die sozialen Verhältnisse als auf physische Bande (die angebliche »Stimme des Blutes«) zurückführt, oder wenn er bei der Charakterähnlichkeit zwischen Verwandten die große Rolle der Nachahmung hervorhebt. In diese Gruppe von Zusätzen gehören auch die ziemlich umfangreichen Ausführungen (VII, 2, 1) über den Selbstmord und dessen Verbreitung im Altertum (dargestellt im Anschluß an die stoische Ethik), die wohl als Antwort auf Humes Schrift über den Selbstmord anzusehen sind (s. u. Anm. 125 zu S. 468), ferner die breit angelegten Betrachtungen im VI. Buch über verschiedene Charaktertypen (über den Klugen, Weisen,
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Gerechten, Stolzen, Eitlen usw.), die in ihrer Lebendigkeit beinahe an die »Charaktere« des Theophrast oder die ähnlichen Werke seiner modernen Nachahmer erinnern. Viele dieser neu aufgenommenen Abschnitte zeigen, wie bereits erwähnt, die Erfahrungsfülle des Alters. So die Ausführungen in I, 3, 3 über die maßlose Verehrung, die man den Reichen und Großen entgegenbringt und die es diesen ermöglicht, die Mode der Allgemeinheit zu bestimmen und sogar ihre Laster der Menge nachahmenswert erscheinen zu lassen; ferner die Bemerkungen über die an den Höfen herrschenden Zustände, wo Schmeichelei und Intrige mehr gelten als Tüchtigkeit (I, 3, 3 und III, 2), die Erörterungen über den Einfluß des Urteils des Publikums auch auf geistig hochstehende Personen und die mit vielen Beispielen belegte Behauptung (die uns doch vielleicht etwas vorschnell anmutet), daß Mathematiker und Naturwissenschaftler in der Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung den schöngeistigen Schriftstellern überlegen seien (III, 2). Hierher gehört die Schätzung der Klugheit überhaupt (VI, 1) und die Bemerkung, es sei auch für den Weisen richtig, den Tadel überall, wo es möglich ist, zu meiden (III, 2) oder die Erwägungen über die Leichtgläubigkeit der Menschen (VII, 4). Erfahrungen aus der französischen Revolution scheinen den politischen Erörterungen im sechsten Buch (VI, 2, 2) zugrunde zu liegen, in denen sich Smith gegen überstürzte Reformen ausspricht und gegen das, was er den »spirit of system«, den Parteidoktrinarismus, nennt, der überall sein Programm durchsetzen wolle, koste es was immer, und der auch den besonnenen Gemeingeist der Gutgesinnten mit sich reißt. In diesen Stellen scheint sich mir eine ausgesprochen konservative Einstellung auszusprechen (Smith polemisiert hier geradezu gegen den »Neuerungsgeist« und betont die Notwendigkeit, im politischen Leben Kompromisse zu schließen), die für Smiths spätere Lebensanschauung geradezu als charakteristisch gelten kann. Von diesem Gesichtspunkt aus
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ist es aufzufassen, wenn Smith in einem der Zusätze der Meinung Ausdruck gibt, gerade darin, daß die Masse für die Reichen und Großen eine fast abgöttische Verehrung hegt, zeige sich die wohlwollende Weisheit der Natur, denn gerade diese Bewunderung sei notwendig, um die Standesunterschiede und Frieden und Ordnung in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten (VI, 2, 1), oder wenn er an einer anderen Stelle (VI, 2, 2) erklärt, gerade das Festhalten an den Interessen des eigenen Standes wirke dem Neuerungsgeist entgegen, verhindere voreilige Änderungen des Regierungssystems und trage so zur Stabilität der Staatsverfassung bei. An dieser zuletzt erwähnten Stelle spricht Smith in einer Weise von der Widersetzlichkeit gegen die Staatsregierung, daß man ihn nach dieser Äußerung geradezu für einen »Tory« halten möchte, wüßten wir nicht, wie Smith zeitlebens auf Seite der »Whigs« stand, wiederholt gegen jede Erweiterung der Kronrechte Stellung nahm21 und in der Theory selbst einmal offenbar die Rebellion verteidigt, indem er erklärt, man nenne eben Rebellen diejenigen, die bei gewaltsamen Umstürzen in der Minderheit geblieben sind. Dennoch bleibt die hier in Frage stehende Stelle merkwürdig genug. Smith erklärt hier, daß ein besonnener, von wahrhaftem Patriotismus erfüllter Mann aufs gewissenhafteste das Prinzip beobachten wird, das Cicero mit Recht als den »göttlichen« Grundsatz Platons bezeichnet: »niemals gegen sein Vaterland Gewalt zu gebrauchen, so wenig wie gegen seine Eltern«. Nun findet sich eine Stelle in den Lectures (S. 11), wo Smith eben diesen Grundsatz als Devise der Tories bezeichnet. Es heißt hier, für die Whigs sei das Prinzip der Nützlichkeit, für die Tories das der Autorität ausschlaggebend. Nach Ansicht der letzteren sei es ebenso »ein Verbrechen, etwas gegen die Regierung (oder den Staat) zu unternehmen, wie es für ein Kind ein Verbrechen sei, sich gegen seine Eltern aufzulehnen«. Während aber Smith 21
Vgl. Rae, a. a. O., S. 163, 379 u. ö.
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in seinen Vorlesungen diese Ansicht offenbar ablehnte (er erklärt nämlich, »ein friedfertiges, nachgiebiges Gemüt sei gewöhnlich für zahme (!) Unterwerfung unter die Herrschenden«) scheint er an der hier erwähnten Stelle der Theory gerade dieser Auffassung beizutreten. Und eine ähnliche Billigung der bestehenden Zustände spricht sich wohl auch in jener Äußerung in dem Zusatz zum ersten Teil (I, 3, 3) aus, wo Smith meint, es liege nichts daran, daß man den Reichen und Großen jene Ausschweifungen hingehen läßt, die man an den Armen tadelt, denn während für diese immer noch Ehrlichkeit die beste Politik sei, können den Wohlhabenden ihre Ausschweifungen und Laster niemals so verderblich werden. Mit diesem stark hervortretenden Konservativismus des Alters ist aber auch eine gewisse Abschwächung des früheren Idealismus verbunden. Während Smith früher die stoische Forderung nach Selbstbeherrschung geradezu verteidigt und erklärt hatte, daß dieses Streben nach Seelenstärke auch dann nicht sinnlos sei, wenn es sein Ziel nicht erreiche, daß die Erreichung dieses Zieles aber überaus wertvoll wäre, da sie allein dem Menschen die unbedingte Unterordnung unter die Weisheit der Weltregierung und damit volle Glückseligkeit ermöglichen könnte (III, 3, die Stelle ist in der 6. Auflage weggelassen worden), heißt es nun ganz kurz, die Forderungen der Stoiker seien doch zu weitgehend. Vielleicht darf hier auch erwähnt werden, daß Smith in den neuen Zusätzen auch gewisse Konzessionen an das Irrationale im Leben und insbesondere in den sittlichen Urteilen macht; hatte er schon früher darauf hingewiesen, wie stark der Erfolg unser ethisches Werturteil beeinflußt (II, 3, 1–3) – Ausführungen, die zu den besten des Werks überhaupt gehörten –, so führt er nun in der sechsten Auflage noch neue Beispiele für eine Art von Erfolghaftung an, die wir doch nicht anders als billigen können: so in II, 3, 3, wo er die Unverletzlichkeit unseres Nebenmenschen der Heiligkeit jener gottgeweihten Orte im alten Griechenland
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vergleicht, deren bloßes – sei es auch unbeabsichtigtes – Betreten schon Sühne heischte, oder wenn er jede, auch die unabsichtliche Lüge als sühnebedürftig hinstellt (VII, 4). Die maßvollere Bedächtigkeit des Alters zeigt sich, wenn Smith nun gelegentlich Epikurs System nicht mehr »das schlechteste«, sondern nur »das unvollkommenste« der von ihm besprochenen antiken Moralsysteme nennen will, oder wenn er seine frühere Verurteilung La Rochefoucaulds dadurch wieder gut macht, daß er die abfälligen Äußerungen über diesen Schriftsteller ausmerzt (VII, 2, 4), was wohl nicht nur auf eine Gefälligkeit gegen die Nachkommen des Autors der »Maximen« zurückzuführen sein dürfte. Auf eine nochmalige eingehende Beschäftigung mit der Antike scheint sich aus gewissen neu eingefügten Bemerkungen schließen zu lassen; so wenn Smith an einer Stelle (VII, 2, 1) ein wohl aus Seneca herrührendes Zitat richtigstellt (es hieß früher: »ein stoischer Philosoph« und nun: »ein kynischer Philosoph, dessen Lehren in dieser Hinsicht denen der Stoiker gleich sind«, da die zitierte Äußerung, wie ich in Anm. 111 zum Text zeigen konnte, von Seneca selbst als Ausspruch des Kynikers Demetrios angeführt wird) oder wenn er in dem gleichen Kapitel die Darstellung der Stoiker erweitert und vertieft und bei dieser Gelegenheit erklärt, die Stoiker hätten das Leben als eine Art Spiel betrachtet, in dem es auf große Geschicklichkeit ankommt, in dem jedoch auch der Zufall mitwirke – eine Darstellung, in der ein neuerer Historiker der alten Philosophie eine »tiefe und verständnisvolle Auffassung der stoischen Lebensansicht« erblickt (Heinr. Gomperz, Lebensauffassung der griech. Philosophen S. 220). Aus gewissen Zusätzen und vor allem aus einzelnen Weglassungen könnte man vielleicht auf einen Wandel in Smiths religiösen Anschauungen schließen. Smith hat in der 6. Auflage einen längeren Passus weggelassen (II, 2, 3), der von der Vergeltung im Jenseits handelt. Es hieß hier, daß Gott die Tugend um ihrer
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selbst willen liebt und ebenso das Laster verabscheut; unsere natürlichen Empfindungen sagen uns, daß vor Gott in seiner Vollkommenheit unsere armseligen Tugenden niemals lobenswert erscheinen können, und daß wir angesichts unserer vielen Sünden auf Gottes Gnade angewiesen seien, ja, daß eine höhere Fürbitte und Sühne für uns dargebracht werden müsse. Die Lehren der Offenbarung bestätigen diese Empfindungen und geben uns die Versicherung, daß die gewaltigste Fürbitte und die fürchterlichste Sühne für unsere Verfehlungen bei Gott dargebracht worden ist. Diese Stelle gab den Anlaß zu einer eigentümlichen Kontroverse. Ein englischer Bischof, John Magee (1766–1831), hatte in einer seiner Schriften diese Stelle aus Smiths Theory als Beweis für die Vernunftgemäßheit der kirchlichen Lehre von dem Sühnopfer Christi angeführt, ohne zu wissen, daß dieselbe nur in den früheren Auflagen vorkommt. Als er darauf aufmerksam gemacht wurde, daß Smith in der sechsten Auflage den ganzen Passus weggelassen hatte, erklärte er die Unterdrückung dieser Stelle als einen Beweis für den unglücklichen Einfluß, den Humes Unglauben auf Smith geübt hat. »Dieser Fall liefert einen Beweis mehr dafür«, schrieb er »welche Gefahr auch dem erleuchtetsten Geiste aus dem vertraulichen Umgang mit dem Unglauben droht.« John Rae, der von dieser Kontroverse in seiner SmithBiographie berichtet (S. 428 ff.), fügt hinzu, daß diese Behauptung Magees durchaus unbegründet sei: Smith war mit Hume schon vor der ersten Veröffentlichung der Theory intim befreundet, während Hume doch zur Zeit des Erscheinens der 6. Auflage bereits vierzehn Jahre tot war. Auch dürfte Smith seine Ansichten in bezug auf das Sühnopfer Christi in dieser Zeit kaum geändert haben, vielmehr soll er selbst gegenüber Edinburger Freunden geäußert haben, er habe die Stelle bloß für unnötig und nicht am rechten Platz gehalten. Überdies, meint Rae, sei ja ein anderer Passus, der in der neuen Auflage hinzukam (nach den Bemerkungen über Calas), der beste Beweis für Smiths fortdauernden
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Glauben an ein künftiges Leben und einen allsehenden Weltenrichter. Immerhin bleibt es merkwürdig, daß Smith die oben erwähnten Ausführungen über das stellvertretende Sühnopfer und die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen durch den etwas skeptisch klingenden Satz ersetzt hat: »In jeder Religion und in jedem Aberglauben, die die Welt jemals gesehen hat, hat es einen Tartarus gegeben ebenso wie ein Elysium, einen Ort, der vorgesehen war für die Bestrafung der Bösen, ebenso wie einen Ort für die Belohnung der Gerechten.« Allerdings sind dafür andere durchaus religiös empfundene Äußerungen neu aufgenommen worden. So der von Rae erwähnte Passus (III, 2), wo es heißt, einem Menschen in so fürchterlicher Lage (sc. wie Calas) könne jene niedrige Philosophie, die sich auf dieses Leben beschränkt, wenig Trost bieten, vielmehr werde ihn nur die Religion und die Aussicht auf einen gerechten Lohn seiner Unschuld im Jenseits aufrichten können. Am Schluß dieses Kapitels hat Smith ähnliche religiöse Betrachtungen angefügt: Über dem inneren Menschen (der sonst als der höchste Schiedsrichter über unser Verhalten bezeichnet wurde) stehe als höheres Tribunal die Gottheit, ja Smith meint hier, der Glaube an eine gerechte Vergeltung im Jenseits sei uns so unentbehrlich, daß sogar der Atheist zum mindesten wünschen müsse, an eine solche Vergeltung glauben zu können. Und an einer anderen Stelle (VI, 2, 3) heißt es nun, die religiöse Weltanschauung sei zum Zustandekommen eines »universellen Wohlwollens« so notwendig, daß schon der Verdacht, die Welt könne vaterlos sein, auf unser Empfinden geradezu lähmend wirken müßte. Der Geist, von dem diese Ausführungen getragen sind, ist gewiß durchaus der gleiche, wie er sich in den älteren Teilen der Theory aussprach. (Vgl. III, 5, wo die Notwendigkeit des Glaubens an die jenseitige Vergeltung in ganz ähnlicher Weise hervorgehoben wird, nachdem vorher die allgemeinen sittlichen Regeln
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geradezu als Gebote der Gottheit bezeichnet wurden, der Gottheit, die am Ende diejenigen, die diese Regeln befolgen, belohnen und diejenigen, die ihre Pflichten verletzen, bestrafen werde; ferner III, 2, wo von dem Verbrecher die Rede ist, dessen Gewissensbisse durch keine Prinzipien des Unglaubens beschwichtigt werden können.) Wenn auf der anderen Seite in einem der Zusätze (III, 2) ziemlich eingehend die Verfälschung der Religion durch die Theologen dargelegt wird und insbesondere darauf verwiesen wird, daß Priester vom Schlage Massillons nur dem beschaulichen Klosterleben ein Anrecht auf zukünftige Belohnung zugestehen wollen, nicht aber der tätigen Arbeit für einen weltlichen Zweck, so stehen auch diesen antitheologischen (nicht antireligiösen) Äußerungen doch auch ähnliche Ausführungen aus früherer Zeit gegenüber; so vor allem die Stelle (III, 5), wo Smith gegen die Annahme polemisiert, man könne durch Gebete und Zeremonien das Heil erlangen und so gleichsam mit Gott einen Handel schließen, der uns berechtigt, zu betrügen und Treulosigkeit und Gewalt zu üben; oder wo er (III, 6) von dem Unglück spricht, zu dem Fanatismus und falsche Religionsbegriffe geführt haben. Vielleicht darf man hier auch die Ausfälle gegen die römischkatholische Kirche erwähnen (in VII, 4 spricht Smith geradezu von dem »römisch-katholischen Aberglauben«), denen ähnliche Stellen im Wealth of Nations gegenüberstehen (Bd. V, 1, 3, 3 englische Ausgabe von Cannan, S. 274, 282 ff., 287). An der letzterwähnten Stelle nennt Smith die katholische Kirche den furchtbarsten Bund, der je gegen Autorität und Sicherheit der bürgerlichen Regierung geschmiedet worden ist, und bezeichnet ihre Lehren als Blendwerke des Aberglaubens, ja er meint, daß das ungeheure Gebäude der katholischen Kirche, das nun schon geschwächt und teilweise zerstört worden ist, in wenigen Jahrhunderten ganz zusammenstürzen werde. Gegen die theologisierenden Platoniker von Cambridge scheinen sich die Ausführungen
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in III, 6 zu richten (die heute fast wie eine Polemik gegen Kants Ethik klingen), in denen Smith die Ansicht widerlegt, daß wir nicht aus natürlicher Neigung unseren Kindern helfen, oder unsere Eltern unterstützen, daß wir nicht aus Dankbarkeit belohnen, oder aus Vergeltungsgefühl bestrafen sollen, sondern daß Pflichtgefühl und religiöse Prinzipien die einzigen Beweggründe unseres Handelns seien, die wahrhaft lobenswert sind. Und ganz abfällig spricht Smith von dem weinerlichen, klagenden Ton gewisser neuerer (sc. theologischer) Moralsysteme, zu denen das Feuer und die Mannhaftigkeit der stoischen Lehren in einem wunderbaren Kontrast stehen. – Aus den angeführten Stellen geht, wie ich glaube, hervor, daß man keineswegs aus der Weglassung der von Rae erwähnten Stelle auf atheistische Ansichten des späteren Smith schließen darf. Zu denken muß uns jedoch der Umstand geben, daß die unterdrückte Stelle, die einzige war, in der von einem bestimmten christlichen Dogma, nämlich dem Sühnopfer Christi, die Rede war. Auch enthielt diese Stelle einen Hinweis auf die Offenbarung und soviel ich sehe, kommt die Berufung auf die Offenbarung in dem ganzen Werk nur noch einmal vor und – sonderbarerweise – auch diese Stelle wurde in der 6. Auflage ausgemerzt. Alle anderen Äußerungen über religiöse Fragen, die in der 6. Auflage stehen geblieben sind, zeigen zwar ein tiefes religiöses Empfinden, aber keine konfessionelle Färbung. Sie sind mit ihrem Glauben an die Weisheit der Weltregierung und an die göttliche Gerechtigkeit, mit ihrer teleologischen Auffassung der Welt (z. B. II, 2, 3) und sogar mit ihrer Überzeugung von der Unsterblichkeit und der Vergeltung im Jenseits doch nichts anderes als ein Bekenntnis zu einer Vernunftreligion, die sich von dem Deismus – eines John Toland oder Matthews Tindal etwa – kaum unterscheidet. Dieser Einstellung entspricht es, wenn Smith immer wieder von der Verderbnis der Religion durch Priester und Theologen spricht und die natürlichen religiösen Empfindungen den Klügeleien der Prediger und Kasuisten
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gegenüberstellt. Vielleicht darf man als einen kleinen Beleg für diese Auffassung auch die Veränderungen ansehen, die Smith gelegentlich an einem Zitat vornimmt, indem er die Worte »Jesus Christus« beständig durch »Herr« oder »Er« wiedergibt (s. die Stelle aus Massillon, die Smith in dem Zusatz zu III, 2 anführt, und dazu den Originaltext in Anm. 49). Smiths Freundschaft mit Hume, seine Verehrung für Voltaire (s. Anm. 50 zum Text), den er in Ferney besuchte, und über den er sich noch im Alter überaus anerkennend äußert, sind Zeichen genug dafür, daß Smith wenigstens in späterer Zeit jeder Kirchenglaube ferne lag. Ein Mann, der die Worte schreiben konnte: »Science is the great antidote to the poison of enthusiasm and superstition« (Wealth of Nations, S. 281), kann unmöglich im Gegensatz zu der Aufklärung seiner Zeit gestanden sein. Die angeführten Beispiele aus den Weglassungen und Zusätzen der letzten Auflage der Theory lassen überdies wohl den Schluß zu, daß in späteren Jahren diese Wendung zu einer Vernunftreligion – keineswegs jedoch zum Atheismus – in Smiths Denken immer stärker hervortrat.22 Es ist interessant, daß Cannan in der Einleitung zu seiner Ausgabe des »Wealth« meint (S. XIV), es ließe sich aus gewissen Änderungen, die Smith in den späteren Auflagen dieses Werkes vorgenommen hat, schließen, daß Smith später vielleicht unter dem nach Humes Tode weiterwirkenden Einfluß dieses Freundes in seinen ultraprotestantischen Überzeugungen nachgelassen hat. Die Biographen Smiths wissen übrigens von einigen Fällen zu berichten, in denen Smith schon in jüngeren Jahren mit dem herrschenden Kirchenglauben in Konflikt kam: so soll er während seiner Studienzeit in Oxford wegen der Lektüre von Humes Treatise on human nature disziplinariter bestraft worden sein (Rae, S. 24) und als Professor in Glasgow soll er (die Nachricht wird von Rae, S. 60 freilich angefochten) an den Senat ein Gesuch gerichtet haben, in dem er bat, von der Pflicht enthoben zu werden, seinen Unterricht mit einem Gebet zu eröffnen. Derselbe Gewährsmann, von dem diese Erzählung stammt, berichtet, daß die Eröffnungsgebete Smiths – das erwähnte Gesuch wurde nämlich abschlägig beschieden – stark »nach natürlicher Religion rochen«, wie es denn auch auffiel, daß Smith in religiösen Fragen von einer Schweigsam22
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keit war, die tief blicken ließ, und daß er den Brauch, einen (religiösen) Sonntagsunterricht zu halten, nicht mitmachte; ja seine Vorlesungen über natürliche Religion hätten dem menschlichen Stolz allzusehr geschmeichelt und einige vermessene Gelbschnäbel zu dem Schluß bestimmt, daß die Hauptwahrheiten der Theologie ebenso wie die Pflichten, welche man Gott und dem Nächsten schuldet, durch das »Licht der Vernunft« und ohne besondere Offenbarung erkannt werden könnten (Rae, a. a. O.). Andererseits scheint es, wie gesagt, daß Smith doch zeitlebens an dem aufgeklärten Deismus festhielt und sich dadurch auch in einem gewissen Gegensatz zu Hume befand. Eine Bemerkung, die Hume in einem 1767 geschriebenen Brief an Smith fallen läßt (siehe den Brief bei Burton, Life and correspondence of David Hume II, S. 388 ff.) – Hume erzählt von seinem Konflikt mit einem Bischof und meint, er sei nicht sicher, ob er nicht mit Smith einmal einen ähnlichen Streit haben werde –, darf zwar kaum als Beleg für den Gegensatz der beiden Freunde in religiöser Beziehung aufgefaßt werden, da die Äußerung wohl scherzhaft gemeint ist. Tiefer blicken läßt dagegen das Verhalten Smiths in der Frage der Publikation von Humes »Drei Dialogen über natürliche Religion«. Hume wünschte, daß diese Schrift nach seinem Tode veröffentlicht werde, und hatte die Publikation derselben testamentarisch seinem Freunde Smith anvertraut. (Siehe das Testament bei Burton, a. a. O. II, S. 489 ff.) Da aber Smith aus seinem Bedenken gegen die Publikation kein Hehl machte, zog Hume diese Verfügung zurück und ordnete in einem Codicill an, daß der Verleger Strahan das Buch innerhalb zwei Jahren nach Humes Tod veröffentlichen solle und, falls die Publikation bis dahin nicht stattgefunden habe, das Eigentum daran an seinen Neffen überzugehen habe. In einem nach Humes Tod verfaßten Brief (abgedruckt bei Rae, S. 305 f.) schreibt Smith an Strahan, er hätte – falls Hume ihm die Verfügung über das Buch überlassen hätte – das Manuskript sorgfältig aufbewahrt und es vor seinem Tode der Familie zurückgestellt, es wäre jedoch keinesfalls zu seinen Lebzeiten veröffentlicht worden. Gleichzeitig bittet Smith den Verleger, unter keinen Umständen Humes Selbstbiographie und den Bericht über Humes letzte Lebenstage (den Smith verfassen wollte) gemeinsam mit den Dialogen zu publizieren. Es ist gewiß nicht nur die Abneigung gewesen, die Smith gegen das allgemeine Aufsehen empfand, welches, wie er befürchtete, die stark skeptisch gefärbte Schrift seines Freundes bei ihrem Erscheinen hervorrufen mußte, was Smith zu dieser ablehnenden Haltung bewog, obwohl zweifellos dieses Bedenken mitspielen mochte. Es waren aber doch wohl in erster Linie andere Gründe ausschlaggebend: Die Schrift Humes wandte sich ja nicht nur gegen alle positiven Religionen, sondern sie erschütterte auch die Grundfesten jener Weltanschauung, an der Smith trotz seiner Abneigung gegen den herrschenden Kirchenglauben doch immer
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Noch in einem anderen Punkte sind die Veränderungen der 6. Auflage für den Smith-Biographen von Interesse. Wie schon bemerkt, haben einige neuere Nationalökonomen die Behauptung aufgestellt, Smith sei durch seine Reise nach Frankreich, die ihn mit den französischen Materialisten in enge Berührung brachte, stark in das materialistische Fahrwasser geraten und er habe sich insbesondere die Auffassung eines Helvetius von der durchaus egoistischen Veranlagung des Menschen völlig zu eigen gemacht.23 Wäre diese Behauptung richtig, so müßte er doch wenigstens in der 6. Auflage (wenn schon nicht in der 3. und 4.) diese Gesinnungsänderung zum Ausdruck gebracht haben, zumal die Arbeit an der 6. Auflage von Smith ja ziemlich gründlich durchgeführt wurde und ihn anscheinend mehrere Jahre in Anspruch genommen hat. Aber keine einzige der Änderungen, noch festhielt: die Überzeugung von der Existenz einer allmächtigen und gütigen Gottheit, deren Walten sich in der Zweckmäßigkeit und Ordnung der Welt am deutlichsten ausdrückt. Gerade diese teleologisch-optimistische Weltanschauung, welche die Grundlage des Deismus und seiner »Vernunftreligion« bildete, war aber mit Smiths Denken so untrennbar verbunden, daß es begreiflich scheinen muß, wenn er jeden Angriff auf diesen letzten Rest religiösen Empfindens aufs entschiedenste ablehnte. – Wie sehr freilich auch Smiths Furcht vor dem Aufsehen berechtigt war, das die Veröffentlichung der Schrift seines Freundes hätte hervorrufen können, zeigen die maßlosen Angriffe, die gegen Smith gerichtet wurden, nachdem sein Brief an den Verleger Strahan über Humes letzte Krankheit publiziert worden war. Vgl. darüber Green im I. Band von Hume, Essays herausgegeben von Green und Grose, S. 80 ff. 23 Hauptvertreter dieser Ansicht sind Lujo Brentano («Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht«, 1877) und W. v. Skarzynski (»Adam Smith als Moralphilosoph und Schöpfer der Nationalökonomie«, Berlin 1878). – Zeyß (»Adam Smith und der Eigennutz«, Tübingen 1889) und Schmelka Laufer (»Smith und Helvetius«), die diese Theorie ausführlich darlegen, verweisen darauf, daß sich diese Behauptung zum erstenmal bei Knies (»Die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode«, 1853) findet. Vgl. über diese »Umschwungstheorie« auch August Oncken, »Das Adam Smith-Problem«, Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1, 1898.
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welche Smith in der 6. Auflage vornahm, deutet darauf hin, daß Smith nunmehr dem Egoismus im menschlichen Leben eine größere Rolle eingeräumt hätte als früher. Im Gegenteil, an einer der neu eingefügten Stellen (III, 3) wird jeder Egoismus, der die Glückseligkeit der anderen irgendwie in Mitleidenschaft zieht, aufs schärfste verurteilt und erklärt, daß der einzelne auch dann die anderen nicht beleidigen oder verletzen dürfe, wenn der Vorteil, der ihm daraus erwächst, weit größer wäre als der Schaden, den sie aus seiner Handlungsweise erleiden könnten. Jede derartige Bevorzugung der eigenen Person vor den anderen oder auch nur einem einzigen anderen sei so verwerflich, daß die Schande einer solchen Handlungsweise schwerer zu ertragen sei als jedes äußere Unglück. Und in dem ganz neu geschriebenen 6. Teil wird von der eigennützigen Klugheit, die sich nur auf Gesundheit, Rang und Ansehen des Individuums richtet, gesagt (VI, 1), daß diese Art Klugheit zwar allgemein als eine gute Eigenschaft angesehen, aber doch nicht als eine jener Tugenden betrachtet werde, die einen Menschen adeln und uns Bewunderung für ihn einflößen. Das aber sind (ebenso wie die soziologischen Ausführungen dieses Teils) Gedanken, die eine Egoismusmoral – d. h. die Zurückführung aller Tugenden auf die Selbstliebe – ebenso ausschließen, wie die bereits in den früheren Auflagen enthaltene Polemik gegen Mandeville oder die Stelle in VII, 3, 1: »Jene ganze Erklärung der menschlichen Natur, die alle Empfindungen und Neigungen aus der Selbstliebe ableitet, eine Erklärung, die so viel Lärm in der Welt gemacht hat, die aber, soweit ich sehe, noch niemals vollständig und ganz klar und deutlich dargelegt worden ist, scheint mir aus einem verworrenen Mißverständnis der Sympathie entstanden zu sein.« Die Behauptung von dem »Gesinnungsumschwung« Smiths hätte gewiß nie aufgestellt werden können, wenn jene Nationalökonomen, die diese Meinung vertraten, die einzelnen Auflagen der Theory miteinander verglichen hätten. Ihr Schluß gründet
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sich vielmehr ausschließlich auf gewisse Widersprüche, die man zwischen der Theory und dem anderen Hauptwerk Smiths, dem Wealth of Nations, zu finden glaubte. Auf diese Widersprüche soll hier noch kurz eingegangen werden, da ihre Aufklärung zugleich zu einem besseren Verständnis der Theory führen kann. 3. Das Verhältnis der »Theory« zum »Wealth of Nations« und die Grundprinzipien der Smithschen Ethik Der Widerspruch, den die meisten Nationalökonomen zwischen den beiden Hauptwerken Smiths zu finden glaubten, lag in Folgendem: Die Theory of moral sentiments hatte offenbar die Sympathie zur Grundlage der Ethik gemacht und damit – wie man meinte – den Menschen als im tiefsten Grund altruistisch hingestellt. Nun erschien 17 Jahre nach der ersten Veröffentlichung dieses Werks die Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations, und hier wird nun deutlich der Egoismus als Grundmotiv alles menschlichen Handelns angenommen, – wenigstens, insofern das wirtschaftliche Gebiet in Betracht kommt. Alle die Gesetze des nationalökonomischen Geschehens, die Smith hier aufstellt, scheinen ja vorauszusetzen, daß der Egoismus im wirtschaftlichen Leben allein ausschlaggebend oder doch so vorherrschend sei, daß man von allen anderen Motiven füglich absehen kann. Hatte doch Smith selbst diese Voraussetzung hie und da wenigstens ausdrücklich ausgesprochen oder doch angedeutet; so an der bekannten Stelle (I, 3, S. 16),24 wo es heißt, daß wir unser Mahl nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers und Bäckers, sondern von deren Rücksichtnahme auf ihren eigenen Vorteil erwarten. »Wir wenden uns«, heißt es weiter, »nicht an ihre Menschlichkeit, sondern an ihre Selbstliebe und wir spreDie Seitenzahlen beziehen sich auf die englische Ausgabe von Cannan, 3. Auflage, London 1922. 24
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chen zu ihnen niemals von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen«. – Dazu kam, daß Smith der späteren nationalökonomischen Wissenschaft als der Begründer der »klassischen Schule« der Nationalökonomie galt, und daß Smith – da er anscheinend zu jenen Autoren gehört, die mehr zitiert als gelesen werden25 – oft als Urheber von Ansichten betrachtet wurde, die in Wahrheit erst von seinen Nachfolgern J. B. Say, Ricardo u. a. aufgestellt worden sind. So konnte es kommen, daß Smith als extremer Materialist26 und Individualist verschrien und als der eigentliche Begründer jener antisozialen Einstellung angesehen wurde, die unter dem Namen des »Manchestertums« bekannt und berüchtigt ist. Wenn man solche Gedanken im »Wealth of Nations« zu finden glaubte, dann ist es wohl erklärlich, daß die Kluft zwischen dem Nationalökonomen und dem Moralphilosophen Smith schier unüberbrückbar scheinen mußte. Ein Versuch, diese Antinomie in Smiths Denken zu erklären, war die erwähnte »Umschwungstheorie«, ein Ausweg, der aber nicht nur durch den bereits erwähnten Umstand, daß die späteDas gilt insbesondere von der »Theory«. Die deutschen Übersetzungen von Rautenberg und Kosegarten sind ziemlich selten geworden, behauptet doch sogar Oncken (Smith und Kant, S. 108), daß eine deutsche Übersetzung der »Theory« nicht vorliegt. Vgl. die gute Bemerkung von Limentani (S. VII), die übrigens nicht nur von Italien gilt: »Adamo Smith – in Italia anche più che altrove – ha scontato per cosi dire la gloria di sistematore e innovatore della economia politica con il vasto oblio, nel quale e rimasta avvolta la sua opera filosofica …« Vgl. übrigens Oppenheimer (»Aus der Jugendzeit des ökonomischen Liberalismus«), der Lessings Notschrei: »wir aber wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein« auch auf Smith anwenden möchte. 26 Vgl. List, »Das nationale System der politischen Ökonomie«, III, 31: »Dem Individualismus mußte der Materialismus zur Seite gestellt werden …« Schmoller im Handwörterbuch der Staatswissenschaften erklärt, nach der Lehre der klassischen Nationalökonomie sei jeder Egoismus berechtigt, der mit dem Strafgesetz nicht in Konflikt kommt. Vgl. Schmelka Laufer, S. 16 f. Der Vorwurf des Materialismus gegen Smith auch bei Hildebrand und Knies, vgl. Zeyß, S. 5. 25
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ren Auflagen der Theory von einem solchen Gesinnungswandel nichts wissen, schon kaum gangbar erscheint, sondern der auch mit Rücksicht auf die Angaben Dugald Stewarts über ein aus dem Jahre 1755 stammendes Manuskript, in welchem Adam Smith einige Grundlehren des Wealth of Nations dargelegt hatte, von vornherein nicht hätte beschritten werden dürfen. Die im Jahre 1896 veröffentlichten Vorlesungen Smiths aus dem Jahre 1763, die sich in den wichtigsten Prinzipien mit dem Wealth of Nations durchaus decken, haben dieser Theorie vollends jeden Boden entzogen. Eine andere Erklärung des Gegensatzes der beiden Werke gab Buckle.27 Er meinte, Smith habe in dem einen Buch die menschliche Natur in ihrem mitfühlenden Wesen, in dem anderen in ihrem eigennützigen Verhalten darstellen wollen. Smith habe sich so eines Kunstgriffs bedient, indem er auf einem Gebiet, welches keine Experimente zuläßt, und das infolge seiner großen Kompliziertheit auch kein eigentlich induktives Verfahren gestattet, eine Form der Deduktion angewendet habe, welche von einer künstlichen Trennung an sich untrennbarer Tatsachen ausgeht. Vaihinger, der in seiner Philosophie des Als Ob (S. 29 f., 341 ff.) auch Buckles, F. A. Langes, Mills und Onckens Erklärungsversuche bespricht, nennt Smiths Vorgehen im Wealth of Nations geradezu ein Standardbeispiel einer abstraktiven oder neglektiven Fiktion, d. h. also des »Kunstgriffs, vorläufig und einstweilen eine ganze Reihe von Merkmalen zu vernachlässigen und nur die wichtigsten Erscheinungen herauszugreifen«.28 Demnach hätte Smith in seinem nationalökonomischen Hauptwerk die bewußt falsche Voraussetzung gemacht, daß der Mensch »Geschichte der Zivilisation in England«, Übersetzung II, 422 ff. Ähnlich spricht Inama-Sternegg, »Adam Smith und die Bedeutung seines ›Wealth of Nations‹ für die moderne Nationalökonomie«, Innsbruck 1876, S. 23 von der Anwendung eines »isolierenden Verfahrens« in Smiths Darstellung der wirtschaftlichen Vorgänge. 27
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egoistisch sei, da er durch diese Annahme eine Vereinfachung der Probleme des Wirtschaftslebens erzielen wollte. Mit dieser Auffassung verwandt ist eine andere Darstellung des Verhältnisses der beiden Hauptwerke von Smith. Sie geht dahin – ähnlich wie dies Buckle in den erwähnten Ausführungen andeutet –, daß Smith das Gebiet der Moral von dem der Wirtschaft trennen wollte. »Das Gefühl oder, wie Smith sagt, die Sympathie hat ihr eigenes Reich, die Welt der Moral, während in der wirtschaftlichen Welt der Nutzen herrscht.« (So Charles Gide, Gesch. d. nat.-ök. Lehrmeinungen, S. 95. Vgl. auch Vaihinger 344 i. f.) Gegen beide Lösungsversuche ist einzuwenden (was übrigens auch Oncken in seinem Werk über Smith und Kant hervorhebt), daß die zwei Hauptwerke von Smith nach dem Bericht seiner Biographen doch Teile eines Kurses über Moralphilosophie gewesen sind, so daß es von vornherein unwahrscheinlich erscheinen muß, daß Smith eine solche grundsätzlich verschiedene Einstellung in den beiden Werken zum Ausdruck bringen wollte. Auch wäre kaum einzusehen, wie sich die wirtschaftliche Welt von der Welt der Moral trennen ließe, da doch die letztere gar nicht anders gedacht werden kann, als das ganze Leben umfassend. Bis zu einem gewissen Grade kann man allerdings zugeben, daß Smith in dem nationalökonomischen Werk die Motive des menschlichen Handelns vereinfachen und auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Verkehrs bis zu einem gewissem Grad von anderen Motiven abstrahieren mußte, um zur Aufstellung ökonomischer Gesetze gelangen zu können.29 Insofern liegt zweifellos in der Fiktionstheorie von Buckle bis Vaihinger ein berechtigter Dagegen ist es nicht richtig, daß Smith, wie Vaihinger sagt, »alle anderen Faktoren wie Wohlwollen, Gewohnheit usw. vernachlässigte«. Von den bereits angeführten Werken zeigt insbesondere Schüller (S. 28 ff. und passim) quellenmäßig, daß Smith in seinem Wealth auch andere Triebfedern menschlichen Handelns wie Humanität, Güte, Liebe, Haß, Stolz, Eitelkeit, Gewohnheit usw. beachtet. Vgl. auch die Werke von Zeyß, Feilbogen usw. 29
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Kern. Ganz unrichtig ist jedoch die Behauptung, die in nationalökonomischen Werken allgemein verbreitet ist, daß Smiths Nationalökonomie »materialistisch« und extrem individualistisch sei. Smith war keineswegs der Begründer des »Manchestertums«. Seine Sympathien gehören durchaus den »arbeitenden Armen«, deren unbefriedigende Lage (etwa in bezug auf das Koalitionsrecht) er durchaus richtig erfaßt; der »Wohlstand der Nationen«, von dem das nationalökonomische Werk Smiths handelt, ist nicht das (manchmal in wenigen Händen konzentrierte) Nationalvermögen, sondern die Wohlfahrt der Allgemeinheit und ausdrücklich erklärt Smith, man könne von einem Wohlergehen eines Staates nicht sprechen, wenn sich die Mehrheit seiner Bürger im Elend befindet. Bestimmungen des Arbeiterschutzes – vor allem das Verbot des Trucksystems – finden seine Billigung, er verlangt Arbeitsbedingungen, welche die Gewerbekrankheiten unmöglich machen, er verurteilt die Zunftsatzungen, die den Zutritt zu den einzelnen Gewerben erschweren, und wendet sich gegen jene veralteten Gesetzesbestimmungen, die die Freizügigkeit der Armen und damit ihre Existenzmöglichkeit beschränken. Das bekannte Schlagwort des Manchesterliberalismus selbst: »laissez faire, laissez aller« stammt, wie Feilbogen, Oncken u. a. gezeigt haben, keineswegs von Smith, ja in einzelnen Theorien Smiths (so etwa in seiner Lehre von dem ursprünglichen Recht des Arbeiters auf den vollen Arbeitsertrag, I, 7 und 8) liegt die Grundposition der modernen sozialistischen Theorien derart vorgebildet, daß Charles Gide ihn als den »wahren Vorläufer des Sozialismus« bezeichnen30 und A.W. Small der Ansicht Ausdruck geben konnte,31 daß Smith, »wenn er heute noch am Leben wäre und jetzt einige seiner allgemeinen Ansichten über die Grundlagen der ökonomischen Beziehungen wiederholte, ohne Zubilli30 31
A. a. O., S. 101. »Adam Smith and Modern Sociology«, Chicago 1907, S. 65.
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gung mildernder Umstände unter die Sozialisten gerechnet werden würde.« Ist es so auf der einen Seite unrichtig, Smiths Nationalökonomie als egoistisch und »materialistisch« zu verschreien, so ist es auf der anderen Seite ebenso unbegründet, zu behaupten, daß er seine Ethik auf das Prinzip des »Wohlwollens« gegründet hätte. Schon eine oberflächliche Lektüre der Theory zeigt, daß Smith ausführlich gegen das »System des Wohlwollens«, d. h. in erster Linie gegen Hutcheson polemisiert, da diese Theorie nicht erkläre, woher die Billigung der niedrigeren Tugenden wie Klugheit, Vorsicht, Mäßigkeit usw. komme (VII, 2, 3). Smith ist vielmehr einerseits weit davon entfernt, die Verbreitung des Wohlwollens32 zu überschätzen. »Wohlwollen«, heißt es a. a. O., »mag vielleicht das einzige Prinzip des Handelns der Gottheit sein« ... aber »ein so unvollkommenes Geschöpf wie der Mensch, das schon zur Erhaltung seines Daseins so vieler äußerer Dinge bedarf, muß oft auch aus anderen Beweggründen handeln.« Ja Smith erklärt sogar (II, 2, 3), daß der Mensch so wenig für den anderen fühlt, und daß ihm das Elend der anderen verglichen mit der geringsten Annehmlichkeit, die ihn selbst betrifft, so unbedeutend erscheint, daß nur die Angst, sich mit Schuld zu beladen, ihn davon zurückhält, gleich einer wilden Bestie über den anderen herzufallen, und daß jeder Mensch – wenn es dieDer Ausdruck Wohlwollen (benevolence) und wohlwollend (benevolent) ist bei Smith gleichbedeutend mit Altruismus oder altruistisch. Smith folgt in diesem Sprachgebrauch seinem Lehrer Hutcheson, welcher in seinem »System of moral philosophy« die Willensakte in zwei Gruppen einteilt: in selbstische (d. h. egoistische), welche dasjenige anstreben, was für den Handelnden selbst vorteilhaft ist, und das Gegenteil abwehren, und in wohlwollende (d. h. altruistische), welche dasjenige anstreben, was für andere vorteilhaft ist, und welche zugleich Übel, die diese anderen bedrohen, abwehren. Wozu noch zu bemerken ist, daß Selbstliebe (self-love) weder bei Hutcheson noch bei Smith einen dyslogistischen d. h. abfälligen Sinn hat. Hutcheson definiert Selbstliebe als das Verlangen des Menschen nach seiner eigenen Glückseligkeit. 32
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ses Gefühl nicht gebe – in eine Versammlung von Menschen so treten würde, wie in eine Löwenhöhle. – Der Egoismus, so heißt es ein anderes mal (VII, 2, 3), sei keineswegs die schwache Seite der menschlichen Natur oder eine Eigenschaft, bei der wir leicht einen Mangel argwöhnen würden. An einer anderen Stelle, die einen Zusatz der 2. Aufl. bildet, meint Smith (III, 3), die Natur habe nur einen schwachen Funken von Wohlwollen im menschlichen Herzen entzündet und dieser sei keineswegs imstande, den starken Antrieben der Selbstliebe entgegen zu wirken. Smith ist aber auch keineswegs der Ansicht, daß diese ausgesprochen egoistische Veranlagung des Menschen zu verurteilen oder auch nur zu bedauern sei. Jeder Mensch ist eben von der Natur zunächst seiner eigenen Obsorge anempfohlen und es ist gut so, denn jeder Mensch ist tatsächlich eher imstande für sich selbst zu sorgen, als für irgendeinen anderen (VI, 2, 1). Ja Smith meint sogar, die Rücksichtnahme auf unser eigenes Glück und unseren persönlichen Vorteil (und das ist es eben, was er mit Hutcheson als Self-love bezeichnet, s. Anm. 32) »scheint in zahlreichen Fällen geradezu ein sehr lobenswertes Prinzip des Handelns zu sein. Charaktergewohnheiten wie Wirtschaftlichkeit, Fleiß, Umsicht, Aufmerksamkeit, geistige Regsamkeit werden nach allgemeinem Dafürhalten aus eigennützigen Beweggründen gepflegt und doch hält man sie zugleich für sehr lobenswürdige Eigenschaften, die die Achtung und Billigung eines jeden verdienen« (VII, 2, 3). Ein Mensch, der sich um seine Gesundheit, sein Leben, sein Vermögen nicht bekümmerte, würde uns sogar tadelnswert erscheinen. Und Smith meint schließlich an dieser Stelle, es würde schlecht um die Menschen bestellt sein, »wenn jene (sc. egoistischen) Neigungen, die infolge der ganzen Beschaffenheit unserer Natur so häufig unser Betragen bestimmen müssen, in keinem Falle anderen Menschen tugendhaft erscheinen, uns ihnen empfehlen und ihre Achtung verdienen würden.« Aber auch die vielangefochtene Theorie von der Har-
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monie der Einzelinteressen tritt bereits in der Theory auf und zwar im I. Kapitel des IV. Teils, wo Smith zu zeigen sucht, daß selbst der Grundherr, der kein anderes Ziel kennt als seinen eigenen Vorteil, doch eben durch sein egoistisches Streben und Wirken auch dem Vorteil der großen Masse dient und ohne es zu wollen, ja ohne es auch nur zu wissen das Interesse der Gesellschaft aufs wirksamste fördert. Wir sehen demnach, daß Smith auf der einen Seite den Wirkungsbereich des »Wohlwollens« auch in der Theory nicht eben als groß annimmt und daß er andererseits die gewaltige Rolle, welche der Egoismus im menschlichen Gefühlsleben spielt, nicht nur anerkennt, sondern bis zu einem gewissen Grade sogar rechtfertigt. Wie steht es nun aber mit dem Begriff der Sympathie, die ja tatsächlich in Smiths Darstellung der ethischen Gefühle eine große Rolle spielt? Ist sie nicht auch nur eine Form des Wohlwollens oder des Altruismus und haben nicht doch diejenigen33 recht, die deshalb behaupten, Smith habe in seiner Theory den altruistischen Neigungen die größte Bedeutung zugeschrieben? Dagegen muß vor allem gesagt werden, daß Smith »Sympathie« niemals mit »Wohlwollen« gleichsetzt, ja daß seine ganze Polenik gegen das »System des Wohlwollens« unverständlich erscheinen müßte, wenn sein Grundbegriff der Sympathie mit Wohlwollen gleichbedeutend wäre.34 Die Sympathie ist vielmehr mit dem Gide behauptet in diesem Sinne, Smith habe die Ethik auf das Wohlwollen gegründet, Zeyß (S. 54) nennt die Sympathie »ein wohlwollendes, altruistisches Gefühl«. 34 Vgl. Jodl, »Geschichte der Ethik«, I, 4. Aufl. Stuttgart/Berlin 1930, S. 379: Das Prinzip der Sympathie ist »der psychologische Mechanismus, durch welchen ethische Beurteilung überhaupt zustande kommt, nämlich Umsetzung der Gefühle anderer in eigene Gefühle«. Es ist »mit dem Altruismus, d. h. einem allgemeinen Grundtrieb des Wohlwollens oder der Menschenliebe nicht identisch«. Ähnlich hebt Carassali (s. Literaturverzeichnis) hervor, daß »Sympathie« bei Smith nicht gleich »Wohlwollen« ist. 33
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Egoismus durchaus verträglich und in diesem Sinn heißt es ja am Anfang der Theory, daß auch diejenigen, die den Menschen für egoistisch halten, das Vorhandensein der Sympathie einräumen müssen. Wilhelm Hasbach, der es in seinem Buch über Adam Smith als unbegreiflich bezeichnet,35 wie jemand, der das Buch gelesen hatte, behaupten konnte, in demselben sei von allen anderen Triebfedern des menschlichen Handelns als dem Wohlwollen abgesehen, behauptet sogar, die Sympathie sei bei Smith ein selbstisches Prinzip. Hasbach meint, das gehe schon daraus hervor, daß Smith erklärt (Theory I, 3), die sympathetische Empfindung komme so zustande, daß wir uns in der Einbildung in die Lage des anderen versetzen und so gleichsam mit ihm eine Person werden. Wir empfinden, wie Hasbach sagt, durch die Sympathie in unserer eigenen Seele 36 einen schwachen Grad desjenigen, was der andere fühlt. Eine solche Auffassung der Sympathie – und sie findet sich tatsächlich bei Smith – berechtigt jedoch keineswegs dazu, die Sympathie als ein egoistisches Prinzip hinzustellen. In gewissem Sinne kann man – das hatte schon Butler gezeigt – alle meine Gefühle als egoistisch bezeichnen, wenn mit dieser Bezeichnung nicht mehr gesagt werden soll, als daß diese Gefühle als meine Bewußtseinserlebnisse eine Beziehung auf mein Ich haben. Aber das ist keineswegs der Sinn des Wortes »selbstisch« oder »egoistisch«. Konsequenterweise muß die Frage, ob die Sympathie ein altruistisches oder egoistisches Prinzip sei (Smith sucht das letztere mit allerdings unzulänglichen Beweismitteln zu widerlegen, vgl. Hasbach a. a. O., S. 94), überhaupt als sinnlos bezeichnet werden. Die Sympathie ist ein Prinzip oder, wie wir etwa sagen würden, eine Disposition; und zwar die Disposition, angesichts der Freude oder des Glücks anderer selbst Freude zu fühlen und angesichts ihres Leids oder Elends, »Untersuchungen über Adam Smith und die Entwicklung der Politischen Ökonomie«, Leipzig 1891, S. 95. 36 A. a. O., S. 92 (die Sperrung bei Hasbach). 35
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Leid zu empfinden.37 Wie es von den Umständen (insbesondere von dem Gegenstand des sympathetischen Mitfühlens) abhängt, ob das auf Sympathie beruhende Gefühl angenehm oder unangenehm ist (Theory I, 3, 1), so wird es durchaus auf die Verhältnisse (insbesondere auf den Charakter des Handelnden) ankommen, ob das sympathetische Gefühl egoistische oder altruistische Strebungen und Willensakte hervorruft.38 Denn nur auf diese volitiven Phänomene kann man im eigentlichen Sinn die Kategorien »egoistisch« und »altruistisch« anwenden. Die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung der Sympathie kann aber erst dann vollkommen klar beantwortet werden, wenn wir einen Blick auf die Grundlagen der Smithschen Ethik überhaupt werfen. Smith selbst hat in der Einleitung zum VII. Buch seiner Theory, in welchem er eine Übersicht über die vorangegangenen Systeme der Ethik gibt, – eine Übersicht, die zu den wertvollsten Teilen des Buches gehört, und die man mit Recht als ein Meisterstück wahrhaft produktiver Kritik bezeichnet hat39 – den Versuch gemacht, die beiden Hauptfragen, welche jede wissenschaftliche Ethik beantworten muß, zu präzisieren. Es ist dies die Frage nach dem Kriterium des Sittlichen – in Smiths Formulierung die Frage: »Worin besteht die Tugend«, oder »welches Verhalten verdient sittliche Billigung«– und die Frage nach dem Fundament der Moral, oder, wie Smith sagt, die Frage nach dem Prinzip der Billigung, d. h. »welches ist das Prinzip, das uns gewisse Handlungen als sittlich wertvoll und andere als sittlich Vgl. Jodl, »Lehrbuch der Psychologie«, 5. Aufl., II, S. 346 f.: Mitgefühl ist »die Fähigkeit der Nachbildung fremder Gefühle überhaupt«; auf ihr beruhen Dankbarkeit, Liebe, Schadenfreude, Grausamkeit usw. – Hier faßt Jodl den Begriff Sympathie allerdings etwas weiter als Smith, da dieser im allgemeinen nur das Nachempfinden gleichgestimmter Gefühle unter Sympathie versteht. 38 Vgl. Scheler, »Wesen und Formen der Sympathie«, S. 2: »Das Mitgefühl ist also in jeder seiner möglichen Formen prinzipiell wertblind.« 39 Jodl, » Geschichte der Ethik«, I, S. 362. 37
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wertlos oder gar verwerflich erscheinen läßt«. Wenden wir diesen Kanon auf Smiths eigene Ethik an – und Smith hat ja in dem historischen Überblick über die wichtigsten Systeme der Ethik auch seine eigene Lehre nach diesen Gesichtspunkten untersucht – so müssen wir sagen: das Kriterium des Sittlichen ist für Smith der Standpunkt des von uns vorgestellten unparteiischen Zuschauers. Anders ausgedrückt: gut ist diejenige Handlung oder Charaktereigenschaft, welche uns auch dann noch als gut erscheint, wenn wir sie von dem Standpunkt des (vorgestellten) unparteiischen und wohlinformierten Zuschauers aus betrachten oder kürzer: gut ist, was objektiv betrachtet als gut gelten kann.40 Dieses Kriterium ist natürlich rein formal: über den Inhalt desjenigen, was so gebilligt wird, erfahren wir nichts. Nur so viel erklärt Smith über den Gegenstand der sittlichen Beurteilung, daß sich dieselbe einerseits auf das Verhältnis zwischen den Affekten des Handelnden und ihren Erregungsursachen bezieht – so ergibt sich das Urteil über sittliche Richtigkeit und Unrichtigkeit – Propriety und Impropriety – und andererseits auf den Zweck, der durch die Handlung ereicht werden soll – so ergibt sich das Urteil über Verdienstlichkeit und Tadelnswürdigkeit, Merit und Demerit der Handlung und des Handelnden. In diesem Formalismus liegt die Verwandtschaft Smiths mit Kant. Auch der kategorische Imperativ gibt ja kein anderes Kriterium als die Objektivität des Wollens, d. h. seine Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit.41 Man vergleiche dazu etwa den obersten Imperativ, welchen G. Heymans in seiner »Einführung in die Ethik«, S. 267, aufstellt: »Wolle objektiv«. 41 Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, daß Smith sich einerseits darin von Kant weit entfernt, da er, wie bereits bemerkt, die Auffassung ausdrücklich zurückweist, daß nur das Handeln aus Pflicht sittlich wertvoll sei, und vielmehr – um den Ausdruck Kants zu gebrauchen – das Handeln »aus Neigung« durchaus als sittlich anerkennt. Andererseits kleidet Smith, dem deskriptiven Charakter seiner Ethik entsprechend, sein 40
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Ganz anders lautet Smiths Antwort auf die zweite Frage, nämlich auf die Frage nach dem Prinzip unserer Billigung und Mißbilligung gewisser Handlungen und Eigenschaften. In der Kontroverse, ob dieses Prinzip in der Vernunft oder im Gefühl gelegen ist, entscheidet sich Smith für die zweite Alternative. Die sittlichen Unterscheidungen entspringen weder aus der vernünftigen Erfassung bestimmter unwandelbarer sittlicher Wahrheiten oder der Erkenntnis gewisser fester, natürlicher Verhältnisse (Cudworth, Clarke) noch aus dem wohlverstandenen Egoismus (Hobbes, Mandeville) sondern, wie dies bereits Hutcheson richtig erkannt hatte, aus dem Gefühl. Es ist jedoch nicht notwendig, mit Hutcheson ein besonderes Gefühlsvermögen (Moral sense) anzunehmen, sondern diese Billigung entsteht aus der Sympathie in ihren beiden Formen: der direkten Sympathie mit den Motiven des Handelnden und der indirekten Sympathie mit der Dankbarkeit des durch die Handlung Betroffenen. Dieses Gefühl wird verstärkt durch die Erkenntnis der Übereinstimmung der Handlung mit gewissen allgemeinen Regeln (die aber selbst in letzter Linie das ethische Gefühl bereits voraussetzen) und durch Kriterium des Sittlichen nirgends in die Form eines Imperativs. Die vielfach akzeptierte Formulierung des Smithschen Grundsatzes durch Kosegarten: »Handle so, daß der unparteiische Dritte mit der Triebfeder und mit der Tendenz deiner Handlungen sympathisieren könnе«, findet sich keineswegs bei Smith selbst. Und vollends ferne würde Smith die Auffassung liegen – wie sie Kant in seiner Ethik vertritt –, daß es ein logischer Widerspruch sei, der die Übertretung dieses Gebotes unmöglich macht. (Man denke an die Beispiele in der Grundl. zur Met. der Sitten, Ak. Ausg. IV, 421 ff.) – Der tiefste Grand für die Aufstellung dieses Kriteriums liegt bei Smith vielmehr in der Anerkennung der herrschenden sittlichen Normen. Smiths Ethik setzt diese Anerkennung ebenso voraus wie die Ethik des Aristoteles und der »unparteiische Zuschauer« ist im Grunde nichts anderes als der φρόνιμος, von dem Aristoteles in seiner Tugenddefinition (Eth. Nic. II, 6, 1107 a) spricht. Damit ist freilich Smiths Ethik den gleichen Einwänden ausgesetzt, die man gegen die Ethik des Aristoteles erhoben hat.
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die später hinzutretende Wahrnehmung der gesellschaftsfördernden Wirkung, welche ein solches Verhalten im Gefolge hat. Die Rolle, welche die Sympathie in der Smithschen Ethik spielt, liegt demnach darin, daß sie erst das sittliche Urteil ermöglicht. Die Sympathie ist die eigentliche Grundlage der Billigung (vgl. Theory I, 1, 3). Das besagt aber nicht, daß die Sympathie als solche auch das Kriterium des Sittlichen sei (wie bereits bemerkt, liegt dieses Kriterium in der objektiven Richtigkeit des Handelns), sondern nur dies, daß die Fähigkeit des Mitfühlens Voraussetzung jeder sittlichen Wertung und Beurteilung ist. Daraus, daß man diesen Unterschied, den Smith selbst allerdings nicht immer klar herausstellt, übersehen hat, erklären sich die zahlreichen abfälligen Kritiken des »Sympathieprinzips«. Faßt man die Sympathie als Kriterium des sittlichen Handelns auf, dann wäre, wie dies Cousin behauptet, die einzige Norm für dieses Handeln der Imperativ: »Handle so, daß du den anderen gefällst und ihre Sympathie erwirbst«.42 Aber wie wäre es dann zu verstehen, daß Smith selbst immer wieder hervorhebt, der sittlich handelnde Mensch dürfe von dem Urteil der Welt an das Urteil jenes unabhängigen Zuschauers appellieren, den er sich in seinem eigenen Innern vorstellt, und der den höchsten Schiedsrichter über sein Verhalten bildet? Nicht diejenige Handlung ist danach sittlich gut, mit der meine Mitmenschen sympathisieren, sondern diejenige Handlung, welche der vorgestellte unabhängige Zuschauer für gut erklärt. Dagegen bildet allerdings die Fähigkeit der Sympathie, d. h. des Mitfühlens und Nacherlebens fremder GemütsVictor Cousin, »Philosophie Écossaise«, S. 178 ff.; ähnlich mißversteht M. Scheler die Theorie Smiths, wenn er in seinem Buch (Wesen und Formen der Sympathie, S. 3) meint, daß nach Adam Smith die Eigenbeurteilung so ausschließlich auf die Beurteilung durch die anderen gegründet sei, daß nach ihm »ein ungerecht Verurteilter, den alle Welt für schuldig hält, sich auch schuldig fühlen müßte, ja, daß er hierdurch (von Irrtümern über Faktisches abgesehen) »schuldig« wäre«. 42
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zustände, die Voraussetzung für jedes ethische Werturteil, und zwar nicht nur für das tatsächlich von meinem Nächsten gefällte Urteil, sondern in einem übertragenen Sinn auch für das Urteil des vorgestellten unparteiischen Zuschauers. Denn wie jenes darauf beruht, daß mein Nächster meine Gefühle (und die des durch meine Handlung Betroffenen) nachempfindet, so beruht das Urteil des unabhängigen Zuschauers darauf, daß dieser, d. h. also ich selbst vom objektiven Standpunkt aus, mit den Motiven meines Handelns (bzw. den Gefühlen des Betroffenen) sympathisiere. Und diesen Sinn hat es, wenn Smith einmal (VII, 2, 1) sagt, das Maß (sc. wonach sich die Schicklichkeit oder Richtigkeit einer Neigung bestimmt) liege in den sympathetischen Gefühlen des unparteiischen und wohlunterrichteten Zuschauers. Die Ethik Smiths gewinnt ein ganz anderes Aussehen, wenn man die Sympathie als die bloße Fähigkeit des Nachempfindens fremder Gefühle auffaßt43 und ihre Rolle in der Ermöglichung ethischer Urteile erblickt. Vor allem wird es erst von hier aus klar, daß die Behauptung, Smith habe in seinem ethischen Hauptwerk den Menschen als durchaus altruistisch hingestellt, auch durch den Hinweis auf die »Sympathie« keineswegs gestützt werden kann. Damit aber fällt das »Adam Smith-Problem«, d. h. die Frage, wie sich der Gegensatz zwischen Theory und Inquiry erklärt, vollends in nichts zusammen.
Smith vergleicht die Sympathie in diesem Sinne – allerdings nicht sehr glücklich – mit einem Spiegel; der Vergleich findet sich bereits bei Hume. 43
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VORWORT DES VERFASSERS
Seit der ersten Veröffentlichung der »Theorie der ethischen Gefühle«, die bis in den Anfang des Jahres 1759 zurückliegt, sind mir mehrere Verbesserungen und eine große Zahl von Erläuterungen zu den Lehren, die in diesem Buch enthalten sind, eingefallen. Aber die mancherlei Beschäftigungen, welche das Leben mit all seinen Zufällen mir aufgezwungen hat, haben mich bis jetzt verhindert, dieses Werk mit jener Sorgfalt und Aufmerksamkeit wieder durchzusehen, wie ich es immer beabsichtigt hatte. – Die Hauptänderungen, die ich in dieser neuen Auflage vorgenommen habe, wird der Leser im letzten Kapitel des dritten Abschnittes des ersten Teils und in den vier ersten Kapiteln des dritten Teils finden. Der sechste Teil ist so, wie er in dieser neuen Auflage steht, ganz neu. Im siebenten Teil habe ich die Mehrzahl der verschiedenen Stellen, welche die stoische Philosophie betreffen, zusammengestellt, die in den früheren Auflagen über die einzelnen Abteilungen des Werkes verstreut waren. Ebenso habe ich mich bemüht, einige der Lehren dieser berühmten Philosophenschule vollständiger darzustellen und dieselben zugleich eingehender zu untersuchen. Im vierten und letzten Abschnitt desselben Teils habe ich ein paar Bemerkungen über die Pflicht und das Prinzip der Wahrhaftigkeit hinzugefügt. Überdies finden sich auch in anderen Teilen des Werks einzelne weniger wichtige Änderungen und Verbesserungen. Im letzten Absatz des vorliegenden Werks habe ich in der ersten Auflage gesagt, daß ich in einer anderen Abhandlung versuchen werde, eine Darstellung der allgemeinen Prinzipien des Rechts und der Regierung zu geben, sowie der verschiedenen Umwälzungen, welche diese in den verschiedenen Zeitaltern und
Vorwort des Verfassers
Entwicklungsabschnitten der Gesellschaft durchgemacht haben, nicht nur soweit es sich um die Rechtspflege handelt, sondern auch was die Verwaltung, die Staatseinkünfte, das Militärwesen und alle anderen Gegenstände der Gesetzgebung anbelangt. In der »Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Wohlstandes der Nationen« habe ich dieses Versprechen zum Teil eingelöst, wenigstens insofern es sich um Verwaltung, Staatseinkünfte und Militärwesen handelt. Das auszuführen, was noch übrig bleibt – nämlich eine Theorie des Rechts, welche ich lange Zeit geplant habe – daran bin ich bisher durch eben die Beschäftigungen verhindert worden, die mich auch davon abgehalten haben, das vorliegende Werk einer Revision zu unterziehen. Mein bereits sehr vorgerücktes Alter läßt mir, wie ich wohl weiß, zwar sehr wenig Hoffnung, daß ich noch jemals imstande sein werde, dieses große Werk so, wie ich es wünschen würde, auszuführen ; da ich aber die Absicht dazu doch noch nicht ganz aufgegeben habe, und da ich immer noch den Wunsch hege, auch ferner zu tun, was ich vermag, um die übernommene Verpflichtung zu erfüllen, so habe ich den Absatz so stehen lassen, wie er vor mehr als dreißig Jahren veröffentlicht wurde, als ich noch keinen Zweifel daran hegen konnte, daß ich imstande sein werde, alles auszuführen, was er verspricht.
ERSTER TEIL Über die Schicklichkeit oder sittliche Richtigkeit der Handlungen (Bestehend aus drei Abschnitten)
ERSTER ABSCHNIT T
Von dem Gefühl für das sittlich Richtige erstes kapitel Von der Sympathie Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. Ein Prinzip dieser Art ist das Erbarmen oder das Mitleid, das Gefühl, das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, daß wir es nachfühlen können. Daß wir oft darum Kummer empfinden, weil andere Menschen von Kummer erfüllt sind, das ist eine Tatsache, die zu augenfällig ist, als daß es irgendwelcher Beispiele bedürfte, um sie zu beweisen ; denn diese Empfindung ist wie alle anderen ursprünglichen Affekte des Menschen keineswegs auf die Tugendhaften und human Empfindenden beschränkt, obgleich diese sie vielleicht mit der höchsten Feinfühligkeit erleben mögen, sondern selbst der ärgste Rohling, der verhärtetste Verächter der Gemeinschaftsgesetze ist nicht vollständig dieses Gefühles bar. Da wir keine unmittelbare Erfahrung von den Gefühlen anderer Menschen besitzen, können wir uns nur so ein Bild von
Erster Teil · Erster Abschnitt · Erstes Kapitel
der Art und Weise machen, wie eine bestimmte Situation auf sie einwirken mag, daß wir uns vorzustellen suchen, was wir selbst wohl in der gleichen Lage fühlen würden. Mag auch unser eigener Bruder auf der Folterbank liegen – solange wir selbst uns wohl befinden, werden uns unsere Sinne niemals sagen, was er leidet. Sie konnten und können uns nie über die Schranken unserer eigenen Person hinaustragen und nur in der Phantasie können wir uns einen Begriff von der Art seiner Empfindungen machen. Auch dieses Seelenvermögen kann uns auf keine andere Weise davon Kunde verschaffen, als indem es uns zum Bewußtsein bringt, welches unsere eigenen Empfindungen sein würden, wenn wir uns in seiner Lage befänden. Es sind nur die Eindrücke unserer eigenen Sinne, nicht die der seinigen, welche unsere Phantasie nachbildet. Vermöge der Einbildungskraft versetzen wir uns in seine Lage, mit ihrer Hilfe stellen wir uns vor, daß wir selbst die gleichen Martern erlitten wie er, in unserer Phantasie treten wir gleichsam in seinen Körper ein und werden gewissermaßen eine Person mit ihm ; von diesem Standpunkt aus bilden wir uns eine Vorstellung von seinen Empfindungen und erleben sogar selbst gewisse Gefühle, die zwar dem Grade nach schwächer, der Art nach aber den seinigen nicht ganz unähnlich sind. Wenn wir so seine Qualen gleichsam in uns aufnehmen, wenn wir sie ganz und gar zu unseren eigenen machen, dann werden sie schließlich anfangen auf unser eigenes Gemüt einzuwirken, und wir werden zittern und erschauern bei dem Gedanken an das, was er jetzt fühlen mag. Denn wie es uns maßlosen Kummer verursacht, wenn wir selbst uns in Schmerzen oder Nöten irgendwelcher Art befinden, so wird die gleiche Gemütsbewegung in uns auch erweckt, wenn wir uns bloß in der Phantasie vorstellen, daß wir in dieser Lage seien – und zwar in höherem oder geringerem Maße, je nachdem ob diese Vorstellung lebhafter oder schwächer von uns Besitz ergreift. Daß dies die Quelle des Mitgefühls ist, welches wir gegenüber
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
dem Elend anderer empfinden, daß wir erst dann, wenn wir mit dem Leidenden in der Phantasie den Platz tauschen, dazu gelangen, seine Gefühle nachzuempfinden und durch sie innerlich berührt zu werden, das kann durch viele offenkundige Beobachtungen dargetan werden, wenn man es nicht schon an und für sich für genügend einleuchtend halten sollte. Wenn wir zusehen, wie in diesem Augenblick jemand gegen das Bein oder den Arm eines anderen zum Schlage ausholt und dieser Schlag eben auf den anderen niedersausen soll, dann zucken wir unwillkürlich zusammen und ziehen unser eigenes Bein oder unseren eigenen Arm zurück ; und wenn der Schlag den anderen trifft, dann fühlen wir ihn in gewissem Maße selbst und er schmerzt uns ebensowohl wie den Betroffenen. Wenn der Pöbel einen Mann angafft, der auf dem schlaffgespannten Seile tanzt, dann dreht und wendet sich jeder einzelne von ihnen unwillkürlich und balanciert seinen eigenen Körper so, wie er es den Seiltänzer tun sieht und wie er es seinem Gefühle nach selbst tun müßte, wenn er in der Lage des letzteren wäre. Solche Menschen, die empfindliche Nerven und eine schwache Körperbeschaffenheit besitzen, führen oft darüber Klage, daß sie bei dem Anblick der Wunden und Geschwüre, welche von den Bettlern auf der Straße zur Schau gestellt werden, selbst ein Jucken oder ein Unbehagen an den entsprechenden Teilen ihres eigenen Körpers zu spüren pflegen. Das Grauen, das sie angesichts des Elends dieser Unglücklichen empfinden, wirkt gerade auf diese Teile ihres Körpers stärker als auf andere, weil jenes Grauen eben daraus entsteht, daß sie sich vorstellen, was sie selbst wohl leiden würden, wenn sie selbst die Unglücklichen wären, die sie vor sich sehen, und wenn gerade dieser Körperteil bei ihnen mit dieser erbarmenswürdigen Krankheit behaftet wäre. Die Kraft dieser Vorstellung ist allein ausreichend, um in ihrem schwächlichen Körperbau jenes Jucken und Unbehagen zu erzeugen, über welches sie klagen. Aber auch Menschen von kräftigster Körperbeschaffenheit beobachten, daß sie beim Anblicke kranker
Erster Teil · Erster Abschnitt · Erstes Kapitel
Augen oft in ihren eigenen Augen einen sehr deutlich fühlbaren Schmerz empfinden, der aus der gleichen Ursache entsteht ; denn dieses Organ ist eben bei dem stärksten Manne immer noch empfindlicher als irgendein anderer Körperteil bei dem schwächsten. Aber nicht nur solche Umstände, die Schmerz oder Kummer hervorrufen, erwecken unser Mitgefühl. Der Affekt, der durch irgendeinen Gegenstand in der zunächst betroffenen Person erregt wird, mag vielmehr welcher immer sein, stets wird in der Brust eines jeden aufmerksamen Zuschauers bei dem Gedanken an die Lage des anderen eine ähnliche Gemütsbewegung entstehen. Unsere Freude über die Errettung jener Tragödien- oder Romanhelden, die unsere Anteilnahme erwecken, ist ebenso aufrichtig wie unser Kummer wegen ihrer Not, und das Mitgefühl mit ihrem Elend ist nicht wirklicher als das mit ihrem Glück. Wir teilen ihre Dankbarkeit gegenüber jenen treuen Freunden, die sie in ihren Bedrängnissen nicht verlassen, und von ganzem Herzen empfinden wir ihr Vergeltungsgefühl gegen jene treulosen Verräter, die sie beleidigt, im Stiche gelassen oder betrogen haben. Bei allen Affekten, deren das menschliche Gemüt fähig ist, entsprechen die Gemütsbewegungen des Zuschauers immer dem Bilde, das dieser sich von den Empfindungen des Leidenden macht, indem er sich in dessen Fall hineindenkt. »Erbarmen« und »Mitleid« sind Wörter, die dazu bestimmt sind, unser Mitgefühl mit dem Kummer anderer zu bezeichnen. Das Wort »Sympathie« kann dagegen, obgleich seine Bedeutung vielleicht ursprünglich die gleiche war, jetzt doch ohne Verstoß gegen den Sprachgebrauch dazu verwendet werden, um unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten zu bezeichnen. In manchen Fällen mag es den Anschein haben, daß Sympathie aus dem bloßen Anblick einer bestimmten Gemütsbewegung an einer anderen Person entstehe. In manchen Fällen mag es geradezu scheinen, daß die Affekte sich in einem Augenblick von einem Menschen auf einen anderen übertragen, und zwar bevor dieser
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
noch irgendwelche Kenntnis davon hat, was es war, das in der zunächst betroffenen Person jene Affekte auslöste. Kummer und Freude z. B. bewirken, wenn sie in Blick und Gebärden eines Menschen stark zum Ausdruck kommen, auch im Zuschauer sofort eine gleiche, schmerzliche oder freudige Gemütsbewegung eines gewissen Grades. Ein lächelndes Gesicht wirkt auf jeden, der es sieht, aufheiternd, eine sorgenvolle Miene andererseits erweckt Traurigkeit. Dies gilt indessen nicht allgemein oder mit Bezug auf jeden Affekt. Es gibt Affekte, deren Ausdruck keinerlei Sympathie hervorruft, vielmehr eher die Wirkung hat, unseren Widerwillen und unsere Abneigung zu erwecken, solange wir nicht mit der Ursache der Affekte bekannt sind. Das wütende Benehmen eines Zornigen wird uns wohl eher gegen ihn selbst aufbringen als gegen seine Feinde. Da wir nicht wissen, was seinen Zorn herausgefordert hat, können wir uns in seinen Fall nicht hineindenken und darum auch keinerlei Gefühle empfinden, die den Affekten gleichen würden, welche diese Herausforderung in ihm auslöste. Wir sehen dagegen ganz klar die Lage derjenigen Personen vor uns, gegen welche sein Zorn sich richtet, und können uns vorstellen, welche Gewalttätigkeiten sie wohl von einem so erzürnten Gegner gewärtigen müssen. Darum sympathisieren wir mit ihrer Furcht und ihrem Vergeltungsgefühl und sind sofort bereit, gegen den Mann Partei zu ergreifen, von dessen Seite ihnen eine so große Gefahr zu drohen scheint. Wenn schon die äußere Erscheinung von Kummer und Freude uns die gleichen Gemütsbewegungen – wenigstens in einer gewissen Stärke – einflößt, so kommt dies daher, daß sie in uns die allgemeine Vorstellung von irgendeinem Glück oder Unglück erweckt, das denjenigen betroffen haben muß, an dem wir sie beobachten ; das aber genügt bei diesen Affekten, um ihnen einen gewissen wenn auch geringen Einfluß auf uns zu verleihen. Die Wirkungen von Kummer und Freude enden bei demjenigen,
Erster Teil · Erster Abschnitt · Erstes Kapitel
der diese Gemütsbewegungen empfindet ; ihr Ausdruck erweckt nicht wie derjenige des Vergeltungsgefühles die Vorstellung eines anderen Menschen, an dem wir Anteil nehmen, und dessen Interesse demjenigen des ersteren zuwiderläuft. Die allgemeine Vorstellung eines Glücks oder Unglücks ruft deshalb eine gewisse Anteilnahme für denjenigen hervor, den es betroffen hat, die allgemeine Vorstellung einer Herausforderung dagegen erweckt keine Sympathie für den Zorn desjenigen, gegen den sie gerichtet war. Die Natur selbst lehrt uns, wie es scheint, daß wir diesem Affekt weniger gern unsere Zustimmung geben sollen, und daß wir eher geneigt sein mögen, gegen ihn Partei zu ergreifen, solange wir nicht über seine Ursache unterrichtet sind. Ja, auch unsere Sympathie mit der Freude oder dem Kummer eines anderen wird immer äußerst unvollkommen sein, solange wir nicht mit den Ursachen dieser Affekte bekannt sind. Allgemeine Wehklagen, die nichts anderes zum Ausdruck bringen als die Qualen, die der Leidende empfindet, erwecken eher eine gewisse Neugierde in uns, den Wunsch, seine Lage kennen zu lernen, verbunden mit einer gewissen Geneigtheit, für ihn Sympathie zu empfinden, als ein wirklich deutlich erlebtes Gefühl der Sympathie. Die erste Frage, die wir stellen, ist : »Was ist dir widerfahren ?« Solange diese Frage nicht beantwortet ist, werden wir zwar ein gewisses Unbehagen fühlen, einerseits infolge der unklaren Vorstellung, die wir uns von seinem Unglück machen, noch mehr aber weil wir uns mit Vermutungen darüber quälen, was es wohl für ein Unglück gewesen sein mag – aber unser Mitgefühl für ihn wird nicht sehr beträchtlich sein. Sympathie entspringt also nicht so sehr aus dem Anblick des Affektes, als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die den Affekt auslöst. Wir fühlen mitunter für einen anderen einen Affekt, dessen er selbst ganz und gar unfähig zu sein scheint ; denn dieser Affekt entsteht in unserer Brust, sobald wir uns in seinen Fall hineindenken, aus der Einbildungskraft ; während er in seinem
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
Herzen durch die Wirklichkeit nicht hervorgerufen wird. Wir erröten für die Schamlosigkeit und Roheit eines anderen, obwohl er selbst scheinbar kein Gefühl für die Unschicklichkeit seines Betragens hat ; denn wir können uns des Gedankens an jene Beschämung nicht erwehren, die uns ergreifen würde, wenn wir selbst uns auf so unvernünftige Weise betragen hätten. Unter all den Plagen, denen die Menschheit durch das Los der Sterblichkeit ausgesetzt ist, wird wohl allen Menschen, die auch nur den geringsten Funken von Menschlichkeit besitzen, der Verlust der Vernunft als die allerfürchterlichste erscheinen und sie werden diese letzte Stufe menschlichen Elends mit tieferem Erbarmen betrachten als jede andere. Aber der arme Unglückliche, der sich in diesem Zustande befindet, lacht und singt vielleicht und ist sich seines eigenen Elends ganz und gar nicht bewußt. Die Qual, welche die Menschenliebe beim Anblick eines solchen Kranken fühlt, kann also nicht der Widerschein einer Empfindung des Leidenden sein. Das Mitleid des Zuschauers muß vielmehr ganz und gar aus der Erwägung entstehen, was er selbst wohl fühlen würde, wenn er in die gleiche unselige Lage versetzt wäre und wenn er dabei gleichzeitig fähig wäre – was vielleicht unmöglich ist – diese Lage mit seiner gegenwärtigen Vernunft und Urteilskraft zu betrachten. Wie groß sind die Qualen einer Mutter, wenn sie das Ächzen ihres kleinen Kindes hört, das unter den Martern seiner Krankheit nicht auszudrücken vermag, was es fühlt. In ihrer Vorstellung von dem, was das Kind leidet, verbindet sie in Gedanken die wirkliche Hilflosigkeit des Kindes mit ihrem Bewußtsein von dieser Hilflosigkeit und mit ihren eigenen Schrecken vor den unbekannten Folgen, die dieser elende Zustand nach sich ziehen kann ; und aus all dem gestaltet sie zu ihrem eigenen Kummer das vollständigste Bild des Elends und Jammers. Das Kind indessen fühlt nur das Unbehagen des gegenwärtigen Augenblicks, das niemals groß sein kann. In bezug auf die Zukunft ist es ganz ohne Sorgen und
Erster Teil · Erster Abschnitt · Erstes Kapitel
in seiner Gedankenlosigkeit und seinem Mangel an Voraussicht besitzt es ein Gegengift gegen Furcht und Angst, jene großen Peiniger des menschlichen Herzens, gegen welche Vernunft und Philosophie dieses immer vergeblich zu verteidigen suchen werden, wenn das Kind zum Mann herangewachsen sein wird. Ja, wir empfinden Sympathie sogar mit den Toten, und, ohne daß wir auf das achten würden, was in ihrer Lage wirklich wichtig ist, nämlich die furchtbare Zukunft, die ihrer wartet, machen auf uns vielmehr jene Umstände besonderen Eindruck, die zwar uns in die Augen fallen, die aber auf ihre Glückseligkeit keinen Einfluß haben können. Es ist bejammernswert, denken wir, des Sonnenlichtes beraubt zu sein ; ausgeschlossen zu sein vom Leben und vom Umgang mit Menschen, ins kalte Grab gelegt zu werden als eine Beute der Verwesung und des Gewürms der Erde. Der Tote ist bejammernswert, denken wir, weil niemand mehr in dieser Welt seiner gedenkt und er in kurzer Zeit aus der Liebe und fast sogar auch aus dem Gedächtnis seiner liebsten Freunde und Verwandten ausgelöscht sein wird. Sicherlich können wir, wie wir meinen, nie zu viel für jene fühlen, die ein so fürchterliches Unglück betroffen hat. Es scheint uns, daß ihnen das Mitleid, welches wir ihnen zollen, nun doppelt gebührt, da sie in Gefahr sind, von jedermann vergessen zu werden ; und durch die zwecklosen Ehrungen, die wir ihrem Andenken erweisen, bemühen wir uns – zu unserer eigenen Pein – die trübselige Erinnerung an ihr Unglück künstlich in uns wachzuhalten. Daß unsere Sympathie ihnen keinen Trost gewähren kann, das scheint uns noch eine Zugabe zu ihrem Elend zu sein ; das Bewußtsein, daß alles, was wir tun können, nutzlos ist und daß, was jede andere Not lindert : das Bedauern, die Liebe und die Klagen der Freunde, ihnen keine Erleichterung ihrer Leiden verschaffen kann, trägt noch dazu bei, unser Gefühl für ihr Elend zu vergrößern. Die Glückseligkeit der Toten wird indessen ganz sicher durch keinen dieser Umstände berührt ; auch wird der Gedanke an diese Dinge niemals die tiefe
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Sicherheit ihrer Ruhe stören können. Die Vorstellung von jener fürchterlichen und endlosen Melancholie, die unsere Phantasie naturgemäß ihrer Lage zuschreibt, entsteht ganz und gar daraus, daß wir mit der Veränderung, die sich an ihnen vollzogen hat, unser eigenes Bewußtsein von dieser Veränderung verbinden ; sie entsteht daraus, daß wir uns selbst in ihre Situation versetzen, und daß wir, wenn ich so sagen darf, unsere eigene lebende Seele in ihren unbeseelten Leichnam einquartieren und uns dann die Gefühle vorzustellen suchen, die wir in dieser Lage haben würden. Eben von dieser Täuschung unserer Phantasie kommt es, daß der Gedanke an unsere eigene künftige Auflösung uns so schrecklich ist, und daß die Vorstellung jener Umstände, die uns zweifellos keinen Schmerz bereiten werden, wenn wir einmal tot sind, uns elend macht, solange wir noch am Leben sind. Und daraus entspringt eines der wichtigsten Prinzipien der menschlichen Natur : die Furcht vor dem Tode, das stärkste Gift für jedes Glück, aber auch die gewaltigste Schranke für die Ungerechtigkeit der Menschen, die, während sie den einzelnen bedrückt und quält, doch die Gesellschaft hütet und beschützt.
zweites kapitel Von dem Wohlgefallen, welches durch gegenseitige Sympathie erzeugt wird. Was immer jedoch die Ursache der Sympathie sein und auf welche Weise sie auch erregt werden mag, sicher ist, daß nichts unser Wohlgefallen mehr erweckt, als einen Menschen zu sehen, der für alle Gemütsbewegungen unserer Brust Mitgefühl empfindet, und daß uns nichts so sehr verdrießt, als wenn wir an einem Menschen kalte Gefühllosigkeit beobachten. Diejenigen, die eine besondere Vorliebe dafür haben, alle unsere Empfindungen aus gewissen Verfeinerungen der Selbstliebe abzuleiten, sind
Erster Teil · Erster Abschnitt · Zweites Kapitel
keineswegs darum verlegen, einen ihren Prinzipien entsprechenden Grund für dieses Wohlgefallen und diesen Ärger anzugeben. Sie sagen, der Mensch sei sich eben seiner eigenen Schwäche und seines Bedürfnisses nach fremder Hilfe bewußt und freue sich, wenn er bemerkt, daß andere Menschen seinen Gefühlen beipflichten, weil er dann eben dieses Beistandes versichert sei ; und er sei bekümmert, wenn er das Gegenteil bemerkt, weil er dann ihren Widerstand gewärtigen müsse. Jedoch wird sowohl das Wohlgefallen als der Ärger stets so augenblicklich empfunden und oft auch bei solch geringfügigen Anlässen, daß offenbar keines dieser beiden Gefühle aus einer derartigen eigennützigen Betrachtung abgeleitet werden kann. Jemand, der sich bemüht hat, eine Gesellschaft zu unterhalten, wird sich ungemein kränken, wenn er nachher um sich blickt und sieht, daß niemand über seine Scherze lacht als er selbst. Umgekehrt wird ihn die Heiterkeit der Gesellschaft höchst angenehm berühren und er wird diese Übereinstimmung ihrer Empfindungen mit seinen eigenen als den größten Beifall betrachten. Es scheint mir jedoch das Vergnügen, das er darüber empfindet, nicht bloß daher zu kommen, daß seine Heiterkeit durch die Sympathie mit der Heiterkeit der anderen zu größerer Lebhaftigkeit gesteigert wird, noch scheint mir sein Ärger in dem anderen Falle ganz und gar von der Enttäuschung herzurühren, die er erleidet, wenn er dieses Vergnügen entbehren muß, obzwar dieser Umstand zweifellos einigermaßen dazu beiträgt. Wenn wir ein Buch oder ein Gedicht so oft gelesen haben, daß wir kein Vergnügen mehr daran finden, es allein zu lesen, so kann es uns doch noch Freude machen, es einem Gefährten vorzulesen. Für ihn hat es den ganzen Reiz der Neuheit und wir nehmen dann an der Überraschung und Bewunderung teil, die es naturgemäß in ihm erweckt, die es aber in uns nicht mehr hervorzurufen vermag ; wir betrachten dann alle die Gedanken, die es zur Darstellung bringt, eher in dem Lichte, in welchem sie ihm erscheinen, als in
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demjenigen, in welchem sie uns erscheinen würden ; wir unterhalten uns nun wieder über das Buch, und zwar aus Sympathie mit der Unterhaltung, die es ihm bereitet und die so unsere eigene von neuem belebt. Umgekehrt würden wir uns ärgern, wenn ihm das Buch keine Unterhaltung zu gewähren schiene, und wir könnten dann kein Vergnügen mehr daran finden, es ihm vorzulesen. Ebenso verhält es sich nun in unserem Falle. Die Heiterkeit der Gesellschaft belebt zwar zweifellos unsere eigene Heiterkeit und ihr Schweigen muß uns zweifellos enttäuschen. Aber obwohl dies beitragen mag zu dem Vergnügen, das wir aus der ersteren, und zu dem Mißvergnügen, das wir aus dem letzteren schöpfen, so ist dies doch keineswegs die einzige Ursache dieser Gefühle ; und daß diese Übereinstimmung der Empfindungen anderer Menschen mit unseren eigenen uns Vergnügen und das Fehlen derselben uns Mißvergnügen bereitet, scheint auf diese Weise allein nicht erklärt werden zu können. Bei der Sympathie, welche meine Freunde gegenüber meiner Freude zum Ausdruck bringen, wäre es freilich möglich, daß diese Sympathie mir dadurch Vergnügen bereitete, daß sie diese meine Freude verstärkt ; aber die Sympathie, die sie gegenüber meinem Kummer zum Ausdruck bringen, könnte mir doch nicht Freude bereiten, wenn sie bloß dahin wirken würde, diesen Kummer noch zu verstärken. Und doch verstärkt Sympathie die Freude und erleichtert den Kummer. Sie verstärkt die Freude, indem sie eine neue Quelle der Befriedigung darbietet, und sie erleichtert den Kummer, indem sie dem Herzen die einzige angenehme Empfindung einflößt, für die es in jenem Augenblick empfänglich ist. Man kann demgemäß auch beobachten, daß wir noch ängstlicher darauf bedacht sind, unseren Freunden von unseren unangenehmen Affekten Mitteilung zu machen als von unseren angenehmen, daß uns ihre Sympathie mit den ersteren viel mehr Genugtuung bereitet als die mit den letzteren, und daß wir über
Erster Teil · Erster Abschnitt · Zweites Kapitel
ihren Mangel an Sympathie gegenüber unseren schmerzlichen Affekten einen viel größeren Ärger empfinden. Wie erleichtert fühlen sich unglückliche Menschen, wenn sie jemanden gefunden haben, dem sie die Ursache ihres Kummers mitteilen können ! Auf seine Sympathie scheinen sie einen Teil ihrer Leiden abzuladen, und man sagt darum nicht unpassend, daß er ihre Leiden »teile«. Er fühlt nicht nur einen Kummer, der mit demjenigen gleichartig ist, den sie selbst fühlen, sondern es ist gleichsam, als ob er einen Teil ihres Kummers auf sich genommen hätte und als ob, was er empfindet, das Gewicht dessen vermindern würde, was sie fühlen. Doch indem sie von ihrem Mißgeschick erzählen, erneuern sie in gewissem Maße ihren Gram ; sie erwecken in ihrem Gedächtnis die Erinnerung an jene Umstände, die den Anlaß zu ihrer Betrübnis gebildet haben ; ihre Tränen fließen stärker als zuvor, und sie überlassen sich nun leicht der ganzen Schwäche ihres Kummers. Dennoch finden sie an all dem Gefallen, und es ist offenkundig, daß es ihnen fühlbare Erleichterung gewährt ; denn die Sympathie des Zuhörers ist für sie so süß, daß sie ihnen die Bitterkeit des Kummers mehr als aufzuwiegen scheint, den sie, um jene Sympathie zu erlangen, wieder belebt und erneuert haben ; andererseits ist es die grausamste Kränkung, die einem unglücklichen Menschen angetan werden kann, wenn man ihm zeigt, daß man sein Mißgeschick leicht nimmt. Unsere Gefährten merken lassen, daß uns ihre Freude nicht nahe geht, ist nur ein Mangel an Höflichkeit ; aber nicht eine ernste Miene anzunehmen, wenn sie uns ihre Bekümmernisse erzählen, ist wirklich eine arge Unmenschlichkeit. Liebe ist ein angenehmer, Vergeltungsgefühl ein unangenehmer Affekt ; und deshalb sind wir nicht halb so ängstlich darauf bedacht, daß unsere Freunde unsere Freundschaften zu den ihrigen machen, als daß sie an unserem Vergeltungsgefühl Anteil nehmen. Wir können es ihnen verzeihen, wenn sie etwa für die Gunstbezeigungen wenig Interesse zeigen, die wir empfangen ha-
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ben, aber wir verlieren alle Geduld, wenn ihnen die Beleidigungen gleichgültig zu sein scheinen, die man uns angetan hat. Auch sind wir nicht halb so ärgerlich über sie, wenn sie unsere Dankbarkeit nicht teilen, als wenn sie mit unserem Vergeltungsgefühl nicht sympathisieren. Sie dürfen es ohne weiteres unterlassen, unseren Freunden Freunde zu werden, aber sie können es kaum vermeiden, denjenigen feind zu sein, mit denen wir im Streite liegen. Wir nehmen es ihnen selten übel, wenn sie mit den ersteren in Feindschaft sind, obgleich wir auch aus diesem Grunde uns mitunter läppischerweise so stellen, als ob wir ihnen böse wären ; aber wir sind ihnen ganz ernstlich böse, wenn sie mit den letzteren in Freundschaft stehen. Die angenehmen Affekte der Liebe und der Freude sind imstande, dem Herzen Genugtuung und Erleichterung zu gewähren, ohne daß irgendein anderes Lustgefühl dazutreten müßte. Die bitteren und schmerzlichen Gemütsbewegungen des Kummers und des Vergeltungsgefühles verlangen dagegen in stärkerem Maße nach dem heilenden Trost der Sympathie. Wie derjenige, den ein Ereignis in erster Linie angeht, sich über unsere Sympathie freut und sich über deren Fehlen kränkt, so scheint es, daß auch wir uns freuen, wenn wir fähig sind, mit ihm zu sympathisieren, und daß wir uns kränken, wenn wir dazu nicht imstande sind. Wir eilen nicht nur, dem Glücklichen, der irgendeinen Erfolg errungen hat, unsere Glückwünsche auszusprechen, sondern auch den Betrübten unseres Beileides zu versichern ; und es scheint, daß die Freude, die wir an dem Umgang mit einem Menschen finden, mit dem wir in allen Gefühlen, die sein Herz bewegen, sympathisieren können, die Schmerzlichkeit jenes Kummers überwiege, den uns der Anblick seiner Lage bereitet. Umgekehrt, ist es uns immer unangenehm, zu fühlen, daß wir mit ihm nicht sympathisieren können, und anstatt uns darüber zu freuen, daß wir von dem sympathetischen Schmerz befreit sind, kränkt es uns, wenn wir bemerken, daß wir seine Unruhe nicht
Erster Teil · Erster Abschnitt · Drittes Kapitel
teilen können. Wenn wir hören, wie jemand laut über sein Mißgeschick klagt, und wir doch fühlen, daß dasselbe, wenn wir uns in den Fall ganz hineindenken, keinen solch gewaltigen Eindruck auf uns machen kann, dann werden wir über seinen Kummer Ärger empfinden, und weil wir an ihm nicht teilnehmen können, nennen wir ihn Kleinmütigkeit und Schwäche. Auf der anderen Seite erweckt es auch unseren Verdruß, einen Menschen wegen irgendeines kleinen Endchens Glück, das er erreicht hat, allzu glücklich oder, wie wir sagen, in allzu gehobener Stimmung zu sehen. Seine Freude beleidigt geradezu unser Gefühl, und weil wir ihr nicht beizustimmen vermögen, nennen wir sie Leichtsinn und Torheit. Ja, es raubt uns sogar selbst die gute Laune, wenn unser Gefährte über einen Scherz lauter oder länger lacht, als dieser es unserer Ansicht nach verdient, das heißt länger, als wir unserem Gefühle nach selbst über ihn lachen könnten.
drittes kapitel Von der Art und Weise, wie wir über die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit der Gemütsbewegungen anderer Menschen je nach ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unseren eigenen urteilen. Wenn die ursprünglichen Affekte desjenigen, der durch ein Ereignis in erster Linie betroffen wird, mit den sympathetischen Gemütsbewegungen des Zuschauers in voller Übereinstimmung stehen, dann werden sie notwendig diesem letzteren als richtig und schicklich und als ihren Anlässen angemessen erscheinen ; und umgekehrt, wenn dieser sich in den Fall hineinzudenken sucht und dabei findet, daß diese Affekte nicht mit dem übereinstimmen, was er selbst fühlt, dann erscheinen sie ihm notwendig als unrichtig und unschicklich und als den Ursachen unangemessen,
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die sie hervorrufen. Wenn wir also die Affekte eines anderen als ihren Gegenständen angemessen billigen, so bedeutet das nichts anderes, als daß wir unserer vollen Sympathie mit diesen Affekten inne geworden sind ; und sie nicht als solche billigen, heißt bemerken, daß wir nicht gänzlich mit ihnen sympathisieren. Derjenige, der die Beleidigungen übel aufnimmt, die mir angetan worden sind, und bemerkt, daß ich sie genau ebenso übel aufnehme wie er, wird notwendigerweise mein Vergeltungsgefühl billigen. Derjenige, dessen Sympathie ebenso groß ist wie mein Kummer, wird nicht umhin können, zuzugeben, daß mein Gram begründet und vernunftgemäß ist. Derjenige, der das gleiche Gedicht oder das gleiche Bild bewundert wie ich, und zwar es genau so bewundert wie ich, wird sicherlich einräumen müssen, daß meine Bewunderung berechtigt ist. Derjenige, der über den gleichen Scherz lacht und ebenso lange darüber lacht wie ich, wird nicht gut in Abrede stellen können, daß mein Lachen schicklich und berechtigt ist. Umgekehrt wird derjenige, der bei diesen verschiedenen Gelegenheiten keine derartige Gemütsbewegung empfindet wie ich oder doch keine, die in irgendeinem Verhältnis zu meinen Gefühlen stände, nicht umhin können, meine Empfindungen zu mißbilligen, und zwar eben wegen ihrer Nichtübereinstimmung mit seinen eigenen. Wenn meine Erbitterung jenes Maß überschreitet, mit welchem der Unwille, den mein Freund empfindet, noch übereinzustimmen vermag, wenn mein Kummer jene Grenzen überschreitet, bis zu welchen selbst das zarteste Mitleid meines Freundes mitzugehen vermöchte, wenn meine Bewunderung zu hoch oder zu niedrig ist, um mit der seinigen zusammenzupassen, wenn ich laut und herzlich lache, sobald er nur lächelt oder umgekehrt, bloß lächle, wenn er laut und herzlich lacht ; in allen diesen Fällen werde ich mir notwendig – sobald er von der Betrachtung des Gegenstandes dazu übergeht, den Eindruck zu beachten, den derselbe auf mich macht – seine Mißbilligung zuziehen, und zwar in höherem oder geringerem Grade, je nachdem, ob zwischen
Erster Teil · Erster Abschnitt · Drittes Kapitel
seinen Empfindungen und den meinigen ein größeres oder geringeres Mißverhältnis besteht. Und bei dieser Gelegenheit werden seine eigenen Empfindungen die Richtschnur und der Maßstab sein, nach welchem er die meinigen beurteilt. Die Ansichten eines anderen billigen, heißt diesen Ansichten beipflichten, und ihnen beipflichten, heißt sie billigen. Wenn die gleichen Beweisgründe, die dich überzeugen, auch mich ebenso überzeugen, dann werde ich notwendig deine Überzeugung billigen, wenn nicht, dann werde ich sie notwendig mißbilligen. Und ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ich das eine ohne das andere tun würde. Die Ansichten anderer billigen oder mißbilligen, bedeutet also, wie jedermann zugeben wird, nichts anderes, als deren Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unseren eigenen bemerken. Ganz gleich aber verhält es sich in bezug auf unsere Billigung oder Mißbilligung der Empfindungen oder Affekte anderer. Es gibt allerdings Fälle, in welchen wir scheinbar unsere Billigung erteilen, ohne daß irgendwelche Sympathie oder Übereinstimmung der beiderseitigen Empfindungen vorhanden wäre, und in denen es infolgedessen den Anschein haben möchte, daß hier das Gefühl der Billigung mit der Wahrnehmung dieser Übereinstimmung nicht identisch sei. Indessen wird uns eine kleine Anspannung unserer Aufmerksamkeit davon überzeugen, daß sich selbst in diesen Fällen unsere Billigung in letzter Linie auf eine Sympathie oder eine Übereinstimmung derselben Art gründet wie sonst. Ich will hierfür ein Beispiel anführen und wähle dazu einen ganz unwichtigen Fall, weil die Urteile der Menschen in bezug auf solche Fälle sich weniger leicht durch falsche Lehrbegriffe fälschen und irreleiten lassen : Wir mögen oft einen Scherz billigen und das Lachen der Gesellschaft für ganz richtig und schicklich halten, obwohl wir selbst nicht lachen, vielleicht weil wir in schlechter Stimmung sind, oder weil unsere Aufmerksamkeit gerade durch etwas anderes in Anspruch genommen wird.
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Die Erfahrung hat uns indessen gelehrt, welche Art von Späßen in den meisten Fällen fähig ist, uns zum Lachen zu bringen, und wir bemerken, daß dies ein derartiger Fall ist. Darum billigen wir das Lachen der Gesellschaft und fühlen, daß es ganz natürlich und dem Anlaß angemessen ist, denn wir können zwar in unserer augenblicklichen Stimmung nicht leicht daran teilnehmen, sind uns aber dessen bewußt, daß wir sonst in den meisten Fällen recht herzlich mitlachen würden. Derselbe Fall ereignet sich oft mit allen anderen Affekten. Ein Unbekannter geht auf der Straße mit allen Zeichen der tiefsten Betrübnis an uns vorüber, und man erzählt uns gleich darauf, daß er eben die Nachricht von dem Tode seines Vaters erhalten habe. Es ist unmöglich, daß wir in diesem Falle seinen Kummer nicht gutheißen sollten. Dennoch mag es sich oft zutragen, daß wir – ohne daß dies darum einen Mangel an Menschenfreundlichkeit auf unserer Seite bewiese – weit davon entfernt, die Gewalt seines Leides zu teilen, kaum die ersten Regungen teilnehmender Betrübnis für ihn empfinden. Er und sein Vater sind uns vielleicht gänzlich unbekannt, oder wir sind gerade mit anderen Dingen beschäftigt und nehmen uns nicht die Zeit, uns in unserer Phantasie die verschiedenen Umstände auszumalen, die ihm in seinem Unglück begegnen müssen. Die Erfahrung hat uns indessen gelehrt, daß ein solches Unglück ganz naturgemäß so starken Kummer hervorruft, und wir wissen, daß wir ohne Zweifel äußerst aufrichtig mit ihm sympathisieren würden, wenn wir uns Zeit nähmen, seine Lage gründlich und in jeder Hinsicht zu überdenken. Gerade auf das Bewußtsein dieser bedingten Sympathie gründet sich unsere Billigung seines Kummers auch in solchen Fällen, in welchen wir jene Sympathie tatsächlich nicht empfinden. Und die allgemeinen Regeln, die wir uns auf Grund früherer Erfahrungen gebildet haben, und die uns darüber belehren, womit gemeinhin unsere Empfindungen übereinstimmen würden, werden in diesen wie in manchen anderen Fällen
Erster Teil · Erster Abschnitt · Drittes Kapitel
die Unschicklichkeit unserer gegenwärtigen Gemütsbewegungen richtigstellen. Die Empfindung oder die Neigung des Herzens, aus welcher eine Handlung hervorgeht und von welcher in letzter Linie ihr ganzer Wert oder Unwert abhängen muß, kann von zwei verschiedenen Gesichtspunkten oder in zwei verschiedenen Beziehungen betrachtet werden ; erstens in Beziehung auf die Ursache, die sie hervorrief, oder den Beweggrund, der sie veranlaßte, und zweitens in Beziehung auf den Endzweck, auf den sie hinzielt, oder die Wirkung, die sie hervorzubringen strebt. In der Angemessenheit oder Unangemessenheit, der Verhältnismäßigkeit oder Unverhältnismäßigkeit, in welcher die Gemütsbewegung zu der Ursache oder dem Objekt zu stehen scheint, das sie erregt, besteht die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit, die Anständigkeit oder Unschönheit der aus ihr folgenden Handlung. In dem wohltätigen oder schädlichen Charakter der Wirkungen, auf welche die Gemütsbewegung abzielt oder die sie hervorzubringen strebt, liegt die Verdienstlichkeit oder die Verwerflichkeit der Handlung, das heißt die Eigenschaften, welche ihr entweder den Anspruch auf Lohn oder die Strafwürdigkeit verleihen. Die Philosophen haben in neuerer Zeit hauptsächlich die Wirkungen in Betracht gezogen, auf welche die Gemütsbewegungen gewöhnlich abzielen, und haben dabei der Beziehung wenig Aufmerksamkeit geschenkt, in welcher diese Gemütsbewegungen zu den Ursachen stehen, die sie hervorrufen. Wenn wir jedoch im gewöhnlichen Leben das Verhalten eines Menschen und die Empfindungen beurteilen, die es geleitet haben, dann betrachten wir sie beständig von beiden eben erwähnten Gesichtspunkten aus. Wenn wir an einem Menschen das Übermaß der Liebe, des Kummers oder des Vergeltungsgefühles tadeln, dann überlegen wir nicht nur, welche verderblichen Wirkungen dasselbe hervorzu-
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bringen pflegt, sondern auch, wie geringfügig der Anlaß zu diesem übermäßigen Affekt gewesen ist. Wir sagen dann, daß das Verdienst seines Lieblings nicht so groß, sein Unglück nicht so fürchterlich, die Beleidigung, die ihm zugefügt wurde, nicht so außergewöhnlich sei, um einen so heftigen Affekt zu rechtfertigen. Wir sagen dann, daß wir gegenüber der Heftigkeit seiner Gemütsbewegung Nachsicht geübt, ja, daß wir sie vielleicht gutgeheißen hätten, wenn die Ursache in irgendeiner Hinsicht dieser Heftigkeit angemessen gewesen wäre. Wenn wir in dieser Weise über irgendeinen Affekt das Urteil fällen, er sei der Ursache, die ihn ausgelöst hat, angemessen oder unangemessen, dann ist es kaum möglich, daß wir uns hierzu irgendeiner anderen Richtschnur oder eines anderen Kanons bedienen als der entsprechenden Gemütsbewegung in uns selbst. Wenn wir uns mit unserem ganzen Herzen in den Fall einfühlen und dabei finden, daß die Empfindungen, die er in dem Beurteilten hervorrief, mit unseren eigenen Empfindungen zusammenpassen und übereinstimmen, dann werden wir jene notwendig billigen, da sie ihren Objekten durchaus angemessen seien ; andernfalls werden wir sie notwendig mißbilligen, und sie werden uns als maßlos und als ihrem Gegenstande unangemessen erscheinen. Jedes Vermögen, das ein Mensch in sich findet, ist der Maßstab, nach welchem er das gleiche Vermögen bei einem anderen beurteilt. Ich beurteile deinen Gesichtssinn nach meinem Gesichtssinn, dein Gehör nach meinem Gehör, deine Vernunft nach meiner Vernunft, dein Vergeltungsgefühl nach meinem Vergeltungsgefühl, deine Liebe nach meiner Liebe. Ich habe kein anderes Mittel und kann kein anderes Mittel haben, sie zu beurteilen.
Erster Teil · Erster Abschnitt · Viertes Kapitel
viertes kapitel Fortsetzung desselben Gegenstandes Wir können über die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit der Gefühle eines anderen auf Grund ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unseren eigenen bei zwei verschiedenen Gelegenheiten urteilen : erstens, wenn die Gegenstände, welche diese Gefühle hervorrufen, an sich betrachtet werden und ohne Rücksicht auf die Beziehung, in welcher sie zu uns oder zu der Person stehen, deren Empfindungen wir beurteilen, oder zweitens, wenn sie gerade mit Rücksicht darauf betrachtet werden, wie sie den einen oder anderen von uns beiden berühren. 1. Handelt es sich um solche Gegenstände, welche ohne Rücksicht auf irgendeine besondere Beziehung zu uns oder zu der Person betrachtet werden, deren Empfindungen wir beurteilen, dann schreiben wir dieser Person, sofern ihre Empfindungen durchaus unseren eigenen Empfindungen entsprechen, die Eigenschaft des Geschmackes und guter Urteilsfähigkeit zu. Die Schönheit einer Ebene, die Größe eines Gebirges, die Verzierungen eines Gebäudes, der Ausdruck eines Bildes, der Aufbau eines Vortrages, das Verhalten einer dritten Person, die Verhältnisse verschiedener Größen und Zahlen, die mannigfachen Erscheinungen, welche die große Maschine des Universums beständig zur Schau stellt, mit den verborgenen Rädern und Federn, die diese Erscheinungen hervorbringen, alle die allgemeinen Objekte der Wissenschaft und des Geschmackes, alles das sind Dinge, die von uns und unseren Gefährten als Gegenstände betrachtet werden, die außerhalb jeder besonderen Beziehung auf einen von uns beiden stehen. Wir sehen sie beide von dem gleichen Gesichtspunkt aus, wir brauchen füreinander keine Sympathie zu empfinden oder in Gedanken jenen Wechsel unserer Lage vorzunehmen, aus dem diese entsteht, um mit Bezug auf solche Gegenstände die vollständigste Übereinstimmung der Empfindungen und Gemütsbewegungen
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
herzustellen. Wenn nichtsdestoweniger der Eindruck, den diese Gegenstände auf uns machen, oft ein verschiedener ist, so kommt dies daher, daß die Aufmerksamkeit nicht gleich groß ist, die uns beiden unsere verschiedenen Lebensgewohnheiten den einzelnen Seiten jener komplizierten Objekte zu widmen gestatten, oder daher, daß bei uns die Seelenvermögen, an welche sich eben jene Gegenstände wenden, verschieden scharf und empfindlich sind. Wenn die Gefühle unseres Gefährten in solchen Dingen mit den unsrigen übereinstimmen, die an und für sich so einleuchtend und leicht verständlich sind, daß wir vielleicht noch nie auch nur einen Menschen gefunden haben, der in der Betrachtung dieser Dinge von uns abgewichen wäre, dann müssen wir zwar diese Empfindungen auch bei ihm zweifellos gutheißen, aber er scheint uns doch um ihretwillen nicht Lob oder Bewunderung zu verdienen. Wenn aber seine Empfindungen nicht nur mit den unsrigen übereinstimmen, sondern unsere Empfindungen geradezu leiten und führen ; wenn er, um so fühlen zu können, offenbar auf manche Dinge seine Aufmerksamkeit richten mußte, die wir übersehen hatten, und wenn er diese Gefühle all den mannigfaltigen Umständen angepaßt hat, die sich ihm an den betreffenden Gegenständen zeigten, dann werden wir diese Gefühle nicht nur gutheißen, sondern wir werden staunen und überrascht sein über ihre ungewöhnliche und unerwartete Schärfe und über ihre umfassende Weite, er selbst aber wird uns in sehr hohem Maße Bewunderung und Beifall zu verdienen scheinen. Denn Billigung, erhöht durch Staunen und Überraschung, bildet eben das Gefühl, welches man im eigentlichen Sinne Bewunderung nennt, und dessen natürlicher Ausdruck Beifall ist. Die Entscheidung desjenigen, der das Urteil abgibt, erlesene Schönheit sei der ärgsten Häßlichkeit vorzuziehen, oder zwei mal zwei sei vier, muß gewiß von aller Welt gebilligt werden, sie wird aber sicherlich nicht sehr bewundert werden. Es ist die scharfe und feine Urteils-
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fähigkeit desjenigen, der sich durch guten Geschmack auszeichnet und der die allerkleinsten, kaum wahrnehmbaren Unterschiede der Schönheit und Häßlichkeit bemerkt ; es ist die umfassende Genauigkeit des erfahrenen Mathematikers, der mit Leichtigkeit die verwickeltsten und schwierigsten Proportionen auflöst, es ist der große Führer auf dem Gebiete der Wissenschaft und des Geschmackes, der Mann, der unsere eigenen Empfindungen leitet und lenkt, dessen Begabung uns durch ihre ausgedehnte und überlegene Exaktheit in Erstaunen, Verwunderung und Überraschung versetzt, sie sind es, die unsere Bewunderung erregen und unseren Beifall zu verdienen scheinen ; und auf dieser Grundlage beruht der größte Teil jenes Lobes, das den sogenannten intellektuellen Tugenden gezollt wird. Man könnte meinen, es sei die Nützlichkeit dieser Eigenschaften, was sie uns zunächst empfiehlt ; und zweifellos verleiht ihnen die Betrachtung dieser Nützlichkeit, wenn wir einmal so weit sind, auf diese unsere Aufmerksamkeit zu richten, einen neuen Wert. Ursprünglich jedoch billigen wir eines anderen Menschen Urteil nicht als etwas Nutzbringendes, sondern als richtig, als genau zutreffend, als übereinstimmend mit Wahrheit und Wirklichkeit ; und es ist einleuchtend, daß wir dem Urteil diese Eigenschaften aus keinem anderen Grunde zusprechen, als weil wir finden, daß es mit unserem eigenen übereinstimmt. In gleicher Weise wird der Geschmack ursprünglich nicht als etwas Nützliches gebilligt, sondern als richtig, als feinfühlend, als genau seinen Gegenständen angemessen. Die Vorstellung der Nützlichkeit aller dieser Eigenschaften ist offenkundig eine später hinzutretende Überlegung und nicht sie ist es, was jene Eigenschaften zunächst unserer Billigung empfiehlt. 2. Was jene Gegenstände betrifft, die in besonderer Weise uns selbst oder denjenigen berühren, dessen Empfindungen wir beurteilen, so ist es hier weit schwerer, diese Harmonie und Übereinstimmung zu erhalten, und zugleich ist dies hier bedeutend
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wichtiger. Mein Gefährte wird nicht schon von Natur aus das Unglück, das mich betroffen hat, oder daß Unrecht, das mir zugefügt worden ist, von dem gleichen Gesichtspunkt aus sehen, von dem aus ich es betrachte ; beides wird mich viel näher berühren als ihn. Wir betrachten beides nicht von dem gleichen Standort aus, wie wir es etwa tun, wenn es sich um ein Gemälde oder ein Gedicht oder um ein System der Philosophie handelt, und darum werden auch diese Ereignisse sehr leicht einen ganz verschiedenen Eindruck auf uns machen. Ich kann aber weit leichter über diesen Mangel an Übereinstimmung zwischen unseren beiderseitigen Empfindungen hinwegsehen, wenn es sich um so gleichgültige Gegenstände handelt, die weder mir noch meinem Begleiter besonders nahegehen, als wenn es sich um Dinge handelt, die so sehr mein Interesse berühren wie das Unglück, das mich betroffen hat, oder das Unrecht, das mir angetan worden ist. Wenn du auch jenes Gemälde oder jenes Gedicht oder sogar jenes System der Philosophie gering schätzest, die ich bewundere, so besteht doch wenig Gefahr, daß wir aus diesem Grunde miteinander in Streit geraten sollten. Vernünftigerweise kann keinem von uns beiden viel an diesen Dingen liegen. Alle diese Dinge sollten für uns Angelegenheiten sein, die uns im Grunde ganz gleichgültig lassen, so daß, obgleich unsere Ansichten einander entgegengesetzt sind, doch unsere Gefühle und Neigungen immer noch recht gut miteinander harmonieren können. Es verhält sich aber ganz anders mit jenen Gegenständen, durch die entweder du oder ich besonders nahe berührt werden. Wenn dein Urteil in Fragen der Theorie, wenn deine Empfindungen in Fragen des Geschmackes den meinigen auch ganz entgegengesetzt sind, so kann ich über diesen Gegensatz doch leicht hinwegsehen, und wenn ich nur einige Gemütsruhe besitze, so kann ich immer noch eine gewisse Unterhaltung darin finden, mich mit dir sogar gerade über diese Gegenstände zu unterreden. Wenn du aber kein Mitgefühl für das Unglück hast, das mich betroffen hat,
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oder doch kein Mitgefühl, das in irgendeinem Verhältnis stünde zu dem Kummer, der mich quält ; oder wenn du keinen Unwillen über die Beleidigungen empfindest, die ich erlitten habe, oder doch keinen Unwillen, der in irgendeinem Verhältnis stünde zu dem Vergeltungsgefühl, das mich mit seiner ganzen Heftigkeit ergriffen hat, so werden wir nicht mehr miteinander über diese Angelegenheiten sprechen können. Wir werden einander unerträglich werden. Ich werde deine Gesellschaft so wenig ertragen können wie du die meine. Du wirst bestürzt sein über meine Heftigkeit und meine Leidenschaft, und ich werde wütend sein über deine kalte Unempfindlichkeit und deinen Mangel an Gefühl. Damit eine gewisse Übereinstimmung der Empfindungen zwischen dem Zuschauer und dem zunächst Betroffenen zustande komme, muß der Zuschauer in allen derartigen Fällen vor allem sich bemühen, so sehr er kann, sich in die Lage des anderen zu versetzen und jeden noch so geringfügigen Umstand des Unglückes nachzufühlen, der möglicherweise jenem begegnen kann. Er muß die ganze Angelegenheit seines Gefährten mit allen ihren noch so unbedeutenden Zwischenfällen gleichsam zu seiner eigenen machen und trachten, jenen in der Phantasie vollzogenen Wechsel der Situation, auf welchen sich seine Sympathie gründet, so vollständig als möglich zu gestalten. Indessen werden auch nach allen diesen Bemühungen die Gefühle des Zuschauers weit hinter den heftigen Gemütsbewegungen zurückbleiben, wie sie der zunächst Betroffene empfindet. Die Menschen sind zwar von Natur mit Sympathie begabt, aber niemals fühlen sie für dasjenige, was einem anderen zugestoßen ist, jene gewaltige Leidenschaft, wie sie naturgemäß denjenigen erfüllt, der selbst von dem Ereignis betroffen wurde. Jener in Gedanken vollzogene Wechsel der Situation, auf welchen sich ihre Sympathie gründet, hält nur einen Augenblick an. Der Gedanke daß sie selbst sich in Sicherheit befinden, der Gedanke, daß sie doch selbst nicht wirklich die Leidenden sind, drängt sich
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ihnen immer wieder auf. Dies hindert sie zwar nicht, einen Affekt zu fühlen, der dem, welchen der Leidende selbst empfindet, einigermaßen ähnlich ist, macht es aber doch unmöglich, daß ihre Gefühle auch nur annähernd die Heftigkeit der seinigen erreichen würden. Derjenige, den das Unglück zunächst betroffen hat, ist sich dessen bewußt und verlangt leidenschaftlich nach einer innigeren Sympathie. Er sehnt sich nach jener Erleichterung, die nichts anderes ihm gewähren kann als der volle Einklang zwischen den Empfindungen der Zuschauer und den seinigen. Könnte er sich überzeugen, daß die Gefühle, die ihr Herz bewegen, in jeder Hinsicht mit seinen eigenen harmonieren, so würde das in den heftigen und quälenden Affekten, die ihn durchströmen, seinen einzigen Trost bilden. Aber er kann nur dann hoffen, dies zu erreichen, wenn er seinen Affekt auf jenen Grad herabstimmt, bis zu welchem die Zuschauer mitzugehen vermögen. Er muß, wenn ich so sagen darf, die Heftigkeit des Tones dämpfen, den dieser Affekt von Natur aus hat, um denselben in Harmonie und Einklang mit den Gefühlen derer zu bringen, die um ihn sind. Was sie fühlen, wird zwar immer in gewisser Hinsicht verschieden sein von dem, was er fühlt, und niemals kann das Mitleid genau so groß sein, wie das Leid, durch das es wachgerufen wurde ; denn das geheime Bewußtsein davon, daß doch der Wechsel der Situationen, aus dem das Sympathiegefühl entspringt, nur ein eingebildeter ist, muß daß Mitgefühl nicht nur dem Grade nach herabsetzen, sondern es auch in seiner Art verändern und ihm eine ganz andere Beschaffenheit verleihen. Dennoch ist es offenkundig, daß diese zwei Arten von Empfindungen (der Kummer des ursprünglich Betroffenen und der aus dem Mitleid entstehende Kummer des Zuschauers) immerhin soviel Übereinstimmung miteinander haben können, als für die Harmonie der Gesellschaft ausreichend ist. Jene Empfindungen werden zwar nie ganz gleichklingend, aber sie können doch harmonisch sein und das ist alles, was notwendig oder erforderlich ist.
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Um diese Harmonie zustande zu bringen, hat die Natur die Zuschauer gelehrt, sich in Gedanken in die Lage des zunächst Betroffenen zu versetzen, und ebenso hat sie diesen letzteren gelehrt, sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade in jene der Zuschauer hineinzudenken. Wie sie sich immer wieder in Gedanken an seine Stelle versetzen und dann von diesem Standpunkt aus Gemütsbewegungen erleben, die dem, was er fühlt, ähnlich sind, so versetzt auch er sich immer wieder an ihre Stelle und empfindet von diesem Standpunkt aus gegenüber seinem eigenen Schicksal etwas von jenem kühlen Gleichmut, mit welchem sie es, wie er wohl weiß, betrachten werden. Wie sie immer wieder überlegen, was sie wohl fühlen würden, wenn sie selbst wirklich die Betroffenen wären, so sieht er sich immer wieder veranlaßt, daran zu denken, welchen Eindruck auf ihn, wenn er nur einer der Zuschauer wäre, dann seine jetzige Lage machen würde. Wie ihre Sympathie sie veranlaßt, seine Lage gewissermaßen mit seinen Augen zu betrachten, so veranlaßt ihn seine Sympathie, seine Lage gewissermaßen mit ihren Augen anzusehen, insbesondere, wenn er sich in ihrer Gegenwart befindet und unter ihren Augen handelt. Und da der reflektierte Affekt, den er so empfindet, weit schwächer ist als der ursprüngliche, so dämpft jener die Heftigkeit der Gefühle, die ihn bewegten, bevor er in die Gesellschaft dieser Zuschauer kam, bevor er anfing, sich darauf zu besinnen, welchen Eindruck seine Lage auf sie machen würde, und bevor er begann, seine Lage in diesem gerechten und unparteiischen Lichte zu betrachten. Sicherlich ist das Gemüt eines Menschen selten so verstört, daß ihm nicht die Gesellschaft eines Freundes eine gewisse Ruhe und Gelassenheit wiedergeben könnte. In dem Augenblick, als wir in seine Gesellschaft kommen, wird unser Herz – wenigstens bis zu einem gewissen Grade – besänftigt und beruhigt. Sofort drängt sich uns der Gedanke daran auf, in welchem Lichte er wohl unsere Lage betrachten wird, und wir fangen selbst an, sie in dem glei-
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chen Lichte anzusehen, denn die Wirkung der Sympathie ist eine augenblickliche. Wir erwarten von einem gewöhnlichen Bekannten weniger Sympathie als von einem Freund ; wir können dem ersteren nicht alle jene kleinen Begleitumstände eröffnen, die wir dem letzteren darlegen können, wir zwingen uns daher vor jenem zu größerer Ruhe und bemühen uns, unsere Gedanken auf jene allgemeinen Umrisse unserer Situation zu heften, die auch er bereit sein wird ins Auge zu fassen. Noch weniger Sympathie erwarten wir von Seiten einer Versammlung fremder Personen und wir werden uns daher vor ihnen noch mehr zur Ruhe zwingen und uns noch mehr bemühen, unseren Affekt auf jenes Maß herabzustimmen, bis zu welchem gerade diese Gesellschaft – wie wir erwarten können – in ihrer Anteilnahme noch mitgehen dürfte. Und es ist nicht nur der Anschein der Ruhe, den wir da annehmen ; denn wenn wir überhaupt Herren über uns selbst sind, wird uns wirklich die Gegenwart eines gewöhnlichen Bekannten noch mehr beruhigen als die eines Freundes und die Anwesenheit einer Gesellschaft von Fremden noch mehr als die eines Bekannten. Gesellschaft und Unterhaltung mit Menschen sind darum die mächtigsten Heilmittel, um dem Gemüte seine Ruhe wiederzugeben, wenn es sie einmal unglücklicherweise verloren hat, sie sind aber auch die besten Schutzmittel, um jene gleichmütige und glückliche Gemütsstimmung zu bewahren, die zur Selbstzufriedenheit und zur Lebensfreude so notwendig ist. Menschen, die in Zurückgezogenheit leben und sich gerne ihren Betrachtungen hingeben, die zu Hause zu sitzen und über ihren Kummer oder ihr Vergeltungsgefühl zu brüten pflegen, mögen zwar oft mehr Menschlichkeit, größeren Edelmut und ein feineres Ehrgefühl besitzen, aber sie werden selten im Besitze jener gleichmütigen Stimmung sein, die unter Männern von Welt so allgemein verbreitet ist.
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fünftes kapitel Über die liebenswerten und die achtunggebietenden Tugenden Auf das Bemühen des Zuschauers, die Empfindungen des zunächst Betroffenen nachzufühlen, und auf das Bemühen des letzteren, seine Gefühle auf jenes Maß herabzustimmen, bis zu welchem der Zuschauer mitzugehen vermag, auf diese zwei verschiedenen Bemühungen gründen sich zwei verschiedene Arten von Tugenden. Die sanften, die zarten, die liebenswürdigen Tugenden, die Tugenden aufrichtiger Herablassung und nachsichtiger Menschlichkeit gründen sich auf die eine; die erhabenen, ehrwürdigen und achtunggebietenden Tugenden, die Tugenden der Selbst verleugnung, der Selbstbeherrschung und jener Herrschaft über die Affekte, welche alle unsere Gemütsbewegungen dem unterordnet, was unsere Würde und Ehre und die Schicklichkeit des Betragens von uns fordern, nehmen ihren Ursprung von der anderen. Wie liebenswert erscheint derjenige, dessen mitfühlendes Herz gleichsam widerhallt von all den Empfindungen jener Personen, mit denen er verkehrt, der bekümmert ist über ihre Bedrängnisse, der die ihnen zugefügten Kränkungen selbst übelnimmt, und der Freude empfindet über ihr Glück. Sobald wir uns in die Lage seiner Gefährten hineindenken, nehmen wir an ihrer Dankbarkeit teil und fühlen, welchen Trost sie aus der zärtlichen Sympathie eines so hingebungsvollen Freundes gewinnen müssen. Und auf der anderen Seite ; wie unangenehm erscheint uns derjenige, dessen hartes und verstocktes Herz nur für sich selbst fühlt, aber vollständig unempfindlich ist für das Glück oder das Elend des anderen. Wir nehmen auch in diesem Falle teil an der Pein, die seine Gegenwart jedem Sterblichen bereiten muß, mit dem er in Berührung kommt, vor allem aber denjenigen, mit denen wir am meisten zu sympathisieren pflegen, den Unglücklichen und Gekränkten.
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
Andererseits, welche edle Schicklichkeit und welchen Anstand fühlen wir in dem Betragen derjenigen, die in ihren eigenen Angelegenheiten jene Sammlung und Selbstbeherrschung zeigen, welche jedem Affekt eine gewisse Würde verleihen, und welche diesen soweit herabstimmen, daß andere ihn mitfühlen können ! Wir werden angewidert durch jenen lärmenden Schmerz, der ohne jedes Taktgefühl mit Seufzern, Tränen und lästigen Klagen unser Mitleid anruft. Aber wir verehren jene zurückhaltende, jene stille und hoheitsvolle Trauer, welche sich nur in dem Anschwellen der Augen, in dem Zittern der Lippen und Wangen verrät und in der zurückhaltenden aber ergreifenden Kälte des ganzen Betragens. Sie legt auch uns das gleiche Schweigen auf. Wir betrachten sie mit achtungsvoller Aufmerksamkeit und wachen mit ängstlichem Eifer über unser ganzes Betragen, damit wir nicht durch eine Unschicklichkeit diese Fassung und Ruhe stören, die aufrecht zu halten eine so große Anstrengung erfordert. Ebenso verhält es sich mit der Maßlosigkeit und Roheit des Zornes. Wenn man sich seiner Wut ohne Rückhalt und Hemmung überläßt, so erscheint uns dies äußerst verabscheuenswürdig. Aber wir bewundern jenes edle und vornehme Vergeltungsgefühl, welches sich in der Verfolgung der größten Beleidigungen nicht durch die Wut lenken läßt, die sie in der Brust des Angegriffenen zu erregen pflegen, sondern durch den Unwillen, wie sie ihn naturgemäß im Herzen des unparteiischen Zuschauers hervorrufen ; jenes Vergeltungsgefühl, das sich kein Wort, keine Geste entschlüpfen läßt, die über jenes Maß hinausgingen, welches dieses gerechtere Gefühl des unbeteiligten Zuschauers vorschreiben würde ; welches niemals – nicht einmal in Gedanken – eine größere Rache anstrebt, noch eine strengere Bestrafung zu verhängen wünscht, als sie jede unbeteiligte Person gerne vollstreckt sehen würde. Und daher kommt es, daß viel für andere und wenig für uns selbst zu fühlen, unsere selbstischen Neigungen im Zaume zu hal-
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ten und unseren wohlwollenden die Zügel schießen zu lassen, die Vollkommenheit der menschlichen Natur ausmacht und allein in der Menschheit jene Harmonie der Empfindungen und Affekte hervorbringen kann, in der ihre ganze Würde und Schicklichkeit gelegen ist. Wie es das erhabene Gesetz des Christentums ist, unseren Nächsten zu lieben, wie wir uns selber lieben, so ist es das erhabene Gebot der Natur, uns selbst nur so zu lieben, wie wir unseren Nächsten lieben, oder was auf das Gleiche herauskommt, wie unser Nächster fähig ist, uns zu lieben. Wie man voraussetzt, daß Geschmack und gutes Urteilsvermögen – sobald sie als Eigenschaften angesehen werden sollen, die Lob und Bewunderung verdienen – eine Zartheit des Gefühls und eine Schärfe des Verstandes in sich schließen, wie man sie nicht alle Tage findet, so bestehen nach allgemeiner Auffassung die Tugenden der Feinfühligkeit und Selbstbeherrschung nicht in den gewöhnlichen, sondern in den außergewöhnlichen Graden dieser Eigenschaften. Die liebenswürdige Eigenschaft der Menschlichkeit fordert sicherlich ein Zartgefühl, das jenes weit übertrifft, welches der rohe Pöbel gemeinhin besitzt. Die edle und erhabene Tugend der Seelengröße verlangt zweifellos weit mehr als jenen Grad von Selbstbeherrschung, den auch der schwächste der Sterblichen zu üben fähig ist. Wie in dem gewöhnlichen Grad intellektueller Eigenschaften keine Talente liegen, so ist in dem gewöhnlichen Grad moralischer Eigenschaften keine Tugend. Tugend ist eine hervorragende Trefflichkeit, etwas ungewöhnlich Großes und Schönes, das sich weit erhebt über alles, was gemein und gewöhnlich ist. Die liebenswürdigen Tugenden bestehen in jenem Grade des Zartgefühls, welches durch seine ausgesuchte und unerwartete Feinheit und Zartheit überrascht, die ehrwürdigen und achtunggebietenden Tugenden in jenem Grade von Selbstbeherrschung, der uns durch seine wunderbare Gewalt über die unlenkbarsten Leidenschaften der menschlichen Natur in Erstaunen setzt.
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
Es besteht in dieser Hinsicht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Tugend und bloßer Richtigkeit oder Schicklichkeit des Verhaltens, zwischen solchen Eigenschaften und Handlungen, welche bewundert und gefeiert zu werden verdienen, und solchen, welche nur verdienen, gebilligt zu werden. Der vollständigsten Richtigkeit oder Schicklichkeit gemäß zu handeln, erfordert bei vielen Gelegenheiten nicht mehr als jenen allgemeinen und gewöhnlichen Grad von Zartgefühl oder Selbstbeherrschung, in dessen Besitz sich auch der nichtswürdigste der Menschen befindet, und manchmal ist selbst dieser Grad nicht notwendig. So – um ein ganz niedriges Beispiel zu geben – ist zu essen, wenn man hungrig ist, sicherlich unter normalen Verhältnissen vollständig recht und schicklich, und niemand kann umhin, dieses Verhalten als recht und schicklich zu billigen. Trotzdem könnte nichts ungereimter sein, als zu sagen, dieses Verhalten sei tugendhaft. Umgekehrt kann häufig ein beträchtlicher Grad von Tugend in jenen Handlungen vorliegen, die doch die vollendetste Richtigkeit nicht erreichen ; denn sie mögen der Vollkommenheit immer noch näher kommen, als man dies unter Verhältnissen wohl erwarten konnte, in denen es so äußerst schwierig ist, Vollkommenheit zu erlangen. Und dies ist sehr oft der Fall bei solchen Gelegenheiten, die den größten Aufwand von Selbstbeherrschung erfordern. Es gibt Situationen, die so große Anforderungen an die menschliche Natur stellen, daß der höchste Grad von Selbstbeherrschung, den ein so unvollkommenes Geschöpf wie der Mensch besitzen kann, nicht fähig ist, die Stimme der menschlichen Schwachheit ganz und gar zum Verstummen zu bringen oder die Gewalt der Leidenschaften auf jene Stufe der Mäßigung herabzudämpfen, daß der unparteiische Zuschauer sie durchaus nachfühlen kann. Obwohl also in diesen Fällen das Betragen des Leidenden die vollkommenste Richtigkeit und Schicklichkeit nicht erreicht, kann es doch noch einigen Beifall verdienen und in gewissem Sinne sogar als tugendhaft bezeichnet werden. Es
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kann immer noch einen Aufwand von Edelmut und Hochherzigkeit offenbaren, dessen der größere Teil der Menschheit unfähig ist ; und obwohl es die absolute Vollkommenheit nicht erreicht, kann es doch eine größere Annäherung an die Vollkommenheit darstellen, als man gemeinhin bei Gelegenheiten, die so große Anforderungen an den Menschen stellen, finden oder erwarten dürfte. Wenn wir in Fällen dieser Art den Grad des Tadels oder Beifalls bestimmen, der einer Handlung zu gebühren scheint, gebrauchen wir dabei häufig zwei verschiedene Maßstäbe. Der eine ist die Vorstellung der vollständigen Richtigkeit und Vollkommenheit, einer Vollkommenheit, die in jenen schwierigen Lagen kein menschliches Verhalten jemals erreichte oder jemals erreichen kann, und mit der verglichen die Handlungen aller Menschen stets tadelnswert und unvollkommen erscheinen müssen. Der zweite ist die Vorstellung jenes Grades der Nähe oder Entfernung von jener vollständigen Vollkommenheit, welchen die Handlungen der Mehrzahl der Menschen gemeinhin erreichen. Was immer über diesen Grad hinausgeht, scheint – soweit es auch noch von absoluter Vollkommenheit entfernt sein mag – Beifall zu verdienen ; und was immer hinter ihm zurückbleibt, scheint uns Tadel zu verdienen. In der gleichen Weise urteilen wir über die Hervorbringung aller derjenigen Künste, welche sich an die Einbildungskraft wenden. Wenn ein Ästhetiker das Werk eines der großen Meister der Dichtkunst oder der Malerei prüft, mag er es mitunter nach einer Idee der Vollkommenheit beurteilen, die ihm im Geiste vorschwebt, an die aber weder dieses noch irgend ein anderes Menschenwerk jemals heranreichen wird ; und so lange er es mit diesem Maßstab mißt, kann er nichts an ihm sehen als Fehler und Unvollkommenheiten. Wenn er aber nun darangeht, zu überlegen, welcher Rang ihm unter anderen Werken der gleichen Art zukommt, dann mißt er es notwendigerweise mit einem ganz an-
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
deren Maßstab, nämlich an dem allgemeinen Grad von Vollendung, der gerade in dieser Kunst gewöhnlich erreicht wird ; und wenn er es nach diesem neuen Kriterium beurteilt, dann mag es oft des höchsten Beifalls würdig erscheinen, im Hinblick darauf, daß es sich weit mehr der Vollkommenheit nähert als die Mehrzahl jener Werke, die man in Wettbewerb mit ihm bringen könnte. ZWEITER ABSCHNIT T
Über die Grade der verschiedenen Affekte, die mit der Schicklichkeit vereinbar sind. einleitung Die Schicklichkeit oder Richtigkeit eines jeden Affekts, der durch solche Gegenstände erweckt wird, die in irgendeiner besonderen Beziehung zu uns stehen, der Grad des Affekts, bis zu welchem der Zuschauer mitzugehen vermag, muß offenbar in einem gewissen Mittelmaß gelegen sein. Wenn der Affekt zu stark oder zu schwach ist, kann der Zuschauer ihn nicht nachfühlen. Kummer und Vergeltungsgefühl wegen solcher Unglücksfälle oder Beleidigungen, die uns persönlich betreffen, können zum Beispiel leicht einen zu hohen Grad annehmen, und bei der Mehrzahl der Menschen ist dies auch meist der Fall. Sie können ebenso, obwohl dies seltener vorkommt, zu schwach sein. Wir bezeichnen das Übermaß als Schwäche und Wut und wir nennen den zu geringen Grad Unempfindlichkeit, Gefühllosigkeit oder Mangel an Temperament. Wir können an keinem von beiden Anteil nehmen, sondern sind erstaunt und verwirrt, wenn wir sie vor uns sehen. Dieses Mittelmaß, welches denjenigen Grad des Affekts darstellt, der als schicklich oder richtig gilt, ist indessen verschieden bei den verschiedenen Affekten. Es liegt bei manchen hoch, bei anderen niedrig. Es gibt Affekte, die sehr stark zum Ausdruck
Erster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
zu bringen, unanständig ist, selbst bei solchen Gelegenheiten, in denen wir, wie man zugeben muß, nicht umhin können, sie im höchsten Grade zu fühlen. Und es gibt andere, deren stärkste Äußerung bei vielen Gelegenheiten als äußerst tugendhaft gilt, sogar dann, wenn die Affekte selbst vielleicht nicht so notwendig entstehen mußten. Die ersten sind solche Affekte, mit denen man aus bestimmten Gründen wenig oder keine Sympathie fühlt ; die zweiten sind jene, denen aus anderen Gründen die stärkste Sympathie entgegengebracht wird. Und wenn wir all die verschiedenen Affekte der menschlichen Natur betrachten, werden wir finden, daß sie als anständig oder unanständig angesehen werden, gerade im gleichen Verhältnis, als die Menschen mehr oder weniger geneigt sind, mit ihnen zu sympathisieren.
erstes kapitel Über die Affekte, welche ihren Ursprung vom Körper nehmen. 1. Es ist unanständig, einen starken Grad jener Affekte zum Ausdruck zu bringen, welche aus einem gewissen Zustand oder einer bestimmten Verfassung des Körpers entstehen ; denn man kann nicht erwarten, daß unsere Umgebung, die sich nicht in der gleichen körperlichen Verfassung befindet, mit ihnen sympathisiere. Heftiger Hunger wirkt zum Beispiel – obwohl er in vielen Fällen nicht nur natürlich, sondern unvermeidlich ist – immer unanständig, und gierig zu essen wird allgemein als ein Verstoß gegen die guten Manieren betrachtet. Es gibt indessen einen gewissen Grad von Sympathie sogar gegenüber dem Hunger. Es ist uns angenehm, unsere Gefährten mit gutem Appetit essen zu sehen, und jeder Ausdruck des Ekelgefühls wirkt anstößig. Die Körperbeschaffenheit, die für einen gesunden Menschen die gewöhnliche ist, läßt seinen Magen, wenn ich einen so sonderbaren Aus-
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druck gebrauchen darf, gleichsam mit dem ersteren harmonieren, nicht aber mit dem letzteren. Wir können mit den Leiden sympathisieren, die übermäßiger Hunger hervorruft, wenn wir ihn etwa in dem Tagebuch einer Belagerung oder einer Seereise geschildert finden. Wir versetzen uns in der Phantasie selbst in die Lage der Unglücklichen und verstehen von da aus leicht den Kummer, die Furcht und die Bestürzung, die sie notwendigerweise quälen müssen. Wir fühlen selbst jene Affekte in einem gewissen Grade und sympathisieren deshalb mit ihnen ; aber da wir durch die Lektüre dieser Beschreibung nicht hungrig werden, kann man selbst in diesem Fall nicht eigentlich von uns behaupten, daß wir mit ihrem Hunger sympathisieren. Dasselbe ist der Fall mit dem Affekt, durch den die Natur die beiden Geschlechter eint. Obwohl von Natur aus der rasendste aller Affekte, ist doch jeder starke Ausdruck desselben bei allen Gelegenheiten unanständig, selbst bei Personen, zwischen denen die vollständigste Befriedigung dieses Affekts durch alle menschlichen und göttlichen Gesetze als gänzlich unschuldig anerkannt wird. Es gibt freilich, wie es scheint, einen gewissen Grad von Sympathie selbst mit diesem Affekt. Mit einer Frau so zu sprechen, wie wir es mit einem Mann tun würden, ist unschicklich ; man erwartet, daß ihre Gesellschaft uns mehr Fröhlichkeit, mehr Liebenswürdigkeit, mehr Aufmerksamkeit einflößen werde ; und eine vollständige Unempfindlichkeit gegen das schöne Geschlecht macht einen Mann in gewissem Maße selbst Männern verächtlich. Derart ist unsere Abneigung gegen alle Begierden, die vom Körper ihren Ursprung nehmen : Jeder starke Ausdruck derselben wirkt ekelhaft und unangenehm. Nach einigen antiken Philosophen sind dies eben die Leidenschaften, die wir mit den Tieren teilen, und die, da sie nicht mit den charakteristischen Eigenschaften der menschlichen Natur in Zusammenhang stehen, deshalb unter deren Würde sind. Aber es gibt viele andere Affekte, die
Erster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
wir ebenfalls mit den Tieren teilen, wie Vergeltungsgefühl, natürliche Zuneigung, ja sogar Dankbarkeit, und die uns darum doch nicht als so tierisch erscheinen. Die wahre Ursache des eigentümlichen Widerwillens, den wir gegen diese körperlichen Begierden empfinden, sobald wir sie an anderen Menschen wahrnehmen, ist, daß wir sie nicht nachfühlen können. Für denjenigen selbst, der diese Begierden fühlt, hört, sowie sie befriedigt sind, der Gegenstand, der sie erregte, auf, angenehm zu sein ; selbst dessen Gegenwart wird ihm oft widerwärtig ; er sieht sich vergebens nach dem Zauber um, der ihn noch vor einem Augenblick entzückte, und er kann nun so wenig den Affekt, den er selbst früher erlebt hat, nachempfinden als irgendein anderer Mensch. Sobald wir zu Mittag gegessen haben, lassen wir die Gedecke entfernen ; und wir würden ganz ebenso die Gegenstände unserer glühendsten und leidenschaftlichsten Begierden behandeln, wenn sie nicht auch Gegenstände anderer Affekte wären, als solcher, die ihren Ursprung vom Körper nehmen. In der Herrschaft über jene körperlichen Begierden besteht diejenige Tugend, welche im eigentlichen Sinne Mäßigkeit genannt wird. Die Begierden in jenen Grenzen zu halten, welche die Rücksicht auf Gesundheit und Vermögen vorschreibt, ist Aufgabe der Klugheit. Aber sie in jene Schranken zu verweisen, welche Anmut, Schicklichkeit, Zartgefühl und Bescheidenheit fordern, ist das Amt der Mäßigkeit. 2. Aus dem gleichen Grunde erscheint uns lautes Aufschreien wegen körperlicher Schmerzen – so unerträglich sie auch immer sein mögen – stets unmännlich und ungeziemend. Es findet jedoch auch sehr viel Sympathie selbst mit körperlichem Schmerze statt. Wenn ich – nach einem bereits erwähnten Beispiel – sehe, wie jemand gegen einen anderen eben zum Schlage ausholt und wie dieser Schlag gerade auf das Bein oder den Arm des anderen niedersausen soll, dann zucke ich unwillkürlich zusammen und ziehe mein eigenes Bein oder meinen eigenen Arm zurück ;
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
und wenn er wirklich den Körper des anderen trifft, dann fühle ich ihn in gewissem Maße selbst und empfinde den Schmerz, wie der Betroffene. Indessen – mein Schmerzgefühl ist doch zweifellos äußerst schwach, und deshalb werde ich ihn – wenn er einen lauten Aufschrei ausstößt – unfehlbar verachten, da ich seine Gefühle nicht so weit zu teilen vermag. Und dies ist der Fall mit all den Affekten, die vom Körper ihren Ursprung nehmen : sie erregen entweder überhaupt keine Sympathie oder doch nur einen so schwachen Grad derselben, daß er durchaus in keinem Verhältnis zu der Gewalt dessen steht, was der Leidende fühlt. Ganz anders verhält es sich mit jenen Affekten, die aus der Einbildungskraft entspringen. Der Zustand meines Körpers kann nur wenig von solchen Veränderungen berührt werden, die in jenem meines Gefährten vor sich gehen ; aber meine Einbildungskraft ist lenkbarer und sie nimmt sozusagen leichter Form und Gestaltung der Vorstellungen derjenigen an, mit denen ich vertraut bin. Enttäuschte Liebe oder gekränkter Ehrgeiz werden deshalb mehr Sympathie hervorrufen als das größte körperliche Übel. Jene Affekte entstehen aber ganz und gar aus der Einbildungskraft. Derjenige, der sein ganzes Vermögen verloren hat, fühlt, sofern er sich nur bei guter Gesundheit befindet, nichts an seinem Körper. Was er leidet, kommt nur aus der Einbildungskraft, die ihm den Verlust seines Ranges, die Vernachlässigung seitens seiner Freunde, die Verachtung seitens seiner Feinde, die Abhängigkeit, den Mangel und das Elend zum Bewußtsein bringt, die nun rasch über ihn hereinbrechen werden ; und wir sympathisieren mit ihm deshalb stärker, weil sich unsere Vorstellungen leichter nach seinen Vorstellungen bilden können, als unser Körper sich nach seinem Körper umbilden könnte. Der Verlust eines Beines mag im allgemeinen für ein ernstlicheres Unglück angesehen werden als der Verlust einer Geliebten. Dennoch wäre eine Tragödie, deren Katastrophe auf den Verlust eines Beines hinausliefe, durchaus lächerlich. Das Unglück, das
Erster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
im Verluste der Geliebten liegt, hat dagegen, so geringfügig es auch an und für sich erscheinen mag, doch zu mancher schönen Tragödie Anlaß gegeben. Nichts wird so rasch vergessen wie körperlicher Schmerz. In dem Augenblick, in dem er vergangen ist, ist seine ganze Qual vorüber und der Gedanke daran kann uns keinerlei Beunruhigung mehr bereiten. Wir selbst können die Beklemmung und Angst, die wir vorher gefühlt hatten, nicht mehr nachempfinden. Ein unbedachtes Wort eines Freundes wird ein viel dauernderes Unbehagen hervorrufen. Die Qual, die dieses erzeugt, ist keineswegs vorüber, sobald das Wort verklungen ist. Was uns zunächst beunruhigt, ist hier nicht das Sinnesobjekt, sondern die Vorstellung der Einbildungskraft. Und deshalb, weil es eine Vorstellung ist, die unser Unbehagen veranlaßt, wird die Einbildungskraft fortwährend bei dem Gedanken daran innerlich weiter wühlen und um sich fressen, bis Zeit und neue Ereignisse diese Vorstellung aus unserem Gedächtnis ausgelöscht haben. Körperlicher Schmerz ruft niemals eine sehr lebhafte Sympathie hervor, außer er ist von Gefahr begleitet. Wir sympathisieren dann mit der Furcht, wenngleich nicht mit der Qual des Leidenden. Furcht ist jedoch ein Affekt, der ganz und gar aus der Einbildungskraft entsteht, die uns mit einer Ungewißheit und einem Schwanken, welche unsere Ängstlichkeit vermehren, zum Bewußtsein bringt, nicht, was wir wirklich fühlen, sondern was wir möglicherweise in Zukunft erdulden werden. Gicht oder Zahnweh, obwohl äußerst schmerzhaft, erwecken doch sehr wenig Sympathie ; gefährlichere Krankheiten erregen das stärkste Mitgefühl, auch wenn sie mit sehr wenig Schmerzen verbunden sind. Manche Leute werden beim Anblick einer chirurgischen Operation ohnmächtig und unwohl, und jener körperliche Schmerz, der durch das Zerreißen des Fleisches verursacht wird, scheint bei ihnen die äußerste Sympathie zu erregen. Wir begreifen den Schmerz lebendiger und deutlicher, der aus einer äußeren Ursa-
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che hervorgeht, als jenen, der aus einer inneren Störung entsteht. Ich kann mir kaum eine Vorstellung von den Qualen meines Nächsten machen, wenn er von der Gicht oder vom Stein gemartert wird ; aber ich habe den klarsten Begriff davon, was er infolge eines Schnittes, einer Wunde oder eines Knochenbruches leiden muß. Doch ist der Hauptgrund, warum der Anblick solcher Dinge einen so gewaltigen Eindruck auf uns hervorbringt, ihre Neuheit. Wer einmal Zeuge von einem Dutzend Leichenöffnungen und ebensovielen Amputationen war, wird von dieser Zeit an alle derartigen Operationen mit großer Gleichgültigkeit und oft mit völliger Gefühllosigkeit mit ansehen. Mögen wir aber auch mehr als fünfhundert Trauerspiele gelesen oder aufgeführt gesehen haben, so werden wir doch selten eine so vollständige Herabstimmung unserer Empfänglichkeit für jene Vorgänge fühlen, die sie uns darstellen. In einigen griechischen Tragödien findet sich der Versuch, Mitleid durch die Vorführung der Qualen körperlichen Leidens zu erregen. Philoktetes schreit laut auf und sinkt unter dem Übermaß seiner Schmerzen ohnmächtig nieder. Hippolytus und Herkules werden uns vorgeführt, wie sie unter den ärgsten Martern ihr Leben aushauchen, die zu ertragen selbst die Seelenstärke des Herkules scheinbar nicht fähig war. Doch es ist in all diesen Fällen nicht der körperliche Schmerz, was unsere Teilnahme erweckt, sondern ein anderer Umstand. Nicht das Fußleiden, sondern die Einsamkeit des Philoktetes rührt uns und breitet über diese entzückende Tragödie jenen romantischen Schein der Wildnis, welcher der Phantasie so angenehm ist. Die Qualen des Herkules und des Hippolytus erwecken Anteilnahme nur deshalb, weil wir voraussehen, daß sie zum Tode führen müssen. Wenn jene Helden später genesen sollten, dann würden wir die Vorführung ihrer Leiden für völlig lächerlich halten. Was für eine Tragödie wäre das, deren Tragik in einem Anfall von Krämpfen bestünde ! Und doch ist kein Schmerz heftiger. Diese Versuche, Mitleid durch die
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Vorführung körperlichen Schmerzes zu erregen, können zu den größten Verletzungen der Wohlanständigkeit gerechnet werden, von denen die griechische Bühne das Beispiel gegeben hat. Die geringe Sympathie, die wir mit körperlichem Schmerz empfinden, ist der Grund, weshalb wir im standhaften und geduldigen Ertragen körperlicher Schmerzen das sittlich Richtige oder Schickliche erblicken. Der Mann, der unter den heftigsten Schmerzen sich keiner Schwäche überläßt, keinen Seufzer ausstößt, sich keinem Affekt hingibt, den wir nicht gänzlich mitzuempfinden vermöchten, fordert unsere höchste Bewunderung heraus. Seine Standhaftigkeit macht ihn fähig, mit unserer Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit gleichen Schritt zu halten. Wir bewundern die erhabene Anstrengung, die er zu diesem Zwecke macht, und begleiten sie mit unserer Anteilnahme. Wir billigen sein Betragen und sind auf Grund unserer Erfahrung von der gewöhnlichen Schwachheit der menschlichen Natur überrascht und voller Staunen darüber, wie er nur fähig sein mag, so zu handeln, daß er unsere Billigung verdient. Billigung im Verein mit Staunen und Überraschung, die sie beseelen, bildet das Gefühl, das im eigentlichen Sinne Bewunderung genannt wird, und dessen natürlicher Ausdruck der Beifall ist, wie dies bereits im früheren bemerkt wurde.
zweites kapitel Über jene Affekte, die ihren Ursprung einer besonderen Richtung oder Beschaffenheit der Einbildungskraft verdanken. Aber auch von den aus der Einbildungskraft stammenden Affekten erwecken diejenigen, die ihren Ursprung aus einer eigentümlichen Richtung oder Beschaffenheit herleiten, die von der Einbildungskraft erworben wurde – obwohl sie anerkanntermaßen
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vollständig natürlich sind – doch wenig Sympathie. Die Einbildungskraft der übrigen Menschen kann, da sie diese besondere Richtung nicht erworben hat, solche Affekte nicht teilen ; und obwohl man zugibt, daß diese Affekte in gewissen Lebenslagen ganz unvermeidlich sein mögen, erscheinen sie den anderen Menschen doch immer einigermaßen lächerlich. Dies ist der Fall mit jener starken Zuneigung, wie sie sich natürlicherweise zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechtes ausbildet, die lange Zeit all ihre Gedanken aufeinander gerichtet haben. Da unsere Einbildungskraft nicht die gleichen Bahnen eingeschlagen hat wie die der Liebenden, vermögen wir die Heftigkeit ihrer Gemütsbewegungen nicht zu teilen. Wenn unser Freund beleidigt worden ist, dann sympathisieren wir leicht mit seinem Vergeltungsgefühl und werden ärgerlich gerade gegen die Person, gegen die auch er ärgerlich ist. Wenn er eine Wohltat empfangen hat, teilen wir gerne seine Dankbarkeit und haben sehr viel Verständnis für das Verdienst seines Wohltäters. Wenn er aber verliebt ist – mögen wir auch seine Leidenschaft für gerade ebenso vernünftig halten als irgendeine andere dieser Art – so erachten wir uns doch niemals für verpflichtet, eine Leidenschaft der gleichen Art zu fühlen und etwa gar für die gleiche Person, für die er sie gefaßt hat. Die Leidenschaft erscheint jedermann – außer demjenigen, der sie fühlt – als gänzlich unverhältnismäßig gegenüber dem Wert ihres Gegenstandes ; und Liebe wird, obwohl man sie in einem gewissen Alter verzeiht, weil man weiß, daß sie etwas Natürliches ist, doch immer verlacht, da man sie eben nicht teilen kann. Jeder heftige und starke Ausdruck derselben erscheint einer dritten Person lächerlich ; und mag ein Verliebter auch für seine Geliebte eine angenehme Gesellschaft sein – sonst ist er es gewiß für niemanden. Er selbst fühlt dies und solange er bei nüchternem Verstande ist, bemüht er sich, von seiner Leidenschaft mit spöttischem Lächeln zu reden. Einzig und allein in diesem Ton wollen wir davon reden hören, weil wir auch selbst nur in diesem Ton ge-
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launt sind, darüber zu sprechen. Der ernsten, pedantischen und wortreichen Liebe eines Cowley und eines Petrarca, die sich nie damit genug tun können, die Gewalt ihrer zärtlichen Gefühle zu übertreiben, werden wir bald überdrüssig ; die Heiterkeit Ovids aber und die Galanterie des Horaz sind uns immer angenehm. Aber obwohl wir keine eigentliche Sympathie für eine derartige Zuneigung fühlen, obwohl wir niemals, nicht einmal in Gedanken dahin gelangen werden, gerade für diese Person eine Leidenschaft zu fassen, so werden wir doch leicht – da wir ja selbst Leidenschaften dieser Art schon empfunden haben oder doch geneigt sein mögen, sie einmal zu empfinden – jene hohen Glückshoffnungen nachfühlen können, die man auf ihre Befriedigung setzt, und ebenso jenes maßlose Leid, das man von der Enttäuschung jener Hoffnungen fürchtet. Jene Liebe erweckt unsere Anteilnahme nicht als der Affekt, der sie ist, sondern als eine Situation, welche zu anderen Affekten Anlaß gibt, die unsere Anteilnahme wachrufen : zu Hoffnung, Furcht und Leiden jeder Art ; ebenso wie es in der Schilderung einer Seereise nicht der Hunger ist, was unsere Teilnahme erregt, sondern die Leiden, die jener Hunger verursacht. Obwohl wir die Zuneigung des Verliebten nicht eigentlich teilen, so fühlen wir doch leicht mit ihm jene Hoffnungen eines romanhaften Glücks, die er aus ihr schöpft. Wir empfinden, wie natürlich es in gewissen Lagen der Seele ist, wenn sie bis zur Gefühllosigkeit abgespannt und von der Heftigkeit des Verlangens ermüdet ist, sich nach Heiterkeit und Ruhe zu sehnen, zu hoffen, daß sie sie in der Befriedigung jener Leidenschaften finden werde, die sie quälen, und sich die Vorstellung von jenem ruhevollen und weltabgeschiedenen Schäferleben zu ersinnen, das der elegante, zärtliche und leidenschaftliche Tibull so gerne schildert ; ein Leben, wie es uns die Dichter auf den »glücklichen Inseln« beschreiben, ein Leben voll Freundschaft, Freiheit und Ruhe, frei von Arbeit und Sorge und frei von all den stürmischen Leidenschaften, die sie begleiten. Aber auch derartige
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Szenen erwecken dann am meisten unsere Anteilnahme, wenn sie uns als ein Glück geschildert werden, daß der Held in Zukunft zu erringen hofft, und nicht als ein Zustand, den er gegenwärtig bereits genießt. Das Rohe jener Leidenschaft, die mit der Liebe vermengt ist und vielleicht deren wahren Kern bildet, verschwindet, sobald ihre Befriedigung in weiter Ferne liegt ; aber es macht die ganze Schilderung anstößig, wenn man sie beschreibt, wie sie eben genossen und besessen wird. Die glückliche Leidenschaft erweckt unsere Teilnahme darum weit weniger als die bangende und schwermütige. Wir zittern vor allem, was so natürliche und liebliche Hoffnungen enttäuschen kann, und darum teilen wir alle Angst und Sorge und alles Leid des Liebenden. Daher kommt es, daß in einigen modernen Trauerspielen und Romanen diese Leidenschaft so wunderbar ergreifend erscheint. Es ist nicht so sehr die Liebe von Castalio und Monimia, die uns in der »Waisen« so stark fesselt, als das Leid, welches diese Liebe verursacht. Der Schriftsteller, der zwei Liebende auf die Bühne bringen wollte, die in vollständiger Ruhe und Sicherheit sich ihrer Liebe erfreuen, und die einander ihre gegenseitige Verliebtheit bezeugen, würde Gelächter und nicht Sympathie hervorrufen. Wenn eine Szene dieser Art jemals in eine Tragödie aufgenommen wird, so ist das immer in gewissem Maße unschicklich, und wenn man sie erträglich findet, so geschieht dies nicht aus irgendwelcher Sympathie für die Leidenschaft, die in ihr ausgedrückt wird, sondern aus Sorge wegen der Gefahren und Schwierigkeiten, mit denen – wie die Zuhörerschaft voraussieht – wahrscheinlich ihre Befriedigung verknüpft sein wird. Die Zurückhaltung, welche die Gesetze der Gesellschaft den Angehörigen des schönen Geschlechts hinsichtlich dieser Schwäche auferlegen, macht diese an ihnen noch leidvoller und gerade darum noch mehr geeignet, unsere Teilnahme zu erwecken. Die Liebe der Phaedra, wie sie in der gleichnamigen französischen Tragödie zum Ausdruck kommt, bezaubert uns trotz all ihrer Zü-
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gellosigkeit und trotz aller Schuld, in die sie verstrickt ist. Ja, man kann sagen, daß gerade diese Zügellosigkeit und diese Schuld sie uns näher bringen. Ihre Furcht, ihre Scham, ihre Gewissensbisse, ihr Schrecken, ihre Verzweiflung werden durch diese natürlicher und packender. Alle die sekundären Affekte – wenn ich so sagen darf – die aus der Liebe gewöhnlich entstehen, werden dadurch notwendigerweise leidenschaftlicher und heftiger ; und nur mit diesen sekundären Affekten sympathisieren wir im eigentlichen Sinne. Doch ist von all den Affekten, die in so außerordentlichem Mißverhältnis zu dem Wert des Gegenstandes stehen, auf den sie sich richten, die Liebe noch der einzige, der auch den stumpfsten Gemütern etwas an sich zu haben scheint, das ihnen anmutig oder anziehend zu sein dünkt. Sie ist vor allem, obgleich sie lächerlich sein mag, doch nicht von Natur an und für sich hassenswert ; und obgleich ihre Folgen oft verhängnisvoll und furchtbar sind, so sind doch ihre Absichten selten böse. Und darum liegt zwar wenig Schicklichkeit in dem Affekt selbst, aber doch ein großes Maß davon in einigen jener Affekte, die ihn immer begleiten. In der Liebe ist eine starke Beimengung von Menschlichkeit, Edelmut, Güte, Freundschaft und Achtung enthalten, Affekte, mit denen zu sympathisieren wir (aus gleich anzuführenden Gründen) auch dann die größte Neigung haben, wenn wir selbst fühlen, daß sie einigermaßen übertrieben sind. Die Sympathie, die wir für sie empfinden, macht den Affekt, den sie begleiten, weniger unangenehm und gibt ihm in unseren Augen ein höheres Ansehen, trotz all der Laster, die gemeinhin in seinem Gefolge sind ; trotzdem er bei dem einen Geschlecht notwendig zu dem äußersten Verderben und Schimpf führt, und bei dem anderen – wo er gewöhnlich als weniger unheilvoll aufgefaßt wird – fast immer mit Untüchtigkeit zur Arbeit, Vernachlässigung der Pflichten, Verachtung jedes Ruhms und selbst mit Gleichgültigkeit gegenüber dem guten Ruf verbunden ist. Ungeachtet alles dessen läßt doch die Vorstellung,
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daß mit diesem Affekt gewöhnlich ein hoher Grad von Zartgefühl und Edelmut verbunden ist, diese Leidenschaft vielen Menschen als etwas so Begehrenswertes erscheinen, daß sie geradezu das Ziel ihrer Eitelkeit wird ; und sie sind ganz versessen darauf, den Schein hervorzurufen, als seien sie einer Empfindung fähig, die ihnen doch wenig Ehre brächte, wenn sie sie wirklich fühlten. Aus einem ähnlichen Grunde ist eine gewisse Zurückhaltung notwendig, wenn wir von unseren eigenen Freuden, unseren eigenen Studien, unseren eigenen Beschäftigungen sprechen. All dies sind Dinge, von denen wir nicht erwarten können, daß sie unsere Umgebung ebensosehr interessieren werden, wie uns selbst. Und von dem Mangel an derartiger Zurückhaltung kommt es, daß die Hälfte aller Menschen der anderen eine schlechte Gesellschaft abgibt. Ein Philosoph ist ein guter Gesellschafter nur für einen Philosophen, das Mitglied eines Klubs nur für das kleine Häuflein seiner Gefährten.
drittes kapitel Über die unsozialen Affekte Es gibt eine andere Gattung von Affekten, die zwar auch aus der Einbildungskraft herrühren, die aber, bevor wir sie nachempfinden oder als anständig oder geziemend ansehen können, immer bis zu einem weit niedrigeren Grad herabgestimmt werden müssen, als derjenige ist, zu welchem die ungebändigte Natur sie sonst wohl anschwellen ließe. Dies sind Haß und Vergeltungsgefühl mit all ihren verschiedenen Abarten. In bezug auf alle derartigen Affekte teilt sich unsere Sympathie zwischen der Person, die dieselben empfindet und der Person, die ihren Gegenstand bildet. Die Interessen dieser beiden sind einander direkt entgegengesetzt. Was uns die Sympathie mit der Person, die jene Affekte empfindet, herbeiwünschen ließe, das müßte unser Mitgefühl für die
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andere uns fürchten heißen. Da sie beide Menschen sind, gehen uns beide nahe, und unsere Furcht vor dem, was der eine noch leiden mag, dämpft unser Vergeltungsgefühl wegen desjenigen, was der andere erlitten hat. Deshalb bleibt unsere Sympathie für denjenigen, gegen den die Herausforderung gerichtet war, notwendigerweise an Stärke hinter dem Affekt zurück, der ihn selbst naturgemäß beseelt ; nicht nur aus jenem allgemeinen Grund, daß alle Sympathiegefühle schwächer sind als die ursprünglichen, sondern auch aus dem besonderen Grunde, der diesem Fall eigentümlich ist, nämlich, daß wir ein entgegenstehendes Sympathiegefühl gegenüber einem Dritten empfinden. Ehe uns also das Vergeltungsgefühl geziemend und ansprechend erscheinen kann, muß es mehr unter seine natürliche Stärke herabgestimmt und gedämpft werden, als dies bei den meisten anderen Affekten erforderlich wäre. Dabei besitzen aber die Menschen im allgemeinen ein sehr starkes Gefühl für die Beleidigungen, die anderen angetan werden. In einem Trauerspiel oder Roman erweckt der Schurke ebensosehr unseren Unwillen wie der Held unsere Sympathie und Zuneigung wach ruft. Wir verabscheuen Jago so sehr, als wir Othello achten, und wir freuen uns über die Bestrafung des einen ebensosehr, als wir über die Leiden des anderen bekümmert sind. Obwohl aber die Menschen ein so starkes Mitgefühl für die Kränkungen haben, die man ihren Brüdern antut, so richtet sich doch ihr Vergeltungsgefühl wegen dieser Kränkungen in seiner Stärke nicht nach demjenigen des Beleidigten. In sehr vielen Fällen ist vielmehr ihr Vergeltungsgefühl gegen den Beleidiger um so höher, je größer die Geduld, die Sanftheit und Menschlichkeit des Betroffenen ist, vorausgesetzt, daß es ihm nicht offenkundig an Temperament fehlt, oder daß nicht nur Furcht das Motiv seiner Mäßigung war. Die Liebenswürdigkeit seines Charakters vermehrt ihr Gefühl für das Abscheuliche der Beleidigung. Dennoch werden diese Affekte als notwendige Charakterzüge
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der menschlichen Natur angesehen. Ein Mensch, der demütig stille hält und Beschimpfungen hinnimmt, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie abzuwehren oder zu rächen, wird uns dadurch verächtlich. Wir können seine Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit nicht teilen : wir nennen sein Betragen Kleinmütigkeit und erzürnen uns darüber ebenso wie über die Unverschämtheit seines Widersachers. Sogar der Pöbel gerät in Wut, wenn er sieht, wie ein Mann schwere Beleidigungen und grobes Benehmen geduldig hinnimmt. Die Leute wünschen diese Unverschämtheit geahndet zu sehen, und zwar geahndet durch diejenige Person, die darunter leidet. Sie schreien ihm wütend zu, sich zu verteidigen oder sich zu rächen. Wenn sein Unwille endlich wach wird, dann rufen sie ihm von Herzen Beifall zu und sympathisieren mit seinem Zorn. Ihr Unwille gegen seinen Feind wird dadurch noch stärker entfacht, sie freuen sich, daß dieser nun seinerseits der Angegriffene ist, und seine Züchtigung gewährt ihnen solche Befriedigung – insofern die Rache nur nicht maßlos ist – als ob ihnen selbst die Beleidigung angetan worden wäre. Wenn man aber auch den Nutzen dieser Affekte für den Einzelnen zugeben mag – insofern sie es gefährlich machen, ihn zu beschimpfen oder zu kränken, und wenn auch ihr Nutzen für die Allgemeinheit nicht geringer sein mag, da sie, wie später gezeigt werden soll, die Hüter der Gerechtigkeit und der Gleichheit in der Rechtspflege darstellen – so liegt doch in den Affekten selbst immer etwas Unangenehmes, und daher kommt es, daß es stets unsere Abneigung wachruft, wenn wir an anderen diese Affekte bemerken. Wenn wir in der Gesellschaft unserem Ärger gegen einen Anwesenden Ausdruck geben, so darf unsere Äußerung über die bloße Andeutung, daß wir seine Unhöflichkeit empfunden haben, nicht hinausgehen. Tut sie dies dennoch, so wird dies im allgemeinen nicht nur als eine schwere Beleidigung dieser Person im besonderen, sondern als eine arge Taktlosigkeit gegenüber der ganzen Gesellschaft angesehen werden. Unsere Achtung ihr
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gegenüber hätte uns davon zurückhalten sollen, einem so ungestümen und verletzenden Gefühl Raum zu geben. Nur die entfernteren Wirkungen dieser Affekte sind angenehm, die unmittelbaren Wirkungen sind unheilvoll für die Person, gegen die sie sich richten. Es sind aber die unmittelbaren und nicht die entfernten Wirkungen, die einen Gegenstand der Einbildungskraft angenehm oder unangenehm machen. Ein Gefängnis ist sicherlich für das Gemeinwesen nützlicher als ein Palast ; und derjenige, der das erstere errichtet, wird dabei im allgemeinen von einem wahrhafteren Geist des Patriotismus geleitet, als derjenige, der den letzteren baut. Aber die unmittelbaren Wirkungen, die von dem Gefängnis ausgehen, nämlich die Haft der Unglücklichen, die darin eingesperrt werden, sind unangenehm, und unsere Einbildungskraft nimmt sich entweder nicht die Zeit, auch den entfernteren Wirkungen nachzugehen, oder diese liegen für ihre Erwägung in zu weiter Ferne, um auf unsere Phantasie einen besonders starken Eindruck zu machen. Deshalb wird ein Gefängnis immer für die Einbildungskraft etwas Abstoßendes an sich haben und es wird um so abstoßender sein, je mehr es für den Zweck geeignet ist, für den es bestimmt war. Umgekehrt wird ein Palast immer als etwas Anziehendes erscheinen ; dennoch können seine entfernteren Wirkungen oft für das Gemeinwesen unzuträglich sein. Er kann zur Förderung des Luxus beitragen und kann ein Beispiel für die Lockerung der Sitten geben. Da indes seine unmittelbaren Wirkungen, die Bequemlichkeit, das Vergnügen und die Fröhlichkeit der darin Wohnenden, alle angenehm sind und in der Einbildungskraft tausend anziehende Vorstellungen erwecken, so bleibt dieses Seelenvermögen gewöhnlich bei ihnen stehen, und schreitet selten dazu fort, seinen entfernteren Folgen nachzuspüren. Trophäen aus Musikinstrumenten oder Werkzeugen des Ackerbaues bilden – in Malerei oder Stuckarbeit dargestellt – einen gewöhnlichen und gefälligen Schmuck unserer Vorhallen und Speisezimmer. Eine gleichartige Trophäe, zusammen-
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gesetzt aus chirurgischen Instrumenten, aus Sezier- und Amputationsmessern, aus Knochensägen, aus Trepanationsinstrumenten usw., wäre sinnlos und widerlich. Chirurgische Instrumente sind indessen immer feiner poliert und im allgemeinen genauer den Zwecken angepaßt, für die sie bestimmt sind, als Werkzeuge des Ackerbaues. Auch sind ihre entfernten Wirkungen – vor allem die Gesundheit des Patienten – angenehm ; aber da ihre unmittelbaren Wirkungen Schmerz und Leiden sind, so schafft uns ihr Anblick immer Mißvergnügen. Kriegswerkzeuge dagegen wirken anziehend, obwohl es doch scheinen möchte, daß ihre unmittelbare Wirkung ganz ebenso Schmerzen und Leiden sein müßten. Wenn sie aber auch diese Wirkung haben, so sind es dann doch Schmerzen und Leiden unserer Feinde, mit denen wir keine Sympathie empfinden. Soweit es sich um uns selbst handelt, sind sie unmittelbar mit den angenehmen Vorstellungen von Mut, Sieg und Ehre verknüpft. Darum ist man der Ansicht, daß sie selbst eines der edelsten Bestandstücke der Kleidung des Mannes bilden, und ihre Nachbildung gilt für eine der schönsten Verzierungen der Baukunst. Ebenso verhält es sich mit den Eigenschaften der Seele. Die alten Stoiker waren der Meinung, daß wir – da die Welt durch die alles regelnde Vorsehung eines weisen, mächtigen und gütigen Gottes beherrscht werde – jedes einzelne Ereignis als einen notwendigen Teil des Weltplanes betrachten sollen, als etwas, das die Tendenz habe, die allgemeine Ordnung und Glückseligkeit des Ganzen zu fördern : daß darum die Laster und Torheiten der Menschen einen ebenso notwendigen Teil dieses Planes bilden, wie ihre Weisheit und Tugend ; und daß sie durch jene ewige Kunst, die Gutes aus Bösem schafft, dazu bestimmt seien, in gleicher Weise für das Gedeihen und die Vollendung des großen Systems der Natur zu wirken. Jedoch keine derartige Betrachtung, so tiefe Wurzeln sie auch in unserem Geiste geschlagen haben mag, könnte unseren natürlichen Abscheu gegen das Laster vermindern, dessen unmittelbare Wirkungen so zerstörend
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sind, und dessen entferntere Wirkungen in zu weiter Ferne liegen, als daß unsere Einbildungskraft ihnen nachspüren könnte. Das gleiche ist nun der Fall mit jenen Affekten, bei deren Betrachtung wir eben halten. Ihre unmittelbaren Wirkungen sind so unangenehm, daß sie selbst dann, wenn wir sie als durchaus begründet anerkennen müssen, doch immer noch etwas an sich haben, was unseren Widerwillen erregt. Dies sind deshalb die einzigen Affekte, deren Äußerung uns – wie bereits früher bemerkt – nicht dazu bestimmt und nicht geneigt macht, mit ihnen zu sympathisieren, bevor wir über die Ursachen unterrichtet sind, die sie hervorriefen. Die klagende Stimme des Elends läßt uns, wenn wir sie auch nur von weitem hören, über die Person nicht gleichgültig bleiben, von der sie kommt. Sobald die Stimme unser Ohr berührt, erweckt sie unsere Anteilnahme für das Schicksal des Betreffenden und zwingt uns, falls sie länger ertönt, fast ohne unseren Willen zur Hilfeleistung hinzueilen. Ebenso erhebt der Anblick einer lächelnden Miene sogar den Schwermütigen in jene heitere und fröhliche Stimmung, die ihn dazu geneigt macht, mit der Freude, die sich in dieser Miene ausdrückt, zu sympathisieren und sie zu teilen ; und er fühlt sein Herz, das vordem von Gedanken und Sorgen beklemmt und bedrückt war, augenblicklich aufgehen und freier werden. Aber es verhält sich ganz anders mit den Äußerungen von Haß und Vergeltungsgefühl. Die heisere, ungestüme und mißtönende Stimme des Zornes erfüllt uns, wenn wir sie von weitem hören, mit Furcht oder Abneigung. Wir eilen ihr nicht entgegen wie zu einem, der aus Schmerzen oder Qualen aufschreit. Frauen und selbst Männer von schwachen Nerven zittern und werden von Furcht überwältigt, obgleich sie wohl merken, daß der Zorn sich nicht gegen sie selbst richtet. Sie empfinden jedoch Furcht, weil sie sich in Gedanken in die Lage desjenigen versetzen, gegen den jener Zorn sich kehrt. Ja, sogar beherztere Menschen werden dadurch aufgeregt ; freilich nicht so sehr, daß sie in Furcht gerieten, aber doch so, daß ihr Zorn wach wird ; denn
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Zorn ist der Affekt, den sie in der Lage des anderen fühlen würden. Ebenso verhält es sich mit dem Haß. Der bloße Ausdruck des Grolls nimmt uns gegen niemanden anderen ein als gegen denjenigen, der ihn äußert. Diese beiden Affekte sind eben von Natur Gegenstand unserer Abneigung. Ihr unangenehmes und ungestümes Auftreten erweckt niemals unsere Sympathie, niemals macht es uns auch nur zu dieser geneigt, sondern zerstört sie sogar oft. Kummer zieht uns nicht mit stärkerer Gewalt zu der Person hin, an der wir ihn beobachten und nimmt uns nicht stärker für sie ein, als diese Affekte – solange wir über ihre Ursache in Unkenntnis sind – unseren Widerwillen erregen und uns von ihr abstoßen. Es war, scheint es, die Absicht der Natur, daß diese roheren und unliebenswürdigeren Gemütsbewegungen, die die Menschen untereinander entzweien, sich weniger leicht und seltener anderen mitteilen sollten. Wenn die Musik die Modulationen von Kummer oder Freude nachahmt, dann flößt sie uns entweder wirklich diese Affekte ein oder sie bringt uns doch wenigstens in die Stimmung, die uns für diese Affekte empfänglich macht. Wenn sie aber die Kennzeichen des Zornes nachahmt, dann erfüllt sie uns mit Furcht. Freude, Kummer, Liebe, Bewunderung, Ergebenheit sind alles Gefühle, die ihrer Natur nach musikalisch sind. Die Töne, in denen sie sich naturgemäß ausdrücken, sind sanft, klar und melodisch und sie äußern sich von Natur aus in Perioden, die durch regelmäßige Pausen geschieden sind, und die deshalb leicht den regelmäßigen Wiederholungen der entsprechenden Töne einer Melodie angepaßt werden können. Die Stimme des Zorns dagegen und all der Affekte, die mit ihm verwandt sind, ist rauh und mißtönend. Auch sind ihre Perioden alle unregelmäßig, manchmal sehr lang und manchmal sehr kurz und nicht durch regelmäßige Pausen geschieden. Deshalb kann die Musik nur mit großer Schwierigkeit einen dieser Affekte nachahmen, und diejenige Musik, die es dennoch versucht, ist nicht die angenehmste. Ein ganzes Kon-
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zert kann ohne jede Unschicklichkeit aus einer Nachahmung der geselligen und angenehmen Affekte bestehen. Es wäre aber ein seltsames Konzert, das ganz und gar aus der Nachahmung von Haß und Vergeltungsgefühl bestünde. Wenn diese Affekte für den Zuschauer unangenehm sind, so sind sie es nicht minder für denjenigen, der sie fühlt. Haß und Zorn sind das ärgste Gift für die Glückseligkeit eines wohlgestimmten Gemüts. Es liegt in dem Erleben dieser Affekte selbst etwas Rauhes, Falschtönendes und Krampfhaftes, etwas, was die Brust zerreißt und quält, und was jene Sammlung und Ruhe des Gemüts durchaus vernichtet, die zur Glückseligkeit so unentbehrlich ist, und die durch die entgegengesetzten Affekte der Dankbarkeit und Liebe am besten gefördert wird. Nicht der Wert dessen, was sie durch die Treulosigkeit und den Undank ihrer Gefährten verlieren, ist es, was die Edelmütigen und menschlich Empfindenden am meisten zu bedauern pflegen. Was sie auch immer dadurch verloren haben mögen, sie können im allgemeinen doch auch glücklich sein, wenn sie diese Vorteile entbehren müssen. Was sie am meisten aufregt, ist die Vorstellung der Treulosigkeit und Undankbarkeit selbst, die gegen sie verübt wurde ; und die mißtönenden und unangenehmen Affekte, die diese erregt, bilden ihrer Meinung nach den Hauptteil des Unrechts, das sie erdulden müssen. Was ist nicht alles erforderlich, damit die Befriedigung unseres Vergeltungsgefühls ganz angemessen erscheine und damit der Zuschauer mit unserer Rache durchaus sympathisieren könne. Die Herausforderung muß vor allem derart sein, daß wir uns verächtlich machen würden und für immer den ärgsten Beschimpfungen ausgesetzt wären, wenn wir sie nicht – in gewissem Maße wenigstens – ahndeten. Handelt es sich um geringere Beleidigungen, so ist es immer besser, sie nicht zu beachten ; und es gibt nichts, was unedler wäre, als jene mürrische und zänkische Gemütsart, die bei jedem noch so geringfügigen Anlaß
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zum Streit sofort Feuer fängt. Wir sollten eher darum Vergeltungsgefühl empfinden, weil wir uns dessen bewußt sind, daß es sittlich richtig wäre, es zu empfinden, und daß jedermann es von uns erwartet und fordert, als weil wir wirklich in uns die Furien jenes unangenehmen Affekts fühlen. Es gibt keinen unter den Affekten, deren das menschliche Gemüt fähig ist, über dessen Berechtigung wir so sehr zweifeln sollten, über dessen Befriedigung wir so sorgsam unser natürliches Gefühl für das sittlich Richtige befragen oder so genau überlegen sollten, welches wohl die Empfindungen des kühlen und unparteiischen Zuschauers sein würden. Ehrgefühl oder die Absicht, unseren Rang und unsere Würde in der Gesellschaft aufrecht zu halten, sind der einzige Beweggrund, der die Äußerung dieses unangenehmen Affekts adeln kann. Dieser Beweggrund muß die ganze Art und Weise unseres Betragens charakterisieren. Dieses muß klar, offen und gerade sein ; bestimmt ohne Rechthaberei, stolz ohne Frechheit ; nicht nur frei von Ausgelassenheit und niedriger Possenreißerei, sondern edel, aufrichtig und voll geziemender Rücksichtnahme selbst für die Person, die uns beleidigt hat. Kurz, unser ganzes Benehmen muß klar erkennen lassen – ohne daß wir uns dabei bemühen würden, dies auf eine erkünstelte Weise zur Schau zu stellen – daß Leidenschaft nicht unsere Menschlichkeit erstickt hat und daß, wenn wir den Geboten der Rache nachgeben, dies mit Widerstreben geschieht, unter dem Zwang der Notwendigkeit und infolge großer und wiederholter Herausforderungen. Wird das Vergeltungsgefühl in dieser Weise bewacht und beschränkt, dann kann man es selbst als edel und vornehm anerkennen.
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viertes kapitel Über die sozialen Affekte Wie es hier eine geteilte Sympathie ist, welche die ganze, eben erwähnte Gruppe von Affekten in der Mehrzahl der Fälle so unschön und unangenehm macht, so gibt es eine andere, dieser entgegengesetzte Gattung von Affekten, welches uns infolge einer verdoppelten Sympathie fast immer besonders angenehm und schicklich erscheint. Edelmut, Menschlichkeit, Güte, Mitleid, gegenseitige Freundschaft und Achtung, all die sozialen und wohlwollenden Neigungen werden, wenn sie sich in unserer Miene und in unserem Benehmen selbst solchen Personen gegenüber ausdrücken, die uns nicht besonders nahe stehen, fast in allen Fällen das Wohlgefallen des unparteiischen Zuschauers erwecken. Seine Sympathie für die Person, welche jene Affekte fühlt, trifft genau mit seiner Anteilnahme für denjenigen zusammen, auf den sich diese Affekte richten. Das Interesse, welches er als Mensch an dem Glück des letzteren nehmen muß, verstärkt sein Mitgefühl mit den Empfindungen des anderen, dessen Gefühle mit dem gleichen Gegenstand beschäftigt sind. Wir haben deshalb immer einen sehr starken Hang, mit den wohlwollenden Neigungen zu sympathisieren. Sie erscheinen uns in jeder Hinsicht angenehm. Wir teilen die Befriedigung desjenigen, der diese Neigungen fühlt, und diejenige des anderen, auf den sich dieselben richten. Denn wie der Gedanke, Gegenstand des Haßes und des Unwillens zu sein, mehr Pein bereitet als all das Übel, das ein tapferer Mann von seinen Feinden befürchten kann, so liegt in dem Bewußtsein, geliebt zu werden, eine Genugtuung, welche einem zartfühlenden und empfindsamen Menschen für seine Glückseligkeit wichtiger zu sein scheint, als alle Vorteile, die er aus dieser Liebe je zu erlangen hoffen dürfte. Welcher Charakter ist so verabscheuenswürdig als derjenige eines Menschen, der Vergnügen daran findet, Zwietracht zwischen Freunden zu säen und ihre zärtlichste Liebe in
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tödlichen Haß zu verwandeln ! Doch worin besteht im Grunde das Gräßliche dieses so sehr verabscheuten Unrechts ? Liegt es darin, daß jener Mensch sie der geringfügigen guten Dienste beraubt, welche sie vielleicht, hätte ihre Freundschaft fortgedauert, voneinander hätten erwarten können ? Es liegt doch vielmehr darin, daß er sie jener Freundschaft selbst beraubt, indem er ihnen die gegenseitige Zuneigung stiehlt, die ihnen beiden so große Befriedigung gewährte ; es liegt darin, daß er den Einklang ihrer Herzen zerstört und jenem glücklichen Einvernehmen ein Ende gesetzt hat, das zuvor zwischen ihnen bestanden hatte. Diese Zuneigung, diesen Einklang, dieses Einvernehmen empfindet nicht nur der Zarte und Feinfühlige, sondern selbst der roheste Mensch des gemeinen Pöbels als wichtiger für die Glückseligkeit, denn all die kleinen Dienstleistungen, die, wie man erwarten konnte, noch aus ihnen hätten entspringen können. Die Empfindung der Liebe ist an sich demjenigen, der sie fühlt, angenehm. Sie besänftigt und beruhigt die Brust, sie scheint die Vitalbewegungen zu erleichtern und den gesunden Zustand der körperlichen Verfassung des Menschen zu fördern ; und sie wird noch wohltuender durch das Bewußtsein von der Dankbarkeit und Befriedigung, die sie in demjenigen erregen muß, der ihren Gegenstand bildet. Die zärtliche Gesinnung, welche die beiden füreinander hegen, macht sie selbst glücklich, und infolge der Sympathie mit dieser gegenseitigen freundschaftlichen Gesinnung werden sie wieder jedem anderen Menschen angenehm. Mit welchem Vergnügen betrachten wir eine Familie, in der durchaus wechselseitige Liebe und Achtung herrscht, in der Eltern und Kinder einander gute Gefährten sind, ohne jeden anderen Unterschied als den, der durch ehrerbietige Zuneigung auf der einen Seite und gütige Nachsicht auf der anderen gebildet wird ; in welcher Freimütigkeit und Zärtlichkeit, wechelseitiges Scherzen und wechselseitige Güte uns zeigen, daß kein Gegensatz der Interessen die Brüder trennt, noch irgendwelche Nebenbuhlerschaft um
Erster Teil · Zweiter Abschnitt · Viertes Kapitel
die Gunst der Eltern die Schwestern entzweit, und wo alles die Vorstellung von Frieden, Heiterkeit, Harmonie und Zufriedenheit in uns wachruft ! Wie unbehaglich wird uns andererseits zu Mute, wenn wir in ein Haus kommen, wo mißtönender Hader die eine Hälfte seiner Bewohner gegen die andere in ständiger Fehde hält ; wo unter erkünstelter Freundlichkeit und Gefälligkeit verdächtige Blicke und plötzliche Leidenschaftsausbrüche die wechselseitigen Eifersüchteleien verraten, die unter der Oberfläche brennen, und die jeden Augenblick hervorzubrechen und die Schranken zu sprengen drohen, welche die Anwesenheit von Fremden ihnen auferlegt. Jene liebenswürdigen Leidenschaften werden, selbst wenn man erkennt, daß sie übermäßig sind, doch niemals mit Abneigung betrachtet. Es liegt etwas Anziehendes selbst in den Schwächen von Freundschaft und Menschlichkeit. Die allzu sanfte Mutter, den allzu nachsichtigen Vater, den allzu edlen und liebevollen Freund mögen wir vielleicht manchmal wegen der Weichheit ihres Wesens mit einer Art von Erbarmen betrachten, in welchem indessen immer ein Zusatz von Liebe liegt, niemals jedoch können sie mit Haß und Abneigung oder gar mit Verachtung angesehen werden, es sei denn von dem rohesten und unwürdigsten der Menschen. Wenn wir sie wegen der Maßlosigkeit ihrer Liebe tadeln, so geschieht dies stets mit Teilnahme, mit Sympathie und Güte. Es liegt eine gewisse Hilflosigkeit in einem Charakter von allzu großer Menschenfreundlichkeit, die unser Mitleid mehr als irgendetwas anderes erweckt. Es ist nichts an ihm, was ihn unschön oder unangenehm machen würde. Wir bedauern nur, daß er ungeeignet für die Welt ist, weil die Welt seiner nicht wert ist, und weil ein solcher Charakter denjenigen, der mit ihm begabt ist, als eine leichte Beute der Treulosigkeit und Undankbarkeit einschmeichelnder Falschheit preisgibt, sowie tausenden von Leiden und Verdrießlichkeiten, die von allen Menschen gerade dieser am wenigstens zu fühlen verdient, und die zu ertragen er
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im allgemeinen auch von allen Menschen am wenigsten fähig ist. Ganz anders verhält es sich mit Haß und Vergeltungsgefühl. Eine zu starke Geneigtheit zu diesen verabscheuenswürdigen Affekten macht einen Menschen zum Gegenstand allgemeinen Schreckens und Abscheus und läßt uns ihn als einen Elenden erscheinen, der wie ein wildes Tier aus aller bürgerlichen Gesellschaft verjagt werden sollte. fünftes kapitel Über die egoistischen Affekte Außer diesen zwei einander entgegengesetzten Gattungen von Affekten, den sozialen und den unsozialen, gibt es noch eine dritte, die eine Art von Mittelstellung zwischen ihnen einnimmt ; sie ist niemals so anmutig, wie es manchmal die erste Gattung ist, noch jemals so hassenswert, wie es zuweilen die zweite ist. Kummer und Freude, sofern wir sie um unseres eigenen persönlichen Glücks oder Unglücks willen empfinden, bilden diese dritte Gattung von Affekten. Selbst wenn sie übermäßig sind, erscheinen sie doch niemals so unangenehm wie übermäßiges Vergeltungsgefühl, weil keine entgegengesetzte Sympathie uns jemals gegen sie einnehmen kann. Und wenn sie auch andererseits ihren Gegenständen noch so angemessen sind, so sind sie doch niemals so angenehm wie unparteiische Menschlichkeit und rechtes Wohlwollen ; denn keine verdoppelte Sympathie kann uns jemals für sie einnehmen. Jedoch besteht der Unterschied zwischen Kummer und Freude, daß wir im allgemeinen am meisten geneigt sind, mit kleinen Freuden und mit großen Leiden zu sympathisieren. Der Mann, der durch irgendeinen plötzlichen Umschwung des Schicksals ganz mit einem Schlage in Lebensverhältnisse emporgehoben wird, hoch über jenen, in denen er früher lebte, kann dessen sicher sein, daß von den Glückwünschen seiner besten Freunde nicht alle vollständig aufrichtig sein werden. Ein Emporkömm-
Erster Teil · Zweiter Abschnitt · Fünftes Kapitel
ling – wenn auch von höchstem sittlichem Wert – ist uns im allgemeinen unangenehm und ein Gefühl des Neides hindert uns gewöhnlich, mit seiner Freude von ganzem Herzen zu sympathisieren. Wenn er nur ein wenig Scharfsinn besitzt, so wird er dessen bald inne werden und anstatt den Anschein zu erwecken, als sei er begeistert über sein Glück, wird er sich, so sehr er kann, bemühen, seine Freude zu dämpfen und jene gehobene Stimmung zu unterdrücken, die ihm seine neuen Verhältnisse naturgemäß einflößen. Mit Bedacht zeigt er die gleiche Einfachheit der Keidung, die gleiche Bescheidenheit des Benehmens, wie sie sich für ihn in seiner früheren Stellung geziemte. Er verdoppelt seine Aufmerksamkeit gegen seine alten Freunde und bestrebt sich mehr denn je, unterwürfig, geschäftig und gefällig zu sein. Und dies ist das Betragen, das wir in seiner Situation am meisten billigen ; denn wir erwarten, wie es scheint, daß er mehr Sympathie mit unserem Neid und unserer Abneigung gegenüber seinem Glück haben solle, als wir Sympathie für sein Glück empfinden. Aber selten erreicht er mit all dem seinen Zweck. Wir bezweifeln die Aufrichtigkeit seiner Unterwürfigkeit und er wird schließlich dieser Zurückhaltung müde. In kurzer Zeit kehrt er darum meistens all seinen alten Freunden den Rücken, ausgenommen einige von den geringsten unter ihnen, die nun vielleicht dazu herabsinken, seine Vasallen zu werden. Auch gelingt es ihm nicht immer, neue Freunde zu erwerben ; der Stolz seiner neuen Bekanntschaften wird dadurch so schwer getroffen, daß sie nun in ihm ihresgleichen sehen müssen, wie seine alten Freunde sich dadurch beleidigt gefühlt hatten, daß er nun mehr als sie geworden ist, und es erfordert die hartnäckigste und ausdauerndste Bescheidenheit von seiner Seite, um die beiden Parteien angetane Kränkung wieder gutzumachen. Er wird meistens zu bald müde und fühlt sich durch den finsteren und argwöhnischen Stolz der einen und durch die übermütige Verachtung der anderen herausgefordert, die ersteren mit Geringschätzung, die zweiten mit Keckheit zu behandeln,
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bis ihm schließlich die Frechheit zur Gewohnheit wird und er sich dadurch die Achtung aller verscherzt. Wenn die menschliche Glückseligkeit in erster Linie aus dem Bewußtsein, geliebt zu werden, entsteht – wie es meiner Ansicht nach der Fall ist – dann wird solch plötzlicher Wechsel des Schicksals selten viel zur Glückseligkeit beitragen können. Der ist der Glücklichste, der mehr allmählich zur Größe fortschreitet, den seine Mitbürger schon lange zu jeder neuen Stufe seines Aufstieges vorausbestimmt hatten, ehe er sie erreicht, so daß sein Vorrücken – wenn er wieder eine neue Stufe errungen hat – weder in ihm selbst eine maßlose Freude erregen kann, noch irgendwie geeignet sein könnte, in denen, die er einholt, Eifersucht oder in denen, die er hinter sich zurückläßt, Neid zu entfachen. Die Menschen sympathisieren jedoch leichter mit jenen kleineren Freuden, die aus weniger bedeutenden Ursachen fließen. Es ziemt sich, inmitten großen Wohlstandes bescheiden zu sein ; aber wir können kaum zu viel Genugtuung ausdrücken über all die kleinen Begebenheiten des gewöhnlichen Lebens, über die Gesellschaft, mit der wir den letzten Abend zubrachten, über die Bewirtung, die uns vorgesetzt wurde, über alles, was gesprochen und was getan wurde, über all die kleinen Zwischenfälle der gegenwärtigen Unterhaltung und über all die geringfügigen Nichtigkeiten, die die Leere des menschlichen Lebens ausfüllen. Nichts ist anmutiger als jene zur Gewohnheit gewordene Heiterkeit, die stets auf einer besonderen Empfänglichkeit für all die kleinen Vergnügungen beruht, welche die Begebenheiten des täglichen Lebens darbieten. Es fällt uns leicht, mit ihr Sympathie zu empfinden ; sie erfüllt uns mit derselben Freude und läßt uns jede Kleinigkeit in demselben angenehmen Licht erscheinen, in dem sie sich eben demjenigen darstellt, der mit jener glücklichen Veranlagung begabt ist. Daher kommt es, daß die Jugend, das Lebensalter der Fröhlichkeit, so leicht unsere Neigungen gefangen nimmt. Jene Lebensfreude, welche die blühende Jugend und Schönheit be-
Erster Teil · Zweiter Abschnitt · Fünftes Kapitel
lebt und ihr aus den Augen sprüht, versetzt sogar den Bejahrten in eine freudigere Stimmung als gewöhnlich, und zwar auch dann, wenn er sie an einer Person des gleichen Geschlechts bemerkt. Er vergißt für eine Zeitlang seine Gebrechlichkeit und überläßt sich jenen angenehmen Vorstellungen und Gemütsbewegungen, denen er sich seit langem entfremdet hatte, die aber, wenn die Anwesenheit von so viel Glückseligkeit sie in seine Brust zurückruft, ihren Platz wieder einnehmen wie ein alter Bekannter, von dem jemals geschieden gewesen zu sein ihm nun leid tut, und den er um so herzlicher umarmt, weil er so lange von ihm getrennt war. Ganz anders verhält es sich mit Gram und Kummer. Kleine Verdrießlichkeiten erregen keine Sympathie, aber tiefe Bekümmernis ruft das größte Mitgefühl hervor. Ein Mann, der durch jeden noch so kleinen unangenehmen Zwischenfall verstimmt wird, der verdrießlich wird, wenn der Koch oder der Kellermeister nur im mindesten ihre Pflicht verabsäumt haben, der jeden Verstoß gegen das höchste Höflichkeitszeremoniell unangenehm empfindet – mag dieser ihm selbst oder einem anderen gegenüber begangen worden sein –, der es übel nimmt, daß sein intimster Freund ihm keinen guten Morgen wünschte, als sie sich am Vormittag trafen, und daß sein Bruder die ganze Zeit eine Melodie summte, während er ihm eine Geschichte erzählte, der sich durch schlechtes Wetter aus seiner guten Stimmung bringen läßt, wenn er auf dem Lande, durch schlechte Straßen, wenn er auf einer Reise ist, durch Mangel an Gesellschaft und die Mattigkeit der öffentlichen Lustbarkeiten, wenn er sich in der Stadt befindet : ein solcher Mensch, sage ich, wird, wenn er auch wirklich einigen Grund haben mag, verstimmt zu sein, doch selten großer Sympathie begegnen. Freude ist eine angenehme Gemütsbewegung und wir überlassen uns ihr gerne auch bei dem geringsten Anlasse. Deshalb sympathisieren wir mit ihr, wann immer wir sie bei anderen antreffen, sobald wir nicht durch Neid voreingenommen sind. Kummer jedoch ist schmerzlich und unser Gemüt widersetzt sich
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ihm naturgemäß und scheut vor ihm zurück, selbst wenn es sich um unser eigenes Unglück handelt. Wir bemühen uns, ihn entweder überhaupt nicht zu fühlen, oder wenn wir ihn schon fühlen, ihn so rasch als möglich abzuschütteln. Freilich wird uns unsere Abneigung gegen Gram und Kummer nicht immer hindern, bei lächerlich unbedeutenden Anlässen bekümmert zu sein, sofern es sich um unsere eigenen Angelegenheiten handelt, wohl aber hält sie uns beständig davon ab, mit dem Kummer anderer zu sympathisieren, falls er durch gleich geringfügige Ursachen erregt war ; denn unsere aus der Sympathie entstehenden Affekte sind immer weniger unwiderstehlich als unsere ursprünglichen Gefühle. Es liegt überdies eine gewisse Bosheit im Menschen, die ihn nicht nur hindert, mit kleinem Ungemach Sympathie zu empfinden, sondern geradezu bewirkt, daß ihm solche kleine Verdrießlichkeiten bei anderen belustigend erscheinen. Daher das Ergötzen, das wir alle am Spotten empfinden und an den kleinen Plackereien, in die wir unseren Gefährten verstrickt sehen, wenn er von allen Seiten gestoßen, gedrängt und gequält wird. Menschen, die nur ein wenig gute Lebensart besitzen, werden den Schmerz, den ihnen irgendein unbedeutender Vorfall bereiten mag, verbergen, und diejenigen, die eine vollkommenere gesellschaftliche Bildung genossen haben, werden sich freiwillig über alle solche Zwischenfälle lustig machen, da sie wissen, daß es sonst ihre Gefährten für sie tun würden. Die Gewohnheit, immer zu überlegen, wie jeder Vorfall, der ihn selbst betrifft, anderen erscheinen wird, eine Gewohnheit, die jeder Mann, der in der Welt lebt, sich anzueignen pflegt, läßt jene geringfügigen Bedrängnisse auch für ihn selbst in jene Beleuchtung des Lächerlichen umschlagen, in der sie, wie er weiß, sicherlich von den anderen betrachtet werden. Umgekehrt, ist unsere Sympathie mit tiefem Leid gewöhnlich sehr stark und sehr aufrichtig. Es ist unnötig, dafür ein Beispiel zu geben. Wir weinen sogar bei der doch nur fingierten Aufführung eines Trauerspiels. Wenn du also unter irgendeinem auffallenden
Erster Teil · Dritter Abschnitt · Erstes Kapitel
Unglück leidest, wenn du infolge eines außergewöhnlichen Mißgeschicks in Armut, in Krankheit, in Schande und Ungemach gestürzt bist, so kannst du, auch wenn du zum Teile selbst daran schuld warst, meistens doch auf die Sympathie all deiner Freunde rechnen und, soferne es ihnen Interesse und Ehre gestatten werden, auch auf ihre freundschaftliche Hilfeleistung. Wenn aber dein Mißgeschick nicht von so furchtbarer Art ist, wenn du nur ein wenig in deinem Ehrgeiz getäuscht worden bist, wenn du bloß von deiner Geliebten betrogen worden bist, oder wenn du nur unter dem Pantoffel deiner Frau stehst, dann darfst du dich auf das Gespött aller deiner Bekannten gefaßt machen.
DRITTER ABSCHNIT T
Über den Einfluß von Wohlergehen und Mißgeschick auf das Urteil der Menschen über die Schicklichkeit der Handlungen, und warum es in der einen Lage leichter ist, ihre Billigung zu erlangen, als in der anderen. erstes kapitel Darüber, daß unsere Sympathie mit dem Leiden, obwohl sie meistens eine lebhaftere Empfindung ist als unsere Sympathie mit der Freude, doch gemeinhin weit weniger die Heftigkeit dessen erreicht, was die ursprünglich betroffene Person naturgemäß fühlt. Unsere Sympathie mit dem Leiden hat, obwohl sie durchaus nicht in höherem Grad wirklich ist, doch mehr Beachtung gefunden, als unsere Sympathie mit der Freude. Das Wort Sympathie bezeichnet in seiner eigentlichsten und ursprünglichsten Bedeutung unser Mitgefühl mit den Leiden, nicht jenes mit den Vergnügungen der anderen. Ein kürzlich verstorbener, geistreicher und scharfsinniger Philosoph hielt es für notwendig, durch ausführliche Ar-
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
gumente zu beweisen, daß wir eine wirkliche Sympathie mit der Freude haben und daß Mitfreude ein Prinzip der menschlichen Natur sei. Niemand, glaube ich, hielt es jemals für notwendig, zu beweisen, daß Mitleid ein solches sei. Vor allem ist unsere Sympathie mit dem Leid in gewissem Sinne umfassender als jene mit der Freude. Auch wenn die Trauer maßlos ist, so haben wir doch immer noch einiges Mitgefühl mit ihr. Was wir fühlen, erreicht in diesem Falle allerdings nicht jene vollständige Sympathie, jene vollendete Harmonie und Übereinstimmung der Gefühle, welche Billigung hervorbringt. Wir weinen, schreien und jammern nicht mit dem Leidenden. Wir werden vielmehr seiner Schwachheit und der Maßlosigkeit seines Affektes gewahr, aber wir fühlen doch oft eine starke Bekümmernis um seinetwillen. Wenn wir dagegen die Freude eines anderen nicht durchaus teilen und nachempfinden können, so haben wir keinerlei Achtung oder Mitgefühl für sie. Der Mann, der aus einer unmäßigen und sinnlosen Freude, an der wir doch nicht teilnehmen können, hüpft und umhertanzt, erweckt unsere Verachtung und unseren Unwillen. Überdies ist Schmerz, und zwar sowohl geistiger als körperlicher, eine lebhaftere Empfindung als Lust und unsere Sympathie mit dem Schmerz bleibt zwar weit hinter dem zurück, was der Leidende selbst naturgemäß fühlt, aber sie ist doch im allgemeinen eine lebendigere und klarere Empfindung als unsere Sympathie mit der Lust, obwohl diese letztere, wie ich sofort zeigen werde, sich oft stärker der natürlichen Lebhaftigkeit des Originalaffekts nähert. Dazu kommt vor allem auch noch der Umstand, daß wir uns oft bemühen, unsere Sympathie mit dem Leid anderer zu unterdrücken. Immer, wenn wir nicht von dem Leidenden selbst beobachtet werden können, trachten wir um unserer selbst willen, diese Sympathie, so sehr wir können, zu überwinden und wir sind dabei nicht immer von Erfolg begleitet. Der Widerstand, den wir
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ihr entgegensetzen und der Widerwille, mit dem wir ihr nachgeben, zwingt uns aber mit Notwendigkeit, von ihr in stärkerer Weise Notiz zu nehmen. Dagegen haben wir es niemals nötig, unserer Sympathie mit der Freude diesen Widerstand entgegenzusetzen. Wenn irgendwelcher Neid mitspielt, dann fühlen wir niemals die geringste Geneigtheit zur Sympathie ; und wenn dies nicht der Fall ist, dann geben wir ihr ohne jedes Widerstreben statt. Umgekehrt, da wir uns immer unseres Neides schämen, geben wir oft vor – und wünschen es manchmal wirklich – mit der Freude anderer zu sympathisieren, während wir doch durch jene unangenehme Empfindung in Wirklichkeit außerstande gebracht sind, es zu tun. Wir behaupten dann, über das Glück unseres Nächsten froh zu sein, während wir vielleicht tatsächlich in unseren Herzen darüber traurig sind. Wir fühlen oft Sympathie mit den Leiden des anderen, wenn wir wünschten, davon befreit zu sein ; und wir wären oft froh, mit seiner Freude sympathisieren zu können und sind doch nicht imstande dazu. Die offenkundige Beobachtung, die sich uns deshalb hier naturgemäß aufdrängt, ist die, daß unsere Geneigtheit, mit Leiden zu sympathisieren, sehr stark sein muß, während dagegen unsere Neigung, mit der Freude zu sympathisieren, sehr schwach ist. Ungeachtet dieses Vorurteils wage ich indessen zu behaupten, daß, sobald in dem betreffenden Falle kein Neid im Spiele ist, unsere Geneigtheit, mit Freude zu sympathisieren, weit stärker ist als unsere Geneigtheit, mit Leid zu sympathisieren, und daß unser Mitgefühl für die angenehme Gemütsbewegung sich weit mehr der Lebhaftigkeit dessen nähert, was die in erster Linie betroffenen Personen fühlen, als jenes, welches wir für eine schmerzliche Gemütsbewegung empfinden. Wir haben eine gewisse Nachsicht auch für jenen maßlosen Kummer, den wir nicht durchaus nachfühlen können. Wir wissen, was für eine ungeheuere Anstrengung erforderlich ist, bevor es dem Leidenden gelingt, seine Gemütsbewegung so weit herab-
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zustimmen, daß sie in vollständiger Harmonie und Eintracht mit derjenigen des Zuschauers steht. Gelingt ihm dies nicht, so verzeihen wir ihm aus diesem Grunde sehr leicht. Aber wir haben keine solche Nachsicht für die Unmäßigkeit der Freude, weil wir uns nicht dessen bewußt sind, daß hier eine so ungeheure Anstrengung erforderlich wäre, um sie auf jenes Maß herabzustimmen, das wir selbst durchaus nachempfinden könnten. Der Mann, der unter den größten Bedrängnissen seine Traurigkeit beherrschen kann, scheint uns der höchsten Bewunderung würdig ; der aber, der in der Fülle des Glücks in gleicher Weise seine Freude zu meistern vermag, scheint uns kaum irgendwelches Lob zu verdienen. Wir fühlen wohl, daß der Abstand zwischen dem, was die ursprünglich betroffene Person natürlicherweise empfindet, und dem, was der Zuschauer nachfühlen kann, im ersten Fall weit größer ist als im zweiten. Was kann der Glückseligkeit eines Menschen noch hinzugefügt werden, der sich im vollen Besitz seiner Gesundheit befindet, ohne Schulden ist und ein reines Gewissen hat ? Für einen Menschen in dieser Lage kann man füglich jeden Zuwachs an Glück als überflüssig bezeichnen ; und wenn er über einen solchen sehr begeistert ist, so muß dies der Ausfluß der ärgsten Leichtfertigkeit sein. Und doch kann seine Lage wohl mit gutem Grund als der natürliche und gewöhnliche Zustand der Menschen bezeichnet werden. Ungeachtet des gegenwärtigen Elends und der Verderbtheit der Welt, die mit so viel Recht beklagt wird, ist dies tatsächlich der Zustand, in dem sich die Mehrzahl der Menschen befindet. Die Mehrzahl der Menschen kann daher keine besondere Schwierigkeit darin finden, sich selbst in Gedanken zu dem Gefühl der Freude zu erheben, welches irgendein Glückszuwachs in dieser Situation ihrem Gefährten einzuflößen vermag. Aber wenn auch wenig zu diesem Zustand hinzugefügt werden kann, so kann ihm doch viel genommen werden. Wenngleich der Abstand zwischen dieser Lage und dem höchsten Grad mensch-
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lichen Wohlergehens nur ganz unbedeutend ist, so ist doch die Entfernung zwischen ihr und der größten Tiefe des Elends gewaltig und ungeheuer. Aus diesem Grunde drückt Mißgeschick notwendigerweise das Gemüt des Betroffenen weit mehr unter seinen natürlichen Zustand nieder, als Wohlergehen es über diesen erheben kann. Der Zuschauer muß es deshalb weit schwerer finden, mit dessen Sorge durchaus zu sympathisieren und mit ihr vollständig Schritt zu halten, als seine Freude vollkommen nachzuempfinden, und muß in dem ersteren Falle weit mehr von seiner eigenen natürlichen und gewöhnlichen Gemütsverfassung abweichen, als in dem letzteren. Daher kommt es, daß unsere Sympathie mit dem Leid, obwohl sie oft eine lebhaftere Empfindung ist, als unsere Sympathie mit der Freude, doch immer weit mehr hinter der Heftigkeit dessen zurückbleibt, was die zunächst betroffene Person naturgemäß fühlt. Es ist angenehm, mit der Freude des anderen zu sympathisieren. Und immer überläßt sich unser Herz mit Genugtuung den höchsten Entzückungen dieses ergötzlichen Gefühls, wenn nicht gerade Neid und Mißgunst dies verhindern. Aber es ist schmerzlich, den Kummer des anderen mitzuempfinden und nur mit Widerstreben nehmen wir jedesmal an ihm teil *. Wenn wir der Auf* Es wurde mir entgegengehalten, daß, da ich das Billigungsgefühl, das immer angenehm ist, auf Sympathie gründe, es unvereinbar mit meinem System sei, irgendwelche unangenehme Sympathie zuzulassen. Ich antworte darauf, daß in dem Billigungsgefühl zwei Momente liegen, die man berücksichtigen muß. Erstens der auf Sympathie beruhende Affekt des Zuschauers ; und zweitens das Gefühl, welches in diesem daraus entsteht, daß er die völlige Übereinstimmung zwischen seinem auf Sympathie beruhenden Affekt und dem ursprünglichen Affekt der zunächst betroffenen Person beobachtet. Dieses letztere Gefühl, in welchem das Billigungsgefühl eigentlich besteht, ist immer angenehm und erfreulich. Das andere kann angenehm oder unangenehm sein, je nach der Natur des ursprünglichen Affekts, dessen Züge es in gewissem Maße immer beibehalten muß.
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
führung einer Tragödie beiwohnen, widersetzen wir uns der mitfühlenden Trauer, die die Darstellung uns einflößt, solange es uns möglich ist, und wir geben ihr schließlich nur Raum, wenn wir nicht mehr anders können ; aber selbst dann bemühen wir uns, unsere Teilnahme vor der Gesellschaft zu verbergen. Wenn wir Tränen vergießen, dann verhehlen wir sie sorgsam und fürchten, daß die Zuschauer, die diese übergroße Empfindsamkeit nicht teilen, sie als eine weibische Schwäche und Weichlichkeit ansehen könnten. Der Bedauernswerte, dessen Unglück unser Mitgefühl wachruft, fühlt, daß wir nur mit Widerstreben an seinem Kummer teilnehmen dürften, und trägt uns daher sein Leid nur mit Furcht und Zögern vor ; er verheimlicht sogar die Hälfte davon und schämt sich eben wegen dieser Hartherzigkeit der Menschen, der Fülle seiner Betrübnis freien Lauf zu lassen. Anders verhält es sich mit einem Menschen, der in Freude und im Glücke schwelgt. Immer, wenn uns nicht gerade Neid gegen ihn einnimmt, erweckt er unsere vollste Sympathie. Er scheut sich deshalb nicht, sich uns mit frohlockenden Ausrufen der höchsten Freude mitzuteilen, in vollem Vertrauen darauf, daß wir von Herzen geneigt sein werden, an seiner Freude teilzunehmen. Warum sollten wir uns mehr schämen vor den Leuten zu weinen, als zu lachen ? Wir mögen oft ebenso gegründeten Anlaß zum Weinen haben als ein anderesmal zum Lachen, aber wir haben immer das Gefühl, daß die Zuschauer eher bereit sind, unsere angenehmen Gemütsbewegungen zu teilen, als die schmerzlichen. Es ist immer erbärmlich, zu klagen, selbst wenn wir von den fürchterlichsten Schicksalsschlägen bedrückt sind. Aber der Triumph des Sieges ist keineswegs immer unschön. Freilich dürfte die Klugheit uns oft raten, unser Glück mit mehr Mäßigung zu tragen ; denn die Klugheit lehrt uns, jenen Neid und jene Mißgunst zu meiden, die gerade dieser Triumph mehr als irgend etwas anderes zu erregen geeignet ist. Wie herzlich sind bei einem Triumph oder bei einem öffent-
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lichen Einzug die jauchzenden Zurufe des Pöbels, der niemals irgendwelchen Neid gegen seine Vorgesetzten hegt ! Und wie gelassen und mäßig ist gewöhnlich ihr Kummer bei einer Hinrichtung ! Unsere Trauer bei einem Begräbnis kommt meistens auf nicht mehr als auf einen erkünstelten Ernst hinaus ; aber unsere Fröhlichkeit bei einer Taufe oder einer Hochzeit ist immer vom Herzen kommend und ohne jede Künstelei. Unsere Befriedigung über diese und alle anderen freudigen Anlässe ähnlicher Art ist, wenn auch nicht so lange andauernd, doch oft ebenso lebhaft wie jene der zunächst betroffenen Person. Immer, wenn wir von Herzen unseren Freunden Glück wünschen, was wir – zur Schande der menschlichen Natur – nur selten tun, dann wird ihre Freude buchstäblich unsere Freude ; wir sind in diesem Augenblick so glücklich, wie sie es sind ; unser Herz schwillt und fließt über von wirklicher Lust ; Freude und Wohlgefallen glänzen aus unseren Augen und beseelen jeden Zug unserer Miene und jede Bewegung unseres Körpers. Wenn wir dagegen auf der anderen Seite unseren Freunden unser Beileid in ihren Bekümmernissen bezeigen, wie wenig fühlen wir da im Vergleich zu dem, was sie fühlen ! Wir setzen uns zu ihnen, wir blicken sie an und, während sie uns die näheren Umstände ihres Unglücks erzählen, hören wir ihnen mit Ernst und Aufmerksamkeit zu. Aber während ihre Erzählung jeden Augenblick durch jene natürlichen Ausbrüche des Affekts unterbrochen wird, die sie oft mitten im Reden beinahe zu ersticken scheinen, wie weit sind da die matten Regungen unserer Herzen davon entfernt, mit der Leidenschaftlichkeit ihrer Gefühle gleichen Schritt zu halten. Wir fühlen vielleicht gleichzeitig, daß ihre Leidenschaft natürlich und nicht stärker ist, als wir sie selbst bei einem gleichen Anlaß empfinden würden. Wir mögen uns innerlich selbst über unseren Mangel an Gefühl Vorwürfe machen und uns vielleicht daraufhin in eine Art künstlicher Sympathie versetzen, die indes, auch wenn sie wirklich geweckt wird, doch immer die schwächste
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und vergänglichste ist, die man sich vorstellen kann, und die meistens, sowie wir das Zimmer verlassen haben, schon verschwindet und für immer dahin ist. Es scheint, daß die Natur, als sie uns mit unseren eigenen Sorgen belud, der Meinung war, diese seien für uns schwer genug, und daß sie uns deshalb nicht auftrug, irgendeinen weiteren Anteil an den Sorgen der anderen zu nehmen, als soweit es notwendig war, um uns zur Linderung dieser Sorgen anzuspornen. Gerade mit Rücksicht auf diese Stumpfheit unseres Gefühls für die Bekümmernisse anderer, erscheint uns die Seelengröße, wenn sie der Mensch inmitten großen Leids bewahrt, immer so göttlich schön. Dessen Benehmen ist wohlgesittet und ansprechend, der imstande ist, seine Heiterkeit inmitten einer Anzahl geringfügiger Unfälle aufrechtzuerhalten. Aber der erscheint uns größer als ein Sterblicher, der mit der gleichen Heiterkeit die fürchterlichsten Plagen zu ertragen weiß. Wir fühlen, was für eine ungeheuere Anstrengung erforderlich ist, um jene heftigen Gemütsbewegungen zum Schweigen zu bringen, die ihn in seiner Situation naturgemäß erschüttern und quälen. Es setzt uns in Erstaunen, wenn wir sehen, daß er sich selbst so vollständig beherrschen kann. Seine Standhaftigkeit fällt nun zugleich völlig zusammen mit unserer Unempfindlichkeit. Er verlangt von uns durchaus nicht jenen äußerst hohen Grad von Gefühlsfähigkeit, den wir, wie wir bemerken – und es kränkt uns, dies zu bemerken – tatsächlich nicht besitzen. Es findet hier die vollendetste Übereinstimmung zwischen seinen Empfindungen und den unsrigen statt und aus diesem Grunde erblicken wir auch in seinem Betragen die vollendetste Schicklichkeit. Es ist das zugleich eine Schicklichkeit oder Korrektheit, die selten anzutreffen ist, und wir hätten nach unserer Erfahrung über die gewöhnliche Schwäche der menschlichen Natur vernünftigerweise nicht erwarten können, daß er fähig sein würde, sie aufrechtzuerhalten. Voll Überraschung und Erstaunen wundern wir uns über jene Geistes-
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stärke, die einer so vornehmen und edlen Anstrengung fähig ist. Die Empfindung vollkommener Sympathie und Billigung bildet im Verein mit Staunen und Überraschung das, was im eigentlichen Sinne des Wortes Bewunderung genannt wird, wie wir dies im Früheren bereits mehr als einmal bemerkt haben. Cato, wie er, von allen Seiten durch seine Feinde eingeschlossen, unfähig ihnen Widerstand zu leisten, es doch verschmäht, sich ihnen zu unterwerfen und durch die stolzen Grundsätze jenes Zeitalters zu dem Entschluß gezwungen wird, sich selbst zu entleiben ; wie er trotz allem niemals zurückbebt vor den schweren Schicksalsschlägen, die ihn getroffen haben ; niemals mit der klagenden Stimme des Elends demütig um jene erbärmlichen Tränen des Mitgefühls fleht, die zu vergießen wir immer so wenig willens sind ; sondern sich vielmehr mit männlicher Tapferkeit wappnet und noch in dem Augenblick, bevor er seinen verhängnisvollen Entschluß ausführt, mit seiner gewohnten Ruhe alle Befehle gibt, die für die Sicherheit seiner Freunde notwendig sind –, dies erscheint einem Seneca, jenem großen Prediger der Gefühllosigkeit, als ein Schauspiel, nach dem sogar die Götter selbst mit Wohlgefallen und Bewunderung blicken. Wann immer wir im gewöhnlichen Leben irgendwelchen Beispielen solch heroischer Seelenstärke begegnen, machen sie stets den tiefsten Eindruck auf uns. Wir sind weit eher geneigt zu weinen und für solche Männer Tränen zu vergießen, die so unfühlend gegen sich selbst zu sein scheinen, als für diejenigen, die der ganzen Schwachheit ihrer Trübsal freien Lauf lassen ; und in diesem besonderen Fall scheint der der Sympathie entspringende Kummer des Zuschauers weit über den ursprünglichen Affekt der zunächst betroffenen Person hinauszugehen. Die Freunde des Sokrates weinten alle, als er den Todestrank zu sich nahm, während er selbst die heiterste und fröhlichste Ruhe an den Tag legte. Bei allen derartigen Gelegenheiten macht der Zuschauer keine Anstrengung, um seinen mitfühlenden Kummer zu überwinden,
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und er hat auch keinen Anlaß dazu. Er muß nicht fürchten, daß dieser Kummer ihn zu irgendeiner überspannten oder sittlich unrichtigen Handlung hinreißen werde ; er freut sich vielmehr der Feinfühligkeit seines Herzens und läßt ihr mit Wohlgefallen und Selbstbilligung freien Lauf. Gerne überläßt er sich deshalb den schwermütigsten Aussichten, die sich ihm naturgemäß in bezug auf das Elend seines Freundes aufdrängen, für den er vielleicht niemals zuvor so überaus heftig die zärtliche und tränenreiche Leidenschaft der Liebe gefühlt hatte. Ganz anders verhält es sich jedoch mit demjenigen, der durch das Unglück in erster Linie betroffen ist. Er muß seine Augen so sehr als möglich von allem abkehren, was an seiner Situation schrecklich oder unangenehm ist. Er fürchtet, daß eine allzu ernsthafte Aufmerksamkeit gegenüber jenen widerwärtigen Umständen einen so gewaltigen Eindruck auf ihn machen könnte, daß er sich selbst nicht mehr in den Schranken der Mäßigung zu halten vermöchte, und daß er dann nicht mehr die vollständige Sympathie und Billigung der Zuschauer auf sich ziehen könnte. Er heftet deshalb seine Gedanken nur auf jene Umstände, die für ihn angenehm sind, nämlich auf den Beifall und die Bewunderung, die er durch die heldenhafte Seelenstärke seines Betragens im Begriffe ist zu verdienen. Das Bewußtsein, daß er einer so vornehmen und edlen Anstrengung fähig ist, das Gefühl, daß er in dieser fürchterlichen Situation immer noch so zu handeln vermag, wie er es wünscht, begeistert ihn, erfüllt ihn mit Freude und macht ihn fähig, jene triumphierende Fröhlichkeit zu behaupten, die über den Sieg zu frohlocken scheint, den er so über sein Unglück gewonnen hat. Auf der anderen Seite erscheint uns der immer einigermaßen niedrig und verächtlich, der in Sorge und Niedergeschlagenheit versunken ist wegen irgendeines Unglücks, das ihn selbst betrifft. Wir können es nicht über uns bringen, für ihn zu fühlen, was er selbst für sich fühlt, und was wir vielleicht für uns fühlen würden, wenn wir in seiner Lage wären ; deshalb verachten wir ihn – unge-
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rechterweise vielleicht, wenn irgendein Gefühl als ungerecht angesehen werden könnte, zu welchem wir von Natur unwiderstehlich bestimmt werden. Schwächlicher Kummer erscheint niemals in irgendwelcher Hinsicht anziehend, ausgenommen den Fall, wo er mehr aus dem entspringt, was wir für andere fühlen als aus demjenigen, was wir für uns selbst fühlen. Ein Sohn mag seinem Kummer über den Tod eines zärtlichen und ehrwürdigen Vaters freien Lauf lassen, ohne daß man ihn deswegen besonders tadeln würde. Sein Kummer gründet sich hauptsächlich auf eine Art von Sympathie, die er für seinen dahingeschiedenen Vater empfindet, und wir nehmen an diesem humanen Gefühle bereitwillig teil. Wenn er sich aber der gleichen Schwachheit überließe, um irgendeines Mißgeschicks willen, das nur ihn selbst berührt, dann würde er nicht mehr einer solchen Nachsicht begegnen. Wenn er in seinem Vermögensverhältnisse bis zu Ruin und Bettelei heruntergebracht würde, wenn er den fürchterlichsten Gefahren ausgesetzt wäre, wenn er selbst schließlich zur öffentlichen Hinrichtung hinausgeführt würde, und wenn er dann eine einzige Träne auf dem Schafott vergösse, so würde er sich für immer in der Meinung aller feinfühlenden und edel denkenden Menschen in Unehre bringen. Ihr Mitleid für ihn würde immerhin sehr stark und aufrichtig sein ; aber da es doch immer noch hinter dieser maßlosen Schwachheit zurückbleiben würde, würden sie keine Nachsicht mit dem Manne haben, der sich selbst in den Augen der Welt so bloßstellen konnte. Sein Betragen würde sie mehr mit Scham erfüllen als mit Kummer ; und die Unehre, die er so auf sich geladen hätte, würde ihnen als der beklagenswerteste Umstand in seinem Unglück erscheinen. Wie entehrte es das Andenken des unerschrockenen Herzogs von Biron, der so oft im Felde dem Tode getrotzt hatte, daß er auf dem Schafott weinte, als er in Gedanken den Zustand betrachtete, in den er gefallen war, und sich zugleich das Ansehen und den Ruhm in’s Gedächtnis zurückrief, von dem ihn seine eigene Unbesonnenheit so unglückselig herabgestürzt hatte !
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zweites kapitel Über den Ursprung des Ehrgeizes und über die Standesunterschiede Weil die Menschen geneigt sind, aufrichtiger mit unserer Freude zu sympathisieren als mit unserem Leid, pflegen wir gewöhnlich mit unserem Reichtum zu prunken und unsere Armut zu verbergen. Nichts ist für uns so kränkend, wie wenn wir gezwungen sind, unsere Notlage den Blicken der Allgemeinheit preiszugeben und dabei zu fühlen, daß, obwohl unsere Situation für die Augen aller Menschen offen daliegt, doch kein Sterblicher auch nur die Hälfte dessen fühlt, was wir leiden. Ja, es kommt hauptsächlich von dieser Rücksicht auf die Gefühle der Menschen, daß wir den Reichtum anstreben und daß wir der Armut zu entrinnen trachten. Denn welcher Absicht dient all die Mühseligkeit und all die lärmende Geschäftigkeit dieser Welt ? Was ist der Endzweck von Habsucht und Ehrgeiz und der Jagd nach Reichtum, Macht und Vorrang ? Ist es der, den natürlichen Bedürfnissen Genüge zu tun ? Der Lohn des geringsten Arbeiters reicht aus, um diese zu befriedigen. Wir sehen, daß er ihm Nahrung und Kleidung gewährt, den Komfort eines Hauses und einer Familie. Wenn wir seine Haushaltung strenge prüften, dann würden wir finden, daß er einen großen Teil des Lohnes auf Luxusbedürfnisse ausgibt, die als überflüssig betrachtet werden dürfen, und daß er bei außerordentlichen Gelegenheiten sogar etwas dafür anwenden kann, um seine Eitelkeit zu befriedigen und vornehm auftreten zu können. Was ist aber dann an unserer Abneigung gegenüber seiner Lage schuld, und warum würden diejenigen, die in den besseren Lebensständen aufgewachsen sind, ihr Schicksal für schlechter halten als den Tod, wenn es sie in solche Verhältnisse versetzte, daß sie – sei es auch ohne arbeiten zu müssen – von derselben einfachen Kost leben, unter demselben niedrigen Dach wohnen und in denselben geringen Anzug sich kleiden sollten wie er ? Bil-
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den sie sich ein, daß in einem Palast ihr Magen besser oder ihr Schlaf gesünder sei als in einer Hütte ? Das Gegenteil ist so oft bemerkt worden und ist tatsächlich so überaus offenkundig, daß auch, wenn es niemals bemerkt worden wäre, doch niemand in Unkenntnis darüber sein könnte. Woher entsteht dann also jener Wetteifer, der sich durch alle die verschiedenen Stände der Menschen hindurchzieht, und welches sind die Vorteile, die wir bei jenem großen Endziel menschlichen Lebens, daß wir »Verbesserung unserer Verhältnisse« nennen, im Sinne haben ? Daß man uns bemerkt, daß man auf uns Acht hat, daß man mit Sympathie, Wohlgefallen und Billigung von uns Kenntnis nimmt, das sind alle Vorteile, die wir daraus zu gewinnen hoffen dürfen. Es ist die Eitelkeit, nicht das Wohlbefinden oder das Vergnügen, was uns daran anzieht. Eitelkeit aber beruht immer auf der Überzeugung, daß wir der Gegenstand der Aufmerksamkeit und Billigung sind. Der reiche Mann rühmt sich seines Reichtums, weil er fühlt, daß dieser naturgemäß die Aufmerksamkeit der Welt auf ihn lenkt, und daß die Menschen geneigt sind, an all jenen angenehmen Gemütsbewegungen gerne teilzunehmen, welche die Vorteile seiner Situation ihm so leicht einflößen müssen. Bei dem Gedanken daran scheint sich ihm das Herz in der Brust zu weiten und aufzugehen und er pflegt aus diesem Grunde mehr in seinen Wohlstand vernarrt zu sein als wegen aller anderen Vorteile, die ihm dieser verschafft. Der Arme auf der anderen Seite schämt sich seiner Armut. Er fühlt, daß sie ihn entweder aus dem Gesichtskreis der Menschen ausschließt, oder daß diese doch, wenn sie irgend Notiz von ihm nehmen, kaum irgendwelches Mitgefühl mit dem Elend und der Not haben werden, die er erduldet. Über beides kränkt er sich ; denn wenngleich es zwei gänzlich verschiedene Dinge sind, ob man übersehen wird, oder ob man Mißbilligung erfährt, so dämpft doch das Bewußtsein, daß man keine Notiz von uns nimmt, notwendigerweise die angenehmste Hoffnung und enttäuscht das brennendste Verlangen der menschlichen Natur,
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da uns die Finsternis der Unberühmtheit von dem Tageslicht der Ehre und Billigung ausschließt. Unbeachtet kommt und geht der arme Mann und inmitten einer Menschenmenge befindet er sich in der gleichen Verborgenheit, wie wenn er in seine Hütte eingeschlossen wäre. Jene niedrigen Sorgen und jene kümmerlichen Interessen, welche einen Menschen in seiner Lage beschäftigen, gewähren liederlichen und fröhlich gestimmten Leuten keine Unterhaltung. Sie wenden ihre Augen von ihm ab oder, wenn das Übermaß seines Elends sie zwingt, nach ihm zu blicken, dann geschieht es nur, um einen so unangenehmen Gegenstand aus ihrer Mitte hinwegzustoßen. Die Glücklichen und Stolzen staunen über die Unverschämtheit menschlichen Elends und wundern sich, daß dieses es wagen könne, sich vor ihnen zur Schau zu stellen, und daß es sich herausnehme, mit dem ekelhaften Anblick seiner Not die Heiterkeit ihres Glückes zu stören. Dagegen wird der Mann von Rang und Distinktion von aller Welt beobachtet. Jedermann ist begierig, nach ihm zu schauen und wenigstens durch Sympathie jene Freude und jene Heiterkeit nachzuempfinden, mit welcher seine glücklichen Verhältnisse ihn naturgemäß erfüllen müssen. Alle seine Handlungen beschäftigen das Interesse des Publikums. Kaum ein Wort kann ihm entfallen, kaum eine Gebärde ihm entschlüpfen, die wirklich ganz und gar unbeachtet bleiben würde. In einer großen Versammlung ist er derjenige, auf den sich die Augen aller richten ; auf ihn scheinen ihre Affekte erwartungsvoll zu harren, um jene Bewegung und Richtung anzunehmen, die er ihnen mitteilen wird ; und wenn sein Betragen nicht ganz und gar ungereimt ist, so hat er jeden Augenblick Gelegenheit, die Teilnahme der Menschen zu wecken und die Beachtung und das Mitgefühl eines jeden einzelnen aus der Menge auf sich zu lenken. Dies ist es, was die Größe, ungeachtet der Zurückhaltung, die sie auferlegt, ungeachtet des Freiheitsverlustes, mit dem sie verknüpft ist, doch zum Gegenstand des Neides macht, was in den Augen der Menschen all jene Beschwerlichkeit, all jene
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Angst, all jene Kränkungen aufwiegt, die man auf der Jagd nach ihr auf sich nehmen muß, und was zugleich Ersatz bietet für das, was noch viel wichtiger ist – nämlich für all jene Muße, für all jenes Behagen, für all jene sorglose Sicherheit, die auf immer verwirkt sind, sobald man die Größe wirklich erreicht hat. Wenn wir die Situation der Großen in jenen trügerischen Farben sehen, in denen die Einbildungskraft sie sich gerne auszumalen pflegt, so scheinen sie beinahe die ideale Vorstellung eines vollkommenen und glücklichen Zustandes darzustellen. Es ist gerade der Zustand, dessen Bild wir in all unseren wachen Träumen und eitlen Phantasien uns als den letzten Gegenstand unserer Wünsche entworfen hatten. Wir fühlen deshalb eine eigentümliche Sympathie mit dem Vergnügen derjenigen, die sich in diesem Zustand befinden. Wir unterstützen sie in all ihren Neigungen und erfüllen all ihre Wünsche. Wie schade, denken wir, wenn irgend etwas eine so angenehme Situation zerstören und verderben sollte ! Ja, wir möchten geradezu wünschen, daß jene Menschen unsterblich wären : und es scheint uns hart, daß der Tod schließlich einem so vollkommenen Genießen ein Ende setzen sollte ! Es ist grausam eingerichtet in der Natur, denken wir, daß sie solche Personen von ihren erhabenen Stellungen in jenes niedrige, aber gastliche Heim zwingt, das sie für alle ihre Kinder vorgesehen hat. »Ewig lebe der große König !«, ist die Begrüßung, die wir nach der Sitte orientalischer Schmeichelei ihnen gern zuteil werden ließen, wenn uns nicht die Erfahrung deren Ungereimtheit lehrte. Jedes Unglück, das sie befällt, jede Beleidigung, die ihnen zugefügt wird, erregt in der Brust des Zuschauers zehnmal mehr Mitleid und Vergeltungsgefühl, als er empfinden würde, wenn dieselben Dinge anderen Menschen widerfahren wären. Nur das Unglück der Könige ist es, das den passenden Stoff für ein Trauerspiel liefert. Es gleicht in dieser Hinsicht dem Unglück der Liebenden. Diese zwei Lebenslagen, die des Liebenden und die des Herrschers, sind die Hauptthemen, die uns auf dem Theater in-
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teressieren, weil die Vorurteile der Einbildungskraft – ungeachtet alles dessen, was Vernunft und Erfahrung für die gegenteilige Auffassung anführen können – diesen beiden Stellungen eine Glückseligkeit zuschreiben, die über jede andere erhaben ist. Einen so vollkommenen Lebensgenuß zu stören oder gar ihm ein Ende zu setzen, würde uns das abscheulichste Unrecht zu sein scheinen. Der Verräter, der gegen das Leben seines Monarchen konspiriert, wird für ein ärgeres Ungeheuer gehalten, als jeder andere Mörder. All das unschuldige Blut, das in den Bürgerkriegen vergossen wurde, rief weniger Empörung hervor als der Tod Karls I. Ein Beobachter, der keine Kenntnis von der menschlichen Natur hätte und der die Gleichgültigkeit sähe, mit welcher die Menschen das Elend derer betrachten, die unter ihnen stehen, und auf der anderen Seite das Bedauern und die Empörung wahrnähme, die sie wegen des Mißgeschicks und der Leiden derjenigen fühlen, die ihnen übergeordnet sind, der würde geneigt sein anzunehmen, daß für Personen höheren Standes der Schmerz quälender und der Todeskampf schrecklicher sein müssen, als für jene, die sich in niedrigerer Stellung befinden. Auf dieser Neigung der Menschen, für alle Affekte der Reichen und Mächtigen Teilnahme zu hegen, beruht jedoch die Unterscheidung der Stände und die Ordnung der Gesellschaft. Unsere Unterwürfigkeit gegen diejenigen, die über uns stehen, entspringt häufiger aus unserer Bewunderung für die Annehmlichkeiten ihrer Situation, als aus unserer Hoffnung auf Wohltaten, die wir von ihrem Wohlwollen erwarten dürfen. Ihre Wohltaten können sich nur auf einige wenige erstrecken ; aber ihre Schicksale interessieren beinahe jedermann. Wir sind begierig, ihnen ein Gebäude der Glückseligkeit vollenden zu helfen, das sich schon so stark der Vollkommenheit nähert ; und wir verlangen nur um ihretwillen ihnen zu dienen, ohne eine andere Vergütung, als die Eitelkeit oder die Ehre, die wir in dem Bewußtsein finden, sie uns zu verpflichten. Auch entspringt unsere ehrerbietige Ach-
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tung gegenüber ihren Neigungen nicht etwa hauptsächlich oder gar gänzlich aus einer Rücksichtnahme auf den Nutzen solcher Unterwerfung und auf die Ordnung der Gesellschaft, die durch diese am besten gefördert wird. Selbst wenn die Ordnung der Gesellschaft es zu fordern scheint, daß wir ihnen Widerstand leisten, vermögen wir es doch kaum über uns zu bringen, dies zu tun. Daß die Könige die Diener ihres Volkes sind, daß ihnen Gehorsam oder Widerstand geleistet, daß sie abgesetzt oder bestraft werden sollen, je nachdem, wie es gerade die Wohlfahrt des Gemeinwesens verlangen mag – das ist die Lehre der Vernunft und der Philosophie, aber es ist nicht die Lehre der Natur. Die Natur lehrt uns vielmehr, uns ihnen um ihretwillen zu unterwerfen, zu zittern und uns zu Boden zu beugen vor ihrer erhabenen Stellung, ihr Lächeln als einen hinreichenden Lohn zu betrachten, der uns alle unsere Dienstleistungen zu vergüten vermag, und ihr Mißfallen, auch wenn kein anderes Übel daraus folgen sollte als die schwerste von allen Demütigungen zu fürchten. Sie in irgendwelcher Beziehung als Menschen zu behandeln, mit ihnen über gewöhnliche Dinge zu sprechen und zu disputieren, erfordert solche Entschlossenheit, daß es wenig Menschen gibt, deren Seelenstärke imstande wäre, ihnen dazu genügende Kraft zu verleihen, sofern ihnen dabei nicht auch Vertraulichkeit und intime Bekanntschaft zu Hilfe kommen. Die stärksten Triebfedern, die wütendsten Affekte, wie Furcht, Haß und Vergeltungstrieb sind kaum stark genug, als daß sie jenem natürlichen Hang, ihnen Ehre zu erweisen, die Wage halten könnten. Ihr Vorgehen muß – ob mit Recht oder Unrecht – den höchsten Grad jener Affekte in der Masse des Volkes erregt haben, bevor dieses dazu gebracht werden kann, ihnen mit Gewalt Widerstand zu leisten oder sogar bloß den Wunsch zu empfinden, sie bestraft oder abgesetzt zu sehen. Selbst wenn das Volk aber so weit gebracht worden ist, so ist es doch jeden Augenblick imstande, sich erweichen zu lassen, und fällt dann leicht in jenen eingewurzelten Zustand der Unter-
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würfigkeit gegenüber jenen zurück, die es als seine natürlichen Vorgesetzten anzusehen gewohnt war. Es kann die Kränkung seines Monarchen nicht ertragen. Mitleid tritt bald an die Stelle des Vergeltungsgefühls, es vergißt alle vergangenen Herausforderungen, seine alten Grundsätze der Untertanentreue leben wieder auf und es eilt, die zerstörte Autorität seines alten Herrn mit der gleichen Gewalt wiederherzustellen, mit der es ihr Widerstand geleistet hatte. Der Tod Karls I. brachte die Restauration und die Wiedereinsetzung der königlichen Familie zustande. Das Mitleid für Jakob II . – als er durch den Pöbel bei seinem Versuch, auf einem Schiffe zu entfliehen, ergriffen wurde – hätte beinahe die Revolution verhindert und hat sie jedenfalls bedeutend verzögert. Hat es wirklich den Anschein, daß die Großen nicht wissen, zu welchem billigen Preis sie die allgemeine Bewunderung erwerben können, oder scheinen sie sich einzubilden, daß diese für sie wie für andere Menschen nur mit Schweiß oder mit Blut zu erkaufen ist ? Durch welche bedeutenden Fertigkeiten lehrt man denn den jungen Edelmann die Würde seines Ranges aufrechtzuerhalten und sich selbst jener Vorherrschaft über seine Mitbürger wert zu machen, zu welcher die Tüchtigkeit seiner Vorfahren diese erhoben hatte ? Geschieht es durch Wissen, durch Fleiß, durch Geduld, durch Selbstverleugnung oder durch irgendeine andere Tugend ? Da all seine Worte, all seine Bewegungen aufmerksam beachtet werden, lernt er vielmehr, auf jeden einzelnen Umstand seines alltäglichen Betragens beständig Bedacht zu nehmen, und läßt es sich angelegen sein, alle jene kleinen Pflichten mit der genauesten Korrektheit zu vollführen. Da er sich dessen bewußt ist, wie sehr er beobachtet wird, und wie sehr die Menschen bereit sind, ihn in all seinen Neigungen zu unterstützen, handelt er bei den gleichgültigsten Gelegenheiten mit jener Ungezwungenheit und würdevollen Hoheit, welche der Gedanke daran ihm naturgemäß einflößt. Seine Miene, sein Betragen, seine Haltung, alles das verrät jenes elegante und anmutige Gefühl der
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Überlegenheit, welches diejenigen, die in niedrigerem Stand geboren sind, kaum jemals erlangen können. Dies sind die Künste, durch welche er die Menschen dahin zu bringen denkt, daß sie sich leichter seiner Autorität unterwerfen, und durch welche er ihre Neigungen nach seinem Belieben beherrschen zu können glaubt ; und selten wird er in dieser Erwartung getäuscht werden. Diese Künste sind, sofern sie durch hohen Stand und hervorragende Stellung unterstützt werden, in der Regel hinreichend, um die Welt zu beherrschen. Ludwig XIV . wurde während des größeren Teiles seiner Regierung nicht nur in Frankreich, sondern überall in Europa als das vollkommenste Muster eines großen Fürsten angesehen. Welches aber waren die Talente und Tugenden, durch die er jenes große Ansehen erworben hatte ? Geschah es durch die gewissenhafte und unbeugsame Gerechtigkeit aller seiner Unternehmungen, durch die ungeheuren Gefahren und Beschwernisse, mit denen sie verknüpft waren, oder durch den unermüdlichen und niemals nachlassenden Eifer, mit dem er sie betrieb ? Geschah es durch sein ausgedehntes Wissen, durch seinen erlesenen Scharfsinn oder durch seine edelmütige Tapferkeit ? Es geschah durch keine dieser Eigenschaften. Sondern er war vor allem der mächtigste Fürst in Europa und nahm infolgedessen den höchsten Rang unter den Königen ein, und ferner sagt sein Geschichtsschreiber : »er übertraf alle seine Höflinge durch die Anmut seiner Gestalt und die majestätische Schönheit seiner Gesichtszüge. Der Klang seiner Stimme war edel und ergreifend und gewann ihm jene Herzen, die seine Gegenwart in Furcht gesetzt hatte. Er hatte einen Gang und eine Haltung, die nur ihm und seinem hohen Rang ziemen konnten, und die an jedem anderen Menschen lächerlich gewesen wären. Die Verlegenheit, die er bei denjenigen, die mit ihm sprachen, hervorrief, schmeichelte jener heimlichen Genugtuung, mit der er seine eigene Überlegenheit fühlte. Der alte Offizier, der, als er ihn um eine Gunst bat, verwirrt wurde, zu stottern begann und, unfähig seine Ansprache zu En-
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de zu führen, sagte : ›Sire, ich hoffe, Euere Majestät werden mir glauben, daß ich vor ihren Feinden nicht so zittere‹, hatte es nicht schwer, alles zu erlangen, worum er bat«. Diese nichtigen Fertigkeiten, unterstützt durch seinen hohen Rang und zweifellos auch durch ein gewisses Maß anderer Talente und Tugenden, das indes, wie es scheint, nicht weit über Mittelmäßigkeit hervorragte, erwarben diesem Fürsten die Achtung seines Zeitalters und haben seinem Andenken sogar bei der Nachwelt einen ziemlich hohen Grad von Verehrung verschafft. Verglichen mit diesen Fertigkeiten schien in seiner Zeit und in seiner Gegenwart offenbar keine andere Tugend irgendwelches Verdienst besessen zu haben. Vor ihnen standen Wissen, Betriebsamkeit, Tapferkeit und Wohltätigkeit in zitternder Beschämung und verloren ihre ganze Würde. Der Mann von niedrigem Stande jedoch darf nicht hoffen, sich durch irgendwelche äußere Fertigkeiten dieser Art auszeichnen zu können. Feinheit der Sitten bildet so ausschließlich die Tugend der Großen, daß sie jedem anderen wenig Ehre einbringen würde. Der Stutzer, der ihre Manieren nachahmt und sich im täglichen Leben durch die höhere Korrektheit seines Betragens auszuzeichnen trachtet, wird für seine Narrheit und Anmaßung mit doppelter Verachtung belohnt. Warum sollte der Mann, den anzusehen niemand der Mühe wert hält, besonders ängstlich in bezug auf die Art und Weise sein, wie er seinen Kopf oder seine Arme hält, während er durch das Zimmer schreitet ? Er wäre da sicherlich mit einer höchst überflüssigen Aufmerksamkeit beschäftigt, und einer Aufmerksamkeit noch dazu, die das Bewußtsein ihrer eigenen Unwichtigkeit verrät und für die kein anderer Sterblicher irgendwelches Verständnis haben kann. Die vollkommenste Bescheidenheit und Schlichtheit, mit soviel Nachlässigkeit verbunden, als mit jener Achtung verträglich ist, die er seiner Umgebung schuldet, sollten die Hauptkennzeichen des Benehmens eines Privatmannes sein. Wenn er jemals hoffen darf, sich auszuzeichnen, so muß dies durch bedeutsamere Tugenden geschehen. Er muß
Erster Teil · Dritter Abschnitt · Zweites Kapitel
Anhänger erwerben, um den Anhängern der Großen das Gegengewicht halten zu können, und er hat keinen anderen Fond, aus dem er sie bezahlen könnte, als die Arbeit seines Körpers und die Regsamkeit seines Geistes. Er muß deshalb diese kultivieren : er muß sich ein höheres Wissen in seinem Beruf aneignen und eine höhere Betriebsamkeit in dessen Ausübung. Er muß geduldig in der Arbeit, entschlossen in der Gefahr und standhaft in der Not sein. Auf diese Talente muß er durch die Schwierigkeit und Wichtigkeit seiner Unternehmungen und zugleich durch den Scharfsinn, der sich in ihnen ausdrückt, sowie durch die ernste und unablässige Geistesanstrengung, mit der er sie durchführt, die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit lenken. Redlichkeit und Klugheit, Edelmut und Offenherzigkeit müssen sein Betragen in allen Geschäften des täglichen Lebens kennzeichnen ; er muß gleichzeitig mit größtem Eifer dazu bereit sein, sich in solche Situationen zu begeben, in denen die größten Talente und Tugenden erforderlich sind, um sittlich richtig handeln zu können, in welchen diejenigen aber auch den größten Beifall erwerben können, die imstande sind, mit Ehren darin zu bestehen. Mit welcher Ungeduld hält nicht ein Mann, der von Tatendrang und Ehrgeiz beseelt ist und der sich durch seine Lage niedergedrückt fühlt, Ausblick nach irgendeiner großen Gelegenheit, sich auszuzeichnen ! Alle Verhältnisse, die imstande sind, ihm diese Gelegenheit zu gewähren, erscheinen ihm wünschenswert. Sogar die Aussicht auf einen auswärtigen Krieg oder auf Zwistigkeiten unter den Bürgern erfüllt ihn mit Genugtuung ; und mit geheimem Entzücken und Ergötzen erblickt er durch all die Verwirrung und das Blutvergießen, die sie mit sich bringen, hindurch die Wahrscheinlichkeit, daß jene erwünschten Gelegenheiten sich ihm nun darbieten werden, in welchen er die Aufmerksamkeit und Bewunderung der Menschen auf sich ziehen könnte. Der Mann von Rang und Distinktion dagegen, dessen ganze Herrlichkeit in der Korrektheit seines alltäglichen Betragens besteht, der mit dem geringen
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Ruhm zufrieden ist, welchen diese ihm zu gewähren vermag, und der keine Talente besitzt, um irgendeinen anderen zu erwerben, ist nicht willens, sich in Unternehmungen zu stürzen, die von Beschwernissen oder gar von Leiden begleitet sein könnten. Auf einem Ball gute Figur zu machen, ist sein größter Triumph, und in einem Liebeshandel einen Erfolg zu erringen, seine höchste Heldentat. Er hegt eine Abneigung gegen alle öffentlichen Unruhen – nicht aus Liebe zur Menschheit, denn die Großen betrachten niemals diejenigen, die unter ihnen stehen, als ihre Mitgeschöpfe ; doch auch nicht aus Mangel an Mut, denn daran pflegt es ihm selten zu fehlen ; sondern aus dem Bewußtsein heraus, daß er keine jener guten Eigenschaften besitzt, die in solchen Lagen erforderlich sind, und daß hier die allgemeine Aufmerksamkeit sicherlich durch andere von ihm abgelenkt werden würde. Er mag willens sein, sich einer kleinen Gefahr auszusetzen und einen Feldzug mitzumachen, wenn es zufällig gerade Mode ist. Aber er schaudert voll Abscheu vor dem Gedanken an eine Situation zurück, welche einen beständigen und dauernden Aufwand von Geduld, Fleiß, Tapferkeit und Geistesanstrengung erfordern würde. Diese Tugenden kann man kaum jemals bei Menschen antreffen, die in so hoher Stellung geboren sind. Demgemäß liegen in allen Staaten, selbst in Monarchien, die höchsten Ämter und die Leitung der ganzen Einzelheiten der Verwaltung zumeist in den Händen von Männern, die in den mittleren oder niederen Gesellschaftsständen aufgewachsen sind und die durch ihren Fleiß und ihre Fähigkeiten emporgetragen wurden, obwohl sich ihnen die Eifersucht und der Vergeltungstrieb aller derer entgegenstellte, die den höheren Geburtsständen angehörten ; in den Händen von Männern, welche von den Großen erst mit Verachtung und später mit Neid angesehen wurden, bis sich die letzteren schließlich damit abfanden, sich vor ihnen mit derselben erbärmlichen Unterwürfigkeit zu beugen, die – wie sie wünschen – die übrigen Menschen ihnen gegenüber an den Tag legen sollten.
Erster Teil · Dritter Abschnitt · Zweites Kapitel
Der Verlust dieser leichten Herrschaft über die Neigungen der Menschen ist es, was den Sturz aus früherer Größe so unerträglich macht. Als die Familie des Königs von Mazedonien von Paulus Ämilius im Triumphzug mitgeführt wurde, da zwang, wie man sagt, ihr Mißgeschick das römische Volk, seine Aufmerksamkeit zwischen dem Sieger und den Besiegten zu teilen. Der Anblick der königlichen Kinder, deren zartes Alter sie das Schreckliche ihrer Lage nicht fühlen ließ, flößte den Zuschauern inmitten der allgemeinen Freudenbezeigungen und des allgemeinen Glückstaumels die zärtlichsten Gefühle der Trauer und des Mitleids ein. Der König kam als nächster in dem Zuge und er schien wie einer, der durch die Größe seines Elends verwirrt und betäubt und allen Gefühls beraubt ist. Seine Freunde und Minister folgten ihm. Während sie so dahinschritten, richteten sie oft ihre Blicke nach ihrem gefallenen Herrscher und jedesmal brachen sie in Tränen aus bei dem Anblick, der sich ihnen bot ; ihr ganzes Betragen bewies, daß sie nicht an ihr eigenes Unglück dachten, sondern daß sie ganz und gar von der gewaltigen Größe seines Mißgeschicks erfüllt waren. Die edlen Römer jedoch blickten mit Geringschätzung und Unwillen auf ihn und sie betrachteten den Mann als jeden Mitleids unwürdig, der so kleinmütig sein konnte, daß er es ertrug, in solchem Elend zu leben. Doch worauf lief dieses Elend hinaus ? Nach den Berichten der Mehrzahl seiner Geschichtsschreiber mußte er den Rest seiner Tage unter der Schutzherrschaft eines mächtigen und humanen Volkes verbringen, in einem Zustand, der an und für sich beneidenswert scheinen möchte, einem Zustand des Überflusses, des Wohlbefindens, der Muße und der Sicherheit, aus dem er nicht einmal durch seine eigene Torheit herabstürzen konnte. Aber er sollte nicht länger mehr von jenem bewundernden Pöbel von Narren, Schmeichlern und Vasallen umgeben sein, der ihm früher bei all seinen Bewegungen zu folgen pflegte. Er sollte nicht mehr von großen Menschenmengen angestarrt werden, noch es in seiner Gewalt haben, sich zum
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Gegenstand ihrer Verehrung, ihrer Dankbarkeit, ihrer Liebe, ihrer Bewunderung zu machen. Nicht mehr sollten sich die Leidenschaften von ganzen Völkern nach seinem Gefallen ummodeln. Dies war jenes unerträgliche Elend, das den König jedes Gefühls beraubte, das seine Freunde ihr eigenes Unglück vergessen ließ, und das es der römischen Hochgemutheit kaum begreiflich erscheinen ließ, wie ein Mann so niedrig gesinnt sein konnte, daß er es ertrug, dies zu überleben. »Auf Liebe«, sagt Herr von La Rochefoucauld, »folgt gewöhnlich Ehrgeiz, auf Ehrgeiz folgt jedoch kaum jemals Liebe«. Diese Leidenschaft wird, wenn sie einmal völlig von einem Herzen Besitz ergriffen hat, weder einen Nebenbuhler, noch einen Nachfolger dulden. Denjenigen, die sich einmal daran gewöhnt haben, die allgemeine Bewunderung zu besitzen oder doch bei allen ihren Handlungen auf diese Bewunderung zu hoffen, vergehen und verwelken alle anderen Freuden. Wie wenige von all den abgesetzten Staatsmännern, die um ihrer eigenen Ruhe willen sich bemüht haben, ihren Ehrgeiz zu überwinden und jene Ehren zu verachten, die sie nicht mehr erlangen konnten, wie wenige von ihnen sind imstande gewesen, dieses Ziel zu erreichen ! Die meisten von ihnen haben ihre Zeit in der verdrossensten und abgeschmacktesten Teilnahmslosigkeit verbracht, verärgert bei dem Gedanken an ihre jetzige Unbedeutendheit, unfähig, sich für die Beschäftigungen des Privatlebens zu interessieren, ohne Freude, außer, wenn sie von ihrer früheren Größe erzählten, und ohne Zufriedenheit, außer wenn sie mit irgendeinem vergeblichen Projekt beschäftigt waren, um jene wieder zu erlangen. Bist du ernstlich entschlossen, niemals deine Freiheit gegen die herrschaftliche Knechtschaft an einem Hofe zu vertauschen, vielmehr frei, furchtlos und unabhängig zu leben ? Es scheint, daß es einen Weg gibt, um in jenem tugendhaften Entschluß zu verharren ; und vielleicht nur einen : Betritt niemals einen Platz, von dem zurückzukehren so wenige imstande waren ; begib dich niemals in den
Erster Teil · Dritter Abschnitt · Zweites Kapitel
Zauberkreis des Ehrgeizes ; und vergleiche dich niemals selbst mit jenen Herren der Erde, die bereits vor dir die Aufmerksamkeit des halben Menschengeschlechtes ganz und gar für sich in Anspruch genommen haben. So ungeheuer wichtig scheint es den Menschen in ihrer Einbildung zu sein, daß sie in eine Situation gelangen, die sie am meisten in den Gesichtskreis allgemeiner Sympathie und Aufmersamkeit bringt. Und so ist »Vorrang«, jener große Zankapfel, der die Frauen der Ratsherren entzweit, der Endzweck der Hälfte aller Mühe und Arbeit des menschlichen Lebens und ist die Ursache all des Treibens und Lärmens, all der räuberischen Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit, welche die Habsucht und der Ehrgeiz in diese Welt gebracht haben. Freilich Leute von Verstand – sagt man – verschmähen den Vorrang ; das heißt, sie verschmähen es, an der Spitze der Tafel zu sitzen, und es ist ihnen gleichgültig, wer vor der Gesellschaft durch diese geringfügige Bevorzugung ausgezeichnet wird, die der kleinste Vorteil mehr als aufzuwiegen imstande ist. Aber Rang, Vorzug, hervorragende Lebensstellung verschmäht kein Mensch, es sei denn, daß er entweder sehr hoch über das gewöhnliche Maß der menschlichen Natur emporgestiegen, oder sehr tief unter dasselbe herabgesunken ist, daß er entweder in Weisheit und wahrer Philosophie so gefestigt ist, um davon überzeugt zu sein, es sei ohne Belang, wenn er nicht beachtet, noch sein Verhalten gebilligt werde, sofern ihn nur die Korrektheit seiner Lebensführung zum würdigen Gegenstand der Billigung macht ; oder so gewöhnt an die Vorstellung seiner eigenen Niedrigkeit, so sehr in träge und alberne Gleichgültigkeit versunken, daß er gänzlich jedes ernsthafte Verlangen und beinahe sogar den Wunsch nach einer höheren Lebensstellung überhaupt verloren hat. Daß wir im Glück der freudigen Beglückwünschungen und der sympathetischen Aufmerksamkeit der Menschen teilhaft werden, das ist also derjenige Umstand, der dem Wohlergehen all seinen
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blendenden Glanz verleiht ; und ganz ebenso ist nichts so geeignet, die Düsterkeit unseres Elends noch mehr zu verfinstern, als wenn wir fühlen müssen, daß unser Unglück nicht das Mitgefühl, sondern die Verachtung und Abneigung unserer Brüder erweckt. Daher kommt es, daß die fürchterlichsten Unglücksfälle nicht immer auch diejenigen bilden, die am schwersten zu ertragen sind. Es ist oft kränkender, in der Öffentlichkeit erscheinen zu müssen, wenn uns ein kleines Mißgeschick betroffen hat, als wenn uns ein großes Unglück widerfahren ist. Das erstere erregt keine Sympathie ; das letztere jedoch ruft zwar auch keine so große Sympathie hervor, daß sie an Stärke jenen Qualen nahe käme, die der Leidende selbst empfindet, aber es erweckt doch immerhin ein sehr lebhaftes Mitgefühl. Die Empfindungen der Zuschauer sind in diesem letzteren Falle weniger weit von denen des Leidenden entfernt und ihr wenn auch unvollständiges Mitgefühl gewährt ihm doch einen gewissen Beistand im Ertragen seines Elends. Für eine Standesperson wäre es peinlicher, vor einer fröhlichen Gesellschaft mit Schmutz und Lumpen bedeckt zu erscheinen, als mit Blut und Wunden. Die letztere Situation würde ihr Mitleid auf sich ziehen, die andere würde sie zum Lachen herausfordern. Der Richter, der einen Verbrecher an den Pranger stellen läßt, entehrt ihn mehr, als wenn er ihn zum Tode verurteilt hätte. Jener große Fürst, der vor einigen Jahren einen General an der Spitze seiner Truppe prügelte, vernichtete dadurch dessen Ehre unwiederbringlich. Es wäre eine weit geringere Strafe gewesen, wenn er ihm eine Kugel durch den Leib gejagt hätte. Nach dem Ehrenkodex ist es entehrend, jemanden mit einem Stock zu schlagen, es ist aber aus einem einleuchtenden Grunde nicht entehrend, jemanden mit einem Schwert zu schlagen. Jene geringeren Strafen werden, wenn sie einem vornehmen Manne auferlegt werden, für den Unehre das größte von allen Übeln ist, bei einem human und edel denkenden Volke als die fürchterlichsten von allen Strafen angesehen. Deshalb werden sie in bezug auf Personen jenes Ranges im all-
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gemeinen nicht angewendet und, während das Gesetz bei vielen Anlässen sogar nach ihrem Leben greift, respektiert es beinahe in allen Fällen ihre Ehre. Eine Person von Stand auszupeitschen oder sie an den Pranger zu stellen – sei es um welchen Verbrechens immer – ist eine Roheit, deren keine europäische Staatsregierung – ausgenommen diejenige Rußlands – fähig wäre. Ein mutiger Mann wird dadurch nicht verächtlich gemacht, daß man ihn zum Schafott führt, wohl aber dadurch, daß er an den Pranger gestellt wird. Sein Betragen in der erstgenannten Lage kann ihm die allgemeine Achtung und Bewunderung gewinnen ; kein Betragen kann ihm in der anderen Situation unser Wohlgefallen eintragen. Die Sympathie der Zuschauer gibt ihm in dem ersten Falle inneren Halt und bewahrt ihn vor jener Scham, jenem Bewußtsein, daß sein Elend nur von ihm selbst gefühlt wird, welches von allen Empfindungen die unerträglichste ist. In dem anderen Falle wird ihm keine Sympathie entgegengebracht oder, wenn jemand Sympathie fühlt, dann sympathisiert er nicht mit dem Schmerz des Verurteilten, der doch immer nur unbedeutend sein kann, sondern mit dem weit drückenderen Gefühl, von dem dieser Schmerz begleitet wird, dem Gefühl, keines Menschen Sympathie zu besitzen. Es ist eine Sympathie mit seiner Schande, nicht mit seinem Kummer. Diejenigen, die ihn bemitleiden, erröten für ihn und lassen die Köpfe hängen. Ebenso grämt er selbst sich und fühlt sich in einer nicht wieder gut zu machenden Weise durch die Bestrafung erniedrigt, und zwar auch dann, wenn ihm sein Verbrechen dieses Gefühl der Erniedrigung nicht einflössen konnte. Wie dagegen der Mann, der mit Entschlossenheit in den Tod geht, naturgemäß mit dem aufrechten offenen Blick der Achtung und Billigung betrachtet wird, so trägt er selbst die gleiche unerschrockene Miene ; und wenn ihn nicht sein Verbrechen des Ansehens bei anderen beraubt, die Bestrafung wird es niemals tun. Er hegt gar keinen Argwohn, daß seine Situation für irgend jemanden den Gegenstand der Verachtung oder des
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Spottes bilden könnte, und er darf schicklicherweise nicht nur die Miene vollkommener Heiterkeit annehmen, sondern sogar die des Triumphes und des Frohlockens. »Große Gefahren«, sagt der Kardinal von Retz, »haben ihre Reize, weil wir durch sie Ruhm erwerben können, selbst wenn das Glück nicht auf unserer Seite ist. Mäßige Gefahren dagegen haben nur etwas Abstoßendes an sich, weil in diesen Fällen der Mangel an Erfolg immer mit dem Verlust der allgemeinen Achtung verbunden ist«. Dieser Ausspruch des Kardinals ruht auf der gleichen Grundlage wie die Bemerkung, welche wir eben in bezug auf die Bestrafung gemacht haben. Menschliche Tugend ist dem Schmerz, der Armut, der Gefahr und dem Tod überlegen und es erfordert nicht einmal ihre äußersten Anstrengungen, um diese Übel gering zu achten. Aber sein Elend der Beschimpfung und dem Verlachen ausgesetzt zu sehen, im Triumph gefangen geführt zu werden, selbst als Zielscheibe für jede Verhöhnung bloßgestellt zu werden, das ist eine Situation, in der die Standhaftigkeit der Tugend weit eher versagen kann. Im Vergleich mit der Verachtung der Menschen sind alle anderen äußeren Übel leicht zu ertragen.
drittes kapitel Über die Verfälschung unserer ethischen Gefühle, die aus diesem unserem Hang entsteht, die Reichen und Großen zu bewundern, dagegen Personen in ärmlichen und niedrigen Verhältnissen zu verachten oder hintanzusetzen. Dieser Hang, die Reichen und Mächtigen zu bewundern und beinahe göttlich zu verehren, und Personen in ärmlichen und niedrigen Verhältnissen zu verachten oder wenigstens zurückzusetzen, ist zwar notwendig, um die Standesunterscheidung und die Ord-
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nung der Gesellschaft zu begründen und aufrechtzuerhalten, aber er ist zugleich auch die größte und allgemeinste Ursache der Verfälschung unserer ethischen Gefühle. Daß Wohlstand und hoher Rang oft mit jener Achtung und der Bewunderung betrachtet werden, welche allein der Weisheit und Tugend gebühren, und daß die Verachtung, die doch von Rechts wegen nur das Laster und die Torheit treffen sollte, sich oft in höchst ungerechter Weise gegen Armut und Schwäche kehrt, das ist die Klage der Moralphilosophen zu allen Zeiten gewesen. Wir wünschen sowohl achtungswürdig zu sein, als auch geachtet zu werden. Wir fürchten sowohl verachtenswert zu sein, als verachtet zu werden. Wenn wir uns aber in der Welt umsehen, dann finden wir bald, daß keineswegs Weisheit und Tugend die einzigen Gegenstände der Achtung, noch Laster und Torheit die einzigen Gegenstände der Verachtung sind. Häufig sehen wir die achtungsvolle Aufmerksamkeit der Welt stärker auf die Reichen und Vornehmen sich richten, als auf die Weisen und Tugendhaften. Häufig sehen wir, daß die Laster und Torheiten des Mächtigen weit weniger verabscheut werden, als die Armut und Schwäche des Unschuldigen. Die Achtung und Bewunderung der Menschen zu verdienen, zu erwerben und zu genießen, das sind die größten Ziele des Ehrgeizes und des Wetteifers. Zwei verschiedene Wege bieten sich uns, die beide in gleicher Weise zur Erreichung jenes so sehr ersehnten Zieles führen sollen ; der eine führt durch das Streben nach Weisheit und die Betätigung der Tugend ; der andere durch den Erwerb von Reichtum und Vornehmheit. Zwei verschiedene Gesinnungsarten bieten sich uns zur Nacheiferung dar : stolzer Ehrgeiz und prahlerische Habgier auf der einen Seite, demütige Bescheidenheit und billige Gerechtigkeit auf der anderen. Zwei verschiedene Musterbilder, zwei verschiedene Gemälde breiten sich vor uns aus, nach denen wir unseren Charakter und unser Betragen bilden können ; das eine schimmernder und glänzender in seiner Färbung, das andere richtiger und von
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erlesenerer Schönheit in seinen Umrissen ; das eine drängt sich der Beachtung eines jeden planlos umherschweifenden Auges auf, das andere zieht kaum die Aufmerksamkeit irgendeines anderen Menschen auf sich, als die eines besonders eifrigen und sorgsamen Beobachters. Es sind hauptsächlich die Weisen und Tugendhaften, eine auserwählte, doch, wie ich fürchte, nur kleine Schar, die die wahren und ständigen Bewunderer von Weisheit und Tugend bilden. Der große Haufe der Menschen, der Pöbel, das sind die Bewunderer und Anbeter von Reichtum und Vornehmheit, und was noch sonderbarer scheinen könnte, es sind dies meistens ganz uninteressierte Bewunderer und Anbeter dieser Güter. Die Achtung, die wir für Weisheit und Tugend fühlen, ist zweifellos verschieden von derjenigen, die wir für Reichtum und Vornehmheit empfinden. Und es erfordert kein sehr feines Unterscheidungsvermögen, um diese Verschiedenheit zu bemerken. Aber ungeachtet dieser Verschiedenheit zeigen diese Gefühle untereinander doch eine sehr beträchtliche Ähnlichkeit. In einigen eigentümlichen Zügen weichen sie zweifellos voneinander ab, aber in dem allgemeinen Aussehen und im ganzen ihrer Erscheinung sind sie einander so ähnlich, ja beinahe gleich, daß unaufmerksame Beobachter sehr leicht das eine irrtümlich für das andere halten können. Es gibt kaum einen Menschen, der nicht den Reichen und Vornehmen bei gleichem Grade des persönlichen Verdienstes mehr achten würde als den Armen und Niedrigen. Von den meisten Menschen wird sogar die Anmaßung und Eitelkeit der ersteren weit mehr bewundert als das wirkliche und echte Verdienst der letzteren. Es wäre vielleicht kaum mit guten Sitten oder auch nur mit gutem Sprachgebrauch vereinbar, zu sagen, daß Reichtum und hoher Rang an sich und abgesehen von Verdienst und Tugend unsere Achtung verdienen. Wir müssen indessen zugeben, daß sie dieser Achtung beinahe ständig teilhaft werden, und sie können darum in gewisser Hinsicht als deren natürliche Objekte
Erster Teil · Dritter Abschnitt · Drittes Kapitel
betrachtet werden. Gewiß, jene hohen Stellungen können durch Laster und Torheit völlig ihres Ansehens beraubt werden. Aber das Laster und die Torheit müssen sehr groß sein, bevor sie diese vollständige Entehrung bewirken können. Die Verworfenheit eines Mannes von Welt wird mit weit weniger Verachtung und Abneigung betrachtet, als die eines Mannes aus niedrigerem Stande. Dem letzteren wird gemeinhin eine einzige Übertretung der Regeln der Mäßigkeit und Schicklichkeit weit mehr übel genommen, als dem ersteren die beständige und eingestandene Mißachtung dieser Regeln. Glücklicherweise ist in den mittleren und unteren Gesellschaftsklassen die Straße zur Tugend und diejenige zum Glück – zu jenem Glück wenigstens, wie es Menschen in solchen Ständen vernünftigerweise jemals zu erreichen hoffen dürfen – in den meisten Fällen fast durchaus die gleiche. In all den mittleren und niedrigeren Berufen können wirkliche und echte berufliche Fähigkeiten, verbunden mit kluger, rechtschaffener, standhafter und mäßiger Lebensführung nur sehr selten eines guten Erfolges ermangeln. Gute Fähigkeiten werden freilich manchmal auch dort den Sieg davontragen, wo die Lebensführung keineswegs korrekt ist. Indessen wird eine eingewurzelte Unklugheit, Unrechtlichkeit, Schwäche oder Verworfenheit auch die glänzendsten beruflichen Fähigkeiten stets verdunkeln und manchmal ganz und gar ihrer Wirkung berauben. Menschen der niedrigeren und mittleren Gesellschaftsstände können überdies niemals mächtig genug sein, um über dem Gesetz zu stehen, das sie im allgemeinen in einer Art von Furcht und Achtung wenigstens gegenüber den wichtigeren Regeln der Gerechtigkeit halten muß. Auch hängt der Erfolg solcher Leute beinahe immer von der Gunst und der guten Meinung ihrer Nachbarn und Standesgenossen ab und dieser können sie selten teilhaftig werden, sofern sie sich nicht einer wenigstens halbwegs geordneten Lebensführung befleißigen. Das gute alte Sprichwort »Ehrlichkeit ist die beste Politik«, bewährt
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also in solchen Lagen beinahe immer seine volle Wahrheit. In solchen Verhältnissen können wir deshalb im allgemeinen einen beträchtlichen Grad von Tugend erwarten und zum Glück für die Sittlichkeit der Gesellschaft ist dies die Lage des weitaus größten Teiles der Menschheit. In den höheren Lebensständen liegt die Sache unglücklicherweise nicht immer ebenso günstig. An den fürstlichen Höfen, in den Salons der Vornehmen, wo Erfolg und Beförderung nicht von der Achtung verständiger und wohlunterrichteter Standesgenossen abhängen, sondern von der grillenhaften und törichten Gunst unwissender, eingebildeter und stolzer Vorgesetzter, da tragen allzu oft Schmeichelei und Falschheit den Sieg davon über Verdienst und Fähigkeiten. In diesen Gesellschaftskreisen wird die Fähigkeit, Gefallen zu erregen weit mehr beachtet als die Fähigkeit, wirkliche Dienstleistungen zu vollbringen. In ruhigen und friedlichen Zeiten, wenn der Sturm in weiter Ferne ist, wünscht der Fürst oder der Hochgestelle nur unterhalten zu werden und er ist sogar imstande, sich einzubilden, daß er kaum irgendwelcher Dienstleistungen der Menschen bedürfe, oder daß diejenigen, die ihn unterhalten, auch hinreichend fähig wären, ihm zu dienen. Der äußerliche Anstand, der wertlose äußere Schliff jenes nichtigen und närrischen Dinges, das man einen »Mann von Welt« nennt, werden gemeinhin mehr bewundert, als die echten und mannhaften Tugenden eines Kriegers, eines Staatsmannes, eines Philosophen oder eines Gesetzgebers. All die großen und ehrwürdigen Tugenden, all die Tugenden, die einen Menschen für Ratsversammlung und Parlament oder für das Feld tüchtig machen, werden von den frechen und hohlen Schmeichlern, die gemeinhin in solchen verderbten Gesellschaftskreisen die größte Rolle spielen, mit der äußersten Verachtung und Verspottung behandelt. Als der Herzog von Sully einmal von Ludwig XIII . aufgefordert wurde, anläßlich irgendeines großen Ereignisses seinen Rat zu geben, da bemerkte er, daß die Günstlinge und Höf-
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linge einander zuflüsterten und über seinen unmodernen Aufzug lächelten. Daraufhin sagte der alte Krieger und Staatsmann : »Jedesmal, wenn Euerer Majestät Vater mir die Ehre erwies, mich zu Rate zu ziehen, gab er den Hofnarren den Befehl, sich in das Vorzimmer zurückzuziehen.« Gerade durch unsere Neigung, die Reichen und Vornehmen zu bewundern und infolgedessen nachzuahmen, werden diese in die Lage versetzt, das zu begründen oder doch zu leiten, was man die Mode nennt. Ihre Kleidung ist die modische Kleidung, die Sprache ihrer Unterhaltung der moderne Sprachstil, ihr Auftreten und ihr Betragen das moderne Benehmen. Sogar ihre Laster und Torheiten werden modern und die Mehrzahl der Menschen ist stolz darauf, sie gerade in jenen Eigenschaften, die sie entehren und erniedrigen, nachzuahmen und ihnen darin ähnlich zu werden. Eitle Menschen geben sich oft den Anschein einer modernen Verworfenheit, die sie selbst im Herzen nicht gutheißen, und deren sie vielleicht in Wirklichkeit gar nicht schuldig sind. Sie wünschen gelobt zu werden für dasjenige, was sie selbst nicht für lobenswürdig halten, und sie schämen sich gewisser altmodischer Tugenden, die sie manchmal im Geheimen betätigen, und für die sie insgeheim eine wahrhafte Verehrung hegen. Es gibt Heuchler des Reichtums und der Vornehmheit ebenso wie solche der Religiosität und der Tugend ; und ein eitler Mann ist ebenso imstande, sich auf ersterem Gebiet für etwas auszugeben, was er nicht ist, wie ein verschlagener Mensch auf dem letzteren es tut. Er legt sich die Ausstattung und die glänzende Lebensweise der über ihm Stehenden bei, ohne zu bedenken, daß alles, was an jenen Dingen lobenswürdig sein mag, doch seinen ganzen Wert und seine ganze Schicklichkeit daher ableitet, daß es zu jener Situation und jenem Vermögen paßt, die eine solche Ausgabe erfordern und auch leicht bestreiten können. So mancher arme Mann setzt seine Ehre darein, für reich gehalten zu werden, ohne zu bedenken, daß die Pflichten – wenn man solche Narrheiten mit einem
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so überaus verehrungswürdigen Namen benennen will – die der Ruf des Reichtums ihm auferlegt, ihn bald an den Bettelstab bringen und so seine Lage noch weit mehr der Situation derjenigen unähnlich machen müssen, die er bewundert und nachahmt, als dies ursprünglich der Fall gewesen war. Um diese beneidete Situation zu erreichen, verlassen die Menschen auf der Jagd nach dem Glück allzu häufig den Pfad der Tugend ; denn unglücklicherweise liegen die Straße, die zu dem einen Ziel und diejenige, die zum anderen führt, mitunter in ganz entgegengesetzten Richtungen. Aber der Ehrgeizige schmeichelt sich damit, er werde in der glänzenden Situation, zu welcher er nun vorrückt, so viele Mittel haben, um den Menschen Achtung und Bewunderung einzuflößen, und er werde dann in der Lage sein, so überaus schön und sittlich gut zu handeln, daß der Glanz seines künftigen Verhaltens die Unsauberkeit jener Schritte gänzlich bedecken oder auslöschen werde, mittels deren er zu jener hohen Stellung gelangt ist. In vielen Staaten stehen diejenigen, die sich um die höchsten Stellungen bewerben, über dem Gesetz, und wenn es ihnen gelingt, das Ziel ihres Ehrgeizes zu erlangen, dann müssen sie keine Furcht hegen, daß sie wegen der Mittel zur Verantwortung gezogen werden könnten, durch welche sie dieses erreicht haben. Sie streben daher oft, nicht nur durch Betrug und Falschheit – die gewöhnlichen und gemeinen Künste der Intrigue und Kabale –, sondern manchmal durch Verübung der ungeheuersten Verbrechen, durch Mord und Meuchelmord, durch Aufruhr und Bürgerkrieg diejenigen zu stürzen und zu vernichten, die sich ihnen widersetzen oder ihnen bei ihrer Beförderung im Wege stehen. Häufiger ist es freilich, daß sie dabei scheitern, als daß sie Erfolg haben, und sie gewinnen gemeinhin nichts als die schimpfliche Bestrafung, die ihren Verbrechen zukommt. Wenn sie aber auch so glücklich sein sollten, die ersehnte Größe zu erreichen, so werden sie doch immer in bezug auf die Glückseligkeit, die sie darin zu genießen erwarteten, höchst jammervoll
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enttäuscht werden. Es ist nicht das Wohlergehen oder das Vergnügen, welchem der Ehrgeizige tatsächlich nachjagt, sondern immer die Ehre, eine Ehre dieser oder jener Art, wenngleich häufig eine recht übel verstandene Ehre. Aber die Ehre seiner hohen Stellung scheint nun, wenn er sie erreicht hat, in seinen Augen und in denen anderer Leute beschmutzt und besudelt durch die Niedrigkeit der Mittel, durch die er zu ihr emporstieg. Wenngleich er durch übertriebene Freigebigkeit und verschwenderische Ausgaben, durch maßloses Sichgehenlassen in jeder lasterhaften Lust – der elenden, aber gewöhnlichen Zuflucht zerrütteter Charaktere – durch die Hast öffentlicher Geschäfte oder in dem stolzen und blendenderen Getümmel des Krieges sich bestreben mag, die Erinnerung an das, was er getan hat, sowohl aus seinem eigenen Gedächtnis als aus dem der anderen zu löschen – niemals hört die Erinnerung daran auf, ihn zu verfolgen. Er ruft vergeblich die dunklen und schrecklichen Mächte des Vergessens an. Er erinnert sich immer wieder dessen, was er getan hat, und diese Erinnerung sagt ihm, daß auch die anderen Menschen sich ebenso noch daran erinnern müssen. Inmitten all des prächtigen Prunks zur Schau getragener Vornehmheit, inmitten der käuflichen und gemeinen Schmeichelei der Vornehmen und der Gelehrten, inmitten der unschuldigeren, wenngleich törichteren, jauchzenden Zurufe des gemeinen Volkes, inmitten des Stolzes über vollbrachte Eroberungen und des Triumphes siegreicher Kriege, wird er doch im Geheimen immer noch von den rächenden Furien der Scham und der Gewissensbisse verfolgt ; und während der Ruhm ihn von allen Seiten zu umgeben scheint, sieht er selbst in seiner Phantasie, wie schwarze und gräuliche Schande hart hinter ihm herjagt und jeden Augenblick ihn hinterrücks zu ereilen droht. Selbst der große Cäsar hatte zwar die Seelenstärke, seine Leibwache zu beurlauben, doch vermochte er nicht, auch seinen Argwohn zu beurlauben. Die Erinnerung an Pharsalus suchte ihn immer noch heim und verfolgte ihn beständig. Als er auf die Fürbitte des Senats dem
Schicklichkeit bzw. sittliche Richtigkeit der Handlungen
Marcellus großmütig Verzeihung gewährte, da sagte er zu der Versammlung, es seien ihm die Anschläge durchaus nicht unbekannt, die gegen sein Leben geschmiedet würden, aber da er sowohl für die Natur als für den Ruhm lange genug gelebt habe, so sei er es zufrieden, nun zu sterben und achte deshalb alle Verschwörungen gering. Er hatte vielleicht wirklich für die Natur lange genug gelebt. Aber der Mann, der fühlte, daß er der Gegenstand eines so tödlichen Vergeltungsgefühls von Seiten derjenigen sei, deren Gunst er einst gewinnen wollte, und die er noch immer als seine Freunde zu betrachten wünschte, der hatte sicherlich für wahren Ruhm zu lange gelebt ; oder doch zu lange für all das Glück, das er jemals in der Liebe und Achtung von Seinesgleichen zu genießen hoffen durfte.
ZWEITER TEIL Von Verdienst und Schuld oder von den Gegenständen der Belohnung und Bestrafung (Bestehend aus drei Abschnitten)
ERSTER ABSCHNIT T
Über das Gefühl für Verdienst und Schuld einleitung Es gibt noch eine andere Gattung von Eigenschaften, die man den Handlungen und dem Verhalten der Menschen zuschreibt, Eigenschaften, die von deren Schicklichkeit oder Unschicklichkeit, Anständigkeit oder Unanständigkeit verschieden sind, und die den Gegenstand einer besonderen Art von Billigung und Mißbilligung bilden. Dies sind Verdienst und Schuld oder die Eigenschaften der Lobenswürdigkeit und der Strafwürdigkeit. Es ist bereits früher bemerkt worden, daß die Empfindung oder die Gemütsbewegung, aus welcher irgendeine Handlung entspringt, und von welcher es abhängt, ob sie als tugendhaft oder als lasterhaft beurteilt wird, von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus oder in zwei verschiedenen Beziehungen betrachtet werden kann : erstens in Beziehung auf die Ursache oder den Gegenstand, der sie erregt ; und zweitens in Beziehung auf den Zweck, auf den sie gerichtet ist, oder auf die Wirkung, welche sie hervorzubringen strebt. Ferner, daß von der Angemessenheit oder Unangemessenheit, von der Verhältnismäßigkeit oder Unverhältnismäßigkeit, die die Gemütsbewegung gegenüber der sie erregenden Ursache oder dem erregenden Objekt zeigt, die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit, die Wohlanstän-
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Erstes Kapitel
digkeit oder die Unanständigkeit der aus ihr fließenden Handlung abhängt, und daß von den wohltätigen oder schädlichen Wirkungen, auf welche die Gemütsbewegung hinzielt, oder die sie hervorzubringen trachtet, das Verdienst oder die Schuld, die Lohn- oder Strafwürdigkeit der Handlung abhängt, welche durch sie veranlaßt wurde. Worin unser Gefühl für die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit von Handlungen besteht, ist in dem vorhergehenden Teil dieser Abhandlung auseinandergesetzt worden. Wir gelangen nun dazu, zu erwägen, worin unser Gefühl für ihr Verdienst oder Mißverdienst besteht.
erstes kapitel Daß alles, was sich als schicklicher Gegenstand der Dankbarkeit darstellt, auch Belohnung zu verdienen scheint, und daß ebenso alles, was sich als schicklicher Gegenstand des Vergeltungsgefühles darstellt, Bestrafung zu verdienen scheint. Diejenige Handlung muß uns also Belohnung zu verdienen scheinen, die sich als der schickliche und anerkannte Gegenstand jener Empfindung darstellt, welche uns ganz unmittelbar und geradezu antreibt, einen anderen zu belohnen oder ihm Gutes zu erweisen. Und ebenso muß uns diejenige Handlung Bestrafung zu verdienen scheinen, die sich uns als der schickliche und anerkannte Gegenstand jenes Gefühls darstellt, das uns ganz unmittelbar und geradezu antreibt, einen anderen zu bestrafen oder ihm Übles zuzufügen. Jenes Gefühl, das uns ganz unmittelbar und geradezu zum Belohnen antreibt, ist die Dankbarkeit, jenes, welches uns ganz unmittelbar und geradezu zum Strafen antreibt, ist das Vergeltungsgefühl. Uns muß also jene Handlung einer Belohnung würdig erschei-
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
nen, die sich als der schickliche und anerkannte Gegenstand der Dankbarkeit darstellt, wie uns andererseits jene Handlung strafwürdig erscheint, die sich als der schickliche und anerkannte Gegenstand des Vergeltungsgefühls darstellt. Belohnen ist ein Wiedervergelten, Zurückzahlen, Wiedererstatten, und zwar von Gutem für Gutes. Auch Bestrafen ist Wiedervergelten, Zurückzahlen, wenngleich in anderer Weise ; es ist ein Wiedererstatten eines Übels für ein anderes Übel, das einem zugefügt worden ist. Es gibt noch andere Affekte außer Dankbarkeit und Vergeltungsgefühl, die uns bestimmen, an anderer Glück oder Elend Anteil zu nehmen ; aber es gibt keine anderen Affekte, die uns so geradezu antreiben, uns zu Werkzeugen des Glücks oder Elends anderer zu machen. Die Liebe und Achtung, die aus guter Bekanntschaft und beständiger Billigung erwächst, führt uns notwendigerweise dazu, uns über das Glück des Mannes zu freuen, der Gegenstand so ansprechender Gefühle ist, und veranlaßt uns infolgedessen, zur Förderung seines Glücks bereitwillig die Hand zu bieten. Indessen – unserer Liebe ist gänzlich Genüge getan, wenn sein Glück auch ohne unsere Mithilfe zustandegebracht wurde. Alles, was dieser Affekt begehrt, ist, den anderen glücklich zu sehen, ohne überhaupt darauf zu achten, wer der Urheber seines Wohlergehens ist. Der Dankbarkeit jedoch kann auf diese Art nicht Genüge getan werden. Wenn derjenige, dem wir sehr zu Dank verpflichtet sind, ohne unsere Beihilfe glücklich wird, dann erfreut das wohl unsere Liebe, aber es befriedigt nicht unser Dankbarkeitsgefühl. Solange wir ihm nicht wiedervergolten haben, solange wir uns nicht zu Werkzeugen für die Beförderung seiner Glückseligkeit gemacht haben, solange fühlen wir uns immer noch mit jener Schuld beladen, die seine früheren Dienstleistungen uns auferlegt haben. Ebenso werden Haß und Abneigung, die aus beständiger Mißbilligung erwachsen, uns oft dazu bestimmen, ein boshaftes Ver-
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Erstes Kapitel
gnügen an dem Unglück des Mannes zu empfinden, dessen Betragen und Charakter einen so peinlichen Affekt erregen. Aber obgleich Abneigung und Haß uns gegen jede Sympathie verhärten und uns manchmal sogar geneigt machen, über die Notlage eines anderen Freude zu empfinden, so dürften doch diese Affekte uns nicht mit innerer Notwendigkeit dahin bringen, daß wir an deren Zustandekommen mitzuwirken wünschen – vorausgesetzt, daß kein Vergeltungsgefühl mitspielt und weder uns, noch einem unserer Freunde eine größere persönliche Beleidigung zugefügt worden ist. Und wenn wir auch keine Bestrafung dafür zu fürchten hätten, daß wir dabei unsere Hand im Spiele gehabt haben, so würden wir doch lieber wollen, daß es sich durch andere Mittel oder Personen zugetragen hätte. Wenn jemand von einem gewaltigen Hasse beherrscht wird, wäre es ihm vielleicht angenehm zu hören, daß die Person, die er verabscheut und haßt, durch irgendeinen Zufall ums Leben gekommen sei. Doch wenn er sich nur den geringsten Funken von Gerechtigkeitsgefühl bewahrt hätte, was immerhin möglich ist, obwohl gerade dieser Affekt der Tugend nicht sehr günstig ist, dann müßte es ihn auf das höchste schmerzen selbst –, und sei es auch ohne böse Absicht – die Ursache dieses Unglücks gewesen zu sein. Weit schrecklicher aber wäre ihm noch der Gedanke, freiwillig dazu Beihilfe zu leisten. Er würde mit Abscheu selbst die Vorstellung eines so verruchten Planes von sich weisen ; und wenn er sich einer solchen Greueltat für fähig halten könnte, dann würde er von nun ab sich selbst in dem gleichen gehässigen Licht erblicken, in dem er die Person betrachtet hatte, die der Gegenstand seines Widerwillens war. Ganz anders aber verhält es sich mit dem Vergeltungsgefühl : wenn derjenige, der uns irgendein großes Unrecht zugefügt hatte, der etwa z. B. unseren Vater oder unseren Bruder ermordet hatte, bald darnach an einem Fieber stürbe, oder selbst wegen irgend eines anderen Verbrechens auf das Schafott gebracht würde, dann würde dies zwar vielleicht unserem Hasse
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
wohl tun, es würde jedoch unser Vergeltungsgefühl nicht völlig befriedigen. Das Vergeltungsgefühl wird vielmehr den Wunsch in uns erwecken, daß er nicht nur bestraft werde, sondern daß er durch uns bestraft werde, und zwar bestraft werde gerade wegen jenes Unrechts, das er uns angetan hat. Dem Vergeltungsgefühl kann nicht anders völlig Genüge geschehen, als wenn dem Beleidiger nicht nur überhaupt Leid zugefügt wird, sondern wenn ihm gerade wegen jener Unbill ein Leid zugefügt wird, die wir von ihm erlitten haben. Er muß dazu gebracht werden, gerade wegen dieser Handlung Reue und Kummer zu empfinden, damit andere durch die Furcht vor gleicher Strafe davon abgeschreckt werden, sich einer gleichen Beleidigung schuldig zu machen. Die naturgemäße Befriedigung dieses Affekts wirkt von selbst dahin, alle die Zwecke zu verwirklichen, auf welche die staatliche Bestrafung abzielt : die Besserung des Verbrechers und das abschreckende Beispiel für die Allgemeinheit. Dankbarkeit und Vergeltungstrieb sind demnach die Gefühle, welche uns ganz unmittelbar und geradezu antreiben, andere zu belohnen und zu bestrafen. Deshalb muß uns derjenige Belohnung zu verdienen scheinen, der sich uns als der schickliche und würdige Gegenstand der Dankbarkeit darstellt, und derjenigen Strafe, der uns als ebensolcher Gegenstand des Vergeltungsgefühles erscheint. zweites kapitel Über die schicklichen Gegenstände der Dankbarkeit und des Vergeltungsgefühles Der schickliche und anerkannte Gegenstand der Dankbarkeit oder des Vergeltungsgefühles zu sein, kann nichts anderes bedeuten, als der Gegenstand desjenigen Dankbarkeits- und desjenigen Vergeltungsgefühles zu sein, das natürlicherweise schicklich erscheint und gebilligt wird.
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Zweites Kapitel
Diese wie alle anderen Affekte der menschlichen Natur erscheinen jedoch nur dann schicklich und werden nur dann gebilligt, sobald das Herz jedes unparteiischen Zuschauers mit ihnen ganz und gar sympathisiert, und sobald jeder unbeteiligte Augenzeuge sie vollkommen begreifen und mitfühlen kann. Derjenige scheint uns also Belohnung zu verdienen, der für eine oder mehrere Personen der natürliche Gegenstand einer Dankbarkeit ist, die jedes menschliche Herz zu teilen fähig ist, und die es deshalb beifällig aufnimmt ; und derjenige scheint uns andererseits Bestrafung zu verdienen, der in gleicher Weise für eine oder mehrere Personen den natürlichen Gegenstand eines Vergeltungsgefühles bildet, dem jeder vernünftige Mann bereitwillig in seinem Herzen beipflichten, und mit dem er gerne sympathisieren wird. Sicherlich muß uns diejenige Handlung Belohnung zu verdienen scheinen, die jedermann, der von ihr erfährt, zu belohnen wünscht, und die er deshalb mit größter Freude belohnt sieht ; und ebenso sicherlich muß uns diejenige Handlung Strafe zu verdienen scheinen, über die jedermann, der von ihr hört, Ärger empfindet, und die er deshalb mit Genugtuung bestraft sieht. 1. Wie wir mit der Freude unserer Gefährten sympathisieren, wenn es ihnen wohl ergeht, so teilen wir auch das Wohlgefallen und die Genugtuung, mit der sie naturgemäß all die Dinge betrachten, die die Ursache ihres Glücks sind. Wir nehmen teil an der Liebe und Zuneigung, die sie für diese empfinden, und beginnen, letztere gleichfalls zu lieben. Es würde uns um ihretwillen leid tun, wenn diese vernichtet, oder wenn sie auch nur in eine zu große Entfernung von ihnen gebracht würden und außer den Bereich ihrer Obsorge und ihres Schutzes kämen, wenngleich unsere Gefährten durch deren Abwesenheit auch nichts anderes verlören, als das Vergnügen, sie zu sehen. Dies trifft noch mehr zu, wenn es ein Mensch ist, der so das glückliche Werkzeug der Glückseligkeit seiner Brüder war. Wenn wir sehen, wie einem Menschen von einem anderen Hilfe, Schutz und Unterstüt-
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
zung gewährt wird, so trägt unsere Sympathie mit der Freude desjenigen, der die Wohltat empfängt, noch dazu bei, unser Mitgefühl mit seiner Dankbarkeit gegenüber demjenigen, der ihm diese Wohltat erzeigte, zu verstärken. Wenn wir die Person, die der Urheber seiner Freude ist, mit den Augen betrachten, mit denen er nach unserer Meinung sie ansehen muß, dann scheint sein Wohltäter in dem gewinnendsten und liebenswürdigsten Licht vor uns zu stehen. Deshalb sympathisieren wir leicht mit der dankbaren Zuneigung, die er für eine Person empfindet, der er so sehr verpflichtet ist, und wir billigen infolgedessen alle Gegenleistungen, die er für die guten Dienste abstatten will, die ihm zuteil wurden. Da wir ganz und gar die Neigung teilen, aus der diese Gegenleistungen erfließen, scheinen sie uns notwendigerweise in jeder Hinsicht schicklich und ihrem Gegenstand angemessen. 2. In der gleichen Weise, wie wir mit dem Kummer unseres Nebenmenschen sympathisieren, wann immer wir ihn in Not sehen, so teilen wir auch seinen Abscheu und seine Abneigung gegen alles, was diese Notlage veranlaßt hat. Da unser Herz seinen Gram in sich aufnimmt, und wie eine gleichgestimmte Saite mitschwingt, wird es auch in gleicher Weise von dem Geist erfaßt, aus dem heraus er darnach strebt, die Ursache seines Grams zu vertreiben und zu vernichten. Das lässige und untätige Mitgefühl, mit welchem wir seine Leiden begleiten, macht leicht jener kraftvolleren und tätigeren Empfindung Platz, die unsere Anteilnahme für jene Anstrengungen erweckt, durch die er diese Leiden zu vertreiben oder seiner Abneigung gegen das, was sie veranlaßt hat, Genüge zu tun sucht. Dies trifft noch mehr, ja ganz besonders dann zu, wenn es ein Mensch ist, der sie verursacht hat. Wenn wir sehen, wie ein Mann durch einen anderen bedrückt oder beleidigt wird, dann scheint die Sympathie, die wir für die Notlage des Bedrängten fühlen, nur dazu beizutragen, unser Mitgefühl mit seinem Vergeltungstrieb gegen den Angreifer zu verstärken. Wir freuen uns, wenn wir sehen, wie er nun seinerseits gegen
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Zweites Kapitel
seinen Gegner losgeht, und sind voll Eifer bereit, ihm bei seiner Verteidigung Beistand zu leisten, ja, bis zu einem gewissen Grade selbst ihn in seiner Rache zu unterstützen. Wenn der Angegriffene in dem Streite um’s Leben kommen sollte, dann sympathisieren wir nicht nur mit dem wirklichen Vergeltungsgefühl seiner Freunde und Angehörigen, sondern auch mit dem imaginären Vergeltungsgefühl, das wir in unserer Phantasie dem Toten leihen, der doch dieses Gefühls oder irgendeiner anderen menschlichen Empfindung nicht mehr fähig ist. Aber da wir uns in seine Situation versetzen, da wir gleichsam in seinen Körper eintreten, in unserer Phantasie gewissermaßen den entstellten und verstümmelten Leichnam des Erschlagenen wieder beleben, fühlen wir, wenn wir so sein Schicksal in unserem eigenen Busen nacherleben, bei diesem wie bei manchen anderen Anlässen eine Gemütsbewegung, die zu fühlen der zunächst Betroffene nicht fähig ist, und die dennoch wir durch eine illusionäre Sympathie mit ihm fühlen. Die Tränen der innigsten Sympathie, welche wir wegen jenes ungeheueren und unwiederbringlichen Verlustes vergießen, den er nach der Vorstellung unserer Phantasie erlitten hat, scheinen uns nur einen kleinen Teil jener Verpflichtung abzutragen, die wir ihm gegenüber haben. Das Unrecht, das er erlitten hat, verlangt, wie wir glauben, den Hauptteil unserer Aufmerksamkeit. Wir empfinden jenes Vergeltunsgefühl, das er, wie wir meinen, fühlen sollte, und das er tatsächlich auch fühlen würde, wenn in seinem kalten und leblosen Leichnam irgendein Bewußtsein von dem zurückgeblieben wäre, was auf der Erde vorgeht. Sein Blut schreit, so glauben wir, laut um Rache. Die Asche des Toten selbst scheint uns in ihrer Ruhe gestört zu werden bei dem Gedanken, daß die ihm angetanen Beleidigungen ungerächt bleiben sollten. Die grauenvollen Vorstellungen, die, wie man annimmt, die Schlafstätte des Mörders heimsuchen, die Geister, die, wie es sich der Aberglaube ausmalt, aus ihren Gräbern aufsteigen, um Rache von jenen zu verlangen, die ihrem Leben ein vorzeitiges
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Ende bereitet haben, all das rührt aus jener Sympathie mit dem imaginären Vergeltungsgefühl des Erschlagenen her. So hat Natur – wenigstens in Ansehung dieses fürchterlichsten von allen Verbrechen – vor allen Überlegungen über den Nutzen der Strafe, dem menschlichen Herzen in den stärksten und unzerstörbarsten Schriftzeichen eine unmittelbare und instinktive Billigung jenes geheiligten und notwendigen Gesetzes der Wiedervergeltung eingeprägt. drittes kapitel Daß man wenig Sympathie mit der Dankbarkeit desjenigen empfindet, der eine Wohltat empfängt, wenn man das Betragen dessen, der sie erweist, nicht billigen kann ; und daß man umgekehrt, keinerlei Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl desjenigen empfindet, der eine Schädigung erleidet, sofern man die Motive der Person, die sie ihm zufügt, nicht mißbilligt Man muß indes folgendes bemerken : so wohltätig auch immer die Handlungen und Absichten der handelnden Personen gegenüber der behandelten (wenn ich so sagen darf) in dem einen Falle, und so nachteilig sie in einem anderen gewesen sein mögen – wenn in dem ersteren Falle in den Beweggründen des Handelnden keine Schicklichkeit gelegen war, und wir die Gemütsbewegungen, die sein Betragen bestimmten, nicht nachempfinden können, dann haben wir wenig Sympathie mit der Dankbarkeit desjenigen, der die Wohltat empfängt ; und wenn uns in dem anderen Falle in den Beweggründen des Handelnden keine Unschicklichkeit oder Unrichtigkeit gelegen zu haben scheint, wenn vielmehr die Gemütsbewegungen, welche sein Betragen bestimmten, solcher Art sind, daß wir sie notwendig nachfühlen müssen, dann können wir keinerlei Sympathie für das Vergeltungsgefühl desje-
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Drittes Kapitel
nigen empfinden, der die Schädigung erleidet. Wenig Dankbarkeit scheint im ersteren Falle dem Handelnden zu gebühren und jederlei Vergeltungsgefühl scheint uns in dem zweiten Falle ungerecht zu sein. Die eine Handlung scheint wenig Lohn, die andere keine Strafe zu verdienen. 1. Erstens sage ich also, daß überall, wo wir mit den Neigungen des Handelnden nicht sympathisieren können, wo uns in den Beweggründen, die sein Betragen bestimmten, keine Schicklichkeit gelegen zu sein scheint, wir auch weniger geneigt sind, die Dankbarkeit desjenigen zu teilen, der die wohltätigen Wirkungen seiner Handlungen empfangen hat. Sehr wenig Erkenntlichkeit scheint man für jene närrische und verschwenderische Freigebigkeit zu schulden, welche die größten Wohltaten aus den nichtigsten Beweggründen zuteilt und etwa einem Mann ein Vermögen nur deshalb zuwendet, weil sein Familien- und Vorname zufällig der gleiche ist, wie der des Gebers. Derartige Gunstbezeigungen scheinen uns nicht eine entsprechende Wiedervergeltung zu erfordern. Unsere Verachtung für die Torheit des Handelnden hindert uns, die Dankbarkeit desjenigen, dem die Guttaten erwiesen wurden, ganz mitzufühlen. Sein Wohltäter scheint dieser Dankbarkeit unwürdig. Sobald wir uns in die Lage desjenigen versetzen, dem die Wohltat erzeigt wurde, fühlen wir, daß wir keine große Verehrung für einen derartigen Wohltäter empfinden könnten, und deshalb erlassen wir dem Empfänger der Wohltat leicht ein gut Teil jener unterwürfigen Verehrung und Achtung, die er, wie wir meinen, einem achtungswürdigeren Charakter schuldig gewesen wäre ; und vorausgesetzt, daß er seinen schwachen Freund stets mit Güte und Menschlichkeit behandelt, überheben wir ihn gerne jener Beweise der Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, die wir von ihm einem würdigeren Gönner gegenüber verlangen würden. Jene Fürsten, die mit der größten Verschwendung Reichtum, Macht und Ehren auf ihre Günstlinge häuften, haben dadurch selten jenen Grad von Anhänglichkeit
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
an ihre Person hervorgerufen, die solche Fürsten oft erfahren haben, die mit ihren Gunstbezeigungen sparsamer gewesen sind. Die gutmütige, aber unverständige Verschwendung Jakobs I. von Großbritannien scheint doch niemanden an seine Person gefesselt zu haben ; und jener Fürst scheint trotz seiner geselligen und harmlosen Gemütsart im Leben und im Tode ohne einen Freund gewesen zu sein. Alle Vornehmen und Adeligen Englands setzten dagegen für die Sache seines sparsameren und umsichtigeren Sohnes ihr Leben und ihre Güter auf ’s Spiel, trotz der Kälte und der zurückhaltenden Strenge seines Betragens. 2. Zweitens sage ich also, daß wir in allen jenen Fällen keinerlei Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl des Leidenden empfinden können, in welchen das Betragen des Handelnden gänzlich durch Motive und Neigungen geleitet zu sein scheint, die wir ganz und gar teilen und billigen, mag der Schaden auch noch so groß sein, der dem ersteren zugefügt wurde. Wenn wir in dem Streite zweier Männer die Partei des einen von ihnen ergreifen und sein Vergeltungsgefühl uns ganz zu eigen machen, dann ist es unmöglich, daß wir das des anderen nachempfinden sollten. Unsere Sympathie mit demjenigen, dessen Motive wir nachfühlen, und den wir deshalb als den im Recht Befindlichen betrachten, kann gar nicht anders, als uns gegen jedes Mitgefühl mit dem anderen zu verhärten, den wir darum notwendig als im Unrecht befindlich ansehen. Was immer darum der letztere erlitten haben mag, es kann weder unser Mißfallen, noch unseren Ärger erregen, solange dieses Leid nicht größer ist, als was wir selbst ihm gewünscht hätten, solange es nicht größer ist, als was uns unser eigener, der Sympathie entspringende Unwille ihm aufzuerlegen geheißen hätte. Wenn ein entmenschter Mörder zum Schafott geführt wird, so haben wir zwar ein gewisses Mitleid mit seinem Elend, aber wir können doch keinerlei Mitgefühl mit seinem Vergeltungsgefühl hegen, falls er so unvernünftig sein sollte, ein solches gegen seinen Ankläger oder seinen Richter zu äußern. Die Wirkungen, auf wel-
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Viertes Kapitel
che ihr gerechter Unwille gegen einen so gemeinen Verbrecher naturgemäß abzielt, sind für diesen freilich äußerst unheilvoll und verderblich. Aber es ist unmöglich, daß uns die Wirkungen mißfallen sollten, auf welche eine Empfindung abzielt, der wir doch, sobald wir uns ganz in den Fall hineindenken, nicht anders als beipflichten können.
viertes kapitel Zusammenfassende Wiederholung der vorhergehenden Kapitel 1. Wir sympathisieren also nicht schon darum mit der Dankbarkeit eines Menschen gegen einen anderen durchaus und von ganzem Herzen, weil dieser andere der Urheber des Glücks jenes Menschen gewesen ist, sondern nur dann, wenn er dieses Glück aus Beweggründen herbeigeführt hat, denen wir ganz und gar zustimmen können. Unser Herz muß den Maximen des Handelnden beipflichten, es muß all die Neigungen, die sein Verhalten bestimmten, nachfühlen, bevor es mit der Dankbarkeit dessen, der die wohltätigen Wirkungen dieser Handlungen empfangen hat, volle Sympathie und Übereinstimmung empfinden kann. Wenn in dem Verhalten des Wohltäters anscheinend keine Schicklichkeit gelegen war, dann mögen die Wirkungen dieses Verhaltens noch so wohltätig gewesen sein, es scheint uns doch nicht, als ob es eine verhältnismäßige Gegenleistung verlangen oder etwa gar als sein gutes Recht beanspruchen könnte. Wenn sich aber mit der wohltätigen Tendenz der Handlung die Schicklichkeit oder sittliche Richtigkeit der Neigungen verbindet, denen sie entspringt, wenn wir mit den Beweggründen des Handelnden völlig sympathisieren und dieselben nachfühlen können, dann wirkt die Liebe, die wir für ihn um seiner selbst willen empfinden, zugleich steigernd und belebend auf unser Mitgefühl mit
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
der Dankbarkeit derjenigen, die ihr Wohlergehen seinem sittlich guten Verhalten zu danken haben. Seine Handlungen scheinen dann eine entsprechende Gegenleistung zu fordern, ja, wenn ich so sagen darf, sie scheinen laut nach ihr zu rufen. Dann stimmen wir durchaus jener Dankbarkeit bei, die den Empfänger der Wohltat dazu antreibt, eine solche Vergeltung zu leisten. Der Wohltäter scheint uns dann mit Fug und Recht Belohnung zu verdienen, sobald wir so völlige Sympathie und Billigung jenem Gefühl entgegenbringen können, das den Empfänger dazu antreibt, ihn zu belohnen. Sobald wir die Neigungen und Gefühle, aus denen die Handlung hervorgeht, billigen und teilen, dann müssen wir notwendig auch die Handlung billigen und denjenigen, auf den sie gerichtet ist, als ihren schicklichen und passenden Gegenstand betrachten. 2. In der gleichen Weise können wir durchaus nicht bloß darum mit dem Vergeltungsgefühl eines Menschen gegen einen anderen sympathisieren, weil dieser andere der Urheber seines Unglücks gewesen ist, sondern nur dann, wenn er dieses Unglück aus Beweggründen heraus veranlaßt hat, denen wir nicht zuzustimmen vermögen. Bevor wir dem Vergeltungsgefühl des Leidenden beipflichten, müssen wir die Beweggründe des Handelnden mißbilligen und fühlen, daß unser Herz sich von aller Sympathie mit den Neigungen lossagt, die sein Verhalten bestimmt haben. Wenn aber in diesen anscheinend keine Unschicklichkeit gelegen war, dann kann die Handlung, die ihnen entsprang – mag die Wirkung, auf die sie abzielte, noch so unheilvoll für diejenigen gewesen sein, gegen die sie sich richtete – offenbar keine Strafe verdienen, noch den schicklichen Gegenstand eines Vergeltungsgefühls bilden. Wenn sich jedoch mit der Schädlichkeit der Handlung die Unschicklichkeit der Neigung verbindet, aus der die Handlung hervorgeht, wenn unser Herz, von Abscheu erfüllt, alles Mitgefühl mit den Beweggründen des Handelnden von sich weist, dann
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Fünftes Kapitel
sympathisieren wir gänzlich und von Herzen mit dem Vergeltungsgefühl des durch die Handlung Betroffenen. Solche Handlungen scheinen dann eine entsprechende Bestrafung zu fordern, und, wenn ich so sagen darf, gleichsam laut nach ihr zu rufen ; und wir teilen durchaus jenes Vergeltungsgefühl und billigen jene Empfindung des Beleidigten, die ihn dazu antreibt, den Täter zu bestrafen. Der Beleidiger erscheint uns also dann notwendig wert, bestraft zu werden, wenn wir so völlig mit jenem Gefühl sympathisieren können, das den Beleidigten zum Strafen antreibt, und wenn wir dieses Gefühl durchaus billigen. Auch in diesem Falle müssen wir, sobald wir die Neigung billigen und nachfühlen, aus der die Handlung hervorgeht, die Handlung selbst notwendigerweise ebenfalls billigen, und die Person, gegen welche sie sich richtet, als ihren schicklichen und passenden Gegenstand betrachten. fünftes kapitel Analyse des Gefühls für Verdienst und Schuld Wie unser Gefühl der Schicklichkeit eines Betragens also aus einer – wie ich sie nun nennen werde – direkten Sympathie entspringt, die wir für die Neigungen und Beweggründe der handelnden Person empfinden, so entspringt unser Gefühl für das Verdienst der Handlung aus einer – wie ich sie nun nennen werde – indirekten Sympathie, die wir für die Dankbarkeit der Person empfinden, gegen welche sich die Handlung richtet. Da wir der Dankbarkeit der Person, die eine Wohltat empfängt, durchaus nicht gänzlich beistimmen können, es sei denn, daß wir zuvor die Beweggründe des Wohltäters billigen, so scheint mit Rücksicht darauf das Gefühl der Verdienstlichkeit der Handlung eine zusammengesetzte Empfindung zu sein, die durch zwei verschiedene Gemütsbewegungen gebildet wird : durch eine direkte Sympathie mit den Gefühlen des Handelnden und eine indirekte
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Sympathie mit der Dankbarkeit derjenigen, die die wohltätigen Wirkungen von dessen Handlungen genießen. Diese zwei verschiedenen Gemütsbewegungen, die sich miteinander in unserem Gefühl für das Verdienst eines bestimmten Charakters oder einer bestimmten Handlung verbinden und vereinigen, können wir bei mancherlei Anlässen klar unterscheiden. Wenn wir in der Geschichte von Handlungen lesen, in denen eine sittlich gute und in ihren Folgen wohltätige Seelengröße sich ausspricht, wie lebhaft stimmen wir da nicht solchen Absichten zu ! Wie sehr sind wir von dem hohen Edelmut begeistert, der sie leitet ! Wie brennend ist unser Wunsch, daß sie gelingen mögen ! Wie bekümmert sind wir über ihr Mißlingen ! In der Phantasie werden wir gleichsam die Person selbst, deren Handlungen uns vorgeführt werden : wir versetzen uns in der Einbildung auf die Schauplätze jener längst vergangenen und vergessenen Ereignisse und spielen in der Einbildung selbst die Rolle eines Scipio oder eines Camillus, eines Timoleon oder eines Aristides. Soweit gründen sich unsere Empfindungen auf die direkte Sympathie mit der handelnden Person. Aber auch die indirekte Sympathie mit denjenigen, die die wohltätigen Wirkungen solcher Handlungen genießen, wird von uns nicht weniger lebhaft gefühlt. Wann immer wir uns in die Lage dieser letzteren versetzen, mit welch’ warmem und herzlichem Mitgefühl nehmen wir dann nicht an ihrer Dankbarkeit gegen jene teil, die ihnen einen so bedeutenden Dienst erwiesen haben ! Wir umarmen gleichsam ihre Wohltäter zusammen mit ihnen. Unser Herz sympathisiert gerne mit den stärksten Ausbrüchen ihres Dankgefühls. Keine Ehren, keine Belohnungen, die sie ihm erweisen, können unserer Ansicht nach zu groß sein. Wenn sie mit diesen schicklichen Gegenleistungen seine Dienste erwidern, dann spenden wir ihnen von Herzen Beifall und fühlen mit ihnen ; dagegen ist es uns über alle Maßen anstößig, wenn sie durch ihr Betragen zeigen, daß sie nur wenig Gefühl für die Wohltaten haben, die ihnen erwiesen wurden. Kurz, unser ganzes
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Fünftes Kapitel
Gefühl von der Verdienstlichkeit und Lobenswürdigkeit solcher Handlungen, von der Schicklichkeit und Angemessenheit der Art und Weise, wie man sie erwidert, und wie man demjenigen, der sie vollführte, seinerseits nun Freude bereitet, entsteht aus jenen auf Sympathie beruhenden Empfindungen der Dankbarkeit und Liebe, von denen wir naturgemäß – sobald wir uns selbst in die Lage der zunächst Betroffenen hineindenken – unser Herz jenem Manne gegenüber ergriffen fühlen, der mit solch schicklicher und edler Wohltätigkeit handeln konnte. 2. In der gleichen Weise, wie unser Gefühl von der Unschicklichkeit eines Verhaltens aus einem Mangel an Sympathie oder aus direkter Antipathie gegen die Neigungen und Beweggründe des Handelnden entsteht, so entspringt unser Gefühl der Schuldhaftigkeit eines Verhaltens aus einer (wie ich sie auch hier nennen werde) »indirekten Sympathie« mit dem Vergeltungstrieb des Leidenden. Da wir das Vergeltungsgefühl des Leidenden durchaus nicht teilen können, sofern nicht unser Herz zuvor die Beweggründe des Handelnden mißbilligt und sich von jedem Mitgefühl ihnen gegenüber lossagt, so scheint mit Rücksicht darauf das Gefühl der Tadelnswürdigkeit ebenso wie das der Verdienstlichkeit eines Verhaltens eine zusammengesetzte Empfindung zu sein und aus zwei unterschiedlichen Gemütsbewegungen zu bestehen : einer direkten Antipathie gegen die Empfindungen des Handelnden und einer indirekten Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl des Leidenden. Auch hier können wir bei mancherlei Anlässen jene zwei verschiedenen Gemütsbewegungen deutlich unterscheiden, die sich miteinander in unserem Gefühl der Schuldhaftigkeit eines bestimmten Charakters oder einer bestimmten Handlung verbinden und vereinigen. Wenn wir in der Geschichte von der Treulosigkeit und der Grausamkeit eines Borgia oder eines Nero lesen, dann lehnt sich unser ganzes Herz gegen die verabscheuungs-
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
würdigen Gefühle auf, die ihr Verhalten bestimmt haben, und sagt sich voll Entsetzen und Grauen von allem Mitgefühl mit den verruchten Beweggründen ihrer Taten los. Insoweit gründen sich unsere Empfindungen auf die direkte Antipathie gegen die Neigungen des Handelnden. Die indirekte Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl der Leidenden wird aber noch lebhafter gefühlt. Sobald wir uns in die Lage derjenigen hineindenken, die von jenen Geißeln der Menschheit schimpflich mißhandelt, gemordet oder verraten wurden, welchen Unwillen fühlen wir da nicht gegen jene schamlosen und unmenschlichen Tyrannen dieser Welt ! Unsere Sympathie mit der unentrinnbaren Not der unschuldig Leidenden ist nicht wirklicher und nicht lebhafter als unser Mitgefühl mit ihrem gerechten und natürlichen Vergeltungsgefühl. Die erstere Empfindung erhöht nur die letztere und die Vorstellung ihrer Notlage trägt nur noch dazu bei, unsere Erbitterung gegen diejenigen, die diese Not veranlaßten, zu entflammen und anzufachen. Wenn wir an die Angst ihrer Opfer denken, dann ergreifen wir noch ernsthafter für diese Opfer Partei gegen ihre Unterdrücker ; wir treten mit größerer Lebhaftigkeit all ihren Racheplänen in Gedanken bei, und es ist uns zu Mute, als ob wir selbst jeden Augenblick an solchen Verächtern der Gemeinschaftsgesetze jene rächende Bestrafung vollziehen sollten, die, wie unser der Sympathie entspringender Unwille uns sagt, ihren Verbrechen gebührt. Unser Gefühl des Grauenvollen und der fürchterlichen Abscheulichkeit eines solchen Betragens, die Freude, die wir empfinden, wenn wir erfahren, daß es angemessen bestraft wurde, der Unwille, den wir fühlen, wenn es der ihm gebührenden Vergeltung entgeht, kurz, unser ganzes Bewußtsein und Gefühl von seiner Strafwürdigkeit, unser Gefühl davon, daß es angemessen und passend ist, der Person, die sich seiner schuldig gemacht hat, Übles zuzufügen und ihr nun ihrerseits Leid zu bereiten, entspringt dem sympathetischen Zorn, der natürlicherweise in der Brust des Zuschauers auflodert, so-
Zweiter Teil · Erster Abschnitt · Fünftes Kapitel
bald er sich ganz und gar in die Lage des Betroffenen hineindenkt. * * Wenn man auf die Weise, wie es hier geschieht, unser natürliches Gefühl der Tadelnswürdigkeit menschlicher Handlungen einer Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl des Leidenden zuschreibt, mag dies wohl der Mehrzahl der Menschen als eine Herabwürdigung dieser Empfindungen erscheinen. Das Vergeltungsgefühl wird gemeinhin als ein so hassenswerter Affekt angesehen, daß die meisten Menschen es wohl für unmöglich halten dürften, daß ein so lobenswertes Prinzip, wie das Gefühl für die Tadelnswürdigkeit des Lasters in irgendwelcher Beziehung auf jenem beruhen sollte. Sie werden vielleicht bereitwilliger zugeben, daß unser Gefühl für die Verdienstlichkeit guter Handlungen auf der Sympathie mit der Dankbarkeit jener Personen beruhe, die deren wohltätige Wirkungen genießen ; denn Dankbarkeit wird ebenso wie alle anderen wohlwollenden Affekte als ein liebenswürdiges Prinzip angesehen, das der Empfindung, die sich darauf gründet, nichts von ihrer Würde nehmen kann. Es ist indessen augenscheinlich, daß Dankbarkeit und Vergeltungsgefühl in jeder Hinsicht Gegensätze sind ; und wenn unser Gefühl für Verdienstlichkeit aus der Sympathie mit dem einen Affekt entspringt, kann unser Gefühl für Schuldlosigkeit und Tadelnswürdigkeit kaum anderswoher als aus einem Mitgefühl mit dem anderen Affekt hervorgehen. Man möge aber auch in Betracht ziehen, daß das Vergeltungsgefühl, obgleich in dem hohen Grade, in dem wir es allzuoft wahrnehmen, vielleicht der am meisten verhaßte von allen Affekten, doch nicht mißbilligt wird, wenn es in angemessener Weise gedämpft und gänzlich auf jenes Maß herabgestimmt ist, welches dem sympathetischen Unwillen des Zuschauers entspricht. Wenn wir, die wir Zeugen des Vorfalls sind, fühlen, daß unsere eigene Erbitterung jene des Leidenden durchaus erreicht, wenn das Vergeltungsgefühl dieses letzteren keineswegs das unsere übersteigt, wenn ihm kein Wort, keine Geste entschlüpft, die eine heftigere Gemütsbewegung verraten würden, als daß unsere Gefühle damit in Einklang stehen könnten, und wenn er niemals danach strebt, dem anderen eine größere Bestrafung zuzufügen als eine solche, die wir gern ihm zugefügt sehen würden, oder bei deren Zufügung wir eben deshalb sogar mitzuwirken wünschen würden, dann ist es unmöglich, daß wir seine Empfindungen nicht durchaus billigen sollten. Unsere eigenen Gefühle
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
müssen in diesem Falle die seinigen zweifellos in unseren Augen rechtfertigen. Und da die Erfahrung uns lehrt, wie sehr die Mehrzahl der Menschen dieser Mäßigung unfähig ist und eine wie große Anstrengung erforderlich ist, um den rohen und ungebändigten Antrieb des Vergeltungsgefühles auf dieses geziemende Maß herabzustimmen, können wir nicht umhin, eine beträchtliche Achtung und Bewunderung für einen Menschen zu fassen, der sich fähig gezeigt hat, eine so große Selbstbeherrschung gerade in bezug auf eine der unlenkbarsten Leidenschaften seiner Natur auszuüben. Sobald freilich die Erbitterung des Leidenden – wie dies beinahe immer geschieht – jenes Maß überschreitet, in dem wir sie nachfühlen können, dann mißbilligen wir sie notwendigerweise, da wir ihr nicht beipflichten können. Wir mißbilligen sie sogar in höherem Grade, als wir fast jeden anderen aus der Vorstellung entspringenden Affekt mißbilligen, wenn er ebenso jenes Maß überschreitet. Und dieses allzu heftige Vergeltungsgefühl wird, anstatt uns mit sich fortzureißen, selbst seinerseits der Gegenstand unseres Vergeltungsgefühles und unseres Unwillens. Wir stimmen dem entgegengesetzten Vergeltungsgefühl desjenigen bei, der die Zielscheibe dieses ungerechten Gefühls ist und der deshalb Gefahr läuft, unter diesem zu leiden. Rachsucht, das ist ein allzu starkes Vergeltungsgefühl, scheint uns daher die verabscheuungswürdigste aller Leidenschaften und wird von jedermann mit Schauer und Unwillen angesehen. Und da dieser Affekt, so wie er sich unter den Menschen äußert, hundertmal maßlos und nur einmal gemäßigt auftritt, sind wir sehr geneigt, ihn ganz und gar als hassenswert und verabscheuungswürdig zu betrachten, weil er es in seinen häufigsten Erscheinungsformen ist. Indessen darf es uns selbst in dem gegenwärtigen verderbten Zustand der Menschheit nicht so scheinen, als hätte uns die Natur so lieblos behandelt, daß sie uns mit einem Prinzip begabt hätte, das gänzlich und in jeder Hinsicht böse wäre, und das in keinem Maße und in keiner Richtung Lob und Billigung verdienen könnte. Bei manchen Gelegenheiten fühlen wir doch, daß dieser Affekt, der im allgemeinen zu stark ist, ebenso auch zu schwach sein kann. Wir beklagen es manchmal, daß eine bestimmte Person zu wenig Temperament zeigt, und daß sie zu wenig Gefühl für die Beleidigungen hat, die ihr zugefügt wurden ; und wir sind ebenso bereit, sie wegen der zu geringen Stärke dieses Affektes gering zu achten, als sie wegen dessen Übermaßes zu hassen. Die inspirierten Schriftsteller würden sicherlich nicht so häufig oder
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mit solchem Nachdruck von dem Zorn und dem Ärger Gottes erzählt haben, wenn sie diese Affekte in jedem Grad sogar an einem so schwachen und unvollkommenen Geschöpf, wie es der Mensch ist, als lasterhaft und böse betrachtet hätten. Man möge ferner auch in Betracht ziehen, daß die gegenwärtige Untersuchung nicht eine Frage des Sollens betrifft, wenn ich so sagen darf, sondern eine Frage nach Tatsachen. Wir untersuchen hier nicht, nach welchen Grundsätzen ein vollkommenes Wesen die Bestrafung von Missetaten billigen würde, sondern nach welchen Grundsätzen ein so schwaches und unvollkommenes Geschöpf, wie es der Mensch ist, sie wirklich und tatsächlich billigt. Die Prinzipien, die ich eben erwähnt habe, üben offenbar einen sehr großen Einfluß auf seine Empfindungen aus ; und es scheint weise eingerichtet, daß es so sein sollte. Die Existenz der Gesellschaft selbst erfordert es, daß jede Bosheit, die der andere nicht verdient und nicht durch irgendwelche Herausforderung veranlaßt hat, durch angemessene Bestrafungen im Zaume gehalten werde, und daß folglich die Verhängung jener Strafen als eine schickliche und löbliche Handlung betrachtet werden sollte. Obwohl also der Mensch von Natur aus mit dem Verlangen nach Wohlfahrt und Erhaltung der Gesellschaft begabt ist, hat es doch der Schöpfer der Natur nicht erst seiner Vernunft überlassen, die Entdeckung zu machen, daß eine gewisse Anwendung von Strafen das angemessene Mittel ist, diesen Zweck zu erreichen, sondern hat ihn mit einem unmittelbaren und instinktartigen Gefühl der Billigung für diejenige Strafanwendung begabt, die am meisten angemessen ist, um diesen Zweck zu erreichen. Die Ökonomie der Natur ist in dieser Hinsicht genau von der gleichen Art wie in vielen anderen Fällen. In bezug auf alle jene Zwecke, welche mit Rücksicht auf ihre besondere Wichtigkeit – wenn ein solcher Ausdruck zulässig ist – als die »Lieblingszwecke« der Natur betrachtet werden können, hat sie beständig die Menschen in dieser Weise nicht nur mit einem Verlangen nach dem Zweck begabt, den sie sich vorsetzt, sondern ebenso auch mit einem Verlangen nach den Mitteln, durch die dieser Zweck allein verwirklicht werden kann, und zwar nach den Mittel um ihrer selbst willen und unabhängig von der ihnen innewohnenden Tendenz, jenen Zweck zu verwirklichen. So sind Selbsterhaltung und Fortpflanzung der Art die wichtigsten Endzwecke, welche sich die Natur bei der Bildung aller Lebewesen vorgesetzt zu haben scheint. Die Menschen sind nun mit einem Verlangen nach jenen Endzwecken und mit einer Abneigung gegen ihr Gegenteil begabt : mit einer Liebe zum Le-
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
ben und Furcht vor Auflösung ; mit einem Verlangen nach beständiger Fortdauer der Art und mit einer Abneigung gegen den Gedanken ihres völligen Erlöschens. Obwohl wir aber so mit einem sehr starken Verlangen nach jenen Endzwecken begabt sind, ist es doch nicht den langsamen und ungewissen Entschließungen unserer Vernunft überlassen worden, die schicklichen Mittel ausfindig zu machen, um sie zu verwirklichen. Die Natur hat uns durch ursprüngliche und unmittelbare Instinkte die Richtung auf diese Mittel – oder doch auf die meisten derselben – gegeben. Hunger und Durst, die Leidenschaft, welche die beiden Geschlechter eint, die Liebe zur Lust und die Furcht vor Schmerz treiben uns an, jene Mittel um ihrer selbst willen zu gebrauchen, und ohne jede Überlegung der ihnen innewohnenden Tendenz, jene wohltätigen Zwecke zu verwirklichen, welche der große Lenker der Natur durch sie hervorbringen wollte. Bevor ich diese Anmerkung schließe, muß ich einen Unterschied erwähnen, der zwischen der Billigung, welche wir der Schicklichkeit zuteil werden lassen, und jener, die wir dem Verdienst oder der Wohltätigkeit zuerkennen, besteht. Ehe wir die Empfindungen irgend jemandes als schicklich und als ihren Gegenständen angemessen billigen, müssen wir nicht nur von diesen in der gleichen Weise wie er berührt werden, sondern wir müssen uns auch dieser Harmonie und Übereinstimmung zwischen unseren und seinen Empfindungen bewußt werden. Wenn ich also auch bei der Nachricht von einem Unglücksfall, der meinem Freunde zugestoßen ist, einen genau so starken Kummer empfinde, wie derjenige ist, dem er selbst sich überläßt, so kann man doch, solange ich keine Kunde von der Art und Weise habe, wie er sich in seinem Unglück verhält, solange ich mir nicht der Harmonie zwischen seinen Gefühlen und den meinigen bewußt werde, von mir nicht behaupten, daß ich die Empfindungen, welche sein Betragen bestimmen, billige. Die Billigung der Schicklichkeit erfordert also nicht nur, daß wir ganz und gar mit dem Handelnden sympathisieren, sondern überdies, daß wir uns dieser vollständigen Übereinstimmung zwischen seinen und unseren Empfindungen auch bewußt werden. Sobald ich dagegen von einer Wohltat höre, die einem anderen erwiesen worden ist, dann mag derjenige, der sie empfängt, davon berührt werden, wie es ihm beliebt – wenn nur ich selbst, sobald ich mich in seine Lage hineindenke, Dankbarkeit in meiner Brust aufsteigen fühle, dann werde ich notwendigerweise das Vorgehen seines Wohltäters billigen und es als verdienstlich und der Belohnung würdig betrachten. Ob derjenige, der die Wohltat empfangen hat, Dankbarkeit
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ZWEITER ABSCHNIT T
Über Gerechtigkeit und Wohltätigkeit erstes kapitel Ein Vergleich dieser beiden Tugenden Handlungen, die auf einen wohltätigen Erfolg abzielen und aus schicklichen Beweggründen entspringen, scheinen allein Belohnung zu verdienen, weil nur solche die allgemein gebilligten Gegenstände der Dankbarkeit sind, oder die sympathetische Dankbarkeit des Zuschauers erregen. Handlungen, die auf einen schädlichen Erfolg abzielen und aus unschicklichen Beweggründen entspringen, scheinen allein Bestrafung zu verdienen, weil nur solche Handlungen, die allgemein gebilligten Gegenstände des Vergeltungsgefühls sind oder das sympathetische Vergeltungsgefühl des Zuschauers erregen. Wohltätigkeit ist immer frei, sie kann nicht mit Gewalt jemandem abgenötigt werden, und der bloße Mangel an Wohltätigkeit setzt an und für sich noch keinen Menschen einer Bestrafung aus, weil er ja an und für sich auch noch nicht darauf abzielt, ein wirkliches, positives Übel zu stiften. Er kann uns in unserer Hoffnung auf ein Gut täuschen, das wir vernünftigerweise hätten erwarten können und mit Rücksicht darauf kann er mit empfindet oder nicht, das kann offenbar in keiner Weise unser Gefühl von dem Verdienst des Mannes ändern, der sie ihm erwiesen hat. Eine wirkliche Übereinstimmung der Gefühle ist hier also nicht erforderlich. Es ist genug, daß sie übereinstimmend sein würden, wenn der Empfänger der Wohltat dankbar wäre ; und unser Gefühl für das Verdienst gründet sich oft auf eines jener illusionären Sympathiegefühle, von denen wir, sobald wir uns ganz in die Lage des anderen hineindenken, in einer Weise affiziert werden, in der der zunächst Betroffene nicht fähig wäre, affiziert zu werden. Ein ähnlicher Unterschied waltet ob zwischen unserer Mißbilligung des Schuldhaften und jener des Unschicklichen.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Recht Abneigung und Mißbilligung erwecken, er kann indessen kein Vergeltungsgefühl hervorrufen, das die anderen Menschen nachfühlen würden. Der Mann, der sich seinem Wohltäter nicht zum Lohne wieder erkenntlich zeigt, sobald es in seiner Macht steht, und sobald sein Wohltäter seines Beistandes bedarf, macht sich zweifellos des schwärzesten Undanks schuldig. Das Herz eines jeden unparteiischen Zuschauers wird jedes Mitgefühl mit dem Egoismus seiner Beweggründe von sich weisen und dieser wird mit Recht seine höchste Mißbilligung erwecken. Aber jener Mann fügt doch niemandem einen positiven Schaden zu. Er tut nur eben jenes Gute nicht, das er aus Rücksicht auf das Schickliche oder sittlich Richtige hätte tun sollen. Er wird zum Gegenstand des Hasses, eines Affekts, der ganz natürlich durch die Unschicklichkeit des Fühlens, und des Verhaltens erregt wird, nicht aber zum Gegenstand des Vergeltungsgefühls, eines Affekts, der stets nur durch solche Handlungen mit Recht hervorgerufen wird, die darauf abzielen, einer bestimmten Person einen wirklichen und positiven Schaden zuzufügen. Sein Mangel an Dankbarkeit kann daher nicht bestraft werden. Wollte man ihn mit Gewalt dazu zwingen, das zu vollführen, was er aus Dankbarkeit vollführen sollte, und was – wenn er es vollbrächte – ihm die Billigung jedes unparteiischen Zuschauers eintragen würde, so wäre das womöglich noch unschicklicher, als daß er selbst es unterließ, diese Handlung zu vollbringen. Sein Wohltäter würde sich selbst entehren, wenn er es versuchen wollte, ihn mit Gewalt zur Dankbarkeit zu nötigen, und für jeden Dritten, de nicht etwa der Vorgesetzte des einen von den beiden wäre, wäre es ganz ungebührlich, sich einzumengen. Von allen Pflichten des Wohltuns aber nähern sich diejenigen, deren Erfüllung uns die Dankbarkeit vorschreibt oder doch anempfiehlt, noch am meisten demjenigen, was man eine vollständige und vollkommene Verpflichtung nennt. Was Freundschaft, Edelmut, Mildtätigkeit und Menschenliebe uns tun heißen, und was uns, wenn wir es tun,
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die allgemeine Billigung sichert, das ist immer in noch höherem Grade frei und kann noch weniger mit Gewalt erzwungen werden als die Pflichten der Dankbarkeit. Wir sprechen von einer Dankesschuld, nicht von einer Schuld der Menschenliebe, des Edelmutes, ja nicht einmal der Freundschaft – sofern die Freundschaft bloße Achtung ist und nicht mit Dankbarkeit für gute Dienste verbunden und durch diese gesteigert ist. Das Vergeltungsgefühl scheint uns von der Natur zur Verteidigung und nur zur Verteidigung verliehen zu sein. Es ist der Schutz der Gerechtigkeit und die Sicherheit der Unschuld. Es treibt uns an, das Unheil abzuwehren, das man uns zuzufügen sucht, und jenes wiederzuvergelten, das man uns bereits angetan hat, damit so der Beleidiger dazu gebracht werde, sein Unrecht zu bereuen und damit andere durch Furcht vor gleicher Strafe davon abgeschreckt werden mögen, sich der gleichen Missetat schuldig zu machen. Es muß deshalb für diese Zwecke aufgespart werden und der Zuschauer wird ihm niemals beistimmen können, sobald es in irgendwelcher anderer Absicht zum Ausdruck gebracht wird. Der bloße Mangel an wohltätigen Tugenden aber mag uns zwar in unserer Hoffnung auf ein Gut täuschen, das wir vernünftigerweise erwarten konnten, er fügt uns jedoch keinen Nachteil zu, gegen den wir uns zu verteidigen brauchten, noch versucht er auch bloß, uns einen solchen anzutun. Indessen gibt es eine andere Tugend, deren Betätigung nicht dem freien Belieben unseres Willens anheimgestellt ist, die vielmehr mit Gewalt erzwungen werden kann, und deren Verletzung uns dem Vergeltungsgefühl und infolgedessen der Bestrafung aussetzt. Diese Tugend ist die Gerechtigkeit ; die Verletzung der Gerechtigkeit ist das Unrecht : es fügt einer bestimmten Person einen wirklichen und positiven Schaden zu, und zwar aus Motiven, die natürlicherweise mißbilligt werden. Es ist deshalb der angemessene Gegenstand des Vergeltungsgefühls und auch der Bestrafung, welche die naturgemäße Folge des Vergeltungsgefühls darstellt.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Wie die Menschen jene Gewalt billigen und gutheißen, die man anwendet, um den durch eine Rechtsverletzung zugefügten Schaden zu ahnden, so billigen und begreifen sie noch weit mehr diejenige, die man anwendet, um die Rechtsverletzung zu verhüten, und um den Beleidiger zu verhindern, seine Nächsten zu schädigen. Derjenige, der ein Unrecht im Sinne hat, weiß dies recht wohl und fühlt, daß sowohl die Person, der er eben ein Unrecht zufügen will, als auch andere Personen mit vollem Recht Gewalt anwenden können, sei es um die Ausführung seines Verbrechens zu vereiteln, sei es, um ihn zu bestrafen, wenn er es bereits vollführt hat. Und hierauf gründet sich jener bemerkenswerte Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und allen anderen geselligen Tugenden, der erst kürzlich durch einen Schriftsteller von großer und origineller Begabung besonders hervorgehoben wurde, nämlich, daß wir uns unter einer strengeren Verpflichtung fühlen, der Gerechtigkeit gemäß zu handeln, als unser Verhalten mit den Geboten der Freundschaft, Menschenliebe oder Edelmütigkeit in Einklang zu bringen ; daß die Betätigung dieser zuletzt erwähnten Tugenden bis zu einem gewissen Maße unserem freien Belieben überlassen zu sein scheint, daß wir uns dagegen auf die eine oder andere Art zur Beobachtung der Gerechtigkeit ganz eigentümlich verbunden und verpflichtet fühlen. Das heißt, wir fühlen, daß man mit vollstem Recht und mit der Zustimmung aller Menschen Gewalt anwenden darf, um uns dazu zu zwingen, die Gesetze der letzteren zu beobachten, nicht aber auch, um uns zu zwingen, die Vorschriften jener zu befolgen. Wir müssen indes immer sorgfältig zwischen demjenigen unterscheiden, was bloß tadelnswert oder der angemessene Gegenstand der Mißbilligung ist, und demjenigen, zu dessen Bestrafung oder Verhütung Gewalt angewendet werden darf. Tadelnswert erscheint, was hinter jenem gewöhnlichen Grad sittlich richtiger Wohltätigkeit zurückbleibt, den wir erfahrungsgemäß von jedermann erwarten dürfen, lobenswert dagegen erscheint, was über
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diesen Grad hinausgeht. Der gewöhnliche Grad von Wohltätigkeit selbst scheint weder tadelnswert, noch lobenswürdig zu sein. Ein Vater, ein Sohn, ein Bruder, der sich seinem Verwandten gegenüber weder besser noch schlechter beträgt, als es die Mehrzahl der Menschen gemeinhin tut, scheint streng genommen weder Lob noch Tadel zu verdienen. Derjenige aber, der uns durch außergewöhnliche und unerwartete, dabei aber doch schickliche und angemessene Güte überrascht, scheint lobenswert, wie auf der anderen Seite derjenige tadelnswürdig erscheint, der eine ebenso außergewöhnliche und unerwartete als ungebührliche Lieblosigkeit an den Tag legt. Indes kann auch das geringste und alltäglichste Maß von Güte oder Wohltätigkeit unter Gleichgestellten nicht durch Gewalt erzwungen werden. Unter Gleichgestellten wird jedes Individuum naturgemäß und vor der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung als berechtigt angesehen, sowohl sich gegen Verletzungen zu verteidigen, als auch für solche, die ihm bereits zugefügt wurden, seinen Beleidiger bis zu einem gewissen Maße zu bestrafen. Sobald er dies tut, wird jeder edeldenkende Zuschauer nicht nur sein Verhalten billigen, sondern er wird seinen Gefühlen in solchem Grade zustimmen, daß er oft sogar bereit sein wird, ihm darin Beistand zu leisten. Wenn ein Mann einen anderen angreift, beraubt oder zu ermorden versucht, dann geraten alle Nachbarn in Aufruhr und glauben recht zu handeln, wenn sie eilen, denjenigen zu rächen, der so verletzt wurde, oder den zu verteidigen, der bloß in Gefahr ist verletzt zu werden. Wenn es aber ein Vater seinem Sohn gegenüber an dem gewöhnlichen Grad von väterlicher Zuneigung fehlen läßt ; wenn einem Sohne anscheinend jene kindliche Ehrerbietung mangelt, die man von ihm seinem Vater gegenüber hätte erwarten können ; wenn Brüder ohne jene brüderliche Zuneigung sind, wie man sie gewöhnlich antrifft ; wenn ein Mann seine Brust gegen jedes Mitgefühl verschließt und es ablehnt, das Elend seiner Mitmenschen zu lindern, obwohl er dies
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
mit der größten Leichtigkeit tun könnte ; so wird zwar in all den erwähnten Fällen jedermann ein solches Verhalten tadeln, aber niemand wird sich einbilden, daß diejenigen, die etwa Grund haben mochten, mehr Güte von jenem zu erwarten, nun irgendein Recht besäßen, diese mit Gewalt zu erzwingen. Derjenige, der unter einem solchen Verhalten leidet, kann nichts tun, als sich beklagen und der Zuschauer kann auf keine andere Weise vermitteln als durch Rat und Überredung. Man würde es vielmehr bei allen derartigen Anlässen für den höchsten Grad von Unverschämtheit und Vermessenheit halten, wenn Gleichgestellte Gewalt gegeneinander anwenden wollten. Allerdings kann jedoch manchmal ein Höhergestellter unter allgemeiner Zustimmung diejenigen, die seiner Botmäßigkeit unterstehen, dazu nötigen, sich in dieser Hinsicht mit einem gewissen Grad von Schicklichkeit gegeneinander zu betragen. Die Gesetze aller zivilisierten Nationen verpflichten die Eltern, ihre Kinder zu erhalten, und die Kinder, für den Unterhalt der Eltern zu sorgen, und legen den Menschen noch viele andere Pflichten der Wohltätigkeit auf. Die bürgerliche Obrigkeit ist nicht nur mit der Macht betraut, den öffentlichen Frieden durch Eindämmung des Unrechts aufrecht zu erhalten, sondern auch das Gedeihen des Gemeinwesens dadurch zu fördern, daß sie die richtige Zucht einführt und jede Art von Laster und Unschicklichkeit niederschlägt ; deswegen kann sie Vorschriften erlassen, die nicht nur gegenseitige Schädigungen unter Mitbürgern verbieten, sondern bis zu einem gewissen Grade auch gegenseitige gute Dienste anbefehlen. Sobald der Landesherr etwas befiehlt, was an sich gänzlich indifferent ist, und was man vor seinen Anordnungen ohne jeden Tadel hätte unterlassen können, so wird es jetzt nicht nur tadelswert, sondern strafbar, seinem Gebot zuwiderzuhandeln. Wenn er daher etwas befiehlt, was vor einer derartigen Anordnung nicht hätte unterlassen werden können, ohne denjenigen, der sich dieser Unterlassung schuldig machte, dem höchsten Tadel auszuset-
Zweiter Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
zen, so wird es in diesem Falle sicherlich noch weit strafbarer, wenn man es nun an Gehorsam fehlen läßt. Von allen Pflichten eines Gesetzgebers erfordert jedoch vielleicht gerade diese den größten Takt und die größte Zurückhaltung, wenn der Gesetzgeber sie in richtiger und verständiger Weise erfüllen will. Sie ganz und gar zu vernachlässigen, hieße das Gemeinwesen mancherlei groben Ordnungswidrigkeiten und anstößigen Freveln aussetzen, und sie allzu weit zu treiben, wäre verderblich für alle Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit. Wenngleich der bloße Mangel an Wohltätigkeit unter Gleichgestellten keine Bestrafung zu verdienen scheint, so dünkt uns doch, daß eine bedeutendere Betätigung dieser Tugend des höchsten Lohnes würdig ist. Dadurch, daß sie selbst soviel Gutes hervorbringt, wird sie der natürliche und anerkannte Gegenstand der lebhaftesten Dankbarkeit. Wenngleich dagegen andererseits die Verletzung der Gerechtigkeit oder Rechtlichkeit einen Menschen der Bestrafung aussetzt, so scheint doch die Beobachtung der Vorschriften dieser Tugend kaum irgendwelchen Lohn zu verdienen. Es liegt zwar zweifellos eine gewisse Schicklichkeit in dem rechtlichen Handeln und es verdient mit Rücksicht darauf all die Billigung, die man der Schicklichkeit schuldet. Da die Rechtlichkeit aber kein wirkliches, positives Gut schafft, so kann sie nur auf eine sehr geringe Dankbarkeit Anspruch erheben. Bloße Rechtlichkeit ist in den meisten Fällen nur eine negative Tugend und hindert uns nur, unserem Nächsten einen Schaden zuzufügen. Der Mann, der sich bloß enthält, die Person, das Vermögen oder den guten Ruf seines Nächsten zu verletzen, der erwirbt damit sicherlich sehr wenig positives Verdienst. Und doch erfüllt er alle Regeln der Tugend, die man im eigentlichen Sinne Rechtlichkeit nennt, und er tut alles, was zu tun die ihm Gleichgestellten ihn schicklicherweise zwingen und für dessen Unterlassung sie ihn bestrafen können. Wir können oft alle Regeln der Rechtlichkeit oder Gerechtigkeit dadurch erfüllen, daß wir still sitzen und nichts tun.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Wie jedermann tut, so soll ihm wieder getan werden und die Wiedervergeltung des Gleichen mit Gleichem scheint das große Gesetz zu sein, das uns von der Natur selbst vorgeschrieben worden ist. Wohltätigkeit und Edelmut meinen wir, sollen dem Wohltätigen und Edelmütigen wieder erwiesen werden. Diejenigen, deren Herzen sich niemals den Gefühlen der Menschlichkeit erschließen, die sollten – meinen wir – in der gleichen Weise von der Zuneigung aller ihrer Mitgeschöpfe ausgeschlossen sein und man sollte sie inmitten der Gesellschaft wie in einer großen Wüste leben lassen, wo es niemanden gibt, der für sie sorgen oder nach ihnen fragen würde. Wer die Gesetze der Gerechtigkeit bricht, den sollte man selbst jenes Übel fühlen machen, das er einem anderen angetan hat ; und da keine Rücksicht auf die Leiden seiner Brüder imstande war, ihn zurückzuhalten, sollte er nun durch die Angst vor eigenen Leiden in Furcht und Schrecken versetzt werden. Der Mann, der bloß schuldlos ist, der in bezug auf die anderen nur die Regeln der Gerechtigkeit beobachtet und sich lediglich enthält, anderen Schaden zuzufügen, der verdient nur, daß seine Nächsten ihrerseits seine Schuldlosigkeit achten, und daß die gleichen Gesetze auch in bezug auf ihn strenge eingehalten werden. zweites kapitel Über Rechtsgefühl, Gewissensbisse und das Bewußtsein des eigenen Verdienstes. Es kann keinen anderen schicklichen Beweggrund dazu geben, unserem Nächsten Schaden zuzufügen, es kann keinen anderen Anreiz geben, unserem Nächsten Böses anzutun, welchen die Menschen nachzuempfinden vermöchten, als allein die gerechte Entrüstung über das Böse, das dieser Nächste uns angetan hat. Das Glück eines anderen zerstören, nur weil es unserem eigenen im Wege steht, ihm zu nehmen, was ihm wirklich nützlich ist, nur
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weil es für uns ebenso nützlich oder noch nützlicher sein kann, das wird kein unparteiischer Zuschauer gutheißen können –, er wird es so wenig gutheißen können, wie jede andere Handlung, bei der sich der Mensch jenem natürlichen Hange hingibt, sein eigenes Glück dem Glück aller anderen vorzuziehen und auf deren Kosten zu befriedigen. Zweifellos – jedermann ist von der Natur in erster Linie und hauptsächlich seiner eigenen Obsorge anvertraut worden ; und da er mehr dazu geeignet ist, für sich selbst zu sorgen als für irgendeinen anderen, so ist es recht und billig, daß er für sich selber sorge. Daher liegt jedermann weit mehr an demjenigen, was ihn selbst unmittelbar betrifft, als an dem, was einen anderen angeht ; es wird in geringerem Grade unsere Anteilnahme erwecken, wenn wir etwa vom Tode eines Menschen hören, zu dem wir nicht in besonderer Beziehung gestanden sind, und es wird uns diese Nachricht weit weniger verdrießen oder unsere Ruhe stören, als irgendein ganz unbedeutender Unfall, der uns selbst zugestoßen ist. Obgleich aber der Untergang unseres Nächsten uns weit weniger berühren mag als irgendein ganz kleines Mißgeschick, das uns selber betrifft, so dürfen wir doch nicht ihm den Untergang bereiten, um jenes kleine Mißgeschick von uns abzuwenden, oder selbst um unseren eigenen Untergang zu verhüten. Wir müssen hier wie in allen anderen Fällen uns nicht so sehr in dem Lichte sehen, in dem wir uns selbst naturgemäß erscheinen, als vielmehr in jenem Lichte, in dem wir uns naturgemäß anderen darstellen. Mag auch jedermann, wie das Sprichwort sagt, sich selbst die ganze Welt sein, für die übrigen Menschen ist er ein recht unbedeutender Teil derselben. Mag ihm selbst seine eigene Glückseligkeit wichtiger sein als die der ganzen übrigen Welt, für die anderen ist sie doch nicht von größerem Belang als die eines jeden sonstigen Menschen. Mag es darum auch wahr sein, daß jedes Individuum in seinem Herzen naturgemäß sich selbst der ganzen Menschheit vorzieht, so wird es doch nicht wagen, den anderen Menschen in die Augen zu blicken und
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dabei zu gestehen, daß es diesem Grundsatz gemäß handelt. Jeder fühlt vielmehr, daß die anderen diesen seinen Hang, sich selbst den Vorzug zu geben, niemals werden nachfühlen können, und daß er ihnen – so natürlich er auch für ihn selbst sein mag – doch immer als maßlos und übertrieben erscheinen muß. Sobald er sich in jenem Licht betrachtet, in welchem ihn, wie er wohl weiß, die anderen betrachten werden, dann sieht er, daß er für diese nur einer aus der Menge ist, in keiner Hinsicht besser als irgendein anderes Individuum dieser Masse. Wollte er so handeln, daß der unparteiische Zuschauer den Maximen seines Verhaltens zustimmen könnte – und tatsächlich ist es sein heißester Wunsch, so zu handeln – dann müßte er bei dieser, wie bei allen anderen Gelegenheiten die Anmaßungen seiner Selbstliebe dämpfen und diese auf jenen Grad herabstimmen, den andere Menschen noch nachzuempfinden vermögen. Die anderen aber werden ihm seine Selbstliebe so weit nachsehen, daß sie ihm gestatten werden, um sein eigenes Glück in höherem Maße besorgt zu sein und dasselbe mit mehr Ernst und Beharrlichkeit anzustreben als dasjenige irgendeiner anderen Person. So weit werden sie seine Selbstliebe bereitwillig nachfühlen, sobald sie sich in seine Lage versetzen. In dem Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Avancement, da mag er rennen, so schnell er kann und jeden Nerv und jeden Muskel anspannen, um all seine Mitbewerber zu überholen. Sollte er aber einen von ihnen niederrennen oder zu Boden werfen, dann wäre es mit der Nachsicht der Zuschauer ganz und gar zu Ende. Das wäre eine Verletzung der ehrlichen Spielregeln, die sie nicht zulassen könnten. Der andere ist für sie in jeder Hinsicht so gut wie dieser ; sie stimmen jener Selbstliebe nicht zu, in der er sich selbst so hoch über den anderen stellt, und sie können die Motive nicht nachfühlen, die ihn bewogen, den anderen zu Schaden zu bringen. Deshalb sympathisieren sie bereitwillig mit dem natürlichen Vergeltungsgefühl des Geschädigten und der Beleidiger wird zum Gegenstand ihres Hasses und ihres Unwillens. Dieser selbst aber
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empfindet das deutlich und spürt auch, daß diese Gefühle jeden Augenblick von allen Seiten gegen ihn losbrechen können. Je größer und je schwerer gutzumachen das Übel ist, das einem angetan wurde, um so höher steigt naturgemäß das Vergeltungsgefühl des Geschädigten ; und in gleicher Weise wächst der durch Sympathie erweckte Unwille des Zuschauers wie auch das Schuldgefühl des Täters. Der Tod ist das größte aller Übel, die ein Mensch einem anderen zufügen kann, und er erregt im höchsten Grade das Vergeltungsgefühl derjenigen, die in unmittelbarer Verbindung mit dem Erschlagenen standen. Mord ist deshalb von allen Verbrechen, die sich nur gegen Individuen richten, daß gräßlichste, und zwar sowohl in den Augen aller anderen Menschen, als auch in den Augen jenes Mannes selbst, der ihn begangen hat. Desjenigen beraubt zu werden, was wir bereits in unserem Besitz hatten, ist ein größeres Übel, als um Dinge gebracht zu werden, die wir bloß erwarten durften. Darum sind Eigentumsverletzungen, Diebstahl und Raub, die uns nehmen, was wir bereits im Besitze hatten, schwerere Verbrechen als Verletzungen von Verträgen, die uns um das bringen, was wir nur erwartet haben. Die heiligsten Gesetze der Gerechtigkeit, diejenigen, deren Verletzung am lautesten nach Ahndung und Bestrafung zu rufen scheint, sind deshalb die Gesetze, welche das Leben und die Person unseres Nächsten schützen ; die nächstwichtigen sind diejenigen, die sein Eigentum und seine Besitzungen schützen ; und als letzte von allen kommen jene, die seine sogenannten persönlichen Rechte oder die Ansprüche, die ihm aus den Versprechungen anderer zustehen, in ihren Schutz nehmen. Derjenige, der die mit höherer Heiligkeit ausgestatteten Gesetze der Gerechtigkeit verletzt, wird niemals über die Gefühle nachdenken können, die die Menschen ihm gegenüber hegen müssen, ohne dabei alle Qualen der Scham, des Abscheus und der Zerknirschung zu empfinden. Sobald er seine Leidenschaft befriedigt hat und nun anfängt, mit kühlerem Sinn über sein früheres
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Verhalten nachzudenken, dann kann er keinem der Beweggründe mehr zustimmen, die ihn zu diesem veranlaßt hatten. Nun erscheinen sie auch ihm so abscheulich, wie sie anderen stets erschienen waren. Dadurch, daß er nun mit dem Haß und dem Abscheu sympathisiert, den andere für ihn hegen, wird er sich bis zu einem gewissen Grade selbst zum Gegenstand des Hasses und des Abscheus. Die Lage desjenigen, der durch sein Unrecht leiden mußte, erregt nun auch sein Mitleid. Der Gedanke daran tut ihm weh, er bedauert die unseligen Folgen seines Verhaltens und fühlt zugleich, daß diese mit Recht den Unwillen und das Vergeltungsgefühl der Menschen wachgerufen und ihm die wohlverdiente Ahndung und Bestrafung zugezogen haben, die die natürliche Folge des Vergeltungsgefühles bildet. Dieser Gedanke sucht ihn beständig heim und erfüllt ihn mit Schrecken und Entsetzen. Er wagt es nicht mehr, den Menschen ins Antlitz zu blicken, sondern hält sich gleichsam für verworfen und ausgestoßen aus der Gesellschaft und aus der Gunst der Menschen. Auf den Trost der Sympathie kann er in dieser größten und furchtbarsten Not nicht hoffen. Die Erinnerung an seine Verbrechen hat alles Mitgefühl mit ihm aus den Herzen seiner Mitmenschen verbannt. Die Gefühle, die sie ihm gegenüber hegen, sind gerade das, was er am meisten fürchtet. Alles scheint ihm feindlich und er wäre froh, in irgendeine ungastliche Wüste flüchten zu können, wo er niemals mehr das Antlitz eines menschlichen Wesens erblicken und in den Mienen der Menschen nicht mehr die Verdammung seiner Verbrechen lesen müßte. Doch Einsamkeit ist für ihn noch fürchterlicher als Gesellschaft. Seine Gedanken zeigen ihm nichts als schwarze, unglückliche, unheilvolle Bilder, die trübsinnigen Vorahnungen unfaßbaren Elends und Verderbens. Das Grauen vor der Einsamkeit treibt ihn zurück in die Gesellschaft und er kommt wieder unter die Menschen, bestürzt darüber, daß er vor ihnen mit Scham beladen und von Furcht gequält erscheinen muß, um wenigstens einen geringen Beistand von der
Zweiter Teil · Zweiter Abschnitt · Zweites Kapitel
Gunst eben jener Richter zu erflehen, die ihn, wie er weiß, alle einhellig verurteilt haben. Dies ist das Wesen jener Gefühle, die man recht eigentlich Gewissensbisse nennt, der fürchterlichsten von allen Gefühlen, die von eines Menschen Brust Besitz ergreifen können. In ihnen wirken zusammen die Scham, die aus dem Gefühl der Verwerflichkeit unseres früheren Verhaltens entsteht, der Kummer über die Wirkungen dieses Betragens, das Mitleid mit denen, die dadurch leiden, sowie Angst und Schrecken vor der Strafe, die aus dem Bewußtsein entspringen, den gerechten Zorn und den Vergeltungstrieb aller vernünftigen Wesen herausgefordert zu haben. Das entgegengesetzte Verhalten erregt naturgemäß entgegengesetzte Gefühle. Der Mann, der nicht aus eitler Laune, sondern aus rechten Beweggründen eine edle Tat vollführt hat, der fühlt – sobald er auf diejenigen hinblickt, denen er einen Dienst erwiesen hat – daß er der natürliche Gegenstand ihrer Liebe und Dankbarkeit ist, und daß ihm infolge der Sympathie aller Menschen mit den Gefühlen der letzteren auch die Achtung und Billigung der anderen zuteil werden muß. Und sobald er zurückblickt nach den Beweggründen, die ihn in seinem Handeln bestimmten, und sie in dem Licht betrachtet, in dem der unparteiische Zuschauer sie betrachten würde, dann kann er ihnen immer noch seine Zustimmung geben und sich selbst aus Sympathie mit der Billigung des hinzugedachten unparteiischen Zuschauers Beifall spenden. Von beiden erwähnten Gesichtspunkten aus erscheint ihm sein eigenes Betragen durchaus angemessen. Der Gedanke daran erfüllt sein Gemüt mit Fröhlichkeit, Heiterkeit und Seelenruhe. Er ist in Freundschaft und Harmonie mit allen Menschen und betrachtet seine Mitgeschöpfe voll Vertrauen und wohlwollender Genugtuung, sicher, sich ihrer günstigen Meinung würdig gemacht zu haben. In der Verbindung all dieser Empfindungen besteht das Bewußtsein des Verdienstes und das Gefühl, daß man sich der Belohnung wert gemacht hat.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
drittes kapitel Über den Nutzen dieser Einrichtung der Natur So wurde der Mensch, der nur in Gesellschaft bestehen kann, von der Natur jener Situation angepaßt, für die er geschaffen war. Alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft bedürfen des gegenseitigen Beistandes und andererseits ist auch jedes von ihnen den Beleidigungen des anderen ausgesetzt. Wo jener notwendige Beistand aus wechselseitiger Liebe, aus Dankbarkeit, aus Freundschaft und Achtung von einem Mitglied dem anderen gewährt wird, da blüht die Gesellschaft und da ist sie glücklich. Alle ihre Mitglieder sind da durch die schönen Bande der Liebe und Zuneigung verbunden und gravitieren gleichsam zu einem gemeinschaftlichen Zentrum gegenseitiger guter Dienste. Mag aber auch der notwendige Beistand nicht aus solchen edlen und selbstlosen Beweggründen gewährt werden, mag auch zwischen den verschiedenen Gliedern der Gesellschaft keine wechselseitige Liebe und Zuneigung herrschen, so wird die Gesellschaft zwar weniger glücklich und harmonisch sein, wird sich aber deshalb doch nicht auflösen müssen. Die Gesellschaft kann zwischen einer Anzahl von Menschen – wie eine Gesellschaft unter mehreren Kaufleuten – auch aus einem Gefühl ihrer Nützlichkeit heraus, ohne gegenseitige Liebe und Zuneigung bestehen bleiben ; und mag auch kein Mensch in dieser Gesellschaft einem anderen verpflichtet oder in Dankbarkeit verbunden sein, so kann die Gesellschaft doch noch durch eine Art kaufmännischen Austausches guter Dienste, die gleichsam nach einer vereinbarten Wertbestimmung geschätzt werden, aufrechterhalten werden. Indessen kann eine Gesellschaft zwischen solchen Menschen nicht bestehen, die jederzeit bereit sind, einander wechselseitig zu verletzen und zu beleidigen. In dem Augenblick, in dem gegenseitige Schädigung beginnt, in dem Augenblick, in dem wechselseitiger Groll und Gehässigkeit platzgreifen, werden alle Bande
Zweiter Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
der Gesellschaft zerbrochen und all die verschiedenen Glieder, aus denen sie bestand, werden gleichsam durch die Gewalt und den Widerstreit ihrer disharmonierenden Gefühle zerstreut und in alle Richtungen auseinander getrieben. Wenn es eine Gesellschaft zwischen Räubern und Mördern gibt, dann müssen sie, einem ganz alltäglichen Gemeinplatz zufolge, sich wenigstens des Raubens und Mordens untereinander enthalten. Wohlwollen und Wohltätigkeit ist darum für das Bestehen der Gesellschaft weniger wesentlich als Gerechtigkeit. Eine Gesellschaft kann ohne Wohltätigkeit weiter bestehen, wenn auch freilich nicht in einem besonders guten und erfreulichen Zustande, das Überhandnehmen der Ungerechtigkeit dagegen müßte sie ganz und gar zerstören. Darum ermuntert die Natur zwar die Menschen durch die Annehmlichkeit des Bewußtseins, Lohn zu verdienen, auch zu Handlungen der Wohltätigkeit, hat es jedoch nicht für nötig erachtet, ihre Betätigung durch die Schrecken des Bewußtseins, Strafe zu verdienen, für den Fall, daß sie verabsäumt wurde – zu befestigen und zu erzwingen. Die Wohltätigkeit ist die Verzierung, die das Gebäude verschönt, nicht das Fundament, das es trägt, und darum war es hinreichend, sie dem einzelnen anzuempfehlen, keineswegs jedoch nötig, sie zwingend vorzuschreiben. Gerechtigkeit dagegen ist der Hauptpfeiler, der das ganze Gebäude stützt. Wenn dieser Pfeiler entfernt wird, dann muß der gewaltige, der ungeheuere Bau der menschlichen Gesellschaft, jener Bau, den aufzuführen und zu erhalten, in dieser Welt, wenn ich so sagen darf, die besondere Lieblingssorge der Natur gewesen zu sein scheint, in einem Augenblick zusammenstürzen und in Atome zerfallen. Darum hat die Natur, um die Beobachtung der Regeln der Gerechtigkeit zu erzwingen, der menschlichen Brust jenes Schuldgefühl eingepflanzt, jene Schrecken des Bewußtseins, Strafe zu verdienen, die der Verletzung der Gerechtigkeit folgen, damit sie die Schutzwächter der Gemeinschaft der Menschen seien – die Schwachen zu schützen, die Ungestümen zu zähmen und die Schuldigen zu
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
züchtigen. Die Menschen sind zwar von Natur mit Sympathie begabt, doch sie fühlen so wenig für den anderen (sofern sie nicht besondere Beziehungen mit ihm verbinden), verglichen mit dem, was sie für sich selber fühlen ; das Elend eines Menschen, der eben bloß ihr Mitgeschöpf ist, ist für sie von so geringer Bedeutung, verglichen auch nur mit einer kleinen Annehmlichkeit, die sie selbst betrifft, es steht so sehr in ihrer Macht, ihm Schaden zuzufügen und so viele Versuchungen können an sie herantreten, dies wirklich zu tun, daß sie, stünden nicht in ihnen selbst jene Gefühle zu seiner Verteidigung auf und hielten sie in Furcht und Achtung gegenüber seiner Unschuld, sofort gleich wilden Bestien jederzeit über ihn herfallen würden und ein Mensch in eine Versammlung von Menschen nicht anders treten würde, wie in die Höhle des Löwen. In jedem Teil des Universums beobachten wir, daß die Mittel auf die genaueste und kunstvollste Weise den Zwecken angepaßt sind, die sie hervorzubringen bestimmt sind, und wir bewundern es, wie in dem Mechanismus einer Pflanze oder eines tierischen Körpers alles so ausgedacht ist, daß es die zwei Hauptabsichten der Natur, die Erhaltung des Individuums und die Fortpflanzung der Gattung, befördert. Bei diesen wie bei allen derartigen Gegenständen unterscheiden wir jedoch immer noch die wirkende Ursache von der Zweckursache ihrer verschiedenen Bewegungen und Organisationen. Die Verdauung der Nahrung, der Kreislauf des Blutes und die Sekretion der verschiedenen Säfte, die aus diesem sich absondern, sind alles Funktionen, die für die Hauptzwecke tierischen Lebens notwendig sind. Doch bestreben wir uns niemals, sie aus jenen Zwecken als aus ihren wirkenden Ursachen zu erklären, noch bilden wir uns ein, daß das Blut von selbst zirkuliert und die Nahrung von selbst sich verdaut, und dies mit einem Hinblick oder einer Absicht, die sich auf die Zwecke der Zirkulation und der Verdauung richten würde. Die Räder einer Uhr sind alle wunderbar dem Zwecke angepaßt, für den diese
Zweiter Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
verfertigt wurde, nämlich die Stunden anzuzeigen. Alle ihre verschiedenen Bewegungen wirken in der genauesten Weise zusammen, um diese Wirkung hervorzubringen. Sie könnten es nicht besser tun, wenn sie mit dem Wunsch oder der Absicht, diesen Zweck zu erreichen, begabt wären. Doch schreiben wir einen solchen Wunsch oder eine solche Absicht niemals ihnen zu, sondern dem Uhrmacher, und wir wissen, daß sie durch eine Feder in Bewegung gesetzt werden, die die Wirkung, die sie hervorbringt, so wenig beabsichtigt, als jene Räder die ihrige. Obgleich wir aber, wenn wir die Funktionen tierischer Körper erklären, niemals es unterlassen, in dieser Weise die wirkende Ursache von der Zweckursache zu unterscheiden, so sind wir doch sehr geneigt, diese beiden verschiedenen Betrachtungsweisen miteinander zu verwechseln, sobald wir die Leistungen der Seele erklären wollen. So oft wir durch natürliche Triebe dazu bestimmt werden, jene Zwecke zu fördern, die eine verfeinerte und aufgeklärte Vernunft uns anempfehlen würde, dann sind wir sehr geneigt, jener Vernunft als der wirkenden Ursache die Gefühle und Handlungen zuzurechnen, durch die wir jene Zwecke befördern, und uns einzubilden, dasjenige sei die Weisheit von Menschen, was in Wirklichkeit die Weisheit Gottes ist. Bei einer oberflächlichen Betrachtung scheint diese Ursache hinreichend, um die Wirkungen hervorzubringen, die man ihr zuschreibt, und das System der menschlichen Natur scheint einfacher und angemessener, wenn alle ihre verschiedenen Funktionen und Leistungen auf diese Weise aus einem einzigen Prinzip abgeleitet werden. Da die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn die Gesetze der Gerechtigkeit nicht wenigstens in erträglichem Maße beobachtet werden, da kein gesellschaftlicher Verkehr zwischen Menschen stattfinden kann, die sich nicht im allgemeinen enthalten, einander Schaden zuzufügen, so hat man gemeint, es sei die Rücksicht auf diese Unentbehrlichkeit der Gerechtigkeit der Grund gewesen, weshalb wir es billigen, wenn die Beobachtung der Gesetze
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
der Gerechtigkeit durch die Bestrafung derjenigen, die sie verletzten, erzwungen werde. Der Mensch, so hat man gesagt, hat eine natürliche Liebe zur Gesellschaft und wünscht, daß die Vereinigung der Menschen um ihrer selbst willen erhalten werde und auch wenn er selbst keinen Vorteil aus ihr ziehen sollte. Der geordnete und blühende Zustand der Gesellschaft ist ihm angenehm und er findet seine Freude daran, ihn zu betrachten. Unordnung und Zerrüttung der Gesellschaft dagegen erwecken seinen Abscheu und er ärgert sich über alles, was die Tendenz hat, solche Unordnung hervorzubringen. Er ist sich auch dessen bewußt, daß sein eigenes Interesse mit dem Gedeihen der Gesellschaft enge verknüpft ist, und daß die Glückseligkeit, ja vielleicht die Erhaltung seines Daseins, von ihrer Erhaltung abhängt. Aus all diesen Gründen hegt er darum einen Abscheu gegen alles, was dahin zielen kann, die Gesellschaft zu zerstören, und ist bereit, sich jeden Mittels zu bedienen, das ein ihm so verhaßtes und schreckliches Ereignis zu verhindern vermag. Ungerechtigkeit wirkt aber mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft zu zerstören. Darum versetzt ihn jede Handlung, in der sich Ungerechtigkeit kundgibt, in Unruhe und er eilt, sozusagen einen Prozeß zu hemmen, der, wenn man ihn um sich greifen ließe, rasch allem, was ihm teuer ist, ein Ende bereiten würde. Kann er ihm nicht durch sanfte und ruhige Mittel Einhalt tun, dann muß er ihn mit Gewalt niederschlagen und muß auf jede Weise seinem weiteren Fortgang ein Ziel setzen. Daher kommt es, sagen sie, daß er es oft sogar billigt, wenn zur Erzwingung der Gesetze der Gerechtigkeit selbst die Todesstrafe an denen vollzogen wird, die diese Gesetze verletzen. Der Störer des öffentlichen Friedens wird dadurch aus der Welt geschafft und andere werden durch sein Schicksal davon abgeschreckt, sein Beispiel nachzuahmen. Dies ist die Erklärung, die man gemeinhin dafür gibt, daß wir die Bestrafung des Unrechts billigen. Und insofern ist diese Erklärung zweifellos richtig, als wir häufig in die Notwendigkeit ver-
Zweiter Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
setzt sind, unser natürliches Gefühl von der Richtigkeit und Angemessenheit einer Bestrafung dadurch zu stärken, daß wir überlegen, wie unentbehrlich sie ist, um die Ordnung der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wenn der Schuldige im Begriffe steht, jene gerechte Vergeltung zu erleiden, die der natürliche Unwille der Menschen als ihm für seine Verbrechen gebührend erklärt, wenn der Übermut seiner Ungerechtigkeit durch die Schrecken der herannahenden Strafe gebrochen und gedemütigt ist, wenn er aufhört, der Gegenstand der allgemeinen Furcht zu sein, dann fängt er an, edlen und human gesinnten Menschen ein Gegenstand des Mitleids zu werden. Der Gedanke an die Leiden, die er nun erdulden soll, löscht das Vergeltungsgefühl aus, welches sie wegen jener Leiden empfinden, die er vordem anderen verursacht hat. Sie sind nun geneigt, ihm Nachsicht und Verzeihung angedeihen zu lassen und ihn vor der Bestrafung zu bewahren, die sie in kühleren Stunden als jene Wiedervergeltung betrachtet hatten, die eben für solche Verbrechen gebühre. Hier müssen sie darum erst jene Überlegungen über das allgemeine Gesellschaftsinteresse zu Hilfe rufen. Sie setzen den Antrieben dieser schwächlichen und parteiischen Humanität die Gebote einer anderen Humanität als Gegengewicht entgegen, die weit edler und umfassender ist. Sie erwägen, daß Barmherzigkeit gegen den Schuldigen Grausamkeit gegen den Unschuldigen ist und stellen den Gefühlen des Mitleids, die sie für einen einzelnen hegen, ein höheres Mitleid entgegen, welches alle Menschen umfaßt. Manchmal ergibt sich uns auch die Notwendigkeit, daß wir, um zu zeigen, wie richtig es ist, die allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit zu beobachten, diesen unseren Standpunkt damit verteidigen müssen, daß wir Erwägungen über die Nützlichkeit solcher Regeln für die Erhaltung der Gesellschaft anstellen. Wir hören häufig junge und zügellose Menschen die heiligsten Gebote der Moral verlachen und sich zu den verwerflichsten Grundsätzen der Lebensführung bekennen – manchmal aus der Verderbt-
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
heit, häufiger aber aus der Eitelkeit ihrer Herzen. Unser Unwille erwacht und wir brennen vor Verlangen, so verabscheuenswürdige Grundsätze zu widerlegen und an den Pranger zu stellen. Obgleich es aber die ihnen innewohnende Abscheulichkeit und Verwerflichkeit ist, was uns gegen sie ursprünglich aufbringt, so sind wir doch nicht geneigt, dies als den einzigen Grund anzugeben, warum wir sie verdammen, oder zu behaupten, dies geschehe nur, weil wir selbst sie hassen und verabscheuen. Dieser Grund, meinen wir, würde nicht stichhaltig erscheinen. Doch warum sollte es nicht stichhaltig sein, wenn wir sie hassen und verabscheuen, weil sie die natürlichen und angemessenen Gegenstände des Hasses und der Verabscheuung sind ? Wenn man uns aber fragt, warum wir nicht auf diese oder jene Weise handeln sollten, so scheint die Frage selbst schon vorauszusetzen, daß denen, die die Frage aufwerfen, diese Art zu handeln eben nicht schon um ihrer selbst willen als der natürliche und angemessene Gegenstand jenes Abscheus erscheine. Wir müssen ihnen deshalb zeigen, daß sie es aus einem anderen Grunde sein muß. Daher sehen wir uns gewöhnlich nach solchen anderen Beweisgründen um, und die erste Erwägung, die sich uns aufdrängt, ist die, daß aus einer allgemeinen Herrschaft solcher Handlungsweisen Unordnung und Zerrüttung der Gesellschaft entspringen würde. Wir unterlassen es darum selten, uns auf diesen Beweisgrund zu berufen. Obgleich es jedoch im allgemeinen keinen großen Scharfblick erfordert, um zu sehen, daß alle ungezügelten und mutwilligen Handlungsweisen die Tendenz haben, die Wohlfahrt der Gesellschaft zu zerstören, so ist es doch selten diese Erwägung, die uns zuerst gegen jene Handlungsweisen aufbringt. Alle Menschen, selbst die dümmsten und gedankenlosesten, verabscheuen Trug, Untreue und Ungerechtigkeit und freuen sich, sie bestraft zu sehen. Aber nur wenige Menschen haben über die Notwendigkeit der Gerechtigkeit für den Bestand der Gesellschaft nachgedacht, so augenfällig auch diese Notwendigkeit uns erscheinen mag.
Zweiter Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
Daß uns ursprünglich nicht gerade aus Rücksicht auf die Erhaltung der Gesellschaft an der Bestrafung derjenigen Verbrechen gelegen ist, die gegen Einzelpersonen begangen werden, kann durch eine Reihe sehr einleuchtender Überlegungen dargetan werden. Der Anteil, den wir an dem Glück und dem Wohlergehen von Einzelpersonen nehmen, entspringt in den meisten Fällen nicht aus dem Interesse, das wir dem Glück und dem Wohlergehen der Gesellschaft entgegenbringen. Der Untergang oder der Verlust eines einzelnen Menschen berührt uns nicht tiefer darum, weil dieser Mann ein Glied oder Teil der Gesellschaft ist und uns der Untergang der Gesellschaft besonders nahe gehen würde – so wenig, wie uns der Verlust einer einzelnen Guinee etwa darum berührt, weil diese Guinee ein Teil einer Summe von tausend Guineen ist, und weil uns der Verlust der ganzen Summe sehr nahe gehen würde. In keinen von beiden Fällen entspringt unsere Rücksicht für die Individuen aus unserer Rücksicht für die Gesamtheit : sondern in beiden Fällen wird unsere Rücksicht für die Gesamtheit aus den besonderen Rücksichtnahmen zusammengesetzt und gebildet, die wir den verschiedenen Individuen entgegenbringen, aus denen sie besteht. So wie wir, wenn uns unrechtmäßigerweise eine kleine Summe genommen wird, das Unrecht nicht so sehr aus der Besorgnis um die Erhaltung unseres ganzen Vermögens verfolgen, als vielmehr aus der Besorgnis um eben jene bestimmte Summe, die wir eingebüßt haben, ebenso verlangen wir, wenn ein einzelner Mensch verletzt oder getötet wird, die Bestrafung des Unrechts, das ihm zugefügt wurde, nicht so sehr aus Anteilnahme für das allgemeine Gesellschaftsinteresse, als vielmehr aus Anteilnahme gerade für jenes Individuum, dem das Unrecht angetan wurde. Indessen muß man beachten, daß diese Anteilnahme, die wir für den einzelnen fühlen, nicht notwendig – sei es auch nur in geringem Grade – eines jener innigeren Gefühle in sich schließen muß, die gemeinhin Liebe, Achtung und Zuneigung genannt werden, und durch
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
die wir unsere besonderen Freunde und Bekannten auszeichnen. Die Anteilnahme, die hier gefordert wird, ist nicht mehr als jenes allgemeine Mitgefühl, daß wir für jedermann schon bloß darum hegen, weil er unser Mitmensch ist. Wir stimmen sogar dem Vergeltungsgefühl eines uns verhaßten Menschen zu, sobald er durch Personen verletzt oder beleidigt wird, die er nicht herausgefordert, und denen er keine Veranlassung dazu gegeben hat. Die Mißbilligung, die wir seinem Charakter und seinem Betragen sonst entgegenbringen, hindert uns in diesem Falle nicht – oder wenigstens nicht gänzlich – Mitgefühl mit seinem durchaus begreiflichen Unwillen zu empfinden ; bei Menschen allerdings, die entweder nicht völlig unparteiisch oder nicht gewöhnt sind, ihre natürlichen Empfindungen durch allgemeine Grundsätze richtigzustellen und zu regeln, kann jene Mißbilligung leicht jedes Mitgefühl niederschlagen. Es gibt freilich Fälle, in denen wir bloß im Hinblick auf das allgemeine Interesse der Gesellschaft strafen und Bestrafungen gutheißen, da dieses, wie wir meinen, auf andere Weise nicht geschützt werden kann. Von dieser Art sind all die Bestrafungen, die wegen Vergehen gegen die sogenannte bürgerliche Polizeiordnung oder gegen die Kriegszucht verhängt werden. Solche Verbrechen schädigen nicht unmittelbar oder direkt eine Einzelperson ; ihre entfernteren Folgen jedoch bringen, wie man annimmt, beträchtliche Ungelegenheiten oder sogar große Ordnungsstörungen in der Gesellschaft hervor oder könnten doch wenigstens solche erzeugen. So wird zum Beispiel ein Wachposten, der während seines Dienstes einschläft, nach den Kriegsgesetzen mit dem Tode bestraft, weil solche Unachtsamkeit das ganze Heer in Gefahr bringen kann. Diese Strenge kann in vielen Fällen notwendig und deshalb gerecht und angemessen erscheinen. Wenn die Erhaltung eines Individuums unvereinbar ist mit der Sicherheit einer großen Menge, dann kann nichts gerechter sein, als daß die Vielen dem Einen vorgezogen werden. So notwendig aber auch
Zweiter Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
immer diese Bestrafung sein mag, so wird sie uns doch stets als äußerst strenge erscheinen. Die Bosheit und Abscheulichkeit, die in dem Verbrechen selbst liegt, scheint uns so gering und die Bestrafung so schwer zu sein, daß es unser Herz eine starke Selbstüberwindung kostet, sich mit dieser Strafe abzufinden. Eine solche Unachtsamkeit erscheint zwar sehr tadelnswert, keineswegs jedoch erregt der Gedanke an dieses Verbrechen von Natur aus ein solches Vergeltungsgefühl in uns, daß er uns antreiben könnte, so fürchterliche Rache zu nehmen. Ein human denkender Mensch muß sich erst fassen, muß sich selbst überwinden und seine ganze Stärke und Entschlossenheit aufbieten, ehe er es über sich bringt, eine solche Strafe zu verhängen, oder sie gutzuheißen, falls sie von anderen verhängt wurde. Dagegen betrachtet er keineswegs mit den gleichen Augen die gerechte Bestrafung eines Menschen, der den gemordet hat, dem er zu Dank verpflichtet war, oder der gar zum Vatermörder geworden ist. In diesem Falle stimmt sein Herz mit Eifer, ja mit Freude der gerechten Wiedervergeltung zu, die für solch abscheuliche Verbrechen zu gebühren scheint, und er würde, falls die Täter durch irgendeinen Zufall der Strafe entgehen sollten, im höchsten Grade empört und enttäuscht sein. Gerade die Verschiedenheit der Gefühle, mit denen der Zuschauer jene zwei Arten von Bestrafungen betrachtet, ist ein Beweis dafür, daß die Billigung der Bestrafung in dem ersten Falle aus ganz anderen Gründen erfolgt als im zweiten. Er sieht in dem Wachposten ein unglückliches Opfer, das zwar der Sicherheit der Menge geopfert werden muß und auch geopfert werden soll, aber er würde doch immer noch von Herzen froh sein, wenn er ihn retten könnte, und es tut ihm nur leid, daß das Interesse der Vielen dem entgegenstehen würde. Sollte jedoch jener Mörder der Bestrafung entgehen, dann würde dies seinen höchsten Unwillen erregen und er würde Gott anrufen, in einer anderen Welt jenes Verbrechen zu rächen, das schon auf Erden zu züchtigen, die Ungerechtigkeit der Menschen verabsäumt hat.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Denn es verdient wohl beachtet zu werden, daß wir so weit davon entfernt sind, uns einzubilden, das Unrecht solle in diesem Leben bloß um der Ordnung der Gesellschaft willen bestraft werden – da diese Ordnung nicht anders aufrechterhalten werden kann –, daß uns vielmehr unserer Meinung nach die Natur selbst hoffen lehrt, und die Religion, wie wir glauben, uns zu erwarten berechtigt, das Unrecht werde sogar noch in einem künftigen Leben bestraft werden. Unsere Überzeugung von seiner Strafbarkeit verfolgt es, wenn ich so sagen darf, sogar über das Grab hinaus, obzwar seine Bestrafung dort nicht als Beispiel dienen kann, um die übrigen Menschen davon abzuschrecken, sich hier der gleichen Taten schuldig zu machen, da sie doch von dieser Bestrafung nichts sehen und nichts wissen. Und dennoch glauben wir, Gottes Gerechtigkeit fordere es, daß er nach diesem Leben die Beleidigungen der Witwen und Waisen räche, die hier so oft straflos gekränkt werden. In jeder Religion und in jedem Aberglauben, die die Welt jemals gesehen hat, hat es einen Tartarus gegeben ebenso wie ein Elysium, einen Platz, der vorgesehen war für die Bestrafung der Bösen ebenso, wie einen Platz für die Belohnung der Gerechten.
DRITTER ABSCHNIT T
Über den Einfluß des Zufalls auf die Empfindungen der Menschen in Hinsicht der Verdienstlichkeit oder Tadelnswürdigkeit der Handlungen einleitung Welches Lob oder welcher Tadel auch immer einer Handlung gebühren mag, beides muß sich entweder erstens auf die Absicht und die innerste Gesinnung richten, aus der sie hervorgeht, oder zweitens auf die äußere Tat oder die Körperbewegung, welche
Zweiter Teil · Dritter Abschnitt · Einleitung
durch diese Gesinnung veranlaßt wurde, oder schließlich auf die guten oder bösen Folgen, die wirklich und tatsächlich aus ihr hervorgehen. Diese drei verschiedenen Momente enthalten das ganze Wesen und alle bedeutungsvollen Umstände der Handlung, und in ihnen muß darum die Grundlage für jede gute oder schlechte Beschaffenheit liegen, die man der Handlung zuerkennen kann. Daß die beiden letztgenannten dieser drei Umstände nicht die Grundlage irgendwelchen Lobes oder Tadels abgeben können, ist mehr als einleuchtend und das Gegenteil ist auch niemals von irgend jemandem behauptet worden. Die äußere Tat oder Körperbewegung ist bei den unschuldigsten und bei den tadelnswürdigsten Handlungen ganz die gleiche. Derjenige, der nach einem Vogel schießt, vollführt die gleiche äußere Bewegung wie der, der einen Menschen erschießt : beide ziehen den Hahn eines Gewehres ab. Die Folgen, die wirklich und tatsächlich aus einer Handlung hervorgehen, sind sogar – wenn das möglich ist – noch belangloser für Lob oder Tadel als die äußere Körperbewegung. Da sie nicht vom Handelnden abhängen, sondern vom Zufall, können sie nicht die angemessene Grundlage für eine Empfindung abgeben, deren eigentliche Gegenstände Charakter und Verhalten des Handelnden sind. Die einzigen Folgen, für die er verantwortlich sein kann, oder auf Grund deren er irgendeine Billigung oder Mißbilligung verdienen kann, sind diejenigen, welche auf die eine oder andere Weise beabsichtigt waren, oder diejenigen, die doch wenigstens Zeugnis ablegen von einer guten oder schlechten Beschaffenheit der innersten Absicht, aus der heraus er handelte. Auf die Absicht oder auf die Gesinnung, also auf die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit, die Nützlichkeit oder Schädlichkeit des Vorhabens muß sich in letzter Linie alles Lob und aller Tadel, alle Billigung oder Mißbilligung – sie mag welcher Art immer sein – richten, die mit Recht einer Handlung zuerkannt werden können.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Wenn dieser Grundsatz so in abstrakten und allgemeinen Ausdrücken aufgestellt wird, dann dürfte es niemanden geben, der ihm nicht zustimmen würde. Die von selbst einleuchtende Gerechtigkeit dieses Grundsatzes wird von aller Welt anerkannt und nicht eine einzige abweichende Stimme erhebt sich unter allen Menschen. So verschieden auch immer die zufälligen, unbeabsichtigten und unvorhergesehenen Folgen verschiedener Handlungen sein mögen, so wird doch jedermann zugeben, daß die Verdienstlichkeit oder die Tadelnswürdigkeit, die in den Handlungen liegt, dennoch immer die gleiche ist, und daß der Handelnde stets in gleicher Weise mit Recht Gegenstand der Dankbarkeit oder des Vergeltungsgefühls wird, wenn nur die Absichten oder Gesinnungen, aus denen die Handlungen erflossen, auf der einen Seite gleich schicklich und gleich wohlwollend, auf der anderen Seite gleich unschicklich und gleich übelwollend waren. So fest wir aber auch anscheinend von der Wahrheit dieses gerechten Grundsatzes überzeugt sein mögen, solange wir ihn auf die angegebene Weise in abstracto ins Auge fassen, so werden doch, wenn wir zur Betrachtung einzelner konkreter Fälle schreiten, die tatsächlichen Folgen, die zufällig aus einer Handlung entspringen, einen sehr großen Einfluß auf unser Gefühl von ihrer Verdienstlichkeit oder Tadelnswürdigkeit üben, und sie werden nahezu immer diese unsere Empfindung entweder steigern oder herabsetzen. Bei genauer Prüfung werden wir vielleicht kaum in einem einzigen Falle finden, daß sich unsere Gefühle ganz und gar durch jene Regel bestimmen lassen, die, wie wir alle anerkennen, doch ausschließlich unsere Gefühle bestimmen sollte. Ich gehe nun dazu über, diese Regelwidrigkeit der Empfindung näher zu erörtern, die zwar jedermann erlebt, die jedoch kaum irgend jemand sich genügend zum Bewußtsein bringt, und die sich niemand gerne eingesteht. Ich will hierbei erstens die Ursachen betrachten, die sie veranlassen, oder den Mechanismus, durch
Zweiter Teil · Dritter Abschnitt · Erstes Kapitel
den die Natur sie hervorbringt ; sodann zweitens das Ausmaß ihres tatsächlichen Einflusses und schließlich zuletzt den Zweck, dem sie entspricht, oder den Erfolg, den der Schöpfer der Natur durch sie beabsichtigt hat.
erstes kapitel Über die Ursachen dieses Einflusses des Zufalls Die Ursachen von Schmerz und Lust – welche immer dies auch sein und wie immer sie auch wirken mögen – scheinen diejenigen Gegenstände zu bilden, die bei allen Geschöpfen jene beiden Affekte, Dankbarkeit und Vergeltungsgefühl, unmittelbar erwecken. Diese werden ebenso durch unbelebte Gegenstände wie durch belebte hervorgerufen. Wir sind einen Augenblick lang sogar über den Stein ärgerlich, der uns verletzt. Ein Kind schlägt ihn, ein Hund kläfft ihn an und ein cholerischer Mann ist imstande, ihn zu verfluchen. Die geringste Überlegung freilich bringt uns von diesen Gefühlen wieder zurecht und wir werden uns bald wieder dessen bewußt, daß ein Ding, das selbst nichts fühlt, ein äußerst unpassender Gegenstand der Rache ist. Wenn das Unheil indessen sehr groß ist, dann wird uns der Gegenstand, der es verursacht hat, auch sogar später noch zuwider sein und wir werden eine Freude daran finden, ihn zu verbrennen oder zu vernichten. Auf diese Weise würden wir etwa das Werkzeug behandeln, das zufällig den Tod unseres Freundes verursacht hat, und wir würden uns häufig einer Art von Unmenschlichkeit schuldig fühlen, wenn wir es unterließen, diese sinnlose Rache an ihm zu vollführen. In gleicher Weise empfinden wir eine Art von Dankbarkeit für jene unbelebten Dinge, die uns große oder wiederholte Freude verursacht haben. Der Seemann, der sofort, nachdem er das feste Land erreicht hat, nun mit der Planke, auf der er eben dem Schiffbruch entronnen ist, sein Feuer unterhalten wollte, würde
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
sich, wie uns scheint, einer unnatürlichen Handlungsweise schuldig machen. Wir würden erwarten, daß er die Planke eher mit Sorgfalt und Liebe aufbewahren werde als ein Andenken, das ihm selbst einigermaßen teuer ist. Der Mensch gewinnt sogar eine Tabakdose lieb, ein Federmesser, einen Spazierstock, die er lange in Gebrauch gehabt hat, und empfindet so etwas wie wirkliche Liebe und Zuneigung zu ihnen. Wenn er sie zerbricht oder verliert, quält ihn das viel mehr, als es der Höhe des Schadens entsprechen würde. Das Haus, das wir lange bewohnt haben, den Baum, an dessen Grün und an dessen Schatten wir uns lange erfreut haben, betrachten wir mit einer Art von Achtung, wie sie uns eben solchen Wohltätern zu gebühren scheint. Der Einsturz des Hauses wie das Absterben des Baumes erfüllt uns mit einer eigentümlichen Schwermut, auch wenn wir keinen Schaden dadurch erleiden sollten. Der antike Glaube an Dryaden und Laren – eine Art Genien der Bäume und der Häuser – war wahrscheinlich ursprünglich durch diese eigentümliche Zuneigung veranlaßt worden, welche die Urheber dieses Aberglaubens für diese Gegenstände empfanden, eine Zuneigung, die sinnlos zu sein schien, wenn es nichts Lebendiges gab, das ihnen innewohnte. Damit jedoch irgend etwas mit Recht Gegenstand der Dankbarkeit oder des Vergeltungsgefühls werden kann, dazu ist Voraussetzung, nicht nur, daß es Lust oder Schmerz verursacht hat, sondern ebenso auch, daß es fähig ist, selbst Lust oder Schmerz zu fühlen. Fehlt einem Objekt diese zweite Eigenschaft, dann kann es uns keinerlei Befriedigung gewähren, jene Affekte an ihm auszulassen. Wie diese Affekte durch die Ursachen von Lust und Schmerz erregt wurden, so liegt ihre Befriedigung darin, diese Gefühle in denjenigen Wesen zur Vergeltung wieder hervorzurufen, die sie veranlaßt haben ; dies zu versuchen, bleibt nun solchen Gegenständen gegenüber sinnlos, die selbst keine Gefühlsfähigkeit besitzen. Darum sind Tiere weniger ungeeignet, Gegenstände der Dankbarkeit und des Vergeltungsgefühls
Zweiter Teil · Dritter Abschnitt · Erstes Kapitel
zu werden, als unbelebte Dinge. Man züchtigt einen Hund, der gebissen und einen Ochsen, der jemanden gestoßen hat. Wenn sie den Tod eines Menschen verursacht haben, dann geben sich weder die Öffentlichkeit noch die Angehörigen des Getöteten zufrieden, bevor die Tiere selbst aus dem Leben geschafft wurden ; und dies geschieht nicht bloß um der Sicherheit der Lebenden willen, sondern in gewissem Maße auch, um das dem nunmehr Toten angetane Unrecht zu rächen. Umgekehrt werden solche Tiere, die ihren Herren beträchtliche Dienste geleistet haben, zu Gegenständen einer sehr lebhaften Dankbarkeit. Wir finden die Grausamkeit jenes Offiziers empörend, von dem in dem »Türkischen Spion« erzählt wird, er habe das Roß, das ihn zuvor quer über eine Meeresbucht getragen hatte, durch einen Stich getötet, damit es nicht später einmal einen anderen Menschen bei einem ähnlichen Abenteuer in gleicher Weise auszeichne. Obgleich jedoch Tiere nicht nur zu Ursachen von Lust und Schmerz werden, sondern auch selbst fähig sind, diese Gefühle zu empfinden, sind sie doch weit davon entfernt, vollkommen geeignete Gegenstände der Dankbarkeit oder des Vergeltungsgefühles darzustellen ; wenn wir diese Affekte ihnen gegenüber äußern, so fühlen wir doch immer, daß zu ihrer vollen Befriedigung irgendetwas fehlt. Was die Dankbarkeit in erster Linie herbeisehnt, ist nicht nur, den Wohltäter seinerseits Lust empfinden zu lassen, sondern ihm auch zum Bewußtsein zu bringen, daß er dieses Lohnes wegen seines früheren Verhaltens teilhaftig wird, ihn dazu zu bringen, daß er über dieses Verhalten Freude empfindet, und ihm die Genugtuung zu bereiten, daß die Person, der er seine guten Dienste gewährt hat, dieser nicht unwürdig war. Was uns an unserem Wohltäter mehr entzückt als alles andere, das ist die Übereinstimmung zwischen seinen und unseren Gefühlen in bezug auf etwas, was uns so nahe geht, wie der Wert unseres eigenen Charakters und die Achtung, die uns gebührt. Wir freuen uns, einen Menschen zu finden, der uns so schätzt,
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
wie wir uns selbst schätzen, und der uns vor allen übrigen Menschen durch eine Aufmerksamkeit auszeichnet, die derjenigen nicht ganz unähnlich ist, mit der wir uns selbst vor ihnen auszeichnen. Diese für uns so angenehmen und schmeichelhaften Gefühle in ihm zu erhalten, ist einer der Hauptzwecke, die wir durch die Gegenleistungen erreichen wollen, welche wir ihm zu erweisen bereit sind. Ein vornehmer Geist verschmäht oft den eigennützigen Gedanken, durch das, was man die Aufdringlichkeiten der Dankbarkeit nennen könnte, neue Gunstbezeigungen von seinem Wohltäter zu erpressen. Seine Achtung aber sich zu erhalten und sie womöglich noch zum Steigen zu bringen, das ist eine Art von Eigennutz, die auch der größte Geist nicht seiner Aufmerksamkeit unwert erachten würde. Und darin liegt der Grund für jene Erscheinung, die ich früher schon angemerkt habe, daß nämlich – mögen die Dienste, die unser Wohltäter uns erwiesen hat, noch so groß sein – unsere Dankbarkeit doch immer merklich vermindert wird, sobald wir seine Beweggründe nicht gutheißen können, und sobald uns sein Betragen und sein Charakter unserer Billigung unwürdig erscheinen. Eine Auszeichnung, die von einem solchen Manne kommt, schmeichelt uns weniger – und uns die Achtung eines so schwachen oder so unwürdigen Gönners zu erhalten, scheint uns eine Angelegenheit zu sein, die es nicht verdient, daß man sie um ihrer selbst willen anstrebe. Umgekehrt ist das Ziel, worauf das Vergeltungsgefühl sich in erster Linie richtet, nicht so sehr das, unseren Feind nun seinerseits Schmerz erdulden zu lassen, als vielmehr ihm zum Bewußtsein zu bringen, daß er ihn erduldet wegen seines früheren Verhaltens, ihn dahin zu bringen, daß er über dieses Betragen Reue empfindet, und ihn fühlen zu lassen, daß die Person, die er beleidigt hat, es nicht verdiente, in dieser Weise behandelt zu werden. Was uns in erster Linie gegen den Mann aufbringt, der uns verletzt oder verhöhnt, ist die geringe Achtung, die er für uns zu hegen
Zweiter Teil · Dritter Abschnitt · Erstes Kapitel
scheint, die unvernünftige Bevorzugung, in der er sich selbst über uns stellt, und jene unsinnige Selbstliebe, in der er sich einzubilden scheint, daß andere Leute jederzeit seiner Bequemlichkeit oder seiner Laune aufgeopfert werden dürfen. Die schreiende Unschicklichkeit dieses Verhaltens, die grobe Unverschämtheit und Ungerechtigkeit, die es offenbar in sich schließt, empört und erbittert uns oft mehr, als all das Übel, das wir erduldet haben. Eine gerechtere Empfindung in ihm zu erwecken von dem, was anderen Menschen gebührt, ihm zum Bewußtsein zu bringen, was er uns schuldet und welches Unrecht er uns angetan hat, das ist häufig das Hauptziel, das unsere Rache anstrebt, und diese bleibt darum immer unvollständig, wenn sie dieses Ziel nicht erreichen kann. Wenn es sich zeigt, daß unser Feind uns kein Unrecht angetan hat, wenn wir dessen inne werden, daß er ganz richtig gehandelt hat, daß wir in seiner Lage genau das gleiche getan hätten, und daß wir all das Übel, das er uns zufügte, wirklich um ihn verdient haben, in diesem Fall können wir, sofern wir den mindesten Funken von Unparteilichkeit oder Gerechtigkeit besitzen, keinerlei Vergeltungsgefühl gegen ihn hegen. Ehe also ein Ding vollständig und mit Recht zum Gegenstand der Dankbarkeit oder des Vergeltungsgefühls werden kann, muß es drei verschiedene Eigenschaften besitzen. Erstens muß es in dem einen Falle die Ursache von Lust, im anderen die Ursache von Schmerz sein. Zweitens muß es fähig sein, diese Empfindungen selbst zu fühlen. Und drittens muß es nicht nur jene Empfindungen hervorgebracht haben, sondern es muß sie mit Absicht hervorgebracht haben, und zwar aus einer Absicht heraus, die in dem einen Falle gebilligt, im anderen Falle mißbilligt wird. Durch die erste dieser Eigenschaften wird ein Objekt fähig, die Affekte der Dankbarkeit und des Vergeltungsgefühls zu erregen ; durch die zweite wird es erst fähig, diesen Affekten Genugtuung zu gewähren, die dritte Eigenschaft ist nicht nur zur vollen Befriedigung dieser Affekte notwendig, sondern bildet auch – da sie eine
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Lust oder Unlust erweckt, die ganz eigentümlich und besonders heftig ist – eine weitere erregende Ursache jener Affekte. Da also das, was auf diese oder jene Weise Lust oder Schmerz hervorruft, die einzige Erregungsursache von Dankbarkeit und Vergeltungsgefühl ist, erklärt es sich, daß einem Menschen – mögen die Absichten auf der einen Seite auch noch so richtig und wohlwollend, auf der anderen Seite noch so unrecht und übelwollend sein – dennoch, wenn er das beabsichtigte Gut oder Übel nicht hervorzubringen vermochte, im einen Falle eine geringere Dankbarkeit, im anderen ein geringeres Vergeltungsgefühl zu gebühren scheint, da eben in beiden Fällen eine der Erregungsursachen mangelt. Und umgekehrt mag auch in den Absichten eines Menschen kein lobenswerter Grad von Wohlwollen auf der einen Seite, oder kein tadelnswerter Grad von Bosheit auf der anderen Seite gelegen sein, wenn aber seine Handlungen dennoch ein bedeutendes Gut oder ein bedeutendes Übel hervorbringen, dann wird trotzdem in dem einen Falle leicht eine gewisse Dankbarkeit und in dem anderen Falle ein gewisses Vergeltungsgefühl gegen ihn in uns wach werden, da eben eine der Erregungsursachen dieser Affekte bei beiden Anlässen eingetreten ist. Im ersten Falle scheint ein Schatten von Verdienst, im zweiten Falle ein Schatten von Schuld auf ihn zu fallen. Und da die Folgen der Handlungen ganz und gar unter der Herrschaft des Zufalls stehen, entsteht aus diesem Umstand der Einfluß des Zufalls auf die Empfindungen der Menschen über Verdienst und Schuld.
zweites kapitel Über das Ausmaß dieses Einflusses des Zufalls Dieser Einfluß des Zufalls wirkt erstens dahin, unser Gefühl für die Verdienstlichkeit oder die Verwerflichkeit solcher Handlungen zu vermindern, die aus den lobenswertesten oder tadelnswer-
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testen Absichten entspringen, denen es aber nicht gelingt, die Wirkungen, auf die sie abzielten, zu erreichen ; und er wirkt zweitens dahin, unser Gefühl für die Verdienstlichkeit oder die Verwerflichkeit von Handlungen über jenes Maß hinaus zu steigern, wie es den Beweggründen oder Neigungen angemessen wäre, aus denen sie hervorgehen, sobald sie nur zufällig außerordentliche Lust oder außerordentlichen Schmerz veranlassen. 1. Ich behaupte also erstens : mögen die Absichten eines Menschen noch so richtig und wohlwollend in dem einen Falle, noch so unrecht und übelwollend in dem anderen Falle sein, so scheint uns doch, wenn sie ihre Wirkungen nicht zu erreichen vermochten, das Verdienst des betreffenden Menschen im einen Falle unvollkommen zu sein, wie uns im anderen Falle seine Schuld nicht vollständig zu sein dünkt. Und diese Regelwidrigkeit der Empfindungen findet sich nicht nur in den Gefühlen derjenigen, die durch die Folgen einer Handlung unmittelbar berührt werden. Sie findet sich bis zu einem gewissen Grade sogar in den Gefühlen des unparteiischen Zuschauers. Ein Mann, der sich für einen anderen um eine Stelle bewirbt, ohne sie jedoch zu erhalten, wird als dessen Freund angesehen und scheint uns seine Liebe und Zuneigung zu verdienen. Derjenige aber, der sich nicht nur um die Stellung bewirbt, sondern dem anderen wirklich die Stellung verschafft, der wird im eigentlichen Sinne als dessen Gönner und Wohltäter betrachtet und hat Anspruch auf seine Verehrung und Dankbarkeit. Derjenige, dem der Dienst erwiesen wurde, darf sich, unserer Meinung nach, mit einigem Recht dem Ersterwähnten gegenüber als auf gleichem Fuße stehend ansehen : wir könnten jedoch seinen Empfindungen nicht beistimmen, wenn er sich dem Zweiten gegenüber nicht untergeordnet und ergeben fühlte. Es ist freilich allgemein üblich, zu sagen, daß wir demjenigen ebenso verpflichtet seien, der sich bestrebt hat, uns einen Dienst zu erweisen, wie demjenigen, der es tatsächlich getan hat. Dies ist die Redensart, die wir beständig gegenüber jedem erfolg-
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
losen Versuch dieser Art gebrauchen, die aber wie alle anderen feinen Redensarten, nicht so ganz wörtlich genommen werden darf. Ein edelgesinnter Mann mag häufig für den Freund, dessen wohltätige Absichten fehlgeschlagen sind, nahezu ebensoviel Dankbarkeit empfinden, wie für denjenigen, dessen Bemühungen von Erfolg begleitet waren : und je edler er gesinnt ist, desto mehr werden sich die Empfindungen, welche er für diese beiden hegt, der gleichen Stärke nähern. Wahrhaft edelmütigen Menschen bereitet es mehr Freude, sich von solchen Personen geliebt und geachtet zu wissen, die sie selbst der Achtung für wert halten, und dies erregt in höherem Grade ihre Dankbarkeit, als alle Vorteile, die sie jemals aus solchen Empfindungen für sich erwarten können. Wenn sie diese Vorteile verlieren, so gehen sie darum offenbar nur einer Lappalie verlustig, die kaum der Beachtung wert ist. Immerhin – sie verlieren dabei doch noch etwas. Darum ist ihre Freude und infolgedessen ihre Dankbarkeit nicht ganz vollständig ; demgemäß wird – vorausgesetzt, daß in dem Falle, in welchem die Bemühungen des Freundes fehlschlugen, und in dem, wo sie von Erfolg begleitet waren, alle übrigen Umstände gleich sind – doch sogar in dem edelsten und besten Gemüt ein gewisser kleiner Unterschied der Zuneigung zugunsten des erfolgreichen Freundes sich geltend machen. Ja, die Ungerechtigkeit der Menschen in dieser Beziehung geht sogar noch weiter : wenn nämlich die beabsichtigte Wohltat zwar wirklich zustande gebracht wurde, jedoch nicht durch einen einzelnen Wohltäter, dann glauben die Menschen gern, dem Manne gebühre weniger Dankbarkeit, der – wenn auch mit den besten Absichten in der Welt – doch nicht mehr tun konnte, als die Angelegenheit ein bißchen zu fördern. Da sich in diesem Falle ihre Dankbarkeit unter die verschiedenen Personen verteilt, die zu ihrer Freude beitrugen, scheint jedem einzelnen von diesen nur ein geringerer Anteil an ihrer Dankbarkeit zuzukommen. So ein Mann, so hören wir gewöhnlich sagen, beabsichtigte zweifellos, uns einen
Zweiter Teil · Dritter Abschnitt · Zweites Kapitel
Dienst zu erweisen, und wir glauben wirklich, daß er sich, soweit seine Kräfte reichten, um dieses Vorhaben bemühte. Indes sind wir nicht ihm für die Wohltat verpflichtet, da ja, wäre nicht die Mithilfe anderer dazugekommen, alles, was er hätte tun können, doch niemals den Erfolg zustande gebracht haben würde. Diese Überlegung sollte ihrer Meinung nach sogar in den Augen des unparteiischen Zuschauers ihre Dankesschuld jenem Manne gegenüber geringer erscheinen lassen. Aber auch derjenige selbst, der sich bestrebte, einem anderen eine Wohltat zu erweisen, ohne daß seine Bemühungen von Erfolg begleitet gewesen wären, hat keineswegs das gleiche Zutrauen zu der Dankbarkeit desjenigen, dem er gefällig zu sein dachte, noch hat er das gleiche Gefühl von seinem eigenen Verdienst ihm gegenüber, wie es der Fall sein würde, wenn seine Bemühungen von Erfolg gekrönt worden wären. Selbst das Verdienst großer Begabungen und Geschicklichkeiten, die irgendein zufälliges Ereignis daran gehindert hat, sich in den entsprechenden Leistungen auszuwirken, scheint sogar denjenigen, die von ihrer Fähigkeit, solche Leistungen hervorzubringen, vollkommen überzeugt sind, einigermaßen unvollständig. Der General, der durch den Neid der Minister daran gehindert wurde, einen großen Vorteil über die Feinde seines Landes zu erringen, wird es von dieser Zeit an stets bedauern, eine solche günstige Gelegenheit versäumt zu haben. Und er bedauert dies nicht nur mit Rücksicht auf das allgemeine Wohl. Er klagt darüber, daß er daran gehindert wurde, eine Tat zu vollbringen, die sowohl in seinen Augen als in den Augen aller anderen seinem Ansehen einen neuen Glanz verliehen hätte. Es gewährt weder ihm, noch anderen Genugtuung, Überlegungen darüber anzustellen, daß der Plan oder die Absicht alles war, was von ihm abhing, daß es keine größeren Fähigkeiten erfordert hätte, den Plan auszuführen, als dazu nötig waren, denselben zu konzipieren, daß jedermann zugab, er sei in jeder Hinsicht fähig gewesen, sein Vorhaben auszuführen, und daß der Erfolg unfehlbar war, hätte man
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
ihm gestattet, seinen Plan weiter zu verfolgen. Er hat ihn eben doch nicht ausgeführt und mag er auch all die Billigung verdienen, die einer großen und erhabenen Absicht gebührt, es fehlt ihm doch das wirkliche Verdienst, eine große Tat vollbracht zu haben. Es wird als eine der gehässigsten Ungerechtigkeiten angesehen, wenn einem Manne die Leitung einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse entzogen wird, nachdem er sie schon beinahe zum Abschlusse gebracht hatte. Da er schon so viel getan hatte, hätte man ihm, unserer Ansicht nach, auch das volle Verdienst überlassen sollen, die Angelegenheit zu einem glücklichen Abschluß zu bringen. Man hat es dem Pompeius vorgeworfen, daß er nach den Siegen des Lucullus sich einmischte und so die Lorbeeren einheimste, die dem Glück und der Tapferkeit eines anderen gebührten. Der Ruhm des Lucullus erlitt, wie es scheint, sogar in den Augen seiner Freunde eine Einbuße, als man ihm nicht gestattete, jene Eroberungen zu vollenden, die doch durch seine Führung und durch seinen Mut so weit gefördert worden waren, daß es nun in der Macht beinahe eines jeden stand, sie zu Ende zu bringen. Einen Architekten kränkt es ungemein, wenn seine Pläne entweder überhaupt nicht ausgeführt oder wenn sie so weitgehend geändert werden, daß die Gesamtwirkung des Gebäudes dadurch verdorben wird. Und doch ist der Plan alles, was von dem Baumeister abhängt. Die ganze Größe seines Genies enthüllt sich wahrhaft guten Kunstrichtern in dem Plan ebenso vollständig wie in der wirklichen Ausführung. Dennoch macht ein Plan auch den Verständigsten nicht die gleiche Freude wie ein edles und prachtvolles Gebäude. Sie können vielleicht gleich viel Geschmack und Genie im Plan entdecken wie in dem Gebäude selbst. Aber die Wirkung von Plan und Gebäude ist doch ungeheuer verschieden und der Genuß, den uns die Betrachtung des Planes bereiten kann, erreicht niemals das Staunen und die Bewunderung, die mitunter durch den Anblick des Gebäudes selbst hervorgerufen werden. Wir mögen von manchen Leuten
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glauben, daß ihre Talente denen eines Cäsar oder Alexander überlegen seien, und daß sie in den gleichen Situationen noch größere Taten vollbringen würden. Solange sie jedoch jene Taten nicht vollbracht haben, betrachten wir sie nicht mit jenem Erstaunen und jener Bewunderung, mit denen diese beiden Helden zu allen Zeiten und bei allen Völkern angesehen wurden. Die ruhige verstandesmäßige Beurteilung mag ihnen höhere Billigung zuerkennen, aber es fehlt ihnen doch an dem Glanz großer Taten, damit sie uns blenden und begeistern könnten. Die überragende Größe von Tugenden und Talenten macht selbst auf solche Menschen, die diese Größe anerkennen, nicht den gleichen Eindruck, wie die überragende Größe der vollbrachten Tat. Wie also das Verdienst eines erfolglosen Versuches, Gutes zu tun, in den Augen der undankbaren Menschen eben durch das Mißlingen anscheinend vermindert wird, so erscheint die Verwerflichkeit eines erfolglosen Versuches, Böses zu tun, in gleicher Weise geringer. Kaum jemals wird die Absicht, ein Verbrechen zu begehen, so klar sie auch immer erwiesen sein mag, mit derselben Strenge bestraft wie die tatsächliche Verübung des Verbrechens. Der Fall des Hochverrats bildet vielleicht die einzige Ausnahme. Da dieses Verbrechen unmittelbar die Existenz des Staates betrifft, so ist der Staat naturgemäß gegen dieses Verbrechen strenger als gegen jedes andere. In der Bestrafung des Hochverrats ahndet der Souverain ein Unrecht, das unmittelbar ihm selbst zugefügt wurde : in der Bestrafung anderer Verbrechen ahndet er ein Unrecht, das anderen Menschen angetan wurde. Im ersten Falle handelt es sich um sein eigenes Vergeltungsgefühl, dem er freien Lauf läßt, im zweiten um das Vergeltungsgefühl seiner Untertanen, an dem er nur durch Sympathie Anteil nimmt. Da er also im ersten Falle in eigener Sache richtet, wird er hier sehr leicht in seinen Bestrafungen heftiger und blutiger sein, als der unparteiische Zuschauer es gutheißen kann. Sein Vergeltungsgefühl erwacht hier auch bei geringeren Anlässen und wartet nicht immer wie in an-
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deren Fällen, auf die Verübung des Verbrechens oder auch nur auf den Versuch, es zu begehen. In manchen Staaten wird schon eine hochverräterische Verschwörung, die zwar noch zu keinerlei Taten, sogar nicht einmal zu Versuchshandlungen geführt hat, ja in manchen Staaten wird selbst eine hochverräterische Unterredung in gleicher Weise bestraft wie die wirkliche Ausführung des Hochverrats. In Hinsicht auf alle anderen Verbrechen jedoch wird die bloße Absicht, der noch kein Versuch gefolgt ist, selten überhaupt und niemals strenge bestraft. Man könnte nun freilich sagen, eine verbrecherische Absicht und eine verbrecherische Handlung setzen nicht notwendig denselben Grad von Verderbtheit voraus und sollten schon darum nicht der gleichen Strafe unterworfen werden. Wir sind fähig, könnte man sagen, mancherlei Dinge zu beschließen und sogar Maßnahmen zu ihrer Durchführung zu ergreifen und fühlen uns doch, wenn es dazu kommt, durchaus unfähig, diese Pläne auszuführen. Aber dieser Grund kann dann nicht statthaben, wenn die Absicht schon bis zum letzten Stadium des Versuchs fortgeführt wurde. Dennoch wird ein Mann, der eine Pistole auf seinen Feind abfeuert, ihn dabei aber verfehlt, kaum nach dem Recht irgendeines Staates mit dem Tode bestraft. Nach dem alten Recht von Schottland ist in dem Falle, daß einer den anderen zwar verwundet hat, der Tod aber nicht innerhalb einer bestimmten Zeit eintritt, der Mörder nicht der Todesstrafe verfallen. Indessen erhebt sich doch das Vergeltungsgefühl der Menschen gegen dieses Verbrechen zu solcher Höhe und ihr Schrecken vor einem Mann, der sich fähig gezeigt hat, es zu begehen, ist so groß, daß in allen Staaten schon der Versuch dieses Verbrechens mit Todesstrafe bedroht sein sollte. Der Versuch, unbedeutendere Verbrechen zu begehen, wird beinahe immer sehr leicht bestraft und manchmal überhaupt nicht mit Strafe belegt. Der Dieb, dessen Hand in seines Nachbarn Tasche ertappt wird, bevor er etwas daraus entwendet hat, wird bloß durch die Schande bestraft. Hätte er Zeit gehabt, ein Taschentuch zu entwen-
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den, so wäre er mit dem Tode bestraft worden. Der Einbrecher, der dabei ertappt wurde, wie er eine Leiter an das Fenster eines fremden Hauses anlegte, jedoch ehe er noch in dasselbe eingedrungen war, wird vom Gesetze nicht mit Todesstrafe bedroht. Der Versuch der Notzucht wird nicht als Notzucht bestraft. Der Versuch, eine verheiratete Frau zu verführen, wird überhaupt nicht bestraft, obwohl Verführung strenge bestraft wird. Unser Vergeltungsgefühl gegen denjenigen, der es bloß versucht hat, uns einen Schaden zuzufügen, ist selten so stark, um uns dazu zu vermögen, daß wir ihm die gleiche Strafe zuerkennen würden, die wir für angemessen gehalten hätten, wenn er uns ihn tatsächlich zugefügt hätte. In dem einen Falle wird unsere Empfindung von der Abscheulichkeit seines Betragens durch die Freude darüber gelindert, daß wir vor Schaden bewahrt wurden, in dem anderen Falle wird sie durch den Kummer über unser Unglück noch gesteigert. Indessen ist seine wirkliche Schuld zweifellos in beiden Fällen dieselbe, da ja seine Absichten ganz gleich verbrecherisch waren ; es findet demnach in dieser Hinsicht eine Regelwidrigkeit in den Empfindungen aller Menschen statt und infolgedessen ein Nachlassen der Strenge im Strafrecht, und zwar, wie ich glaube, bei allen Völkern, bei den höchst zivilisierten sowohl, als bei den allerbarbarischesten. Ein zivilisiertes Volk wird infolge seiner höheren Menschenfreundlichkeit geneigt sein, in jenen Fällen die Strafe zu erlassen oder doch zu mildern, in welchen sein natürlicher Unwille nicht durch die Folgen des Verbrechens aufgestachelt wird. Andererseits pflegen Barbaren in Fällen, in denen keine tatsächlichen Folgewirkungen aus einer Handlung entstanden sind, nicht sehr empfindlich oder wißbegierig inbetreff der Beweggründe zu sein. Derjenige selbst, der – sei es aus Leidenschaft, sei es unter dem Einfluß schlechter Gesellschaft – ein Verbrechen beschlossen und vielleicht schon Maßregeln ergriffen hatte, um es auszuführen, der aber glücklicherweise durch ein zufälliges Ereignis, das es
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
ihm unmöglich machte, das Verbrechen zu vollenden, an dessen Ausführung gehindert wurde, wird sicherlich, wenn er nur einen Rest von Gewissen besitzt, jenes Ereignis sein ganzes künftiges Leben hindurch als eine denkwürdige Errettung aus großer Gefahr betrachten. Er kann niemals daran zurückdenken, ohne dem Himmel dafür Dank zu sagen, daß es ihm in so gnadenvoller Weise gefallen hat, ihn vor der Schuld zu bewahren, in die er sich eben stürzen wollte, und ihn davon abzuhalten, sein ganzes späteres Leben zu einem Schauplatz des Grauens, der Gewissensbisse und der Reue zu machen. Obgleich aber seine Hände rein von Schuld sind, so ist er sich doch dessen bewußt, daß sein Herz gleich schuldig ist, wie wenn er schon in Wirklichkeit ausgeführt hätte, wozu er bereits so fest entschlossen war. Indessen gewährt es seinem Gewissen eine große Erleichterung, wenn er bedenkt, daß das Verbrechen nicht vollbracht wurde, mag er auch recht wohl wissen, daß es nicht seine Tugend war, die die Ausführung unterbleiben ließ. Es scheint ihm immer noch, daß er weniger Bestrafung und Vergeltungsgefühl verdiene, und jener glückliche Zufall vermindert sein Schuldbewußtsein oder löscht es sogar ganz und gar aus. Erinnert er sich, wie sehr er schon zu dem Verbrechen entschlossen war, so hat dies keine andere Wirkung, als daß er es als einen um so größeren und wunderbareren Glücksfall betrachtet, der Schuld entronnen zu sein ; denn er bildet sich immer noch ein, ihr entronnen zu sein, und er blickt auf die Gefahr, der der Friede seiner Seele ausgesetzt war, mit jenem Schrecken zurück, mit welchem ein Mann, der nun in Sicherheit ist, sich manchmal daran zurückerinnern mag, wie er einmal in Gefahr schwebte, über einen Abgrund hinabzustürzen, und der nun bei dem Gedanken an jene Situation von einem Schauer überlaufen wird. 2. Die zweite Wirkung, die dieser Einfluß des Zufalls mit sich führt, ist die, daß er dann, wenn Handlungen zufällig außergewöhnliche Lust oder Unlust veranlassen, unser Gefühl von der
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Verdienstlichkeit oder der Verwerflichkeit dieser Handlungen über jenes Maß hinaus steigert, welches den Beweggründen oder den Neigungen angemessen wäre, aus denen sie hervorgingen. Die angenehmen oder unangenehmen Wirkungen der Handlungen werfen oft einen Schatten von Verdienst oder Schuld auf den Handelnden, obwohl in seinen Absichten nichts gelegen war, was Lob oder Tadel verdiente, oder wenigstens nichts, was sie in dem Grade verdient hätte, wie wir sie ihm zu erteilen pflegen. So ist uns sogar der Bote, der uns schlechte Nachrichten überbringt, unangenehm, und wir fühlen umgekehrt eine Art von Dankbarkeit für denjenigen, der uns eine gute Botschaft bringt. Einen Augenblick lang erblicken wir in dem einen den Urheber unseres Glücks, in dem anderen den Urheber unseres Unglücks und wir betrachten sie gewissermaßen so, als hätten sie wirklich die Ereignisse zustandegebracht, von denen sie uns doch nur Nachricht gegeben haben. Der erste Urheber unserer Freude wird naturgemäß zum Gegenstand einer – wenngleich nur vorübergehenden – Dankbarkeit. Wir umarmen ihn mit warmer Herzlichkeit und würden ihn, solange unser Glück währt, gerne so belohnen, als hätte er uns einen ausgezeichneten Dienst erwiesen. Nach einem Brauch, der an allen Höfen herrscht, hat der Offizier, der die Nachricht von einem Sieg überbringt, Anspruch auf eine bedeutende Beförderung und der General wählt darum immer einen seiner ersten Günstlinge dazu aus, eine so angenehme Botschaft zu bestellen. Umgekehrt, wird der erste Urheber unseres Kummers ganz ebenso naturgemäß zum Gegenstand eines – wenngleich nur vorübergehenden – Vergeltungsgefühls. Wir können kaum umhin, ihn mit Ärger und Verdruß anzusehen ; ja, rohe und wilde Menschen lassen sogar gerne an dem Boten die üble Laune aus, die seine Nachricht in ihnen hervorgerufen hat. Tigranes, König von Armenien, schlug dem Manne das Haupt ab, der ihm als erster Nachricht von dem Herannahen eines fürchterlichen Feindes brachte. In dieser Weise den Überbringer einer schlechten
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Nachricht zu bestrafen, scheint uns barbarisch und unmenschlich, dagegen berührt es uns nicht unangenehm, wenn der Bote, der gute Neuigkeiten bringt, belohnt wird ; ja, dies scheint uns sogar der Freigebigkeit und Großmut eines Königs angemessen. Warum aber machen wir diesen Unterschied, da doch vielmehr, wenn den ersten Boten keine Schuld trifft, doch auch dem zweiten kein Verdienst zuzusprechen ist ? Der Grund dafür ist der, daß uns jeder Vorwand hinreichend scheint, um die Betätigung sozialer und wohlwollender Neigungen zu rechtfertigen ; daß dagegen die stärksten und wichtigsten Gründe gefordert werden müssen, damit wir der Betätigung unsozialer und übelwollender Neigungen unsere Zustimmung geben können. Obgleich wir aber im allgemeinen abgeneigt sind, unsozialen und übelwollenden Neigungen unsere Zustimmung zu geben, obwohl wir es als eine Regel aufstellen, daß wir niemals die Befriedigung solcher Gesinnungen gutheißen sollten, außer, sofern die bösen und unrechten Absichten des Menschen, gegen den sie sich richten, ihn verdienterweise zum Zielpunkt solcher Gesinnungen machen, so mildern wir doch bei manchen Anlässen die Strenge dieses Grundsatzes. Wenn die Nachlässigkeit eines Menschen eine unbeabsichtigte Schädigung eines anderen herbeigeführt hat, so teilen wir im allgemeinen das Vergeltungsgefühl des Geschädigten so weit, daß wir ihm beistimmen, wenn er dem Beleidiger eine Strafe zuerkennt, die weit über das Maß dessen hinausgeht, was die Beleidigung an sich offenbar verdient hätte, wenn keine so unglücklichen Folgen aus ihr hervorgegangen wären. Die Fahrlässigkeit kann so arg sein, daß sie offenbar selbst dann eine gewisse Züchtigung verdienen würde, wenn sie für niemanden Schaden im Gefolge hätte. So würde z. B. ein Mensch, der einen großen Stein über eine Mauer mitten in eine öffentliche Straße werfen würde, ohne die Leute, die dort vorübergehen mögen, vorher zu warnen, ja auch ohne nur darauf zu achten, wohin der Stein wahrscheinlich fallen werde, zweifellos irgend-
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welche Züchtigung verdienen. Eine Polizei, die sehr genau vorginge, würde eine so sinnlose Handlung sogar dann bestrafen, wenn sie kein Unglück angerichtet hat. Der Mensch, der sich ihrer schuldig gemacht hat, zeigt dadurch eine freche Mißachtung des Wohlergehens und der Sicherheit anderer Personen. Es liegt eine wirkliche Rechtswidrigkeit in seinem Verhalten. Er setzt mutwillig seinen Nächsten einer Gefahr aus, der sich kein Mensch – sofern er bei Sinnen ist – mit Willen aussetzen würde, und läßt es augenscheinlich an jenem Gefühl für die Interessen seiner Mitmenschen fehlen, das die Grundlage der Gerechtigkeit und der Gesellschaft überhaupt bildet. Darum sagt das Gesetz von grober Fahrlässigkeit, daß diese beinahe dem bösen Vorsatz gleichkomme. * Wenn irgendwelche unglückliche Folgen aus solcher Fahrlässigkeit hervorgehen, dann wird derjenige, der sich ihrer schuldig gemacht hat, oft ebenso streng bestraft, als wenn er jene Folgen wirklich beabsichtigt hätte ; und sein Verhalten, daß nur gedankenlos und mutwillig war, und das eine gewisse Züchtigung verdiente, wird als verabscheuenswürdiges Verbrechen angesehen, auf dem die strengste Strafe steht. So würde er, wenn er durch die früher erwähnte unvernünftige Handlung zufällig einen Menschen töten sollte, nach den Gesetzen mancher Staaten – besonders nach dem alten Recht von Schottland – der Todesstrafe verfallen sein. Und obgleich dies zweifellos sehr strenge ist, so steht es doch nicht ganz und gar in Widerspruch mit unseren natürlichen Empfindungen. Unser gerechter Unwille gegen die Torheit und Unmenschlichkeit seines Betragens wird durch unsere Sympathie mit dem unglücklichen Opfer noch gesteigert. Indessen würde für unser natürliches Billigkeitsgefühl nichts ärgerlicher und anstößiger sein, als wenn man einen Mann bloß darum zum Schafott führte, weil er aus Fahrlässigkeit einen Stein mitten in die Straße geschleudert hat, ohne aber dabei ir* Lata culpa prope dolum est.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
gend jemanden zu verletzen. Und doch wäre in diesem Falle die Torheit und Unmenschlichkeit seines Betragens die gleiche, unsere Empfindungen aber würden ganz andere sein. Die Betrachtung dieser Verschiedenheit in unseren Gefühlen kann uns davon überzeugen, wie sehr selbst der Unwille des Zuschauers durch die tatsächlichen Folgen der Handlungen angefacht zu werden pflegt. In Fällen dieser Art wird, wenn ich nicht irre, in den Gesetzen fast aller Völker ein hoher Grad von Strenge gefunden werden können, wie ich andererseits schon bemerkt habe, daß in den entgegengesetzten Fällen eine allgemein verbreitete Milderung der Strafen eintritt. Es gibt einen geringeren Grad von Fahrlässigkeit, der keinerlei Unrecht in sich schließt. Derjenige, der sich ihrer schuldig macht, behandelt seinen Nächsten, wie er sich selber behandelt, meint es niemandem böse und ist weit davon entfernt, eine freche Mißachtung für die Sicherheit und das Wohlergehen anderer zu hegen. Indessen ist er nicht so sorgsam und vorsichtig in seinem Betragen, als er es sein sollte, und verdient deswegen bis zu einem gewissen Grade Tadel und Zurechtweisung, doch keinerlei Bestrafung. Wenn er aber durch eine Nachlässigkeit * dieser Art für einen anderen Menschen irgendwelchen Schaden herbeiführen sollte, so wird er dennoch nach dem Recht, und zwar wie ich glaube nach dem Recht aller Staaten verpflichtet, denselben wieder gutzumachen. Und obgleich dies zweifellos eine wirkliche Bestrafung ist und es keinem Sterblichen eingefallen wäre, ihm eine solche aufzuerlegen, wäre es nicht wegen des unglücklichen Vorfalls, der durch sein Betragen herbeigeführt wurde, so wird doch diese Entscheidung des Gesetzes von den natürlichen Empfindungen aller Menschen gutgeheißen. Nichts kann unserer Ansicht nach gerechter sein, als daß ein Mann nicht durch die Sorglosigkeit des anderen leiden solle, und daß * Culpa levis.
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der Schaden, der durch die tadelnswerte Nachlässigkeit eines Menschen herbeigeführt wurde, auch von demjenigen wieder gutgemacht werden soll, der sich derselben schuldig gemacht hat. Es gibt noch eine dritte Art von Fahrlässigkeit ; * diese besteht lediglich in dem Fehlen der allerängstlichsten Furchtsamkeit und Vorsicht in bezug auf alle die möglichen Folgen unserer Handlungen. Der Mangel dieser peinlichen Aufmerksamkeit ist, sofern aus ihm keine üblen Folgen entspringen, so weit davon entfernt, als tadelnswert zu gelten, daß eher die entgegengesetzte Eigenschaft mit Mißbilligung betrachtet wird. Jene ängstliche Vorsicht, die sich vor allem fürchtet, wird niemals als eine Tugend angesehen, sondern vielmehr als eine Eigenschaft, die mehr als jede andere zu Handlungen und Geschäften unfähig macht. Wenn aber ein Mensch aus Mangel an dieser übertriebenen Sorgfalt zufällig die Schädigung eines anderen herbeiführt, dann wird er oft durch das Gesetz verpflichtet, den Schaden gutzumachen. So ist nach dem Aquilischen Gesetz ein Mann, der außerstande, ein zufällig scheu gewordenes Pferd zu bändigen, mit diesem Pferd den Sklaven eines anderen niederreitet, verpflichtet, den Schaden zu vergüten. Wenn sich ein derartiger Unfall ereignet, dann neigen wir meist zu der Ansicht, daß der Betreffende eben ein solches Pferd nicht hätte reiten sollen, und wir erblicken darin einen unverzeihlichen Leichtsinn, daß er es dennoch versucht hat ; obgleich wir, falls kein solcher Unfall eingetreten wäre, nicht nur eine solche Überlegung gar nicht angestellt hätten, sondern sogar seine Weigerung, das Pferd zu reiten, als den Ausdruck furchtsamer Schwäche und einer Ängstlichkeit in bezug auf bloß mögliche Ereignisse betrachtet hätten, auf die acht zu haben, etwas ganz Zweckloses sei. Doch scheint sogar der Mann selbst, der durch ein zufälliges Ereignis dieser Art einen anderen verletzt hat, oh* Culpa levissima.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
ne es gewollt zu haben, sich diesem gegenüber einer gewissen Schuld bewußt zu sein. Aus einem natürlichen Empfinden heraus eilt er sofort zu dem Verletzten, um ihm seine Anteilnahme an dem Vorgefallenen auszudrücken und sich, soviel er nur kann, zu entschuldigen. Wenn er irgendwelches Zartgefühl besitzt, so wird er notwendig den Wunsch hegen, den Schaden zu vergüten und alles zu tun, was in seinem Vermögen steht, um jenes triebhafte Vergeltungsgefühl zu beschwichtigen, daß, wie er fühlt, im Herzen des Geschädigten nur allzu leicht erwachen wird. Keine Entschuldigung vorzubringen, keine Genugtuung anzubieten, das gilt als der Gipfel der Roheit. Doch warum sollte er eher eine Entschuldigung vorbringen als irgendein anderer ? Warum sollte gerade er, da er doch ganz ebenso unschuldig ist wie irgendein anderer Zeuge des Vorfalls allein von allen Menschen dazu auserlesen sein, für das Unglück aufzukommen, das einen Dritten betroffen hat ? Diese Aufgabe würde ihm sicherlich niemals auferlegt werden, fühlte nicht sogar der unparteiische Zuschauer eine gewisse Nachsicht für das Vergeltungsgefühl dieses Dritten, das man eigentlich als ungerecht betrachten könnte.
drittes kapitel Über die Endursache dieser Regelwidrigkeit der Gefühle Dieser Art sind die Wirkungen, welche die guten oder schlechten Folgen der Handlungen sowohl auf die Gefühle des Handelnden als auf die anderer Personen ausüben ; und so hat der Zufall, der die Welt regiert, selbst dort einigen Einfluß, wo wir am wenigsten willens sein sollten, ihm einen solchen Einfluß einzuräumen, ja, er leitet geradezu bis zu einem gewissen Grade die Empfindungen der Menschen, die sich einerseits auf ihren eigenen Charakter und auf ihr eigenes Betragen, andererseits auf Charakter
Zweiter Teil · Dritter Abschnitt · Drittes Kapitel
und Betragen anderer Personen beziehen. Daß die Welt nach dem Erfolg urteilt und nicht nach der Absicht, das war zu allen Zeiten die Klage der Menschen und das bildet die größte Entmutigung der Tugend. Jedermann stimmt dem allgemeinen Grundsatz zu, daß der Erfolg, da er nicht von dem Handelnden abhängt, auch keinen Einfluß auf die Gefühle haben sollte, die wir über die Verdienstlichkeit oder die Schicklichkeit seines Betragens hegen. Sobald wir aber ins einzelne gehen, da finden wir, daß unsere Gefühle kaum in einem einzigen Fall ganz genau dem entsprechen, was dieser gerechte und billige Grundsatz uns vorschreiben würde. Der glückliche oder ungünstige Erfolg einer Handlung pflegt nicht nur unsere gute oder schlechte Meinung von der Klugheit, mit der sie durchgeführt wurde, zu bestimmen, sondern er entfacht auch fast immer unsere Dankbarkeit oder unser Vergeltungsgefühl, unsere Empfindung von der Verdienstlichkeit oder von der Verwerflichkeit der Absicht. Indessen scheint die Natur, als sie der menschlichen Brust die Keime zu dieser Regelwidrigkeit der Gefühle einpflanzte, wie in allen anderen Fällen, die Glückseligkeit und Vollkommenheit der Gattung zum Ziel gehabt zu haben. Wenn die Gefährlichkeit der Absicht, wenn die Bosheit der Gesinnung allein hinreichend wären, um unser Vergeltungsgefühl zu erregen, dann würden wir die ganze Wut dieses Affekts gegen eine Person empfinden, von der wir glauben oder argwöhnen würden, daß sie in ihrer Brust solche Absichten oder Gesinnungen hege, mögen diese auch niemals in Handlungen hervorgetreten sein. Gefühle, Gedanken, Absichten würden der Bestrafung unterworfen sein ; und wenn der Unwille der Menschen sich gegen sie so hoch erhöbe wie gegen Handlungen, wenn die Niedrigkeit des Gedankens, der keine Handlung hervorgebracht hat, in den Augen der Welt so laut nach Rache zu rufen schiene wie die Niedrigkeit der Handlung selbst, dann würde jeder Gerichtshof ein wahres Inquisitionstribunal werden. Es würde dann selbst für das unschuldigste und
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
vorsichtigste Handeln keine Sicherheit geben. Immer noch könnte man böse Wünsche, böse Absichten, böse Vorsätze argwöhnen, und da ja diese den gleichen Unwillen hervorrufen würden wie ein schlechtes Verhalten, da böses Vorhaben ebenso übel aufgenommen und geahndet würde wie böse Handlungen, würden sie die betreffende Person in gleicher Weise der Bestrafung und dem allgemeinen Vergeltungsgefühl aussetzen. Darum wurden Handlungen, die wirkliches Übel hervorbringen, oder die doch versuchen, solches hervorzubringen, und die uns darum in die unmittelbare begründete Furcht vor solchem Übel versetzen, von dem Schöpfer der Natur zu den einzig schicklichen und angemessenen Gegenständen menschlicher Strafe und menschlichen Vergeltungsgefühls gemacht. Gefühle, Absichten, Gesinnungen wurden – obwohl gerade aus ihnen, wie eine kühle Verstandesüberlegung lehrt –, die menschlichen Handlungen ihre ganze Verdienstlichkeit oder Verwerflichkeit schöpfen, dennoch von dem großen Richter der Herzen außerhalb des Bereichs aller menschlichen Rechtsprechung gestellt und dem Erkenntnis seines eigenen, niemals irrenden Tribunals vorbehalten. Jene notwendige Regel der Gerechtigkeit also, daß die Menschen in diesem Leben der Bestrafung nur wegen ihrer Handlungen unterworfen sind, nicht wegen ihrer Absichten und Vorsätze, sie gründet sich auf diese heilsame und nützliche Regelwidrigkeit in den menschlichen Empfindungen über Verdienst und Schuld, die auf den ersten Blick so sinnlos und unerklärlich erscheint. Allein jeder Teil der Natur erweist, wenn man ihn aufmerksam betrachtet, in gleicher Weise die Vorsehung und die Fürsorge ihres Schöpfers, und wir können so die Weisheit und Güte Gottes selbst in den Schwächen und in der Torheit der Menschen bewundern. Auch jene Regelwidrigkeit der Gefühle, die sich darin ausdrückt, daß uns das Verdienst eines erfolglosen Versuches zu helfen und weit mehr noch das Verdienst bloßer guter Neigungen oder freundlicher Wünsche unvollständig scheint, auch diese Regelwidrigkeit
Zweiter Teil · Dritter Abschnitt · Drittes Kapitel
ist nicht durchaus ohne eine gewisse Nützlichkeit. Der Mensch ist zum Handeln geschaffen und ist dazu bestimmt, durch die Betätigung seiner Fähigkeiten solche Veränderungen in den äußeren Verhältnissen, die ihn selbst oder andere Personen betreffen, herbeizuführen, wie sie für die Glückseligkeit aller am günstigsten scheinen mögen. Er darf sich nicht bei einem lässigen, untätigen Wohlwollen beruhigen, noch sich einbilden, daß er darum schon ein Menschenfreund sei, weil er in seinem Herzen für die Wohlfahrt der Welt alle guten Wünsche hegt. Damit er vielmehr die ganze Kraft seiner Seele aufbiete und jeden Nerv anstrenge, um die Zwecke zu verwirklichen, die zu fördern die Bestimmung seines Daseins ist, darum hat Natur ihm die Lehre gegeben, daß weder er selbst noch die übrigen Menschen mit seinem Betragen zufrieden sein, noch diesem vollen Beifall gewähren können, solange er nicht tatsächlich jene Zwecke verwirklicht hat. Sie läßt ihn wissen, daß der Ruhm guter Absichten ohne das Verdienst guter Handlungen nur wenig dazu helfen wird, den lauten Beifall der Welt hervorzurufen, oder auch nur den höchsten Grad der Selbstbilligung zu erwecken. Der Mensch der nicht eine einzige bedeutende Handlung vollbracht hat, dessen ganzer Lebenswandel, und dessen ganze Aufführung jedoch die gerechtesten, vornehmsten und edelsten Empfindungen ausdrückt, der hat nicht das Recht, einen sehr hohen Lohn zu beanspruchen, selbst dann nicht, wenn an seiner Nutzlosigkeit bloß der Mangel an Gelegenheit, Gutes zu tun, schuld trägt. Wir können ihm trotzdem die Belohnung verweigern, ohne uns dadurch einem Tadel auszusetzen. Wir können ihn immer noch fragen : »Was hast du getan ? Welche wirkliche gute Tat kannst du vorbringen, die dir das Recht auf eine so große Gegenleistung geben könnte ? Wir achten dich und lieben dich, aber wir schulden dir nichts.« Jene verborgene, latente Tugend zu belohnen, die bloß aus Mangel an Gelegenheit, Gutes zu tun, nutzlos geblieben ist, ihr jene Ehren und Auszeichnungen zu gewähren, die sie freilich, wie man behaupten könnte,
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
in gewissem Maße verdient, auf die sie jedoch billigerweise durchaus keinen Anspruch erheben kann, das wäre in der Tat das Werk des göttlichsten Wohlwollens. Umgekehrt, jemanden zu strafen bloß wegen der Gesinnungen, die einer in seinem Herzen hegte, ohne daß er jedoch ein Verbrechen begangen hätte, das wäre die übermütigste und barbarischeste Tyrannei. Die wohlwollenden Neigungen und Gesinnungen verdienen offenbar nur dann das höchste Lob, wenn sie nicht solange warten, bis es für sie schon beinahe zum Verbrechen wird, sich nicht in Taten zu erweisen. Die übelwollenden dagegen können kaum zu träge, zu langsam und zu vorsichtig sein. Es ist sogar von besonderer Wichtigkeit, daß das Übel, welches unabsichtlich angerichtet wurde, für den Handelnden ebenso als ein Unglück gilt, wie für den Betroffenen. Dadurch wird der Mensch dazu angehalten, die Glückseligkeit seiner Brüder zu achten, davor zu zittern, daß er nicht einmal unbewußt etwas tue, was sie schädigen könnte, und jenes triebhafte Vergeltungsgefühl zu fürchten, das, wie er fühlt, sofort gegen ihn losbrechen kann, wenn er unabsichtlich zum unseligen Werkzeug ihres Elends werden sollte. – Wie in den alten heidnischen Religionen jener heilige Boden, der einem Gott geweiht war, nur bei feierlichen Anlässen und bei zwingender Notwendigkeit betreten werden durfte, und der Mann, der – sei es auch bloß unwissend – ihn entweihte, dadurch von diesem Augenblick an sühnebedürftig wurde und, solange die Tat nicht in gebührender Weise gesühnt war, der Rache jenes mächtigen unsichtbaren Wesens ausgesetzt war, dem der Platz zum besonderen Eigentum bestimmt worden –, so wurde durch die Weisheit der Natur in gleicher Weise die Glückseligkeit eines jeden schuldlosen Menschen zu etwas Heiligem gemacht, geweiht und ringsum mit einer Hecke umgeben gegen die Annäherung jedes anderen Menschen, damit sie nicht mutwillig mit Füßen getreten werde, damit sie nicht irgendwie – sei es auch bloß unwissentlich und unabsichtlich – verletzt und entweiht wer-
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de, ohne daß dafür Sühne und Buße gefordert würde, die zu der Schwere einer solchen unbeabsichtigten Verletzung in angemessenem Verhältnis stünde. Ein human gesinnter Mensch, der zufällig und ohne die geringste tadelnswerte Fahrlässigkeit zur Ursache des Todes eines Menschen geworden ist, wird sich selbst sühnebedürftig, wenn auch nicht schuldig fühlen. Sein ganzes Leben hindurch wird er jenes zufällige Ereignis als einen der größten Unglücksfälle betrachten, die ihm zustoßen konnten. Wenn die Familie des Getöteten arm ist und er selbst sich in erträglichen Verhältnissen befindet, wird er sie sofort unter seine Obhut nehmen und wird sie, obwohl sie sonst kein Verdienst aufzuweisen hat, doch für berechtigt halten, auf jede noch so große Gunst und Gefälligkeit Anspruch zu machen. Befinden sie sich in besseren Verhältnissen, dann wird er bestrebt sein, durch jede mögliche Unterwürfigkeit, durch jeglichen Ausdruck der Trauer, durch Erweisung jedes guten Dienstes, den er zu ersinnen vermag, oder den sie annehmen können, für das zu büßen, was vorgefallen ist, und soweit als möglich das – vielleicht natürliche, zweifellos aber äußerst ungerechte – Vergeltungsgefühl zu besänftigen, das sie wegen der großen, obzwar unbeabsichtigten Kränkung empfinden, die er ihnen angetan hat. Der Jammer, den ein schuldloser Mensch fühlt, der durch irgendwelchen Zufall dazu gebracht wurde, etwas zu tun, was ihn mit Recht den bittersten Vorwürfen ausgesetzt hätte, wenn es mit Wissen und Vorbedacht geschehen wäre, dieser Jammer hat den Anlaß und den Stoff zu einigen der feinsten und interessantesten Szenen des antiken und des modernen Schauspiels geboten. Gerade dieses trügerische Gefühl der Schuld, wenn ich es so nennen darf, bildet das ganze Elend eines Ödipus und einer Jokaste auf der griechischen, einer Monimia und Isabella auf der englischen Bühne. Alle diese Gestalten sind im höchsten Maße sühnebedürftig, obgleich keine von ihnen auch nur im mindesten schuldig ist.
Verdienst und Schuld / Belohnung und Bestrafung
Indessen hat die Natur trotz all dieser scheinbaren Regelwidrigkeit der Empfindungen in Fällen, in denen ein Mensch unglücklicherweise ein Übel veranlaßt hat, das er nicht beabsichtigt hatte, oder in denen es ihm nicht gelang, das Gute zu verwirklichen, auf das seine Absicht gerichtet war, doch die Unschuld dieses Mannes in dem ersten Falle nicht ganz ohne Trost, und im zweiten Falle seine Tugend nicht ganz ohne Lohn gelassen. Er ruft dann jenen gerechten und billigen Grundsatz zu seinem Beistand, demzufolge ein solcher Erfolg, der nicht von unserem Verhalten abhängt, die Achtung nicht vermindern sollte, die uns gebührt. Er bietet dann seine ganze Seelenstärke und Geisteskraft auf, und ist bestrebt, sich selbst nicht in dem Lichte zu erblicken, in dem er jetzt erscheint, sondern in dem, in welchem er erscheinen sollte, in welchem er erschienen wäre, wenn seine edlen Absichten mit Erfolg gekrönt worden wären, und in welchem er immer noch trotz ihres Fehlschlagens erscheinen würde, wenn die Gefühle der Menschen durchaus unparteiisch und gerecht, oder sogar nur mit sich selbst durchaus einig wären. Diejenigen unter den Menschen, die edler und menschenfreundlicher gesinnt sind, stimmen den Anstrengungen, die er unternimmt, um sich in seiner guten Meinung von sich selbst wieder aufzurichten, ganz und gar bei. Sie bieten ihren ganzen Edelmut und ihre ganze Seelenstärke auf, um in sich selbst jene Regelwidrigkeit der menschlichen Natur zu überwinden, und bemühen sich, seine Großherzigkeit, die nicht vom Glück begünstigt war, in dem gleichen Licht zu sehen, in dem sie dieselbe im Falle eines günstigen Erfolges ganz natürlicherweise betrachtet hätten, und ohne daß sie dies dann eine solche edelmütige Anstrengung gekostet hätte.
DRITTER TEIL Über die Grundlage der Urteile, die wir über unsere eigenen Gefühle und unser eigenes Verhalten fällen, und über das Pflichtgefühl.
erstes kapitel Über das Prinzip der Selbstbilligung und Selbstmißbilligung In den zwei vorhergehenden Teilen dieser Abhandlung habe ich hauptsächlich den Ursprung und die Grundlage jener Urteile in Betracht gezogen, die wir über Gefühle und Verhalten anderer Personen fällen. Ich gehe nun dazu über, den Ursprung derjenigen Urteile, die uns selbst betreffen, einer ausführlicheren Betrachtung zu unterziehen. Das Prinzip, nach welchem wir unser eigenes Verhalten natürlicherweise billigen oder mißbilligen, scheint ganz dasselbe zu sein, wie dasjenige, nach dem wir die gleichen Urteile über das Betragen anderer Leute fällen. Wir billigen oder mißbilligen das Verhalten eines anderen Menschen auf die Weise, daß wir uns in seine Lage hineindenken und nun unsere Gefühle darauf prüfen, ob wir mit den Empfindungen und Beweggründen, die es leiteten, sympathisieren können oder nicht. Und in gleicher Weise billigen oder mißbilligen wir unser eigenes Betragen, indem wir uns in die Lage eines anderen Menschen versetzen und es gleichsam mit seinen Augen und von seinem Standort aus betrachten und nun zusehen, ob wir von da aus an den Empfindungen und Beweggründen, die auf unser Betragen einwirken, Anteil nehmen und mit ihnen sympathisieren könnten oder nicht. Niemals können wir unsere Empfindungen und Beweggründe überblicken, niemals können wir irgendein Urteil über sie fällen, wofern wir uns nicht gleichsam von unserem natürlichen Standort entfernen, und sie
Dritter Teil · Erstes Kapitel
gleichsam aus einem gewissen Abstand von uns selbst anzusehen trachten. Wir können dies aber auf keine andere Weise tun, als indem wir uns bestreben, sie mit den Augen anderer Leute zu betrachten, das heißt so, wie andere Leute sie wohl betrachten würden. Demgemäß muß jedes Urteil, das wir über sie fällen können, stets eine gewisse unausgesprochene Bezugnahme auf die Urteile anderer haben, und zwar entweder auf diese Urteile, wie sie wirklich sind, oder, wie sie unter bestimmten Bedingungen sein würden, oder, wie sie unserer Meinung nach sein sollten. Wir bemühen uns, unser Verhalten so zu prüfen, wie es unserer Ansicht nach irgendein anderer gerechter und unparteiischer Zuschauer prüfen würde. Wenn wir uns erst in seine Lage versetzen und wir dann immer noch an allen Affekten und Beweggründen, die unser Verhalten bestimmten, durchaus inneren Anteil nehmen, dann billigen wir dieses Verhalten aus Sympathie mit der Billigung dieses gerechten Richters, den wir in Gedanken aufgestellt haben. Fällt die Prüfung anders aus, dann treten wir seiner Mißbilligung bei und verurteilen unser Verhalten. Wäre es möglich, daß ein menschliches Wesen an einem einsamen Ort bis zum Mannesalter heranwachsen könnte ohne jede Gemeinschaft und Verbindung mit Angehörigen seiner Gattung, dann könnte es sich ebensowenig über seinen Charakter, über die Schicklichkeit oder Verwerflichkeit seiner Empfindungen und seines Verhaltens Gedanken machen, als über die Schönheit oder Häßlichkeit seines eigenen Gesichts. All das sind Gegenstände, die es nicht leicht erblicken kann, auf die es natürlicherweise nicht achtet, und für die es doch auch nicht mit einem Spiegel ausgerüstet ist, der sie seinem Blicke darbieten könnte. Bringe jenen Menschen in Gesellschaft anderer und er ist sogleich mit dem Spiegel ausgerüstet, dessen er vorher entbehrte. Dieser Spiegel liegt in den Mienen und in dem Betragen derjenigen, mit denen er zusammenlebt, die es ihm stets zu erkennen geben, wenn sie seine Empfindungen teilen, und wenn sie sie mißbilligen ; hier
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
erst erblickt er zum erstenmal die Schicklichkeit und Unschicklichkeit seiner eigenen Affekte, die Schönheit und Häßlichkeit seines eigenen Herzens. Bei einem Menschen, der von Geburt an jeder Gesellschaft fremd war, würden die Objekte seiner Leidenschaften, die äußeren Körper, die ihn fördern oder schädigen, seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die Affekte selbst, die Begierden und Abneigungen, die Freuden und Leiden, die durch diese Gegenstände erregt werden, können, obwohl sie doch von allen Dingen ihm am unmittelbarsten gegenwärtig sind, kaum jemals zu Gegenständen seines Nachdenkens werden. Die Vorstellung von ihnen könnte ihn niemals so sehr interessieren, daß sie seine aufmerksame Betrachtung wachrufen könnte. Die Betrachtung seiner Freude könnte in ihm keine neue Freude, die Betrachtung seines Leids kein neues Leid erwecken, obwohl die Betrachtung der Ursachen jener Affekte oft die Affekte selbst in ihm wieder erwecken mag. Bringe ihn in Gesellschaft und alle seine Affekte werden sogleich zu Ursachen neuer Affekte werden. Er wird bemerken, daß die Menschen manche dieser Affekte billigen und gegen andere Widerwillen empfinden. Er wird in dem einen Falle erfreut, im anderen niedergeschlagen sein ; seine Begierden und Abneigungen, seine Freuden und Leiden werden nun oft zu Ursachen neuer Begierden und neuer Abneigungen, neuer Freuden und neuer Leiden werden : sie werden ihn darum jetzt aufs tiefste berühren und oft seine aufmerksame Betrachtung wachrufen. Unsere ersten Vorstellungen von körperlicher Schönheit und Häßlichkeit sind von der Gestalt und der körperlichen Erscheinung der anderen abgeleitet, nicht von unserer eigenen. Indes werden wir bald dessen inne, daß andere die gleiche Kritik an uns üben. Es freut uns, wenn unser Äußeres ihr Gefallen erregt, und es beleidigt uns, wenn es offensichtlich ihren Widerwillen hervorruft. Wir werden nun ängstlich bemüht sein, in Erfahrung zu bringen, inwiefern unsere äußere Erscheinung ihren Tadel oder
Dritter Teil · Erstes Kapitel
ihre Billigung verdient. Wir prüfen unsere Gestalt Glied um Glied und bemühen uns – indem wir vor einen Spiegel treten oder ein anderes Auskunftsmittel anwenden – so sehr als möglich, uns aus der Entfernung und mit den Augen anderer Menschen zu betrachten. Wenn wir nach dieser Prüfung mit unserem Aussehen zufrieden sind, dann können wir leichter die ungünstigen Urteile anderer Menschen ertragen. Wenn wir dagegen fühlen, daß wir ganz natürlicherweise Gegenstand ihres Mißfallens und Widerwillens sind, dann quält uns jedes Zeichen ihrer Mißbilligung über alle Maßen. Ein Mann, der leidlich wohlgebildet ist, wird dir gern erlauben, über irgendeine kleine Unregelmäßigkeit an seinem Körper zu lachen ; einem Menschen jedoch, der wirklich mißgestaltet und häßlich ist, sind gewöhnlich alle derartigen Scherze unerträglich. Jedenfalls ist es einleuchtend, daß wir um unsere Schönheit und Häßlichkeit nur wegen ihrer Wirkung auf andere Menschen besorgt sind. Wenn wir keine Verbindung mit der Gesellschaft hätten, dann wäre uns beides vollständig gleichgültig. In ganz gleicher Weise richtet sich unsere moralische Beurteilung zunächst auf Charakter und Verhalten anderer Leute und wir alle sind nur allzusehr geneigt, unser Augenmerk darauf zu richten, wie jeder von ihnen uns berührt. Aber wir erfahren bald, daß andere Leute mit ihren Urteilen über unseren Charakter und unser Verhalten ebenso freigebig sind. Wir werden nun ängstlich darauf bedacht sein, in Erfahrung zu bringen, inwiefern wir ihren Tadel oder ihren Beifall verdienen, und ob wir ihnen wirklich als so angenehme oder unangenehme Geschöpfe erscheinen mußten, als welche sie uns hinstellen. Wir fangen deshalb an, unsere Affekte und unser Betragen zu prüfen und Betrachtungen darüber anzustellen, wie diese ihnen erscheinen müssen, indem wir bedenken, wie sie uns wohl erscheinen würden, wenn wir uns an ihrer Stelle befänden. Wir stellen uns uns selbst als die Zuschauer unseres eigenen Verhaltens vor und trachten nun, uns auszuden-
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
ken, welche Wirkung es in diesem Lichte auf uns machen würde. Dies ist der einzige Spiegel, der es uns ermöglicht, die Schicklichkeit unseres eigenen Verhaltens einigermaßen mit den Augen anderer Leute zu untersuchen. Wenn es uns bei dieser Untersuchung gefällt, dann sind wir leidlich zufriedengestellt. Wir können dann dem Beifall gegenüber gleichgültiger sein und bis zu einem gewissen Grade auch den Tadel der Welt gering schätzen ; denn wir sind sicher, daß wir – mag man uns noch so sehr mißverstehen und unser Verhalten mißdeuten – von Rechts wegen Billigung verdienen. Umgekehrt sind wir, wenn wir an der Richtigkeit unseres Verhaltens zweifeln, gerade deswegen ängstlicher darauf bedacht, ihre Billigung zu gewinnen, und, vorausgesetzt, daß wir noch nicht mit der Schande auf du und du sind, wie man sich auszudrücken pflegt, so quält uns dann besonders der Gedanke an den Tadel der Welt, der uns nun mit doppelter Strenge trifft. Wenn ich mich bemühe, mein eigenes Verhalten zu prüfen, wenn ich mich bemühe, über dasselbe ein Urteil zu fällen und es entweder zu billigen oder zu verurteilen, dann teile ich mich offenbar in all diesen Fällen gleichsam in zwei Personen. Es ist einleuchtend, daß ich, der Prüfer und Richter, eine Rolle spiele, die verschieden ist von jenem anderen Ich, nämlich von der Person, deren Verhalten geprüft und beurteilt wird. Die erste Person ist der Zuschauer, dessen Empfindungen in bezug auf mein Verhalten ich nachzufühlen trachte, indem ich mich an seine Stelle versetze und überlege, wie dieses Verhalten mir wohl erscheinen würde, wenn ich es von diesem eigentümlichen Gesichtspunkt aus betrachte. Die zweite Person ist der Handelnde, die Person, die ich im eigentlichen Sinne mein Ich nennen kann, und über deren Verhalten ich mir – in der Rolle eines Zuschauers – eine Meinung zu bilden sucht. Die erste ist der Richter, die zweite die Person, über die gerichtet wird. Daß jedoch der Richter in jeder Beziehung mit demjenigen, über den gerichtet wird, identisch sein sollte, das ist
Dritter Teil · Zweites Kapitel
ebenso unmöglich, wie daß die Ursache in jeder Beziehung mit der Wirkung identisch wäre. Liebenswert und belohnungswürdig zu sein, das heißt Liebe zu verdienen und Belohnung zu verdienen, das sind die wichtigsten Kennzeichen der Tugend, hassenswert und strafbar zu sein, die des Lasters. Alle diese Kennzeichen haben aber eine unmittelbare Beziehung auf die Gefühle anderer. Man sagt von der Tugend nicht darum, sie sei liebenswert oder verdienstlich, weil sie der Gegenstand ihrer eigenen Liebe oder ihrer eigenen Dankbarkeit ist, sondern weil sie diese Gefühle bei anderen Menschen hervorruft. Das Bewußtsein, daß sie allgemein in so günstigem Lichte betrachtet wird, bildet die Quelle jener inneren Ruhe und Selbstzufriedenheit, die sie natürlicherweise begleitet, so wie der Argwohn einer entgegengesetzten Beurteilung die Qualen des Lasters hervorruft. Welches Glück ist so groß, als geliebt zu werden und dabei zu wissen, daß wir Liebe verdienen ! Welches Elend ist so groß, als gehaßt zu werden und dabei zu wissen, daß wir Haß verdienen ! zweites kapitel Von dem Verlangen nach Lob und dem Verlangen nach Lobenswürdigkeit ; und von der Furcht vor Tadel und der Furcht vor Tadelnswürdigkeit. Der Mensch wünscht naturgemäß nicht nur, geliebt zu werden, sondern auch liebenswert zu sein, das heißt, so zu sein, daß er den natürlichen und schicklichen Gegenstand der Liebe bildet. Er fürchtet von Natur aus nicht nur, gehaßt zu werden, sondern auch hassenswert zu sein, das heißt, so zu sein, daß er den natürlichen und schicklichen Gegenstand des Hasses bildet. Er will nicht nur Lob, sondern Lobenswürdigkeit, er wünscht so zu sein, daß er, wenn er auch von niemandem gelobt werden würde, dennoch der natürliche und schickliche Gegenstand des Lobes wäre. Er fürch-
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
tet nicht nur Tadel, sondern Tadelnswürdigkeit, er fürchtet so zu sein, daß er, wenn er auch von niemandem getadelt würde, dennoch der natürliche und schickliche Gegenstand des Tadels wäre. Das Verlangen nach Lobenswürdigkeit entstammt keineswegs durchaus dem Verlangen nach Lob. Diese zwei Prinzipien ähneln zwar einander, sie sind miteinander verbunden und oft sogar vermischt, aber sie sind trotzdem in mancher Beziehung unterschieden und voneinander unabhängig. Die Liebe und Bewunderung, die wir naturgemäß für diejenigen empfinden, deren Charakter und Verhalten wir billigen, erweckt mit Notwendigkeit in uns den Wunsch, selbst der Gegenstand der gleichen angenehmen Empfindungen zu werden und so liebenswert und bewundernswürdig wie diejenigen zu sein, die wir am meisten lieben und bewundern. Der Wetteifer, der ängstliche Wunsch, uns vor anderen auszuzeichnen, gründet sich ursprünglich auf die Bewunderung, die wir für die ausgezeichnete Vortrefflichkeit anderer hegen. Und es kann uns nicht Genüge tun, wenn wir bloß bewundert werden, und zwar wegen solcher Dinge, um derentwillen man andere Leute bewundert. Wir müssen wenigstens glauben, daß wir bewundernswert seien wegen solcher Dinge, um derentwillen auch sie bewundernswert sind. Um jedoch diese Genugtuung zu erlangen, müssen wir zu unparteiischen Zuschauern unseres eigenen Charakters und Verhaltens werden. Wir müssen uns bemühen, sie mit den Augen anderer Leute zu betrachten, das heißt, so, wie andere Leute sie wahrscheinlich betrachten würden. Wenn sie, in diesem Lichte gesehen, uns noch so erscheinen, wie wir es wünschen, dann sind wir glücklich und zufrieden. Aber es stärkt unsere Glückseligkeit und Zufriedenheit noch ungemein, wenn wir finden, daß andere Leute, die unseren Charakter und unser Verhalten doch wirklich mit den Augen sehen, mit denen wir nur in der Phantasie sie zu sehen trachten, sie nun genau in dem gleichen Licht erblicken, in dem auch wir sie erblickt hatten. Ihre Billigung verstärkt notwendig
Dritter Teil · Zweites Kapitel
unsere Selbstbilligung. Ihr Lob kräftigt notwendig in uns selbst das Bewußtsein unserer Lobenswürdigkeit. In diesem Falle ist das Verlangen nach Lobenswürdigkeit so weit davon entfernt, gänzlich aus dem Verlangen nach Lob zu entspringen, daß vielmehr hier das Verlangen nach Lob – in großem Maße wenigstens – aus demjenigen nach Lobenswürdigkeit herzustammen scheint. Das aufrichtigste Lob kann uns nur wenig Freude bereiten, wenn es nicht als irgendeine Art von Beweis für unsere Lobenswürdigkeit betrachtet werden kann. Es genügt keineswegs, daß man uns Achtung und Bewunderung auf diese oder jene Weise, vielleicht bloß aus Unwissenheit oder Irrtum, entgegenbringt. Wenn wir uns dessen bewußt sind, daß wir es nicht verdienen, in einem so günstigen Rufe zu stehen, und daß man, wenn man die Wahrheit über uns wüßte, uns mit ganz anderen Gefühlen betrachten würde, dann ist unsere Genugtuung weit davon entfernt, vollständig zu sein. Wer uns seinen Beifall für solche Handlungen spendet, die wir nicht vollbracht haben oder um solcher Beweggründe willen, die in Wahrheit keinerlei Einfluß auf unser Verhalten hatten, der erteilt nicht uns, sondern einer anderen Person seinen Beifall. Aus seinen Lobsprüchen können wir keinerlei Genugtuung schöpfen. Für uns sollten sie vielmehr quälender als jeder Tadel sein und sie sollten in unserem Geiste beständig die demütigendste von allen Betrachtungen hervorrufen, die Betrachtung darüber, was wir sein sollen und was wir doch in Wahrheit nicht sind. Eine Frau, die sich schminkt, könnte doch – so sollte man meinen – auf die Komplimente wenig eitel sein, die man ihrer Gesichtsfarbe zollt. Diese Komplimente sollten ihr eher – so würden wir erwarten – zum Bewußtsein bringen, welche Gefühle ihre wirkliche Gesichtsfarbe erwecken würde, und müßten sie durch diesen Gegensatz noch mehr kränken. Sich über solchen unbegründeten Beifall zu freuen, ist ein Beweis von äußerster Oberflächlichkeit, Leichtfertigkeit und Schwäche. Gerade dies ist es, was man im eigentlichen Sinne Eitelkeit nennt, und was
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die Grundlage der lächerlichsten und verächtlichsten Laster bildet, der Laster der Ziererei und Heuchelei und der gemeinen Lügenhaftigkeit, Torheiten, von denen man – wenn uns die Erfahrung nicht lehrte, wie gewöhnlich sie sind – meinen sollte, daß uns schon der geringste Funke gesunden Menschenverstandes vor ihnen bewahren müßte. Der törichte Lügner, der sich bemüht, die Bewunderung einer Gesellschaft durch Erzählung von Abenteuern zu erwecken, die sich niemals ereignet haben, der wichtigtuende Geck, der sich den Anschein von Rang und Distinktion gibt, auf die er, wie er wohl weiß, keine berechtigten Ansprüche hat, sie freuen sich zweifellos mit dem Beifall, der ihnen, wie sie sich einbilden, zuteil wird. Aber ihre Eitelkeit entspringt aus einer so groben Täuschung ihrer Einbildungskraft, daß es schwer ist, zu begreifen, wie irgendein vernünftiges Wesen sich durch sie hintergehen lassen sollte. Wenn sie sich an die Stelle desjenigen versetzen, den sie, wie sie sich einbilden, getäuscht haben, dann werden sie von der höchsten Bewunderung für sich selbst förmlich niedergeworfen. Sie betrachten sich nicht in dem Licht, in dem sie, wie sie wohl wissen, ihren Gefährten erscheinen sollten, sondern in demjenigen Licht, in dem ihre Gefährten sie, ihrer Meinung nach, tatsächlich erblicken. Ihre Oberflächlichkeit, ihre Schwäche und ihre niedrige Torheit hindern sie, jemals ihre Augen gleichsam nach innen zu kehren oder sich selbst in jenem verächtlichen Bilde zu sehen, in welchem sie, wie ihnen ihr Gewissen sagen muß, jedermann erscheinen würden, wenn die wahren Tatsachen jemals bekannt werden sollten. Wie ein grundlos und aus Unkenntnis gespendetes Lob keine wahrhafte Freude gewähren kann, keine Befriedigung, die einer ernsten Prüfung standhalten würde, so gewährt uns dagegen der Gedanke oft einen wirklichen Trost, daß unser Verhalten – mag man uns auch in Wirklichkeit kein Lob gespendet haben – trotzdem von der Art gewesen ist, daß es Lob verdiente, und daß es in jeder Hinsicht jenem Maßstab und jenen Regeln angemessen
Dritter Teil · Zweites Kapitel
war, nach welchen naturgemäß und gemeinhin Lob und Billigung gewährt werden. Wir freuen uns nicht nur über das Lob, sondern auch darüber, daß wir etwas getan haben, was des Lobes würdig ist. Wir freuen uns bei dem Gedanken, daß wir uns der Billigung wert gemacht haben, mag uns auch in Wirklichkeit niemals Billigung zuteil werden ; und es kränkt uns, zu denken, daß wir in Wahrheit den Tadel derer verdient haben, mit denen wir zusammenleben, mag auch niemals dieses Gefühl des Tadels uns gegenüber wirklich geäußert werden. Der Mann, der sich dessen bewußt ist, daß er genau jene Regeln des Verhaltens beobachtet hat, von denen die Erfahrung ihn lehrt, daß sie im allgemeinen angemessen und richtig sind, der denkt mit Genugtuung an die Schicklichkeit seines Betragens. Wenn er es in dem Licht betrachtet, in welchem der unparteiische Zuschauer es betrachten würde, dann stimmt er nachträglich noch von ganzem Herzen all den Beweggründen zu, die ihn dabei geleitet haben. Er blickt auf jeden Abschnitt desselben mit Wohlgefallen und Billigung zurück, und mögen auch die Menschen niemals erfahren, was er getan hat, er selbst betrachtet sich doch nicht so sehr in dem Licht, in dem sie ihn tatsächlich erblicken, als vielmehr jenem Licht entsprechend, in dem sie ihn sehen würden, wenn sie besser unterrichtet wären. Er nimmt in Gedanken den Beifall und die Bewunderung vorweg, die ihm in diesem Falle gezollt werden würden, und er lobt und bewundert sich selbst aus Sympathie mit Empfindungen, die freilich in Wirklichkeit nicht vorhanden sind, die aber allein infolge der Unwissenheit des Publikums von diesem nicht gefühlt werden, Empfindungen, die, wie er weiß, die natürlichen und gewöhnlichen Wirkungen eines solchen Verhaltens sind, Empfindungen, die seine Einbildungskraft fest mit diesem verbindet, und die er einer Vorstellungsgewohnheit entsprechend, die er sich erworben hat, als etwas betrachtet, das natürlicher- und schicklicherweise aus einem solchen Betragen folgen sollte. Es hat Menschen gegeben, die freiwillig ihr Leben fortwarfen, um nach dem
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Tode einen Ruhm zu erwerben, dessen sie sich doch nicht mehr erfreuen konnten. Ihre Einbildungskraft nahm inzwischen jenen Ruhm vorweg, den man ihnen in künftigen Zeiten zuerkennen mußte. Jener Beifall, den sie niemals hören sollten, klang jetzt schon in ihre Ohren, der Gedanke an jene Bewunderung, deren Folgen sie niemals fühlen sollten, wirkte auf ihre Herzen, verbannte aus ihrer Brust das gewaltigste aller natürlichen Furchtgefühle und begeisterte sie zur Vollbringung von Taten, die schier jenseits des Bereichs der menschlichen Natur zu liegen scheinen. Tatsächlich aber besteht sicher kein großer Unterschied zwischen jener Billigung, die uns erst dann zuerkannt wird, wenn wir uns ihrer nicht mehr erfreuen können, und jener, die uns zwar niemals wirklich zuerkannt wird, die uns aber zuteil werden würde, wenn die Welt jemals die wahren Umstände in bezug auf unser Verhalten richtig erführe. Wenn die eine oft so gewaltige Wirkungen hervorruft, so kann es uns nicht wundernehmen, daß auch die andere stets in hohem Grade berücksichtigt wird. Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Aussteuer ein ursprüngliches Verlangen mit, seinen Brüdern zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihnen wehe zu tun. Sie lehrte ihn Freude über deren freundliche Gesinnung, und Schmerz über ihre unfreundliche Gesinnung zu empfinden. Sie bewirkte es, daß ihm deren Billigung um ihrer selbst willen äußerst schmeichelhaft und angenehm, und deren Mißbilligung überaus kränkend und beleidigend erscheint. Aber dieses Verlangen nach der Billigung seiner Brüder und diese Abneigung gegen deren Mißbilligung würden nicht allein hingereicht haben, um den Menschen für jene Gesellschaft geeignet zu machen, für die er geschaffen war. Darum hat die Natur ihn nicht nur mit dem Verlangen begabt, gelobt und gebilligt zu werden, sondern auch mit dem Verlangen, so zu sein, daß er gelobt werden sollte, oder so zu sein, wie er selbst es an anderen Menschen billigt. Das erste Verlangen hätte nur den Wunsch in
Dritter Teil · Zweites Kapitel
ihm erwecken können, für die Gesellschaft geeignet zu scheinen. Das zweite war notwendig, um ihn zu einem Menschen zu machen, der eifrig bemüht ist, wirklich für die Gesellschaft tauglich zu sein. Das erste hätte ihn nur dazu antreiben können, Tugend zu heucheln und Laster zu verhehlen. Das zweite war notwendig, um ihm die wirkliche Liebe zur Tugend und den wirklichen Abscheu vor dem Laster einzuflößen. In jedem gebildeten Geiste scheint dieses zweite Verlangen das stärkere von den beiden zu sein. Nur die schwächlichsten und oberflächlichsten Menschen können sich an jenem Lobe sehr ergötzen, von dem sie selbst wissen, daß es durchaus unverdient ist. Ein schwacher Mensch mag manchmal daran Gefallen finden, ein weiser Mann wird es bei jeder Gelegenheit von sich weisen. Aber ein weiser und verständiger Mann wird zwar wenig Freude über ein Lob fühlen, wenn er weiß, daß er des Lobes nicht würdig ist, dagegen wird er oft die höchste Freude empfinden, wenn er etwas tut, wovon er weiß, daß es lobenswert ist, mag er auch ebensowohl wissen, daß ihm kein Lob jemals dafür zuteil werden wird. Die Billigung der Menschen zu erlangen, wo ihm keine Billigung gebührt, das kann für ihn niemals etwas Wichtiges sein. Jene Billigung zu erlangen, wo sie ihm tatsächlich gebührt, das mag mitunter für ihn nicht sehr wichtig sein. Aber so zu sein, daß er Billigung verdient, das muß für ihn immer das Allerwichtigste sein. Lob zu begehren oder auch nur es anzunehmen, wo es uns nicht gebührt, kann nur die Folge der verächtlichsten Eitelkeit sein. Lob zu begehren, wo es uns wirklich gebührt, heißt nicht mehr verlangen, als daß ein äußerst wesentlicher Akt der Gerechtigkeit uns erwiesen werde. Die Liebe zu gerechtem, zu wahrem Ruhm, auch um seiner selbst willen und unabhängig von jedem Vorteil, den er daraus gewinnen kann, ist auch eines weisen Mannes nicht unwürdig. Dennoch wird er ihm oft gleichgültig gegenüberstehen oder ihn sogar verachten und niemals wird er mehr dazu geneigt sein, als wenn er die vollständigste Sicherheit be-
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sitzt, daß sein Verhalten in jedem Punkte vollkommen richtig gewesen ist. In diesem Falle bedarf seine Selbstbilligung keiner Bestätigung und Verstärkung durch die Billigung anderer. Sie ist allein hinreichend und er ist mit ihr zufrieden. Diese Selbstbilligung ist, wenn nicht das einzige, so doch das Hauptziel, das zu erreichen er besorgt sein kann oder besorgt sein sollte. Die Liebe zu ihr ist die Liebe zur Tugend. Wie die Liebe und die Bewunderung, die wir natürlicherweise für gewisse Charaktere hegen, uns leicht den Wunsch einflößt, uns selbst so angenehmer Gesinnungen würdig zu machen, so wird uns der Haß und die Verachtung, die wir ebenso naturgemäß gegen andere hegen, geneigt machen – und vielleicht in noch höherem Grade – vor dem bloßen Gedanken zurückzuschrecken, daß wir ihnen in irgendeiner Hinsicht ähneln könnten. Und auch in diesem Falle ist es nicht so sehr der Gedanke, gehaßt und verachtet zu werden, wovor wir zurückschauern, als vielmehr der, hassenswert und verabscheuenswürdig zu sein. Wir schrecken vor dem Gedanken zurück, etwas zu tun, weswegen wir gerechter- und billigerweise den Haß und die Verachtung unserer Mitmenschen verdienen würden, und zwar selbst dann, wenn wir die vollste Sicherheit besäßen, daß niemals wirklich solche Gesinnungen uns gegenüber geäußert werden würden. Wenn ein Mensch alle jene Regeln des Betragens übertreten hat, deren Beobachtung allein ihn den Menschen angenehm machen könnte, dann wird ihm auch die vollste Gewißheit, daß das, was er getan hat, für immer jedem menschlichen Auge verborgen bleiben werde, gar nichts nützen. Wenn er auf sein Verhalten zurückblickt und es in dem Lichte betrachtet, in welchem es der unparteiische Zuschauer betrachten würde, dann findet er, daß er keinem der Beweggründe mehr zustimmen kann, die ihn dabei geleitet hatten. Er wird bei dem Gedanken an dieses Verhalten beschämt und bestürzt sein und wird notwendigerweise ein gut Teil jener Schande empfinden, der er preisgegeben wäre, wenn seine Taten
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jemals allgemein bekannt würden. Auch in diesem Falle nimmt seine Einbildungskraft die Verachtung und Verspottung vorweg, vor der ihn ja nichts anderes schützt, als der Umstand, daß seine Umgebung nichts von diesen Taten weiß. Er fühlt dennoch, daß er diese Gesinnungen wirklich verdient, und zittert bei dem Gedanken daran, was er erdulden würde, wenn diese Gesinnungen jemals gegen ihn tatsächlich zum Ausdruck gebracht würden. Wenn aber die Tat, deren er sich schuldig gemacht hat, nicht nur eine jener Vergehungen war, die bloß einfache Mißbilligung hervorrufen, sondern eines jener argen Verbrechen, die Abscheu und Vergeltungsgefühl erwecken, dann könnte er niemals, solange ihm noch ein Rest von Gefühl geblieben ist, daran zurückdenken, ohne alle Qualen des Grauens und der Gewissensbisse zu empfinden ; und sollte er auch dessen ganz sicher sein, daß kein Mensch es jemals erfahren könnte, und sollte er sogar sich selbst überreden, daß es keinen Gott gäbe, es zu rächen, so würde er doch noch immer so stark jene Qualen empfinden, daß sie ausreichen würden, sein ganzes Leben zu verbittern ; er würde sich selbst immer noch als einen Menschen betrachten, der den Haß und den Zorn aller seiner Mitmenschen verdient ; und wenn sein Herz nicht durch die Gewohnheit des Verbrechens hart und unempfindlich geworden ist, könnte er nicht einmal daran ohne Grauen und Bestürzung denken, wie wohl die Menschen nach ihm blicken würden, welchen Ausdruck ihre Mienen und ihre Augen annehmen würden, wenn jemals die fürchterliche Wahrheit bekannt werden sollte. Diese Martern, die das entsetzte Gewissen immer plagen, das sind die Dämonen, die rächenden Furien, die in diesem Leben den Schuldigen beständig heimsuchen, die ihm weder Rast noch Ruhe gönnen, die ihn oft zur Verzweiflung und zur Raserei treiben, vor denen keine Gewißheit des Verborgenbleibens ihn schützen kann, vor denen keine Grundsätze des Unglaubens ihn zu erretten vermögen, und von denen ihn nichts anderes befreien kann, als der gemeinste und verworfenste von
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allen Gemütszuständen : die vollständige Unempfindlichkeit für Ehre und Schande, für Laster und Tugend. Die verabscheuenswürdigsten Menschen, die bei der Verübung äußerst furchtbarer Verbrechen ihre Maßnahmen mit so kühlem Verstand ergriffen hatten, daß sie sogar dem Verdacht der Schuld entgehen konnten, sind schon mitunter durch das Grauen, das sie vor ihrer Lage empfanden, dazu gebracht worden, aus eigenem Antrieb zu enthüllen, was kein menschlicher Scharfsinn je hätte erforschen und entdecken können. Indem sie ihre Schuld bekannten, indem sie sich selbst dem Vergeltungsgefühl ihrer beleidigten Mitbürger unterwarfen, und indem sie so jene Rache sättigten, die sie, ihrem eigenen Gefühl nach, völlig verdient hatten, hofften sie, durch ihren Tod sich mit den natürlichen Gefühlen der Menschen wenigstens in ihrer Phantasie wieder auszusöhnen, sich als Menschen betrachten zu können, die des Hasses und des Vergeltungsgefühles weniger wert sind, ihr Verbrechen einigermaßen zu sühnen, und, indem sie nun eher zum Zielpunkt des Mitleids als des Abscheus würden, womöglich in Frieden und mit der Verzeihung all ihrer Mitmenschen zu sterben. Verglichen mit dem, was sie vor der Enthüllung ihrer Taten gefühlt hatten, war, wie es scheint, der Gedanke an all das schon Glückseligkeit. In solchen Fällen scheint der Abscheu vor der Tadelnswürdigkeit selbst bei Personen, an denen man kein außergewöhnliches Zartgefühl und keine besondere Empfindsamkeit des Charakters vermuten könnte, vollständig die Furcht vor dem Tadel selbst zu überwinden. Um diesen Abscheu zu besänftigen, um einigermaßen die Vorwürfe ihres eigenen Gewissens zu lindern, unterwarfen sie sich freiwillig der Schande und der Bestrafung, die, wie sie wußten, ihren Verbrechen gebührten, denen sie aber doch leicht hätten entgehen können. Nur die leichtfertigsten und oberflächlichsten unter den Menschen sind es, die sich an jenem Lob wirklich zu ergötzen vermögen, von dem sie selbst wissen, daß es durchaus unverdient ist. In-
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dessen ist unverdiente Schande häufig imstande, sogar Menschen von mehr als gewöhnlicher Geistesstärke ernstlich zu kränken. Allerdings erlernen es sogar Leute von höchst mittelmäßiger Geistesstärke leicht, jene albernen Geschichten zu verachten, die so häufig in der Gesellschaft in Umlauf gesetzt werden, und die niemals verfehlen, an ihrer eigenen Sinnlosigkeit und Unrichtigkeit im Laufe von ein paar Wochen oder von ein paar Tagen abzusterben. Aber für einen schuldlosen Menschen – mag er auch eine mehr als gewöhnliche Seelenstärke besitzen – ist die ernstliche, wenngleich falsche Beschuldigung eines Verbrechens oft nicht bloß ärgerlich, sondern wahrhaft kränkend und schmerzlich, besonders wenn diese Beschuldigung unglücklicherweise gerade durch irgendwelche zufällige Umstände gestützt wird, die ihr ein Ansehen von Wahrscheinlichkeit verleihen. Es drückt ihn der Gedanke nieder, daß irgend jemand so niedrig von seinem Charakter denken sollte, um ihn für fähig zu halten, daß er sich jenes Verbrechens schuldig gemacht habe. Obwohl er sich seiner Schuldlosigkeit vollkommen bewußt ist, scheint doch schon die Beschuldigung – selbst in seiner eigenen Vorstellung – einen Schatten von Unehre und Schande auf seinen Charakter zu werfen. Auch sein gerechter Unwille über eine so grobe Beleidigung, die doch zu rächen häufig unschicklich und manchmal sogar unmöglich sein mag, ist an sich eine sehr schmerzliche Empfindung. Es gibt keine größere Qual für die menschliche Brust, als heftiges Vergeltungsgefühl, das nicht befriedigt werden kann. Ein schuldloser Mensch, der durch die falsche Bezichtigung eines schändlichen oder hassenswerten Verbrechens auf das Schafott gebracht wird, erleidet das grausamste Unglück, das die Unschuld überhaupt erdulden kann. Seine seelischen Qualen mögen in einem solchen Falle häufig größer sein, als die Qualen derjenigen, welche um eines gleichen Verbrechens willen Strafe erleiden, dessen sie sich jedoch tatsächlich schuldig gemacht haben. Verworfene Verbrecher, wie etwa gemeine Diebe oder Straßenräuber,
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haben häufig nur wenig Gefühl für die Niedrigkeit ihres Verhaltens und empfinden infolgedessen keinerlei Gewissensbisse. Ohne sich über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Strafe viel Gedanken zu machen, haben sie sich bereits daran gewöhnt, den Galgen als das Los zu betrachten, das ihnen höchstwahrscheinlich einmal zuteil werden wird. Wenn ihnen dann wirklich dieses Los zuteil wird, dann betrachten sie sich selbst bloß als nicht ganz so glücklich wie manche ihrer Genossen und fügen sich in ihr Schicksal ohne jeden anderen Verdruß, als etwa den, der aus der Furcht vor dem Tode entspringen mag, eine Furcht, die, wie wir dies häufig sehen, selbst von solch nichtswürdigen Schelmen oft so leicht und so vollständig überwunden zu werden vermag. Den unschuldigen Menschen dagegen quält außer der Unruhe, die diese Furcht auch bei ihm auslösen mag, und noch weit mehr als sie, seine Empörung über das Unrecht, das ihm angetan worden ist. Grauen überkommt ihn bei dem Gedanken, welche Schande durch die Bestrafung über sein Andenken gebracht werden mag, und er sieht voraus – was ihm die höchste Qual bereitet – daß selbst seine liebsten Freunde und Angehörigen sich in Zukunft nicht mit Bedauern und Zuneigung seiner erinnern werden, sondern mit Scham und mit Abscheu wegen seines, wie sie meinen, schändlichen Verhaltens, und so scheinen sich die Schatten des Todes um ihn mit einer schwärzeren und traurigeren Düsternis zusammenzuschließen, als sie sie sonst für ihn besessen hätten. Es steht zu hoffen, daß solche für die Ruhe der Menschheit verhängnisvolle Vorfälle sich äußerst selten in einem Lande ereignen ; aber sie ereignen sich mitunter in allen Staaten, sogar in solchen, in denen die Rechtspflege im allgemeinen sehr gut ist. Der unglückliche Calas, ein Mann von mehr als gewöhnlicher Seelenstärke – er wurde zu Toulouse wegen eines vermeintlichen Mordes an seinem Sohn, an dessen Tode er in Wahrheit völlig unschuldig war, gerädert und verbrannt – schien noch mit seinem letzten Atemzuge nicht so sehr um Abwendung
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der grausamen Strafe zu bitten, als vielmehr um Befreiung von der Schmach, die die Beschuldigung über sein Andenken bringen mußte. Als er schon gerädert war und eben in die Flammen geworfen werden sollte, ermahnte ihn der Mönch, der der Exekution beiwohnte, das Verbrechen zu bekennen, wegen dessen er verurteilt worden war. »Mein Vater«, sagte Calas, »vermögt ihr sogar zu glauben, daß ich schuldig bin ?« Den Menschen, die sich in so unglücklicher Lage befinden, kann jene niedrige Philosophie, deren Gesichtskreis sich auf dieses Leben beschränkt, vielleicht nur wenig Trost gewähren. Alles, was das Leben oder selbst den Tod erträglich machen könnte, ist ihnen genommen. Sie sind zum Tode und zu immerwährender Schande verurteilt. Religion allein kann ihnen eine wirkliche Tröstung gewähren. Sie allein vermag ihnen zu sagen, daß es nur von geringer Bedeutung ist, was Menschen von ihrem Verhalten denken mögen, während doch der alles sehende Richter der Welt es billigt. Sie allein kann ihnen die Aussicht auf eine andere Welt darbieten, eine Welt von höherer Unparteilichkeit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit als diese gegenwärtige, eine Welt, in der ihre Unschuld zur rechten Zeit kundwerden muß und ihre Tugend schließlich ihren Lohn finden wird ; dasselbe gewaltige Prinzip, das allein imstande ist, das triumphierende Laster mit Schrecken zu schlagen, gewährt also auch der entehrten und verhöhnten Unschuld die einzig wirksame Tröstung. Bei geringeren Vergehen ereignet es sich häufig ebenso wie bei schweren Verbrechen, daß einen feinfühligen Menschen die ungerechte Beschuldigung desselben schwerer trifft, als den wirklichen Übeltäter das Bewußtsein seiner tatsächlichen Schuld. Ein buhlerisches Weib lacht sogar über die wohlbegründeten Mutmaßungen und Verdächtigungen, die über ihr Betragen in Umlauf gesetzt werden. Eine noch so wenig begründete Mutmaßung der gleichen Art ist für eine unschuldige Jungfrau ein tödlicher Schlag. Wir können es, wie ich glaube, als eine allgemeine Erfah-
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rungsregel aufstellen, daß ein Mensch, der sich mit Vorbedacht einer schändlichen Tat schuldig gemacht hat, selten viel Gefühl für die Schande haben wird, und daß gar ein Mensch, der sich gewohnheitsmäßig solcher Taten schuldig macht, kaum jemals ein solches Gefühl überhaupt besitzen wird. Wenn alle Menschen – und zwar auch Menschen von mittelmäßigem Verstand – so leicht unverdienten Beifall gering achten, so mag es vielleicht der Überlegung wert scheinen, wie es wohl kommt, daß unverdienter Tadel und unverdiente Schande oft imstande ist, Menschen von der gesündesten und klarsten Urteilsfähigkeit so ernstlich zu kränken. Schmerz ist, wie ich bereits Gelegenheit hatte zu bemerken, fast in allen Fällen ein lebhafteres Gefühl als die entgegengesetzte und entsprechende Lust. Der erstere drückt uns beinahe immer weit mehr unter den gewöhnlichen – oder wie man es auch nennen könnte, natürlichen – Glückszustand herab, als uns die letztere jemals über ihn erhebt. Ein feinfühliger Mensch wird geneigt sein, sich durch gerechten Tadel weit mehr bedrückt zu fühlen, als er jemals durch gerechten Beifall sich gehoben fühlen wird. Unverdienten Beifall wird der Weise in allen Fällen mit Verachtung von sich weisen, dagegen wird er sehr oft die Ungerechtigkeit eines unverdienten Tadels ernstlich empfinden. Wenn er sich für eine Tat Beifall spenden läßt, die er nicht vollbracht hat, wenn er sich ein Verdienst anmaßt, das ihm nicht zukommt, dann fühlt er, daß er sich einer niedrigen Falschheit schuldig gemacht hat, und daß er nicht die Bewunderung, sondern die Verachtung gerade derjenigen Menschen verdient, die durch einen Irrtum veranlaßt wurden, ihn zu bewundern. Es mag ihm vielleicht ein gewisses, wohlbegründetes Vergnügen gewähren, zu bemerken, daß er von so vielen Menschen für fähig gehalten wurde, eine Tat zu vollbringen, die er in Wirklichkeit nicht vollbracht hat. Obgleich er aber seinen Freunden für ihre gute Meinung verbunden sein mag, so würde er sich doch selbst der ärgsten Nichtswürdigkeit schul-
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dig erachten, wenn er sie nicht sofort über ihren Irrtum aufklärte. Es gewährt ihm wenig Vergnügen, sich selbst in dem Lichte zu betrachten, in welchem andere Leute ihn tatsächlich erblicken, sobald er sich dessen bewußt ist, daß sie ihn, wüßten sie die Wahrheit, in einem ganz anderen Lichte sehen würden. Einen schwachen Menschen wird es indessen oft ergötzen, sich in diesem falschen und täuschenden Lichte zu betrachten. Er legt sich dann das Verdienst jeder lobenswerten Handlung bei, die man ihm zuschreibt, und maßt sich noch das Verdienst vieler anderer an, die kein Mensch jemals ihm zuzuschreiben dachte. Er gibt vor, getan zu haben, was er niemals tat, geschrieben zu haben, was ein anderer schrieb, erfunden zu haben, was ein anderer entdeckte, und so verfällt er in all die elenden Laster des Plagiats und gemeiner Lüge. Obgleich jedoch kein Mensch von auch nur mittelmäßigem gesunden Menschenverstand viel Vergnügen darüber empfinden kann, daß man ihm eine lobenswerte Handlung zurechnet, die er niemals vollbracht hat, so mag doch sogar ein Weiser großen seelischen Schmerz erdulden, wenn man ihn ernstlich eines Verbrechens beschuldigt, das er niemals begangen hat. Die Natur hat es so eingerichtet, daß in diesem Falle der Schmerz nicht nur überhaupt lebhafter gefühlt wird, als das entgegengesetzte und ihm entsprechende Lustgefühl, was ja auch sonst zutrifft, sondern sie hat diesen Intensitätsunterschied hier zu einem weit größeren gemacht als in den sonstigen Fällen. Eine bloße Erklärung, durch die er die betreffende Handlung in Abrede stellt, befreit den Menschen mit einem Schlag von dem törichten und lächerlichen Lustgefühl, aber sie wird ihn durchaus nicht immer von jenem seelischen Schmerz befreien. Wenn er das Verdienst, das man ihm zuschrieb, von sich weist, dann zweifelt kein Mensch an seiner Wahrhaftigkeit. Sie kann aber leicht in Zweifel gezogen werden, wenn er das Verbrechen in Abrede stellt, dessen man ihn anklagte. Er ist dann zugleich entrüstet über die Falschheit der Beschuldigung und gekränkt, wenn er bemerkt, daß man ihr Glauben
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schenkt. Er fühlt, daß sein Ansehen nicht hinreichend war, um ihn zu schützen. Er fühlt, daß seine Brüder, weit davon entfernt, ihn in jenem Lichte zu sehen, in dem er besorgt und eifrig bemüht ist, sich ihnen darzustellen, vielmehr ihn für fähig halten, sich jener Tat schuldig zu machen, deren man ihn angeklagt hat. Er weiß ganz genau, daß er nicht schuldig ist. Er weiß ganz genau, was er getan hat ; aber vielleicht gibt es kaum einen einzigen Menschen, der ganz genau weiß, was er zu tun fähig ist. Welche Handlungen seine eigentümliche Gemüts- und Geistesbeschaffenheit zulassen oder nicht zulassen mag, das ist vielleicht für jedermann etwas mehr oder weniger Zweifelhaftes. Das Vertrauen und die gute Meinung seiner Freunde und Nachbarn trägt mehr als alles andere dazu bei, ihn von diesem äußerst lästigen Zweifel zu befreien, ihr Mißtrauen und ihre ungünstige Meinung dagegen haben die Wirkung, diesen Zweifel zu verstärken. Er mag noch so zuversichtlich überzeugt sein, daß ihre ungünstige Beurteilung seiner Person ungerecht ist – seine Zuversicht kann selten stark genug sein, um zu verhindern, daß diese Beurteilung doch einigen Eindruck auf ihn macht ; und je größer seine Empfindlichkeit ist, je größer sein Zartgefühl, kurz, je größer sein Persönlichkeitswert ist, um so größer dürfte dieser Eindruck sein. Es ist wohl zu beachten, daß die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Gefühle und Urteile anderer Menschen mit unseren eigenen genau im gleichen Verhältnis für uns mehr oder weniger wichtig ist, als wir mehr oder weniger über die Schicklichkeit oder sittliche Richtigkeit unserer Gefühle und über die Stichhaltigkeit unserer Urteile im Unsicheren sind. Ein zartfühlender Mensch mag mitunter großen Verdruß darüber fühlen, daß er sich zu sehr einem Affekt hingegeben habe, den man sonst gleichwohl als einen ehrenwerten bezeichnen könnte ; etwa dem berechtigten Unwillen über die Beleidigung, die man ihm oder seinem Freunde zugefügt haben mag. Er ist nun von ängstlicher Sorge erfüllt, daß er, während er doch nur
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mit dem richtigen Temperament vorgehen und einen Akt der Gerechtigkeit vollführen wollte, doch aus einer allzu starken Heftigkeit seiner Gemütsbewegung heraus einem anderen Menschen wirklich unrecht getan habe, der in Wahrheit zwar nicht schuldlos, aber vielleicht doch nicht ganz so schuldig gewesen sein mag, als er zuerst glaubte. Die Meinung anderer Menschen wird ihm in diesem Falle äußerst wichtig. Ihre Billigung ist für ihn der heilendste Balsam, ihre Mißbilligung das bitterste und quälendste Gift, das man seinem verstörten Gemüt einflößen könnte. Wenn er aber mit seinem Verhalten in jedem Punkte vollkommen zufrieden ist, dann ist ihm oft das Urteil anderer Menschen weit weniger wichtig. Es gibt einige besonders edle und schöne Künste, in welchen der Grad der Trefflichkeit der Leistungen nur durch eine gewisse Feinheit des künstlerischen Geschmacks bestimmt werden kann, wobei jedoch dessen Entscheidungen immer noch einigermaßen unsicher erscheinen. Es gibt aber auch solche Künste, in denen das Gelingen einer Leistung entweder einen klaren Beweis oder doch eine befriedigende Überprüfung zuläßt. Unter den Bewerbern um die höchste Trefflichkeit in den verschiedenen Künsten ist die Besorgnis um die öffentliche Meinung stets bei der ersten Gruppe von Künsten stärker als bei der letzteren. Die Schönheit der Dichtkunst ist eine Sache von solcher Feinheit, daß ein junger Anfänger kaum jemals sicher sein kann, sie erreicht zu haben. Nichts erfreut ihn darum so sehr als die günstigen Urteile seiner Freunde und des Publikums und nichts kränkt ihn so ernstlich als deren ungünstige Urteile. Die ersteren befestigen die gute Meinung, die er über seine Leistungen so gerne hegen möchte, die letzteren erschüttern sie. Erfahrungen und Erfolge mögen ihm mit der Zeit ein wenig mehr Vertrauen zu seinem eigenen Urteil einflößen. Indessen kann er zu jeder Zeit durch ungünstige Urteile des Publikums aufs schwerste getroffen und gekränkt werden. Racine war über den Mißerfolg seiner Phädra,
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der feinsten Tragödie vielleicht, die in irgendeiner Sprache vorhanden ist, so verdrossen, daß er – obwohl er in der Vollkraft seines Lebens und auf der Höhe seiner Fähigkeiten stand – beschloß, nichts mehr für die Bühne zu schreiben. Dieser große Dichter pflegte häufig seinem Sohn zu erzählen, daß die armseligste und unvernünftigste Kritik ihm stets mehr Mißvergnügen verursacht habe, als das höchste und gerechteste Lob ihm jemals Vergnügen bereiten konnte. Die außergewöhnliche Empfindlichkeit Voltaires selbst für den geringsten Tadel dieser Art ist jedermann wohl bekannt. Die Dunciade des Herrn Pope ist ein bleibendes Denkmal dafür, wie sehr selbst dem korrektesten, elegantesten und harmonischesten aller englischen Dichter die Kritik der niedrigsten und verächtlichsten Schriftsteller naheging. Von Gray – der mit der Erhabenheit eines Milton, die Eleganz und den harmonischen Stil eines Pope vereinigte und dem sonst nichts fehlte, um ihn vielleicht zum ersten Dichter der englischen Sprache zu machen, als daß er ein wenig mehr hätte schreiben sollen – erzählt man, daß ihn eine törichte und sinnlose Parodie zweier seiner schönsten Oden so sehr verletzt habe, daß er von da ab nie mehr ein größeres Werk in Angriff nahm. Diejenigen Prosaschriftsteller, die sich selbst als sogenannte schöngeistige Autoren ansehen, nähern sich einigermaßen den Poeten in ihrer Empfindlichkeit. Mathematikern dagegen, welche die vollständigste Gewißheit von der Wahrheit und von der Wichtigkeit ihrer Entdeckungen besitzen können, ist es häufig äußerst gleichgültig, welche Aufnahme sie beim Publikum finden mögen. Die zwei größten Mathematiker, die ich jemals zu kennen die Ehre hatte und die meiner Meinung nach die beiden größten unter den zu meiner Zeit lebenden überhaupt waren, Dr. Robert Simson in Glasgow und Dr. Matthew Stewart in Edinburgh, schienen niemals auch nur den geringsten Verdruß über die Teilnahmslosigkeit zu empfinden, mit der die Unwissenheit des Publikums einige ihrer wertvollsten Werke aufnahm. Das Meisterwerk Sir Jsaac Newtons,
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seine »Mathematischen Prinzipien der Naturlehre«, wurde – wie ich mir habe sagen lassen – durch mehrere Jahre vom Publikum nicht beachtet. Es ist wahrscheinlich, daß die Gemütsruhe dieses großen Mannes infolge dieser Nichtbeachtung niemals eine Unterbrechung – und sei es auch nur eine solche von einer einzigen Viertelstunde – erfahren hat. Naturwissenschaftler nähern sich in ihrer Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung stark den Mathematikern und erfreuen sich in ihren Urteilen über das Verdienst ihrer eigenen Entdeckungen und Beobachtungen bis zu einem gewissen Grade der gleichen Gewißheit und Seelenruhe. Vielleicht wird mitunter auch das sittliche Verhalten dieser verschiedenen Klassen von Schriftstellern einigermaßen durch diesen überaus großen Unterschied ihrer Stellung gegenüber dem Publikum beeinflußt. Mathematiker und Naturwissenschaftler geraten infolge ihrer Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung nur selten in Versuchung, sich in Parteien und Klüngel zu vereinigen, sei es zur Hebung ihres eigenen Ansehens, sei es zur Unterdrückung desjenigen ihrer Rivalen. Sie sind beinahe immer Menschen von einer äußerst liebenswerten Einfachheit der Sitten, sie leben in gutem Einvernehmen untereinander, jeder einzelne von ihnen ist froh über das Ansehen, das der andere genießt, sie beteiligen sich nicht an Intriguen, um sich den Beifall des Publikums zu sichern, sondern sie freuen sich, wenn man ihre Werke gutheißt, ohne sich besonders darüber zu kränken oder zu ärgern, wenn man sie unbeachtet läßt. Es verhält sich dagegen nicht immer ganz so mit Dichtern und denjenigen, die sich als sogenannte schöngeistige Schriftsteller fühlen. Sie neigen sehr stark dazu, sich in eine Art literarischer Parteien zu spalten, wobei jede Clique – häufig offen und fast immer insgeheim – der tödliche Feind des Ansehens einer jeden anderen ist und all die niedrigen Künste der Intrigue und Verhetzung anwendet, um die öffentliche Meinung für die
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Werke ihrer Mitglieder und gegen diejenigen ihrer Feinde und Rivalen einzunehmen. In Frankreich hielten es Despreaux und Racine nicht für unter ihrer Würde, sich an die Spitze einer literarischen Clique zu setzen, um erst das Ansehen von Quinault und Perrault, später das von Fontenelle und La Motte herabzudrücken und selbst den guten La Fontaine mit einer Art höchst geringschätziger und mitleidiger Güte zu behandeln. In England hielt es der liebenswürdige Addison nicht seines edlen und bescheidenen Charakters unwürdig, sich an die Spitze einer kleinen Kabale ähnlicher Art zu stellen, um das wachsende Ansehen Popes niederzuhalten. Fontenelle hat, währender die Lebensläufe und Charaktere der Mitglieder der »Akademie der Wissenschaften«, einer Gesellschaft von Mathematikern und Naturforschern, beschreibt, häufig Gelegenheit, die liebenswürdige Schlichtheit ihrer Sitten zu feiern, eine Eigenschaft, die, wie er bemerkt, so allgemein unter ihnen war, daß sie eher für diese ganze Klasse von Schriftstellern für charakteristisch gelten konnte, als für irgendeinen unter ihnen. D’Alembert scheint, als er die Lebensläufe und Charaktere der Mitglieder der »Französischen Akademie« beschrieb, einer Gesellschaft von Dichtern und schöngeistigen Schriftstellern oder solchen, die dafür gelten, nicht so häufig Gelegenheit gehabt zu haben, eine derartige Beobachtung zu machen und erkühnt sich niemals, diese liebenswürdige Eigenschaft als charakteristisch für jene Klasse von Schriftstellern hinzustellen, die er feiert. Unsere Unsicherheit in bezug auf unsere Verdienste und unser Bestreben, günstig von ihnen zu denken, sollten im Verein miteinander ganz naturgemäß in uns den Wunsch erwecken, die Meinung anderer Leute über unsere Verdienste kennen zu lernen, sie sollten bewirken, daß wir uns außerordentlich freuen, wenn diese Meinung für uns günstig ist und uns außerordentlich kränken, wenn sie anders ist ; aber sie sollten nicht den Wunsch in uns erwecken, uns durch Intriguen und Kabalen jene günstige Mei-
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nung zu sichern und die ungünstige Meinung am Entstehen zu hindern. Wenn ein Mann alle Richter bestochen hat, dann kann ihm selbst die völlig einhellige Entscheidung des Gerichtshofes, obzwar sie ihn den Prozeß gewinnen läßt, doch nicht irgendwelche Gewißheit geben, daß er im Rechte war ; und hätte er seinen Prozeß nur zu dem Zwecke geführt, um sich die Überzeugung zu verschaffen, daß er im Rechte sei, dann würde er niemals die Richter bestochen haben. Allein obgleich es ihm um den Beweis zu tun war, daß er im Rechte sei, wünschte er doch auch seinen Prozeß zu gewinnen, und deshalb bestach er seine Richter. Wäre Lob für uns nur als Beweis dafür von Bedeutung, daß wir des Lobes würdig sind, dann würden wir es niemals durch unredliche Mittel zu erreichen trachten. Obgleich jedoch das Lob für den Weisen – wenigstens in zweifelhaften Fällen – nur aus diesem Grunde von besonderer Bedeutung ist, so hat es doch auch um seiner selbst willen eine gewisse Bedeutung und darum haben mitunter Menschen, die sehr weit über dem Durchschnitt standen – Weise können wir sie in diesen Fällen freilich nicht mehr nennen – den Versuch gemacht, durch höchst unredliche Mittel Lob zu erlangen und Tadel von sich abzuwenden. Lob und Tadel bringen zum Ausdruck, wie die Gefühle anderer Menschen in bezug auf unseren Charakter und unser Verhalten tatsächlich sind, Lobenswürdigkeit und Tadelnswürdigkeit, wie sie eigentlich sein sollten. Das Verlangen nach Lob ist der Wunsch, der günstigen Gesinnung unserer Brüder teilhaftig zu werden. Das Verlangen nach Lobenswürdigkeit ist der Wunsch, uns zu solchen Menschen zu machen, die jene Gesinnung verdienen. Insofern sind jene Prinzipien einander ähnlich und miteinander verwandt. Die gleiche Verwandtschaft und Ähnlichkeit findet statt zwischen der Furcht vor dem Tadel und der Furcht vor der Tadelnswürdigkeit. Der Mensch, der eine lobenswürdige Handlung zu vollbringen
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wünscht oder sie wirklich vollbringt, mag zugleich auch das Lob wünschen, das ihr gebührt, und mitunter vielleicht ein höheres Lob als ihr gebührt. In diesem Fall sind die beiden Prinzipien miteinander vermengt. Inwieweit sein Verhalten durch das eine und inwieweit es durch das andere beeinflußt wurde, das mag häufig sogar ihm selbst unbewußt sein. Den anderen muß es in diesem Fall beinahe immer unbekannt bleiben. Diejenigen, die im allgemeinen geneigt sind, die Verdienstlichkeit seines Verhaltens herabzusetzen, schreiben es in erster Linie oder ganz und gar dem bloßen Verlangen nach Lob zu oder der bloßen Eitelkeit, wie sie es nennen. Diejenigen, die geneigt sind, günstiger von seinem Verdienst zu denken, schreiben es in erster Linie oder ganz und gar dem Wunsch zu, des Lobes würdig zu sein, der Liebe zu allem, was wahrhaft ehrenwert und edel ist an dem Verhalten der Menschen, seinem Wunsche, die Billigung und den Beifall seiner Brüder nicht nur zu erlangen, sondern auch zu verdienen. Die Phantasie des Zuschauers wird dem Bilde, das er sich von dem Verhalten des Betreffenden macht, die eine oder die andere Farbe leihen, je nach seiner Art zu denken oder je nach der Gunst oder der Abneigung, die er vielleicht für den Menschen hegt, dessen Verhalten er eben betrachtet. Einige verdrossene Philosophen sind bei ihrer Beurteilung der menschlichen Natur so vorgegangen, wie grämliche Menschen es gerne zu tun pflegen, sobald sie über das Verhalten eines anderen urteilen sollen, und haben jede Handlung dem Verlangen nach Lob oder, wie sie es nennen, der Eitelkeit zugerechnet, die man eigentlich dem Wunsche, lobenswürdig zu sein, zuschreiben sollte. Ich werde später Gelegenheit haben, über die Systeme einiger dieser Philosophen zu berichten, und will mich jetzt mit ihrer Prüfung nicht aufhalten. Sehr wenigen Menschen nur wird es genügen, bei sich selbst das Bewußtsein zu hegen, daß sie jene Eigenschaften erlangt oder jene Handlungen vollbracht haben, die sie an anderen bewundern
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und für lobenswürdig halten, sofern es nicht auch zu gleicher Zeit von anderen anerkannt wird, daß sie diese Eigenschaften besitzen und diese Handlungen vollbracht haben, oder, mit anderen Worten, sofern sie nicht wirklich jenes Lob erreicht haben, das ihrer Meinung nach solchen Eigenschaften und Handlungen gebührt. In dieser Hinsicht weichen indes die Menschen sehr beträchtlich voneinander ab. Manchen scheint an dem Lob nichts gelegen zu sein, sobald sie in ihrem Geiste ganz fest davon überzeugt sind, die Lobenswürdigkeit erreicht zu haben. Andere wieder scheinen weit weniger auf die Lobenswürdigkeit als auf das Lob bedacht zu sein. Kein Mensch kann vollkommen oder auch nur leidlich damit zufrieden sein, daß er in seinem Verhalten alles Tadelnswerte vermieden hat, sofern er nicht zugleich auch dem Tadel und den Vorwürfen entgangen ist. Ein weiser Mann wird häufig auf das Lob nicht achten, auch wenn er es im höchsten Maße verdient hat ; aber er wird in allen Angelegenheiten, die ernstlich von Bedeutung sind, höchst sorgfältig bestrebt sein, sein Verhalten so einzurichten, daß er nicht nur alles vermeidet, was ihn des Tadels würdig machen würde, sondern soweit als möglich auch jeder Gelegenheit ausweicht, bei der er voraussichtlich getadelt werden könnte. Er wird freilich niemals den Tadel dadurch zu vermeiden suchen, daß er etwas tut, was er für tadelnswert hält ; daß er etwas unterläßt, wozu er verpflichtet wäre, oder daß er irgendeine Gelegenheit sich entgehen ließe, etwas zu tun, was er für wirklich und in hohem Grade lobenswert hält. Mit diesen Einschränkungen wird jedoch auch er den Tadel höchst ängstlich und sorgfältig zu vermeiden suchen. Es ist selten ein Zeichen großer Weisheit, wenn jemand um Lob – sei es auch um lobenswürdiger Handlungen willen – sehr besorgt ist, sondern im allgemeinen eher ein Zeichen einer gewissen Schwäche. Wenn jemand aber bemüht ist, auch dem Schatten eines Tadels oder Vorwurfs zu entgehen, so muß darin
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
durchaus keine Schwäche liegen, sondern es mag vielmehr häufig eine äußerst lobenswürdige Klugheit sein. »Viele Menschen«, sagt Cicero, »verachten den Ruhm, die sich über ungerechten Tadel doch sehr stark und ernstlich kränken, und dies scheint mir äußerst widersprechend«. Dieser Widerspruch dünkt mir jedoch in den unveränderlichen Prinzipien der menschlichen Natur begründet zu sein. Der allweise Schöpfer der Natur hat auf diese Weise den Menschen gelehrt, die Gefühle und Urteile seiner Brüder zu achten ; sich mehr oder weniger zu freuen, wenn sie sein Betragen gutheißen, und sich mehr oder weniger verletzt zu fühlen, wenn sie es mißbilligen. Er hat den Menschen, wenn ich so sagen darf, zum unmittelbaren Richter der Menschen gemacht und hat ihn auch in dieser wie in mancher anderen Beziehung nach seinem Bilde geschaffen und ihn zu seinem Statthalter auf Erden bestellt, damit er das Verhalten seiner Brüder beaufsichtige. Diese sind durch die Natur unterwiesen worden, jene Macht und jene Gerichtsbarkeit anzuerkennen, die dem Menschen übertragen wurde, sich mehr oder weniger gedemütigt und gekränkt zu fühlen, wenn sie sich seinen Tadel zugezogen haben, und sich mehr oder weniger gehoben zu fühlen, wenn sie seinen Beifall erlangt haben. Obgleich aber der Mensch auf diese Weise zum unmittelbaren Richter der Menschen gemacht worden ist, so erhielt er dieses Richteramt doch nur in der ersten Instanz ; und es gibt eine Berufung von seinem Richterspruch an ein weit höheres Tribunal, an das Tribunal ihres eigenen Gewissens, an jenes Tribunal des vorgestellten unparteiischen und wohlunterrichteten Zuschauers, an das des »inneren Menschen«, des großen Richters und Schiedsherren über ihr Verhalten. Die Rechtsprechung jedes dieser beiden Tribunale gründet sich auf Prinzipien, die in mancher Hinsicht zwar ähnlich und verwandt, in Wirklichkeit aber doch voneinander verschieden und abweichend sind. Die Gerichtsbarkeit des »äußeren« Menschen gründet sich durchaus auf
Dritter Teil · Zweites Kapitel
den Wunsch nach wirklichem Lob und auf die Abneigung gegen wirklichen Tadel. Die Gerichtsbarkeit des »inneren« Menschen gründet sich ganz und gar auf den Wunsch, lobenswürdig zu sein und auf die Abneigung dagegen, tadelnswert zu sein ; diese Gerichtsbarkeit gründet sich auf den Wunsch, jene Eigenschaften zu besitzen und jene Handlungen zu vollbringen, die wir an anderen Menschen lieben und bewundern, und auf die Furcht, jene Eigenschaften zu besitzen und jene Handlungen zu vollbringen, die wir an anderen Menschen hassen und verachten. Wenn der äußere Mensch uns für solche Handlungen Beifall spenden sollte, die wir nicht vollbracht haben, oder wegen solcher Beweggründe, die für uns nicht bestimmend waren, dann wird der innere Mensch sofort jenen Stolz und jene gehobene Gemütsstimmung dämpfen, welche solche grundlose Beifallsbezeigungen sonst hervorrufen könnten, indem er uns sagt, daß wir uns verächtlich machen, wenn wir sie annehmen, da wir ja wohl wissen, daß wir sie nicht verdienen. Wenn umgekehrt der äußere Mensch uns Vorwürfe machen sollte, sei es wegen Handlungen, die wir niemals vollführt haben, sei es wegen gewisser Beweggründe, die doch auf diejenigen Handlungen keinen Einfluß hatten, die wir wirklich vollbracht haben, dann kann der innere Mensch sogleich den falschen Urteilsspruch richtigstellen und uns die Versicherung geben, daß wir keineswegs jenen Tadel verdienen, der uns so ungerechterweise erteilt wurde. Mitunter jedoch scheint in diesem und manchem anderen Falle der innere Mensch gleichsam verblüfft und verwirrt durch die Heftigkeit und das Geschrei des äußeren Menschen. Die Gewalt und der Lärm, mit welchen der Tadel manchmal über uns ausgegossen wird, scheint unser natürliches Gefühl für das Lobenswerte und das Tadelnswürdige zu betäuben und zu lähmen ; und die Urteile des inneren Menschen werden dadurch zwar vielleicht nicht gänzlich verändert oder verkehrt, aber doch so sehr in der Beständigkeit und Festigkeit ihrer Entscheidung erschüttert, daß ihre natürliche Wirkung, die darin
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besteht, die Ruhe der Seele zu sichern, häufig in hohem Maße vernichtet wird. Wir werden kaum wagen, uns freizusprechen, wenn alle unsere Brüder uns laut verurteilen. Der von uns in Gedanken vorgestellte unparteiische Zuschauer unseres Verhaltens scheint seiner Meinung zu unseren Gunsten nur mit Furcht und Zögern Ausdruck zu geben, wenn die Meinung aller wirklichen Zuschauer, wenn die Meinung aller derjenigen, mit deren Augen und von deren Standort aus er unser Verhalten anzusehen trachtet, einhellig und entschieden gegen uns ist. In solchen Fällen scheint dieser Halbgott in unserer Brust wie die Halbgötter der Dichter teilweise zwar von unsterblicher Abkunft, teilweise jedoch auch von sterblicher Abstammung zu sein. Solange seine Urteilssprüche sich fest und beständig durch das Gefühl für das Lobenswerte leiten lassen, scheint er seiner göttlichen Herkunft entsprechend zu handeln ; sobald er sich jedoch durch die Urteile unwissender und schwacher Menschen in Erstaunen und Verwirrung setzen läßt, dann enthüllt er seine Verbindung mit der Sterblichkeit und scheint eher der menschlichen als der göttlichen Seite seiner Abstammung entsprechend vorzugehen. In solchen Fällen liegt der einzige wirksame Trost des bedrückten und gekränkten Menschen in der Berufung an ein noch höheres Tribunal, an das des alles sehenden Richters der Welt, dessen Augen niemals getäuscht und dessen Urteile niemals verkehrt werden können. Nur ein festes Vertrauen auf das niemals irrende, wahrhaft richtige Urteil dieses hohen Tribunals, vor welchem seine Unschuld zur rechten Zeit sich offenbaren und seine Tugend schließlich ihren Lohn finden muß, kann ihn aufrechterhalten angesichts der Schwächlichkeit und Verzagtheit seiner Seele, angesichts der Verwirrung und Bestürzung des Menschen in seiner Brust, den die Natur eingesetzt hat als den großen Hüter nicht nur seiner Unschuld, sondern auch seiner Seelenruhe in diesem Leben. So hängt unsere Glückseligkeit in diesem Leben in vielen Fällen ab von der demütigen Hoffnung und Erwartung eines
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künftigen Lebens ; einer Hoffnung und Erwartung, die tief verwurzelt ist in der menschlichen Natur, die allein deren erhabenen Vorstellungen von ihrer eigenen Würde zu stützen vermag, die allein die traurige Aussicht auf das beständig näher rückende Sterben erhellen und ihre Heiterkeit unter den schwersten Plagen aufrecht erhalten kann, denen sie infolge der Verwirrung und Ordnungslosigkeit dieses Lebens manchmal ausgesetzt sein mag. Daß es eine künftige Welt gibt, in der jedermann volle Gerechtigkeit zuteil werden wird, in der jeder mit allen denen in eine Reihe gestellt werden wird, die ihm nach ihren sittlichen und geistigen Eigenschaften wahrhaft ebenbürtig sind, wo der Besitzer jener bescheidenen Talente und Tugenden, die in diesem Leben durch das Schicksal niedergedrückt worden waren und keine Gelegenheit hatten, sich zu entfalten, die nicht nur der Öffentlichkeit unbekannt waren, sondern die zu besitzen auch er selbst kaum sicher sein konnte, und für die sogar der Mensch in seiner Brust kaum ein klares und deutliches Zeugnis abzulegen wagen konnte, wo dieses bescheidene, stille und unbekannte Verdienst in eine Linie, ja mitunter sogar höher gestellt werden wird, wie diejenigen, die in dieser Welt das höchste Ansehen genossen haben, und die durch die Vorteile ihrer Lage befähigt waren, die glänzendsten und blendendsten Handlungen zu vollbringen, das ist eine Lehre, so verehrungswürdig in jeder Hinsicht so trostreich für die Schwäche, so schmeichelhaft für die Größe der menschlichen Natur, daß der tugendhafte Mensch, der das Unglück hat, an ihr zu zweifeln, doch unmöglich umhin kann, den höchst ernsthaften und eifrigen Wunsch zu hegen, an sie zu glauben. Diese Lehre hätte niemals dem Hohn der Spötter ausgesetzt sein können, wenn nicht die Darstellung, welche einige ihrer eifervollsten Verfechter von der Verteilung der Belohnungen und Strafen gegeben haben, wie sie in jener künftigen Welt stattfinden soll, allzu häufig in direktem Widerspruch zu allen unseren sittlichen Gefühlen gestanden wäre.
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Daß der geschäftige Höfling oft mehr begünstigt wird als der treue und eifrige Diener, daß die beständige Aufwartung und Schmeichelei oft den kürzeren und sichereren Weg zur Beförderung bildet als Verdienst und wirkliche Leistungen, und daß ein »Feldzug« nach Versailles oder St. James oft soviel wert ist wie zwei Feldzüge nach Deutschland oder Flandern, das ist eine Klage, die wir alle schon von so manchem ehrwürdigen, aber unzufriedenen alten Offizier gehört haben. Was jedoch sogar für die Schwäche irdischer Herrscher als die größte Schande betrachtet wird, das wurde als ein Akt der Gerechtigkeit der göttlichen Vollkommenheit zugeschrieben ; und die Pflichten der Frömmigkeit, der öffentlichen und privaten Verehrung der Gottheit sind selbst von tüchtigen und befähigten Menschen als die einzigen Tugenden hingestellt worden, die Anspruch auf Lohn oder Befreiung von Strafe in der künftigen Welt gewähren können. Vielleicht waren das die Tugenden, die der Stellung jener Menschen am meisten angemessen waren, und in denen sie selbst sich in erster Linie auszeichneten ; und wir sind ja alle von Natur aus geneigt, die Vorzüge unseres eigenen Charakters zu hoch anzuschlagen. In der Rede, die der beredte und philosophische Massillon hielt, als er den Fahnen des Regiments Catinat die Weihe erteilte, findet sich folgende Ansprache an die Offiziere : »Das Beklagenswerteste an Ihrer Lage, meine Herren, ist dies, daß Sie in einem harten und beschwerlichen Leben, dessen Pflichten und Dienstleistungen mitunter sogar über die harten Regeln des strengsten Klosters hinausgehen, doch immer vergeblich dulden, vergeblich im Hinblick auf das künftige Leben, häufig aber auch im Hinblick auf dieses Leben. Ach, den einsiedlerischen Mönch in seiner Zelle, der verpflichtet ist, sein Fleisch zu kasteien und es dem Geiste dienstbar zu machen, ihn richtet doch die Hoffnung auf eine sichere Belohnung auf und das stille Bewußtsein, jener Gnade teilhaft zu werden, welche das Joch des Herrn erleichtert Sie aber, werden Sie es wagen können, wenn
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Sie auf dem Totenbett liegen, vor Gott hinzuweisen auf die täglichen Strapazen und Mühsale Ihres Berufes ? Werden Sie es wagen können, von ihm eine Belohnung zu fordern ? Und was von all den Anstrengungen, die Sie auf sich genommen haben, was von all der Gewalt, mit der Sie sich selbst überwunden haben, könnte Gott als eine Leistung ansehen, die um seinetwillen geschehen wäre ? Und doch haben Sie die besten Tage Ihres Lebens Ihrem Beruf geopfert und zehn Jahre Dienst haben Ihren Körper mehr mitgenommen, als es vielleicht ein ganzes Leben der Buße und Kasteiung getan haben würde. Oh, meine Brüder, ein einziger Tag jener Leiden, dem Herrn geweiht, hätte Euch vielleicht die ewige Seligkeit erworben. Hättet Ihr nur eine einzige Euch schmerzvolle Tat ihm dargebracht, sie hätte Euch vielleicht das Erbe der Heiligen gesichert ! Und Ihr habet all dies getan und habet es vergeblich getan, denn es geschah für diese Welt.« In dieser Art die wertlosen Kasteiungen des Klosterlebens mit den edlen Entbehrungen und Gefahren des Krieges zu vergleichen ; anzunehmen, daß ein Tag oder eine Stunde, die jenem gewidmet wurden, ein höheres Verdienst in den Augen des großen Weltenrichters erwerben sollten als ein ganzes Leben, das ehrenvoll im Kriegsdienst verbracht wurde, das steht sicherlich in Widerspruch zu allen unseren sittlichen Gefühlen, zu all den Grundsätzen, nach welchen die Natur selbst uns gelehrt hat, unsere Verachtung oder Bewunderung zu richten. Dieser Geist war es indessen, welcher die himmlischen Regionen den Mönchen und Ordensbrüdern vorbehielt oder jenen Menschen, deren Betragen und Lebenswandel dem von Mönchen und Ordensbrüdern ähnlich war, dagegen alle die Helden, alle die Staatsmänner und Gesetzgeber, alle die Dichter und Philosophen früherer Zeiten zur Hölle verurteilte, alle diejenigen, welche Erfindungen oder Verbesserungen geschaffen oder sich ausgezeichnet haben in jenen Künsten, die zur Erhaltung des menschlichen Lebens, zu
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seiner Bequemlichkeit oder zu seiner Verschönerung beitragen, alle die großen Beschützer, Lehrer und Wohltäter des Menschengeschlechtes, alle diejenigen, denen wir auf Grund unseres natürlichen Gefühls für das Lobenswürdige das höchste Verdienst und die erhabenste Tugend zuschreiben müssen. Kann es uns noch wundernehmen, daß eine so sonderbare Anwendung dieser ehrwürdigen Lehre sie manchmal der Verachtung und Verspottung ausgesetzt hat, wenigstens bei solchen Menschen, die selbst vielleicht keine große Neigung zu den demutvollen und beschaulichen Tugenden besaßen oder keinen besonderen Geschmack an ihnen fanden ? *
drittes kapitel Über den Einfluß und die Autorität des Gewissens Obgleich aber die Billigung seines eigenen Gewissens in manchen außerordentlichen Fällen dem Menschen in seiner Schwäche kaum Genüge tun kann, obgleich das Zeugnis des in Gedanken vorgestellten unparteiischen Zuschauers, des großen Inwohners seiner Brust, nicht immer allein imstande ist, ihm Halt zu gewähren, so ist doch in allen Fällen der Einfluß und die Autorität dieses Prinzips sehr groß ; und nur, wenn wir diesen inneren Richter zu Rate ziehen, können wir jemals die Dinge, die uns selbst betreffen, in ihrer richtigen Gestalt und in ihren wahren Maßen erblicken oder können wir jemals einen richtigen Vergleich zwischen unseren eigenen Interessen und denen anderer Menschen ziehen.
* Vergleiche Voltaire : Vous y grillez sage et docte Platon, Divin Homère, éloquent Cicéron, etc.
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Wie dem Auge des Körpers Gegenstände groß oder klein erscheinen, nicht so sehr ihren wirklichen Maßen entsprechend, als vielmehr entsprechend der größeren oder geringeren Entfernung ihres Standortes, so erscheinen sie auch in gleicher Weise dem, was man das natürliche Auge des Geistes nennen könnte ; und wir stellen die Fehler bei beiden Organen so ziemlich auf die gleiche Art richtig. In meiner gegenwärtigen Situation scheinteine ungeheureLandschaft von Wiesen und Wäldern und fernen Gebirgen nicht mehr Platz einzunehmen als den des kleinen Fensters, an dem ich schreibe, und unverhältnismäßig kleiner zu sein als die Stube, in der ich eben sitze. Ich kann auf keine andere Weise einen richtigen Vergleich zwischen jenen großen Objekten und den kleinen Gegenständen ziehen, die um mich sind, als indem ich mich wenigstens in der Phantasie an einen anderen Standort versetze, von wo ich beide aus ungefähr gleicher Entfernung überblicken kann, so daß ich mir dadurch ein Urteil über ihre wahren Größenverhältnisse zu bilden vermag. Gewohnheit und Erfahrung haben mich gelehrt, dies so leicht und schnell zu tun, daß ich mir dessen kaum bewußt werde, und ein Mensch muß gewissermaßen schon mit der Psychologie des Gesichtssinnes bekannt sein, ehe er es sich ganz zum Bewußtsein bringen kann, wie klein jene entfernten Gegenstände dem Auge erscheinen würden, wenn nicht die Phantasie sie – aus dem Wissen um ihre wahre Größe heraus – gleichsam ausdehnte und vergrößerte. Ebenso erscheint uns infolge der ursprünglichen, egoistischen Affekte der menschlichen Natur der Verlust oder Gewinn eines ganz kleinen eigenen Vorteils von ungeheuer größerer Wichtigkeit, er erregt eine weit leidenschaftlichere Freude oder Betrübnis, ein weit brennenderes Verlangen oder Widerstreben, als die bedeutendste Angelegenheit eines anderen Menschen, zu dem wir in keiner besonderen näheren Beziehung stehen. Solange seine Interessen von diesem Standpunkt aus angesehen werden, können
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sie niemals unseren eigenen das Gleichgewicht halten, können sie niemals uns abhalten, zu tun, was immer geeignet sein mag, unsere Interessen zu fördern, mag es auch für ihn noch so verderblich sein. Ehe wir einen gerechten Vergleich zwischen jenen entgegengesetzten Interessen anstellen können, müssen wir unseren Standort verändern. Wir dürfen sie weder von unserem, noch auch von seinem Platze aus betrachten, weder mit unseren eigenen Augen, noch mit den seinigen, sondern wir müssen sie von dem Platze und mit den Augen einer dritten Person ansehen, die in keiner näheren Beziehung zu einem von uns beiden steht, und die mit Unparteilichkeit zwischen uns richtet. Auch hier haben Gewohnheit und Erfahrung uns gelehrt, dies so leicht und schnell zu tun, daß wir uns dessen kaum bewußt werden ; und es erfordert auch in diesem Falle einen gewissen Grad von Überlegung und sogar von Psychologie, um uns zu überzeugen, wie wenig Interesse wir an den wichtigsten Angelegenheiten unseres Nächsten nehmen würden, wie wenig wir durch alles das berührt werden würden, was ihn betrifft, wenn nicht das Gefühl für das Schickliche und Gerechte jene Ungleichheit richtigstellte, welche sonst naturgemäß unsere Empfindungen beherrschen würde. Stellen wir uns vor, daß das große chinesische Reich mit all seinen Myriaden von Einwohnern plötzlich durch ein Erdbeben verschlungen würde, und überlegen wir, wie ein human gesinnter Mensch in Europa, der keinerlei Beziehung zu jenem Weltteil hätte, dadurch berührt werden würde, wenn er von diesem fürchterlichen Unglück Kenntnis erhielte ! Er würde, denke ich, zunächst seiner Trauer über das Mißgeschick jenes unglücklichen Volkes sehr lebhaften Ausdruck geben, er würde sich mancherlei trübseligen Betrachtungen über die Unsicherheit des menschlichen Lebens hingeben und über die Eitelkeit aller Arbeiten und Werke der Menschen, die in einem Augenblick so völlig vernichtet werden können. Er würde vielleicht auch, wenn er ein nachdenklicher Mensch wäre, mancherlei Überlegungen über die
Dritter Teil · Drittes Kapitel
Wirkungen anstellen, die dieses Unglück für den Handel Europas und für den Geschäftsverkehr der Welt im allgemeinen nach sich ziehen dürfte. Und wenn er mit all dieser artigen Philosophie fertig wäre, wenn er einmal all diesen humanen Empfindungen geziemend Ausdruck gegeben hätte, dann würde er seinem Geschäft oder seinem Vergnügen nachgehen, sich seiner Erholung oder seiner Zerstreuung widmen und alles das mit der gleichen Gemächlichkeit und Ruhe, als ob kein derartiger Vorfall sich ereignet hätte. Der geringfügigste Unfall, der ihm selbst zustoßen könnte, würde in ihm eine weit stärkere Beunruhigung hervorrufen. Das Bewußtsein, daß er morgen seinen kleinen Finger verlieren müßte, würde ihn schon heute nachts nicht schlafen lassen ; dagegen wird er bei dem Untergang von hundert Millionen seiner Brüder mit der tiefsten Seelenruhe schnarchen – vorausgesetzt, daß er diese niemals gesehen hätte – und die Vernichtung jener ungeheuren Menschenmenge scheint offenbar eine Sache zu sein, die ihn weit weniger berührt, als dieses erbärmliche Mißgeschick, das ihn selber angeht. Würde also ein human gesinnter Mensch, um dieses erbärmliche Mißgeschick von sich abzuwenden, bereit sein, das Leben von hundert Millionen seiner Brüder zu opfern, vorausgesetzt, daß er diese niemals gesehen hätte ? Die menschliche Natur wird mit Abscheu vor diesem Gedanken zurückschrecken und niemals hat die Welt in ihrer größten Verworfenheit und Verderbtheit einen solchen Schurken hervorgebracht, der fähig gewesen wäre, diesen Gedanken zu hegen. Aber woher kommt dieser Unterschied ? Wenn unsere passiven Gefühle fast immer so gemein und egoistisch sind, wie kommt es, daß die Prinzipien, die unser Handeln bestimmen, oft so edelmütig und vornehm sind ? Wenn uns immer alles das, was uns selbst betrifft, um so viel tiefer berührt als alles das, was andere betrifft, was ist es dann, was den Edelmütigen in allen Fällen, den niedrig Denkenden wenigstens manchmal fähig macht, seine eigenen Interessen den größeren Interessen anderer zu opfern ?
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Es ist nicht die sanfte Gewalt der Menschlichkeit, es ist nicht jener schwache Funke von Wohlwollen, den die Natur im menschlichen Herzen entzündet hat, die derart imstande wären, den stärksten Antrieben der Selbstliebe entgegenzuwirken. Es ist eine stärkere Gewalt, ein zwingenderer Beweggrund, der sich in solchen Fällen äußert. Es ist Vernunft, Grundsatz, Gewissen, es ist der Inwohner unserer Brust, der innere Mensch, der große Richter und Schiedsherr über unser Verhalten. Er ist es, der uns, so oft wir im Begriffe stehen, so zu handeln, daß wir die Glückseligkeit anderer in Mitleidenschaft ziehen, mit einer Stimme, die imstande ist, unsere vermessensten Leidenschaften in Bestürzung zu versetzen, zuruft, daß wir nur einer aus der Menge sind und in keiner Hinsicht besser als irgendein anderer dieser Menge ; und daß wir, wenn wir uns so blind und so schändlich vor allen anderen den Vorzug geben, das Vergeltungsgefühl, den Abscheu und die Verwünschungen der Menschen verdienen. Dieser unparteiische Zuschauer allein lehrt uns die wirkliche Geringfügigkeit unseres eigenen Selbst und alles dessen, was uns angeht, erkennen und nur durch das Auge dieses unparteiischen Zuschauers können die natürlichen Täuschungen der Selbstliebe richtiggestellt werden. Er zeigt uns die Schönheit des Edelmuts und die Häßlichkeit der Ungerechtigkeit ; er zeigt uns, wie schön es ist, auf den größten eigenen Vorteil zu verzichten und ihn dem noch größeren Interesse anderer Menschen aufzuopfern, und wie häßlich es ist, einem anderen auch nur das geringste Unrecht zuzufügen, um dadurch für uns selbst einen Vorteil zu erlangen, und wäre dieser auch noch so groß. Es ist nicht die Liebe zu unserem Nächsten, es ist nicht die Liebe zur Menschheit, was uns in vielen Fällen zur Betätigung jener göttlichen Tugenden antreibt. Es ist eine stärkere Liebe, eine mächtigere Neigung, die in solchen Fällen im allgemeinen eingreift : die Liebe zu allem, was ehrenwert und edel ist, das Verlangen nach Größe, Würde und Erhabenheit unseres Charakters.
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Sobald die Glückseligkeit oder das Unglück anderer in irgend einer Beziehung von unserem Verhalten abhängt, wagen wir es nicht – wie die Selbstliebe es uns einflüstern möchte – den Vorteil des einen dem Vorteil der vielen vorzuziehen. Der »innere« Mensch ruft uns sofort zu, daß wir dabei uns selbst zu hoch und andere zu niedrig werten, und daß wir, wenn wir so vorgehen, die Verachtung und den Zorn unserer Brüder verdienen. Und diese Empfindung ist keineswegs nur auf solche Menschen beschränkt, die sich durch außergewöhnliche Seelengröße oder durch besondere Tugend auszeichnen. Sie ist jedem auch nur leidlich guten Soldaten im tiefsten Innern eingepflanzt, denn sein Gefühl sagt ihm, daß er zum Gespött seiner Kameraden werden würde, wenn man von ihm glauben könnte, er sei imstande, vor einer Gefahr zurückzuschrecken, oder er könne zögern, sein Leben in die Schanze zu schlagen oder selbst es wegzuwerfen, sobald das Interesse des Dienstes dies von ihm fordert. Ein Einzelner darf niemals sich selbst auch nur irgendeinem anderen Einzelnen so sehr vorziehen, daß er diesen anderen verletzen oder beleidigen würde, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen, mag auch der Vorteil, der ihm daraus erwächst, weit größer sein als der Schaden oder die Beleidigung des anderen. Der Arme darf niemals dem Reichen etwas stehlen oder veruntreuen, mag auch der Vorteil, der für ihn aus dem unrechtmäßigen Erwerb entstehen würde, weit größer sein als der Schaden, den der Verlust für den Anderen herbeiführen könnte. Auch in diesem Falle ruft der Mensch in seinem Innern ihm sofort zu, daß er nicht besser sei als sein Nächster, und daß er durch die ungerechte Bevorzugung seiner eigenen Person sich die verdiente Verachtung und den Groll der Menschen ebenso zuziehen müsse wie die Bestrafung, welche die Menschen ihm aus jener Verachtung und jenem Zorn heraus naturgemäß zuerkennen werden ; denn er habe durch dieses Vorgehen eines jener geheiligten Gesetze verletzt, von deren wenigstens leidlicher Befolgung die ganze Ru-
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he und der ganze Frieden der menschlichen Gesellschaft abhängt. Es gibt keinen einigermaßen redlichen Menschen, der nicht die innere Schmach einer solchen Handlung, den unauslöschlichen Makel, den sie für immer seiner Gesinnung aufprägen würde, mehr fürchtete als das größte äußere Unglück, das ihn ohne ein Verschulden auf seiner Seite möglicherweise treffen könnte ; und der nicht in seinem Innern die Wahrheit jenes großen stoischen Grundsatzes fühlte, daß es mehr der menschlichen Natur zuwider sei, einen anderen Menschen ungerechterweise einer Sache zu berauben oder seinen eigenen Vorteil zu Unrecht durch den Verlust oder Nachteil eines anderen zu fördern, als selbst der Tod, als Armut, als Schmerz, als all die Unfälle, die ihm, sei es an seinem Körper oder an seinen äußeren Verhältnissen zustoßen können. Wenn freilich das Glück oder Unglück anderer in keiner Beziehung von unserem Betragen abhängig ist, wenn unsere Interessen von den ihrigen ganz und gar getrennt und abgesondert sind, so daß keinerlei Zusammenhang oder Widerstreit zwischen beiden stattfindet, dann halten wir es nicht immer für notwendig, unserer natürlichen, aber vielleicht unschönen Besorgnis um unsere eigenen Angelegenheiten Einhalt zu tun, und wir tragen keine Bedenken, uns unserer ebenso natürlichen und vielleicht ebenso unschönen Gleichgültigkeit gegenüber den Angelegenheiten anderer Menschen zu überlassen. Die allergewöhnlichste Erziehung hat uns schon gelehrt, in allen wichtigen Fällen so zu handeln, daß wir eine Art von Unparteilichkeit zwischen uns und anderen einhalten, und sogar der gewöhnliche Verkehr des täglichen Lebens ist imstande, die Prinzipien unseres Handelns bis zu einem gewissen Grade von sittlicher Richtigkeit umzubilden. Dagegen ist nur eine äußerst kunstvolle und verfeinerte Erziehungsweise – wie man gesagt hat – fähig, die Ungleichheiten in unseren passiven Gefühlen zu berichtigen, und wir müssen zu diesem Zweck, wie man behauptet hat, zu der strengsten und tiefsten Philosophie unsere Zuflucht nehmen.
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Zweierlei Gruppen von Philosophen haben es versucht, uns diese schwierigste von allen Lektionen der Moral beizubringen. Die eine Gruppe hat sich bemüht, unser Gefühl für die Interessen anderer zu steigern ; die andere hat es versucht, die Empfindlichkeit für unsere eigenen Interessen herabzusetzen. Die Philosophen der einen Art wollten, daß wir für andere ebensoviel empfinden, wie wir von Natur aus für uns selbst empfinden. Die der zweiten Art wollten, daß wir für uns selbst nur so viel empfinden, wie wir naturgemäß für andere empfinden. Beide Gruppen sind wohl in ihren Lehren allzu weit gegangen und haben dabei jenes rechte Maß beträchtlich überschritten, welches Natur und Sittlichkeit vorschreiben. Die Philosophen der ersten Art sind jene weinerlichen und trübsinnigen Moralisten, die uns beständig vorwerfen, daß wir uns glücklich fühlen, während so viele unserer Brüder sich im Elend befinden, * jene Moralisten, welche die natürliche Freude am eigenen Wohlergehen als sündig betrachten, weil diese nicht an die vielen Unglücklichen denke, welche in jedem Augenblick unter den mannigfachsten Bedrängnissen leiden : unter den Entbehrungen der Armut, unter den Qualen der Krankheit, unter den Schrecken des Todes, unter den Angriffen und Bedrückungen durch ihre Feinde. Erbarmen mit jenem Elend, das wir niemals sahen, von dem wir niemals hörten, das aber, wie wir versichert sein können, eine so große Anzahl unserer Mitmenschen zu allen Zeiten heimsucht, sollte, wie jene Philosophen meinen, die Freuden des Glücklichen dämpfen und sollte eine gewisse schwermütige Niedergeschlagenheit zur ständigen Gemütsstimmung aller Menschen machen. Man muß aber vor allem sagen, daß diese übertriebene Sympathie mit einem Unglück, von dem wir nichts wissen, ganz und gar sinnlos und unver* Vergleiche Thomsons Jahreszeiten, Winter : »Ach, wenig denken die heiter’n, zügellosen, stolzen«, usw. Siehe auch Pascal.
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nünftig scheint. Wenn ihr die ganze Erde in Betracht zieht, so werdet ihr finden, daß durchschnittlich auf einen Menschen, welcher Schmerzen oder Elend erduldet, zwanzig andere kommen, die sich in Wohlstand und Freuden oder doch wenigstens in erträglichen Umständen befinden. Es kann sicherlich kein Grund angegeben werden, warum wir eher mit dem einen weinen als mit den zwanzig anderen uns freuen sollten. Dieses künstliche Mitleid ist aber nicht nur sinnlos, sondern es scheint überdies auch dem Menschen ganz unmöglich zu sein, dasselbe in sich hervorzurufen ; und diejenigen, welche eine solche Gemütsstimmung zur Schau tragen, fühlen gemeinhin nichts als eine gewisse erkünstelte und sentimentale Traurigkeit, welche ihnen nicht vom Herzen kommt, sondern nur die Wirkung hat, ihren Gesichtsausdruck und ihre Reden ohne Grund trübselig und unangenehm zu machen. Schließlich aber wäre diese Gemütsstimmung, wenn man sie auch in sich zustande bringen könnte, vollständig nutzlos und könnte zu keinem anderen Zwecke dienen, als die Person elend zu machen, die sie besäße. Die größte Anteilnahme, die wir dem Schicksal jener Menschen entgegenbringen könnten, mit denen uns keine Bekanntschaft oder nähere Beziehung verbindet, und die gänzlich außerhalb des Bereiches unseres Einflusses stehen, könnte nur uns selbst in Ängstlichkeit versetzen, ohne daß sie irgendwelche Vorteile für die betreffenden Menschen im Gefolge hätte. Wozu sollten wir uns wegen der Leute auf dem Mond beunruhigen ? Alle Menschen, auch jene, die am weitesten von uns entfernt sind, haben zweifellos Anspruch auf unsere guten Wünsche und wir geben ihnen unsere guten Wünsche gerne. Wenn sie aber trotzdem unglücklich sein sollten, dann würde es uns keineswegs zu unseren Pflichten zu gehören scheinen, daß wir uns deswegen irgendwelche Sorgen machen. Darum scheint es weise von der Natur eingerichtet, daß wir nur wenig an dem Schicksal derjenigen Menschen Anteil nehmen, denen wir weder Dienste erweisen, noch Schaden zufügen können, und die in je-
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der Beziehung so überaus weit von uns entfernt sind ; und wenn es möglich wäre, die ursprüngliche Beschaffenheit unseres Gemüts in dieser Hinsicht zu ändern, so könnten wir durch diese Änderung doch nichts gewinnen. Niemals wirft man uns vor, daß wir zu wenig Mitgefühl mit der Freude des Glücklichen haben. Vielmehr wird das Wohlwollen, welches wir für glückliche Verhältnisse hegen, eher – soweit der Neid es nicht verhindert – dazu neigen, zu allzu großer Stärke anzuwachsen ; und dieselben Moralisten, welche uns wegen des Mangels an hinreichendem Mitgefühl mit den Unglücklichen tadeln, machen uns zugleich wegen der Leichtfertigkeit Vorwürfe, mit der wir nur allzusehr geneigt sind, den Glücklichen, Mächtigen und Reichen zu bewundern und beinahe zu verehren. Zu den Moralisten, welche sich bemühen, die natürliche Unbilligkeit in unseren passiven Gefühlen dadurch richtigzustellen, daß sie unser Gefühl für dasjenige herabzusetzen suchen, was uns selbst besonders angeht, können wir alle antiken Philosophenschulen zählen, besonders aber die antiken Stoiker. Der Mensch soll sich nach der Lehre der Stoiker nicht als ein abgesondertes und vereinzeltes Wesen ansehen, sondern als einen Bürger der Welt, als ein Glied des gewaltigen Gemeinwesens der Natur. Er soll zu allen Zeiten gerne seine Einwilligung dazu geben, daß für die Vorteile dieser großen Gemeinschaft seine eigenen kleinen Interessen geopfert werden. Was immer ihn selbst betrifft, sollte ihn nicht näher berühren als das, was irgendeinen anderen gleich wichtigen Teil dieses ungeheueren Systems angeht. Wir sollten uns selbst nicht in dem Lichte betrachten, in welches unsere eigenen egoistischen Leidenschaften uns gerne setzen möchten, sondern in dem Licht, in welchem irgendein anderer Bürger der Welt uns betrachten würde. Was uns selbst zustößt, sollten wir ganz so ansehen wie das, was unserem Nächsten zustößt, oder – was auf dasselbe hinauskommt – so wie unser Nächster dasjenige ansieht, was uns zustößt. »Wenn unser Nächster«, sagt Epiktet,
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»sein Weib verliert oder seinen Sohn, so gibt es niemanden, der sich nicht dessen bewußt wäre, daß das ein menschliches Unglück ist, ein natürliches Ereignis, durchaus in Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ; aber wenn das Gleiche uns selbst zustößt, dann schreien wir auf, als ob wir das schrecklichste Unglück erlitten hätten. Indessen sollten wir uns erinnern, wie es uns berühren würde, wenn dieses Ereignis einem anderen zugestoßen wäre und so, wie wir uns bei seinem Unglück verhalten würden, so sollten wir uns auch in unserem eigenen verhalten«. Jene Unglücksfälle, welche Einzelpersonen betreffen und für welche wir leicht mehr fühlen als es den Regeln der Billigkeit entsprechen würde, sind von zweierlei Art. Es sind entweder solche, die uns nur mittelbar berühren und in erster Linie gewisse andere Personen betreffen, die uns ganz besonders teuer sind, wie etwa unsere Eltern, unsere Kinder, unsere Geschwister, unsere nächsten Freunde. Oder es sind solche, die uns selbst unmittelbar und direkt berühren, indem sie unseren Körper, unser Vermögen oder unseren Ruf treffen, wie etwa Schmerz, Krankheit, das Herannahen des Todes, Armut, Schande usw. In Unglücksfällen der ersten Art können unsere Gefühle zweifellos jenes Maß sehr weit überschreiten, welches die genaue Regel der Schicklichkeit zulassen würde. Aber sie können auch ebensogut hinter jenem Maß zurückbleiben und dies wird auch häufig der Fall sein. Derjenige, der nicht mehr fühlen würde, wenn sein eigener Vater oder sein eigener Sohn stirbt oder sich im Elend befindet, als wenn dieses Schicksal den Vater oder den Sohn eines anderen Menschen betrifft, der würde uns weder im ersten Fall als guter Sohn, noch im zweiten als guter Vater erscheinen. Eine solche unnatürliche Gleichgültigkeit wäre weit davon entfernt, unseren Beifall hervorzurufen, sondern würde vielmehr unsere höchste Mißbilligung erfahren. Indessen gibt es unter jenen Gefühlen der Zuneigung zwischen Familiengliedern einige, die besonders leicht durch ihr Übermaß und andere, die mehr durch
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ihre allzu geringe Stärke Anstoß erregen. Die Natur hat in der weisesten Absicht bei den meisten, vielleicht bei allen Menschen, die elterliche Zärtlichkeit zu einem weit stärkeren Gefühl gemacht, als die kindliche Liebe. Die Erhaltung und Fortpflanzung der Art hängt ganz und gar von der ersteren ab und nicht von der letzteren. In der Mehrzahl der Fälle hängt die Existenz und Erhaltung des Kindes durchaus von der Fürsorge der Eltern ab. Selten aber hängt die Existenz und Erhaltung der Eltern von jener des Kindes ab. Deshalb hat die Natur der elterlichen Liebe eine solche Stärke verliehen, daß es im allgemeinen nicht nötig erscheint, sie noch anzufachen, sondern eher, sie zu dämpfen. Und selten bemühen sich Moralisten, uns zu lehren, wie wir der Verliebtheit, der maßlosen Zuneigung, der ungerechten Bevorzugung, die wir gerne unseren Kindern vor denen anderer Leute zuteil werden lassen, nachhängen sollen, sondern sie trachten im allgemeinen eher uns zu lehren, wie wir sie zügeln sollen. Dagegen ermahnen sie uns zu der zärtlichsten Liebe gegenüber unseren Eltern und fordern von uns, daß wir uns ihnen in ihrem Alter in geziemender Weise für die Güte erkenntlich zeigen, die sie uns in unserer Kindheit und unserer Jugend erwiesen hatten. In den zehn Geboten wird uns befohlen, Vater und Mutter zu ehren. Aber der Liebe zu unseren Kindern wird keine Erwähnung getan. Die Natur selbst hat uns zur Erfüllung dieser letzteren Pflicht in ausreichender Weise angeleitet. Man wird selten einem Menschen vorwerfen, daß er sich so stelle, als liebe er seine Kinder mehr, als dies wirklich der Fall ist. Man hat aber schon wiederholt einen Menschen verdächtigt, daß er seine Liebe zu seinen Eltern in unaufrichtiger, prahlerischer Weise zur Schau trage. Aus dem gleichen Grunde ist oft genug der absichtlich zur Schau gestellte Kummer einer Witwe der Unaufrichtigkeit geziehen worden. Wir würden wohl auch ein Übermaß solch liebevoller Zuneigung achten, wenn wir es für aufrichtig halten könnten ; und obgleich wir es vielleicht nicht durchaus billigen würden, so würden wir es doch auch nicht
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
ernstlich verurteilen. Daß auch dieses Übermaß lobenswürdig erscheint, wenigstens in den Augen desjenigen, der es heuchelt, dafür bildet eben dieses Heucheln schon den Beweis. Aber sogar das Übermaß jener Art von Gefühlen der Zuneigung, die gewöhnlich durch ihr Übermaß Anstoß zu erregen pflegen, kann zwar tadelnswert, aber gewiß niemals hassenswert erscheinen. Wir tadeln die maßlose Verliebtheit und Besorgnis von Eltern als eine Übertriebenheit, die sich in letzter Linie auch für das Kind schädlich erweisen kann, und die inzwischen jedenfalls für die Eltern selbst äußerst beschwerlich ist. Aber wir werden sie leicht verzeihen und werden sie niemals mit Haß und Abscheu betrachten. Dagegen erscheint uns das Fehlen dieses gewöhnlich übermäßig starken Gefühles immer als ganz besonders hassenswert. Derjenige, der offensichtlich sogar für seine eigenen Kinder nichts fühlt und sie bei allen Gelegenheiten mit unverdienter Strenge und Härte behandelt, scheint uns der ärgste und verabscheuungswürdigste Rohling zu sein. Der rechte Sinn für das sittlich Richtige ist so weit davon entfernt von uns zu verlangen, daß wir jene außerordentliche Empfindsamkeit gänzlich ausrotten, die wir von Natur aus dem Unglück unserer nächsten Angehörigen entgegenbringen, daß er vielmehr stets weit mehr durch das Fehlen jener Empfindsamkeit, als durch ihr Übermaß beleidigt wird. Die stoische Apathie scheint uns in solchen Fällen niemals angemessen und all die metaphysischen Sophismen, durch die man sie zu stützen pflegt, können selten zu etwas anderem führen als dazu, die harte Gefühllosigkeit eines Narren zur zehnfachen Stärke ihrer ursprünglichen Taktlosigkeit aufzublasen. Die Dichter und Romanschriftsteller, die am besten die feinen und zarten Empfindungen der Liebe und Freundschaft und all die anderen Gefühle persönlicher und verwandtschaftlicher Zuneigung zu schildern verstehen, Racine und Voltaire, Richardson, Marivaux und Riccoboni, sind in solchen Fällen weit bessere Lehrer als Zeno, Chrysipp oder Epiktet.
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Die maßvolle Empfindsamkeit für das Unglück anderer, die uns nicht gerade zur Erfüllung unserer Pflichten unfähig macht, das wehmütige und liebevolle Andenken an unsere dahingegangenen Freunde, »das stechend Weh, verborg’nem Kummer lieb«, wie Gray sagt, sind keineswegs unangenehme Empfindungen. Obwohl sie äußerlich die Züge des Schmerzes und des Leidens tragen, so besitzen sie doch alle in ihrem innersten Wesen das adelnde Gepräge der Tugend und das Bewußtsein des eigenen Wertes. Anders verhält es sich mit jenen Unglücksfällen, die unmittelbar und geradezu uns selbst berühren, indem sie unseren Körper, unser Vermögen oder unser Ansehen treffen. Hier wird das Gefühl für das sittlich Richtige weit eher durch ein Übermaß als durch den Mangel an Empfindsamkeit auf unserer Seite verletzt werden und es wird nur sehr wenige Fälle geben, in welchen wir uns allzu stark der stoischen Apathie und Gleichgültigkeit nähern könnten. Es ist schon früher bemerkt worden, daß wir nur sehr wenig Mitgefühl für alle jene Affekte empfinden, welche körperlichen Zuständen ihren Ursprung verdanken. Jener Schmerz, der durch eine augenfällige Ursache hervorgerufen wurde, wie etwa durch das Zerschneiden oder Zerreißen des Fleisches, ist vielleicht dasjenige körperliche Gefühl, für welches der Zuschauer noch die lebhafteste Sympathie empfindet. Wenn sein Nächster auf dem Totenbett liegt, so wird auch dies selten verfehlen, einen tiefen Eindruck auf ihn zu machen. Indessen steht in beiden Fällen das, was er empfindet, so ganz außer jedem Verhältnis zu den Gefühlen desjenigen, den das Unglück unmittelbar betrifft, daß dieser kaum jemals bei dem unbeteiligten Zuschauer dadurch Anstoß erwecken könnte, weil er seine Leiden anscheinend zu leicht nähme. Der Mangel an Vermögen, die Armut, erweckt an und für sich wenig Mitleid. Ihre Klagen pflegen nur allzu leicht eher Verach-
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tung als Mitgefühl zu erwecken. Wir verachten den Bettler und mag uns seine Zudringlichkeit auch ein Almosen abnötigen, wir werden doch kaum jemals ein ernstliches Mitleid mit ihm fühlen. Dagegen wird der Sturz aus Reichtum in Armut, da er ja gewöhnlich auch für den, der dieses Schicksal erleidet, das größte Elend mit sich bringt, selten ermangeln, in dem Zuschauer tiefes und aufrichtiges Mitleid hervorzurufen. Obgleich sich dieses Unglück in dem gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft selten ereignen kann, ohne daß auf Seiten des davon Betroffenen gewisse Fehler in seiner Lebensführung – und sogar sehr beträchtliche Fehler – geschehen sein mögen, so wird man ihm doch fast immer so viel Mitleid entgegenbringen, daß man ihn kaum jemals auf die tiefste Stufe der Armut wird sinken lassen. Er wird vielmehr fast immer durch die Hilfe seiner Freunde, häufig auch durch die Nachsicht gerade derjenigen Gläubiger, die Grund genug hätten, über seine Unklugheit Klage zu führen, in einer gewissen anständigen, wenn auch bescheidenen mittleren Vermögenslage erhalten werden. Wir könnten vielleicht Menschen, die sich in solch unglücklicher Lage befinden, leicht einen gewissen Grad von Schwäche verzeihen ; andererseits werden zugleich diejenigen am meisten unsere Billigung erwecken, die in dieser Lage am meisten Haltung bewahrt haben, die sich mit der größten Ruhe in ihre neue Lage finden, die durch den Wechsel der Verhältnisse keine Erniedrigung erlitten zu haben scheinen, sondern die ihre Stellung in der Gesellschaft nicht auf ihr Vermögen, sondern auf ihren Charakter und ihr Verhalten zu stützen scheinen, und niemals werden solche Menschen verfehlen, uns die höchste und liebevollste Bewunderung einzuflössen. Da von all den äußeren Unglücksschlägen, die einen schuldlosen Menschen unmittelbar treffen können, der unverdiente Verlust des guten Rufes sicherlich der ärgste ist, so wird uns ein hohes Maß von Empfindlichkeit gegenüber allen Ereignissen, die ein so großes Mißgeschick herbeiführen können, nicht immer un-
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schön oder unangemessen erscheinen. Wir achten oft einen jungen Mann um so mehr, wenn er eine ungerechte Schmach, die seinem Ruf oder seiner Ehre angetan wurde, mit einem, sei es auch besonders heftigen Vergeltungsgefühl erwidert. Wenn über das Verhalten einer schuldlosen jungen Dame völlig unbegründete Gerüchte in Umlauf gesetzt wurden, dann erscheint uns ihre Betrübnis vollkommen liebenswert. Menschen in vorgerückterem Alter, die eine lange Erfahrung von der Torheit und Ungerechtigkeit der Welt gelehrt hat, sowohl ihrem Tadel als ihrem Beifall wenig Beachtung zu schenken, werden jede üble Nachrede geringschätzen und unbeachtet lassen, ja, sie werden die nichtswürdigen Urheber derselben nicht einmal eines ernstlichen Unwillens und Vergeltungsgefühles würdigen. Eine solche Gleichgültigkeit, die sich gänzlich auf das feste Vertrauen zu dem eigenen wohlerprobten und gefestigten Charakter gründet, würde uns an jungen Leuten dagegen, die ein solches Vertrauen nicht haben können und auch nicht haben sollen, unpassend erscheinen. Bei ihnen würde man in einer solchen Gleichgültigkeit eher den Vorboten einer künftigen überaus unschönen Gefühllosigkeit gegen alle wirkliche Ehre und Schande erblicken, die sich in reiferen Jahren bei ihnen zeigen dürfte. Bei allen anderen Unglücksfällen, die uns selbst persönlich und unmittelbar betreffen, werden wir nur selten dadurch Anstoß erregen können, daß wir den Anschein erwecken, als gingen sie uns zu wenig nahe. Wir erinnern uns häufig mit Freude und Genugtuung jener teilnehmenden Empfindungen, die wir für das Unglück eines anderen hegten. Selten aber können wir jener Empfindlichkeit gedenken, mit der wir unser eigenes Unglück trugen, ohne dabei eine gewisse Scham und Demütigung zu empfinden. Wenn wir die verschiedenen Schattierungen und Abstufungen von Schwäche und Selbstbeherrschung prüfen, wie wir sie im gewöhnlichen Leben antreffen, so werden wir uns sehr leicht davon überzeugen, daß diese Gewalt über unsere passiven Gefühle nicht
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aus den unverständlichen Schlußfolgerungen einer spitzfindigen Dialektik gewonnen werden muß, sondern aus jener großen Schule, die uns die Natur selbst zur Erwerbung dieser und jeder anderen Tugend errichtet hat, nämlich aus einem Blick auf die Gefühle des wirklichen oder des in der Phantasie vorgestellten Zuschauers, der unser Verhalten beobachtet. Ein ganz kleines Kind besitzt keine Selbstbeherrschung, sondern, welches auch immer seine Gemütsbewegungen sein mögen, Furcht oder Schmerzempfindung oder Zorn, es wird immer mit Aufwand aller Kräfte sich bemühen, durch sein heftiges Geschrei die Aufmerksamkeit seiner Pflegerin oder seiner Eltern wachzurufen. Solange es unter der Obhut solch parteiischer Beschützer bleibt, ist sein Zorn der erste und vielleicht der einzige Affekt, den es zu mäßigen gelehrt wird. Denn diese Beschützer sind oft um ihrer eigenen Ruhe willen gezwungen, es durch Lärmen und Drohen zu schrecken und in eine ruhigere Stimmung zu versetzen ; und so wird der Affekt, der es gleichsam zum Angriff getrieben hat, nun im Zaume gehalten durch jenen anderen Affekt, der es lehrt, auf seine eigene Sicherheit bedacht zu sein. Sobald es aber einmal alt genug ist, um zur Schule zu gehen, oder um mit Seinesgleichen zu verkehren, dann wird es bald bemerken, daß die anderen keine solche parteiische Nachsicht üben. Von Natur aus hegt es den Wunsch, ihre Gunst zu gewinnen und ihrem Haß und ihrer Verachtung zu entgehen. Schon die Rücksicht auf seine eigene Sicherheit lehrt es, sich dementsprechend zu verhalten ; und es wird bald bemerken, daß dies auf keine andere Weise geschehen kann, als wenn es nicht nur seinen Zorn, sondern auch alle anderen Affekte bis auf einen solchen Grad mäßigt, daß sie seinen Spielkameraden und Gefährten noch gut dünken können. Es tritt so in die große Schule der Selbstbeherrschung ein, es trachtet mehr und mehr Herr seiner selbst zu werden und fängt an, seine Gefühle einer gewissen Disziplin zu unterwerfen ; freilich wird auch die Übung eines ganzen Lebens – und wäre seine Dau-
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er noch so lang – nur sehr selten ausreichen, um diese Disziplin zu wirklicher Vollendung zu bringen. Auch dem schwächsten Menschen wird sich bei Unglücksfällen, die nur ihn allein betreffen, wie Schmerz, Krankheit, Kummer, sofort, wenn ihn ein Freund, und noch mehr dann, wenn ihn ein Fremder besucht, der Gedanke aufdrängen, in welchem Licht diese wohl seine Lage betrachten mögen. Ihre Art, seine Lage zu betrachten, lenkt seine Aufmerksamkeit von dem Bilde ab, in welchem sie sich ihm selbst darstellt, und sein Herz wird darum im gleichen Augenblick, in dem der Besucher bei ihm erscheint, schon einigermaßen beruhigt. Diese Wirkung wird augenblicklich und gleichsam mechanisch zustande gebracht werden ; aber bei einem schwachen Menschen wird sie nicht von langer Dauer sein. Das Bild, das er sich selbst von seiner Lage gemacht hat, drängt sich ihm sogleich wieder auf. Wie vorher überläßt er sich Seufzern, Tränen und Wehklagen ; und er bemüht sich wie jenes Kind, das noch nicht zur Schule geht, auf die Weise eine Art Harmonie zwischen seinem Leid und dem Mitleid des Zuschauers herzustellen, daß er nicht sein Leid zu mäßigen sucht, sondern in ungestümer Weise an das Mitgefühl des anderen appelliert. Bei einem etwas standhafteren Menschen wird die Wirkung einigermaßen anhaltender sein. Er wird sich bemühen, seine Aufmerksamkeit so sehr er kann auf den Gedanken an jenen Eindruck zu heften, den seine Lage voraussichtlich auf seine Umgebung machen dürfte. Er wird gleichzeitig die Achtung und Billigung fühlen, die sie notwendig ihm gegenüber hegen werden, solange er derart seine Ruhe bewahrt ; und mag er auch unter dem frischen Eindruck eines großen Unglücks stehen, er wird doch nicht mehr für sich selber zu fühlen scheinen, als andere tatsächlich für ihn empfinden. Aus Sympathie mit ihrer Billigung wird er sich selbst Beifall und Billigung zuerkennen und die Freude, die ihm jene Gesinnung der anderen bereitet, wird
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ihm die Kraft und die Fähigkeit verleihen, noch leichter in diesem edlen Bestreben fortzufahren. In den meisten Fällen wird er es vermeiden, seines Unglücks überhaupt Erwähnung zu tun, und die Personen seiner Umgebung werden, wenn sie nur leidlich wohlerzogen sind, darauf bedacht sein, nichts zu sagen, was die Erinnerung daran in ihm wachrufen könnte. Er wird sich bemühen, sie wie gewöhnlich von gleichgültigen Themen zu unterhalten, oder wird, wenn er sich zu dem Wagnis stark genug fühlt, seines Unglücks Erwähnung zu tun, sich bestreben, davon so zu sprechen, wie sie seiner Ansicht nach davon wohl sprechen würden, ja sogar sein Unglück nicht lebhafter zu fühlen, als sie wohl imstande wären, es zu empfinden. Wenn er indessen an die harte Schule der Selbstbeherrschung nicht sehr gewöhnt ist, wird er bald dieser Zurückhaltung überdrüssig werden. Ein langer Besuch ermüdet ihn und gegen Ende desselben ist er schon beständig in Gefahr, das zu tun, was er dann bestimmt in dem Augenblick tun wird, wenn der Besuch vorüber ist, nämlich sich der ganzen Schwäche eines maßlosen Kummers hinzugeben. Die moderne gute Sitte, die gegenüber der menschlichen Schwäche äußerst nachsichtig ist, verbietet Fremden während einer gewissen Zeit, Personen, die ein schweres Familienunglück betroffen hat, zu besuchen, und gestattet nur den Besuch der nächsten Angehörigen und der intimsten Freunde. Die Gegenwart dieser Bekannten, meint man, werde dem Trauernden weniger Zwang auferlegen als diejenige fremder Personen, und er werde sich auch leichter den Gefühlen solcher Menschen anpassen können, von denen er mit gutem Grund eine nachsichtigere Sympathie erwarten darf. Geheime Feinde, die sich einbilden, daß man sie nicht als solche kenne, pflegen häufig mit besonderer Vorliebe solche Beileidsbesuche so bald wie die vertrautesten Freunde abzustatten. In diesem Fall wird sich auch der allerschwächste Mensch bemühen, seine männliche Fassung zu bewahren und aus Ärger und Verachtung über die Bosheit jener Menschen in seinem Be-
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tragen so viel Heiterkeit und Ruhe zu zeigen trachten, als er nur irgend vermag. Ein Mann von wahrer Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit aber, ein Weiser und Gerechter, der in der großen Schule der Selbstbeherrschung und in dem Treiben und der Geschäftigkeit der Welt gestählt worden ist, ein Mensch, der vielleicht oft der Gewalttätigkeit und der Ungerechtigkeit des Parteikampfes und den Mühsalen und Gefahren des Krieges ausgesetzt war, ein solcher Mann wird bei allen Gelegenheiten die Herrschaft über seine passiven Gefühle behaupten ; und er wird stets, mag er nun in der Einsamkeit oder in Gesellschaft sein, fast die gleiche Haltung bewahren, ja, er wird sogar nahezu das Gleiche empfinden. Im Gelingen oder im Mißgeschick, im Glück oder in widrigen Verhältnissen, vor Freunden oder vor Feinden, war er oft gezwungen, diese seine Standhaftigkeit gegen Anfechtungen zu behaupten. Er hat niemals auch nur für einen Augenblick zu vergessen gewagt, welches Urteil wohl der unparteiische Zuschauer über seine Empfindungen und über sein Verhalten fällen würde. Niemals hat er es gewagt, auch nur einen Augenblick lang den Menschen in seiner eigenen Brust außer acht zu lassen. Er hatte sich daran gewöhnt, mit den Augen dieses »inneren Menschen« alles zu betrachten, was immer sich auf ihn selbst bezog. Diese Gewohnheit ist ihm geradezu zur zweiten Natur geworden. Seine beständige Übung und sein Streben waren darauf gerichtet, nicht nur sein äußeres Verhalten und Betragen so einzurichten, sondern soweit als möglich auch seine innersten Empfindungen und Gefühle so umzumodeln, daß sie mit denen dieses hehren und ehrfurchtgebietenden Richters in Übereinstimmung wären, und freilich war dazu eine immer wieder erneute Bemühung notwendig. Er heuchelt nicht etwa die Empfindungen jenes unparteiischen Zuschauers, sondern er macht sie sich wirklich zu eigen. Er identifiziert sich beinahe mit ihm, er wird beinahe selbst jener unparteiische Zuschauer, und fühlt sogar kaum mehr an-
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ders, als jener große Schiedsrichter über sein Betragen ihn fühlen heißt. Der Grad von Selbstbilligung, mit welcher jedermann in solchen Fällen sein eigenes Verhalten betrachtet, wird höher oder niedriger sein, genau im Verhältnis zu dem Grad von Selbstbeherrschung, welche notwendig war, um diese Selbstbilligung zu erreichen. Wo wenig Selbstbeherrschung erforderlich war, dort gebührt auch wenig Selbstbilligung. Ein Mensch, der sich nur am Finger geritzt hat, kann, auch wenn er schon im gleichen Augenblick sein unbedeutendes Mißgeschick wieder vergessen zu haben scheint, sich selbst dafür doch keine hohe Anerkennung zollen. Ein Mann, der sein Bein durch einen Kanonenschuß verloren hat, und der doch schon einen Augenblick später mit seiner gewöhnlichen Ruhe und Kaltblütigkeit spricht und handelt, der wird, da er einen weit höheren Grad von Selbstbeherrschung aufwenden mußte, natürlich auch ein weit größeres Maß von Selbstbilligung fühlen. Den meisten Menschen würde sich bei einem solchen Ereignis der fürchterliche Eindruck, den ihr Unglück naturgemäß auf sie machen muß, mit solcher Lebhaftigkeit und in so grellen Farben aufdrängen, daß er jeden Gedanken daran ersticken würde, welchen Eindruck es wohl auf einen anderen machen möge. Sie würden nichts fühlen, als ihren eigenen Schmerz, sie könnten auf nichts acht haben, als auf ihren eigenen Schrecken, und sie würden nicht nur das Urteil jenes bloß gedachten Menschen in ihrer Brust, sondern auch das des wirklichen Zuschauers, der etwa gerade anwesend wäre, durchaus übersehen und unbeachtet lassen. Der Lohn, den die Natur für ein gutes Betragen im Unglück gibt, steht also genau im Verhältnis zu dem Wert jenes guten Betragens. Die einzige Entschädigung, die sie für die Bitterkeit des Schmerzes und des Elends gewähren könnte, ist auch – bei gleicher Höhe seines guten Betragens – dem Grade jener Schmerzen und jenes Elends genau angemessen. Je größer der Grad von
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Selbstbeherrschung, welcher notwendig ist, um unsere natürliche Empfindlichkeit zu besiegen, um so größer ist auch die Freude und der Stolz, den dieser Sieg gewährt ; und diese Freude und dieser Stolz sind so groß, daß kein Mensch ganz unglücklich sein kann, der sie in vollem Maße genießt. Elend und Jammer können niemals in jene Brust eindringen, in der vollkommene Selbstzufriedenheit wohnt, und, obwohl es vielleicht zu weit ginge, wenn man mit den Stoikern behaupten wollte, daß bei solchen Ereignissen, wie wir sie oben erwähnt haben, die Glückseligkeit des Weisen in jeder Beziehung ebenso groß sein wird, wie sie unter irgendwelchen anderen Umständen hätte sein können, so muß man doch wenigstens anerkennen, daß diese vollste Zufriedenheit mit sich selbst das Gefühl für seine Leiden zwar nicht gänzlich in ihm auslöschen, aber doch bedeutend erleichtern muß. Auch der weiseste und stärkste Mensch wird, wie ich glaube, in derartigen Paroxysmen des Leidens – wenn ich es so nennen darf – eine beträchtliche und vielleicht sogar eine schmerzliche Anstrengung aufwenden müssen, um seinen Gleichmut zu behaupten. Das Gefühl seines Elends, das düstere Bild seiner Lage, die sich ihm naturgemäß aufdrängen, werden schwer auf ihm lasten und nur mit sehr großer Anstrengung wird er seine Aufmerksamkeit auf die Gefühle und die Betrachtungsweise des unparteiischen Zuschauers dauernd richten können. Beide Betrachtungsweisen bieten sich ihm gleichzeitig dar. Sein Ehrgefühl und die Rücksicht auf seine eigene Würde werden ihm gebieten, seine ganze Aufmerksamkeit auf die eine Betrachtungsweise zu richten. Seine natürlichen, unbelehrten und undisziplinierten Empfindungen, werden sie beständig von da abzulenken und auf die andere Betrachtungsweise zu leiten suchen. In diesem Fall wird er sich nicht völlig mit jenem gedachten Menschen in seiner Brust identifizieren, er wird hier nicht selbst zum unparteiischen Beobachter seines Verhaltens werden. Die verschiedenen Betrachtungsweisen beider Personen bestehen in seinem Geiste getrennt
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und wohl unterschieden voneinander, und während ihn die eine zu diesem Verhalten hinzieht, leitet ihn die zweite zu einem anderen ganz verschiedenen Verhalten an. Wenn er jener Betrachtungsweise folgt, welche seine Ehre und seine Würde ihm als die richtige anzeigen, dann wird ihn freilich die Natur nicht ganz ohne Entschädigung dafür lassen. Er wird sich seiner eigenen völligen Selbstbilligung und gleichzeitig des Beifalls eines jeden aufrichtigen und unparteiischen Zuschauers erfreuen. Nach den unabänderlichen Gesetzen der Natur wird er indessen immer noch leiden und die Entschädigung, die sie ihm gewährt, ist zwar sehr beträchtlich, aber doch nicht hinreichend, um die Leiden völlig aufzuwiegen, die sie ihm jenen Gesetzen zufolge auferlegt. Es wäre aber auch nicht gut, wenn es sich so verhielte. Wenn die Entschädigung jene Leiden völlig aufwöge, dann könnte es für den Menschen keinen Beweggrund geben, aus Selbstliebe einem Ereignis aus dem Wege zu gehen, das seine Tauglichkeit für seine eigenen Zwecke und für die der Gesellschaft notwendig herabsetzen muß ; die Natur aber wollte aus mütterlicher Sorge sowohl für ihn, den einzelnen, als für die Gesellschaft, daß er ängstlich und vorsichtig allen derartigen Ereignissen zu entgehen trachte. Darum leidet er und wenn er auch im Paroxysmus der Qualen nicht nur die Mannhaftigkeit seiner Haltung, sondern auch die Ruhe und Besonnenheit seines Urteils bewahrt, so kostet ihn dies doch die äußersten und schwersten Anstrengungen. Indessen kann, der Beschaffenheit der menschlichen Natur gemäß, der Zustand der Qual niemals ein beständig anhaltender sein und wenn der Mensch den Paroxysmus überlebt, wird er bald wieder so weit sein, daß er ohne jede Selbstüberwindung sich seiner gewöhnlichen Ruhe erfreut. Ein Mann mit einem Stelzfuß fühlt zweifellos eine ganz beträchtliche Unbequemlichkeit und sieht voraus, daß er diese Unbequemlichkeit während seines ganzen künftigen Lebens werde erdulden müssen. Und doch wird er bald so weit sein, daß er seine Lage ganz so ansehen wird, wie jeder unpar-
Dritter Teil · Drittes Kapitel
teiische Zuschauer sie betrachtet : als eine Unbequemlichkeit, die ihn doch nicht hindert, außer den Freuden der Einsamkeit auch diejenigen zu genießen, welche die Gesellschaft mit sich bringt. Er wird sich bald mit dem gedachten Menschen in seiner Brust identifizieren, er wird bald selbst zum unparteiischen Beobachter seiner eigenen Lage werden. Er wird über seine Lage nicht mehr weinen, nicht mehr klagen und sich nicht mehr darüber kränken, wie es ein schwacher Mensch mitunter, besonders im Anfang, tun mag. Die Betrachtungsweise des unparteiischen Zuschauers wird ihm selbst so völlig zur Gewohnheit, daß er gar nie mehr daran denkt, sein Unglück in einem anderen Lichte zu betrachten, ohne daß ihn diese Gemütsverfassung noch irgendeine Anstrengung oder Selbstüberwindung kosten würde. Die unfehlbare Gewißheit, mit welcher alle Menschen sich früher oder später in alles fügen, was nun einmal zu ihrer ständigen Lebenslage wird, mag uns vielleicht zu der Ansicht bestimmen, daß die Stoiker wenigstens insoweit der richtigen Meinung sehr nahe waren, wenn sie die Behauptung aufstellten, es bestehe in bezug auf wirkliche Glückseligkeit kein wesentlicher Unterschied zwischen einer ständigen Lebenslage und einer anderen, oder, wenn es doch einen solchen Unterschied gebe, dann sei dieser gerade nur ausreichend, um einige dieser Situationen zum Gegenstand einer einfachen Wahl oder Bevorzugung, jedoch nicht, um sie zum Gegenstand eines ernsthaften und heftigen Verlangens zu machen, und er sei auf der anderen Seite zwar ausreichend, um andere dieser Situationen zum Gegenstand einer einfachen Zurückweisung zu stempeln –, da sie ein zu Vermeidendes und Abzutuendes seien – doch nicht um sie zum Gegenstand einer ernstlichen oder heftigen Abneigung zu machen. – Die Glückseligkeit besteht in der Ruhe und im Genuß. Ohne Ruhe kann es keinen Genuß geben und wo völlige Seelenruhe ist, da gibt es kaum etwas, was nicht fähig wäre, uns zu unterhalten. In jeder dauernden Lebenslage, in der keine Aussicht auf eine Änderung
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besteht, kehrt aber das Gemüt eines jeden Menschen nach längerer oder kürzerer Zeit wieder in seinen natürlichen und gewöhnlichen Zustand der Ruhe zurück. Aus Glück und Wohlergehen sinkt es nach einer gewissen Zeit wieder in jenen Zustand hinab, aus Widerwärtigkeiten hebt es sich nach einer gewissen Zeit wieder zu ihm empor. In der Gefangenschaft und Einsamkeit der Bastille fand sogar der weltmännische und leichtfertige Graf de Lauzun nach einer gewissen Zeit wieder so viel Ruhe, daß er imstande war, sich mit dem Füttern einer Spinne zu unterhalten. Ein höher stehender Geist hätte vielleicht früher schon seine Ruhe wieder erlangt und in seinen eigenen Gedanken eine weit bessere Unterhaltung gefunden. Die Hauptquelle des Elends und der Zerrüttungen des menschlichen Lebens scheint aus einer Überschätzung des Unterschiedes zwischen einer dauernden Lebenslage und einer anderen zu entspringen. Habgier überschätzt den Unterschied zwischen Armut und Reichtum ; Ehrgeiz den Unterschied zwischen Privatleben und öffentlicher Stellung ; Ruhmsucht den Unterschied zwischen Unbekanntheit und ausgebreitetem Ansehen. Ein Mensch, der unter dem Einflüsse einer jener maßlosen Affekte steht, ist nicht nur in seiner gegenwärtigen Lebenslage elend, sondern er wird oft auch geneigt sein, den Frieden der Gesellschaft zu stören, um jene andere Lage zu erreichen, die er so töricht bewundert. Und doch könnte ihm die geringste Beobachtung des menschlichen Lebens zur Genüge zeigen, daß ein gebildeter Geist in all den gewöhnlichen Lebenslagen gleich ruhig, gleich heiter und gleich zufrieden sein kann. Manche von diesen Lebenslagen mögen es zweifellos wert sein, daß wir sie anderen vorziehen : keine von ihnen könnte es dagegen wert sein, daß wir ihr mit jenem leidenschaftlichen Eifer nachjagen, der uns antreibt, die Regeln der Klugheit oder die Regeln der Gerechtigkeit zu verletzen – oder unsere Seelenruhe für alle Zukunft zu zerstören, sei es nun durch die Scham, die uns bei der Erinnerung an unsere eigene Torheit
Dritter Teil · Drittes Kapitel
überkommen wird, sei es durch die Gewissensbisse, die aus dem Abscheu vor unserer eigenen Ungerechtigkeit entspringen müßten. Wenn die Klugheit es uns nicht gebietet und die Gerechtigkeit es nicht gestattet, daß wir den Versuch unternehmen, unsere Lage zu verändern, da spielt derjenige, der trotzdem den Versuch wagt, immer das ungleichste aller Hazardspiele und setzt alles gegen beinahe nichts. Was der Günstling des Königs von Epirus zu seinem Herrn sagte, kann auf alle Menschen in den gewöhnlichen Lebenslagen angewendet werden. Als der König ihm alle Eroberungen, die er zu machen gedachte, in ihrer richtigen Ordnung aufgezählt hatte und bereits bei der letzten von ihnen angelangt war, fragte der Günstling : »Und was gedenken Euere Majestät dann zu tun ?« »Ich gedenke«, sagte der König, »mich dann mit meinen Freunden zu unterhalten und bei einer Flasche Weins mit ihnen fröhlich zu sein.« »Und was hindert Euere Majestät«, erwiderte der Günstling, »dies gleich jetzt zu tun ?« – In den glänzendsten und erhabensten Lagen, die unsere eitle Phantasie uns vorzuspiegeln vermag, sind die Freuden, aus welchen wir unsere wahre Glückseligkeit zu schöpfen gedenken, beinahe immer die gleichen wie diejenigen, die uns schon in unserer gegenwärtigen niedrigen Stellung allzeit zur Verfügung stehen und zur Hand sind. Wenn wir von den nichtigen Freuden der Eitelkeit und des hohen Ranges absehen, so können wir in der niedrigsten Lebensstellung, sofern sich in ihr nur persönliche Freiheit findet, ganz die gleichen Freuden antreffen, wie sie uns die erhabenste Stellung gewähren kann ; und die Freuden der Eitelkeit und des hohen Ranges sind selten mit vollkommener Seelenruhe verträglich, die doch die Grundlage und Voraussetzung jedes wahren und befriedigenden Genusses bilden. Und es ist keineswegs immer sicher, daß wir in der glänzenden Lebenslage, nach welcher wir streben, uns jener wahren und befriedigenden Vergnügen mit der gleichen Sicherheit und Ruhe werden erfreuen können wie in der niedrigen Lage, die aufzugeben wir so überaus begierig sind. Prü-
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fet die Berichterstattung der Geschichte, sammelt alle Ereignisse, die sich im Umkreise euerer eigenen Erfahrung zugetragen haben, überleget mit Aufmerksamkeit, welches das Betragen fast aller Menschen gewesen ist, die im privaten oder öffentlichen Leben besonders unglücklich gewesen sind, und von denen ihr gelesen oder gehört habt, oder an die ihr euch erinnert, und ihr werdet finden, daß das Unglück der überwiegenden Mehrzahl derselben daher entstanden ist, daß sie nicht wußten, wann es ihnen wohl erging und wann es für sie richtig und schicklich war, stille zu sitzen und zufrieden zu sein. Die Inschrift auf dem Grabstein jenes Mannes, der sich bemüht hatte, seine leidlich gute Gesundheit durch das Einnehmen von Medizinen zu verbessern : »Ich befand mich wohl, ich wünschte mich besser zu befinden – hier bin ich ! « kann im allgemeinen mit vollem Recht auf das Elend enttäuschter Habgier und gekränkten Ehrgeizes angewendet werden. Man mag es für eine sonderbare Beobachtung halten, (aber ich glaube, sie ist richtig) daß bei Unglücksfällen, aus denen noch eine Rettung möglich ist, die Mehrzahl der Menschen nicht so leicht oder nicht so vollständig ihre natürliche und gewöhnliche Seelenruhe wieder erlangt, als bei jenen Schicksalsschlägen, gegen die es offensichtlich keine Abhilfe mehr gibt. Bei Unglücksfällen der letzteren Art kann man hauptsächlich bei dem, was man den Paroxysmus nennen möchte oder bei der ersten Attacke des Leides einen merklichen Unterschied zwischen den Empfindungen und dem Betragen des Weisen und denen des Schwächlings entdecken. Am Ende aber besänftigt die Zeit, die große allgemeine Trösterin, nach und nach auch den Schwächling und gibt ihm das gleiche Maß von Seelenruhe, wie es den Weisen schon von Anfang an seine Würde und Mannhaftigkeit annehmen lehrte. Der Fall des Mannes mit dem Stelzfuß ist ein auffallendes Beispiel dafür. Bei einem nicht wieder gutzumachenden Unglück, wie es etwa durch den Tod von Kindern, von Freunden und Verwandten verursacht wird, mag auch der Weise sich für eine gewisse Zeit
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einer maßvollen Trauer hingeben. Eine zärtliche, aber schwache Frau wird in solchen Fällen oft nahezu ganz von Sinnen sein. Die Zeit wird indessen niemals verfehlen, in längerer oder kürzerer Frist auch die schwächste Frau zu besänftigen und ihr dieselbe Seelenruhe zu geben wie dem stärksten Mann. Ein Weiser wird sich bei allen nicht wieder gutzumachenden Unglücksfällen, die ihn selbst unmittelbar und direkt berühren, von Anfang an bemühen, jene Seelenruhe vorwegzunehmen und im voraus zu genießen, welche, wie er voraussieht, der Ablauf von ein paar Monaten oder ein paar Jahren ihm schließlich sicherlich wiedergeben wird. Bei Unglücksfällen, in welchen die Natur der Dinge ein Heilmittel zuläßt oder doch zuzulassen scheint, ohne daß aber die Möglichkeit, dieses Heilmittel anzuwenden, im Machtbereich des Leidenden gelegen wäre, da sind es eben diese seine vergeblichen und fruchtlosen Versuche, sich selbst in seine frühere Lage zurückzuversetzen, seine beständige Besorgnis um das Gelingen dieser Versuche, seine immer wiederkehrenden Enttäuschungen wegen ihres Fehlschlagens, was ihn hauptsächlich hindert, seine natürliche Seelenruhe wieder zu gewinnen, und was ihn häufig während seines ganzen Lebens elend macht, mag er auch ein Mann sein, dem ein größeres Unglück, das jedoch offensichtlich keine Abhilfe zuließe, nicht einmal für vierzehn Tage seine Ruhe gestört hätte. Wenn Höherstehende aus der Gunst des Königs in Ungnade oder aus großer Macht in niedrige Unbedeutendheit stürzen, wenn Menschen aus Reichtum in Armut, aus Freiheit in Gefangenschaft geraten oder aus strotzender Gesundheit in eine schleichende, chronische und vielleicht unheilbare Krankheit verfallen, dann wird derjenige von ihnen, der sich am wenigsten sträubt, der sich am leichtesten und schnellsten in das Schicksal findet, das ihn betroffen hat, sehr bald seine gewohnte und natürliche Seelenruhe wiederfinden und die unangenehmsten Begleitumstände seiner gegenwärtigen Lage in demselben Licht oder vielleicht sogar noch in einem weit weniger ungünstigen
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Lichte erblicken, als jenes ist, in welchem sie der gleichgültigste unbeteiligte Zuschauer zu betrachten geneigt ist. Parteistreitigkeiten, Intriguen und Kabalen stören die Ruhe des ins Unglück gestürzten Staatsmannes. Ausschweifende Pläne und Projekte, Träume von Goldminen unterbrechen den Schlaf und die Ruhe des zugrunde gerichteten Bankerotteurs. Der Gefangene, der beständig neue Pläne schmiedet, um aus der Haft zu entkommen, kann nicht jene sorglose Sicherheit und Ruhe genießen, die selbst ein Gefängnis ihm gewähren könnte. Die Medizinen der Ärzte sind oft die größten Qualen für einen unheilbaren Patienten. Der Mönch, der in der Absicht, Johanna von Kastilien über den Tod ihres Gatten Philipp zu trösten, ihr von einem König erzählte, der vierzehn Jahre nach seinem Hinscheiden durch die Gebete der verzweifelten Königin dem Leben wiedergegeben wurde, hatte mit der Erzählung dieses Märchens nicht das richtige Mittel gewählt, um dem zerrütteten Geist jener unglücklichen Fürstin seine Ruhe wiederzugeben. Sie bemühte sich nun in der Hoffnung auf gleichen Erfolg, dasselbe Experiment in ihrem Falle zu wiederholen ; lange Zeit widersetzte sie sich der Beerdigung ihres Gatten, dann ließ sie den Leichnam bald nach dem Begräbnis wieder aus dem Grab herausnehmen, hielt sich selbst fast ohne Unterbrechung bei ihm auf und wartete mit all der ängstlichen Ungeduld einer wahnsinnigen Hoffnung auf den glücklichen Augenblick, in dem ihre Wünsche durch die Wiederbelebung ihres geliebten Philipp in Erfüllung gehen sollten *. Unsere Empfänglichkeit für die Gefühle anderer ist so weit davon entfernt, mit der Mannhaftigkeit der Selbstbeherrschung unverträglich zu sein, daß vielmehr gerade sie die Grundlage ist, auf welcher diese Mannhaftigkeit beruht. Gerade dasselbe Prinzip oder derselbe Instinkt, der uns bei dem Unglück unseres Nächsten antreibt, seinen Kummer mitzufühlen, treibt uns in unserem * Siehe Robertsons Karl V., Bd. II , S. 14 u. 15, 1. Auflage.
Dritter Teil · Drittes Kapitel
eigenen Unglück dazu an, die elenden und jämmerlichen Wehklagen unseres eigenen Kummers im Zaume zu halten. Dasselbe Prinzip oder derselbe Instinkt, der uns bei seinem Glück und seinen Erfolgen antreibt, ihm in seiner Freude Glück zu wünschen, veranlaßt uns bei unserem eigenen Glück und unseren eigenen Erfolgen, den Leichtsinn und die Maßlosigkeit unserer Freude zu dämpfen. In beiden Fällen scheint das sittlich richtige Maß oder die Schicklichkeit unserer eigenen Empfindungen und Gefühle genau im Verhältnis zu stehen zu der Lebhaftigkeit und Stärke, mit welcher wir die Empfindungen und Gefühle des anderen teilen und verstehen. Demjenigen erkennen wir die vollendetste Tugend zu, denjenigen lieben und verehren wir natürlicherweise am höchsten, der mit der vollkommensten Herrschaft über seine ursprünglichen egoistischen Gefühle die außergewöhnlichste Empfindsamkeit sowohl für die ursprünglichen als für die sympathetischen Gefühle anderer verbindet. Derjenige, der mit all den sanften, zarten und liebenswerten Tugenden auch all die großen, erhabenen und ehrfurchtgebietenden verbindet, der muß sicherlich auch mit Recht unsere höchste Liebe und Bewunderung auf sich ziehen. Wer von Natur am besten dazu begabt ist, die erste der beiden erwähnten Arten von Tugenden zu erwerben, der ist notwendig in gleicher Weise dazu geschickt, auch die letzteren zu erwerben. Derjenige, der am meisten Gefühl für die Freuden und Sorgen anderer hat, der ist auch am besten dazu befähigt, die vollste Herrschaft über seine eigenen Freuden und Leiden sich anzueignen. Derjenige, der die höchste und erlesenste Menschenfreundlichkeit besitzt, der ist auch naturgemäß am fähigsten, den höchsten Grad von Selbstbeherrschung zu erringen. Er mag sie indessen freilich nicht immer erworben haben und sehr oft kommt es vor, daß er sie nicht erringt. Er mag zu sehr in Behagen und Ruhe gelebt haben. Er mag niemals der Gewalttätigkeit des Parteikampfes oder den Mühsalen und Gefahren des Krieges ausgesetzt ge-
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wesen sein. Er mag niemals den Übermut seiner Vorgesetzten, den eifersüchtigen und böswilligen Neid der ihm gleich Gestellten oder die diebische Unrechtlichkeit seiner Untergebenen erfahren haben. Wenn ihn dann in vorgerücktem Alter irgendein zufälliger Schicksalswechsel all diesen Widerwärtigkeiten aussetzt, dann werden sie einen allzu starken Eindruck auf ihn machen. Er hat die Anlage, die ihn zum Erwerb vollkommenster Selbstbeherrschung befähigt, aber er hatte niemals die Gelegenheit, sie sich zu eigen zu machen. Übung und Betätigung derselben haben ihm gefehlt und ohne diese kann niemals eine Charaktereigenschaft, sei es auch nur in leidlichem Maße, erworben werden. Mühsal und Gefahren, Unrecht und Mißgeschick, das sind die einzigen Lehrmeister, unter deren Zucht wir die Übung dieser Tugend erlernen können. Aber das alles sind Lehrer, in deren Schule kein Mensch sich freiwillig begibt. Die Lebenslagen, in welchen die zarte Tugend der Menschlichkeit aufs glücklichste gepflegt werden kann, sind keineswegs mit denen gleich, die am besten geeignet sind, die strenge Tugend der Selbstbeherrschung auszubilden. Derjenige, der sich selbst in guten Verhältnissen befindet, der vermag am besten auf die Notlage anderer zu achten. Derjenige, der selbst großen Mühsalen ausgesetzt ist, der wird eben dadurch aufs dringendste gemahnt, seine eigenen Gefühle zu beachten und zu beherrschen. In dem milden Sonnenschein ungestörter Ruhe, in der stillen Zurückgezogenheit ungeteilter, philosophischer Muße blüht die sanfte Tugend der Menschlichkeit am meisten und da ist sie der höchsten Ausbildung fähig. Aber in solchen Verhältnissen ist wenig Gelegenheit, die höchsten und edelsten Anstrengungen der Selbstbeherrschung zu üben. Unter dem stürmischen und gewitterschweren Himmel des Krieges und des Aufruhrs, der allgemeinen Empörung und Verwirrung, da gedeiht die kraftvolle Strenge der Selbstbeherrschung am besten, da kann sie am erfolgreichsten gepflegt und ausgebildet werden. Aber in solchen Verhält-
Dritter Teil · Drittes Kapitel
nissen müssen häufig die stärksten Antriebe der Menschlichkeit erstickt oder vernachlässigt werden und jede solche Vernachlässigung wirkt notwendig dahin, den Geist der Menschlichkeit zu schwächen. Wie es häufig Pflicht eines Soldaten sein mag, keinen Pardon anzunehmen, so mag es mitunter seine Pflicht sein, keinen Pardon zu geben, und es wird kaum anders sein können, als daß ein Soldat, der einigemal unter dem Zwange gestanden hat, sich dieser peinlichen Pflicht zu fügen, dadurch eine beträchtliche Einbuße an seiner Menschlichkeit erleiden wird. Er wird sich um seiner eigenen Ruhe willen nur allzu gerne daran gewöhnen, das Unglück, das er so oft zu verursachen gezwungen ist, nicht mehr schwer zu nehmen ; und jene Situationen, welche die edelsten Anstrengungen der Selbstbeherrschung hervorrufen, werden dadurch, daß sie ihn in die Notwendigkeit versetzen, bald das Eigentum, bald das Leben seiner Nächsten zu verletzen, immer auch dahin wirken, jene heilige Scheu vor diesen Rechtsgütern zu vermindern, ja allzu oft sogar gänzlich auszulöschen, die die Grundlage der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit bildet. Daher kommt es, daß wir so häufig im Leben Menschen begegnen, die bei großer Menschenfreundlichkeit wenig Selbstbeherrschung besitzen, vielmehr lässig und unentschlossen sind, und die sich durch Schwierigkeiten und Gefahren von den lobenswertesten Bestrebungen abschrecken lassen ; und umgekehrt, Menschen, die sich durch die vollkommenste Selbstbeherrschung auszeichnen, die keine Schwierigkeit zu entmutigen, keine Gefahr zu schrecken vermag, die jederzeit zu den kühnsten und verwegensten Unternehmungen bereit sind, die aber auch gleichzeitig gegen jedes Gefühl für Gerechtigkeit oder Menschlichkeit verhärtet zu sein scheinen. In der Einsamkeit sind wir geneigt, alles das allzu stark zu empfinden, was sich auf uns selbst bezieht ; wir sind dann geneigt, die guten Dienste, die wir anderen etwa erwiesen haben, zu überschätzen und ebenso das Unrecht, das uns selbst angetan wurde,
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zu hoch anzuschlagen ; wir sind dann geneigt, über unser Glück allzu übermütig, über unser Unglück allzu betrübt zu sein. Die Unterhaltung mit einem Freunde versetzt uns in eine bessere Gemütsverfassung, die mit einem Fremden in eine noch bessere. Der Mensch in unserer Brust, der gedachte und ideale Beobachter unseres Fühlens und Verhaltens, muß oft durch die Gegenwart eines wirklichen Beobachters geweckt und an seine Pflicht erinnert werden ; und zwar werden wir wohl immer von demjenigen Beobachter, von Seiten dessen wir am wenigsten Sympathie und Nachsicht erwarten können, gerade den vollkommensten Unterricht in der Selbstbeherrschung empfangen. Seid ihr im Unglück ? Dann trauert nicht in der Finsternis der Einsamkeit, richtet euch in euerem Gram nicht nach der nachsichtigen Sympathie euerer vertrautesten Freunde ! Kehret so bald als möglich in das helle Tageslicht der Welt und der Gesellschaft zurück ! Suchet den Umgang mit Fremden, mit solchen, die von euerem Unglück nichts wissen, oder sich darum nicht bekümmern ! Ja, meidet nicht einmal die Gesellschaft euerer Feinde, sondern machet euch vielmehr das Vergnügen, ihre Schadenfreude dadurch zu ärgern, daß ihr sie fühlen lasset, wie wenig euch euer Elend berührt, und wie hoch ihr über demselben steht ! Seid ihr im Glück ? Dann beschränkt den Genuß eueres Glücks nicht auf euer Haus und auf die Gesellschaft euerer Freunde – vielleicht gar derer, die euch schmeicheln, und die auf euer Glück und Vermögen die Hoffnung gründen, ihr eigenes dadurch zu verbessern ! Verkehret mit denen, die von euch unabhängig sind, die imstande sind, euch bloß nach euerem Charakter und nach euerem Verhalten, und nicht nach euerem Glück und Vermögen zu werten. Suchet nicht die Gesellschaft derjenigen, die früher höher standen als ihr, und die sich vielleicht kränken werden, wenn sie finden, daß ihr ihnen nun gleich oder gar überlegen seid, aber meidet sie auch nicht ; drängt euch in ihre Gesellschaft nicht ein und fliehet nicht aus ihr fort. Die Unverschämtheit ihres Stolzes
Dritter Teil · Drittes Kapitel
mag euch vielleicht ihre Gesellschaft allzu unangenehm machen : wenn aber nicht, dann seid versichert, daß es die beste ist, die ihr überhaupt finden könntet ; und wenn es euch gelingt, durch die natürliche Schlichtheit eueres von Anmaßung freien Betragens ihre Gunst und Freundschaft zu gewinnen, so kann euch dies die genugtuende Überzeugung gewähren, daß ihr bescheiden genug geblieben seid, und daß euch euer Glück in keiner Beziehung den Kopf verdreht hat. Niemals ist die Richtigkeit euerer sittlichen Gefühle so sehr in Gefahr, verdorben zu werden, als wenn der nachsichtige und parteiische Zuschauer zur Hand ist, während sich der unvoreingenommene und unparteiische in weiter Ferne befindet. Über das Verhalten einer unabhängigen Nation gegenüber einer anderen zu urteilen, wäre Sache der neutralen Staaten, da nur sie unvoreingenommene und unparteiische Zuschauer sind. Aber diese sind in so weiter Ferne gelegen, daß sie fast immer ganz außer dem Gesichtskreis jener Nationen bleiben. Wenn zwei Nationen untereinander uneinig sind, dann wird der Bürger eines jeden der beiden Länder wenig auf die Empfindungen achten, welche fremde Nationen in bezug auf sein Verhalten hegen mögen. Sein ganzer Ehrgeiz ist darauf gerichtet, die Billigung seiner eigenen Mitbürger zu erlangen, und da diese alle von der gleichen feindlichen Leidenschaft beseelt sind wie er selbst, wird er ihr Wohlgefallen niemals so sehr erregen, als wenn er ihre Feinde beleidigt und in Wut versetzt. Der parteiische Zuschauer ist zur Hand, der unparteiische ist in weiter Ferne. Darum werden im Krieg und in politischen Verhandlungen die Gesetze der Gerechtigkeit sehr selten beobachtet. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit werden fast völlig hintangesetzt. Verträge werden gebrochen ; der Vertragsbruch wirft, wenn er nur einigen Vorteil gebracht hat, kaum irgendwelche Schande auf den, der ihn verübt hat. Dem Gesandten, der den Minister eines fremden Staates in Irrtum führt, zollt man Bewunderung und Beifall. Ein rechtlich
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denkender Mann, der es verschmäht, Vorteile anzunehmen oder zu gewähren, der es aber für weniger unehrenhaft halten würde, sie anderen zu gewähren, als selbst solche anzunehmen, ein Mann also, der in allen privaten Geschäften sich der höchsten Beliebtheit und der allgemeinen Achtung erfreute, würde bei solchen öffentlichen Verhandlungen als ein Narr und Idiot betrachtet werden, der sich auf sein Geschäft nicht versteht, und würde stets die Verachtung, ja manchmal sogar den Abscheu seiner Mitbürger auf sich laden. Im Kriege werden nicht nur häufig die Gesetze des sogenannten Völkerrechts verletzt, ohne über denjenigen, der sie verletzte (wenigstens von seiten seiner Mitbürger, deren Urteil allein er beachtet) eine beträchtliche Schande zu bringen, sondern jene Gesetze selbst werden in ihrer Mehrzahl mit sehr wenig Rücksichtnahme auf die offenkundigsten und einleuchtendsten Regeln der Gerechtigkeit aufgestellt. Daß die Unschuldigen, mögen sie auch zu dem Schuldigen in einer gewissen Verbindung oder Abhängigkeit stehen (für welche sie vielleicht gar nicht können), doch nicht aus diesem Grunde für die Schuldigen leiden oder bestraft werden sollen, ist eine der offenkundigsten und einleuchtendsten Regeln der Gerechtigkeit. Nun sind aber auch in dem ungerechtesten Kriege gemeinhin ausschließlich der Souverain oder die Regierenden die Schuldigen. Die Untertanen sind beinahe immer vollkommen schuldlos. Und doch werden die Güter der friedfertigsten Bürger, wann immer es dem feindlichen Staate passend und vorteilhaft scheint, zu Lande und zur See beschlagnahmt, ihre Ländereien verwüstet, ihre Häuser verbrannt und sie selbst werden, wenn sie sich erkühnen, irgendwelchen Widerstand zu leisten, ermordet oder in die Gefangenschaft geführt – und alles das in vollster Übereinstimmung mit dem sogenannten Völkerrecht. Die gegenseitige Erbitterung feindlicher Parteien – seien es nun bürgerliche oder kirchliche – ist oft noch wütender als diejenige feindlicher Nationen und ihr Verhalten zueinander oft noch
Dritter Teil · Drittes Kapitel
gräßlicher. Die Grundsätze, die man als das Recht der Parteien bezeichnen könnte, sind von angesehenen, ernsten Schriftstellern oft mit noch weniger Rücksicht auf die Regeln der Gerechtigkeit aufgestellt worden als die Gesetze des sogenannten Völkerrechts. Der wütendste Patriot hat es niemals als eine ernsthafte Frage erklärt, ob man den Landesfeinden die Treue halten solle. – Ob man aber Rebellen die Treue halten solle, ob man Häretikern die Treue halten solle, das sind Fragen, die oft mit wütendem Eifer von weltlichen und kirchlichen Gelehrten erörtert worden sind. Es ist, wie mich dünkt, unnötig, zu bemerken, daß sowohl Rebellen als Häretiker jene unglücklichen Menschen sind, die, wenn die Verhältnisse zu gewissen gewaltsamen Entscheidungen führen, das Unglück haben, zu der schwächeren Partei zu gehören. In einer Nation, die in Parteien geteilt ist, gibt es zweifellos immer eine geringe Zahl, wenn auch gewöhnlich nur eine ganz geringe Zahl, von Personen, die ihr Urteil unberührt von der allgemeinen Ansteckung erhalten. Selten gehören zu dieser Zahl mehr, als hie und da ein alleinstehender einzelner, ohne jeden Einfluß, der durch seine eigene Ehrlichkeit von dem Vertrauen beider Parteien ausgeschlossen ist, und der, obzwar er einer der Weisesten sein mag, eben darum notwendig auch einen der bedeutungslosesten Menschen in der Gesellschaft darstellt. Solche Männer werden stets von den wütenden Eiferern beider Parteien verachtet, verspottet, häufig sogar verabscheut. Ein wahrer Parteimann haßt und verachtet die Ehrlichkeit und es gibt tatsächlich kein Laster, das einen Menschen zu dem Geschäft eines Parteimannes so völlig unfähig machen würde wie diese eine Tugend. Der wahre, verehrte und unparteiische Zuschauer ist darum bei keiner Gelegenheit in weiterer Ferne und niemals weniger leicht anzutreffen als inmitten der Gewalttätigkeit und des Tobens feindlicher Parteien. Ja, man könnte sagen, für sie gibt es kaum irgendwo im Weltall einen solchen unparteiischen Zuschauer. Sogar dem großen Weltenrichter schreiben sie alle ihre eigenen Vorurteile zu und
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sie betrachten oft jenes göttliche Wesen so, als wäre es von ihren eigenen rachsüchtigen und unversöhnlichen Leidenschaften besessen. Darum sind Parteileidenschaft und Fanatismus stets von allen Verderbern sittlicher Gefühle weitaus die ärgsten gewesen. Was das Thema der Selbstbeherrschung anbelangt, so will ich nur noch bemerken, daß unsere Bewunderung für denjenigen, der unter den schwierigsten und unerwartetsten Schicksalsschlägen in seinem Verhalten weiter die gleiche Tapferkeit und Stärke zeigt, immer voraussetzt, daß seine Empfindlichkeit für derartige Schicksalsschläge sehr groß ist, so daß es eine sehr bedeutende Anstrengung erfordert, sie zu überwinden oder zu beherrschen. Ein Mensch, der für körperlichen Schmerz völlig unempfindlich wäre, könnte kein Lob verdienen, wenn er die Folter mit der höchsten Geduld und dem äußersten Gleichmut ertrüge. Ein Mensch, der ohne die natürliche Furcht vor dem Tode geschaffen worden wäre, könnte nicht verlangen, daß man ihm ein Verdienst zuerkenne, wenn er inmitten der fürchterlichsten Gefahren seine Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart bewahrte. Es ist einer der überschwänglichen Aussprüche Senecas, der stoische Weise sei in dieser Hinsicht selbst einem Gott überlegen, denn die Furchtlosigkeit des Gottes sei durchaus ein Werk der Natur, die ihn vom Leiden befreit habe, die Furchtlosigkeit des Weisen dagegen sei sein eigenes Werk und stamme ganz und gar aus ihm selbst und aus seinen eigenen Anstrengungen. Indessen ist die Empfindlichkeit mancher Menschen für gewisse Dinge, die sie unmittelbar selbst berühren, mitunter so stark, daß sie jede Selbstbeherrschung unmöglich macht. Kein Ehrgefühl ist imstande, die Ängste eines Menschen zu beherrschen, der schwach genug ist, beim Herannahen einer Gefahr ohnmächtig zu werden oder in Zuckungen zu verfallen. Ob eine solche Nervenschwäche, wie man dies genannt hat, nicht durch allmähliche Übung und richtige Selbstzucht bis zu einem gewissen Grade geheilt werden kann, mag vielleicht zweifelhaft scheinen. Sicher
Dritter Teil · Viertes Kapitel
aber scheint mir, daß man einem solchen Charakter niemals Vertrauen schenken, noch ihn verwenden soll.
viertes kapitel Über das Wesen des Selbstbetruges und über den Ursprung und den Nutzen allgemeiner Regeln Um die Richtigkeit der Urteile, die wir über die Schicklichkeit unseres eigenen Verhaltens fällen, in ihr Gegenteil zu verkehren, dazu ist es nicht immer notwendig, daß sich der wirkliche und unparteiische Zuschauer gerade in weiter Ferne befinde. Auch wenn er ganz nahe, auch wenn er gegenwärtig ist, wird manchmal die Heftigkeit und Ungerechtigkeit unserer egoistischen Affekte ausreichen, den Menschen in unserer Brust dahin zu beeinflussen, daß er einen Bericht über unser Verhalten abgibt, der durchaus von den wahren Umständen des Falles abweicht und durch diese nicht gerechtfertigt werden kann. Es gibt zweierlei Gelegenheiten, bei denen wir unser eigenes Verhalten einer Prüfung unterziehen und uns bestreben, es in dem Lichte zu sehen, in welchem der unparteiische Zuschauer es betrachten würde : erstens, wenn wir im Begriffe stehen, zu handeln, zweitens, nachdem wir gehandelt haben. In beiden Fällen wird unsere Betrachtungsweise sehr leicht parteiisch sein und am meisten dann, wenn es gerade am wichtigsten wäre, daß sie unparteiisch sein sollte. Wenn wir im Begriffe stehen, zu handeln, wird die Heftigkeit des Affekts uns selten das, was wir zu tun willens sind, mit der Unparteilichkeit eines unvoreingenommenen und gleichgültigen Menschen überlegen lassen. Die heftigen Gemütsbewegungen, die uns in diesem Augenblick durchströmen, verfärben unser Bild von den wirklichen Verhältnissen sogar dann, wenn wir bemüht sind, uns in die Lage eines anderen zu versetzen und die
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Gegenstände, die uns angehen, in dem Lichte zu betrachten, in welchem sie ihm natürlicherweise sich darstellen müssen. Die Wut unserer Affekte ruft uns immer wieder auf unseren eigenen Standort zurück, von dem aus alles durch die Selbstliebe vergrößert und verzerrt erscheint. Von der Art und Weise, in welcher diese Gegenstände einem anderen erscheinen würden, von dem Bilde, das er von ihnen gewinnen würde, vermögen wir, wenn ich so sagen darf, immer nur einen momentanen Schimmer aufzufangen, der in einem Augenblick wieder verschwindet, und der auch, solange er anhält, nicht ganz richtig ist. Wir vermögen nicht einmal für diesen Augenblick gänzlich die Hitze und den Eifer abzulegen, den uns eben gerade unsere Situation einflößt, noch vermögen wir das, was wir eben zu tun im Begriffe stehen, mit der vollen Unparteilichkeit des gerechten Richters zu betrachten. Aus diesem Grunde tragen, wie Pater Malebranche sagt, alle Affekte in sich selbst ihre Rechtfertigung und erscheinen uns als vernünftig und ihren Gegenständen angemessen, solange wir sie eben noch fühlen. Sobald allerdings die Handlung vorüber ist und die Affekte, die uns zu ihr antrieben, sich gelegt haben, dann vermögen wir mit kühlerem Sinne die Empfindungen des gleichgültigen Zuschauers nachzufühlen. Was früher in hohem Grade unser Interesse erweckte, wird uns nun fast so gleichgültig, wie es ihm immer war, und wir können jetzt unser Betragen mit der gleichen Aufrichtigkeit und Unparteilichkeit prüfen wie er. Der Mensch von heute wird nicht mehr von denselben Leidenschaften bewegt, die den Menschen von gestern verwirrten : und wenn der Paroxysmus des Gefühls ebenso wie in einem anderen Falle der Paroxysmus des Elends völlig vorüber ist, vermögen wir uns gleichsam mit dem gedachten Menschen in unserer Brust zu identifizieren und selbst aus unserem eigenen Wesen heraus wie in jenem Falle unsere Situation, so in dem jetzigen unser Verhalten mit den strengen Augen eines ganz unparteiischen Zuschauers zu betrachten. Aber
Dritter Teil · Viertes Kapitel
verglichen mit früher sind unsere Urteile nun oft von geringer Bedeutung und sie vermögen häufig nicht mehr zu erzielen als ein wertloses Bedauern und unnütze Reue, ohne daß sie uns darum vor gleichen Irrtümern in der Zukunft schützen würden. Es ist indessen auch in diesen Fällen selten, daß unsere Urteile ganz unparteiisch ausfallen. Die Meinung, die wir von unserem Charakter hegen, hängt ganz und gar von den Urteilen ab, die wir über unser vergangenes Verhalten fällen. Es ist so unangenehm, von sich selbst schlecht zu denken, daß wir oft absichtlich unseren Blick von den Umständen abkehren, die jene Beurteilung ungünstig ausfallen lassen könnten. Man pflegt zu sagen, daß derjenige ein mutiger Chirurg sei, dessen Hand nicht zittert, wenn er an sich selbst eine Operation vornimmt ; ebenso kühn aber ist derjenige, der nicht zögert, den geheimnisvollen Schleier der Selbsttäuschung wegzureißen, der seinem Blick sonst die Häßlichkeiten seines eigenen Verhaltens verbirgt. Bevor wir unser eigenes Verhalten in einem so ungünstigen Lichte sehen wollen, bemühen wir uns nur allzu oft – törichter- und schwächlicherweise – lieber jene unbilligen Affekte von neuem zu entfachen, die uns zuvor schon vom rechten Weg weggeführt hatten ; wir bemühen uns, unseren alten Haß künstlich wieder zu wecken, und suchen unsere fast vergessenen Vergeltungsgefühle wieder frisch zu entflammen, wir machen sogar Anstrengungen, um dieses jämmerliche Vorhaben durchzuführen, und verharren so in Ungerechtigkeit bloß darum, weil wir einmal ungerecht waren, und weil wir uns schämen und fürchten, einzusehen, daß wir im Unrecht waren. So parteiisch ist die Art, wie die Menschen, nicht nur im Zeitpunkt der Handlung, sondern auch nachher noch die Schicklichkeit ihres Betragens beurteilen ; und so schwer fällt es ihnen, dieses Verhalten in dem Lichte zu sehen, in welchem ein unbeteiligter Zuschauer es betrachten würde. Gäbe es aber tatsächlich ein besonderes Seelenvermögen, mittels dessen die Menschen ihr eigenes Verhalten beurteilen würden – wie man es von dem
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»moralischen Sinn« annimmt –, wären sie wirklich mit einer eigentümlichen Wahrnehmungskraft begabt, welche die Schönheit oder Häßlichkeit von Affekten und Neigungen zu unterscheiden vermöchte, dann wären diesem Seelenvermögen die eigenen Affekte des Menschen in unmittelbarerer Weise gegeben und dasselbe würde daher mit größerer Pünktlichkeit über sie urteilen als über die Affekte anderer Menschen, die es nur gleichsam aus größerer Entfernung betrachten könnte. Dieser Selbstbetrug, diese verhängnisvolle Schwäche bildet die Quelle, aus der vielleicht die Hälfte aller Zerrüttungen des menschlichen Lebens entspringt. Sähen wir uns in dem Lichte, in welchem andere uns sehen, oder in dem sie uns sehen würden, wenn sie alles über uns wüßten, dann wäre im allgemeinen eine Änderung zum Besseren unvermeidlich. Wir könnten sonst den Anblick nicht ertragen. Indessen hat uns die Natur dieser Schwäche, die von so großer Bedeutung ist, nicht ganz überlassen, ohne uns ein Heilmittel gegen sie zu geben ; sie hat uns nicht völlig den Täuschungen der Selbstliebe preisgegeben. Die fortgesetzten Beobachtungen, die wir über das Verhalten anderer Menschen machen, bringen uns unmerklich dazu, daß wir uns gewisse allgemeine Regeln darüber bilden, was zu tun oder zu meiden schicklich und angemessen ist. Manche ihrer Handlungen sind unseren natürlichen Empfindungen zuwider. Wir hören aber auch, wie alle, die um uns sind, dem gleichen Abscheu gegen diese Handlungen Ausdruck geben. Das bestärkt uns noch in unserem natürlichen Gefühl von ihrer Häßlichkeit und macht dieses noch heftiger. Es gibt uns die Überzeugung, daß wir sie in dem richtigen Lichte gesehen haben, sobald wir bemerken, daß andere sie in dem gleichen Lichte sehen. Wir fassen darum den Entschluß, niemals solcher Handlungen schuldig zu werden und uns auf keinen Fall jemals auf solche Weise zum Gegenstand allgemeiner Mißbilligung zu machen. So stellen wir für uns selbst die allgemeine Regel auf, es seien alle jene
Dritter Teil · Viertes Kapitel
Handlungen zu vermeiden, die uns hassenswert, verächtlich oder straffällig machen müßten, und die uns zum Gegenstand aller jener Gefühle machen würden, gegen die wir die größte Scheu und Abneigung empfinden. Andere Handlungen dagegen erwecken unsere Billigung und wir hören, wie alle, die um uns sind, der gleichen günstigen Meinung über diese Handlungen Ausdruck geben. Jedermann ist eifrig bemüht, sie zu ehren und zu belohnen. Sie erregen alle jene Gefühle, nach denen wir natürlicherweise das stärkste Verlangen tragen, die Liebe, die Dankbarkeit, die Bewunderung der Menschen. Es erwacht darum in uns der Ehrgeiz, gleiche Handlungen zu vollbringen, und ganz natürlich bilden wir dann für uns eine Regel anderer Art, nämlich die, es sei jede Gelegenheit, auf diese Weise zu handeln, mit größter Sorgfalt aufzusuchen. Auf diese Art werden die allgemeinen Regeln der Sittlichkeit gebildet. Sie gründen sich letzten Endes auf die Erfahrung darüber, was unser natürliches Gefühl für Verdienst und sittliche Richtigkeit in bestimmten Einzelfällen billigt oder mißbilligt. Wir billigen oder verurteilen ursprünglich gewisse Handlungen nicht deshalb, weil sie sich bei näherer Prüfung als mit einer bestimmten allgemeinen Regel verträglich oder unvereinbar erweisen. Vielmehr wird umgekehrt die allgemeine Regel danach gebildet, daß wir aus der Erfahrung gelernt haben, wie alle Handlungen einer gewissen Art, oder unter gewissen Umständen verübt, gebilligt oder mißbilligt werden. Wenn ein Mann zum erstenmal Zeuge eines unmenschlichen Mordes war, der aus Habsucht, Neid oder unberechtigtem Vergeltungsgefühl begangen wurde und noch dazu an einem Menschen, der den Mörder liebte und ihm Vertrauen schenkte, wenn jener Mann die letzten Todesqualen des Sterbenden mit ansah, wenn er hörte, wie er mit verlöschendem Atem mehr über die Treulosigkeit und Undankbarkeit seines falschen Freundes klagte als über die Gewalttat, die an ihm verübt worden war, dann mußte jener Mann, um die ganze Abscheulichkeit
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dieser Handlung sich klar zu machen, gewiß nicht erst Überlegungen darüber anstellen, daß es eine der heiligsten Regeln des Verhaltens sei, die es verbietet, einem Unschuldigen das Leben zu nehmen, und daß die Tat eine offenkundige Verletzung dieser Regel und infolgedessen eine sehr tadelnswerte Handlung war. Vielmehr würde offenbar sein Abscheu vor diesem Verbrechen augenblicklich erwachen und längst, ehe er sich eine solche allgemeine Regel gebildet hätte. Die allgemeine Regel, die er nachträglich sich bilden mag, würde sich vielmehr umgekehrt auf den Abscheu gründen, den er naturnotwendig bei dem Gedanken an diese oder an irgendeine andere bestimmte Handlung gleicher Art in seiner Brust erwachsen fühlte. Wenn wir in der Geschichte oder in einem Romane den Bericht von edelmütigen oder niedrigen Handlungen lesen, dann entspringt die Bewunderung, die wir für die ersteren empfinden und die Verachtung, die wir gegen die letzteren fühlen, keineswegs aus der Überlegung, daß es eine gewisse allgemeine Regel gebe, welche alle Handlungen der einen Art für bewunderungswürdig, und alle Handlungen der anderen Art für verachtenswert erkläre. Vielmehr werden umgekehrt jene allgemeinen Regeln von uns aus Erfahrungen gebildet, die wir darüber gesammelt haben, was für Wirkungen die verschiedenartigen Handlungen naturgemäß auf uns ausüben. Eine liebenswerte, eine verehrungswürdige und eine abscheuliche Tat sind alles Handlungen, die ganz naturgemäß die Liebe, die Ehrfurcht, den Abscheu des Zuschauers gegenüber demjenigen erwecken, der diese Handlungen vollbracht hat. Die allgemeinen Regeln, die festsetzen, welche Handlungen Gegenstand einer jeden dieser Empfindungen sind und welche nicht, können auf keine andere Weise gebildet werden, als indem man beobachtet, welche Handlungen wirklich und tatsächlich solche Gefühle erwecken. Wenn diese allgemeinen Regeln freilich erst einmal gebildet
Dritter Teil · Viertes Kapitel
worden sind, wenn sie allgemein anerkannt und durch die übereinstimmenden Empfindungen der Menschen festgesetzt sind, dann berufen wir uns häufig auf sie als auf die Richtmaße für unser Urteil bei solchen Erörterungen, die den Grad von Lob oder Tadel betreffen, welcher gewissen Handlungen verwickelter und zweifelhafter Natur gebührt. Man zitiert sie bei solchen Gelegenheiten gemeinhin als die letzte Grundlage für unsere Entscheidung darüber, was an menschlichem Verhalten richtig und unrichtig ist ; und dieser Umstand scheint einige sehr hervorragende Schriftsteller dazu verleitet zu haben, ein ganzes Lehrgebäude so anzulegen, als ob sie dabei von der Voraussetzung ausgegangen wären, daß die Urteile der Menschen über recht und unrecht von allem Anfang an auf die gleiche Weise gebildet würden wie die Entscheidungen eines Gerichtshofes, indem man nämlich zunächst die allgemeine Regel in Erwägung zieht und dann erst zusieht, ob gerade die bestimmte Handlung, die eben zur Beurteilung steht, im eigentlichen Sinne unter die Regel falle. Wenn es uns einmal zur Gewohnheit geworden ist, an jene allgemeinen Regeln des Verhaltens zu denken, und wenn sie sich dadurch unserem Geiste fest eingeprägt haben, dann sind sie sehr nützlich dazu, um die falschen Angaben unserer Selbstliebe in betreff der Frage, wie gerade in unserer Lage vom sittlichen Standpunkte aus gehandelt werden sollte, richtigzustellen. Ein Mensch, der von einem besonders wütenden Vergeltungsgefühl beseelt ist, würde, wenn er den Einflüsterungen dieser Leidenschaft Gehör schenken wollte, vielleicht den Tod seines Feindes bloß als eine geringe Genugtuung für das Unrecht betrachten, das ihm seiner Meinung nach angetan worden ist, ein Unrecht, das indessen in Wahrheit nicht mehr als eine ganz unbedeutende Beleidigung gewesen sein mag. Aber die Beobachtungen, die er über das Betragen anderer gemacht hat, haben ihn gelehrt, wie abscheulich alle derartigen blutigen Racheakte sind. Wenn seine Erziehung nicht
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gerade ganz sonderbar gewesen ist, wird er es sich schon früher zur unnachlässlichen Regel gemacht haben, sich solcher Handlungen bei allen Gelegenheiten zu enthalten. In seinem Geiste bewahrt diese Regel ihre Autorität und macht ihn unfähig, sich einer derartigen Gewalttat schuldig zu machen. Dennoch mag seine Gemütsart so hitzig sein, daß er – wäre dies der erste Fall gewesen, in dem er eine solche Handlung in Erwägung zog – diese als ganz recht und schicklich erachtet hätte und der Meinung gewesen wäre, daß jeder unparteiische Zuschauer sie gutheißen würde. Aber die Ehrfurcht vor jener Regel, die seine früheren Erfahrungen ihm eingeprägt haben, hält nun das Ungestüm seines Affekts in Schranken und hilft ihm, die allzu parteiischen Anschauungen richtigzustellen, die seine Selbstliebe ihm sonst als Richtschnur für sein Handeln in dieser Lage nahelegen dürfte. Sogar wenn er sich von seinem Affekt dazu hinreißen ließe, jene Regel zu verletzen, könnte er doch auch in diesem Falle die Achtung und Ehrfurcht nicht gänzlich ablegen, mit der er sie sonst zu betrachten gewohnt war. Sogar in dem Zeitpunkt der Handlung selbst, in dem Augenblick, in welchem der Affekt auf den höchsten Grad steigt, zögert und zittert er bei dem Gedanken an das, was er eben zu tun im Begriffe steht : insgeheim ist er sich dessen wohl bewußt, daß er im Begriffe sei, alle jene Regeln des Handelns zu übertreten, die niemals zu brechen er stets entschlossen war, solange er kühl überlegen konnte, die er niemals von anderen gebrochen sah, ohne die höchste Mißbilligung zu empfinden, und deren Übertretung, wie ihm sein eigenes Herz voraussagt, ihn sehr bald selbst zum Gegenstand der gleichen unangenehmen Empfindungen bei allen Menschen machen muß. Bevor er den letzten verhängnisvollen Entschluß fassen kann, wird er von allen Qualen des Zweifels und der Ungewißheit gemartert, er schreckt vor dem Gedanken zurück, ein solch geheiligtes Gesetz zu verletzen, und zu gleicher Zeit treibt und spornt ihn sein wütendes Verlangen an, es doch zu verletzen. Er ändert jeden Augenblick
Dritter Teil · Viertes Kapitel
sein Vorhaben ; einmal entschließt er sich, seinem Grundsatz treu zu bleiben und nicht einer Leidenschaft nachzugeben, die sein ganzes künftiges Leben durch die Schrecken der Schande und der Reue zugrunde richten könnte, und eine gewisse Stille ergreift für einen Augenblick von seinem Herzen Besitz, die aus der Aussicht auf jene Sicherheit und Ruhe entspringt, deren er sich erfreuen wird, wenn er sich dafür entscheidet, nicht das Wagnis eines entgegengesetzten Verhaltens auf sich zu nehmen. Aber unmittelbar darauf erhebt die Leidenschaft von neuem ihr Haupt und treibt ihn mit frischer Wut an, zu begehen, was er einen Augenblick früher beschlossen hatte zu unterlassen. Ermüdet und zerrüttet durch diese beständige Unschlüssigkeit, tut er aus einer Art Verzweiflung schließlich den letzten verhängnisvollen und nicht wieder gutzumachenden Schritt ; aber er handelt eben aus einem ähnlichen Schrecken und Entsetzen heraus wie ein Mensch, der auf der Flucht vor einem Feinde sich selbst in einen Abgrund stürzt, in welchem ihm doch, wie er wohl weiß, der Untergang gewisser ist als in den Händen seiner Verfolger. Dies sind seine Empfindungen selbst zur Zeit des Handelns, obzwar er dann zweifellos weniger leicht sich der Unschicklichkeit seines Verhaltens bewußt wird als später, wenn seine Leidenschaft befriedigt und verflüchtigt ist und er, was er getan hat, in dem Lichte zu betrachten anfängt, in welchem andere es zu sehen pflegen, und wenn er tatsächlich empfindet, was er früher nur ganz unvollkommen vorausgesehen hatte, nämlich die Gewissensbisse und die nagende Reue, die nun sein Gemüt zu erschüttern und zu quälen beginnen.
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
fünftes kapitel Über den Einfluß und die Autorität allgemeiner Regeln der Sittlichkeit und darüber, daß diese Regeln mit Recht als Gesetze der Gottheit angesehen werden. Die Achtung vor jenen allgemeinen Regeln für das Verhalten ist das, was man im eigentlichen Sinne Pflichtgefühl nennt, ein Prinzip von der größten Wichtigkeit im menschlichen Leben, und das einzige Prinzip, nach welchem die große Masse der Menschen ihre Handlungen zu lenken vermag. Viele Menschen benehmen sich sehr anständig und verstehen es, durch ihr ganzes Leben hindurch jedem stärkeren Tadel aus dem Wege zu gehen, die doch vielleicht niemals die Empfindung wirklich fühlten, auf deren Schicklichkeit wir die Billigung ihres Betragens gründen, sondern die nur aus Achtung vor demjenigen handelten, was, wie sie sahen, die allgemein geltenden Regeln des Benehmens waren. Ein Mann, der von einem anderen große Wohltaten empfangen hat, mag vielleicht infolge einer gewissen natürlichen Kälte seiner Gemütsart nur einen schwachen Grad von Dankbarkeitsgefühl empfinden. Wenn er jedoch eine richtige sittliche Erziehung genossen hat, wird er oft dazu angehalten worden sein, zu beachten, wie hassenswert solche Handlungen erscheinen, welche auf das Fehlen jenes Gefühls hindeuten, und wie liebenswert die entgegengesetzten sind. Obwohl also sein Herz von keiner Empfindung der Dankbarkeit erwärmt wird, so wird er sich doch bestreben, so zu handeln, als ob dies der Fall wäre, und wird sich Mühe geben, seinem Gönner alle jene Rücksicht und Aufmerksamkeit zu erweisen, wie sie die lebhafteste Dankbarkeit ihm nur eingeben könnte. Er wird ihn regelmäßig besuchen, er wird sich ihm gegenüber ehrerbietig betragen, er wird niemals anders als mit Ausdrücken der höchsten Achtung von ihm und von den vielen Wohltaten sprechen, die er ihm verdankt. Und er wird – was noch mehr ist – jede Gelegenheit ergreifen, um sich für die Dienste,
Dritter Teil · Fünftes Kapitel
die er von ihm empfangen hat, in geziemender Weise erkenntlich zu zeigen. Er mag vielleicht auch alles das ohne jede Scheinheiligkeit oder tadelnswerte Verstellung tun, ohne die eigennützige Absicht, neue Gunstbezeigungen zu erlangen, und ganz ohne den Vorsatz, seinen Wohltäter oder die Allgemeinheit zu hintergehen. Die Beweggründe seiner Handlungen mögen keine anderen sein als die Achtung vor einem bestehenden Pflichtgesetz und als der ernste und aufrichtige Wunsch, in jeder Hinsicht gemäß dem Gesetze der Dankbarkeit zu handeln. In gleicher Weise mag es vorkommen, daß eine Frau gegen ihren Gatten nicht jene zärtliche Zuneigung empfindet, wie sie dem Verhältnis, das zwischen ihnen besteht, angemessen wäre. Wenn sie aber eine richtige sittliche Erziehung genossen hat, wird sie dennoch sich bestreben, so zu handeln, als ob sie jene Zuneigung fühlte, wird sich bemühen, fürsorglich, dienstbeflissen, treu und aufrichtig zu sein und es an keiner jener Aufmerksamkeiten fehlen zu lassen, zu denen sie das Gefühl der Gattenliebe hätte antreiben können. Zweifellos sind weder ein solcher Freund, noch eine solche Gattin gerade die besten ihrer Art, und obgleich beide den aufrichtigsten und ernstlichsten Wunsch hegen mögen, ihre Pflicht in jeder Hinsicht zu erfüllen, so werden sie es doch an mancher zarteren und feineren Rücksichtnahme fehlen lassen, sie werden manche Gelegenheit, dem anderen einen Dienst zu erweisen, unbenutzt lassen, die sie niemals hätten übersehen können, wenn sie wirklich das Gefühl besessen hätten, das sich für ihre Stellung geziemt. Indessen, mögen sie auch nicht gerade die besten ihrer Art sein, vielleicht sind sie doch die zweitbesten, und wenn sich ihnen die Rücksicht auf die allgemeinen Regeln des Verhaltens sehr stark eingeprägt hat, dann wird gewiß keiner von ihnen seine Pflicht in einem sehr wesentlichen Punkte verabsäumen. Nur Menschen vom glücklichsten und besten Schlag sind imstande, ganz genau und ganz richtig ihre Empfindungen und ihr Betragen den geringsten Unterschieden der Situation anzupassen und in allen Fällen nach
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
den feinsten und genauesten Geboten der sittlichen Richtigkeit zu handeln. Der grobe Stoff, aus dem die große Masse der Menschen gebildet ist, kann nicht zu solcher Vollendung verarbeitet werden. Indessen gibt es kaum einen Menschen, dem nicht durch strenge Zucht, durch Erziehung und Beispiel so viel Achtung vor allgemeinen Regeln eingeprägt werden könnte, daß er nicht bei nahezu jeder Gelegenheit mit wenigstens leidlichem Anstand handeln und während seines ganzen Lebens einem schwereren Tadel entgehen sollte. Wenn einem Menschen diese heilige Achtung vor allgemeinen Regeln fehlt, dann kann man sich niemals auf sein Verhalten sehr verlassen. Sie ist es, die den wesentlichsten Unterschied zwischen einem Mann von Ehre und Grundsätzen und einem nichtswürdigen Gesellen bildet. Der eine bleibt bei allen Gelegenheiten standhaft und entschlossen seinen Grundsätzen treu und bewahrt sein ganzes Leben hindurch eine gewisse Gleichmäßigkeit in seinem Verhalten. Der andere handelt ganz ungleichmäßig und von ungefähr, je nachdem, wie gerade Laune, Neigung oder Interesse zufällig die Oberhand haben. Ja, so groß sind die Unbeständigkeiten der Laune, denen alle Menschen unterworfen sind, daß sogar ein Mann, der bei kühlem Verstände das feinste Gefühl für die sittliche Richtigkeit eines Verhaltens hat, dennoch, wenn jenes Prinzip ihn nicht leitete, sich oft möchte hinreißen lassen, bei den unbedeutendsten Anlässen ganz sinnlos zu handeln, und zwar auch dann, wenn es kaum möglich wäre, irgendeinen ernsten Beweggrund für ein derartiges Betragen anzugeben. Ein Freund stattet euch einen Besuch ab, wenn ihr zufällig in einer Laune seid, die es euch unangenehm macht, ihn zu empfangen : in euerer gegenwärtigen Stimmung wird euch seine Höflichkeit sehr leicht als unverschämte Zudringlichkeit erscheinen, und wenn ihr der Ansicht der Sachlage, die sich euch in diesem Augenblick aufdrängt, stattgeben wolltet, würdet ihr – obwohl sonst von höflichem Wesen – ihm gegenüber doch Kälte und Geringschätzung in euerem Betra-
Dritter Teil · Fünftes Kapitel
gen zum Ausdruck bringen. Was euch zu einer solchen Grobheit unfähig macht, ist nichts anderes als die Achtung vor den allgemeinen Regeln der Höflichkeit und Gastfreundschaft, die euch daran hindern. Die Verehrung ihnen gegenüber, die euch euere frühere Erfahrung gelehrt hat, und die euch zur zweiten Natur geworden ist, setzt euch in den Stand, in allen derartigen Fällen mit beinahe gleicher Schicklichkeit zu handeln, und verhindert es, daß jene Unbeständigkeit der Stimmungen, der alle Menschen unterworfen sind, euer Verhalten in einem merklichen Grade beeinflußt. Wenn aber aus Mangel an Achtung vor diesen allgemeinen Regeln sogar die Pflichten der Höflichkeit, die doch so leicht zu befolgen sind, und zu deren Verletzung man kaum irgendeinen ernstlichen Beweggrund haben kann, dennoch so häufig übertreten werden, was würde erst aus den Pflichten der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit, der Keuschheit, der Treue werden, die oft so schwer zu befolgen sind, und zu deren Verletzung so viele starke Beweggründe antreiben mögen ? Und doch hängt von einer wenigstens leidlichen Befolgung dieser Pflichten geradezu das Bestehen der menschlichen Gesellschaft ab, die in nichts zerfallen würde, wenn den Menschen nicht im allgemeinen die Achtung vor jenen wichtigen Gesetzen des Verhaltens im Innersten eingeprägt wäre. Diese Achtung wird ferner noch durch eine Ansicht gesteigert, die den Menschen zunächst durch die Natur eingeprägt worden ist, und in der sie später durch das Nachdenken und durch die Philosophie bestärkt wurden, die Ansicht nämlich, daß jene wichtigen Regeln der Sittlichkeit Gebote und Gesetze der Gottheit seien, die schließlich die Gehorsamen belohnen und diejenigen bestrafen werde, die ihre Pflicht verletzen. Diese Meinung oder Vorstellung scheint, sage ich, den Menschen zuerst durch die Natur eingeprägt worden zu sein. Von Natur aus gelangen die Menschen dazu, jenen geheimnisvollen Wesen, mögen es nun welche immer sein, die in einem Lande
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
gerade Gegenstand religiöser Furcht sind, alle ihre eigenen Empfindungen und Affekte zuzuschreiben. Sie haben keine anderen und sie können sich keine anderen ersinnen, die sie jenen Wesen zuschreiben könnten. Jene unbekannten Geister, die sie sich in ihrer Phantasie wohl vorstellen, die sie aber nicht sehen, müssen notwendig so gestaltet werden, daß sie eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen Geistern aufweisen, die sie aus der Erfahrung kennen. Während der Unwissenheit und der Finsternis des heidnischen Aberglaubens scheinen die Menschen die Vorstellungen von ihren Gottheiten mit so wenig Zartgefühl gebildet zu haben, daß sie ihnen unterschiedslos alle Affekte des Menschen zuschrieben, auch solche nicht ausgenommen, die unserer Gattung am wenigsten zur Ehre gereichen, wie Sinnenlust, Hunger, Habgier, Neid und Rachsucht. Sie konnten daher auch nicht ermangeln, jenen Wesen für deren ausgezeichnete und hervorragende Natur sie dabei immer die höchste Bewunderung hegten, auch jene Empfindungen und Eigenschaften zuzuschreiben, welche die größte Zierde der Menschheit bilden, und die sie zu einer gewissen Ähnlichkeit mit göttlicher Vollkommenheit emporheben : die Liebe zur Tugend und zum Wohltun, und den Abscheu vor Laster und Ungerechtigkeit. Ein Mensch, der in seinen Rechten beleidigt wurde, rief Jupiter an, Zeuge des Unrechts zu sein, das ihm zugefügt worden war, und er vermochte gar nicht daran zu zweifeln, daß jenes göttliche Wesen mit dem gleichen Unwillen auf dieses Unrecht hinblicken werde, wie ihn selbst der geringste unter den Menschen empfindet, wenn er zusieht, wie ein Unrecht begangen wird. Der Mann, der das Unrecht verübte, fühlte, wie er dadurch den gerechten Abscheu und das Vergeltungsgefühl der Menschen auf sich zog, und seine natürliche Furcht brachte ihn dahin, daß er die gleichen Empfindungen jenen furchtbaren Wesen zuschrieb, deren Allgegenwart er nicht entgehen und deren Macht er nicht Widerstand leisten konnte. Diese natürlich erwachsenen Hoffnungen, Befürchtungen und Vermutungen wurden durch die
Dritter Teil · Fünftes Kapitel
Sympathie allgemein verbreitet und durch die Erziehung in den Herzen gefestigt ; und ganz allgemein wurden nun die Götter als Belohner der Menschlichkeit und Güte und als Rächer der Treulosigkeit und Ungerechtigkeit angesehen und verehrt. Und so verlieh die Religion sogar in ihrer rohesten Form den Gesetzen der Sittlichkeit ein höheres Ansehen, lange bevor das Zeitalter bewußten Nachdenkens und Philosophierens angebrochen war. Daß die Schrecken der Religion das natürliche Pflichtgefühl verstärken sollten, das war für die Glückseligkeit der Menschen von viel zu großer Wichtigkeit, als daß die Natur dies hätte von der Langsamkeit und Ungewißheit philosophischer Untersuchungen sollen abhängen lassen. Als indessen jene Untersuchungen aufkamen, da bestätigten sie nur das, was die Natur den Menschen schon früher, vor allem Nachdenken, gelehrt hatte. Was wir auch immer für die Grundlage unseres moralischen Vermögens halten mögen, sei es eine gewisse Modifikation der Vernunft, sei es ein ursprünglicher Instinkt, den man den moralischen Sinn nennt, sei es irgendein anderes Prinzip unserer Natur, auf keinen Fall kann es zweifelhaft sein, daß es uns zur Leitung unseres Verhaltens in diesem Leben verliehen wurde. Es trägt die augenfälligsten Kennzeichen seiner Autorität an sich, die uns dafür Zeugnis ablegen, daß es in uns eingesetzt wurde, damit es der oberste Richter über unsere Handlungen sei, damit es über alle unsere Sinne, Affekte und Begierden die Oberaufsicht führe, und damit es darüber urteile, wie weit sich der Mensch diesen überlassen dürfe, und wie weit er sie im Zaume halten solle. Unser moralisches Vermögen steht in dieser Beziehung keineswegs, wie manche behauptet haben, auf einer Linie mit den anderen Vermögen und Neigungen unserer Natur, so daß es nicht mehr Recht hätte, diesen letzteren Schranken aufzuerlegen, als diese letzteren ihm gegenüber. Kein anderes Vermögen oder Prinzip des Handelns fällt über ein anderes Urteile. Liebe fällt kein Urteil über Vergeltungsgefühl, und
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
Vergeltungsgefühl fällt kein Urteil über Liebe. Diese beiden Affekte mögen einander entgegengesetzt sein, aber man kann von ihnen keineswegs mit Recht sagen, daß sie einander billigen oder mißbilligen. Dagegen ist es gerade das eigentümliche Amt jenes Vermögens, das wir jetzt betrachten, Urteile über alle anderen Prinzipien unserer Natur zu fällen und ihnen Tadel oder Beifall zuzuteilen. Man kann es als eine Art von Sinn betrachten, dessen Objekt jene Prinzipien sind. Jeder Sinn ist unbeschränkter Herr auf seinem Gebiete. Es gibt keine Berufung gegen die Entscheidung des Auges über die Schönheit von Farben, noch gegen die des Ohres in bezug auf den Zusammenklang der Töne, noch gegen die des Geschmackssinnes hinsichtlich der Annehmlichkeit eines gewissen Geschmacks. Jeder dieser Sinne urteilt in letzter Instanz über die Gegenstände, für die er zuständig ist. Alles, was den Geschmackssinn befriedigt, ist süß, was das Auge ergötzt, ist schön, was dem Ohre schmeichelt, ist wohlklingend. Das Wesen aller dieser Eigenschaften besteht gerade darin, daß sie geeignet sind, denjenigen Sinn zu erfreuen, an den sie sich wenden. In gleicher Weise kommt es unserem moralischen Vermögen zu, darüber zu entscheiden, wann das Ohr, wann das Auge erfreut werden, wann der Geschmackssinn befriedigt werden soll, wann und inwieweit jedem sonstigen Prinzip unserer Natur freier Lauf gelassen oder vielmehr Schranken auferlegt werden sollen. Was unserem moralischen Vermögen angenehm ist, das ist geziemend und recht, und es ist schicklich, daß es getan werde ; das Gegenteil ist unrecht, ungeziemend und unschicklich. Die Gefühle, welche es billigt, sind anziehend und wohlanständig, die entgegengesetzten abstoßend und unanständig. Die Worte recht, unrecht, geziemend, unschicklich, anziehend, unanständig, bedeuten ja selbst nur dasjenige, was jenem Vermögen gefällt oder mißfällt. Da dieses Vermögen also offenbar dazu bestimmt war, das herrschende Prinzip der menschlichen Natur zu werden, müssen die Regeln, welche es vorschreibt, als die Gebote und Gesetze
Dritter Teil · Fünftes Kapitel
der Gottheit angesehen werden, welche uns durch jenen Statthalter kundgemacht wurden, den die Gottheit in uns eingesetzt hat. Alle allgemeinen Regeln werden gemeinhin Gesetze genannt : so werden die allgemeinen Regeln, welche die Körper bei der Übertragung der Bewegung von einem zum anderen beobachten, die Gesetze der Bewegung genannt. Aber jene allgemeinen Regeln, die unser moralisches Vermögen beobachtet, wenn es irgendeine Empfindung oder Handlung, die seiner Prüfung unterworfen ist, billigt oder verurteilt, können mit weit größerem Recht so benannt werden. Sie haben eine weit größere Ähnlichkeit mit demjenigen, was im eigentlichen Sinne Gesetz heißt, nämlich mit jenen allgemeinen Regeln, welche der Herrscher festsetzt, um dadurch das Verhalten seiner Untertanen zu lenken. Wie diese sind sie Regeln, die dazu bestimmt sind, die freien Handlungen von Menschen zu leiten : sie sind ganz gewiß von einem rechtmäßigen Vorgesetzten erlassen und sind gleichfalls mit Belohnungen und Strafen als ihrer Sanktion ausgestattet. Jener Statthalter Gottes in uns ermangelt niemals, die Verletzung dieser Regeln durch die Qualen der Scham und Selbstverurteilung zu bestrafen, die im Inneren des Täters laut werden, und er belohnt auf der anderen Seite stets ihre Befolgung mit Seelenruhe, Zufriedenheit und Genugtuung über das eigene Verhalten. Es gibt unzählige andere Betrachtungen, die dazu beitragen können, die gleiche Folgerung zu bestätigen. Die Glückseligkeit der Menschen wie die aller anderen vernunftbegabten Geschöpfe scheint das ursprüngliche Ziel gewesen zu sein, das dem Schöpfer der Natur vorschwebte, als er diese Wesen ins Dasein rief. Kein anderer Endzweck scheint jener höchsten Weisheit und jener göttlichen Güte und Milde würdig, die wir ihm notwendig zuschreiben ; und in dieser Ansicht, zu der wir durch die ganz abstrakte Erwägung seiner unendlichen Vollkommenheit gebracht wurden, werden wir noch mehr bestärkt, wenn wir die Werke der Natur einer Prüfung unterziehen, die alle dazu bestimmt scheinen,
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
Glückseligkeit zu fördern und gegen Elend zu schützen. Indem wir aber den Geboten unseres moralischen Vermögens gemäß handeln, gebrauchen wir gerade das wirksamste Mittel, um die Glückseligkeit der Menschen zu befördern, und man kann also in gewissem Sinne von uns sagen, daß wir Mitarbeiter der Gottheit sind, und daß wir, soweit es in unserer Macht steht, die Pläne der Vorsehung ihrer Verwirklichung näher bringen. Wenn wir anders handeln, dann scheinen wir dagegen den Plan gewissermaßen zu durchkreuzen, den der Schöpfer der Natur zur Herbeiführung der Glückseligkeit und Vollkommenheit der Welt entworfen hat, und scheinen uns, wenn ich so sagen darf, gewissermaßen als Feinde Gottes zu erklären. Darum gibt uns unser Verhalten im ersten Falle den Mut, auf seine außergewöhnliche Gunst und seinen Lohn zu hoffen, während wir in dem zweiten Falle seine Rache und Strafe fürchten müssen. Es gibt außerdem noch viele andere Gründe und viele andere natürliche Prinzipien, die dahin zielen, dieselbe heilsame Lehre zu bestätigen und uns einzuprägen. Wenn wir die allgemeinen Regeln betrachten, nach welchen gemeinhin äußere Wohlfahrt und äußeres Elend in diesem Leben verteilt sind, werden wir finden, daß trotz der Unordnung, in welcher alle Dinge in dieser Welt zu liegen scheinen, doch sogar hienieden schon jede Tugend naturnotwendig die gebührende Belohnung und die Entschädigung findet, die am meisten geeignet ist, sie zu ermutigen und zu fördern, und zwar mit solcher Gewißheit, daß ein ganz außergewöhnliches Zusammentreffen von Umständen erforderlich wäre, um sie ganz und gar um diesen Lohn zu bringen. Welches ist der Lohn, der am meisten geeignet ist, Fleiß, Klugheit und Umsicht zu ermutigen ? Erfolg in jeder Art von Geschäften. Und ist es möglich, daß ein ganzes Leben hindurch diese Tugenden nicht imstande wären, ihn zu erlangen ? Wohlfahrt und äußere Ehren sind die ihnen gebührende Entschädigung, eine Entschädigung, die ihnen nur selten entgehen wird. Welches ist der Lohn, der am
Dritter Teil · Fünftes Kapitel
meisten geeignet ist, die Übung der Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu fördern ? Das Vertrauen, die Achtung und die Liebe derjenigen, mit denen wir umgehen. Die Menschlichkeit wünscht gar nicht, groß und angesehen zu sein, sondern geliebt zu werden. Nicht am Reichtum würde sich Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit erfreuen, sondern daran, daß sie Vertrauen und Glauben erwecken, Entschädigungen, die diese Tugenden beinahe immer erwerben werden. – Durch gewisse ganz außergewöhnliche und unglückliche Umstände kann einmal auch ein guter Mensch in den Verdacht eines Verbrechens kommen, dessen er gänzlich unfähig wäre, und mag aus diesem Grund sein ganzes Leben hindurch, wenn auch ganz mit Unrecht, dem Abscheu und der Abneigung der Menschen ausgesetzt sein. Man kann sagen, daß er durch einen Zufall dieser Art, trotz seiner inneren Lauterkeit und Rechtschaffenheit alles verliere, ganz ebenso wie ein behutsamer Mann trotz all seiner Vorsicht durch ein Erdbeben oder eine Überschwemmung zugrunde gerichtet werden kann. Zufälle der ersten Art sind indes vielleicht noch seltener und noch mehr dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entgegen, als solche der zweiten und es bleibt doch wahr, daß die Übung der Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit ein sicheres und nahezu unfehlbares Verfahren ist, um das zu erwerben, worauf diese Tugenden in erster Linie hinzielen, das Vertrauen und die Liebe derer, mit denen wir umgehen. Man kann auf Grund einer einzelnen Handlung sehr leicht eine falsche Vorstellung von einem Menschen empfangen ; das ist jedoch kaum möglich, wenn man das ganze Verhalten des Betreffenden im allgemeinen in Betracht zieht. Man mag von einem unschuldigen Menschen glauben, daß er ein Unrecht verübt habe – indessen wird sich dies gewiß selten ereignen. Dagegen wird uns häufig die einmal feststehende Ansicht von der Rechtlichkeit seines Gehabens dazu bestimmen, ihn trotz sehr schwerer Verdachtsgründe in einem Falle freizusprechen, in dem er tatsächlich gefehlt hat. Ebenso mag ein Schurke
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
wegen einer bestimmten Schurkerei dem Tadel entrinnen, oder sogar Beifall dafür erwerben, wenn in dem betreffenden Falle sein Verhalten nicht erkannt wurde. Kein Mensch war jedoch jemals sozusagen gewohnheitsmäßig ein Schurke, ohne daß er aller Welt als solcher bekannt gewesen wäre, und ohne daß man ihn häufig sogar dann einer Schuld verdächtigt hätte, wenn er in Wirklichkeit völlig unschuldig war. Und soferne Laster und Tugend durch die Empfindungen und Ansichten der Menschen bestraft oder belohnt zu werden vermögen, finden beide nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge schon hier ihre Vergeltung – vielleicht sogar einigermaßen stärker, als es der streng unparteiischen Gerechtigkeit entsprechen würde. Obwohl aber die allgemeinen Regeln, nach welchen Wohlfahrt und Elend gewöhnlich verteilt sind, der Stellung des Menschen in diesem Leben völlig angemessen erscheinen, sobald man sie in dieser kühlen Weise und in diesem philosophischen Lichte betrachtet, so stehen sie doch mit einigen unserer natürlichen Empfindungen durchaus nicht im Einklang. Unsere Liebe und Bewunderung für manche Tugenden ist naturgemäß so groß, daß wir wünschen würden, ihnen alle Arten von Ehrungen und Belohnungen zu erzeigen, und zwar auch solche, die, wie wir wohl zugeben müssen, eigentlich nur anderen Eigenschaften gebühren, die sich durchaus nicht immer in der Begleitung jener Tugenden finden. Umgekehrt ist der Abscheu, den wir gegen manche Laster empfinden, so groß, daß wir wünschen würden, auf sie jede Art von Schande und Unglück zu häufen, auch solches nicht ausgenommen, das eigentlich als die natürliche Folge ganz anderer Eigenschaften einzutreten pflegt. Großherzigkeit, Edelmut und Gerechtigkeit flößen uns eine so große Bewunderung ein, daß wir sie mit Wohlstand, Macht und Ehren jeder Art gekrönt zu sehen wünschen, während dies doch eigentlich die natürlichen Folgen von Klugheit, Fleiß und Anstelligkeit zu sein pflegen, Eigenschaften, mit welchen jene Tugenden keineswegs untrennbar
Dritter Teil · Fünftes Kapitel
verbunden sind. Betrug, Falschheit, Roheit und Gewalttätigkeit andererseits erregen in jeder menschlichen Brust solche Verachtung und solchen Abscheu, daß in uns ein gewisser Unwille entsteht, wenn wir sie im Genusse von Vorteilen sehen, die sie doch – wie man vielleicht zugeben mag – in gewissem Sinne durch den Fleiß und den Eifer verdient haben, welche sie mitunter begleiten. Ein fleißiger Schurke bebaut den Boden, ein guter, aber nachlässiger Mensch läßt ihn unbebaut. Wer von beiden soll nun die Ernte einheimsen ? Wer von beiden soll in Not und wer in Fülle leben ? Der natürliche Lauf der Dinge entscheidet zugunsten des Schurken, die Empfindungen der Menschen entscheiden naturgemäß zugunsten des Tugendhaften. Die Menschen werden ihr Urteil dahin abgeben, daß die guten Eigenschaften des einen durch jene Vorteile, die sie ihm verschaffen, viel zu sehr belohnt werden, und daß die Unterlassungen des anderen durch das Elend bei weitem zu strenge bestraft sind, das sie naturgemäß über ihn bringen ; und die menschlichen Gesetze, die ja die Folgen menschlicher Empfindungen sind, erklären das Leben und den Besitz eines fleißigen und vorsichtigen Verräters für verwirkt, während sie die Treue und den Gemeinsinn eines unvorsichtigen und sorglosen guten Bürgers durch außergewöhnliche Entschädigungen belohnen. So wird der Mensch durch die Natur selbst angeleitet, jene Verteilung der Dinge in gewissem Maße zu verbessern, die sie selbst sonst vorgenommen hätte. Sie veranlaßt ihn, zu diesem Ende gewisse Regeln zu befolgen, die ganz verschieden sind von denen, die sie selbst beobachtet. Sie teilt jeder Tugend und jedem Laster genau denjenigen Lohn oder diejenige Strafe zu, die am besten geeignet sind, die eine zu ermutigen, das andere zurückzuhalten. Sie läßt sich nur von dieser Erwägung leiten und nimmt wenig Rücksicht darauf, welchen Grad von Verdienst und Schuld ihnen der Mensch mit seinen Empfindungen und Affekten zuerkennen mag. Der Mensch berücksichtigt umgekehrt nur diese und würde sich am liebsten bemühen, den Wert jeder Tugend
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
genau im Verhältnis zu jenem Grad von Liebe und Achtung zu bestimmen, den er selbst für sie empfindet, und den jedes Lasters im Verhältnis zu dem Grade des Abscheus und der Verachtung, die er für sie fühlt. Die Regeln, welche die Natur befolgt, sind ihr angemessen, die, welche der Mensch befolgt, dem Menschen ; beide aber sind darauf berechnet, denselben großen Zweck zu befördern, die Ordnung der Welt und die Vollkommenheit und Glückseligkeit der Menschheit. Obgleich sich aber der Mensch so immer wieder damit abgibt, jene Verteilung der Dinge abzuändern, die der natürliche Lauf der Ereignisse herstellen würde, wenn er sich selbst überlassen wäre ; obwohl er immer wieder gleich den Göttern der Dichter mit außerordentlichen Mitteln zugunsten der Tugend und zum Nachteil des Lasters eingreift und gleich jenen sich bemüht, den Pfeil abzuwenden, der auf das Haupt des Gerechten gezielt war, dagegen das Schwert der Vernichtung zu beschleunigen, das gegen den Bösen erhoben war, so ist er doch keineswegs imstande, das Schicksal beider so zu gestalten, wie es seinen Empfindungen und Wünschen entsprechen würde. Der natürliche Lauf der Dinge kann durch die ohnmächtigen Bemühungen des Menschen nicht gänzlich beherrscht werden ; der Strom ist viel zu rasch und zu stark, als daß der Mensch ihm Einhalt tun könnte ; und obgleich die Gesetze, die ihn leiten, offenbar zu den weisesten und besten Zwecken gegeben wurden, so bringen sie doch mitunter Wirkungen hervor, die all seinen natürlichen Empfindungen zuwiderlaufen. Daß eine große Vereinigung von Menschen über eine kleine die Oberhand gewinne, daß diejenigen, die sich auf eine Unternehmung nur mit Vorbedacht und aller notwendigen Vorbereitung einlassen, über jene die Oberhand gewinnen, die ihnen ohne eine solche entgegentreten, und daß jeder Zweck nur durch jene Mittel erreicht werde, die die Natur selbst zu seiner Verwirklichung festgesetzt hat, das scheint ein Gesetz zu sein, welches nicht nur an und für sich selbst notwendig und unentbehrlich, sondern
Dritter Teil · Fünftes Kapitel
sogar sehr nützlich und angemessen ist, um den Fleiß und die Aufmerksamkeit der Menschen wachzurufen. Und doch, wenn infolge dieses Gesetzes Gewalt und List über Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit die Oberhand gewinnen, welchen Unwillen wird dies nicht in dem Herzen eines jeden menschenfreundlichen Zuschauers erregen ! Welchen Kummer, welches Mitgefühl mit den Leiden des Unschuldigen und welch wütendes Vergeltungsgefühl gegen die Erfolge des Unterdrückers ! Wir werden ebenso bekümmert wie empört sein über das Unrecht, das da verübt wurde, und doch sehen wir oft, daß es ganz außer unserer Macht steht, ihm abzuhelfen. Wenn wir so daran verzweifeln, eine Macht auf Erden zu finden, die dem Triumph der Ungerechtigkeit Einhalt zu tun vermöchte, dann wenden wir uns natürlicherweise an den Himmel und hoffen, daß der große Schöpfer der Menschheit selbst nach diesem Leben verwirklichen werde, was wir schon hienieden versuchten, angetrieben durch jene Prinzipien, die er uns zur Leitung unseres Verhaltens eingepflanzt hat ; wir hoffen, daß er den Plan vollenden werde, den er selbst uns gelehrt hat in Angriff zu nehmen, und daß er in einem künftigen Leben jedem einzelnen zuweisen werde, was ihm nach den Werken gebührt, die er einst in dieser Welt vollbracht hat. Und so werden wir zu dem Glauben an ein künftiges Dasein nicht nur durch die Schwachheiten, durch die Hoffnungen und Befürchtungen gebracht, die der menschlichen Natur anhaften, sondern durch die edelsten und höchsten Prinzipien, die ihr innewohnen, durch die Liebe zur Tugend und durch den Abscheu vor dem Laster und der Ungerechtigkeit. »Geziemt es sich wohl für die Größe Gottes«, sagt der beredte und philosophische Bischof von Clermont mit jener leidenschaftlichen und übertreibenden Kraft der Phantasie, die mitunter die Grenzen des Schicklichen zu überschreiten scheint, »geziemt es sich für die Größe Gottes, die Welt, die er geschaffen, in solch allgemeiner Zerrüttung zu lassen ? Zu sehen, wie fast im-
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mer der Böse die Oberhand gewinnt über den Gerechten, wie der Schuldlose entthront wird durch den Usurpator, wie der Vater das Opfer des Ehrgeizes seines unmenschlichen Sohnes wird, wie der Ehemann unter den Streichen eines barbarischen und treulosen Weibes seinen Geist aufgibt ? Sollte Gott von der Höhe seiner Macht solch trübselige Ereignisse als eine phantastische Unterhaltung seiner Laune betrachten, ohne irgendwie an ihnen Anteil zu nehmen ? Weil er groß ist, sollte er schwach, ungerecht oder barbarisch sein ? Weil die Menschen gering sind, sollte es ihnen erlaubt sein, daß sie zügellos ohne Bestrafung, oder tugendhaft ohne Belohnung seien ? Oh Gott, wenn dies die Denkungsart deines höchsten Wesens ist, wenn du es bist, den wir unter so furchtbaren Vorstellungen anbeten, dann kann ich dich nicht länger als meinen Vater anerkennen, als meinen Beschützer, als den Tröster in meinem Kummer, als die Hilfe in meiner Schwäche, als den Belohner meiner Treue. Dann wärest du nicht mehr als ein gefühlloser und launenhafter Tyrann, der die Menschen seiner übermütigen Eitelkeit opfert, und der sie nur darum ins Dasein gerufen hat, damit er sie als Unterhaltungsmittel für seine Muße und für seine Launen verwende.« Wenn die allgemeinen Regeln, welche das Verdienst und die Schuld von Handlungen bestimmen, auf diese Weise als die Gesetze eines allmächtigen Wesens betrachtet werden, das über unser Verhalten wacht, und das in einem künftigen Leben die Befolgung dieser Gesetze belohnen und ihre Verletzung bestrafen wird, dann gewinnen sie infolge dieser Überlegung notwendig eine neue Heiligkeit. Daß unsere Achtung vor dem Willen der Gottheit das oberste Gesetz unseres Verhaltens sein soll, daran kann kein Mensch einen Zweifel hegen, der überhaupt an die Existenz Gottes glaubt. Schon der Gedanke eines Ungehorsams ihm gegenüber scheint die empörendste Unsittlichkeit in sich zu enthalten. Wie vergeblich, wie unsinnig wurde es sein, wenn sich der Mensch den Geboten widersetzen wollte, die ihm von der un-
Dritter Teil · Fünftes Kapitel
endlichen Weisheit und der unendlichen Macht auferlegt worden sind, oder wenn er diese Gebote gering achten wollte ! Wie naturwidrig, wie gottlos undankbar wäre es, die Vorschriften nicht zu verehren, die ihm von der unendlichen Güte seines Schöpfers auferlegt worden sind, auch wenn keine Bestrafung auf ihre Verletzung folgen müßte ! Auch wird das Gefühl für das sittlich Richtige hier durch die stärksten Beweggründe der Selbstliebe sehr unterstützt. Die Vorstellung, daß wir, mögen wir auch der Beobachtung der Menschen entgehen oder infolge unserer hohen Stellung jeder menschlichen Bestrafung entrückt sein, doch immer unter den Augen Gottes handeln und den Strafen Gottes, des großen Rächers allen Unrechts, ausgesetzt sind, das ist ein Beweggrund, der fähig ist, die hartnäckigsten Leidenschaften im Zaume zu halten, wenigstens bei allen jenen Menschen, die sich durch ständiges Nachdenken mit diesem Gedanken vertraut gemacht haben. Auf diese Weise pflegt die Religion dem natürlichen Pflichtgefühl stärkere Kraft zu verleihen ; und daher kommt es, daß die Menschen im allgemeinen geneigt sind, großes Vertrauen auf die Rechtschaffenheit jener Menschen zu setzen, die ein tiefes religiöses Empfinden besitzen. Solche Personen, denken sie, stehen in ihrem Handeln noch unter einer weiteren Bindung, die zu jenen hinzutritt, welche das Verhalten anderer Menschen bestimmen. Die Rücksicht auf die sittliche Richtigkeit der Handlung wie diejenige auf den guten Ruf, die Rücksicht auf den Beifall des eigenen Herzens wie auf denjenigen anderer Menschen, das sind Beweggründe, die ihrer Ansicht nach auf den religiösen Menschen den gleichen Einfluß üben wie auf den Weltmann. Aber der erstere steht noch unter einem anderen Zwange ; er wird niemals mit Bedacht anders handeln als so, wie wenn er vor jenem großen Oberen stünde, der ihm schließlich seinen Taten gemäß vergelten wird. Darum setzt man auf die Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit seines Verhaltens ein größeres Vertrauen. Und überall, wo die natürlichen Grundsätze der Religion nicht durch den sektiere-
Urteile über Gefühle und Verhalten / Pflichtgefühl
rischen und parteiischen Eifer irgendwelcher wertloser Kabalen verderbt worden sind, wo die erste Pflicht, die sie gebieten, diejenige ist, alle Verpflichtungen der Sittlichkeit zu erfüllen ; wo man die Menschen nicht gelehrt hat, wertlose Kirchengebräuche für unmittelbarere Pflichten der Religion anzusehen als Handlungen der Gerechtigkeit und des Wohltuns und sich einzubilden, daß die Menschen durch Opfer und Zeremonien und eitle Gebete von der Gottheit gleichsam die Erlaubnis zu Betrug, Treulosigkeit und Gewalttätigkeit erhandeln können – dort ist das Urteil der Welt in dieser Frage zweifellos richtig und dort setzt sie mit vollem Recht doppeltes Vertrauen auf die Richtigkeit des Betragens eines religiösen Menschen.
sechstes kapitel In welchen Fällen das Pflichtgefühl allein Prinzip unseres Handelns sein, und in welchen Fällen es mit anderen Triebfedern zusammenwirken soll. Die Religion allein gewährt so starke Triebfedern zur Übung der Tugend und schützt uns durch so mächtige Hemmungen vor den Versuchungen des Lasters, daß viele dadurch zu der Meinung gebracht wurden, religiöse Prinzipien seien die einzigen lobenswerten Triebfedern des Handelns. Wir sollen weder aus Dankbarkeit belohnen, sagen sie, noch aus Vergeltungsgefühl bestrafen ; niemals sollten wir aus natürlicher Zuneigung unsere Kinder in ihrer Hilflosigkeit beschützen oder der Schwäche unserer Eltern Beistand gewähren. Alle Neigung zu einzelnen Objekten sollte in unserer Brust ausgelöscht sein und eine große Neigung sollte die Stelle aller anderen einnehmen, die Liebe zur Gottheit, der Wunsch, uns ihr angenehm zu machen und unser Verhalten in jeder Hinsicht ihrem Willen gemäß zu lenken. Wir sollen nicht aus Dankbarkeit dankbar, wir sollten nicht aus Menschlichkeit
Dritter Teil · Sechstes Kapitel
wohltätig sein, wir sollten nicht aus Liebe zu unserem Vaterlande patriotisch, noch aus Liebe zur Menschheit edelmütig und gerecht sein. Das einzige Prinzip und die einzige Triebfeder unseres Verhaltens bei der Erfüllung aller dieser verschiedenen Pflichten sollte das Bewußtsein bilden, daß Gott uns befohlen hat, sie zu erfüllen. Ich werde mir jetzt nicht die Zeit nehmen, diese Ansicht im besonderen zu prüfen ; ich will nur bemerken, daß wir nicht erwartet hätten, diese Ansicht von einer Sekte vertreten zu finden, die sich zu einer Religion bekennt, deren erste Vorschrift es zwar ist, den Herrn unseren Gott zu lieben mit unserem ganzen Herzen, mit unserer ganzen Seele und mit unserer ganzen Kraft, deren zweite Vorschrift es aber ist, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst ; und wir lieben doch uns selbst sicherlich um unserer selbst willen und nicht bloß darum, weil uns befohlen wurde, uns zu lieben. Daß das Pflichtgefühl das einzige Prinzip unseres Verhaltens sein solle, das ist keineswegs die Vorschrift des Christentums, wohl aber, daß es das herrschende und führende sein soll, wie die Philosophie und wie allerdings auch der gemeine Menschenverstand es vorschreiben. Es mag indes fraglich scheinen, in welchen Fällen unsere Handlungen hauptsächlich oder gänzlich aus dem Pflichtgefühl oder aus der Rücksicht auf allgemeine Regeln entspringen sollen, und in welchen Fällen gewisse andere Empfindungen oder Neigungen mitwirken und einen bestimmenden Einfluß ausüben sollen. Die Entscheidung dieser Frage, die vielleicht überhaupt nicht mit sehr großer Genauigkeit gegeben werden kann, wird von zweierlei Umständen abhängen ; erstens von der natürlichen Anmut oder Häßlichkeit der Empfindung oder Neigung, die uns – unabhängig von aller Rücksicht auf allgemeine Regeln – zu einer Handlung treiben würde, und zweitens von der Bestimmtheit und Genauigkeit – oder der Laxheit und Ungenauigkeit der allgemeinen Regeln selbst. 1. Es wird, sage ich, erstens von der natürlichen Anmut oder
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Häßlichkeit der Neigung selbst abhängen, inwiefern unsere Handlungen aus ihr entspringen sollen, oder ob sie nicht vielmehr ausschließlich aus einer Rücksichtnahme auf allgemeine Regeln hervorgehen sollen. Alle jene schönen und vielbewunderten Handlungen, zu denen die wohlwollenden Neigungen uns antreiben, sollen ebensosehr aus diesen Affekten selbst, als aus irgendwelcher Rücksichtnahme auf allgemeine Verhaltungsregeln hervorgehen. Ein Wohltäter wird das Gefühl haben, daß ihm sein Verhalten nur schlecht vergolten wurde, wenn derjenige, dem er seine guten Dienste erwiesen hat, diese nur aus einem gewissen kühlen Pflichtbewußtsein und ohne jedes Gefühl der Zuneigung ihm gegenüber erwidert. Ein Ehemann wird auch mit der allergehorsamsten Frau unzufrieden sein, wenn er der Meinung ist, daß ihr Verhalten durch kein anderes Gefühl bestimmt wird, als durch die Achtung vor jenen Pflichten, die das Verhältnis, in dem sie zu ihm steht, ihr auferlegt. Wenn ein Sohn es auch an keiner jener Dienstleistungen fehlen läßt, die die Kindespflicht ihm vorschreibt, wenn ihm aber dabei jene liebevolle Verehrung mangelt, die zu fühlen sich so sehr für ihn ziemt, dann wird sich der Vater mit Recht über seine Gleichgültigkeit beschweren können. Ebenso könnte ein Sohn mit seinem Vater nicht ganz zufrieden sein, wenn dieser zwar alle Pflichten seiner Stellung erfüllte, aber nichts von jener väterlichen Liebe besäße, die man von ihm hätte erwarten können. In bezug auf alle solche wohlwollenden und sozialen Neigungen ist es uns angenehm, wenn wir sehen, daß das Pflichtgefühl eher dazu angewendet wird, jene Neigungen in Schranken zu halten, als sie zu verstärken, eher um uns abzuhalten, zu viel zu tun, als um uns anzutreiben, zu tun, was wir sollen. Es bereitet uns Freude, einen Vater zu sehen, der seiner maßlosen Liebe Einhalt tun muß, einen Freund, der seinem natürlichen Edelmut Schranken setzen, den Empfänger einer Wohltat, der die allzu stürmische Dankbarkeit zurückhalten muß, die sein Herz überwältigt.
Dritter Teil · Sechstes Kapitel
Der entgegengesetzte Grundsatz gilt im allgemeinen in bezug auf die übelwollenden und unsozialen Affekte. Wir sollen aus Dankbarkeit und aus dem natürlichen Edelmut unseres Herzens belohnen, ohne Widerstreben und ohne überlegen zu müssen, wie sehr es sittlich richtig ist, zu belohnen ; strafen jedoch sollen wir stets mit Widerstreben und mehr aus dem Gefühl, daß es in diesem Falle sittlich richtig ist zu bestrafen, als aus irgendeinem wilden Hang zur Rache. Nichts ist schöner als das Betragen eines Menschen, der die größten Beleidigungen offenbar mehr aus dem Gefühl heraus ahndet, daß sie Vergeltung verdienen und mit Recht als Gegenstand des Vergeltungsgefühls gelten, als weil er wirklich die Furien dieser häßlichen Leidenschaft fühlt ; der wie ein Richter nur die allgemeine Regel im Auge hat, die festsetzt, welche Vergeltung jeder einzelnen Beleidigung zukommt ; der, wenn er diese Regel ausführt, weniger Gefühl für dasjenige hat, was er selbst erduldet hatte, als für das, was der Beleidiger nun erdulden muß, der trotz seines Zornes der Barmherzigkeit eingedenk ist, der stets geneigt ist, jene Regel auf die edelste und günstigste Weise auszulegen und alle Erleichterungen zu bewilligen, die nur die unparteiischste Menschenfreundlichkeit gestatten kann, und die nur irgend mit dem gesunden Menschenverstand vereinbar sind. Wie die egoistischen Affekte nach dem, was früher bemerkt worden ist, in anderer Hinsicht eine Art Mittelstellung zwischen den sozialen und den unsozialen Gemütsbewegungen einnehmen, so gilt dies auch in dieser Beziehung. Das Streben nach Erlangung solcher Güter, die nur den eigenen Vorteil des Handelnden angehen, sollte in allen gewöhnlichen Fällen, die nur von geringer Bedeutung sind, mehr aus einer Rücksichtnahme auf die allgemeinen Regeln erfließen, die ein solches Verhalten vorschreiben, als aus irgendeinem Affekt, der sich auf jene Güter selbst richten würde ; bei wichtigeren und außergewöhnlichen Anlässen dagegen würden wir ungeschickt, abgeschmackt und
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widerlich erscheinen, wenn uns nicht augenscheinlich diese Güter selbst mit einer beträchtlichen Leidenschaft für sie erfüllten. Ängstlich darauf bedacht zu sein oder gar Ränke zu spinnen, um den Besitz eines einzigen Schillings zu erwerben oder zu behaupten, das würde den gewöhnlichsten Geschäftsmann in der Achtung seiner Nachbarn herabsetzen. Mögen seine Verhältnisse noch so ärmlich sein, niemals darf sich in seinem Verhalten eine Bedachtnahme auf so geringfügige Dinge um ihrer selbst willen zeigen. Mag seine Lage auch die strengste Wirtschaftlichkeit und die sorgsamste Geschäftsbeflissenheit erfordern, so darf doch die Betätigung dieser Wirtschaftlichkeit oder Geschäftsbeflissenheit in jedem einzelnen Fall nicht so sehr aus der Rücksicht auf Erwerbung oder Behauptung gerade des gegenwärtigen Gewinns hervorgehen, als vielmehr aus der Rücksicht auf die allgemeine Regel, die ihm mit äußerster Strenge eine solche Art des Verhaltens vorschreibt. Seine heutige Sparsamkeit darf nicht aus dem Verlangen nach gerade diesem Dreipencestück entspringen, das er durch sie ersparen wird, noch darf die Achtsamkeit, die er in seinem Laden an den Tag legt, aus einem leidenschaftlichen Begehren nach den zehn Pence hervorgehen, die er durch sie erwerben wird, vielmehr sollte die eine wie die andere nur aus der Rücksicht auf die allgemeine Regel fließen, die mit unerbittlicher Strenge allen Menschen, die sich in seiner Lebenslage befinden, diese Art des Verhaltens vorschreibt. Darin besteht der Unterschied zwischen dem Wesen eines Geizhalses und dem eines Menschen, der strenge Wirtschaftlichkeit und Geschäftsbeflissenheit sich zum Grundsatz gemacht hat. Der eine ist um geringe Dinge um ihrer selbst willen ängstlich besorgt, der andere schenkt ihnen seine Aufmerksamkeit bloß infolge des Lebensplanes, den er sich selbst festgesetzt hat. Ganz anders verhält es sich in jenen Fällen, in denen der Gegenstand, auf welchen sich das eigennützige Interesse richtet, von höherer Bedeutung ist. Ein Mensch, der solche Gegenstände nicht
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um ihrer selbst willen mit einem gewissen Ernste anstrebt, der erscheint uns kleinmütig. Wir würden einen Fürsten verachten, der nicht darauf bedacht wäre, eine Provinz zu erobern oder zu verteidigen. Wir würden wenig Achtung für einen vornehmen Privatmann empfinden, der sich nicht Mühe gäbe, ein Vermögen oder ein ansehnliches Amt zu erwerben, wenn er dies ohne Schlechtigkeit oder Ungerechtigkeit erlangen könnte. Ein Parlamentsmitglied, das keinen Eifer und kein Interesse zeigt, gewählt zu werden, wird sogar von seinen Freunden fallen gelassen und erscheint ihnen als ihrer Anhänglichkeit ganz und gar unwürdig. Selbst ein Geschäftsmann wird unter Seinesgleichen als ein feigherziger Geselle angesehen, wenn er sich nicht rührt, um, wie sie es nennen, einen außerordentlichen Fang zu machen oder einen ungewöhnlichen Vorteil zu erlangen. Diese Rührigkeit, dieser Eifer bildet den Unterschied zwischen einem Menschen, der Unternehmungsgeist besitzt, und einem Manne von geistloser Mittelmäßigkeit. Jene großen Ziele der eigennützigen Neigungen, jene Güter, deren Verlust oder Erwerb die ganze Stellung des Menschen verändern kann, bilden die Ziele derjenigen Leidenschaft, die man im eigentlichen Sinn als Ehrgeiz bezeichnet ; einer Leidenschaft, die, sofern sie sich innerhalb der Grenzen der Klugheit und Gerechtigkeit hält, immer und überall in der Welt bewundert wird, und die sogar dann mitunter eine gewisse, jeder Regel spottende Größe an sich trägt, welche unsere Einbildungskraft blendet, wenn sie die Schranken dieser beiden Tugenden überschreitet und nicht nur ungerecht, sondern auch unsinnig und übertrieben ist. Daher stammt die allgemeine Bewunderung für Helden und Eroberer und sogar für Staatsmänner, deren Pläne sehr kühn und umfassend, obzwar ganz und gar jeder Rechtlichkeit bar waren, wie etwa diejenigen der Kardinäle von Richelieu und von Retz. Die Ziele der Habsucht und die des Ehrgeizes unterscheiden sich voneinander nur durch ihre Größe. Ein Geizhals ist ebenso versessen auf einen halben Penny, wie ein
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Mann, der von Ehrgeiz erfüllt ist, auf die Eroberung eines Königreiches. 2. Es wird, sage ich, zweitens zum Teil von der Bestimmtheit und Genauigkeit oder der Laxheit und Ungenauigkeit der allgemeinen Regeln selbst abhängen, inwieweit unsere Handlungen ganz und gar aus der Rücksichtnahme auf sie hervorgehen sollen. Die Mehrzahl der allgemeinen Regeln, die von den einzelnen Tugenden gelten, die allgemeinen Regeln, die bestimmen, was die Pflichten der Klugheit, der Nächstenliebe, des Edelmutes, der Dankbarkeit, der Freundschaft sind, diese Regeln sind in vielen Beziehungen unbestimmt und ungenau, sie lassen viele Ausnahmen zu und erfordern so viele Modifikationen, daß es uns kaum möglich ist, unser Verhalten ganz und gar durch die Rücksicht auf sie zu bestimmen und einzurichten. Die gewöhnlichen sprichwörtlichen Maximen der Klugheit, die sich auf allgemeine Erfahrung gründen, sind vielleicht die besten allgemeinen Regeln, die man über diesen Gegenstand geben kann. Wenn man sich indessen in gekünstelter Weise ganz strenge und buchstäblich an sie halten wollte, so wäre dies offenbar die unsinnigste und lächerlichste Pedanterie. Von allen Tugenden, die ich eben erwähnt habe, ist vielleicht die Dankbarkeit diejenige, deren Regeln die bestimmtesten sind und die wenigsten Ausnahmen zulassen. Daß wir für Dienste, die uns erwiesen wurden, sobald als wir können, eine Gegenleistung abstatten sollen, die einen gleichen, ja wenn möglich, einen höheren Wert besitzt, das möchte wohl eine ziemlich klare Regel zu sein scheinen und dazu eine solche, die kaum irgendeine Ausnahme zuließe. Bei der oberflächlichsten Prüfung wird es sich jedoch herausstellen, daß diese Regel im höchsten Grade unbestimmt und ungenau ist und zehntausend Ausnahmen zuläßt. Wenn euer Wohltäter euch in eurer Krankheit pflegte, sollt ihr ihn dann in seiner Krankheit pflegen ? Oder könnt ihr die Pflicht der Dankbarkeit auch erfüllen, indem ihr ihm eine Gegenleistung anderer Art ab-
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stattet ? Wenn ihr ihn pflegen sollt, wie lange sollt ihr ihn pflegen ? Durch die gleiche Zeit, wie er euch pflegte, oder länger und um wieviel länger ? Wenn euer Freund euch in eurer Notlage Geld leiht, sollt ihr ihm in der seinigen Geld leihen ? Wieviel sollt ihr ihm leihen ? Wann sollt ihr ihm leihen ? Jetzt, oder morgen, oder nächsten Monat ? Und auf wie lange Zeit ? Es ist offenbar, daß man keine allgemeine Regel aufstellen kann, nach welcher man auf irgendeine dieser Fragen in allen Fällen eine genaue Antwort geben könnte. Der Unterschied zwischen seinem Charakter und dem eurigen, zwischen seinen Verhältnissen und den euren mag so groß sein, daß ihr durchaus dankbar sein und es dabei doch ablehnen könnt, ihm auch nur einen halben Penny zu leihen ; und umgekehrt : ihr möget willens sein, ihm das zehnfache der Summe, die er euch geliehen hat, zu leihen oder gar zu schenken, und man mag euch dennoch der schwärzesten Undankbarkeit anklagen und euch vorwerfen, daß ihr nicht den hundertsten Teil der Pflicht erfüllt habt, die auf euch lastet. Da indessen die Pflichten der Dankbarkeit vielleicht die heiligsten von all den Pflichten sind, die die wohltätigen Tugenden uns vorschreiben, so sind die allgemeinen Regeln, die diese Pflichten der Dankbarkeit festsetzen, wie ich bereits sagte, noch die allergenauesten. Diejenigen Regeln, welche die Handlungen bestimmen, die durch Freundschaft, Menschlichkeit, Gastfreundlichkeit, Edelmut, gefordert werden, sind noch weit vager und unbestimmter. Es gibt jedoch eine Tugend, auf deren Gebiet allgemeine Regeln mit der größten Genauigkeit jede äußere Handlung bestimmen, die sie erfordert. Diese Tugend ist die Gerechtigkeit. Die Regeln der Gerechtigkeit sind im höchsten Grade genau und lassen keine anderen Ausnahmen oder Modifikationen zu, als solche, die ganz ebenso genau bestimmt werden können wie die Regeln selbst, und die im allgemeinen tatsächlich aus ganz den gleichen Prinzipien erfließen wie diese. Wenn ich einem Menschen zehn Pfund schulde, dann verlangt die Gerechtigkeit, daß ich ihm ganz
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genau zehn Pfund zahle, sei es zu der Zeit, die wir vereinbart haben, sei es, wann er es fordert. Was ich leisten soll, wieviel ich leisten soll, wann und wo ich es leisten soll, die ganze Art und die näheren Umstände der vorgeschriebenen Handlung, alles das ist ganz genau festgesetzt und bestimmt. Wenn es also auch ungeschickt und pedantisch sein mag, sich in gekünstelter Weise allzu genau an die gewöhnlichen Regeln der Klugheit oder des Edelmuts zu halten, so liegt doch durchaus keine Pedanterie darin, wenn man sich fest an die Regeln der Gerechtigkeit hält. Im Gegenteil, ihnen gebührt die heiligste, unverbrüchliche Achtung ; und niemals werden die Handlungen, welche diese Tugend fordert, richtiger vollbracht, als wenn der Hauptbeweggrund zu ihrer Vollbringung eine ehrfurchtsvolle, heilige Achtung gegen jene allgemeinen Regeln war, die diese Handlungen verlangen. Wenn es sich um die Betätigung anderer Tugenden handelt, da soll unser Verhalten eher durch eine gewisse Vorstellung von dem, was schicklich ist, durch ein gewisses Gefühl für eine besondere Art des Verhaltens geleitet werden, als durch irgendwelche Rücksicht auf einen fest bestimmten Grundsatz oder eine Regel ; und wir sollen hier mehr den Zweck und den Grund der Regel als diese Regel selbst ins Auge fassen. Anders verhält es sich dagegen in bezug auf die Gerechtigkeit : hier ist gerade derjenige, der am wenigsten klügelt und sich vielmehr mit der hartnäckigsten Festigkeit an die allgemeinen Regeln selbst hält, der lobenswerteste und zuverlässigste. Möge auch der Zweck der Regeln der Gerechtigkeit der sein, uns von einer Schädigung unseres Nächsten abzuhalten, so kann es doch häufig sogar dann ein Verbrechen sein, diese Regeln zu verletzen, wenn wir selbst mit einem gewissen Anschein von Berechtigung vorgeben könnten, daß die Verletzung der Regel in diesem besonderen Fall keinen Schaden tun könne. Ein Mann wird oft in dem Augenblick ein Schurke, in dem er anfängt – sei es auch nur in seinem Herzen – sich auf derartige Spitzfindigkeiten einzulassen. In dem Augenblick, in dem er dar-
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an denkt, von dem festen und unbedingten Gehorsam gegenüber all dem abzuweichen, was jene unverletzlichen Gebote ihm vorschreiben, verdient er nicht mehr das allgemeine Vertrauen und kein Mensch kann sagen, bis zu welchem Maße von Schuld er noch gelangen werde. Der Dieb bildet sich ein, er tue nichts Böses, wenn er reichen Leuten Dinge stiehlt, die sie, wie er meint, leicht entbehren können, und von denen sie vielleicht niemals wissen werden, daß sie ihnen gestohlen worden sind. Der Ehebrecher bildet sich ein, er tue nichts Böses, wenn er die Frau seines Freundes verführt, vorausgesetzt, daß er seine Umtriebe vor jedem Verdacht des Gatten verberge und den Frieden der Familie nicht störe. Wenn wir einmal anfangen, uns solchen Klügeleien zu überlassen, dann ist keine Ungeheuerlichkeit so groß, daß wir ihrer nicht fähig sein sollten. Die Regeln der Gerechtigkeit können mit den Regeln der Grammatik verglichen werden, die Regeln der anderen Tugenden dagegen mit jenen Regeln, wie sie die Ästhetiker für die Erlangung des Erhabenen und des Eleganten in Stil und Darstellung aufstellen. Die einen sind fest bestimmt, genau und unnachläßlich. Die anderen sind lax, vage und unbestimmt und sie bieten uns eher eine allgemeine Vorstellung jener Vollkommenheit dar, der wir nachstreben sollen, als daß sie uns irgendeine sichere und untrügliche Anleitung geben würden, um sie zu erwerben. Ein Mensch kann nach Regeln grammatikalisch richtig schreiben lernen, und zwar mit absoluter Unfehlbarkeit und ebenso kann er vielleicht gelehrt werden, gerecht zu handeln. Aber es gibt keine Regeln, deren Beobachtung uns unfehlbar dahin führen könnte, Eleganz oder Erhabenheit des Stils zu erlangen ; obzwar es freilich einige gibt, die uns einigermaßen dazu verhelfen können, jene vagen Vorstellungen richtigzustellen und zu befestigen, die wir sonst über jene Vollkommenheiten hegen würden. Und es gibt keine Regeln, deren Erkenntnis uns unfehlbar lehren könnte, bei allen Gelegenheiten mit Klugheit, mit rechter Seelengröße oder mit
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der richtigen Wohltätigkeit zu handeln ; obzwar es freilich einige gibt, die uns befähigen mögen, in mancher Hinsicht die unvollkommenen Vorstellungen richtigzustellen und zu befestigen, die wir sonst von jenen Tugenden gehegt haben mögen. Es mag sich manchmal ereignen, daß wir, von dem ernstlichsten Wunsch erfüllt, so zu handeln, daß wir die allgemeine Billigung verdienen, dennoch die richtigen Regeln des Verhaltens verfehlen und so gerade durch jenen Grundsatz in die Irre geführt werden, der uns doch leiten sollte. Es ist umsonst, wenn man erwarten wollte, daß die Menschen in diesem Falle unser Betragen durchaus billigen würden. Sie können jene sinnlose Vorstellung, die wir uns von unserer Pflicht machten und die uns in unserem Handeln bestimmte, nicht nachfühlen, noch können sie an einer jener Handlungen inneren Anteil nehmen, die aus ihr erfolgten. Es liegt indessen immer noch etwas Achtenswertes in dem Charakter und Betragen eines Menschen, der durch ein falsches Gefühl der Verpflichtung oder durch das sogenannte »irrende Gewissen« wider Willen ins Laster gestürzt wurde. Wie verhängnisvoll er auch durch dieses irrende Gewissen in die Irre geführt worden sein mag – bei edelmütigen und human denkenden Menschen wird er eher Mitleid als Haß oder Vergeltungsgefühl erwecken. Sie werden vielmehr die Schwäche der menschlichen Natur beklagen, die uns sogar dann solch unglücklichen Täuschungen aussetzt, wenn wir uns gerade am aufrichtigsten bemühen, die Vollkommenheit zu erlangen, und wenn wir gerade nach einem Grundsatz zu handeln trachten, der der beste unter allen ist, die uns überhaupt leiten können. Falsche Religionsvorstellungen sind fast die einzigen Ursachen, die eine wirklich bedeutende Umkehrung aller unserer natürlichen Gefühle in dieser Art herbeiführen können ; und jenes Prinzip, welches den Regeln der Pflicht die höchste Autorität verleiht, ist allein imstande, unsere Vorstellung von diesen Regeln in größerem Maße zu verdrehen. In allen anderen Fällen ist der gesunde Menschenverstand hin-
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reichend, um uns, wenn auch vielleicht nicht zu der höchsten sittlichen Richtigkeit des Verhaltens, so doch wenigstens zu einem Betragen anzuleiten, das von dieser Richtigkeit nicht sehr weit entfernt ist ; und, vorausgesetzt, daß wir im Ernst das Verlangen tragen, gut zu tun, wird unser Betragen im großen ganzen immer lobenswürdig sein. Daß es das erste Gesetz der Pflicht ist, dem Willen der Gottheit zu gehorchen, darüber sind alle Menschen einig. Was aber die einzelnen Gebote anbelangt, die jener Wille uns auferlegen mag, darüber gehen die Ansichten der Menschen weit auseinander. In diesem Punkte ziemt sich darum die größte gegenseitige Nachsicht und Duldsamkeit ; und obzwar es die Verteidigung der Gesellschaft erfordert, daß Verbrechen bestraft werden, aus welchen Beweggründen immer sie hervorgehen mögen, so wird doch ein guter Mensch nur mit Widerwillen wegen eines Verbrechens strafen, das offenbar aus falschen Vorstellungen über religiöse Pflicht entsprungen ist. Er wird niemals gegen Personen, die ein solches Verbrechen begangen haben, jenen Unwillen empfinden, den er gegen andere Verbrecher fühlt, sondern wird eher ihre unglückliche Festigkeit und Seelenstärke bedauern und mitunter sogar bewundern, und zwar zur selben Zeit, als er ihr Verbrechen bestraft. Im »Mahomet«, einer der feinsten Tragödien Voltaires, wird sehr schön dargestellt, wie unsere Empfindungen gegenüber jenen Verbrechen sein sollen, die aus solchen Beweggründen hervorgehen. In jenem Trauerspiel werden zwei junge Leute verschiedenen Geschlechts, beide von äußerst unschuldiger und tugendhafter Denkart, die keine andere Schwäche besitzen, als – was sie uns um so teurer macht – eine starke gegenseitige Liebe für einander, eben durch die stärksten Beweggründe, durch die Vorstellungen einer falschen Religion, dazu getrieben, einen entsetzlichen Mord zu begehen, der allen Prinzipien der menschlichen Natur zuwiderläuft. Ein verehrungswürdiger Greis, der für sie beide stets die zärtlichste Zuneigung an den Tag gelegt hat, für den sie, obgleich er der erklärte Feind ih-
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rer Religion war, die höchste Verehrung und Achtung empfunden hatten, und der in Wahrheit – was sie allerdings nicht wußten – ihr Vater war, wird ihnen nun als das Opfer bezeichnet, das Gott ausdrücklich aus ihren Händen gefordert hatte, und es wird ihnen befohlen, ihn zu töten. Während sie nun im Begriffe stehen, dieses Verbrechen auszuführen, werden sie von all den Seelenqualen gemartert, die aus dem Kampf entspringen, der sich zwischen der Vorstellung der Unnachläßlichkeit religiöser Pflicht einerseits – Mitleid, Dankbarkeit, Verehrung für das Alter und Liebe gegenüber der Menschenfreundlichkeit und Tugend desjenigen, den sie eben verderben sollen, andererseits, abspielt. Die Darstellung dieses Kampfes bietet eines der interessantesten und vielleicht das lehrreichste Schauspiel, das jemals auf eine Bühne gebracht worden ist. Indessen gewinnt schließlich das Pflichtgefühl die Oberhand über all die liebenswürdigen Schwächen der menschlichen Natur. Die Helden führen das Verbrechen aus, das ihnen auferlegt worden ist ; aber im nächsten Augenblick schon entdecken sie ihren Irrtum und die Täuschung, der sie zum Opfer gefallen sind, und geraten außer sich vor Entsetzen, Gewissensbissen und Vergeltungsgefühl. Gleiche Gefühle, wie wir sie für den unglücklichen Seid und seine Palmira empfinden, sollten wir gegen jeden Menschen hegen, der in ähnlicher Weise durch die Religion in die Irre geführt wurde, sofern wir sicher sind, daß es wirklich die Religion war, die ihn auf den falschen Weg gebracht hat, und daß sie nicht nur den Vorwand abgab, der als Mantel über gewisse Leidenschaften gebreitet werden sollte, die zu den schlechtesten menschlichen Eigenschaften gehören. Wie ein Mensch unrecht tun kann, indem er einem unrichtigen Pflichtgefühl folgt, so mag mitunter in ähnlichen Fällen die Natur die Oberhand gewinnen und ihn dazu bringen, daß er im Widerspruch zu diesem Pflichtgefühl recht handelt. In diesem Falle kann es uns nicht mißfallen, jenen Beweggrund die Oberhand gewinnen zu sehen, der, wie wir meinen, obsiegen soll, obgleich
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der Handelnde selbst schwach genug ist, darüber anders zu denken. Da jedoch sein Verhalten ein Ausfluß der Schwäche ist und nicht einem festen Grundsatz entstammt, sind wir weit davon entfernt, ihm eine Zustimmung zu gewähren, die auch nur annähernd einer vollen Billigung gleichkäme. Ein bigotter römisch-katholischer Christ, der während des Blutbades der Bartholomäusnacht so sehr vom Mitleid überwältigt worden wäre, daß er einige unglückliche Protestanten rettete, obgleich er es für seine Pflicht hielt, sie zu töten, würde uns keinen Anspruch auf jenen vollen Beifall zu besitzen scheinen, den wir ihm gewährt hätten, wenn er den gleichen Edelmut mit völliger Selbstbilligung geübt hätte. Wir mögen uns über die Menschenfreundlichkeit seiner Gemütsart freuen, aber wir würden ihn dennoch mit einer Art Mitleid betrachten, die ganz unvereinbar ist mit der Bewunderung, die der vollendeten Tugend gebührt. Ebenso verhält es sich mit allen anderen Affekten. Wir sehen es nicht ungern, wenn sie sich auch dann, in sittlich richtiger Weise äußern, sobald eine falsche Vorstellung von Pflicht die betreffende Person dazu anleiten würde, diese Affekte in Schranken zu halten. Ein sehr frommer Quäker, der, nachdem er auf die eine Wange geschlagen wurde, nun anstatt die andere hinzuhalten, seine wörtliche Auslegung des Gebotes unseres Heilands soweit vergäße, daß er dem Rohling, der ihn angegriffen hat, eine gehörige Lektion erteilte, würde uns keineswegs mißfallen. Wir würden lachen und wären über seine feurige Gemütsart belustigt und würden ihn um ihretwillen eher desto besser leiden können. Aber wir würden ihn keineswegs mit jener ungeteilten Achtung ansehen, die unserer Ansicht nach einem Menschen gebühren würde, der bei gleicher Gelegenheit gleich richtig gehandelt hätte – jedoch aus dem rechten Gefühl für dasjenige, was zu tun richtig war. Keine Handlung kann schicklicherweise tugendhaft genannt werden, die nicht von dem Gefühl der Selbstbilligung begleitet ist.
VIERTER TEIL Über den Einfluß der Nützlichkeit auf das Gefühl der Billigung (Aus einem Abschnitt bestehend)
erstes kapitel Über die Schönheit, welche allen Erzeugnissen der Kunst durch den Anschein der Nützlichkeit verliehen wird, der sich in ihnen ausdrückt, und über den ausgedehnten Einfluß dieser Art von Schönheit. Daß die Nützlichkeit eine der Hauptquellen der Schönheit bildet, ist von jedermann bemerkt worden, der nur mit einiger Aufmerksamkeit überlegt hat, was denn das Wesen der Schönheit ausmacht. An einem Hause gewährt der Eindruck der Wohnlichkeit dem Beschauer ebensowohl Vergnügen wie seine regelmäßige Bauart, und wenn er in jener Beziehung einen Mangel bemerkt, stört ihn dies ebensosehr, als wenn er etwa sieht, daß die Fenster, die in ihrer Lage einander entsprechen, verschiedene Formen haben, oder daß das Tor nicht genau in der Mitte des Gebäudes angebracht ist. Wenn wir an einem System oder einer Maschine bemerken, daß sie geeignet sind, den Zweck zu verwirklichen, für den sie bestimmt waren, so verleiht dies in unseren Augen dem Ganzen eine gewisse Schicklichkeit und Schönheit und macht uns schon die bloße Vorstellung und die Betrachtung desselben angenehm ; – und das ist so augenfällig, daß es noch niemand übersehen hat. Die Ursache, warum Nützlichkeit gefällt, ist auch erst kürzlich von einem geistreichen und sympathischen Philosophen angegeben worden, der die größte Tiefe des Gedankens mit der größten Eleganz des Ausdruckes verbindet, und der die seltene und glück-
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liche Gabe besitzt, die dunkelsten Gegenstände nicht nur mit der vollendetsten Klarheit, sondern auch mit der lebhaftesten Beredsamkeit zu behandeln. Die Nützlichkeit eines Gegenstandes gefällt, seiner Ansicht nach, dem Besitzer desselben darum, weil sie ihn beständig an das Vergnügen und die Bequemlichkeit erinnert, die der Gegenstand zu fördern geeignet ist. Jedesmal, wenn er auf ihn blickt, kommt ihm dieses Vergnügen in den Sinn und der Gegenstand wird auf diese Weise zu einer Quelle beständiger Genugtuung und anhaltenden Genusses. Der Zuschauer nimmt infolge der Sympathie an den Empfindungen des Besitzers teil und sieht notwendig den Gegenstand in dem gleichen angenehmen Licht. Wenn wir die Paläste der Großen besuchen, können wir nicht umhin, an die Genugtuung zu denken, die wir genießen würden, wenn wir selbst die Herren davon wären, und wenn so kunstvolle und geistreich ersonnene Mittel zur Förderung der Bequemlichkeit sich in unserem Besitz befänden. Ein ähnlicher Grund wird dafür angegeben, warum der Anschein der Unbequemlichkeit einen Gegenstand sowohl für den Eigentümer als für den Beschauer unangenehm machen muß. Daß jedoch diese Eignung, diese glückliche Erfindung eines Erzeugnisses der Kunst oft höher geschätzt wird als der Zweck, für den es bestimmt war, und daß die genaue Anordnung der Mittel zur Herbeiführung irgendeiner Bequemlichkeit oder eines Vergnügens häufig mehr Beachtung findet als jene Bequemlichkeit oder jenes Vergnügen selbst, in deren Erreichung ihr ganzer Sinn zu liegen scheint, davon hat, soviel ich weiß, bisher noch niemand Kenntnis genommen. Daß dies indessen sehr häufig der Fall ist, das kann man an Tausenden von Beispielen beobachten, und zwar sowohl in den geringfügigsten als in den wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Wenn jemand in sein Zimmer tritt und alle Sessel in der Mitte der Stube stehen findet, wird er auf seinen Diener ärgerlich sein, und wird vielleicht lieber die Mühe auf sich nehmen, die Sessel an
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ihre Plätze und mit der Rückseite an die Wand zu stellen, als daß er sie weiter in dieser Unordnung sehen möchte. Daß diese neue Anordnung ihm richtiger scheint, kommt aber nur daher, daß sie eine höhere Bequemlichkeit bietet, indem sie den Fußboden in größerem Maße frei läßt. Um diese Bequemlichkeit zu erreichen, nimmt er bereitwillig eine Mühe auf sich, die alles Ungemach übersteigt, das ihm aus dem Mangel jener Bequemlichkeit hätte erwachsen können ; zumal doch nichts leichter war, als daß er sich auf einen der Stühle gesetzt hätte, was er ja doch wahrscheinlich tun wird, wenn seine Arbeit vorüber ist. Was er wollte, war also, wie es scheint, nicht so sehr diese Bequemlichkeit, als jene Anordnung der Dinge, die sie befördert. Und doch ist es diese Bequemlichkeit, was ihm jene Anordnung letzten Endes empfiehlt, und was ihr ihre ganze Schicklichkeit und Schönheit verleiht. In gleicher Weise wird eine Uhr, die um zwei Minuten im Tage zurückbleibt, von einem Menschen verschmäht werden, der viel auf Uhren hält. Er wird sie vielleicht um ein paar Guineen verkaufen und um fünfzig Guineen eine andere erstehen, die in vierzehn Tagen nicht einmal um eine Minute zurückbleibt. Indessen ist doch der einzige Nutzen einer Uhr der, uns zu sagen, wie spät es ist, und zu verhüten, daß wir irgendeine Verpflichtung, die wir auf uns genommen haben, versäumen oder durch unsere Unwissenheit in diesem Punkt irgendein anderes Ungemach erleiden. Man wird aber durchaus nicht immer finden, daß gerade derjenige, der in bezug auf dieses Instrument so genau ist, im allgemeinen gewissenhafter und pünktlicher wäre als andere Menschen, oder daß er aus irgendeinem anderen Grund ein größeres Interesse daran hätte, genau zu wissen, wieviel Uhr es ist. Woran ihm besonders liegt, das ist nicht so sehr die Erlangung einer Kenntnis dieser Art, als vielmehr die Vollkommenheit des Instruments, das dazu dient, sie zu erlangen. Wie viele Leute richten sich dadurch zugrunde, daß sie für Tand, der den unbedeutendsten Nutzwert besitzt, Geld ausgeben !
Vierter Teil · Erstes Kapitel
Was diesen Liebhabern von Spielereien an diesen gefällt, das ist nicht so sehr der Nutzen dieser Instrumentchen, als vielmehr deren Eignung und Geschicklichkeit, einen solchen Nutzen zu leisten. Alle ihre Taschen sind mit kleinen Gegenständen vollgestopft, die der Bequemlichkeit dienen sollen. Sie erfinden neue Taschen, die in den Kleidern anderer Leute nicht zu finden sind, um eine noch größere Anzahl davon bei sich tragen zu können. Sie gehen herum, beladen mit einer Menge von Tand, der an Gewicht und manchmal auch an Wert hinter einem richtigen Judenkram nicht zurückbleibt, wovon ja manches mitunter einen gewissen geringen Nutzen haben mag, der aber im ganzen jederzeit sehr leicht entbehrt werden kann, und dessen Nützlichkeit sicherlich nicht die Mühe verlohnt, daß man eine solche Last mit sich schleppe. Aber unser Verhalten wird nicht nur in bezug auf so geringfügige Dinge durch dieses Prinzip bestimmt. Dieses Prinzip bildet vielmehr auch oft die geheime Triebfeder der ernstesten und wichtigsten Bestrebungen sowohl des Privat- als des öffentlichen Lebens. Ein Mann, der armer Leute Kind ist, den jedoch der Himmel in seinem Zorn mit Ehrgeiz heimgesucht hat, wird, wenn er anfängt um sich zu blicken, die Verhältnisse des Reichen bewundern. Er wird die ärmliche Behausung seines Vaters für seine Bequemlichkeitsansprüche zu klein finden und sich vorstellen, um wieviel besser und angenehmer er in einem Palaste untergebracht wäre. Es ärgert ihn, daß er zu Fuß gehen oder die Anstrengung des Reitens ertragen muß ; er sieht, wie höher stehende Personen sich in Wagen herumfahren lassen, und stellt sich vor, wie auch er in einem solchen mit weit geringerer Unbequemlichkeit reisen könnte. Er fühlt, daß er von Natur träge ist, und daß es sein Wunsch wäre, sich so wenig als möglich mit seinen eigenen Händen zu bedienen, und sein Urteil geht dahin, daß ein zahlreiches Gefolge von Dienern ihn eines großen Teils seiner Mühe überheben
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würde. Hätte er einmal all das erreicht, so denkt er, dann würde er zufrieden stillsitzen, würde innerlich ruhig sein und sich an der Betrachtung der Glückseligkeit und Ruhe seiner Lebenslage erfreuen. Er ist ganz bezaubert von diesem Bilde einer in weiter Ferne liegenden, künftigen Glückseligkeit. In seiner Phantasie scheint es ihm wie das Leben irgendeiner höheren Art von Wesen und um dieses Ziel zu erreichen, weiht er sich für immer dem Streben nach Reichtum und Größe. Um die Bequemlichkeiten zu erlangen, die diese gewähren, unterwirft er sich allein im ersten Jahr, ja schon im ersten Monat seiner Bemühungen, größeren körperlichen Anstrengungen und größeren seelischen Beschwerden, als er sein ganzes Leben hindurch infolge des Mangels jener Bequemlichkeiten hätte erdulden können. Er trachtet, sich in einer mühevollen Beschäftigung hervorzutun. Mit äußerstem, unnachgiebigem Fleiß arbeitet er Tag und Nacht, um Talente zu erwerben, die diejenigen all seiner Mitbewerber übertreffen sollen. Dann trachtet er zunächst, jene Talente an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen, und mit gleicher Beharrlichkeit bewirbt er sich um jede Gelegenheit, diese Talente zu beschäftigen. Zu diesem Zweck macht er aller Welt den Hof ; er erweist denjenigen Dienste, die er haßt, und ist denjenigen gegenüber unterwürfig, die er verachtet. Sein ganzes Leben hindurch jagt er hinter dem Bilde einer gewissen künstlichen und vornehmen Ruhe her, die er vielleicht niemals erreichen wird, und der er eine wirkliche Seelenruhe opfert, die zu erwerben jederzeit in seiner Macht steht. Und sollte er im höchsten Greisenalter jene Ruhe endlich erlangen, dann wird er finden, daß sie in keiner Hinsicht der Sorglosigkeit und Zufriedenheit jener niedrigen Lebenslage vorzuziehen war, die er um ihretwillen preisgegeben hatte. Dann erst, wenn er bei dem Bodensatz des Lebens angelangt, wenn sein Körper von den Mühen der Arbeit und von Krankheiten zerstört, sein Gemüt durch die Erinnerung an tausend Beleidigungen und Enttäuschungen aufgerieben und verärgert ist, Beleidigungen, die er seiner Meinung
Vierter Teil · Erstes Kapitel
nach von der Ungerechtigkeit seiner Feinde oder von der Treulosigkeit und Undankbarkeit seiner Freunde erlitten hat, dann erst fängt er an, zu bemerken, daß Reichtum und Größe bloßer Tand sind, daß ihr Nutzen lächerlich gering ist, daß sie um nichts mehr geeignet sind, die Gesundheit des Körpers oder die Ruhe der Seele ihm zu verschaffen als jene Futterale für alle möglichen Dinge, wie sie ein Liebhaber solcher Spielereien ansammelt, und daß sie wie diese demjenigen, der sie mit sich herumschleppt, mehr Beschwerlichkeit bereiten, als sie ihm Vorteile und Bequemlichkeit bieten können. Es besteht zwischen ihnen kein anderer wirklicher Unterschied, als daß die Bequemlichkeiten, welche die einen gewähren, etwas leichter bemerkbar sind als die der anderen. Die Paläste, die Gärten, die Ausstattung, das Gefolge des Hochgestellten, das sind Dinge, deren augenscheinliche Bequemlichkeit jedermann auffällt. Es ist nicht notwendig, daß ihre Besitzer uns erst zeigen müßten, worin ihr Nutzen besteht. Ganz von selbst begreifen wir mit Leichtigkeit ihren Nutzen, freuen uns aus Sympathie mit ihren Besitzern und billigen darum die Befriedigung, welche sie diesen zu gewähren vermögen. Die kunstvolle Feinheit eines Zahnstochers oder eines Ohrlöffels dagegen, einer Vorrichtung zum Schneiden der Nägel oder irgendeiner anderen derartigen Spielerei ist nicht so augenfällig. Die Bequemlichkeit, die sie bieten, mag vielleicht gleich groß sein, aber sie ist nicht so auffallend und wir begreifen darum nicht so leicht die Befriedigung, die sie dem Manne gewähren, der sie besitzt. Darum richtet sich die Eitelkeit der Menschen mit gutem Grund weniger leicht auf diese Dinge als auf die Pracht des Reichtums und der Größe ; und darin besteht der einzige Vorteil dieser letzteren. Sie befriedigen weit wirksamer jenen Hang, sich vor anderen auszuzeichnen, der dem Menschen so natürlich ist. Ein Mensch, der allein auf einem wüsten Eiland leben müßte, könnte vielleicht im Zweifel sein, ob ein Palast oder eine Zusammenstellung jener kleinen, der Bequemlichkeit dienenden Instrumentchen, wie sie gewöhnlich
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in einem Futterale vereinigt sind, mehr zu seiner Glückseligkeit beitragen und ihm den größeren Genuß bereiten würde. Wenn er dagegen in der Gesellschaft leben soll, dann kann freilich von einem Vergleich zwischen diesen Gütern keine Rede sein, weil wir eben auch in diesem Falle, wie in allen anderen (soferne wir in der Gesellschaft leben) mehr auf die Empfindungen des Zuschauers achten, als auf jene der zunächst betroffenen Person und eher in Betracht ziehen, wie deren Situation anderen erscheinen wird, als wie sie sich ihr selbst darstellt. Wenn wir indessen näher untersuchen, warum der Zuschauer die Verhältnisse der Reichen und Großen mit so viel Bewunderung auszeichnet, dann werden wir finden, daß dies nicht wegen der größeren Behaglichkeit oder des größeren Vergnügens geschieht, deren sie sich, wie man annimmt, erfreuen, als vielmehr wegen der zahllosen kunstvollen und eleganten Vorrichtungen, die dazu dienen, diese Behaglichkeit und dieses Vergnügen zu fördern. Der Zuschauer bildet sich nicht einmal ein, daß sie wirklich glücklicher sind als andere Leute : aber er meint, daß sie mehr Mittel zur Glückseligkeit besitzen. Und gerade die geistreiche und kunstvolle Anordnung jener Mittel zu dem Zweck, für den sie bestimmt sind, bildet die Hauptquelle seiner Bewunderung. Aber in jener Ermattung und Müdigkeit, wie sie Krankheit und Alter mit sich bringen, da verschwindet das Vergnügen, das die eitlen und leeren Vorzüge des Reichtums und hohen Ranges bereiten. Wenn sich ein Mensch einmal in dieser Lage befindet, dann sind diese Vorzüge nicht mehr imstande, ihm jene mühevollen Anstrengungen erträglich erscheinen zu lassen, in die sie ihn früher verstrickt hatten. Er flucht nun in seinem Herzen dem Ehrgeiz und bedauert vergebens, daß er die Ruhe und die Sorglosigkeit seiner Jugend – Freuden, die nun für immer entflohen sind – törichterweise für etwas aufgeopfert hat, das ihm, nachdem er es endlich erlangt hat, keine wirkliche Befriedigung gewähren kann. In diesem erbärmlichen Licht erscheinen Reichtum und hoher Rang jedem, sobald er durch Verdrossenheit
Vierter Teil · Erstes Kapitel
oder Krankheit dahin gebracht wurde, seine eigene Lage mit Aufmerksamkeit zu beobachten und zu überlegen, was es ist, das ihm tatsächlich zur Glückseligkeit fehlt. Macht und Reichtum erscheinen ihm dann als das, was sie wirklich sind, als ungeheure und mühsam konstruierte Maschinen, ersonnen, um ein paar wertlose Bequemlichkeiten für körperliches Wohlbefinden zustandezubringen, Maschinen, die aus den feinsten und zartesten Federn zusammengesetzt sind, Maschinen, die mit der sorgfältigsten Aufmerksamkeit in Ordnung gehalten werden müssen, und die trotz aller unserer Sorgfalt jeden Augenblick imstande sind, in zahllose Stücke zu zerbersten und unter ihren Trümmern ihren unglücklichen Besitzer zu zerschmettern. Sie sind ungeheure Gebäude, die aufzubauen die Arbeit eines Lebens kostet, die aber jeden Augenblick denjenigen, der sich in ihnen aufhält, zu begraben drohen, und die, solange sie stehen, ihn zwar vor manchen geringeren Unbequemlichkeiten behüten mögen, die ihn aber keineswegs gegen die strengeren Härten der Jahreszeit zu schützen vermögen. Sie halten zwar die Regenschauer des Sommers ab, aber nicht die Winterstürme, sie lassen ihren Besitzer vielmehr immer noch so sehr wie früher, ja mitunter noch mehr als zuvor der Angst, der Furcht und der Sorge ausgesetzt, den Krankheiten, den Gefahren und dem Tode. Obzwar diese pessimistische Philosophie, mit der jeder Mensch in Zeiten der Krankheit oder Niedergeschlagenheit vertraut ist, jene Hauptziele alles Verlangens der Menschen so ganz ihres Wertes beraubt, so werden wir doch, wenn wir uns bei besserer Gesundheit und in besserer Laune befinden, niemals verfehlen, sie wieder in einem günstigeren Lichte zu betrachten. Unsere Einbildungskraft, die in Leid und Sorge auf unsere eigene Person eingeschränkt und in ihr gleichsam eingesperrt zu sein scheint, breitet sich in Zeiten der Ruhe und des Wohlergehens wieder auf alles aus, was uns umgibt. Wir sind dann entzückt von der Schönheit und Bequemlichkeit der Einrichtung, die in den Palästen und
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in der Haushaltung der Reichen herrscht, und bewundern es, wie alles darauf abgestimmt ist, um ihre Behaglichkeit zu fördern, ihren Bedürfnissen zuvorzukommen, ihre Wünsche zu befriedigen und ihre nichtigsten und unbedeutendsten Gelüste zu unterhalten und zu ergötzen. Wenn wir die wirkliche Befriedigung, die alle diese Dinge zu gewähren imstande sind, an und für sich und abgesondert von der Schönheit der Anordnungen in Betracht ziehen, die zu dem Zwecke getroffen wurden, diese Befriedigung zu fördern, so wird sie uns immer im höchsten Grade verächtlich und geringfügig erscheinen. Aber wir betrachten sie selten in diesem abstrakten und philosophischen Lichte. Wir vermengen sie vielmehr in unseren Gedanken ganz unwillkürlich mit der Ordnung, der regelmäßigen und harmonischen Bewegung des Systems, der Maschine oder der wirtschaftlichen Einrichtung, mittels deren sie hervorgebracht wird. Die Freuden, welche Wohlstand und hoher Rang bieten, drängen sich aber, wenn sie in diesem Zusammenhang betrachtet werden, der Einbildungskraft als etwas Großes und Schönes und Edles auf, dessen Erlangung wohl alle die Mühen und Ängsten wert ist, die wir so gerne auf sie zu verwenden pflegen. Und es ist gut, daß die Natur uns in dieser Weise betrügt. Denn diese Täuschung ist es, was den Fleiß der Menschen erweckt und in beständiger Bewegung erhält. Sie ist es, was sie zuerst antreibt, den Boden zu bearbeiten, Häuser zu bauen, Städte und staatliche Gemeinwesen zu gründen, alle die Wissenschaften und Künste zu erfinden und auszubilden, die das menschliche Leben veredeln und verschönern, die das Antlitz des Erdballs durchaus verändert haben, die die rauhen Urwälder in angenehme und fruchtbare Ebenen verwandelt und das pfadlose, öde Weltmeer zu einer neuen Quelle von Einkommen und zu der großen Heerstraße des Verkehres gemacht haben, welche die verschiedenen Nationen der Erde untereinander verbindet. Durch diese Mühen und Arbeiten der Menschen ist die Erde gezwungen worden, ihre na-
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türliche Fruchtbarkeit zu verdoppeln und eine größere Menge von Einwohnern zu erhalten. Es ist vergebens, daß der stolze und gefühllose Grundherr seinen Blick über seine ausgedehnten Felder schweifen läßt und ohne einen Gedanken an die Bedürfnisse seiner Brüder in seiner Phantasie die ganze Ernte, die auf diesen Feldern wächst, selbst verzehrt. Das ungezierte und vulgäre Sprichwort, daß das Auge mehr fasse als der Bauch, hat sich nie vollständiger bewahrheitet als in bezug auf ihn. Das Fassungsvermögen seines Magens steht in keinem Verhältnis zu der maßlosen Größe seiner Begierden, ja, sein Magen wird nicht mehr aufnehmen können als der des geringsten Bauern. Den Rest muß er unter diejenigen verteilen, die auf das sorgsamste das Wenige zubereiten, das er braucht, unter diejenigen, die den Palast einrichten und instandhalten, in welchem dieses Wenige verzehrt werden soll, unter diejenigen, die all den verschiedenen Kram und Tand besorgen und in Ordnung halten, der in der Haushaltung der Vornehmen gebraucht wird ; sie alle beziehen so von seinem Luxus und seiner Launenhaftigkeit ihren Teil an lebensnotwendigen Gütern, den sie sonst vergebens von seiner Menschlichkeit oder von seiner Gerechtigkeit erwartet hätten. Der Ertrag des Bodens erhält zu allen Zeiten ungefähr jene Anzahl von Bewohnern, die er zu erhalten fähig ist. Nur daß die Reichen aus dem ganzen Haufen dasjenige auswählen, was das Kostbartse und ihnen Angenehmste ist. Sie verzehren wenig mehr als die Armen ; trotz ihrer natürlichen Selbstsucht und Raubgier und obwohl sie nur ihre eigene Bequemlichkeit im Auge haben, obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die Arbeit all der Tausende, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befriedigung ihrer eigenen eitlen und unersättlichen Begierden ist, trotzdem teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie in ihrer Landwirtschaft einführen. Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn
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die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre ; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung. Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei ihrer Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen. Auch diese letzteren genießen ihren Teil von allem, was die Erde hervorbringt. In all dem, was das wirkliche Glück des menschlichen Lebens ausmacht, bleiben sie in keiner Beziehung hinter jenen zurück, die scheinbar so weit über ihnen stehen. In dem Wohlbefinden des Körpers und in dem Frieden der Seele stehen alle Lebensstände einander nahezu gleich und der Bettler, der sich neben der Landstraße sonnt, besitzt jene Sicherheit und Sorglosigkeit, für welche Könige kämpfen. Das gleiche Prinzip, die gleiche Liebe zum geordneten Ganzen, die gleiche Rücksicht auf die Schönheit der Ordnung, der Kunst und wohl ersonnener Pläne, trägt häufig auch sehr viel dazu bei, uns jene Einrichtungen zu empfehlen, die bestimmt sind, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern. Wenn ein Patriot sich um die Verbesserung irgendeines Teiles der öffentlichen Verwaltung bemüht, so entspringt sein Verhalten nicht immer bloß aus der Sympathie für die Glückseligkeit derjenigen, die die wohltätigen Früchte dieser Verbesserung ernten müssen. Es geschieht gewöhnlich nicht aus Mitgefühl mit den Kärrnern und Fuhrleuten, wenn ein vom Gemeingeist erfüllter Mann auf Verbesserung der Landstraßen drängt. Wenn die Gesetzgebung Prämien aussetzt oder andere aufmunternde Maßnahmen trifft, um die Leinenoder Wollmanufaktur zu heben, so entspringt ein solches Vorgehen selten bloß aus Sympathie für diejenigen, welche billige oder teuere Stoffe tragen, noch viel weniger aus Sympathie für die Fabrikanten oder Kaufleute. Die Vervollkommnung der Verwaltung, die Ausbreitung des Handels und der Manufaktur sind
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große und hochwichtige Angelegenheiten. Die Betrachtung derselben macht uns deshalb Vergnügen und es ist uns an allem, was dazu dienen kann, sie zu heben, viel gelegen. Sie bilden einen Teil des großen Systems der Regierung und die Räder der Staatsmaschine scheinen mit ihrer Hilfe sich in größerer Harmonie und mit größerer Leichtigkeit zu bewegen. Es macht uns Vergnügen, die Vervollkommnung eines so schönen und großartigen Systems zu betrachten und wir sind nicht ruhig, bis wir jedes Hindernis, das auch nur im mindesten die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen stören oder hemmen kann, beseitigt haben. Indessen werden alle Einrichtungen der Regierung und Verwaltung doch nur in dem Verhältnis geschätzt, als sie eben die Tendenz haben, die Glückseligkeit derer, die unter ihnen leben, zu fördern. Das ist ihr einziger Nutzen und ihr einziger Zweck. Es scheint jedoch, daß wir mitunter aus einem gewissen Systemgeist und einer gewissen Liebe zur Kunst und zu Erfindungen überhaupt die Mittel höher schätzen als den Zweck, und daß wir eher aus der Absicht heraus, ein bestimmtes schönes und geordnetes System zu vervollkommnen und zu verbessern, darauf bedacht sind, die Glückseligkeit unserer Mitmenschen zu fördern, als aus irgendeinem unmittelbaren Bewußtsein oder Gefühl davon, welches ihre Leiden oder ihre Freuden sind. Es hat Menschen gegeben, die vom höchsten Gemeingeist beseelt waren, und die sich doch in anderer Beziehung den Gefühlen der Menschlichkeit nicht sehr zugänglich gezeigt haben. Und umgekehrt hat es Menschen gegeben, die von der edelsten Menschenfreundlichkeit erfüllt waren, und die doch, wie es scheint, gänzlich jedes Gemeingeistes bar waren. Jedermann wird im Kreise seiner Bekannten Beispiele der einen und der anderen Art zu finden vermögen. Wer hat jemals weniger Menschlichkeit oder mehr Gemeingeist besessen als der berühmte Gesetzgeber Rußlands ? Der gesellige und gutherzige Jakob der Erste von Großbritannien scheint umgekehrt kaum irgendwelches Gefühl für den Ruhm oder die Interessen
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seines Staates gehabt zu haben. Wenn ihr den Fleiß eines Menschen erwecken wollt, der für das Gefühl des Ehrgeizes beinahe tot zu sein scheint, so wird es meistens zwecklos sein, ihm die Glückseligkeit der Reichen und Großen zu schildern oder ihm zu erzählen, daß sie im allgemeinen gegen Sonne und Regen geschützt, und daß sie selten hungrig sind, daß ihnen selten kalt ist, und daß sie selten der Ermüdung oder irgendwelcher Entbehrung ausgesetzt sind. Eine noch so beredte Ermahnung dieser Art wird auf ihn wenig Eindruck machen. Wenn ihr mit eueren Reden irgendwelchen Erfolg erreichen wollt, dann müßt ihr ihm die Bequemlichkeit und die Anordnung der verschiedenen Appartements in ihren Palästen beschreiben ; ihr müßt ihm die Zweckmäßigkeit ihrer Einrichtungen auseinandersetzen und ihm die Zahl, die Rangordnung und die verschiedenen Funktionen all ihrer Bedienten darlegen. Wenn irgend etwas fähig ist, auf ihn Eindruck zu machen, so wird es dies sein. Und doch sind alle diese Dinge nur bestimmt, Sonne und Regen abzuhalten, und ihre Besitzer gegen Hunger und Kälte, gegen Mangel und Ermüdung zu schützen. Wenn ihr nun anderseits der Brust eines Menschen die Tugend patriotischer Gesinnung einpflanzen wollet, der sich um das Interesse seines Landes gar nicht bekümmert, so wird es meist ganz ebenso zwecklos sein, ihm zu erzählen, welcher höheren und günstigeren Lebensbedingungen sich die Untertanen eines wohl regierten Staates erfreuen ; daß sie etwa besser wohnen, daß sie besser gekleidet und daß sie besser genährt sind. Derartige Betrachtungen werden gewöhnlich keinen großen Eindruck auf ihn machen. Ihr werdet aber viel eher imstande sein, ihn zu überzeugen, wenn ihr ihm das große System der öffentlichen Verwaltung beschreibt, welches diese günstigen Lebensbedingungen zuwege bringt, wenn ihr ihm die Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten seiner einzelnen Teile, ihre wechselseitige Unterordnung untereinander und ihre allgemeine Eignung, die Glückseligkeit der Menschen zu beför-
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dern, auseinandersetzt, wenn ihr ihm zeigt, wie dieses System in seinem Lande eingeführt werden könnte, woran es liegt, daß es nicht schon im gegenwärtigen Zeitpunkt dort eingerichtet ist, wie jene Hindernisse aus dem Weg geräumt werden könnten, und wie alle die einzelnen Räder der Regierungsmaschine dahin gebracht werden könnten, daß sie mit größerer Harmonie und Reibungslosigkeit laufen, ohne einander dabei zu stoßen oder sich gegenseitig in ihrer Bewegung zu hemmen. Es ist kaum möglich, daß ein Mensch einen solchen Vortrag anhören sollte, ohne dadurch einen gewissen Gemeingeist in sich erweckt zu fühlen. Er wird – wenigstens in diesem Augenblick – ein gewisses Verlangen in sich fühlen, jene Hindernisse zu beseitigen und eine so schöne und wohlgeordnete Maschine in Gang zu bringen. Nichts wirkt so sehr dahin, den Gemeingeist zu fördern, als das Studium der Politik, das Studium der verschiedenen Systeme der bürgerlichen Regierung, ihrer Vorteile und Nachteile, der Verfassung unseres eigenen Landes, seiner Stellung und seiner Interessen im Verhältnis zu fremden Nationen, seines Handels, seiner Verteidigung gegen außen, der Übelstände, unter denen es leidet, der Gefahren, denen es ausgesetzt sein kann, und Betrachtungen darüber, wie man die einen beseitigen und sich gegen die anderen schützen könnte. Aus diesem Grunde sind politische Untersuchungen, wenn ihre Vorschläge richtig, vernünftig und ausführbar sind, die nützlichsten von allen Betätigungen spekulativen Nachdenkens. Aber auch die schwächsten und schlechtesten derartigen Untersuchungen sind nicht ganz ohne Nutzen. Sie dienen wenigstens dazu, die politischen Leidenschaften der Menschen zu beleben und sie dazu anzuregen, die Mittel ausfindig zu machen, um die Glückseligkeit der Gesellschaft zu fördern.
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zweites kapitel Von der Schönheit, welche der Anschein der Nützlichkeit den Charakteren und Handlungen der Menschen verleiht, und inwiefern die Wahrnehmung dieser Schönheit als eines der ursprünglichen Prinzipien der Billigung betrachtet werden kann. Die Charaktere der Menschen können ebenso wie die Erfindungen der Kunst oder die Einrichtungen der bürgerlichen Verfassung entweder geeignet sein, die Glückseligkeit der Individuen und der Gesellschaft zu fördern oder aber sie zu hemmen. Ein kluger, gerechter, tatkräftiger, entschlossener und besonnener Charakter verspricht sowohl seinem Besitzer selbst, als jedem, der mit ihm in Verbindung steht, Wohlergehen und Befriedigung. Ein unbesonnener, unverschämter, träger, weibischer und genußsüchtiger Charakter bedeutet für das Individuum Verderben und für alle, die mit ihm zu tun haben, Unglück. Eine Gemütsbeschaffenheit der ersten Art besitzt mindestens ebensoviel Schönheit, wie sie der allervollkommensten Maschine zukommen mag, die je zur Förderung des angenehmsten Zweckes erfunden wurde. Und die zweite besitzt all die Häßlichkeit, wie sie der ungeschicktesten und plumpsten Ausgeburt der Phantasie eines Erfinders eigen ist. Welche Einrichtung der Verfassung könnte so viel dazu beitragen, die Glückseligkeit der Menschen zu fördern, als die allgemeine Herrschaft von Weisheit und Tugend ? Jede Regierung und Verfassung ist nur ein unvollkommenes Heilmittel gegen den Mangel der letzteren. Alle Schönheit, die der bürgerlichen Verfassung auf Grund ihrer Nützlichkeit zukommen kann, muß darum in weit höherem Grade diesen letzteren zukommen. Und umgekehrt, welche bürgerliche Verwaltung kann so verderblich und unheilbringend sein wie die Laster des Menschen ? Die unheilvollen Wirkungen einer schlechten Regierung kommen ja nur davon, daß sie nicht hinreichenden Schutz ge-
Vierter Teil · Zweites Kapitel
gen die Übelstände bietet, welche die Bosheit der Menschen verursacht. Diese Schönheit und Häßlichkeit, welche den verschiedenen Charakteren infolge ihrer Nützlichkeit oder Schädlichkeit zuzukommen scheint, pflegt ganz besonders denjenigen aufzufallen, die die Handlungen und das Verhalten der Menschen in einem abstrakten und philosophischen Lichte betrachten. Wenn ein Philosoph daran geht, eine Untersuchung darüber anzustellen, warum Menschlichkeit gebilligt oder warum Grausamkeit verurteilt wird, dann wird er sich nicht immer in besonders klarer und deutlicher Weise die Vorstellung irgendeiner einzelnen Handlung der Grausamkeit oder der Menschlichkeit zu bilden suchen, sondern er wird gewöhnlich mit der vagen und unbestimmten Idee zufrieden sein, welche die allgemeinen Namen jener Eigenschaften in ihm erwecken. Aber gerade nur in besonderen Beispielen wird die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit, die Verdienstlichkeit oder die Verwerflichkeit der Handlungen ganz offenkundig und deutlich erkennbar. Nur wenn besondere einzelne Beispiele gegeben werden, nehmen wir ganz deutlich die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen unseren eigenen Gefühlen und jenen des Handelnden wahr, nur dann fühlen wir in dem einen Falle, daß sich in uns die soziale Empfindung der Dankbarkeit, im anderen Falle ein auf Sympathie beruhendes Vergeltungsgefühl gegen ihn regt. Wenn wir Tugend und Laster in abstrakter und allgemeiner Weise betrachten, dann schwinden scheinbar die Eigenschaften, durch welche sie diese verschiedenen Empfindungen hervorrufen, zum größten Teile, und die Empfindungen selbst werden weniger auffallend und weniger deutlich erkennbar. Umgekehrt scheinen dann die glücklichen Wirkungen der Tugend und die unheilvollen Folgen des Lasters sich der Betrachtung besonders stark aufzudrängen und sich gleichsam von allen anderen Eigenschaften dieser beiden Verhaltungsarten besonders deutlich abzuheben und unter ihnen am meisten hervorzuragen.
Einfluß der Nützlichkeit auf das Gefühl der Billigung
Derselbe geistvolle und anregende Schriftsteller, der zuerst darlegte »warum Nützlichkeit gefällt«, wurde von dieser Art, die Dinge zu betrachten, so gefangengenommen, daß er unsere ganze Billigung der Tugend in eine Wahrnehmung dieser Art von Schönheit – die aus dem Anschein der Nützlichkeit entspringt – auflöste. Keine Eigenschaften des Gemütes, bemerkt er, werden als tugendhaft gebilligt, als solche, die entweder ihrem Besitzer selbst oder anderen Personen nützlich oder angenehm sind ; und keine Eigenschaften werden als lasterhaft mißbilligt, als solche, die eine entgegengesetze Tendenz besitzen. Und tatsächlich scheint die Natur unsere Gefühle der Billigung und Mißbilligung so glücklich den Interessen des einzelnen und der Gesellschaft angepaßt zu haben, daß man auch nach der strengsten Prüfung, wie ich glaube, finden dürfte, daß dies im allgemeinen wirklich der Fall ist. Aber ich behaupte dennoch, daß der Anblick dieser Nützlichkeit oder Schädlichkeit nicht die erste, noch auch die wichtigste Quelle unserer Billigung und Mißbilligung bildet. Diese Gefühle werden zweifellos durch die Wahrnehmung der Schönheit oder Häßlichkeit, die aus dieser Nützlichkeit oder Schädlichkeit herstammen, gesteigert und verstärkt. Trotzdem aber sage ich, sie sind ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach von dieser Wahrnehmung verschieden. Denn es scheint vor allem unmöglich, daß die Billigung der Tugend eine Empfindung der gleichen Art sein sollte wie jene, mit welcher wir ein wohnliches und gut angelegtes Gebäude billigen ; oder daß wir keinen anderen Grund haben sollten, einen Menschen zu loben, als jenen, um dessentwillen wir einen Schubladenschrank anpreisen. Und zweitens wird man bei näherer Prüfung finden, daß die Nützlichkeit einer Gesinnung selten den ersten Grund unserer Billigung derselben bildet, und daß die Empfindung der Billigung immer ein Gefühl von der sittlichen Richtigkeit dieser Gesinnung in sich enthält, das von der Wahrnehmung ihrer Nützlichkeit
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ganz verschieden ist. Wir können dies in bezug auf alle Eigenschaften bemerken, die als tugendhaft gebilligt werden, und zwar sowohl in bezug auf solche, die diesem (moralphilosophischen) System gemäß ursprünglich als uns selbst nützlich, wie auch in bezug auf solche, die auf Grund ihrer Nützlichkeit für andere geschätzt werden. Die Eigenschaften, welche für uns selbst die nützlichsten sind, sind vor allem überlegener Verstand und hervorragende Vernunft, die uns befähigen, auch die entfernteren Folgen aller unserer Handlungen zu erkennen und die Vorteile oder Schäden vorauszusehen, die vermutlich aus ihnen entstehen werden ; und zweitens Selbstbeherrschung, die uns befähigt, uns gegenwärtiger Lust zu enthalten oder gegenwärtigen Schmerz zu ertragen, um in einem künftigen Zeitpunkte eine größere Lust zu erlangen oder einem größeren Schmerz zu entgehen. In der Verbindung dieser zwei Eigenschaften besteht die Tugend der Klugheit und das ist von allen Tugenden diejenige, die für den einzelnen am nützlichsten ist. Was nun die erste dieser beiden Eigenschaften anlangt, so ist schon bei einem früheren Anlaß bemerkt worden, daß höherer Verstand und Vernunft ursprünglich als richtig und treffend gebilligt werden und nicht bloß als nützlich und vorteilhaft. Gerade in den unanschaulichen und schwerer verständlichen Wissenschaften, besonders auf dem Gebiete der höheren Mathematik, hat sich der menschliche Verstand zu seinen höchsten und meist bewunderten Leistungen entfaltet. Inwiefern aber jene Wissenschaften dem einzelnen oder der Allgemeinheit nützlich sind, das ist nicht ohne weiteres einleuchtend und diese Behauptung zu beweisen, erfordert eine Untersuchung, die nicht immer sehr leicht zu begreifen sein wird. Es war also nicht ihre Nützlichkeit, was diese Wissenschaften zunächst der allgemeinen Bewunderung empfahl. Auf diese Eigenschaft legte man auch früher nur wenig Gewicht, und hob sie erst hervor, als es notwendig wurde,
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denjenigen eine Erwiderung entgegenzuhalten, die, da sie selbst keinen Geschmack für solche erhabene Entdeckungen hatten, sich bemühten, sie wegen ihrer angeblichen Nutzlosigkeit herabzusetzen. In gleicher Weise wird jene Selbstbeherrschung, durch welche wir unsere gegenwärtigen Gelüste im Zaume halten, um sie in Zukunft bei einer anderen Gelegenheit ausgiebiger befriedigen zu können, ebensosehr unter dem Gesichtspunkt ihrer sittlichen Richtigkeit gebilligt als unter dem ihrer Nützlichkeit. Wenn wir in dieser Weise handeln, scheinen die Empfindungen, die unser Verhalten bestimmen, genau mit denjenigen des Zuschauers übereinzustimmen. Der Zuschauer fühlt ja nicht die Kraft, mit der uns jene augenblicklichen Gelüste antreiben. Für ihn ist die Lust, die wir in einer Woche oder in einem Jahre genießen werden, genau ebenso wichtig wie jene, die wir in diesem Augenblick genießen sollen. Wenn wir nun um der gegenwärtigen Lust willen die zukünftige opfern, dann erscheint ihm deshalb unser Betragen im höchsten Grade töricht und unbesonnen und er kann den Prinzipien nicht beipflichten, die uns dabei bestimmten. Umgekehrt, wenn wir uns gegenwärtiger Lust enthalten, um uns eine größere künftige Lust zu sichern, wenn wir so handeln, als ob der weit entfernte Gegenstand uns ebenso wichtig wäre wie jener, der sich unmittelbar unseren Sinnen aufdrängt, dann wird er – da unsere Neigungen dann genau mit seinen eigenen übereinstimmen – nicht umhin können, unser Benehmen zu billigen ; und da er aus Erfahrung weiß, wie wenige Menschen dieser Selbstbeherrschung fähig sind, wird er unser Verhalten mit Erstaunen und großer Bewunderung betrachten. Daher kommt jene besondere Hochachtung, mit der natürlicherweise alle Menschen eine standhafte Beharrlichkeit in der Betätigung von Genügsamkeit, Fleiß und Arbeitseifer betrachten, mag diese Beharrlichkeit auch auf kein anderes Ziel gerichtet sein als auf den Erwerb von Vermögen. Die entschlossene Standhaftigkeit eines Menschen, der stets
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in dieser Weise handelt, und der, um einen großen, obzwar entfernten Vorteil zu erlangen, nicht nur auf alle augenblicklichen Vergnügen Verzicht leistet, sondern deshalb auch die größten geistigen und körperlichen Anstrengungen erträgt, wird gewiß unsere höchste Billigung erwecken. Jene Ansicht von seinem Interesse und seinem Glück, die das Verhalten dieses Menschen zu lenken scheint, kommt ganz genau mit der Vorstellung überein, die wir uns naturgemäß davon bilden. Es findet hier die vollkommenste Übereinstimmung zwischen seinen Empfindungen und den unsrigen statt und dies ist zugleich eine Übereinstimmung, die wir auf Grund unserer Erfahrung von der gewöhnlichen Schwachheit der menschlichen Natur vernünftigerweise nicht erwartet haben konnten. Wir werden darum sein Verhalten nicht nur billigen, sondern bis zu einem gewissen Grade sogar bewundern und es eines ganz beträchtlichen Beifalls für würdig halten. Das Bewußtsein, diese Billigung und Achtung verdient zu haben, ist aber auch das einzige, was imstande ist, den Handelnden zu einem derartigen Verhalten zu ermuntern. An dem Vergnügen, dessen wir uns in zehn Jahren erfreuen sollen, ist uns so wenig gelegen im Vergleiche mit jenem, welches wir heute genießen können, der Affekt, den das erste erregt, ist naturgemäß so schwach im Vergleich mit jener heftigen Gemütsbewegung, die das letztere zu verursachen pflegt, daß jenes niemals imstande wäre, diesem irgendwie das Gleichgewicht zu halten, wenn es nicht durch das Gefühl der sittlichen Richtigkeit unterstützt würde und durch das Bewußtsein, daß wir die Achtung und Billigung aller Menschen verdienen, weil wir auf diese Weise gehandelt haben, und daß sich mit Recht ihre Verachtung und ihr Spott gegen uns kehren würden, wenn wir uns anders verhalten hätten. Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Edelmut und Gemeinsinn sind diejenigen Eigenschaften, die für die anderen am nützlichsten sind. Worin die sittliche Richtigkeit der Menschlichkeit und Gerechtigkeit liegt, ist bei einem früheren Anlaß dargelegt worden,
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wo gezeigt wurde, wie sehr die Achtung und Billigung, die wir jenen Eigenschaften entgegenbringen, von der Übereinstimmung zwischen den Neigungen des Handelnden und denen des Zuschauers abhängt. Die Schicklichkeit oder sittliche Richtigkeit des Edelmutes und des Gemeinsinnes gründet sich auf das gleiche Prinzip wie jene der Gerechtigkeit. Edelmut ist verschieden von Menschlichkeit. Diese zwei Eigenschaften, die auf den ersten Blick so nahe miteinander verwandt zu sein scheinen, sind keineswegs immer in einem Menschen vereinigt. Menschlichkeit ist die Tugend der Frau, Edelmut die des Mannes. Das schöne Geschlecht, das gemeinhin weit mehr Zärtlichkeit besitzt als das unsere, hat selten ebensoviel Edelmut wie dieses. Daß Frauen selten beträchtliche Schenkungen machen, ist eine Beobachtung des bürgerlichen Rechtes *. Menschlichkeit besteht nur in dem äußerst feinen Mitgefühl, welches der Zuschauer gegenüber den Empfindungen der zunächst Betroffenen hegt, so daß er wegen ihrer Leiden bekümmert ist, wegen der ihnen angetanenen Beleidigungen Vergeltungsgefühl empfindet und wegen ihres Glücks von Freude erfüllt ist. Handlungen, die von höchster Menschlichkeit getragen sind, erfordern doch keine Selbstverleugnung, keine Selbstbeherrschung, keine große Anstrengung des Gefühls für sittliche Richtigkeit. Ihr Wesen liegt nur darin, daß wir das tun, was dieses äußerst feine Sympathiegefühl uns von selbst zu tun antreiben würde. Anders aber verhält es sich mit dem Edelmut. Wir sind niemals edelmütig oder großherzig, außer wenn wir in irgendeiner Hinsicht einem andern Menschen vor uns selbst den Vorzug geben und irgendein großes und wichtiges eigenes Interesse einem gleichen Interesse eines Freundes oder eines Höherstehenden opfern. Derjenige, der seine Ansprüche auf ein Amt, daß das höchste Ziel seines Ehrgeizes bildete, deshalb aufgibt, weil er der Meinung ist, daß die Dien* Raro mulieres donare solent
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ste, die ein anderer geleistet hat, diesem ein größeres Anrecht darauf geben ; derjenige, der sein Leben wagt, um das Leben seines Freundes zu verteidigen, das, wie er glaubt, von größerer Wichtigkeit ist, sie beide handeln nicht aus Menschlichkeit und auch nicht, weil sie ein feineres Gefühl für das hätten, was den andern betrifft, als für das, was sie selbst angeht. Beide betrachten vielmehr die entgegengesetzten Interessen nicht in dem Licht, in welchem sie ihnen selbst naturgemäß erscheinen, sondern in jenem, in welchem sie sich andern darstellen. Jedem Zuschauer mag das Glück oder die Erhaltung des Lebens dieses andern mit Recht wichtiger sein als ihr Glück und ihr Leben, aber ihnen selbst kann es nicht wichtiger sein. Wenn sie also dem Interesse dieses andern ihr eigenes opfern, dann passen sie sich den Empfindungen des Zuschauers an und handeln in großmütiger Selbstüberwindung so, wie es eben jener Ansicht der Dinge entspricht, welche sich ihrem eigenen Gefühl nach jedem Dritten naturgemäß aufdrängen muß. Dem Soldaten, der sein Leben wegwirft, um seinen Offizier zu verteidigen, würde vielleicht der Tod jenes Offiziers nicht sehr nahe gehen, wenn er ohne ein Verschulden seinerseits eintreten sollte ; und ein sehr geringfügiges Ungemach, das ihm selbst zustieße, könnte ihm vielleicht einen weit lebhafteren Kummer bereiten. Sobald er sich aber bemüht, so zu handeln, daß er Beifall verdient, und daß der unparteiische Zuschauer den Prinzipien seines Verhaltens beipflichten muß, dann wird er fühlen, daß für jeden andern, außer für ihn selbst, sein eigenes Leben ein Nichts ist, verglichen mit demjenigen seines Offiziers, und daß er, wenn er sein Leben dem des Offiziers opfert, ganz richtig und ganz in Übereinstimmung mit den Ansichten handelt, welche sich jedem unparteiischen Zuschauer naturgemäß aufdrängen müßten. Ebenso verhält es sich mit den höheren Äußerungen des Gemeinsinnes und des Patriotismus. Wenn ein junger Offizier sein Leben auf das Spiel setzt, um zu den Ländern seines Souveräns ein ganz unbedeutendes Gebiet noch dazu zu erringen, dann ge-
Einfluß der Nützlichkeit auf das Gefühl der Billigung
schieht dies nicht, weil ihm selbst die Erwerbung des neuen Territoriums ein mehr erstrebenswertes Ziel wäre als die Erhaltung seines eigenen Lebens. Ihm selbst ist sein Leben von unendlich höherem Wert als ein ganzes Königreich, das er für den Staat, dem er dient, erobern könnte. Sobald er aber jene beiden Ziele miteinander vergleicht, dann betrachtet er sie nicht mehr in dem Lichte, in dem sie ihm selbst ganz natürlicherweise erscheinen, sondern in jenem Lichte, in welchem sie der Nation erscheinen, für die er kämpft. Ihr ist der glückliche Ausgang des Krieges von höchster Bedeutung, das Leben eines Privatmannes jedoch kaum von irgendwelchem Belang. Wenn er sich in ihre Lage versetzt, fühlt er sofort, daß er mit seinem Blut gar nicht zu verschwenderisch sein kann, wenn er dadurch, daß er es vergießt, ein so wertvolles Ziel zu fördern vermag. Darin liegt das Heldenmütige seines Verhaltens, daß er aus einem Gefühl für das Pflichtmäßige und für das sittlich Richtige der stärksten aller natürlichen Neigungen zuwiderhandelte. Es gibt manchen ehrenwerten Engländer, den in seinem Privatberuf der Verlust einer Guinee ernstlicher aufregen würde als der Verlust von Minorca für die englische Nation und der doch, wenn es in seiner Macht gestanden wäre, diese Festung zu verteidigen, tausendmal eher sein Leben geopfert hätte, als daß er sie durch seine Schuld in die Hände des Feindes hätte fallen lassen. Als Brutus der Ältere seine Söhne zum Vollzug der Todesstrafe führen ließ, weil sie sich gegen die erwachende Freiheit Roms verschworen hatten, da opferte er diejenige Neigung, die, hätte er nur sein eigenes Herz zu Rate gezogen, die stärkere gewesen wäre, der schwächeren Neigung auf. Naturgemäß hätte Brutus der Tod seiner eigenen Söhne weit näher gehen müssen als alle die ungünstigen Folgen, die sich möglicherweise für Rom aus dem Fehlen eines so großen Beispieles hätten ergeben können. Aber er betrachtete seine Söhne nicht mit den Augen des Vaters, sondern mit denen des römischen Bürgers. Und so sehr dachte er sich in die Empfindungen hinein, die seiner Eigenschaft als römischer
Vierter Teil · Zweites Kapitel
Bürger entsprachen, daß er jenem Band keine Beachtung schenkte, das ihn selbst mit ihnen verknüpfte ; und einem römischen Bürger schienen selbst die Söhne eines Brutus nur Verachtung zu verdienen, wenn auch bloß das geringste Interesse Roms gegen ihr Leben in die Wagschale geworfen wurde. In diesem Falle gründet sich wie in allen anderen derartigen Fällen unsere Bewunderung nicht so sehr auf die Nützlichkeit als vielmehr auf die unerwartete und eben darum uns so groß, so edel und erhaben dünkende sittliche Richtigkeit solcher Handlungen. Zweifellos verleiht ihnen diese Nützlichkeit, wenn wir einmal auch sie in Betracht ziehen, eine neue Schönheit und empfiehlt jene Handlungen aus diesem Grunde noch mehr unsere Billigung. Indessen wird diese Schönheit hauptsächlich von solchen Menschen bemerkt, die sich viel dem Nachdenken und theoretischen Betrachtungen widmen, und sie bildet keineswegs diejenige Eigenschaft, die derartige Handlungen den natürlichen Empfindungen der großen Menge zunächst empfiehlt. Es ist auch bemerkenswert, daß die Empfindung der Billigung, sofern sie wirklich aus der Wahrnehmung dieser Schönheit der Nützlichkeit entspringt, keinerlei Beziehung auf die Empfindungen anderer hat. Wäre es möglich, daß ein Mensch ohne jede Verbindung mit der Gesellschaft zum Mann aufwüchse, so könnten deshalb seine Handlungen ihm nichtsdestoweniger angenehm oder unangenehm sein, und zwar wegen ihrer Tendenz, seine Glückseligkeit oder seinen Nachteil zu befördern. Er könnte eine Schönheit dieser Art in Klugheit, Mäßigkeit und gutem Verhalten und eine derartige Häßlichkeit in dem entgegengesetzten Betragen wahrnehmen ; er könnte in dem einen Falle seine eigene Gemütsverfassung und seinen Charakter mit jener Art von Befriedigung betrachten, mit der wir eine sinnreich erfundene Maschine ansehen ; oder in dem andern Falle mit jener Art von Abneigung und Unbefriedigung, mit welcher wir eine sehr ungeschickte und plumpe Erfindung betrachten. Da indessen diese
Einfluß der Nützlichkeit auf das Gefühl der Billigung
Wahrnehmungen nur eine Sache des Geschmackes sind und all die Schwachheit und Zartheit jener Art von Wahrnehmungen besitzen, auf deren Richtigkeit der Geschmack im eigentlichen Sinne beruht, würden sie wahrscheinlich von einem Menschen, der sich in dieser einsamen und elenden Lage befände, nicht sehr beachtet werden. Ja, auch wenn sie sich ihm aufdrängen sollten, würden sie doch keineswegs – bevor er in Verbindung mit der Gesellschaft getreten ist – den gleichen Einfluß auf ihn ausüben, den sie infolge jener Verbindung haben würden. Er würde bei dem Gedanken an eine derartige Häßlichkeit nicht von innerer Scham niedergedrückt werden, noch würde das Bewußtsein der entgegengesetzten Schönheit seine Seele in geheimem Triumph erheben. Er würde in dem einen Falle nicht frohlocken, weil er der Meinung wäre, Belohnung zu verdienen, und im andern Falle nicht zittern, weil er fürchten müßte, straffällig geworden zu sein. Alle derartigen Empfindungen setzen die Vorstellung eines anderen Wesens voraus, das der natürliche Richter über diejenige Person ist, die sie fühlt ; und nur aus Sympathie mit den Entscheidungen dieses Schiedsrichters über ihr Verhalten kann diese Person in dem einen Falle den Triumph der Selbstbilligung und im andern die Schmach der Selbstverurteilung erleben.
FÜNFTER TEIL Von dem Einfluß, welchen der Brauch und die Mode auf die Empfindungen der sittlichen Billigung und Mißbilligung üben. (Bestehend aus einem Abschnitt)
erstes kapitel Von dem Einfluß des Brauches und der Mode auf unsere Begriffe von Schönheit und Häßlichkeit Es gibt noch andere Prinzipien außer den bereits aufgezählten, die einen beträchtlichen Einfluß auf die ethischen Gefühle der Menschen haben, und die die Hauptursache der vielen regellosen und einander widersprechenden Meinungen bilden, welche in verschiedenen Zeitaltern und bei verschiedenen Nationen über das, was tadelnswert oder lobenswürdig ist, in Umlauf sind. Diese Prinzipien sind Brauch und Mode, Prinzipien, deren Herrschaftsbereich sich auf alle unsere Urteile über jede Art von Schönheit erstreckt. Wenn zwei Gegenstände häufig miteinander gesehen worden sind, so erwirbt die Einbildungskraft eine gewisse Gewohnheit, leicht von dem einen Gegenstand auf den andern überzugehen. Wenn der erste erscheint, dann rechnen wir darauf, daß der zweite folgen wird. Ganz von selbst ruft uns der eine von ihnen den andern ins Gedächtnis und unsere Aufmerksamkeit gleitet leicht von dem einen zum andern über. Obzwar in ihrer Verbindung – wenn wir von dieser Gewohnheit absehen – keine wirkliche Schönheit gelegen ist, so fühlen wir doch, sobald die Gewohnheit sie einmal derart miteinander verknüpft hat, in ihrem Getrenntsein eine gewisse Unschönheit. Wir meinen, der eine Gegenstand sei gleichsam unharmonisch, wenn er ohne seinen gewöhnlichen
Fünfter Teil · Erstes Kapitel
Begleiter erscheint. Wir vermissen etwas, das wir zu finden erwartet haben, und die gewohnte Ordnung unserer Vorstellungen wird durch diese Enttäuschung gestört. Einem Anzug z. B. würde nach unserem Gefühle ein Mangel anhaften, wenn ihm auch nur die unbedeutendste Verzierung fehlte, mit der er gewöhnlich geschmückt ist, und wir würden sogar in dem Fehlen des Zierknopfes an der Taille eine gewisse Unschönheit oder Plumpheit finden. Wenn aber wirklich in der Verbindung eine gewisse natürliche Schicklichkeit liegt, dann werden Gewohnheit und Brauch unser Gefühl dafür noch verstärken und uns eine abweichende Anordnung noch weit unangenehmer erscheinen lassen, als sie uns sonst scheinen würde. Diejenigen, die gewohnt sind, geschmackvolle Dinge zu sehen, werden durch etwas Plumpes oder Unharmonisches noch mehr abgestoßen. Wo aber die Verbindung unschicklich ist, dort wird die Gewohnheit unser Gefühl von ihrer Unschicklichkeit entweder vermindern oder ganz beseitigen. Diejenigen, die sich an liederliche Unordnung gewöhnt haben, verlieren allen Sinn für Nettigkeit oder Eleganz. Die Trachten oder der landesübliche Hausrat, die einem Fremden lächerlich scheinen, erregen bei den Leuten, die daran gewöhnt sind, keinerlei Anstoß. Die Mode ist verschieden von Brauch und Gewohnheit oder sie bildet vielmehr eine besondere Art des Brauches. Nicht das ist Mode, was alle Leute tragen, sondern das, was diejenigen tragen, die von höherem Stand und Rang sind. Die graziösen, ungezwungenen und einnehmenden Manieren der Großen in Verbindung mit dem üblichen Reichtum und der Pracht ihrer Kleidung verleihen jedem Schnitt, die sie dieser gerade geben, eine gewisse Anmut. Solange sie eine Kleidung von diesem Schnitt tragen, ist sie in unseren Gedanken mit der Vorstellung von etwas Vornehmem und Prächtigem verknüpft und auch, wenn sie an sich ganz belanglos wäre, würde sie uns doch eben auf Grund dieser Beziehung etwas Vornehmes und Prächtiges an sich zu haben scheinen.
Einfluß von Brauch und Mode auf die Empfindungen
Sowie sie aber diesen Schnitt der Kleidung aufgeben, verliert dieselbe all die Anmut, die sie früher zu besitzen schien, und da sie nun bloß von den niedrigen Ständen des Volkes getragen wird, scheint sie uns etwas von deren Armseligkeit und Plumpheit an sich zu haben. Daß Kleidung und Hausrat gänzlich unter der Herrschaft von Brauch und Mode stehen, das wird von aller Welt zugegeben. Der Einfluß dieser Prinzipien ist jedoch keineswegs auf ein so enges Gebiet beschränkt, sondern erstreckt sich vielmehr auf alles, was in irgendeiner Beziehung dem Geschmack unterworfen ist, wie Musik, Poesie, Architektur. Die Art der Kleidung und des Hausrates ist in fortwährender Veränderung begriffen und da heute jene Mode lächerlich ist, die vor fünf Jahren bewundert wurde, so werden wir hier durch die Erfahrung davon überzeugt, daß sie ihr Ansehen hauptsächlich oder sogar gänzlich dem Brauch und der Mode verdankte. Kleider und Möbel sind nicht aus sehr dauerhaftem Material hergestellt. Ein Rock von glücklich erfundenem Schnitt ist in einem Jahr abgetragen und kann darum nicht länger mehr jenen Schnitt, nach dem er verfertigt ist, als Mode weiter verbreiten. Die Moden des Hausrates ändern sich weniger rasch als jene der Kleidung, weil Möbel gewöhnlich dauerhafter sind. Indessen erfährt auch dieser in fünf oder sechs Jahren im allgemeinen einen gänzlichen Umsturz und jedermann sieht, wie in seiner Lebenszeit die Mode auch in dieser Beziehung sich ändert und recht verschiedene Wege einschlägt. Die Erzeugnisse der andern Künste sind noch weit dauerhafter und wenn sie glücklich erfunden sind, können sie ihren Stil durch eine viel längere Zeit als Mode weiter verbreiten. Ein wohl angelegtes Gebäude kann viele Jahrhunderte überdauern, ein schönes Lied kann durch eine Art Überlieferung eine ganze Reihe von Generationen hindurch fortgepflanzt werden, ein gut geschriebenes Gedicht kann so lange bestehen als die Welt und darum verleihen sie alle durch ganze Zeitalter hindurch jenem eigentümlichen Geschmack, jener
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Manier, nach der ein jedes von ihnen geschaffen wurde, dauerndes Ansehen. Nur wenige Menschen haben Gelegenheit, zu sehen, daß sich zu ihren Lebzeiten die Mode auf dem Gebiete einer dieser Künste in sehr beträchtlichem Maße ändern würde. Nur wenige Menschen besitzen so viel Erfahrung und verfügen über eine so genaue Bekanntschaft mit den verschiedenen Moden, die in längst vergangenen Zeiten und bei entfernten Völkern geherrscht haben, daß sie sich mit ihnen durchaus abgefunden hätten, oder daß sie zwischen ihnen und dem, was zu ihrer eigenen Zeit und in ihrem eigenen Lande in Geltung steht, wirklich unparteiisch richten könnten. Deswegen werden wenige Menschen bereit sein, zuzugeben, daß Brauch oder Mode auf ihre Urteile darüber, was von den Erzeugnissen einer dieser Künste schön und häßlich ist, einen großen Einfluß haben, sondern sie werden sich einbilden, daß alle die Regeln, von denen sie glauben, daß sie in jeder dieser Künste beobachtet werden sollen, sich auf die Vernunft und auf die Natur, nicht auf Gewohnheit oder Vorurteile gründen. Und doch kann sie eine ganz geringe Anspannung ihrer Aufmerksamkeit vom Gegenteil überzeugen und ihnen die Versicherung geben, daß der Einfluß, den Brauch und Mode auf Kleidung und Hausrat üben, nicht unumschränkter ist als ihr Einfluß auf Architektur, Poesie und Musik. Kann z. B. ein Grund dafür angegeben werden, warum das dorische Kapital für eine Säule bestimmt ist, deren Höhe acht Durchmessern gleich ist, die ionische Schnecke für eine solche, deren Höhe neun Durchmesser beträgt, und das korinthische Laubwerk für eine von zehn Durchmessern Höhe ? Daß uns eine jede dieser Zusammenstellungen schicklich erscheint, kann auf nichts anderem beruhen als auf Gewohnheit und Brauch. Das Auge, das sich einmal daran gewöhnt hat, ein bestimmtes Verhältnis zusammen mit einer bestimmten Verzierung zu sehen, würde beleidigt werden, wenn diese einmal nicht vereinigt wären. Jede der fünf Ordnungen hat ihre besonderen Verzierungen, welche nicht mit
Einfluß von Brauch und Mode auf die Empfindungen
anderen vertauscht werden können, ohne bei all denen Anstoß zu erregen, die auch nur etwas von den Regeln der Architektur verstehen. Allerdings ist nach der Ansicht einiger Architekten der erlesene Geschmack, mit welchem die Alten einer jeden solchen Ordnung die ihr angemessenen Verzierungen zuteilten, so hervorragend gewesen, daß man keine anderen Verzierungen finden könnte, die gleich passend wären. Indessen scheint es mir doch ein wenig schwierig, sich vorzustellen, daß diese Formen, die ja zweifellos äußerst angemessen sind, die einzigen Formen sein sollten, die zu jenen Verhältnissen passen könnten, und daß es nicht vielmehr fünfhundert andere geben sollte, die vor der Ausbildung eines bestimmten Brauches ganz ebenso gut zu ihnen gepaßt hätten. Sobald indessen der Brauch bestimmte Bauregeln ausgebildet und festgesetzt hat, ist es allerdings – vorausgesetzt, daß sie nicht vollständig unvernünftig sind – ungereimt, wenn man meinen würde, sie gegen andere austauschen zu können, die nur gleich gut wären, oder sogar gegen andere, die in bezug auf Eleganz und Schönheit einen gewissen geringen Vorrang vor ihnen hätten. Ein Mensch würde sich lächerlich machen, wenn er in einem Anzug öffentlich erscheinen wollte, der von demjenigen gänzlich verschieden wäre, den man gewöhnlich trägt, sollte auch die neue Kleidung an sich noch so geschmackvoll oder bequem sein. Und es würde uns eine ebensolche Abgeschmacktheit darin zu liegen scheinen, wenn jemand ein Haus auf eine Weise verzieren wollte, die von dem, was Brauch und Mode vorgeschrieben haben, gänzlich abweichend wäre, sollten auch die neuen Verzierungen an und für sich einigermaßen schöner sein als diejenigen, die man gewöhnlich anbringt. Nach der Ansicht der alten Lehrer der Rhetorik war von Natur aus ein gewisses Metrum oder eine gewisse Versart für jede einzelne Stilgattung bestimmt, da sie das natürliche Ausdrucksmittel für jene Stimmung, für jene Empfindung oder jenen Affekt sei, die in der betreffenden Dichtungsart vorherrschen sollte. Ei-
Fünfter Teil · Erstes Kapitel
ne Versart, meinten sie, sei für ernste und eine andere für heitere Werke geeignet, und sie waren der Ansicht, daß man diese Versarten nicht miteinander vertauschen könnte, ohne dadurch die ärgste Unschicklichkeit zu begehen. Die Erfahrung unserer modernen Zeit scheint indessen diesem Prinzip zu widersprechen, obwohl dasselbe an sich äußerst stichhaltig scheinen könnte. Was im Englischen den komischen Vers bildet, das ist im Französischen das tragische Versmaß. Die Tragödien von Racine und die Henriade von Voltaire sind nahezu in dem gleichen Versmaß wie : »Ich erbitt’ euren Rat in ’nem schwierigen Fall«. Umgekehrt ist das komische Versmaß im Französischen ziemlich genau dasselbe wie der tragische zehnsilbige Vers im Englischen. Gewohnheit und Brauch haben es bewirkt, daß die eine Nation die Vorstellung von Würde, Ernst und Erhabenheit mit eben jenem Vermaß verbindet, das die andere mit allem, was heiter, schalkhaft und komisch ist, in Verbindung bringt. Nichts würde uns im Englischen abgeschmackter erscheinen als eine Tragödie, die in den Alexandrinern des französischen Trauerspiels geschrieben wäre, nichts wäre im Französischen abgeschmackter als ein Werk der gleichen Gattung, das in zehnsilbigen Versen abgefaßt wäre. Ein hervorragender Künstler wird einen beträchtlichen Wandel in den Moden hervorrufen, die auf dem Gebiete einer jeden dieser Künste herrschen, und wird neue Formen in die Literatur, in die Musik oder in die Architektur einführen. Wie sich die Kleidung eines Mannes von hohem Rang und angenehmem Äußern selbst empfiehlt, und, wenn sie auch noch so eigentümlich und phantastisch sein mag, doch bald Bewunderung und Nachahmung finden wird, so empfehlen auch die ausgezeichneten Leistungen eines hervorragenden Meisters selbst seine Eigentümlichkeiten und so wird seine Manier der herrschende, moderne Stil der Kunstgattung, in der er eben schafft. Der Geschmack der Italiener hat auf dem Gebiete der Musik und der Baukunst innerhalb
Einfluß von Brauch und Mode auf die Empfindungen
der letzten fünfzig Jahre dadurch einen beträchtlichen Wandel durchgemacht, daß in einer jeden dieser Künste die Eigentümlichkeiten einiger hervorragender Meister nachgeahmt wurden. Seneca wird von Quintilian angeklagt, daß er den Geschmack der Römer verdorben habe, und daß er eine nichtige Zierlichkeit an Stelle majestätischer Vernunft und männlicher Beredsamkeit eingeführt habe. Gegen Sallust und Tacitus wurde von anderen dieselbe Beschuldigung erhoben, wenn auch in etwas abweichender Art. Man hat behauptet, sie hätten einen Stil zur allgemeinen Anerkennung gebracht, der zwar im höchsten Grade treffend, elegant, ausdrucksvoll und sogar poetisch gewesen sei, dabei jedoch der Ruhe, Einfachheit und Natürlichkeit entbehrt habe und offenbar das Erzeugnis einer äußerst mühevoll erkünstelten Ziererei gewesen sei. Wie große Talente muß jener Schriftsteller besitzen, der auf diese Weise sogar seine Fehler angenehm zu machen und zu empfehlen vermag. Es ist das höchste Lob, das einem Schriftsteller erteilt werden kann, wenn man von ihm sagt, er habe den Geschmack einer Nation verfeinert, das nächst größte Lob ist es aber vielleicht, wenn man von ihm sagen kann, er habe diesen Geschmack verdorben. In unserer (englischen) Literatur haben Pope und Dr. Swift einen neuen Stil der Reimdichtung eingeführt, der von dem bis dahin befolgten durchaus abweicht, und zwar Pope in den langzeiligen, Swift in den kurzzeiligen Dichtungen. Die Geziertheit eines Butler hat der Schlichtheit eines Swift den Platz geräumt. Die überströmende Freiheit eines Dryden und die fehlerfreie, aber oft langweilige und prosaische Mattigkeit eines Addison dienen nun nicht mehr zum Vorbild für Nachahmer, sondern alle langzeiligen Verse werden jetzt nach dem Muster der kraftvollen Bestimmtheit eines Pope gebildet. Aber nicht nur auf die Hervorbringungen der Kunst erstreckt sich das Herrschaftsbereich des Brauches und der Mode. Sie beeinflussen auch unser Urteil über die Schönheit von Naturobjekten. Was für mannigfaltige und einander entgegengesetzte For-
Fünfter Teil · Erstes Kapitel
men werden nicht in den verschiedenen Gattungen der Dinge für schön gehalten ! Die Verhältnisse, welche bei einem Lebewesen bewundert werden, sind ganz verschieden von denen, die man bei einem andern schätzt. Jede Klasse hat ihre eigene besondere Körperbildung, die man billigt, und hat eine ihr eigentümliche Schönheit, die von der jeder anderen Gattung verschieden ist. Aus diesem Grunde hat ein gelehrter Jesuit, Pater Buffier, es als seine Ansicht erklärt, daß die Schönheit eines jeden Gegenstandes in jener Gestalt und Farbe gelegen sei, die unter Dingen der bestimmten Art, zu der er gehört, die gewöhnlichsten sind. So liegt in bezug auf die Gestalt des Menschen die Schönheit eines jeden Zuges in einem gewissen Mittleren, das von einer Mannigfaltigkeit anderer Formen – die eben häßlich sind – gleich weit entfernt ist. Eine schöne Nase z. B. ist eine, die weder sehr lang, noch sehr kurz, weder sehr gerade, noch sehr krumm ist, sondern eine Art von Mittlerem zwischen all diesen Extremen darstellt und von einem jeden von ihnen weniger abweicht als diese alle gegenseitig voneinander. Diese Form ist es, auf die die Natur bei ihnen allen abgezielt zu haben scheint, von der sie aber auf einer Menge von Abwegen abzuweichen pflegt, und die sie nur selten genau trifft ; eine Form, mit der aber alle diese Abweichungen doch eine sehr große Ähnlichkeit aufweisen. Wenn eine Anzahl von Zeichnungen nach einer Vorlage angefertigt wird, so werden sie alle, wenn auch jede das Muster in irgendeiner Beziehung verfehlt hat, doch dieser Vorlage mehr ähneln als einander ; der Grundtypus der Vorlage wird durch alle Zeichnungen hindurchgehen ; die sonderbarsten und seltsamsten von allen Zeichnungen werden diejenigen sein, die von ihr am weitesten abstehen, und obzwar sehr wenige sie genau abbilden werden, so werden doch die genauesten Zeichnungen mit den nachlässigsten eine größere Ähnlichkeit aufweisen, als sie die nachlässigen untereinander zeigen werden. In gleicher Weise trägt innerhalb jeder Gattung von Geschöpfen das schönste am deutlichsten die Merkmale der
Einfluß von Brauch und Mode auf die Empfindungen
Grundbildung der Gattung an sich und besitzt die größte Ähnlichkeit mit der Mehrzahl der Individuen, mit denen es eine Klasse bildet. Mißgeburten dagegen oder ganz ungestalte Individuen sind immer äußerst sonderbar und seltsam und besitzen am wenigsten Ähnlichkeit mit dem größten Teile der Gattung, der sie angehören. Und so ist die Schönheit einer jeden Gattung zwar in dem einen Sinne das seltenste Phänomen, weil wenige Individuen diese Mittelform genau treffen, in einem anderen Sinne ist sie das allgemeinste, weil alle Abweichungen von dieser Form ihr doch mehr ähneln, als sie einander wechselseitig ähneln. Die gewöhnliche Form ist darum, jenem Gelehrten zufolge, in jeder Gattung von Dingen die schönste. Und daher kommt es, daß eine gewisse Übung und Erfahrung in der Betrachtung jeder Art von Objekten erforderlich ist, bevor wir über ihre Schönheit ein Urteil fällen oder also, bevor wir wissen können, worin die mittlere und gewöhnlichste Form in dieser Gattung besteht. Das treffendste Urteil über die Schönheit der menschlichen Gattung wird uns nicht dazu helfen, die Schönheit von Blumen oder von Pferden oder von irgendeiner anderen Gattung von Dingen zu beurteilen. Auf demselben Grund beruht es, daß in Ländern, in denen ein verschiedenes Klima herrscht, wo abweichende Gebräuche und Lebensweisen gelten, und wo der allgemeine Durchschnitt einer Gattung durch diese Umstände eine andere Körperbildung empfängt, daß dort auch verschiedene Vorstellungen über die Schönheit dieser Gattung herrschen. Die Bedingungen, unter welchen ein Berberpferd und ein englisches Pferd für schön gelten, sind nicht genau dieselben. Was für ganz verschiedene Vorstellungen gelten nicht innerhalb der verschiedenen Nationen in bezug auf die Schönheit der menschlichen Gestalt und Gesichtsbildung ! Eine helle Gesichtsfarbe gilt an der Küste von Guinea als widerliche Häßlichkeit. Dicke Lippen und eine platte Nase gelten als Schönheit. Bei manchen Völkern sind lange Ohren, die bis auf die Schultern herabhängen, Gegenstand allgemeiner Bewunderung. In
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China wird eine Dame, deren Fuß so groß ist, daß sie darauf zu gehen vermag, als ein Ungeheuer an Häßlichkeit betrachtet. Einige der wilden Völkerstämme von Nordamerika binden ihren Kindern vier Bretter um die Köpfe und pressen diese dadurch, solange die Schädelknochen noch zart und knorpelig sind, in eine Form, die beinahe vollkommen quadratisch ist. Europäer sind oft erstaunt über die sinnlose Barbarei dieses Brauches, welchem manche Missionare die Schuld an der seltsamen Dummheit jener Völker zuschreiben, unter welchen er herrscht. Wenn sie aber jene Wilden verdammen, dann bedenken sie nicht, daß die Damen in Europa noch bis in die allerletzten Jahre beinahe ein ganzes Jahrhundert lang bemüht waren, die schöne natürliche Rundung ihrer Gestalt in eine viereckige Form gleicher Art zu pressen, und daß trotz der vielen Verrenkungen und Krankheiten, welche dieses Verfahren – wie man wohl wußte – hervorrief, Gewohnheit und Brauch es unter einigen der höchst zivilisierten Nationen, die die Welt vielleicht je gesehen hat, zu einer allgemeinen Mode werden ließen. Das ist die Theorie dieses gelehrten und geistvollen Paters über das Wesen der Schönheit, deren ganzer Zauber seiner Ansicht zufolge also daher zu kommen scheint, daß sie mit den Gewohnheiten übereinkommt, welche Brauch und Sitte der Einbildungskraft in bezug auf Dinge jener bestimmten Art eingeprägt haben. Ich kann mich indessen nicht zu der Ansicht überreden lassen, daß auch nur unser Gefühl für äußerliche Schönheit sich ganz und gar auf Gewohnheit und Brauch gründet. Die Nützlichkeit einer Form, ihre Eignung für den nützlichen Zweck, für den sie bestimmt war, empfiehlt sie uns doch augenscheinlich unabhängig von jedem Brauch als angenehm und passend. Gewisse Farben sind angenehmer als andere und gewähren dem Auge schon das erstemal, wenn es sie erblickt, eine größere Lust. Eine glatte Oberfläche ist angenehmer als eine rauhe. Mannigfaltigkeit gefällt besser als langweilige, abwechslungslose Einförmigkeit.
Einfluß von Brauch und Mode auf die Empfindungen
Verbundene Mannigfaltigkeit, in welcher jede neue Erscheinung durch das, was ihr vorherging, eingeführt zu sein scheint, und in welcher alle zusammenhängenden Teile eine gewisse natürliche Beziehung zueinander zu haben scheinen, ist angenehmer als eine unzusammenhängende, ungeordnete Sammlung unverbundener Gegenstände. Obgleich ich aber nicht zugeben kann, daß Gewohnheit und Brauch die einzigen Ursachen der Schönheit wären, so vermag ich doch diese geistvolle Theorie insoweit als richtig anzuerkennen, als es kaum irgendeine äußere Form gibt, die so schön wäre, daß sie uns auch gefallen könnte, wenn sie ganz im Gegensatz zu Gewohnheit und Brauch stünde und allem unähnlich wäre, woran wir gerade bei dieser Gattung von Dingen gewöhnt sind, oder so häßlich, daß sie uns nicht angenehm sein sollte, wenn Gewohnheit und Brauch sie durchgehends unterstützt und uns daran gewöhnt hätten, sie an jedem einzelnen Individuum der Art zu sehen.
zweites kapitel Über den Einfluß des Brauches und der Mode auf die ethischen Gefühle Da unsere Empfindungen für alle Arten von Schönheit so sehr durch Brauch und Mode beeinflußt werden, kann man nicht erwarten, daß unser Gefühl für die Schönheit eines Verhaltens gänzlich von dem Herrschaftsbereich jener Prinzipien ausgenommen sein sollte. Indessen scheint ihr Einfluß hier weit geringer zu sein als auf irgend einem anderen Gebiet. Es gibt vielleicht keine Gestalt an äußeren Gegenständen, wie geschmacklos und phantastisch sie auch sein mag, mit der uns nicht Gewohnheit und Brauch aussöhnen könnten, oder die uns nicht die Mode sogar wohlgefällig machen würde. Der Charakter und das Verhalten eines Nero oder eines Claudius dagegen, das sind Erscheinungen,
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mit denen uns keine Gewohnheit jemals aussöhnen wird, Erscheinungen, die uns keine Mode jemals wohlgefällig machen könnte ; stets wird vielmehr der eine ein Gegenstand der Furcht und des Hasses, der andere ein Gegenstand der Verachtung und des Spottes sein. Die Prinzipien der Einbildungskraft, von denen unser Schönheitsgefühl abhängt, sind von sehr zarter und empfindlicher Natur und können leicht durch Gewöhnung und Erziehung verändert werden ; die Empfindungen moralischer Billigung und Mißbilligung dagegen gründen sich auf die stärksten und lebhaftesten Affekte, deren die Menschen fähig sind, und sie können darum zwar etwas aus ihrer Bahn abgelenkt, aber nicht gänzlich in ihr Gegenteil verkehrt werden. Obgleich aber der Einfluß, den Gewohnheit und Mode auf die ethischen Gefühle ausüben, nicht ganz so groß ist wie der Einfluß dieser Prinzipien auf anderen Gebieten, so ist er doch seinem Wesen nach diesem Einfluß durchaus ähnlich. Wenn Gewohnheit und Mode mit den natürlichen Prinzipien von recht und unrecht zusammentreffen, dann erhöhen sie die Feinheit unserer Gefühle und verstärken unseren Abscheu gegen alles, was sich dem Bösen auch nur nähert. Diejenigen, die in einer wirklich guten Gesellschaft erzogen worden sind – und nicht bloß in einer solchen, die man gemeinhin so nennt –, Menschen, die gewohnt waren, an den Personen, die sie verehrten, und mit denen sie umgingen, nichts zu sehen als Gerechtigkeit, Bescheidenheit, Menschlichkeit und Ordnungsliebe, werden mehr Ärger empfinden über alles, was mit den Regeln unvereinbar zu sein scheint, die diese Tugenden vorschreiben. Jene Menschen dagegen, die das Unglück hatten, inmitten von Gewalttätigkeit, Zügellosigkeit, Falschheit und Ungerechtigkeit aufgezogen zu werden, verlieren zwar vielleicht nicht allen Sinn für die Unschicklichkeit eines solchen Verhaltens, aber doch sicherlich alles Bewußtsein davon, welche fürchterliche Abscheulichkeit darin liegt, oder welche Bestrafung und welche Ahndung ihm gebührt. Sie haben sich von Kindheit an damit ver-
Einfluß von Brauch und Mode auf die Empfindungen
traut gemacht, die Gewohnheit hat es ihnen zur zweiten Natur werden lassen und sie sind sehr geneigt, es als den sogenannten Lauf der Welt zu betrachten, als etwas, das man tun darf oder gar tun muß, um nicht zum Narren seiner eigenen Redlichkeit zu werden. Die Mode wird mitunter einem gewissen Grade von Ordnungslosigkeit Ansehen verschaffen und andererseits solche Eigenschaften um ihre allgemeine Anerkennung bringen, die Achtung verdienen. In der Regierungszeit Karls II . wurde ein gewisser Grad von Zügellosigkeit für ein charakteristisches Merkmal einer vornehmen Erziehung gehalten. Nach den Begriffen jener Zeiten stand sie in Zusammenhang mit Edelmut, Aufrichtigkeit, Großmut, Königstreue und bewies, daß der Betreffende, der sich so verhielt, ein Edelmann und nicht ein Puritaner war. Sittenstrenge und genaue Geregeltheit des Verhaltens auf der anderen Seite waren durchaus unmodern und nach der Vorstellungsweise jenes Zeitalters verbunden mit Heuchelei, Arglist, Scheinheiligkeit und niedrigem Benehmen. Oberflächlichen Geistern scheinen die Laster der Großen zu allen Zeiten anziehend. Sie bringen sie nicht nur mit dem Glanz des Reichtums in Verbindung, sondern auch mit manchen höheren Tugenden, die sie eben höherstehenden Personen zuschreiben, mit dem Geist der Freiheit und Unabhängigkeit, mit freimütiger Offenheit, mit Edelmut, Menschlichkeit und Höflichkeit. Die Tugenden der niederen Volksklassen dagegen, ihre Sparsamkeit und Genügsamkeit, ihr unverdrossener Fleiß und ihr strenger Gehorsam gegenüber Gesetz und Regel, scheinen ihnen gemein und widerlich. Sie bringen sie in Verbindung mit der Niedrigkeit ihrer Stellung, in der solche Eigenschaften gewöhnlich sind, und mit vielen großen Lastern, die, wie sie meinen, jene Tugenden meistens begleiten, wie etwa einem Hang zur Gemeinheit, zur Feigheit, zur Bosheit, zum Lügen und zum Stehlen. Da die Gegenstände, mit welchen die Menschen in verschie-
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denen Berufen und Lebensverhältnissen in Berührung kommen, sehr verschieden sind und sie an verschiedene Leidenschaften gewöhnen, bilden sie auch in den Menschen ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten aus. Wir erwarten in jedem Stande und Beruf wenigstens bis zu einem gewissen Grade jene Sitten, die, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, zu ihm gehören. Wie uns aber in jeder Gattung von Dingen eine gewisse mittlere Form ganz besonders gefällt, die in jedem Teile und in jedem ihrer Züge am genauesten mit jenem allgemeinen Muster übereinkommt, das die Natur für Dinge von jener Art festgesetzt zu haben scheint, so gefällt es uns in jedem Stand, oder, wenn ich so sagen darf, in jeder Gattung der Menschen ganz besonders, wenn sie weder zu viel noch zu wenig von jenem Wesen besitzen, das gewöhnlich gerade im Gefolge ihrer Lebenslage und ihres Standes auftritt. Ein Mann, sagen wir, soll seinem Gewerbe und seinem Beruf gleichsehen ; doch ist uns Pedanterie in jedem Beruf unangenehm. Auch die verschiedenen Lebensalter haben aus dem gleichen Grunde ihre verschiedenen Sitten und Manieren, die gleichsam für sie bestimmt sind. Wir erwarten im Alter jenen würdevollen Ernst und jene Gelassenheit, welche seine Schwächlichkeit, seine lange Erfahrung und seine abgestumpfte Empfindlichkeit natürlich und zugleich achtunggebietend zu machen scheinen ; und wir rechnen bestimmt damit, bei der Jugend jene Empfindsamkeit, jene Fröhlichkeit und jene muntere Lebhaftigkeit zu finden, die uns die Erfahrung erwarten lehrt, und die sich in dem lebendigen Eindruck äußert, den alle Gegenstände, die seine Anteilnahme erwecken, auf die zarten und unerfahrenen Sinne jenes frühen Lebensalters zu machen pflegen. Indessen kann jedes dieser beiden Lebensalter leicht zuviel von diesen Eigentümlichkeiten haben, die ihm angemessen sind. Der flatterhafte Leichtsinn der Jugend und die unerschütterliche Gefühllosigkeit des Alters sind uns beide gleich unangenehm. Die Jungen sind uns, einem Sprichwort zufolge, am angenehmsten, wenn in ihrem Betragen etwas von den Manieren
Einfluß von Brauch und Mode auf die Empfindungen
der Alten ist, und die Alten, wenn sie sich etwas von der Heiterkeit der Jugend bewahrt haben. Indessen kann leicht jeder von beiden zuviel von den Manieren des anderen besitzen. Die allzu große Kälte und die schwerfällige Förmlichkeit, die man dem Alter verzeiht, würden die Jugend lächerlich machen. Der Leichtsinn, die Sorglosigkeit und die Eitelkeit, die man der Jugend nachsieht, würden das Alter uns verächtlich erscheinen lassen. Das eigentümliche Wesen und die besonderen Sitten, die wir in unserer Vorstellung auf Grund der Gewohnheit und des Brauches mit jedem Stand und Beruf verbinden, haben vielleicht mitunter eine gewisse Schicklichkeit an sich, die unabhängig von der Gewohnheit ist, und sind vielleicht oft so, daß wir sie um ihrer selbst willen gutheißen würden, wenn wir all die verschiedenen Umstände in Betracht zögen, die auf jene Menschen in den verschiedenen Lebensständen und Verhältnissen naturgemäß einwirken. Die Schicklichkeit des Betragens hängt ja nicht davon ab, daß dasselbe irgendeinem besonderen Umstand der Situation des betreffenden Menschen angemessen ist, sondern davon, daß es all den Umständen angemessen ist, die, wie wir deutlich fühlen, sobald wir uns in seine Lage hineindenken, natürlicherweise seine Aufmerksamkeit auf sich lenken sollten. Wenn er sich offensichtlich mit einem dieser Umstände so stark beschäftigt, daß er alle übrigen gänzlich unbeachtet läßt, dann mißbilligen wir sein Verhalten als ein Benehmen, dem wir nicht durchaus zustimmen können, weil es nicht in der richtigen Weise allen Umständen seiner Situation angemessen ist ; und doch überschreitet die Gemütsbewegung, die er für den Gegenstand zum Ausdruck bringt, der ihn hauptsächlich interessiert, vielleicht gar nicht das richtige Maß, dem wir bei einem Menschen, dessen Aufmerksamkeit nicht auch durch andere Umstände in Anspruch genommen wäre, unsere volle Teilnahme und Billigung gewähren würden. Ein Privatmann mag als Vater über den Verlust des einzigen Sohnes einen Grad von Kummer und Zärtlichkeit bekunden, ohne daß
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wir ihn deshalb tadeln würden, der uns an einem General, der an der Spitze einer Armee steht, unverzeihlich erscheinen würde, da doch der Ruhm und die Sicherheit des Landes einen so großen Teil seiner Aufmerksamkeit für sich erheischen. Da gewöhnlich verschiedene Dinge die Aufmerksamkeit von Menschen verschiedener Berufe in Anspruch nehmen müssen, so müssen ihnen auch naturgemäß verschiedene Leidenschaften zur Gewohnheit werden ; und wenn wir uns gerade in dieser Hinsicht in ihre Situation hineinzudenken suchen, so müssen wir uns dessen bewußt sein, daß jedes Ereignis sie natürlich mehr oder weniger aufregen muß, je nachdem, ob die Gemütsbewegung, welche es hervorruft, mit ihren festen Charaktergewohnheiten und ihrer Gemütsverfassung übereinstimmt, oder zu ihnen im Widerspruch steht. Wir können bei einem Geistlichen nicht dieselbe Empfänglichkeit für die heiteren Vergnügungen und Unterhaltungen des Lebens erwarten, auf die wir bei einem Offizier mit Bestimmtheit rechnen. Der Mann, dessen Hauptbeschäftigung es ist, die Welt an jene fürchterliche Zukunft zu erinnern, die ihrer wartet, der ihr verkünden muß, welche unheilvollen Folgen jede Abweichung von den Regeln der Pflicht nach sich ziehen werde, und der selbst ein Beispiel der vollkommensten Übereinstimmung mit diesen Regeln geben soll, scheint uns ein Bote von Nachrichten zu sein, die man nicht mit Leichtfertigkeit oder Gleichgültigkeit überbringen kann, ohne gegen die Schicklichkeit zu verstoßen. Sein Geist ist, wie man annimmt, beständig mit Dingen beschäftigt, die zu groß und feierlich sind, um irgendwelchen Raum für die Eindrücke jener nichtigen Dinge zu lassen, welche die Aufmerksamkeit des Liederlichen und Fröhlichen ganz erfüllen. Wir fühlen also leicht, daß, unabhängig von Gewohnheit und Brauch, in dem Betragen, welches die Gewohnheit diesem Berufe zugewiesen hat, eine gewisse innere Richtigkeit liegt, und daß der Stellung eines Geistlichen nichts angemessener sein kann als jene würdevolle, ernste und weitabgewandte Strenge, die wir in seinem Benehmen zu fin-
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den gewohnt sind. Diese Betrachtungen sind so naheliegend und einleuchtend, daß es kaum jemand gibt, der so unüberlegt wäre, sie nicht schon einmal angestellt und sich auf diese Weise davon Rechenschaft gegeben zu haben, warum er bei Angehörigen jenes Standes eben ein solches Wesen gutheißt, wie es für sie als herkömmlich gilt. Der Grund, warum Gewohnheit und Brauch für andere Berufe ein anderes Wesen als schicklich festgesetzt haben, ist nicht so offenkundig und unsere Billigung desselben gründet sich ausschließlich auf eine dauernde Gepflogenheit, ohne durch irgendwelche derartige Betrachtungen bestätigt oder verstärkt zu werden. Gewohnheit und Brauch veranlassen uns z. B., mit dem Militärberufe die Vorstellung eines fröhlichen, leichtfertigen Wesens und einer lebhaften Ungebundenheit, ja sogar eines gewissen Grades von Liederlichkeit zu verbinden. Wenn wir jedoch überlegen sollten, welche Stimmung oder welche Gemütsverfassung der Situation eines Soldaten am angemessensten wäre, dann würden wir vielleicht geneigt sein, zu behaupten, daß gerade die ernsthafteste und gedankenvollste Stimmung der Seele sich für diejenigen am besten geziemen würde, deren Leben beständig ungewöhnlichen Gefahren ausgesetzt ist, und die sich darum beständiger mit dem Gedanken an den Tod und an das, was ihm folgt, beschäftigen sollten als andere Menschen. Indessen ist es nicht unwahrscheinlich, daß gerade dieser Umstand die Ursache bildet, warum die entgegengesetzte Seelenstimmung so sehr unter Männern dieses Berufes vorherrscht. Es erfordert eine so gewaltige Anstrengung, die Furcht vor dem Tode zu überwinden, solange man ihm mit Standhaftigkeit und Aufmerksamkeit ins Auge blickt, daß diejenigen, die beständig der Gefahr des Todes ausgesetzt sind, es leichter finden, ihre Gedanken ganz von ihm abzuwenden, sich in eine gewisse sorglose Sicherheit und Gleichgültigkeit gleichsam einzuhüllen und sich zu diesem Zweck in Unterhaltungen und Zerstreuungen jeder Art zu stürzen. Ein Feldlager ist nicht
Fünfter Teil · Zweites Kapitel
das Element, in dem sich ein gedankenvoller oder schwermütiger Mensch bewegen kann ; die Männer jenes Standes werden freilich oft durchaus zum Äußersten entschlossen sein und infolge einer großen Willensanstrengung werden sie fähig sein, mit unbeugsamer Standhaftigkeit in den völlig unentrinnbaren Tod zu stürmen. Wenn man aber einer beständigen, obzwar weniger unmittelbar drohenden Gefahr ausgesetzt ist, wenn man lange Zeit hindurch jene Willensanstrengung auf sich nehmen muß, dann erschöpft und bedrückt dies die Seele und macht sie für jedes Glück und jeden Genuß unempfänglich. Die Fröhlichen und Sorglosen, die es überhaupt nicht nötig haben, solch eine Willensanstrengung zu machen, die völlig entschlossen sind, niemals vor sich zu blicken, vielmehr in fortwährenden Vergnügungen und Unterhaltungen alle Besorgnisse wegen ihrer Lage von sich zu werfen, werden solche Verhältnisse weit leichter ertragen. Wenn ein Offizier infolge bestimmter Umstände keinen Grund hat, damit zu rechnen, daß er irgendwelchen ungewöhnlichen Gefahren ausgesetzt sein werde, dann wird er sehr leicht die Fröhlichkeit und die liederliche Gedankenlosigkeit, die früher sein Wesen kennzeichnete, verlieren. Der Hauptmann einer Bürgerwehr ist gewöhnlich ein ebenso nüchternes, besonnenes und geiziges Geschöpf wie alle seine Mitbürger. Aus dem gleichen Grunde hat ein langer Friede die Tendenz, den Unterschied zwischen bürgerlichem und militärischem Wesen zu verringern. Indessen macht die Situation, in welcher sich Männer dieses Berufes im allgemeinen befinden, Fröhlichkeit und einen gewissen Grad von Liederlichkeit so sehr zu ihrem gewöhnlichen Wesen und in unseren Gedanken hat die Gewohnheit eine so enge Verbindung zwischen diesem Wesen und diesem Lebensstand hergestellt, daß wir sehr geneigt sind, einen Menschen zu verachten, den seine Stimmung oder seine persönliche Situation unfähig macht, sich dasselbe anzueignen. Wir lachen über die ernsten und bedächtigen Gesichter der Soldaten einer Bürgerwehr, die so wenig den Gesichtern ähneln, wie sie
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die Angehörigen ihres Berufes sonst besitzen. Sie selbst scheinen sich oft ihrer eigenen streng geregelten Sitten zu schämen, und um nicht ganz der Mode ihres Handwerkes zu widersprechen, lieben sie es nur allzu sehr, einen Leichtsinn zu heucheln, der ihnen keineswegs natürlich ist. Jede Art des Betragens, die wir in einer ehrsamen Menschenklasse einmal zu sehen gewohnt sind, wird sich schließlich in unseren Gedanken so mit jener Klasse assoziieren, daß wir, sobald wir nur das eine Glied dieser Verbindung sehen, schon damit rechnen, auch dem andern zu begegnen, und daß wir, wenn wir darin getäuscht werden, etwas vermissen, das wir zu finden erwartet haben. Es verwirrt uns, bringt uns in Verlegenheit und wir wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen, wenn ein Mensch offenbar ein Wesen erheuchelt, das von dem gewöhnlichen Wesen derjenigen Klasse abweicht, in die wir ihn sonst einzureihen geneigt gewesen wären. In gleicher Weise pflegen die verschiedenen Lebensverhältnisse verschiedener Zeitalter und Länder der Mehrzahl derjenigen Menschen, die unter ihnen leben, ein verschiedenes Wesen zu verleihen und ihre Empfindungen darüber, welcher Grad einer jeden Eigenschaft ihnen für tadelnswert oder lobenswürdig gilt, werden voneinander abweichend und durch jenen Grad derselben bestimmt sein, der in ihrem Lande oder zu ihrer Zeit üblich ist. Jener Grad von Höflichkeit, der in Rußland auf das höchste geachtet, ja vielleicht für unmännliche Schmeichelei gehalten werden würde, würde am Hofe von Frankreich als Roheit und Barbarei gelten. Jener Grad von Wirtschaftlichkeit und Einfachheit, der bei einem polnischen Edelmann als übergroße Sparsamkeit betrachtet werden würde, würde bei einem Bürger von Amsterdam als Verschwendung gelten. Jedes Zeitalter und jedes Land betrachtet jenes Maß einer Eigenschaft, das man gemeinhin bei denjenigen begegnet, die unter ihnen geachtet sind, als die goldene Mitte eben jenes Talentes oder jener Tugend. Und da dieses sich ändert, je nachdem ihre verschiedenen Verhältnisse verschie-
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dene Eigenschaften ihnen mehr oder weniger zur Gewohnheit machen, ändern sich dementsprechend auch ihre Empfindungen davon, welches Betragen und welches Wesen gerade das richtige sei. Unter zivilisierten Nationen werden diejenigen Tugenden, die sich auf die Menschlichkeit gründen, mehr gepflegt als jene, die sich auf Selbstverleugnung und Beherrschung der Affekte gründen. Unter rohen, barbarischen Völkern verhält es sich ganz anders ; hier werden die Tugenden der Selbstverleugnung mehr gepflegt als diejenigen der Menschlichkeit. Die allgemeine Sicherheit und Wohlfahrt, die in Zeiten der Bildung und Zivilisation herrschen, geben wenig Gelegenheit, die Verachtung der Gefahr und die Geduld im Ertragen von Mühe, Hunger und Schmerz zu üben. Armut kann leicht vermieden werden und das geduldige Ertragen der Armut hört deshalb beinahe auf, eine Tugend zu sein. Die Enthaltung von Vergnügen wird weniger notwendig und die Seele hat mehr Freiheit, sich gehen zu lassen und ihren natürlichen Neigungen in allen diesen Dingen nachzugeben. Unter Wilden und Barbaren verhält es sich ganz anders. Jeder Wilde erfährt eine Art spartanischer Zucht und ist infolge des Zwanges, den seine Lage ihm auferlegt, mit jeder Art von Mühsal und Entbehrung vertraut. Er befindet sich in beständiger Gefahr, er ist oft dem äußersten Hunger ausgesetzt und es kommt häufig vor, daß ein Wilder nur aus Mangel an Nahrung stirbt. Seine Verhältnisse gewöhnen ihn nicht nur an jede Art von Not, sondern sie lehren ihn auch, sich keinem jener Affekte zu überlassen, die jene Not leicht zu erregen pflegt. Er könnte von seiten seiner Landsleute keine Sympathie oder Nachsicht für eine derartige Schwäche erwarten. Bevor wir für andere etwas fühlen können, müssen wir selbst uns einigermaßen wohl befinden. Wenn unser eigenes Elend uns sehr arg drückt, dann haben wir keine Zeit, auf das unseres Nachbars zu achten : und alle Wilden sind viel zu sehr mit ihren eigenen Bedürfnissen und ihrer eigenen Not be-
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schäftigt, als daß sie derjenigen der andern viel Beachtung schenken würden. Darum erwartet ein Wilder, welcher Art seine Not auch sein mag, niemals Sympathie von seiner Umgebung und verschmäht es aus diesem Grunde auch, sich dadurch bloßzustellen, daß er sich das mindeste Zeichen von Schwäche entschlüpfen ließe. Niemals dürfen die Affekte, die ihn bewegen, und mögen sie noch so stürmisch und heftig sein, den heiteren und ruhigen Ausdruck seiner Miene oder die Gelassenheit seines Benehmens und seines Verhaltens stören. Die Wilden in Nordamerika tragen, wie man erzählt, bei allen Gelegenheiten die größte Gleichgültigkeit zur Schau und würden es für eine Herabwürdigung halten, wenn sie jemals zeigen sollten, daß sie von Liebe, von Kummer oder von Vergeltungsgefühl übermannt werden. Ihre Seelenstärke und ihre Selbstbeherrschung in diesem Punkte übersteigen fast alles, was sich Europäer vorstellen können. In einem Lande, in welchem alle Menschen in bezug auf Stand und Vermögen einander gleichgestellt sind, möchte man erwarten, daß bei Heiraten auf sonst nichts geachtet würde als auf die gegenseitige Zuneigung beider Teile, und daß man diese Zuneigung ohne jede Art von Einschränkungen gewähren ließe. Und doch ist gerade dies das Land, in welchem Heiraten ausnahmslos durch die Eltern zustandegebracht werden, und in welchem ein junger Mann sich für immer entehrt halten würde, wenn er erkennen ließe, daß er einer Frau auch nur im mindesten vor der andern den Vorzug gebe, oder wenn er nicht die höchste Gleichgültigkeit sowohl über den Zeitpunkt der Heirat als über die Person derjenigen, mit der er vermählt werden soll, an den Tag legte. Die Schwachheit der Liebe, der man sich in Zeiten der Humanität und Zivilisation so sehr hingibt, wird unter Wilden als die unverzeihlichste Weichlichkeit betrachtet. Selbst nach der Hochzeit scheinen die beiden Ehegatten sich einer Verbindung zu schämen, die sich auf ein so niedriges Bedürfnis gründet. Sie leben nicht zusammen. Sie sehen einander nur heimlich und verstohlen. Jeder der beiden Gatten wohnt weiter in dem
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Hause seines Vaters und das offene Zusammenwohnen der beiden Geschlechter, das ohne jeden Tadel in allen andern Ländern erlaubt ist, wird hier als höchst unanständige und unmännliche Sinnlichkeit betrachtet. Aber nicht nur in bezug auf diesen freudigen Affekt, üben sie diese grenzenlose Selbstbeherrschung. Sie ertragen oft in Gegenwart aller ihrer Landsleute geduldig Beleidigungen, Tadel und die gröbsten Beschimpfungen mit dem Anschein der höchsten Unempfindlichkeit und ohne das geringste Vergeltungsgefühl zum Ausdruck zu bringen. Wenn ein Wilder zum Kriegsgefangenen gemacht wird und ihm wie gewöhnlich von seinen Besiegern das Todesurteil verkündet wird, dann hört er dieses an, ohne eine Gemütsbewegung auszudrücken, und ergibt sich nachher in die fürchterlichsten Martern, ohne auch nur eine Klage auszustoßen oder irgendeinen anderen Affekt zu zeigen als Verachtung für seine Feinde. Während er an den Schultern über einem langsam brennenden Feuer aufgehängt ist, verspottet er seine Peiniger und erzählt ihnen, mit wieviel größerer Raffiniertheit er selbst diejenigen ihrer Landsleute gemartert habe, die in seine Hände gefallen seien. Nachdem er einige Stunden hindurch geröstet und gebrannt und an den zartesten und empfindlichsten Körperteilen zerfleischt wurde, gestattet man ihm oft, um sein Elend zu verlängern, eine kurze Ruhepause und er wird zu diesem Zweck von dem Pfahl herabgenommen : diese Zwischenzeit verwendet er, um über lauter gleichgültige Dinge zu plaudern, er fragt nach den Neuigkeiten des Landes und nichts scheint ihm gleichgültig zu sein, außer seine eigene Lage. Die Zuschauer bringen die gleiche Unempfindlichkeit zum Ausdruck ; der Anblick einer so fürchterlichen Sache scheint keinen Eindruck auf sie zu machen, ja, sie blicken kaum auf den Gefangenen, außer, wenn sie Hand anlegen, um ihn zu martern. Die übrige Zeit rauchen sie Tabak und unterhalten sich über irgendeinen gewöhnlichen Gegenstand, als ob gar nichts derartiges vorginge. Man sagt, daß jeder Wilde sich von frühester Jugend an für dieses furchtbare
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Ende vorbereite. Für diesen Zweck dichtet er den Todesgesang – wie sie es nennen –, ein Lied, das er singen wird, wenn er in die Hände seiner Feinde gefallen ist, und wenn er unter den Martern, die sie ihm auferlegen, seine Seele aufgibt. Es besteht aus Schmähungen seiner Peiniger und drückt die höchste Todesverachtung und die vollste Geringschätzung des Schmerzes aus. Er singt dieses Lied bei allen außergewöhnlichen Anlässen : wenn er in den Kampf zieht, wenn er seine Feinde im Felde trifft, oder wann immer er sonst zu zeigen beabsichtigt, daß er sich in seinen Gedanken mit dem fürchterlichsten Unglück vertraut gemacht hat, und daß kein Ereignis, das einem Menschen widerfahren kann, seinen Entschluß wankend zu machen oder sein Vorhaben zu ändern vermag. Die gleiche Verachtung von Tod und Martern herrscht unter allen andern wilden Völkern. Es gibt keinen Neger von der Küste Afrikas, der nicht in dieser Beziehung einen Grad von Seelenstärke besäße, dessen die Seele seines niedrig gesinnten Herrn nur allzu oft kaum fähig wäre. Niemals übte das Schicksal seine Herrschaft über die Menschen in grausamerer Weise aus, als damals, wie es jene Völker von Helden dem Auswurf der Gefängnisse Europas unterwarf, Schurken, die weder die Tugenden der Länder besitzen, aus denen sie kommen, noch die der Länder, in die sie gehen, und deren Leichtsinn, Roheit und Niederträchtigkeit sie der gerechten Verachtung der Besiegten preisgibt. Diese heldenhafte und unbesiegbare Stärke, die Brauch und Erziehung des Landes von jedem Wilden fordern, wird von denjenigen nicht verlangt, die für das Leben in zivilisierten Gesellschaften erzogen wurden. Wenn diese klagen, sobald sie Schmerz empfinden, wenn sie trauern, sobald sie in Not sind, wenn sie sich von der Liebe übermannen oder durch Zorn außer Fassung bringen lassen, so wird ihnen das leicht verziehen. Man nimmt nicht an, daß solche Schwächen den wesentlichen Kern ihres Charakters berühren. Solange sie sich nicht zu irgendeiner Tat hinreißen lassen, die der Gerechtigkeit oder der Menschlichkeit entgegen
Fünfter Teil · Zweites Kapitel
ist, verlieren sie nur wenig von ihrem guten Ruf, mag auch die heitere Ruhe ihres Gesichtsausdruckes oder die Gelassenheit ihrer Rede und ihres Betragens einigermaßen aus der Fassung gebracht und gestört sein. Die Angehörigen eines humanen und feiner gebildeten Volkes, die mehr Gefühl und Verständnis für die Affekte anderer haben, können leichter ein lebhaftes und leidenschaftliches Betragen nachempfinden und können eher ein gewisses Übermaß der Leidenschaft verzeihen. Derjenige, der durch ein Ereignis unmittelbar betroffen wird, ist sich dessen bewußt, und da er der Billigkeit seiner Richter sicher ist, gibt er sich stärkeren Äußerungen seines Affektes hin und muß weniger fürchten, sich durch die Heftigkeit seiner Gefühle ihrer Verachtung bloßzustellen. Wir können uns in Gegenwart eines Freundes eher erlauben, unseren Gefühlen stärkeren Ausdruck zu geben als in Gegenwart eines Fremden, weil wir von jenem mehr Nachsicht erwarten als von diesem. Und in gleicher Weise gestatten die Regeln des Anstandes unter zivilisierten Völkern ein lebhafteres Benehmen, als es unter Barbaren gutgeheißen wird. Die ersteren verkehren untereinander mit der Offenheit von Freunden, die letzteren mit der Zurückhaltung von Fremden. Das starke Gefühl und die Lebhaftigkeit, mit welcher die Franzosen und die Italiener, die zwei zivilisiertesten Nationen auf dem Kontinent, sich bei allen Anlässen, die ihnen nur überhaupt nahegehen, auszudrücken pflegen, überrascht im ersten Augenblick die Fremden, die gerade in ihren Ländern reisen, und die, da sie unter einem Volk von stumpferer Gefühlsfähigkeit erzogen wurden, dieses leidenschaftliche Betragen nicht nachempfinden können, von dem sie in ihrem eigenen Lande niemals ein Beispiel gesehen hatten. Ein junger französischer Edelmann wird in Gegenwart des ganzen Hofes weinen, weil ihm das Kommando eines Regimentes versagt wurde. Ein Italiener, sagt der Abt Du Bos, wird lebhafter seinen Gefühlen Ausdruck geben, wenn er zu einer Geldbuße von zwanzig Schillingen verurteilt wurde, als ein Engländer, wenn ihm sein To-
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desurteil verkündet wird. Cicero konnte in den Zeiten von Roms höchster Zivilisation, ohne sich dadurch zu entwürdigen, mit aller Bitterkeit des Kummers im Anblick des ganzen Senats und des ganzen Volkes weinen, wie er ja offenkundig am Schluß fast aller seiner Reden geweint haben muß. Die Redner der früheren und rauheren Zeiten Roms hätten wahrscheinlich ihren Gefühlen nicht mit solcher Leidenschaftlichkeit Ausdruck geben können, ohne gegen die guten Sitten ihrer Zeit zu verstoßen. Es wäre, denke ich, bei den Scipionen, bei den Laeliern, bei dem älteren Cato als ein Verstoß gegen die Natur und gegen die Schicklichkeit angesehen worden, wenn sie eine solche Weichherzigkeit den Augen der Öffentlichkeit bloßgestellt hätten. Jene alten Krieger verstanden es, sich mit Maß, mit Würde und Scharfsinn auszudrücken, es soll ihnen jedoch, wie man sagt, jene begeisterte und leidenschaftliche Beredsamkeit fremd gewesen sein, die wenige Jahre vor der Geburt Ciceros durch die beiden Gracchen, durch Crassus und Sulpitius in Rom zuerst eingeführt wurde. Diese lebhafte Beredsamkeit, die lange mit oder ohne Erfolg in Frankreich und Italien gepflegt wurde, fängt eben erst an, in England eingeführt zu werden. So groß ist der Unterschied zwischen dem Grad von Selbstbeherrschung, wie er bei einem zivilisierten und jenem, wie er bei einem barbarischen Volke gefordert wird, und so verschieden sind die Maßstäbe, nach welchen sie die Schicklichkeit des Betragens beurteilen. Dieser Unterschied bringt eine Reihe von andern, nicht weniger wesentlichen Unterschieden mit sich. Ein zivilisiertes Volk, das gewohnt ist, seinen natürlichen Gemütsbewegungen einigermaßen freien Lauf zu lassen, wird dadurch freimütig, offen und aufrichtig. Barbaren dagegen, die die Äußerungen eines jeden Affektes ersticken und verbergen müssen, erwerben dadurch notwendig die Gewohnheit der Falschheit und der Verstellung. Es ist von allen jenen beobachtet worden, die mit wilden Völkern, sei es in Asien, in Afrika oder in Amerika, durch längere Zeit Um-
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gang gehabt haben, daß sie alle gleich unergründlich sind, und daß, sobald sie einmal vorhaben, die Wahrheit zu verbergen, kein Verhör imstande ist, diese ihnen zu entlocken. Sie lassen sich auch durch die kunstvollsten Fragen nicht überlisten. Selbst die Folter ist nicht imstande, sie dahin zu bringen, daß sie etwas gestehen würden, was sie nun einmal nicht sagen wollen. Aber auch die Affekte eines Wilden, die sich zwar niemals in äußeren Gefühlsausbrüchen ausdrücken, sondern stets in der Brust des Leidenden verborgen bleiben, sind nichtsdestoweniger fähig, bis zum höchsten Grade der Raserei anzusteigen. Obwohl der Wilde selten irgendwelche Anzeichen des Zornes zeigt, so ist doch seine Rache, wenn er einmal seinem Zorne freien Lauf lassen kann, immer blutig und furchtbar. Die geringste Beschimpfung treibt ihn zur Verzweiflung. Seine Miene und seine Redeweise wird freilich immer noch besonnen und gelassen sein und beide werden nichts als die vollste Ruhe der Seele ausdrücken : aber seine Handlungen werden oft die höchste Wut und Gewalttätigkeit zeigen. Unter den Nordamerikanern ist es nicht ungewöhnlich, daß sich Kinder, die im zartesten Alter stehen und überdies dem sonst furchtsameren Geschlecht angehören, ertränken, wenn sie von ihren Müttern eine leichte Zurechtweisung erhalten haben, und zwar ohne irgendeinen Affekt zum Ausdruck zu bringen oder ohne sonst etwas zu sprechen, als : »Ihr sollt nicht länger mehr eine Tochter haben.« Bei zivilisierten Völkern sind die Leidenschaften der Menschen gemeinhin nicht so wütend oder so verzweifelt. Sie sind oft mit mehr Klagen und Lärmen verbunden, aber sie stiften selten großen Schaden und sie scheinen häufig keine andere Genugtuung zu erstreben, als die, den Zuschauer von der Berechtigung ihrer Aufregung zu überzeugen, und seine Sympathie und Billigung zu gewinnen. Alle diese Wirkungen, welche Brauch und Mode auf die ethischen Gefühle des Menschen hervorbringen, sind indessen unbeträchtlich im Vergleich mit jenen, die sie in einigen anderen
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Fällen verursachen ; und nicht in bezug auf den allgemeinen Typus des Charakters und Betragens erzeugen jene Prinzipien die größte Umkehrung der Beurteilung, sondern in bezug auf die Frage nach der Schicklichkeit oder Unschicklichkeit bestimmter einzelner Gebräuche. Die verschiedenen Sitten, welche wir auf Grund von Gewohnheit und Brauch in den verschiedenen Berufen und Lebensständen zu billigen pflegen, betreffen keine Dinge von besonders großer Wichtigkeit. Wir erwarten Wahrheit und Gerechtigkeit von einem alten Manne ebenso wie von einem jungen, von einem Geistlichen ebenso wie von einem Offizier und nur in Angelegenheiten von geringerem Belange rechnen wir auf die unterscheidenden Kennzeichen ihres Standes. Aber auch in bezug auf diese findet sich oft ein unbeachteter Umstand, der uns, wenn wir auf ihn geachtet hätten, gezeigt haben würde, daß in dem Wesen, das wir auf Grund der Gewohnheit einem jeden Beruf zuzuteilen pflegen, an sich und unabhängig von Gewohnheit und Brauch eine gewisse sittliche Richtigkeit gelegen ist. Wir haben deshalb in diesem Falle kein Recht, darüber zu klagen, daß die Verderbtheit des natürlichen Gefühles sehr groß sei. Die Sitten verschiedener Völker verlangen zwar verschiedene Grade der gleichen Eigenschaft an demjenigen Charakter, den sie für achtungswert halten, doch ist das Ärgste, was man als Folge davon behaupten könnte, dies, daß hier die Pflichten der einen Tugend mitunter so ausgedehnt werden, daß sie ein wenig den Bereich irgendeiner anderen Tugend beeinträchtigen. Die ländliche Gastfreundschaft, die unter den Polen Mode ist, beeinträchtigt vielleicht ein wenig die Wirtschaftlichkeit und die häusliche Ordnung ; und die Sparsamkeit, die in Holland so geschätzt wird, beeinträchtigt vielleicht die Freigebigkeit und die Geselligkeit. Die Abhärtung der Gefühle, die die Wilden voneinander fordern, vermindert ihre Menschlichkeit und die zarte Empfindsamkeit, die bei zivilisierten Völkern vom einzelnen verlangt wird, zerstört vielleicht mitunter die männli-
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che Festigkeit des Charakters. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß die Art und Weise der Sitten, die bei irgendeinem Volk sich einbürgert, im großen ganzen derart ist, wie sie für seine Situation am besten paßt. Abhärtung der Gefühle ist derjenige Charakterzug, der den Verhältnissen eines Wilden am meisten angemessen ist ; Empfindsamkeit ist am passendsten für denjenigen, der in einer sehr hoch zivilisierten Gesellschaft lebt. Selbst hier hat man also kein Recht, darüber zu klagen, daß die ethischen Gefühle der Menschen sehr arg verderbt seien. Nicht in dem allgemeinen Typus des Verhaltens oder Betragens also begründen Gewohnheit und Brauch die weiteste Abweichung von dem, was die natürliche Schicklichkeit der Handlungen fordert. Mit Bezug auf bestimmte einzelne Gebräuche ist ihr Einfluß oft weit verderblicher für die guten Sitten, und er ist hier imstande, bestimmte Handlungen als erlaubt und untadelig festzusetzen, die den offenkundigsten Prinzipien von Recht und Unrecht widersprechen. Kann es z. B. eine größere Barbarei geben, als einem Kinde Schaden zuzufügen ? Seine Hilflosigkeit, seine Unschuld, seine Liebenswürdigkeit rufen doch sogar das Mitleid eines Feindes hervor, und dieses zartes Lebensalter nicht zu schonen, wird darum als die entsetzlichste Untat eines wütenden und grausamen Eroberers angesehen. Was sollten wir aber erst von dem Herzen eines Vaters halten, der sein schwaches Kind zu verderben fähig wäre, das selbst ein wütender Gegner zu verletzen sich scheut ? Und doch war die Aussetzung, das heißt der Mord neugeborener Kinder ein Brauch, der beinahe in allen Staaten Griechenlands erlaubt war, selbst unter den gebildeten und zivilisierten Athenern ; wann immer die Verhältnisse des Vaters es unbequem erscheinen ließen, ein Kind großzuziehen, da wurde es als eine Handlung angesehen, die von jedem Tadel und jeder Rüge frei war, wenn der Vater das Kind dem Hunger oder den wilden Tieren preisgab. Dieser Brauch hat wahrscheinlich in der Zeit der wildesten Bar-
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barei seinen Anfang genommen. Die Menschen sind mit diesem Brauch damals in der frühesten Periode des Gesellschaftslebens in ihren Gedanken zuerst vertraut geworden und die gleichförmige Übung desselben hat es verhindert, daß sie sich später der Ungeheuerlichkeit bewußt geworden wären, die in ihm lag. Wir finden bis auf den heutigen Tag, daß dieser Brauch bei allen wilden Völkern herrscht ; und auf dieser rohesten und niedrigsten Stufe der Gesellschaft ist er zweifellos verzeihlicher als auf irgendeiner anderen. Die Dürftigkeit eines Wilden ist oft so äußerst groß, daß er selbst häufig dem äußersten Hunger ausgesetzt ist, ja, daß viele dieser Wilden bloß aus Mangel an Nahrung sterben, und es ist hier dem einzelnen häufig unmöglich, sich und sein Kind zu erhalten. Wir können uns deshalb nicht darüber wundern, daß er in diesem Falle sein Kind dem Tode preisgibt. Ein Mensch, der auf der Flucht vor einem Feinde, dem er nicht Widerstand zu leisten vermag, sein kleines Kind von sich werfen würde, weil es ihn in seiner Flucht aufhält, würde sicherlich entschuldbar sein, da er ja bei dem Versuch, es zu retten, auf keinen andern Trost hätte hoffen dürfen als den, mit dem Kind zu sterben. Daß es darum auf dieser Stufe der Gesellschaft einem Vater erlaubt sein mochte, selbst zu entscheiden, ob er sein Kind aufziehen könne, das sollte uns nicht so sehr überraschen. In den späteren Zeiten Griechenlands jedoch wurde der gleiche Brauch aus einer Rücksicht auf ganz unbedeutende entfernte Interessen oder auch bloß aus Rücksicht auf die Bequemlichkeit zugelassen, Gründe, die ihn keineswegs entschuldigen konnten. Ein ununterbrochenes Herkommen hatte diese Übung zu jener Zeit so durchaus in ihrem Ansehen gefestigt, daß nicht nur die laxen Grundsätze der großen Masse dieses barbarische Vorrecht des Vaters hingehen ließen, sondern sogar die Lehren der Philosophen, die doch gerechter und gründlicher hätten sein sollen, sich durch das geltende Herkommen leiten ließen und bei dieser wie bei manchen anderen Gelegenheiten den fürchterlichen Mißbrauch durch weit hergeholte Betrach-
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tungen über das allgemeine Wohl stützten, anstatt ihn zu rügen. Aristoteles spricht davon als von einer Einrichtung, die die Behörde in vielen Fällen fördern sollte. Der menschenfreundliche Platon ist der gleichen Meinung, und bei aller Liebe zur Menschheit, die alle seine Schriften zu beseelen scheint, gibt er doch nirgends jenem Brauch seine Mißbilligung. Wenn Gewohnheit und Herkommen einer so fürchterlichen Verletzung der Menschlichkeit Ansehen und Geltung zu verleihen vermögen, dann dürfen wir wohl annehmen, daß kaum irgendein Brauch so roh sein könnte, daß sie ihm nicht Ansehen zu verschaffen vermöchten. Jeden Tag können wir die Menschen sagen hören : »das und das tut man ja allgemein«, und sie scheinen zu glauben, daß dies eine genügende Rechtfertigung für ein Verhalten sei, das an sich äußerst ungerecht und unvernünftig ist. Es gibt einen einleuchtenden Grund, warum Gewohnheit und Herkommen niemals unsere Empfindungen in bezug auf die allgemeine Art und Beschaffenheit unseres Verhaltens und Betragens im gleichen Grade in das Gegenteil verkehren können, wie unsere Empfindungen in bezug auf die Schicklichkeit oder Rechtswidrigkeit einzelner Gebräuche. Es kann niemals ein derartiges Herkommen geben. Keine Gesellschaft könnte auch nur einen Augenblick lang bestehen, in welcher die gewöhnliche Art und Weise des Verhaltens und des Betragens der Menschen auf einer Linie mit dem abscheulichen Brauch stünde, den ich eben jetzt erwähnt habe.
SECHSTER TEIL Wen nennen wir tugendhaft? (Bestehend aus drei Abschnitten)
einleitung
Wenn wir den Charakter irgendeines Individuums betrachten, dann sehen wir ihn natürlicherweise von zwei verschiedenen Gesichtspunkten an : wir fragen erstens, wie er auf die Glückseligkeit des betreffenden Individuums selbst und zweitens, wie er auf die Glückseligkeit der anderen einwirken mag.
ERSTER ABSCHNIT T
Über den Charakter des Individuums, insofern er auf dessen eigene Glückseligkeit einwirkt, oder über die Klugheit. Die Erhaltung und der gesunde Zustand des Körpers scheinen diejenigen Ziele zu sein, welche die Natur zunächst der Obsorge eines jeden Individuums empfohlen hat. Die Begierden des Hungers und des Durstes, die angenehmen oder unangenehmen Empfindungen von Lust und Unlust, von Hitze und Kälte usw. kann man als die Lektionen betrachten, die ihm durch die Stimme der Natur selbst erteilt werden und die ihm vorschreiben, was es zu diesem Zweck wählen und was es meiden soll. Die ersten Lektionen, die ihm von denjenigen beigebracht werden, denen seine Kindheit anvertraut ist, zielen, wenigstens in ihrer Mehrzahl, auf den gleichen Endzweck. Ihr Hauptziel ist, das Individuum zu lehren, wie es sich vor jeder Gefahr zu hüten habe. Sowie der Mensch aufwächst, lernt er bald, daß eine gewisse
Sechster Teil · Erster Abschnitt
Obsorge und Voraussicht notwendig ist, um ihm die Mittel zur Befriedigung dieser natürlichen Begierden zu verschaffen, um Lust zustande zu bringen und Unlust zu meiden, um die angenehmen Grade von Hitze und Kälte zustande zu bringen und die unangenehmen zu meiden. In der richtigen Leitung dieser Obsorge und dieser Voraussicht besteht die Kunst der Erhaltung und Vermehrung des sogenannten äußeren Wohlstandes. Obwohl sich die Vorteile der äußeren Glücksgüter uns ursprünglich nur darum als begehrenswert darstellen, weil sie den Bedürfnissen und den Bequemlichkeitsansprüchen des Körpers Abhilfe gewähren, so können wir doch nicht lange in der Welt leben, ohne dessen inne zu werden, daß die Achtung, die wir bei den uns Gleichgestellten genießen, daß unser Ansehen und unser Rang in der Gesellschaft, in der wir leben, sehr stark davon abhängt, wie viel wir von jenen Vorteilen besitzen, oder wie viel man wenigstens glaubt, daß wir von ihnen besitzen. Der Wunsch, uns dieser Achtung würdig zu machen, dieses Ansehen und diesen Rang unter Unseresgleichen zu verdienen und zu erlangen, das ist vielleicht der stärkste von allen unseren Wünschen ; unsere eifrige Sorge, die Vorteile des äußeren Wohlstandes zu erlangen, wird demgemäß weit mehr durch diesen Wunsch erregt und wachgerufen als durch den Wunsch, uns die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse und Bequemlichkeitsansprüche des Körpers zu verschaffen, denen doch immer sehr leicht abgeholfen werden kann. Der Rang und das Ansehen, die wir unter Unseresgleichen einnehmen, hängen aber auch sehr stark von jenen Umständen ab, von denen vielleicht ein tugendhafter Mann wünschen möchte, daß sie allein ausschlaggebend wären, nämlich von unserem Charakter und unserem Verhalten, oder von dem Vertrauen, der Achtung und dem Wohlwollen, welche diese naturgemäß bei den Leuten erwecken, mit denen wir umgehen. Die Sorge für die Gesundheit, für das Vermögen, für den Rang und den Ruf des Individuums, d. h. also für die Dinge, von wel-
Wen nennen wir tugendhaft ?
chen der allgemeinen Ansicht nach sein Wohlbefinden und seine Glückseligkeit in diesem Leben in erster Linie abhängen, wird als die eigentliche Obliegenheit derjenigen Tugend betrachtet, die man gemeinhin Klugheit nennt. Wir leiden, wie schon früher bemerkt wurde, mehr, wenn wir aus einer besseren in eine schlechtere Lebenslage herabsinken, als wir uns jemals freuen würden, wenn wir aus einer schlechteren in eine bessere aufsteigen. Darum ist Sicherheit das erste und hauptsächliche Ziel der Klugheit. Sie ist immer dagegen, daß wir unsere Gesundheit, unser Vermögen, unseren Rang oder unser Ansehen irgendeiner Art von Zufall oder Gefahr aussetzen. Sie ist eher behutsam als unternehmungslustig, sie ist eifriger darauf bedacht, uns die Vorteile zu erhalten, die wir bereits besitzen, als uns zum Erwerb neuer, noch größerer Vorteile anzuspornen. Die Wege, die sie uns in erster Linie empfiehlt, um unsere Lage zu verbessern, sind solche, die uns keinem Verlust oder Zufall aussetzen : wirkliches Wissen und Geschicklichkeit in unserem Gewerbe oder Beruf, Emsigkeit und Fleiß in dessen Ausübung, Sparsamkeit oder selbst eine gewisse Kargheit in allen unseren Ausgaben. Der Kluge wird sich immer auf das ernsthafteste und gründlichste bemühen, das wirklich zu verstehen, was er zu verstehen behauptet, und nicht nur anderen Leuten einzureden, daß er es verstehe ; und mögen seine Talente auch nicht immer sehr glänzend sein, so werden sie doch stets vollkommen echt sein. Er wird sich weder bestreben, euch durch die listigen Erfindungen eines kunstreichen Betrügers zu hintergehen, noch durch die dreiste Miene eines anmaßenden Pedanten, noch durch die zuversichtlichen, kecken Behauptungen eines oberflächlichen und unverschämten Frechlings. Er prahlt auch mit den Fähigkeiten nicht, die er wirklich besitzt. Seine Sprache ist einfach und bescheiden und er ist all den marktschreierischen Künsten abgeneigt, durch welche sich andere Leute so häufig in die öffentliche Beachtung
Sechster Teil · Erster Abschnitt
und Berühmtheit eindrängen. Was Berühmtheit in seinem Berufe anbelangt, so wird er geneigt sein, sich vor allem auf die Gründlichkeit seines Wissens und seiner Fähigkeiten zu verlassen, und wird nicht darauf bedacht sein, um die Gunst jener kleinen Klüngel und Cliquen zu buhlen, die sich so oft in den höheren Künsten und Wissenschaften zu obersten Richtern über das Verdienst aufwerfen, und deren Angehörige es sich zu ihrer Aufgabe machen, gegenseitig ihre Talente und Tugenden zu verherrlichen und alles in Verruf zu bringen, was immer mit ihnen in Wettbewerb treten mag. Wenn er sich jemals mit einer derartigen Gesellschaft verbindet, so geschieht es nur zur Selbstverteidigung und nicht in der Absicht, das Publikum zu betrügen, sondern um zu verhindern, daß es zu seinem eigenen Nachteil durch das Geschrei, das Geflüster oder die Intrigen, sei es eben dieser Gesellschaft oder irgendeiner andern von der gleichen Art, betrogen werde. Der Kluge ist immer aufrichtig und fühlt schon bei dem Gedanken, sich der Schande auszusetzen, welche die Entdeckung der Unwahrhaftigkeit begleitet, großen Abscheu. Aber obgleich er immer aufrichtig ist, ist er doch nicht immer freimütig und offenherzig ; und obgleich er niemals etwas anderes sagt als die Wahrheit, so hält er sich doch nicht immer für verpflichtet, wenn er nicht geradezu dazu aufgefordert wird, die ganze Wahrheit zu sagen. Wie er in seinen Handlungen behutsam ist, so ist er in seinen Reden zurückhaltend, und niemals wird er vorschnell seine Meinung, sei es über Sachen oder über Personen, anderen aufdrängen. Der Kluge ist zwar nicht immer durch die ausgesuchteste Empfindsamkeit ausgezeichnet, aber er wird immer für Freundschaft sehr empfänglich sein. Seine Freundschaft ist jedoch nicht jene glühende und leidenschaftliche, allzu oft aber vorübergehende Zuneigung, die der unerfahrenen Jugend in ihrem Idealismus so herrlich scheint. Es ist eine ruhige, aber beständige und treue Anhänglichkeit an ein paar wohlerprobte und erlesene Gefährten,
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in deren Wahl er sich nicht durch die leichtfertige Bewunderung glitzernder Talente, sondern durch die besonnene Wertschätzung von Bescheidenheit, Verschwiegenheit und gutem Verhalten leiten ließ. Obgleich aber für Freundschaft empfänglich, ist er nicht immer sehr geneigt zu allgemeiner Geselligkeit. Er besucht selten jene lustigen Gesellschaften, die sich durch die Fröhlichkeit und Heiterkeit ihrer Unterhaltung auszeichnen, und noch seltener spielt er in solchen Gesellschaften eine große Rolle. Ihre Lebensführung könnte nur allzu oft zu seiner genau geregelten Mäßigkeit in Widerspruch treten, könnte in seinen stets anhaltenden Fleiß eine Unterbrechung bringen oder seine strenge Sparsamkeit und Einfachkeit stören. Wenn seine Art zu reden auch nicht sehr lustig oder unterhaltend sein mag, so ist sie doch immer völlig arglos. Schon der Gedanke daran, sich irgend einer Keckheit oder Roheit schuldig zu machen, ist ihm verhaßt. Niemals benimmt er sich irgend jemandem gegenüber anmaßend oder unverschämt und ist im allgemeinen stets bereit, sich seinesgleichen eher unter- als überzuordnen. In seinem Verhalten und in seinen Reden beobachtet er genau den Anstand und beachtet mit einer fast religiösen Gewissenhaftigkeit all die Schicklichkeitsregeln und Förmlichkeiten, die in der Gesellschaft nun einmal festgesetzt sind. Und in dieser Hinsicht gibt er ein weit besseres Beispiel, als es oft von Männern mit weit glänzenderen Talenten und Tugenden gegeben wurde, die sich zu allen Zeiten, von der Zeit eines Sokrates und eines Aristipp bis auf die eines Dr. Swift und Voltaire herab und von der Zeit eines Philipp und eines Alexander des Großen bis zu jener des großen Zaren Peter von Rußland nur allzuoft im Leben und im Reden durch eine ganz unschickliche, ja sogar trotzige Verachtung aller geltenden Anstandsregeln ausgezeichnet und dadurch ein äußerst verderbliches Beispiel denjenigen gegeben haben, die ihnen zu ähneln wünschten und die sich nur allzuoft damit begnügt haben, ihre Torheiten nachzuahmen, ohne auch
Sechster Teil · Erster Abschnitt
nur den Versuch zu machen, auch ihre Vollkommenheiten zu erlangen. In der Standhaftigkeit seines Fleißes und seiner Sparsamkeit, in der Art, wie er beständig die Gemächlichkeit und den Genuß des gegenwärtigen Augenblicks für die Erwartung einer nur wahrscheinlich größeren Gemächlichkeit und eines größeren Genusses in einer ferneren, aber länger dauernden Zukunft aufopfert, darin wird der Kluge stets unterstützt und zugleich belohnt durch die volle Billigung des unparteiischen Zuschauers und durch die Billigung des Stellvertreters jenes unabhängigen Zuschauers, des inneren Menschen in seiner eigenen Brust. Der unparteiische Zuschauer fühlt sich keineswegs aufgerieben durch die Mühe und Arbeit, die diejenigen eben jetzt mitmachen, deren Verhalten er betrachtet ; er fühlt sich durchaus nicht aufgeregt durch die ungestümen Rufe der Begierden, die sie eben jetzt bewegen. Für ihn sind ihre jetzige Lage und das, was vermutlich ihre zukünftige Lage sein wird, beinahe ganz einerlei : er sieht beide nahezu aus der gleichen Entfernung, und beide berühren ihn darum nahezu in ganz gleicher Weise. Er weiß jedoch, daß sie für die zunächst Betroffenen bei weitem nicht einerlei sind und daß sie diese darum naturgemäß in ganz anderer Weise berühren. Er kann darum nicht umhin, jenen sittlich richtigen Aufwand von Selbstbeherrschung zu billigen, ja sogar zu preisen, der sie befähigt, so zu handeln, als ob sie ihre gegenwärtige und ihre zukünftige Lage fast ebenso gleichartig berührte, wie sie ihn, den unparteiischen Zuschauer, berührt. Derjenige, der im Verhältnis zu seinem Einkommen lebt, ist naturgemäß mit seiner Lage zufrieden, einer Lage, die durch beständige, wenn auch geringe Ersparnisse von Tag zu Tag besser wird. Es wird ihm möglich, nach und nach in der Strenge seiner Sparsamkeit und ebenso in dem Eifer seiner Anstrengungen nachzulassen ; und er fühlt mit doppelter Genugtuung dieses langsame Wachsen der Behaglichkeit und des Genusses, da er doch früher
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die Entbehrungen empfunden hatte, die mit ihrem Fehlen verbunden waren. Er ist nicht ängstlich darauf bedacht, eine so bequeme Situation zu verändern, und er wird keineswegs auf die Suche nach neuen Unternehmungen und Abenteuern gehen, welche die sichere Ruhe, die er augenblicklich genießt, nur gefährden, aber nicht wohl vermehren könnten. Wenn er sich auf neue Pläne oder Unternehmungen einläßt, dann müssen sie gewiß wohl bedacht und wohl vorbereitet sein. Er läßt sich niemals erst durch eine zwingende Notwendigkeit in sie hineinjagen, sondern er wird immer Zeit und Muße haben, um nüchtern und kühl zu überlegen, was wohl ihre Folgen sein dürften. Der Kluge wird nicht leicht dazu bereit sein, eine Verantwortung auf sich zu nehmen, die ihm nicht schon seine Pflicht auferlegt. Er ist kein Wichtigtuer in bezug auf Geschäfte, die ihn nichts angehen, er ist nicht derjenige, der sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischt, er ist nicht der erklärte Ratgeber aller Leute, der seinen Rat aufdrängt, wo kein Mensch nach ihm verlangt hat. Er beschränkt sich, soweit es seine Pflicht erlaubt, auf seine eigenen Angelegenheiten und findet keinen Geschmack an jenem törichten Vorgehen vieler Leute, die sich dadurch eine gewisse Wichtigkeit beizulegen suchen, daß sie den Anschein erwecken, als hätten sie irgendwelchen Einfluß auf die Führung von anderer Leute Angelegenheiten. Es ist ihm zuwider, sich in Parteistreitigkeiten einzulassen, er haßt Intrigen und Zwistigkeiten und wird nicht einmal sehr gerne bereit sein, selbst der Stimme des edlen und erhabenen Ehrgeizes Gehör zu schenken. Wenn er ausdrücklich dazu berufen werden sollte, wird er es nicht ablehnen, in den Dienst seines Landes zu treten, aber er wird nicht intrigieren, um sich in denselben einzudrängen, und er würde viel mehr Gefallen daran finden, daß die öffentlichen Geschäfte von irgendeinem andern gut verwaltet würden, als daß er selbst die Mühe und die Verantwortung übernehmen sollte, dieselben zu verwalten. Im Grunde seines Herzens würde er den ungestörten Genuß sorg-
Sechster Teil · Erster Abschnitt
loser Ruhe nicht nur dem eitlen Glanze erfolgreichen Ehrgeizes vorziehen, sondern auch dem echten und begründeten Ruhme, die größten und erhabensten Taten vollbracht zu haben. Kurz, Klugheit wird, wenn sie lediglich auf die Sorge um Gesundheit, Vermögen und um Rang und Ansehen des Individuums gerichtet ist, zwar als eine sehr achtenswerte und sogar – wenigstens bis zu einem gewissen Grade – als eine liebenswerte und angenehme Eigenschaft angesehen, sie wird aber doch niemals als eine jener Tugenden betrachtet, die einen Menschen ganz besonders wertvoll machen oder ihn aufs höchste adeln. Sie flößt uns eine gewisse kühle Achtung ein, aber sie scheint keineswegs den Anspruch auf eine besonders glühende Liebe oder Bewunderung zu gewähren. Ein weises und verständiges Verhalten wird, wenn es auf größere und edlere Zwecke gerichtet ist als auf die Sorge um die Gesundheit, das Vermögen, den Rang und das Ansehen des Individuums, häufig und sehr richtig auch Klugheit genannt. Wir sprechen von der Klugheit des großen Generals, des großen Staatsmannes, des großen Gesetzgebers. Die Klugheit ist in all diesen Fällen verbunden mit vielen größeren und glänzenderen Tugenden, mit Tapferkeit, mit ausgedehntem und starkem Wohlwollen, mit einer heiligen Scheu vor den Regeln der Gerechtigkeit, und all dies ist getragen von einem richtigen Maß von Selbstbeherrschung. Diese höhere Klugheit setzt, wenn sie zu dem höchsten Grade von Vollkommenheit getrieben wird, notwendig die Kunst, das Talent und die Gewohnheit oder Fähigkeit voraus, in allen möglichen Verhältnissen und Situationen mit der vollendetsten sittlichen Richtigkeit zu handeln. Sie setzt notwendig die äußerste Vervollkommnung aller intellektuellen und sittlichen Tugenden voraus. Sie ist der beste Kopf, vereint mit dem besten Herzen. Sie ist die vollkommenste Weisheit, verbunden mit der vollkommensten Tugend. Sie stellt fast völlig den Charakter des akademischen oder peripatetischen Weisen dar, ebenso wie auf der anderen Sei-
Wen nennen wir tugendhaft ?
te die niedrigere Klugheit das Wesen des epikureischen Weisen ausmacht. Bloße Unklugheit oder das bloße Fehlen der Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, erweckt bei edelmütigen und human gesinnten Menschen Mitleid ; bei weniger zartfühlenden Menschen wird sie Geringschätzung oder im schlimmsten Falle Verachtung, niemals aber Haß oder Unwillen hervorrufen. Wenn sie aber mit anderen Lastern vereinigt ist, dann verstärkt sie im höchsten Grade die Schande und den Schimpf, die diese Laster sonst zur Folge hätten. Der kunst- und listenreiche Schurke, dessen Geschicklichkeit und Gewandtheit ihn zwar nicht vor schwerem Verdacht, aber doch vor Bestrafung oder offener Entdeckung schützen, wird allzuoft in der Welt mit einer Nachsicht aufgenommen, die er keineswegs verdient. Gegen den linkischen und törichten dagegen, der aus Mangel an jener Geschicklichkeit und Gewandtheit seiner Verbrechen überwiesen und der Bestrafung zugeführt wird, richtet sich der allgemeine Haß, die Verachtung und der Spott der Menschen. In Ländern, in welchen häufig große Verbrechen straflos bleiben, werden die abscheulichsten Verbrechen dem Volke beinahe vertraut und hören auf, ihm jenes Grauen einzuflößen, welches ganz allgemein in Ländern empfunden wird, in welchen eine sorgfältige Rechtspflege stattfindet. Das Unrecht ist in beiden Arten von Ländern gleich groß, aber die Unklugheit, die darin zu liegen scheint, ist sehr verschieden. In den Ländern mit guter Rechtspflege sind große Verbrechen offenbar große Torheiten. In den anderen Ländern werden sie nicht immer als solche betrachtet. In Italien scheinen während des größten Teiles des sechzehnten Jahrhunderts Morde, Meuchelmorde und sogar Morde an Personen, denen man die Treue zugesagt hatte, unter den höheren Ständen der Bevölkerung beinahe etwas Alltägliches gewesen zu sein. Caesar Borgia lud vier von den Kleinfürsten, die in seiner Nachbarschaft kleine unabhängige Länder besaßen und von denen jeder seine eigene kleine Armee zur Verfügung hatte, zu
Sechster Teil · Erster Abschnitt
einer freundschaftlichen Konferenz nach Senigaglia ein, wo er sie alle sofort nach ihrer Ankunft tötete. Diese schändliche Untat, die zwar selbst in jenem Zeitalter der Verbrechen gewiß nicht gebilligt wurde, scheint doch sehr wenig zur Mißachtung, und nicht im mindesten zum Untergang desjenigen, der das Verbrechen verübte, beigetragen zu haben. Dieser Untergang trat erst einige Jahre später ein, und zwar aus Ursachen, die mit diesem Verbrechen in keinerlei Zusammenhang standen. Macchiavelli, allerdings selbst für seine Zeit kein Mann von besonders feinem sittlichem Empfinden, war Gesandter am Hofe Caesar Borgias als Minister der Republik von Florenz zur Zeit, als dieses Verbrechen begangen wurde. Er gibt einen ganz genauen Bericht davon, und zwar in jener klaren, eleganten und einfachen Sprache, welche alle seine Schriften auszeichnet. Er erzählt ganz kaltblütig davon ; es gefällt ihm die Geschicklichkeit, mit welcher Caesar Borgia das Verbrechen durchführte ; er ist voll Verachtung für die Dummheit und Schwachheit der Opfer ; aber er empfindet keinerlei Mitleid mit ihrem jammervollen und vorzeitigen Tode und keinerlei Unwillen über die Grausamkeit und Falschheit ihres Mörders. Die Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit großer Eroberer wird oft mit törichter Bewunderung betrachtet ; diejenige von kleinen Dieben, Räubern und Mördern wird in allen Fällen mit Verachtung, mit Haß und sogar mit Abscheu angesehen. Die Verbrechen der ersteren sind zwar hundertmal mehr unheilbringend und verderblich, aber wenn sie nur von Erfolg begleitet sind, werden sie dennoch oft als Taten höchst heldenmütiger Seelengröße angesehen. Die letzteren werden immer mit Haß und Verachtung betrachtet als Torheiten und Verbrechen der niedrigsten und unwürdigsten Menschen. Die Ungerechtigkeit der ersteren ist sicherlich mindestens so groß wie die der letzteren, aber die Torheit und Unklugheit, die darin liegen, sind bei weitem nicht so groß. Ein böser, nichtswürdiger Mensch, der aber gute Geistesgaben besitzt, geht oft mit weit mehr Ansehen durch die Welt, als er verdient. Ein
Wen nennen wir tugendhaft ?
böser, nichtswürdiger Narr erscheint stets als der hassenswerteste und zugleich als der verächtlichste von allen Sterblichen. Wie Klugheit im Verein mit anderen Tugenden den edelsten, so bildet Unklugheit, vereint mit anderen Lastern, den gemeinsten aller Charaktere. ZWEITER ABSCHNIT T
Über den Charakter des Individuums, insoweit er auf die Glückseligkeit anderer einwirken kann. einleitung Der Charakter eines jeden Individuums kann auf die Glückseligkeit der anderen nur durch seinen Hang, ihnen zu schaden oder ihnen wohlzutun, einwirken. Ein sittlich begründetes Vergeltungsgefühl wegen eines versuchten oder wirklich begangenen Unrechtes ist der einzige Beweggrund, der es in den Augen des unparteiischen Zuschauers rechtfertigen kann, wenn wir in irgendwelcher Hinsicht die Glückseligkeit unseres Nächsten schädigen oder stören. Wenn dies aus irgendeinem andern Beweggrund geschieht, so ist dieses Vorgehen selbst eine Verletzung der Gesetze der Gerechtigkeit, eine Tat, gegen welche Gewalt angewendet werden darf, um sie zu verhindern oder zu bestrafen. Die Weisheit eines jeden Staates oder Gemeinwesens strebt, so gut sie kann, die Gesellschaftsgewalt dazu zu verwenden, um diejenigen, welche ihrer Autorität unterworfen sind, davon zurückzuhalten, die Glückseligkeit der anderen zu verletzen oder zu stören. Die Regeln, welche der einzelne Staat oder das einzelne Land für diesen Zweck festsetzen, bilden sein bürgerliches und Strafgesetz. Die Grundsätze, auf welche sich diese Regeln gründen sollten, machen den Gegenstand einer besonderen Wissenschaft aus, die von allen Wissenschaften weitaus die wichtigste ist, die bisher jedoch vielleicht am wenig-
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Einleitung
sten gepflegt wurde, nämlich der Wissenschaft vom Naturrecht ; es gehört jedoch nicht zu unserem gegenwärtigen Thema, auf irgendwelche Einzelheiten in bezug auf diese Wissenschaft einzugehen. Eine heilige und strenge Scheu, die Glückseligkeit unseres Nächsten in irgendeiner Hinsicht zu verletzen oder zu stören, selbst in solchen Fällen nicht, in welchen kein Gesetz ihn eigentlich zu schützen vermag, kennzeichnet die Denkungsart des völlig schuldlosen und gerechten Menschen ; eine Denkungsart, die, wenn sie bis zu einer gewissen zartfühlenden Achtsamkeit gesteigert ist, immer um ihrer selbst willen höchst achtbar und sogar verebrungswürdig erscheint, und der es kaum jemals daran fehlen wird, daß sie nicht von vielen anderen Tugenden begleitet wäre : von einem starken Empfinden für andere Menschen, von tiefer Menschlichkeit und großem Wohlwollen. Es ist dies eine Denkungsart, die an sich genügend bekannt ist und keiner weiteren Erörterung bedarf. Im vorliegenden Abschnitt werde ich mich nur bemühen, die Grundlage jener Ordnung darzustellen, welche die Natur für die Verteilung unserer guten Dienste oder für die Lenkung und Verwendung unserer beschränkten Macht, Gutes zu tun, uns vorgezeichnet hat, und zwar erstens gegenüber einzelnen und zweitens gegenüber Gesellschaften. Man wird finden, daß die gleiche, niemals irrende Weisheit, die das Verhalten der Natur in jeder anderen Richtung regelt, auch in dieser Beziehung die Rangordnung bestimmt, in der die Natur gewisse Personen unserer Obsorge empfiehlt, und zwar stärker oder schwächer empfiehlt, je nachdem ob unsere Wohltätigkeit mehr oder weniger notwendig ist oder mehr oder weniger nützlich sein kann.
Wen nennen wir tugendhaft ?
erstes kapitel Über die Rangordnung, in welcher die Individuen von der Natur unserer Obsorge und Aufmerksamkeit empfohlen wurden. Jeder Mensch ist, wie die Stoiker zu sagen pflegten, in erster Linie und hauptsächlich seiner eigenen Obsorge empfohlen ; und sicherlich ist jeder Mensch in jeder Beziehung geschickter und geeigneter, für sich selbst zu sorgen als für irgendeinen anderen. Jedermann fühlt seine eigene Lust und seine eigene Unlust viel lebhafter als die eines anderen. Die ersteren sind ursprüngliche Empfindungen, die letzteren sind reflektierte oder sympathetische Bilder jener Empfindungen. Die ersteren sind, wie man sagen konnte, das wirkliche Ding, die letzteren sein Schatten. Die Mitglieder seiner eigenen Familie, diejenigen, die gewöhnlich mit ihm im gleichen Hause leben, seine Eltern, seine Kinder, seine Geschwister, das sind, zunächst nach seiner eigenen Person, diejenigen Menschen, auf die sich seine wärmste Zuneigung richtet. Sie sind naturgemäß und in der Regel zugleich diejenigen Personen, auf deren Glück oder Elend sein Verhalten den größten Einfluß haben muß. Er ist mehr gewohnt, mit ihnen zu sympathisieren. Er weiß besser, wie ein jedes Ding auf sie einwirken dürfte, und seine Sympathie ihnen gegenüber ist bestimmter und entschiedener, als sie gegenüber den meisten anderen Menschen zu sein vermag. Sie nähert sich, kurz gesagt, mehr demjenigen Gefühl, daß er für sich selbst empfindet. Auch diese Sympathie und die Gefühle, die sich auf sie gründen, haben von der Natur eine stärkere Richtung auf seine Kinder als auf seine Eltern empfangen und seine Zärtlichkeit für die ersteren scheint im allgemeinen ein mehr zum Handeln treibendes Prinzip als seine Verehrung und Dankbarkeit gegenüber den letzteren. Im natürlichen Lauf der Dinge hängt, wie bereits bemerkt wurde, die Existenz des Kindes während einer gewissen Zeit,
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
nachdem es zur Welt gekommen ist, ganz und gar von der Obsorge der Eltern ab ; die Existenz der Eltern dagegen hängt nicht von Natur aus von der Obsorge des Kindes ab. In den Augen der Natur ist also ein Kind, wie es scheinen möchte, wichtiger als ein alter Mann ; es erweckt eine weit lebhaftere und auch weit allgemeinere Sympathie. Und es soll dem so sein. Alles kann von dem Kinde erwartet oder doch erhofft werden. Sehr wenig aber kann in der Regel von einem alten Manne noch erwartet oder erhofft werden. Die Schwäche der Kindheit rührt sogar das Gefühl des Rohesten und Hartherzigsten. Aber nur bei tugendhaften und human gesinnten Menschen erweckt die Gebrechlichkeit des Alters nicht Verachtung und Abneigung. Wenn ein alter Mann stirbt, wird dies in der Regel von niemandem sehr bedauert. Kaum ein Kind aber könnte sterben, ohne irgend jemand das Herz zu brechen. Die frühesten Freundschaften, die Freundschaften, die naturgemäß in einem Lebensalter geschlossen werden, in dem das Herz für diese Empfindung am empfänglichsten ist, sind die zwischen Geschwistern. Das gute Einvernehmen zwischen ihnen ist, solange sie in der gleichen Familie bleiben, für ihre Ruhe und ihre Glückseligkeit notwendig. Sie sind imstande, einander mehr Freude, aber auch mehr Schmerz zu bereiten, als sie den meisten anderen Menschen zufügen könnten. Ihre Lage bewirkt es, daß ihre wechselseitige Sympathie für ihr gemeinsames Glück äußerst wichtig ist, und infolge der Weisheit der Natur läßt dieselbe Lage, indem sie sie zwingt, sich einander anzupassen, diese Sympathie zugleich mehr gewohnheitsmäßig und dadurch auch lebhafter, bestimmter und entschiedener werden. Die Kinder von Geschwistern sind naturgemäß miteinander durch die Freundschaft verbunden, die zwischen ihren Eltern weiter besteht, auch nachdem diese sich in verschiedene Familien getrennt haben. Ihr gutes Einvernehmen verstärkt das Bestehen dieser Freundschaft, ihre Uneinigkeit würde sie zerstören. Da sie jedoch selten in der gleichen Familie leben, sind sie für einan-
Wen nennen wir tugendhaft ?
der zwar immer noch wichtiger als für die Mehrzahl der anderen Menschen, aber doch weit weniger wichtig als es Geschwister für einander sind. Da ihre wechselseitige Sympathie weniger notwendig ist, ist sie auch weniger gewohnheitsmäßig eingewurzelt und deshalb verhältnismäßig schwächer. Die Kinder von Geschwisterkindern sind noch weniger eng miteinander verbunden und sind deshalb für einander noch weniger wichtig ; und die Zuneigung vermindert sich gradweise in dem gleichen Verhältnis, als die Verwandtschaftsbeziehungen mehr und mehr entferntere werden. Was man Zuneigung nennt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eingewurzelte, gewohnheitsmäßige Sympathie. Unsere Anteilnahme an dem Glück oder dem Elend derjenigen, die für uns Gegenstand jener Gefühle sind, die wir Zuneigung nennen, unser Wunsch, jenes Glück zu befördern und jenes Elend zu verhindern, stellen entweder selbst die augenblickliche Empfindung jener eingewurzelten Sympathie oder doch die notwendigen Folgen jener Empfindung dar. Da Verwandte gewöhnlich sich in solchen Situationen befinden, die von Natur aus diese gewohnheitsmäßige Sympathie erzeugen, erwartet man, daß eine angemessene Zuneigung zwischen ihnen auftreten werde. Im allgemeinen finden wir, daß sie tatsächlich vorhanden ist, wir erwarten deshalb naturgemäß ihr Eintreten und es ist uns aus diesem Grunde um so anstößiger, wenn wir in irgendeinem Falle finden, daß dies nicht zutrifft. Es gilt als allgemeine Regel, daß Personen die miteinander in einem gewissen Grade verwandt sind, immer in bestimmter Weise gegeneinander gesinnt sein sollen, und es liegt immer die höchste Unschicklichkeit und mitunter sogar eine Art Pflichtvergessenheit darin, wenn sie anders gegeneinander gesinnt sind. Ein Vater, der aller väterlichen Zärtlichkeit bar ist, ein Kind, das ohne alle kindliche Ehrfurcht ist, erscheinen uns als Ungeheuer, und diese pflegen nicht nur unseren Haß, sondern unser Entsetzen hervorzurufen.
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
Wenn auch in einem besonderen Falle die Umstände, welche gewöhnlich jene sogenannte natürliche Zuneigung erzeugen, infolge irgendeines Ereignisses nicht eingetreten sind, so wird doch häufig die Rücksicht auf die allgemeine Regel bis zu einem gewissen Grade deren Stelle vertreten und ein Gefühl hervorbringen, das zwar mit jener Zuneigung nicht völlig einerlei ist, aber doch eine sehr beträchtliche Ähnlichkeit mit dieser besitzen kann. Es ist leicht möglich, daß ein Vater einem Kinde weniger zugetan ist, das infolge irgendeines Zufalls in seiner Kindheit von ihm getrennt wurde und nicht früher zu ihm zurückkehrte, als bis es zum Mann herangewachsen war. Der Vater wird sehr leicht weniger väterliche Zärtlichkeit für das Kind empfinden, das Kind weniger kindliche Verehrung für den Vater. Geschwister pflegen, wenn sie in entfernten Ländern erzogen wurden, sehr leicht eine ähnliche Herabsetzung ihrer gegenseitigen Zuneigung zu erfahren. In einem pflichtbewußten und tugendhaften Menschen wird indessen die Achtung vor der allgemeinen Regel häufig ein Gefühl hervorbringen, das zwar keineswegs mit jener natürlichen Zuneigung identisch sein, ihm aber doch sehr stark ähneln wird. Selbst während der Trennung sind Vater und Kind, Brüder und Schwestern einander keineswegs gleichgültig. Sie alle betrachten einander gegenseitig als Personen, zwischen denen gewisse Gesinnungen herrschen sollen, und sie leben alle in der Hoffnung, daß sie früher oder später in die Lage kommen werden, jener Freundschaft sich zu erfreuen, welche zwischen Menschen, die so eng miteinander verbunden sind, naturgemäß hätte eintreten sollen. Bis sie einander begegnen, ist der abwesende Sohn, der abwesende Bruder häufig gerade der Lieblingssohn, der Lieblingsbruder. Sie haben einander nie beleidigt, oder, wenn sie es getan haben, ist es so lange her, daß die Beleidigungen vergessen sind, als kindische Possen, die nicht der Mühe wert sind, daß man an sie denke. Alle Berichte, die sie voneinander erhalten haben, sind, wenn sie nur von leidlich gutmütigen Leuten überbracht worden sind,
Wen nennen wir tugendhaft ?
im höchsten Grade schmeichelhaft und günstig gewesen. Der abwesende Sohn, der abwesende Bruder sind nicht wie andere gewöhnliche Söhne oder Brüder, sondern es ist ein ganz vollkommener Sohn, ein ganz vollkommener Bruder und man unterhält die romantischesten Hoffnungen in bezug auf das Glück, dessen man sich in der Freundschaft und der Unterhaltung mit solchen Menschen erfreuen wird. Wenn sie dann einander begegnen, geschieht dies oft mit einem so starken Hang, jene gewöhnliche Sympathie zu empfinden, welche eben die Zuneigung zwischen Familienangehörigen bildet, daß sie sich sehr leicht einbilden, wirklich jene Sympathie empfunden zu haben, und daß sie sich gegeneinander so benehmen, als ob sie sie wirklich besäßen. Zeit und Erfahrung werden sie, wie ich fürchte, indessen allzu oft aus ihrem Traume herausreißen. Bei intimerer Bekanntschaft werden sie häufig aneinander Charaktergewohnheiten, Launen und Neigungen entdecken, die von dem abweichen, was sie erwartet hatten, und in die sie sich nun nicht leicht schicken können, da es ihnen eben an eingewurzelter Sympathie, und daher an dem wahren Prinzip und der richtigen Grundlage desjenigen fehlt, was man im eigentlichen Sinne Familienzuneigung nennt. Sie haben niemals in jener Situation gelebt, die fast mit Notwendigkeit jene gegenseitige Nachgiebigkeit und Anpassungsfähigkeit herbeiführt, und obgleich sie nun vielleicht den aufrichtigen Wunsch empfinden, sich dieselbe anzueignen, so sind sie doch in Wirklichkeit dazu unfähig geworden. Die intime Unterhaltung und der wechselseitige Verkehr wird ihnen bald weniger angenehm und wird aus diesem Grunde auch weniger häufig. Sie mögen vielleicht weiter leidlich gut miteinander leben, sich gegenseitig alle notwendigen guten Dienste erweisen und auch sonst äußerlich den Anschein einer geziemenden Rücksichtnahme aufeinander darbieten. Aber daß sie sich so ganz jener herzlichen Genugtung, jener köstlichen Sympathie, jener vertrauensvollen Offenheit und Ungezwungenheit erfreuen könnten, die sonst naturgemäß in
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
dem Verkehr derjenigen sich einstellt, die lange und intim miteinander gelebt haben, das wird doch selten vorkommen. Jedoch selbst dieses geringe Ansehen genießt die allgemeine Regel nur bei den pflichtbewußten und tugendhaften Menschen. Von den liederlichen, lasterhaften und eitlen Menschen wird sie durchaus außer acht gelassen. Sie sind so weit davon entfernt, auf sie zu achten, daß sie selten anders von ihr sprechen, als mit dem ungebührlichsten Spott ; eine frühe und lange dauernde Trennung jener Art wird niemals verfehlen, derartige Menschen einander völlig zu entfremden. Bei solchen Menschen kann die Achtung vor der allgemeinen Regel im besten Falle bloß eine kühle und geheuchelte Höflichkeit hervorbringen – ein Verhalten, das nur eine ganz schwache Ähnlichkeit mit wirklicher Rücksichtnahme zeigt – und selbst dieser setzt die leichteste Beleidigung, der geringste Interessengegensatz gewöhnlich ganz ein Ende. Die Erziehung der Knaben an entfernten großen Schulen, der jungen Leute an entfernten Universitäten (Colleges), der jungen Mädchen in entfernten Nonnenklöstern und Pensionaten scheint sowohl in Frankreich als in England in den höheren Gesellschaftsständen die häuslichen Sitten und infolgedessen das häusliche Glück ganz bedeutend geschädigt zu haben. Wünscht ihr eure Kinder dazu zu erziehen, daß sie pflichtbewußt gegenüber ihren Eltern, freundlich und liebevoll gegenüber ihren Geschwistern sind ? Dann bringt sie in jene Lage, die sie nötigt, pflichtbewußte Kinder, freundliche und liebevolle Geschwister zu sein : erziehet sie in eurem eigenen Hause ! Aus ihrem väterlichen Hause mögen sie schicklicherweise und zu ihrem Vorteile jeden Tag zur Schule gehen, um dem öffentlichen Unterrichte beizuwohnen. Aber lasset ihre Wohnung stets zu Hause sein ! Die Rücksicht auf euch muß immer ihrem Verhalten gewisse sehr heilsame Schranken auferlegen, und es kann sein, daß mitunter die Rücksicht auf sie auch euch in eurem eigenen Verhalten eine gewisse, durchaus nicht nutzlose Zurückhaltung vorschreiben wird. Sicherlich
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können alle Kenntnisse, die möglicherweise aus der sogenannten öffentlichen Erziehung gewonnen werden können, keinerlei Ersatz für dasjenige bieten, was beinahe sicher und notwendig durch sie verloren wird. Häusliche Erziehung ist die Einrichtung der Natur ; öffentliche Erziehung die Erfindung von Menschen. Es ist sicher nicht notwendig, erst zu sagen, welche von beiden Erziehungsarten wohl die weisere sein wird. In einigen Trauerspielen und Romanen begegnen wir manchen schönen und unsere Anteilnahme erweckenden Szenen, die sich auf dasjenige gründen, was man die Stimme des Blutes nennt, oder auf jene wunderbare Zuneigung, die, wie man glaubt, nahe Verwandte für einander empfinden, selbst ehe sie wissen, daß eine solche Verbindung zwischen ihnen besteht. Diese Stimme des Blutes existiert indessen, wie ich fürchte, nirgends als in Trauerspielen und Romanen. Selbst in Trauerspielen und Romanen nimmt man niemals an, daß die Stimme des Blutes zwischen irgendwelchen anderen Verwandten bestehe als jenen, die natürlicherweise in demselben Hause aufgewachsen sind, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Brüdern und Schwestern. Eine solche geheimnisvolle Zuneigung zwischen Geschwisterkindern oder sogar zwischen Tanten oder Onkeln und Neffen oder Nichten sich auszudenken, wäre doch gar zu lächerlich. Bei Hirtenvölkern und in allen Ländern, wo die Autorität des Gesetzes allein nicht ausreichend ist, um jedem Mitglied des Staates volle Sicherheit zu gewähren, ziehen es alle die verschiedenen Zweige der gleichen Familie gemeinhin vor, in engster Nachbarschaft von einander zu leben. Es ist oft um ihrer gemeinsamen Verteidigung willen notwendig, daß sie zusammen bleiben. Sie alle, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, sind für einander mehr oder weniger wichtig. Ihre Eintracht stärkt ihre notwendige Vereinigung, ihre Zwietracht schwächt sie stets und kann sie sogar zerstören. Sie haben untereinander mehr Verkehr als mit den Mitgliedern irgendeines anderen Stammes. Die entferntesten Glieder
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
desselben Stammes erheben Anspruch auf eine gewisse Verbindung untereinander und erwarten – wo alle sonstigen Umstände gleich sind – mit mehr Auszeichnung und Aufmerksamkeit behandelt zu werden, als sie denjenigen gebührt, die keine solchen Ansprüche besitzen. Es ist noch nicht viele Jahre her, daß in den Hochländern von Schottland das Stammesoberhaupt den ärmsten Mann seines Clans als seinen Vetter und Verwandten zu betrachten pflegte. Dieselbe ausgedehnte Rücksicht auf die Verwandtschaft soll unter den Tataren, den Arabern und den Turkmenen herrschen und dürfte sich, wie ich glaube, bei allen Völkern finden, welche ungefähr auf der gleichen Stufe der Gesellschaftsentwicklung stehen, auf welcher sich die schottischen Hochländer um den Beginn des jetzigen Jahrhunderts befanden. In handeltreibenden Ländern, wo die Autorität des Gesetzes immer vollkommen ausreichend ist, um auch den Geringsten im Staate zu beschützen, pflegen die Abkömmlinge der gleichen Familie, da sie keinen derartigen Beweggrund zum Zusammenhalten haben, naturgemäß sich zu trennen und zu zerstreuen, wie eigener Vorteil oder Neigung sie eben bestimmen mögen. Sie hören bald auf, für einander irgendwelche Bedeutung zu haben, und in wenigen Generationen ist es nicht nur mit jeder wechselseitigen Fürsorge dieser Abkömmlinge zu Ende, sondern sie verlieren auch jede Erinnerung an ihre gemeinsame Abstammung und an die Verbindung, die zwischen ihren Ahnen bestanden hatte. Die Rücksicht auf entfernte Verwandte wird in jedem Lande immer geringer, je länger und vollständiger der Zustand der Zivilisation eingetreten ist. Er ist in England länger und vollständiger verwirklicht als in Schottland, und entfernte Verwandte werden dementsprechend in dem letzteren Lande mehr geachtet als in dem ersteren, obwohl der Unterschied zwischen den zwei Ländern in dieser Beziehung Tag für Tag geringer wird. Hohe Adelige sind freilich in jedem Lande stolz darauf, ihre Verbindung untereinander, und wenn sie auch noch so entfernter Art ist, sich
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in Erinnerung zu bringen und anzuerkennen. Die Erinnerung an so erlauchte Verwandte schmeichelt dem Familienstolz aller dieser Menschen nicht wenig ; und es beruht nicht auf Zuneigung oder auf irgendeinem Gefühl, das einer Zuneigung auch nur ähnlich wäre, sondern vielmehr auf der nichtigsten und kindischesten Eitelkeit, daß diese Erinnerung so sorgfältig aufbewahrt wird. Sollte irgendein niedriger stehender, obzwar vielleicht weit näherer Verwandter sich erkühnen, so hohe Herren an seine Verwandtschaft mit ihrer Familie zu erinnern, dann würden sie selten ermangeln, ihm zu erzählen, daß sie schlechte Genealogen und daß sie äußerst mangelhaft über ihre eigene Familiengeschichte unterrichtet seien. Ich fürchte also, in dieser Klasse dürfen wir keine außergewöhnlich starke Ausbreitung jenes Gefühles erwarten, das man als natürliche Zuneigung bezeichnet. Ich betrachte die sogenannte natürliche Zuneigung eher als die Wirkung der geistigen, denn als die der physischen Verbindung, welche man zwischen Eltern und Kindern voraussetzt. Es kann freilich vorkommen, daß ein eifersüchtiger Ehemann das unglückliche Kind, daß er für die Frucht eines Ehebruches seiner untreuen Frau hält, mit Haß und Abneigung betrachtet, trotzdem hier jene geistige Verbindung vorhanden ist und das Kind in seinem eigenen Hause erzogen wurde. Es ist eben das bleibende Denkmal eines äußerst unangenehmen Abenteuers, das Denkmal seiner eigenen Unehre und der Schande seiner Familie. Unter wohlgearteten Leuten erzeugt die Notwendigkeit oder Bequemlichkeit gegenseitiger Anpassung sehr häufig eine Freundschaft, die derjenigen nicht unähnlich ist, die zwischen Menschen eintritt, die von Geburt an in der gleichen Familie leben. Kollegen im Amt, Partner im Geschäft nennen einander Brüder und fühlen häufig so für einander, als ob sie es wirklich wären. Ihr gutes Einvernehmen ist für alle ein Vorteil, und wenn sie nur leidlich vernünftige Leute sind, so werden sie von Natur aus geneigt sein, sich zu vertragen. Wir erwarten, daß dies der Fall sein wird, und
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
ihre Uneinigkeit bildet eine Art kleinen Skandals. Die Römer bezeichneten diese Art von gegenseitiger Anhänglichkeit durch das Wort »necessitudo«, welches seiner Etymologie nach anzudeuten scheint, daß diese Anhänglichkeit durch die Notwendigkeit, die in der Situation liegt, dem Menschen auferlegt sei. Selbst der lächerlich unbedeutende Umstand, daß man in der Nachbarschaft voneinander lebt, hat einen gewissen Einfluß derselben Art. Wir schätzen das Gesicht eines Menschen, den wir jeden Tag sehen, vorausgesetzt, daß er uns niemals beleidigt hat. Nachbarn können einander sehr förderlich sein, und sie können einander sehr zur Last fallen. Wenn sie gutartige Leute sind, werden sie natürlich geneigt sein, sich zu vertragen. Wir erwarten ein gutes Einvernehmen zwischen ihnen, und ein schlechter Nachbar zu sein, ist das Zeichen eines sehr schlechten Charakters. Es gibt demgemäß auch gewisse Gefälligkeiten, die, wie man allgemein anerkennt, einem Nachbarn eher gebühren als irgendeinem anderen, der in keiner derartigen Verbindung zu uns steht. Dieser unser natürlicher Hang, unsere eigenen Empfindungen, Prinzipien und Gefühle, so sehr wir können, denjenigen anzupassen und anzuähneln, welche, wie wir sehen, gerade den Menschen, mit denen wir leben und viel verkehren müssen, fest eingewurzelt sind, dieser Hang ist die Ursache der ansteckenden Wirkung guter und schlechter Gesellschaft. Ein Mensch, der hauptsächlich zu weisen und tugendhaften Menschen in gesellschaftliche Beziehungen tritt, wird zwar dadurch vielleicht weder weise noch tugendhaft werden, aber er wird doch nicht umhin können, wenigstens eine gewisse Achtung vor Weisheit und Tugend zu erwerben ; und ein Mensch, der hauptsächlich mit liederlichen und ausschweifenden Menschen gesellschaftlich verkehrt, wird zwar selbst vielleicht weder liederlich noch ausschweifend werden, aber er wird zumindest bald all den Abscheu vor Liederlichkeit und ausschweifenden Sitten verlieren müssen, der ihm ursprünglich zu eigen war. Die Ähnlichkeit des Familiencharak-
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ters, die wir so häufig durch eine ganze Reihe von Generationen fortgepflanzt sehen können, mag vielleicht auf diesen Hang, uns denjenigen anzupassen, mit denen wir leben und viel verkehren müssen, teilweise zurückzuführen sein. Indessen scheint der Familiencharakter wie die Familienähnlichheit der Gesichtsbildung nicht durchaus von der geistigen, sondern teilweise auch von der physischen Verbindung herzurühren. Die Familienähnlichkeit im Gesichtsausdruck ist sicherlich ganz und gar auf die letztere Verbindung zurückzuführen. Von allen Arten freundschaftlicher Anhänglichkeit gegenüber einem einzelnen ist jedoch diejenige, welche sich ganz und gar auf die Achtung und Billigung seines guten Verhaltens und Benehmens gründet, auf eine Achtung, die durch reiche Erfahrung und lange Bekanntschaft verstärkt worden ist, weitaus die ehrenvollste. Solche Freundschaften, die nicht aus einer gezwungenen Sympathie entspringen, nicht aus einer Sympathie, die man aus Gründen der Bequemlichkeit und der Anpassung angenommen und sich zur Gewohnheit gemacht hat, sondern aus einer natürlichen Sympathie, aus einem unwillkürlichen Gefühl davon, daß die Personen, an die wir uns anschließen, durchaus unserer Achtung und Billigung wert sind, solche Freundschaften können nur unter tugendhaften Menschen bestehen. Nur tugendhafte Menschen können gegenseitig jenes völlige Vertrauen in das Verhalten und Benehmen des anderen empfinden, welches ihnen allezeit die Versicherung zu geben vermag, daß sie niemals den anderen beleidigen, noch von ihm beleidigt werden können. Das Laster ist immer launenhaft, die Tugend allein hält sich an Regel und Ordnung. Wie jene Anhänglichkeit, die sich auf die Liebe zur Tugend gründet, sicherlich die tugendhafteste von allen Freundschaften ist, so ist sie ebenso die glücklichste und zugleich die beständigste und sicherste. Solche Freundschaften müssen nicht auf eine einzelne Person beschränkt werden, sondern sie können, ohne dadurch beeinträchtigt zu werden, alle die weisen und tugendhaf-
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ten Menschen umfassen, mit denen wir lange und innig bekannt gewesen sind und auf deren Weisheit und Tugend wir uns aus diesem Grunde durchaus verlassen dürfen. Diejenigen, die die Freundschaft auf zwei Personen beschränken wollten, scheinen die weise Seelenruhe der Freundschaft mit der Eifersucht und Torheit der Liebe zu verwechseln. Die übereilten, verliebten und törichten Jugendfreundschaften junger Leute, die sich gewöhnlich auf eine unbedeutende Charakterähnlichkeit gründen, welche mit dem sittlichen Verhalten der Betreffenden in keinem Zusammenhang steht, vielleicht auf eine Vorliebe für die gleichen Studien, die gleichen Unterhaltungen, die gleichen Zerstreuungen oder auf ihre Übereinstimmung in irgendeinem einzelnen Prinzip oder einer besonderen Meinung, die nicht allgemein anerkannt sind, jene Jugendfreundschaften, die eine Laune ins Leben ruft und denen eine Laune ein Ende setzt – so liebenswürdig sie auch erscheinen mögen, solange sie dauern – können doch keineswegs den heiligen und ehrwürdigen Namen der Freundschaft verdienen. Unter allen Menschen jedoch, welche die Natur zum Gegenstand unserer besonderen Wohltätigkeit bestimmt hat, gibt es keine, denen diese mit größerem Recht zugewendet werden könnte, als diejenigen, deren Wohltätigkeit wir selbst bereits erfahren haben. Die Natur, welche den Menschen jene Güte gegenüber Seinesgleichen eingepflanzt hat, die für die Glückseligkeit der Menschen so notwendig ist, bewirkt es, daß jedermann von demjenigen, dem er selbst Güte erwiesen hat, wiederum Güte empfängt. Sollte aber auch die Dankbarkeit des anderen nicht immer dem Maße seiner Wohltätigkeit entsprechen, so wird doch das Bewußtsein von seinem Verdienst, die sympathetische Dankbarkeit des unparteiischen Zuschauers demselben immer angemessen sein. Der allgemeine Unwille anderer Leute gegen die Niedrigkeit einer solchen Undankbarkeit wird sogar mitunter das allgemeine Gefühl von seinem Verdienst noch verstärken. Kein wohlwollender
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Mann ist jemals ganz und gar um die Früchte seines Wohlwollens gekommen. Wenn er sie auch nicht immer von denjenigen erntet, von denen er sie hätte ernten sollen, so wird es doch selten daran fehlen, daß er sie nicht zehnmal mehr von anderen ernten würde. Güte ist die Mutter von Güte ; und wenn es das höchste Ziel unseres Ehrgeizes ist, von unseren Brüdern geliebt zu werden, so ist der sicherste Weg, um dies zu erreichen, der, ihnen durch unser Verhalten zu zeigen, daß wir sie wirklich lieben. Nach den Menschen, die sich unserer Wohltätigkeit durch die verwandtschaftlichen Beziehungen, in denen sie zu uns stehen, oder durch ihre persönlichen Eigenschaften oder durch ihre früheren Dienstleistungen empfehlen, kommen diejenigen, die zwar nicht auf das, was man Freundschaft nennt, Anspruch haben, wohl aber auf unsere wohlwollende Aufmerksamkeit und guten Dienste ; diejenigen, die sich durch ihre außergewöhnliche Lage auszeichnen, die sehr Glücklichen und die sehr Unglücklichen, die Reichen und Mächtigen und die Armen und Elenden. Die Rangeinteilung, der Friede und die Ordnung der Gesellschaft beruhen zum großen Teile auf der Achtung, die wir naturgemäß für die ersteren empfinden. Die Linderung und Tröstung menschlichen Elends hängt ganz und gar von unserem Mitleid mit den letzteren ab. Der Friede und die Ordnung der Gesellschaft ist aber von größerer Wichtigkeit als selbst die Unterstützung der Unglücklichen. Darum kann unsere Achtung für die Großen am leichtesten durch ihr Übermaß Anstoß erregen, unser Mitgefühl für die Unglücklichen am leichtesten durch seine allzu geringe Stärke. Moralisten ermahnen uns zur Mildtätigkeit und zum Mitleid. Sie warnen uns vor dem Blendwerk der Größe. Dieses Blendwerk ist freilich so mächtig, daß die Reichen und Großen allzuoft den Weisen und Tugendhaften vorgezogen werden. Weise hat die Natur erkannt, daß die Rangeinteilung, der Friede und die Ordnung der Gesellschaft sicherer auf dem klaren und handgreiflichen Unterschied der Geburt und des Vermögens als auf dem
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
unsichtbaren und oft unsicheren Unterschied der Weisheit und Tugend ruhen würden. Die nichts unterscheidenden Augen der großen Masse der Menschen vermögen den ersteren gut genug wahrzunehmen ; aber selbst das feine Unterscheidungsvermögen der Weisen und Tugendhaften vermag mitunter nur mit Schwierigkeiten den letzteren zu erkennen. In der Ordnung all dieser Bevorzugungen ist die wohlwollende Weisheit der Natur gleich offenkundig. Es mag vielleicht unnötig sein zu bemerken, daß die Verbindung von zwei oder mehreren dieser Erregungsursachen von Güte, die Güte vermehrt. Die Gunst und Parteilichkeit, welche wir – soferne kein Neid mit im Spiele ist – naturgemäß der Größe entgegenbringen, wird sehr verstärkt, wenn diese Größe mit Weisheit und Tugend vereint ist. Wenn trotz dieser Weisheit und Tugend der große Mann in jenes Unglück, in jene Gefahren und Nöten stürzen sollte, denen die höchsten Stellungen oft am meisten ausgesetzt sind, dann erweckt sein Schicksal unsere Anteilnahme weit stärker als das eines gleich tugendhaften Menschen, der sich jedoch in einer niedrigeren Stellung befindet. Die interessantesten Themen von Trauerspielen und Romanen sind die unglücklichen Schicksale tugendhafter und hochgesinnter Könige und Fürsten. Wenn es ihnen dann gelingt, sich durch die Weisheit und Mannhaftigkeit ihrer Anstrengungen aus jener unglücklichen Lage zu befreien und ihren früheren hohen Rang und ihre Sicherheit wieder zu gewinnen, dann können wir nicht anders, als sie mit der enthusiastischesten und sogar mit ganz übertriebener Bewunderung zu betrachten. Der Kummer, den wir früher wegen ihres Elends empfanden, die Freude, die wir jetzt wegen ihres Glückes fühlen, scheinen sich miteinander zu verbinden, um jene parteiische Bewunderung noch zu erhöhen, die wir schon von Natur aus für ihren Rang und für ihre Stellung empfinden. Wenn jene verschiedenen wohltätigen Neigungen zufällig verschiedene Wege nehmen, dann ist es vielleicht ganz unmöglich,
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durch eine genaue Regel zu bestimmen, in welchem Falle wir der einen und in welchem wir der anderen nachkommen sollen. In welchen Fällen die Freundschaft der Dankbarkeit weichen soll oder die Dankbarkeit der Freundschaft, in welchem Falle die stärkste aller natürlichen Neigungen der Rücksicht auf die Wohlfahrt derjenigen höherstehenden Personen zu weichen hat, von deren Wohlfahrt die der ganzen Gesellschaft abhängt, und in welchen Fällen die natürliche Neigung dieser Rücksicht vorangehen darf, ohne daß man dadurch gegen die Sittlichkeit verstößt, das muß durchaus der Entscheidung des Menschen in unserer Brust überlassen werden, der Entscheidung jenes vorgestellten unparteiischen Zuschauers, des großen Richters und Schiedsherrn über unser Verhalten. Wenn wir uns völlig in seine Situation versetzen, wenn wir uns wirklich mit seinen Augen betrachten und so, wie er uns betrachtet, und wenn wir mit gespannter und ehrerbietiger Aufmerksamkeit auf alles horchen, was er uns einflüstert, dann wird uns seine Stimme niemals täuschen. Wir werden keine kasuistischen Regeln brauchen, um unser Verhalten danach zu bestimmen. Es ist oft unmöglich, diese Regeln all den verschiedenen Schattierungen und Abstufungen der Umstände, unserer Stellung und der Situation anzupassen, Unterschieden und Abweichungen, die zwar nicht unwahrnehmbar, wohl aber infolge ihrer Feinheit und Zartheit durchaus unausdrückbar sind. Während wir in jener schönen Tragödie Voltaires »Die Waise von China« die Seelengröße des Zamti bewundern, der bereit ist, das Leben seines eigenen Kindes zu opfern, um das Leben des letzten schwachen Überrestes seiner alten Herrscher und Herren zu erhalten, werden wir die mütterliche Zärtlichkeit der Idame nicht nur verzeihen, sondern sogar lieben, die auf die Gefahr hin, das wichtige Geheimnis ihres Gatten zu enthüllen, ihr Kind aus den grausamen Händen der Tataren zurückfordert, denen es ausgeliefert worden war.
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zweites kapitel Über die Rangordnung, in welcher Gemeinschaften von der Natur unserer Wohltätigkeit empfohlen wurden. Das gleiche Prinzip, welches die Ordnung bestimmt, in der Individuen unserer Wohltätigkeit empfohlen sind, bestimmt ebenso jene Ordnung, in welcher Gemeinschaften derselben empfohlen wurden. Diejenigen, für die dieselbe am wichtigsten ist oder am wichtigsten sein kann, sind ihr in erster Linie und hauptsächlich empfohlen. Der Staat oder die Landesherrschaft, in der wir geboren und erzogen worden sind und unter deren Schutz wir weiter leben, ist in der Mehrzahl der Fälle die größte Gemeinschaft, auf deren Glück oder Elend unser gutes oder schlechtes Verhalten einen großen Einfluß haben kann. Er wurde uns demgemäß von der Natur auf das dringendste empfohlen. Er umfaßt nicht nur uns selbst, sondern meistens auch alle diejenigen, die das Ziel unserer zärtlichsten Zuneigung bilden, unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Verwandten, unsere Freunde, unsere Wohltäter, kurz alle, die wir von Natur aus am meisten lieben und verehren ; ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit hängen in gewissem Maße von seinem Wohlergehen und seiner Sicherheit ab. Deshalb hat die Natur bewirkt, daß er uns teuer ist, und zwar nicht nur auf Grund unserer egoistischen, sondern auch auf Grund aller unserer wohlwollenden Gefühle gegen einzelne Personen. Eben wegen der Verbindung, in der wir selbst zu ihm stehen, scheint sein Wohlergehen und sein Ruhm eine Art von Ehre auf uns selbst zurückzustrahlen. Wenn wir ihn mit anderen Gemeinschaften derselben Art vergleichen, dann sind wir stolz darauf, zu sehen, daß er den anderen überlegen ist, und es kränkt uns andererseits ziemlich tief, wenn es uns scheint, daß er in irgendeiner Beziehung ihnen nachsteht. All die berühmten Männer, die er in früheren Zeiten hervorge-
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bracht hat – denn gegen diejenigen unserer eigenen Zeit mag uns mitunter der Neid ein wenig einnehmen – seine Krieger, seine Staatsmänner, seine Dichter, seine Philosophen und Gelehrten aller Art werden wir leicht mit einer höchst parteiischen Bewunderung betrachten und werden sie – mitunter äußerst ungerechterweise – höher stellen als diejenigen aller anderen Nationen. Der Patriot, der sein Leben für die Sicherheit oder sogar für die eitle Ruhmgier dieser Gemeinschaft einsetzt, scheint uns durchaus im Sinne der sittlichen Richtigkeit zu handeln. Er scheint sich selbst in dem Lichte zu betrachten, in dem ihn der unparteiische Zuschauer natürlicher- und notwendigerweise ansieht, nämlich bloß als einen einzelnen aus der großen Menge, der in den Augen jenes gerechten Richters nicht mehr Bedeutung besitzt als irgendein anderer aus dieser Menge, der aber jederzeit verpflichtet ist, sich der Sicherheit, dem Dienste und selbst dem Ruhme der Mehrzahl zu weihen und zu opfern. Obgleich uns aber dieses Opfer durchaus gerecht und sittlich richtig zu sein scheint, so wissen wir doch, wie schwer es darzubringen ist und wie wenige Menschen fähig sind, es zu leisten. Darum erregt sein Verhalten nicht nur unsere volle Billigung, sondern unser Staunen und unsere höchste Bewunderung und scheint uns all den Beifall zu verdienen, wie er nur der heldenmütigsten Tugend gebührt. Der Verräter dagegen, der in irgendeiner bestimmten Situation sich einbildet, er könne seinen eigenen kleinen Vorteil dadurch fördern, daß er den Vorteil seines Heimatlandes dem allgemeinen Feind preisgibt, und der ohne Rücksicht auf das Urteil des inneren Menschen in seiner Brust sich selbst in dieser Hinsicht so schändlich, so gemein all denen vorzieht, mit denen ihn die engsten Bande verbinden, der scheint uns der verabscheuenswürdigste von allen Schurken zu sein. Die Liebe zu unserem eigenen Volke macht uns oft geneigt, das Wohlergehen und das Wachstum eines anderen, benachbarten Volkes mit einer äußerst böswilligen Eifersucht und mit starkem
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Neid zu betrachten. Alle unabhängigen und benachbarten Nationen leben in beständiger Furcht voreinander und in stetem gegenseitigem Argwohn, da sie keinen gemeinsamen Vorgesetzten haben, der ihre Streitigkeiten entscheiden könnte. Jeder Herrscher erwartet von seinen Nachbarn wenig Gerechtigkeit und ist deshalb geneigt, sie mit ebensowenig Gerechtigkeit zu behandeln, als er von ihnen erwartet. Die Rücksicht auf das Völkerrecht oder auf jene Regeln, von denen unabhängige Staaten erklären oder vorgeben, daß sie sich in ihrem Verkehr miteinander für verpflichtet halten, sie zu beobachten, ist oft wenig mehr als eben ein bloßes Vorgeben und Erklären. Wir sehen alle Tage, wie diese Regeln um des geringsten Vorteiles willen und auf die unbedeutendste Herausforderung hin umgangen oder geradezu verletzt werden, und zwar ohne Scham oder Gewissensbisse. Jede Nation sieht in der wachsenden Macht und Vergrößerung eines ihrer Nachbarn ihre eigene Unterjochung voraus oder bildet sich doch ein, dieselbe vorauszusehen ; und das niedrige Prinzip nationalen Vorurteils beruht oft auf dem edlen Prinzip der Liebe zum eigenen Lande. Der Satz, mit welchem Cato der Ältere jede Rede geschlossen haben soll, die er im Senate hielt, was immer auch ihr Gegenstand gewesen sein mag : »im übrigen ist es meine Ansicht, daß Karthago zerstört werden sollte«, war der natürliche Ausdruck des wilden Patriotismus eines starken, aber rauhen Geistes, der beinahe bis zum Wahnsinn gegen ein fremdes Volk aufgebracht war, von welchem sein eigenes so viel erduldet hatte. Der menschlichere Satz, mit welchem Scipio Nasica alle seine Reden geschlossen haben soll : »im übrigen ist es meine Ansicht, daß Karthago nicht zerstört werden sollte«, war der liberale Ausdruck einer weiterblickenden und aufgeklärten Gesinnung, die selbst gegen das Wohlergehen eines alten Feindes keine Abneigung empfand, sofern derselbe einmal in einen so machtlosen Zustand versetzt worden war, daß er Rom nicht gefährlich werden konnte. Frankreich und England mögen einigen Grund haben, das Anwachsen
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der beiderseitigen Marine- und Militärmacht zu fürchten ; aber die innere Wohlfahrt und das Gedeihen des anderen, die Verbesserung seines Ackerbaus, den Fortschritt seiner Manufakturen, das Wachsen seines Handels, die Sicherheit und Zahl seiner Häfen, seine Fortschritte in allen freien Künsten und Wissenschaften zu beneiden, das ist sicherlich unter der Würde zweier so großer Nationen. Denn das sind ja die wahrhaften Fortschritte der Welt, in der wir leben. Durch sie wird die Menschheit gefördert, die menschliche Natur veredelt. In solchen Fortschritten sollte nicht nur jede Nation sich auszuzeichnen trachten, sondern aus Liebe zur Menschheit sollte sie sich bemühen, hervorragende Leistungen ihrer Nachbarn auf diesem Gebiete zu fördern, anstatt ihnen entgegenzuarbeiten. Das alles sollen Gegenstände des Wetteifers der Nationen, nicht aber ihres Vorurteils oder Neides sein. Die Liebe zu unserem eigenen Lande scheint nicht von der Liebe zur Menschheit herzustammen. Jenes Gefühl ist von diesem durchaus unabhängig und scheint uns mitunter sogar geneigt zu machen, im Widerspruch zu letzterem zu handeln. Frankreich mag vielleicht eine dreimal so große Einwohnerzahl besitzen wie Großbritannien. In der großen Gemeinschaft der Menschheit würde darum das Wohlergehen Frankreichs als eine weit wichtigere Angelegenheit erscheinen als dasjenige Großbritanniens. Der britische Untertan jedoch, der aus diesem Grunde bei jeder Gelegenheit das Wohlergehen Frankreichs demjenigen Großbritanniens vorziehen wollte, würde wohl nicht für einen guten Bürger Großbritanniens gehalten werden. Wir lieben eben unser Land nicht bloß als einen Teil der großen Gemeinschaft der Menschheit ; wir lieben es um seiner selbst willen und unabhängig von jeder derartigen Betrachtung. Jene Weisheit, welche das System der menschlichen Neigungen und Gefühle ebenso erfunden hat wie jeden anderen Teil der Natur, scheint der Überzeugung gewesen zu sein, daß der Vorteil jener großen Gemeinschaft der Menschheit dann am besten gefördert werden würde, wenn sie
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die Aufmerksamkeit eines jeden Individuums in erster Linie gerade auf jenen Teil derselben lenke, der am meisten innerhalb des Bereiches seiner Fähigkeiten ebenso wie seines Verständnisses gelegen ist. Nationale Vorurteile und Haßgefühle erstrecken sich selten weiter als auf die Nachbarvölker. Wir nennen – vielleicht sehr schwächlicher- und törichterweise – die Franzosen unsere natürlichen Feinde, und sie betrachten – vielleicht ebenso schwächlicherund törichterweise – uns mit den gleichen Augen. Aber weder sie noch wir hegen irgendeine Art von Neid gegen das Gedeihen von China oder Japan. Es ereignet sich indessen auch sehr selten, daß unser Wohlwollen für so weit entfernte Staaten große Wirkungen hervorbringen könnte. Den größten Wirkungskreis kann die wohlwollende Liebe zu den Menschen dann gewinnen, wenn als ihre Träger jene Staatsmänner auftreten, welche Bündnisse zwischen benachbarten oder nicht sehr weit voneinander entfernten Nationen entwerfen und abschließen, sei es zur Aufrechterhaltung des sogenannten politischen Gleichgewichtes oder zur Wahrung des allgemeinen Friedens und der Ruhe der Staaten, innerhalb des Kreises, auf den sich die Unterhandlungen erstrecken. Die Staatsmänner, welche derartige Verträge planen und durchführen, haben jedoch selten irgend etwas anderes im Auge als das Interesse ihrer eigenen Länder. Mitunter reicht ihr Blick allerdings weiter. Der Graf d’Avaux, der Bevollmächtigte Frankreichs bei den Verhandlungen des Vertrages von Münster, wäre bereit gewesen, sein Leben zu opfern – nach dem Bericht des Kardinals von Retz, eines Mannes, der nicht allzu leicht an anderer Leute Tugenden glaubte – um durch diesen Vertrag die allgemeine Ruhe Europas wiederherzustellen. König Wilhelm scheint von einem wahrhaften Eifer für die Verwirklichung der Freiheit und Unabhängigkeit der meisten souveränen Staaten Europas beseelt gewesen zu sein ; ein Eifer, der vielleicht zum großen Teile durch seine besondere Abneigung
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gegen Frankreich angestachelt worden sein mag, also gegen den Staat, von welchem zu seiner Zeit jener Freiheit und Unabhängigkeit die größte und hauptsächlichste Gefahr drohte. Ein Teil von diesem Geist scheint sich auf das erste Ministerium der Königin Anna fortgepflanzt zu haben. Jeder unabhängige Staat teilt sich in viele verschiedene Stände und Gemeinschaften, von denen jede ihre besonderen Befugnisse, Vorrechte und Freiheiten besitzt. Jedes Individuum ist naturgemäß seinem eigenen Stande und seiner eigenen Gemeinschaft mehr zugetan als einer anderen. Sein Vorteil und seine Eitelkeit, der Vorteil und die Eitelkeit vieler seiner Freunde und Gefährten sind gewöhnlich zu einem großen Teile mit diesem Stande oder dieser Gemeinschaft verknüpft. Sein Ehrgeiz ist darauf gerichtet, die Rechte und Freiheiten dieses Standes zu erweitern. Sein eifriges Bemühen geht dahin, ihn gegen die Übergriffe eines jeden anderen Standes und jeder anderen Gemeinschaft zu verteidigen. Von der Art und Weise, wie jeder Staat aus den verschiedenen Ständen und Gemeinschaften zusammengesetzt ist, die in ihrer Gesamtheit eben den Staat bilden, und wie gerade in diesem Staate die Befugnisse, Vorrechte und Freiheiten unter diese Stände verteilt sind, hängt dasjenige ab, was man die Verfassung eben dieses Staates nennt. Von der Fähigkeit jedes einzelnen Standes und jeder Gemeinschaft, ihre eigenen Befugnisse, Vorrechte und Freiheiten gegen die Übergriffe aller anderen aufrecht zu erhalten, hängt die Dauerhaftigkeit eben jener Verfassung ab. Die Verfassung wird notwendig mehr oder weniger verändert, so oft einer der ihr untergeordneten Teile über seinen früheren Rang und seine früheren Verhältnisse erhoben oder unter diese herabgedrückt wird. All jene verschiedenen Stände und Gemeinschaften sind vom Staate abhängig, dem sie ihre Sicherheit und ihren Schutz verdanken. Daß sie alle dem Staate untergeordnet sind, und daß sie nur darum eingesetzt wurden, um sein Gedeihen und seine Erhaltung
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zu fördern, das ist eine Wahrheit, die auch von den parteiischsten Mitgliedern eines jeden dieser Stände anerkannt wird. Es mag indessen oft schwer sein, einen solchen Menschen davon zu überzeugen, daß das Gedeihen und die Erhaltung des Staates eine Verminderung der Befugnisse, Vorrechte und Freiheiten gerade seines Standes oder seiner Gemeinschaft erfordere. Diese Parteilichkeit mag zwar mitunter ungerecht, aber sie muß darum doch nicht nutzlos sein. Sie tut dem Geist der Neuerung Einhalt. Sie wirkt dahin, das nun einmal bestehende Gleichgewicht unter den verschiedenen Ständen und Gemeinschaften, aus welchen der Staat zusammengesetzt ist, aufrecht zu erhalten ; und während sie mitunter den Anschein erweckt, als verhindere sie gewisse Änderungen der Regierung, die zurzeit modern und volkstümlich sein mögen, trägt sie in Wirklichkeit immer zur Beständigkeit und Beharrlichkeit des großen Ganzen bei. Die Liebe zu unserem Lande scheint in der Regel zwei verschiedene Prinzipien in sich zu schließen : erstens eine gewisse Achtung und Verehrung für jene Verfassungs- oder Regierungsform, welche augenblicklich tatsächlich besteht, und zweitens den ernsten Wunsch, die Lebensbedingungen unserer Mitbürger so sicher, erträglich und glücklich zu machen, als wir können. Derjenige ist kein Bürger, der nicht willens ist, die Gesetze zu achten und der bürgerlichen Obrigkeit Gehorsam zu leisten ; und derjenige ist sicherlich kein guter Bürger, der nicht den Wunsch hegt, mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, die Wohlfahrt der ganzen Gemeinschaft seiner Mitbürger zu fördern. In friedlichen und ruhigen Zeiten fallen diese beiden Prinzipien im allgemeinen zusammen und führen zu dem gleichen Verhalten. Die Unterstützung der bestehenden Regierung scheint offenbar das beste Mittel zu sein, um die sichere, erträgliche und glückliche Lage unserer Mitbürger aufrechtzuerhalten, sobald wir sehen, daß diese Regierung sie tatsächlich in dieser Lage erhält. Aber in Zeiten öffentlicher Unzufriedenheit, des Aufstandes und
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der Ordnungslosigkeit, da können jene beiden verschiedenen Prinzipien uns verschiedene Wege führen und selbst ein weiser Mann mag dann geneigt sein, eine gewisse Änderung in jener Verfassung oder Regierungsform für nötig zu halten, die in ihrem augenblicklichen Zustande offenbar unfähig scheint, die öffentliche Ruhe zu erhalten. In solchem Falle verlangt es jedoch oft vielleicht das höchste Aufgebot politischer Weisheit, um zu bestimmen, wann ein wahrer Patriot die Autorität des alten Systems unterstützen oder sie wiederherzustellen trachten soll, und wann er dem kühneren, aber oft gefährlicheren Geist der Neuerung freien Weg lassen soll. Auswärtige Kriege und Bürgeraufstände sind jene beiden Lagen, welche die glänzendsten Gelegenheiten zur Entfaltung des Gemeinsinnes bieten. Der Held, der seinem Lande erfolgreich im auswärtigen Kriege dient, erfüllt die Wünsche der ganzen Nation und wird aus diesem Grunde zum Gegenstande der allgemeinen Dankbarkeit und Bewunderung. In Zeiten des Bürgerzwistes dagegen mögen die Führer der streitenden Parteien zwar von der einen Hälfte ihrer Mitbürger bewundert werden, aber von der anderen werden sie gewöhnlich verwünscht werden. Die Rolle, die sie spielen, und das Verdienst, das ihren Leistungen zukommt, erscheinen im allgemeinen zweifelhafter. Der Ruhm, der im auswärtigen Kriege erworben wird, ist aus diesem Grunde fast immer reiner und glänzender als jener, der im inneren Aufruhr der Bürgerschaft erworben werden kann. Der Führer der vom Erfolg begünstigten Partei mag jedoch, wenn er genug Autorität besitzt, um seine Freunde dazu zu bewegen, daß sie mit gehöriger Ruhe und Mäßigung vorgehen – eine Autorität, die er häufig nicht hat – mitunter seinem Lande einen Dienst erweisen, der weit bedeutungsvoller und wichtiger ist als die größten Siege und die ausgedehntesten Eroberungen. Er mag vielleicht die Verfassung wieder herstellen und verbessern und mag aus der recht zweifelhaften und zweideutigen Rolle eines Par-
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teiführers herauswachsen und die größte und edelste aller Rollen übernehmen, nämlich die des Reformators und Gesetzgebers eines großen Staates, ja er mag vielleicht durch die Weisheit seiner Einrichtungen die Ruhe und Glückseligkeit seiner Mitbürger im Staate für eine große Reihe von Generationen sichern. Inmitten der Verwirrung und Unordnung eines Bürgerzwistes pflegt ein gewisser Parteidoktrinarismus zu jenem Gemeinsinn hinzuzutreten, der sich auf die Liebe zur Menschheit und auf ein wirkliches Mitgefühl mit den Widerwärtigkeiten und Nöten gründet, welchen manche unserer Mitbürger ausgesetzt sein mögen. Dieser Parteidoktrinarismus übernimmt gewöhnlich die Leitung jenes maßvolleren Gemeinsinnes, belebt diesen auf das stärkste und entflammt ihn oft sogar bis zum Wahnsinn des Fanatismus. Die Führer der unzufriedenen Partei, werden es selten unterlassen, irgendeinen plausiblen Staatsreformplan vorzuschlagen, der, wie sie behaupten, nicht nur die Widerwärtigkeiten beseitigen und die Notlage erleichtern wird, über welche augenblicklich geklagt wird, sondern der für alle kommenden Zeiten eine Wiederkehr gleicher Widerwärtigkeiten und einer gleichen Notlage verhindern wird. Aus diesem Grunde schlagen sie oft vor, die ganze Verfassung umzumodeln und jenes Regierungssystem in einigen seiner wesentlichsten Teile zu verändern, unter welchem die Untertanen eines großen Reiches vielleicht einige Jahrhunderte hindurch sich des Friedens, der Sicherheit und sogar des Ruhms erfreut haben. Die große Masse der Partei ist gewöhnlich ganz berauscht von der eingebildeten Schönheit jener idealen Ordnung, von der sie zwar keine Erfahrung haben, die ihnen, jedoch mit den glänzendsten Farben dargestellt wurde, in denen die Beredsamkeit ihrer Führer sie ihnen nur auszumalen vermochte. Jene Führer selbst mögen zwar ursprünglich nichts anderes beabsichtigt haben als ihre eigene Erhöhung, aber sie werden mit der Zeit großenteils selbst die Betrogenen ihrer eigenen Sophisterei und sind nun ebenso versessen auf dieses große Reformwerk wie die
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einfältigsten und törichtesten ihrer Anhänger. Aber selbst dann, wenn die Führer ihren eigenen Kopf von diesem Fanatismus frei gehalten haben sollten – was ja tatsächlich gewöhnlich der Fall ist – wagen sie es doch nicht immer, die Erwartung ihrer Anhänger zu täuschen, sondern sind oft, obgleich es gegen ihre Grundsätze und gegen ihr Gewissen ist, doch gezwungen, so zu handeln, als stünden sie unter dem Banne der allgemeinen Täuschung. Die Gewalttätigkeit der Partei, die alle Palliative, alle Mäßigung, alle vernünftigen Anpassungen verschmäht, erreicht dadurch, daß sie zu viel verlangt, häufig nichts und jene Widerwärtigkeiten und jene Notlage, die mit ein wenig Mäßigung zum größten Teil beseitigt und erleichtert worden wären, werden ganz ohne jede Hoffnung auf Abhilfe bestehen gelassen. Derjenige, dessen Gemeinsinn gänzlich durch Menschlichkeit und Wohlwollen genährt wird, wird sogar die bestehenden Befugnisse und Rechte der Einzelpersonen achten, noch weit mehr jedoch jene der großen Stände und Gemeinschaften, aus denen der Staat zusammengesetzt ist. Mag er auch manches davon als einigermaßen mißbräuchlich betrachten, so wird er sich doch damit begnügen, zu mäßigen, was er oft nicht ohne Aufwendung großer Gewalt vernichten könnte. Wenn er die eingewurzelten Vorurteile des Volkes durch Vernunft und Überredung nicht besiegen kann, wird er es nicht versuchen, sie durch Gewalt zu unterdrücken, sondern wird gewissenhaft den Grundsatz befolgen, der von Cicero mit Recht der göttliche Grundsatz Platos genannt wird : niemals gegen das eigene Land Gewalt zu gebrauchen, so wenig wie gegen die eigenen Eltern. Er wird, so gut er kann, seine öffentlichen Anordnungen den festgewordenen Gewohnheiten und Vorurteilen des Volkes anpassen, und wird, so gut er kann, den Nachteilen abzuhelfen suchen, die aus dem Fehlen jener Einrichtungen herkommen, denen das Volk sich nicht unterwerfen will. Wenn er das Recht nicht durchsetzen kann, wird er es nicht verschmähen, das Unrecht zu verbessern,
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sondern er wird wie Solon, wenn er nicht das beste System von Gesetzen einführen kann, sich bestreben, doch das beste unter jenen Systemen einzuführen, die das Volk noch zu ertragen vermag. Der Parteidoktrinär dagegen pflegt in seinen eigenen Augen sehr weise zu sein und ist oft so verliebt in die eingebildete Schönheit seines bloß vorgestellten Regierungsplanes, daß er nicht die geringste Abweichung von diesem Plane verträgt – und wäre es auch nur in bezug auf irgendeinen Teil desselben. Er geht darauf aus, ihn vollständig und in allen seinen Teilen einzuführen, ohne Rücksicht auf die wichtigen Interessen oder auf die starken Vorurteile, die ihm entgegenstehen mögen. Er scheint sich einzubilden, daß er die verschiedenen Glieder einer Gesellschaft mit ebensolcher Leichtigkeit anordnen kann, als die Hand die verschiedenen Figuren auf dem Schachbrett anordnet. Er bedenkt nicht, daß die Figuren auf dem Schachbrett kein anderes Bewegungsprinzip besitzen als jenes, welches die Hand ihnen anferlegt, daß aber auf dem großen Schachbrett der Gesellschaft jede einzelne Figur ein eigenes Bewegungsprinzip besitzt, das durchaus von demjenigen verschieden ist, welches der Gesetzgeber nach seinem Gutdünken ihr auferlegen möchte. Wenn diese beiden Prinzipien zusammenfallen und in der gleichen Richtung wirken, dann wird das Spiel der menschlichen Gesellschaft leicht und harmonisch vonstatten gehen und wahrscheinlich glücklich und erfolgreich sein. Wenn sie einander entgegengesetzt oder auch nur voneinander abweichend sind, dann wird das Spiel sehr schlecht vorwärts gehen und die Gesellschaft muß sich dann jederzeit in höchster Unordnung und Verwirrung befinden. Eine gewisse allgemeine und selbst systematische Vorstellung von vollkommenen politischen und rechtlichen Zuständen mag zweifellos notwendig sein, um den Absichten des Staatsmannes eine gewisse Richtung zu geben. Aber darauf zu bestehen, alles, was jene Vorstellung scheinbar verlangt, einzuführen und es auf
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einmal und trotz aller Widerstände einzuführen, das wird oft das höchste Maß von Anmaßung bedeuten. Das hieße, sein eigenes Urteil als obersten Maßstab für Recht und Unrecht aufstellen. Das hieße sich einbilden, daß man selbst der einzige weise und würdige Mann in dem Gemeinwesen sei, und daß sich die Mitbürger uns anpassen sollten und nicht wir ihnen. Das ist der Grund, warum von allen politischen Grüblern souveräne Fürsten bei weitem die gefährlichsten sind. Diese Anmaßung ist bei ihnen ganz gewöhnlich. Sie hegen gar keinen Zweifel an der ungeheueren Überlegenheit ihres eigenen Urteils. Wenn darum solche kaiserliche und königliche Reformer sich dazu herablassen, Betrachtungen über die Verfassung des Staates anzustellen, der ihrer Regierung anvertraut ist, so erblicken sie daran selten irgend etwas als ein so großes Unrecht, wie die Widerstände, die diese Verfassung manchmal der Ausführung ihres Willens entgegensetzen mag. Sie verachten stets den göttlichen Grundsatz Platons und betrachten den Staat als für sie bestimmt, nicht sich selbst als für den Staat bestimmt. Das größte Ziel ihrer Reformen ist es darum, jene Widerstände zu entfernen, das Ansehen des Adels zu vermindern, den Städten und Provinzen ihre Vorrechte zu nehmen und sowohl die mächtigsten Individuen als die mächtigsten Stände im Staate ebenso unfähig zu machen, sich ihren Befehlen zu widersetzen, wie die schwächsten und unbedeutendsten.
drittes kapitel Über universelles Wohlwollen Unsere guten Dienste können sich zwar in wirksamer Weise nur sehr selten auf einen größeren Kreis von Menschen erstrecken als auf denjenigen unseres eigenen Landes, unser guter Wille jedoch ist durch keine Grenzen eingeschränkt, sondern kann die Unendlichkeit des Universums umfassen. Wir können uns nicht
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
die Vorstellung von einem schuldlosen und fühlenden Wesen bilden, dessen Glückseligkeit wir nicht wünschen würden, oder gegen dessen Unglück wir, wenn wir uns dasselbe ganz deutlich vorstellen, nicht einen gewissen Widerwillen empfinden würden. Die Vorstellung eines unheilbringenden und doch fühlenden Wesens dagegen erregt allerdings naturgemäß unseren Haß : aber die feindliche Gesinnung, die wir in diesem Falle ihm gegenüber hegen, ist in Wahrheit die Wirkung unseres universellen Wohlwollens. Sie ist die Wirkung der Sympathie, die wir für das Elend und für das Vergeltungsgefühl jener anderen schuldlosen und fühlenden Wesen empfinden, deren Glück durch seine Bosheit zerstört wurde. Dies allgemeine Wohlwollen kann aber, so vornehm und edel es sein mag, für denjenigen nicht die Quelle eines festgegründeten Glückes werden, der nicht durchaus überzeugt ist, daß alle die Bewohner des Universums, die geringsten ebenso wie die höchsten, unter der unmittelbaren Fürsorge und dem Schutze jenes großen wohlwollenden und allweisen Wesens stehen, das alle Bewegungen in der Natur lenkt, und das durch seine eigene unabänderliche Vollkommenheit dazu bestimmt ist, in ihr allezeit das größtmögliche Maß von Glück zu erhalten. Für dieses universelle Wohlwollen muß dagegen schon der Verdacht, daß diese Welt vaterlos sei, die trübsinnigste von allen Erwägungen sein, denn man müßte ja dann daran denken, daß alle die unbekannten Gegenden des unendlichen und unvorstellbaren Weltraumes möglicherweise mit nichts anderem erfüllt seien, als mit endlosem Elend und Jammer. Der ganze Glanz des höchsten Wohlergehens kann das Dunkel niemals erleuchten, mit welchem eine so fürchterliche Vorstellung notwendigerweise die Phantasie überschatten muß ; und ebensowenig vermag aller Kummer über eine noch so quälende Notlage in dem Bewußtsein eines weisen und tugendhaften Mannes jene Freude zum Versiegen zu bringen, die aus einer festen und vollkommenen Überzeugung
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von der Wahrheit der entgegengesetzten Weltanschauung entspringt. Der Weise und Tugendhafte ist jederzeit damit einverstanden, daß sein eigenes Privatinteresse dem allgemeinen Interesse des Standes oder der Gemeinschaft aufgeopfert wird, der er eben angehört. Er ist aber auch zu jeder Zeit damit einverstanden, daß das Interesse dieses Standes oder dieser Gemeinschaft dem größeren Interesse des Staates oder der Landesherrschaft aufgeopfert wird, von der jene nur untergeordnete Teile bilden. Er sollte deshalb ebenso damit einverstanden sein, daß alle jene niedrigeren Interessen dem größeren Interesse des Universums aufgeopfert werden sollen, dem Interesse jener großen Gemeinschaft aller fühlenden und verstandesbegabten Wesen, in der Gott selbst den unmittelbaren Verwalter und Leiter darstellt. Wenn er von der festen und vollen Überzeugung tief durchdrungen ist, daß dieses wohlwollende und allweise Wesen in dem großen System seiner Herrschaft in keinem Teil ein Übel zulassen könnte, das nicht für das Beste des Ganzen notwendig wäre, dann muß er alle die Unglücksschläge, die ihn oder seine Freunde oder seine Gemeinschaft oder sein Land treffen mögen, als für das Gedeihen des Ganzen notwendig betrachten und deshalb als Ereignisse ansehen, denen man sich nicht nur mit Ergebung unterwerfen soll, sondern als Ereignisse, die er selbst, wenn er alle Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten der Dinge gekannt hätte, aufrichtig und innig hätte herbeiwünschen sollen. Es scheint auch nicht, daß diese standhafte Ergebung in den Willen des großen Lenkers des Universums in irgendeiner Hinsicht die Fähigkeiten der menschlichen Natur übersteigen würde. Gute Soldaten, die ihren General lieben und ihm vertrauen, marschieren oft mit mehr Fröhlichkeit und Heiterkeit auf den verlorenen Posten, von dem sie niemals zurückzukehren erwarten, als sie erfüllen würde, wenn sie in eine Stellung zögen, in der weder Beschwerde noch Gefahr ihrer wartete. Solange sie in eine Stel-
Sechster Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
lung der letzteren Art marschierten, konnten sie nichts anderes empfinden, als das dumpfe Gefühl der alltäglichen Pflicht, ziehen sie aber auf den ersterwähnten Posten, dann fühlen sie, daß sie im Begriffe stehen, die edelste Anstrengung zu vollbringen, die Menschen überhaupt zu leisten vermögen. Sie wissen, daß ihr General sie nicht auf diesen Posten befohlen hätte, wäre es nicht für die Sicherheit der Armee und für den Erfolg des Krieges notwendig gewesen. Fröhlich opfern sie ihr eigenes kleines Sein dem Gedeihen eines größeren Seins auf. Sie nehmen liebevollen Abschied von ihren Kameraden, denen sie alles Glück und jeden Erfolg wünschen, und ziehen nicht nur mit ergebungsvollem Gehorsam, sondern oft mit Ausrufen des freudigsten Jubels aus, auf jenen verhängnisvollen, aber glänzenden und ehrenvollen Posten, für den sie bestimmt sind. Kein Führer einer Armee kann aber ein grenzenloseres Vertrauen, eine glühendere und eifrigere Liebe verdienen, als der große Lenker des Universums. Im größten öffentlichen wie persönlichen Unglück sollte der Weise überlegen, daß er selbst, seine Freunde und seine Mitbürger eben nur auf den verlorenen Posten des Universums befohlen worden seien ; daß sie auf diesen nicht befohlen worden wären, wenn dies nicht zum Besten des Ganzen nötig gewesen wäre, und daß es ihre Pflicht ist, sich nicht nur mit demütiger Ergebung in dies Los zu schicken, sondern sich wenigstens zu bemühen, es mit Heiterkeit und Freude auf sich zu nehmen. Ein Weiser sollte sicherlich fähig sein, das zu tun, wozu sich ein guter Soldat jederzeit bereit hält. Die Vorstellung von jenem göttlichen Wesen, dessen Wohlwollen und Weisheit von aller Ewigkeit her die unendliche Maschine des Universums so ersonnen und geleitet hat, daß sie das größtmögliche Maß von Glückseligkeit hervorbringe, ist sicherlich von allen Gegenständen menschlicher Betrachtung weitaus der erhabenste. Jeder andere Gedanke erscheint notwendig niedrig im Vergleich damit. Derjenige, von dem wir glauben, daß er sich hauptsächlich mit diesen erhabenen Betrachtungen beschäftigt,
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wird selten ermangeln, der Gegenstand unserer höchsten Verehrung zu sein ; und sollte sein Leben auch ein ganz beschauliches sein, so blicken wir doch zu ihm oft mit einer Art heiliger Achtung auf, die weit höher ist als diejenige, mit der wir den tätigsten und nützlichsten Diener des Gemeinwesens ansehen. Die Betrachtungen des Marcus Antoninus, die sich hauptsächlich auf dieses Thema richten, haben vielleicht mehr zu der allgemeinen Bewunderung seines Charakters beigetragen als alle die verschiedenen Unternehmungen seiner gerechten, gnädigen und wohltätigen Regierung. Die Verwaltung des großen Systems des Universums, die Sorge für die allgemeine Glückseligkeit aller vernünftigen und fühlenden Wesen ist indessen das Geschäft Gottes und nicht das des Menschen. Dem Menschen ist ein weit niedrigerer Arbeitsbezirk zugewiesen, aber einer, der der Schwäche seiner Fähigkeiten und der Enge seiner Fassungskraft weit angemessener ist : die Sorge für seine eigene Glückseligkeit, für die seiner Familie, seiner Freunde und seines Landes ; daß er mit der Betrachtung jener erhabeneren Gegenstände beschäftigt ist, kann niemals eine Entschuldigung dafür sein, daß er diesen niedrigeren Arbeitsbezirk vernachlässigt ; und er darf sich nicht der Beschuldigung aussetzen, die Avidius Cassius – vielleicht mit Unrecht – gegen Marcus Antoninus vorgebracht haben soll, daß er nämlich, während er sich mit philosophischen Spekulationen beschäftigte und das Wohlergehen des Universums betrachtete, unterdessen dasjenige des römischen Reiches vergessen habe. Die erhabensten Spekulationen des beschaulichen Philosophen könnten kaum eine Entschuldigung dafür gewähren, wenn er auch nur die geringste Pflicht zu handeln, dabei vernachlässigt hat.
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
DRITTER ABSCHNIT T
Von der Selbstbeherrschung Ein Mensch, der in Übereinstimmung mit den Regeln vollkommener Klugheit, strenger Gerechtigkeit und richtigen Wohlwollens handelt, mag vollkommen tugendhaft genannt werden. Aber die vollkommenste Kenntnis jener Regeln wird ihn nicht schon allein befähigen, in dieser Weise zu handeln : seine eigenen Affekte pflegen ihn nur allzu leicht irre zu leiten, indem sie ihn mitunter geradezu treiben, mitunter aber allmählich verführen, alle die Regeln zu verletzen, die er selbst in nüchternen und ruhigen Stunden jederzeit billigt. Die vollkommenste Kenntnis dieser Regeln wird ihn nicht immer befähigen, seine Pflicht zu tun, wenn sie nicht von der vollkommensten Selbstbeherrschung unterstützt wird. Einige der hervorragendsten antiken Moralphilosophen scheinen der Ansicht gewesen zu sein, daß sich jene Affekte in zwei verschiedene Klassen einteilen lassen : die erste Klasse bilden jene Affekte, die so stark sind, daß es einen beträchtlichen Aufwand von Selbstbeherrschung erfordert, um sie auch nur für einen einzigen Augenblick in Schranken zu halten ; in die zweite Gruppe gehören jene Affekte, die leicht für einen Augenblick oder auch für eine kurze Spanne Zeit zurückgehalten werden können, die aber durch ihre beständigen und fast unaufhörlichen Anreize im Laufe des Lebens sehr leicht zu großen Abweichungen vom richtigen Wege zu führen vermögen. Furcht und Zorn bilden zusammen mit einigen anderen Affekten, die mit ihnen vermengt oder verbunden sind, die erste Klasse. Der Hang zur Gemächlichkeit, zum Vergnügen, zum Beifall und zu vielen anderen egoistischen Genüssen bildet die zweite. Maßlose Furcht und wütender Zorn können oft auch für einen einzigen Augenblick nur schwer zurückgehalten werden. Der Hang zur Gemächlichkeit, zum Vergnügen, zum Beifall und zu anderen
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egoistischen Genüssen ist immer leicht für einen Augenblick oder auch für eine kurze Spanne Zeit zurückzuhalten, aber durch ihre beständigen Anreize verleiten sie uns oft zu vielen Schwachheiten, deren wir uns nachher mit Recht zu schämen pflegen. Von der ersteren Gattung von Affekten könnte man oft sagen, sie treiben uns weg von unserer Pflicht, während die letzteren uns verführen, der Pflicht untreu zu werden. Die Herrschaft über die ersteren wurde von den alten Moralphilosophen, auf die ich früher angespielt habe, Tapferkeit, Mannhaftigkeit und Seelenstärke genannt, die über die letzteren Mäßigkeit, Anstand, Bescheidenheit und Mäßigung. Die Herrschaft über eine jede dieser beiden Arten von Affekten besitzt unabhängig von der Schönheit, die sie aus ihrer Nützlichkeit und aus dem Umstand schöpft, daß sie uns befähigt, bei allen Gelegenheiten den Anordnungen der Klugheit, der Gerechtigkeit und des richtigen Wohlwollens gemäß zu handeln, an sich selbst eine gewisse Schönheit und scheint um ihrer selbst willen ein gewisses Maß von Achtung und Bewunderung zu verdienen. Im einen Falle erregt die Stärke und Größe der Anstrengung bis zu einem gewissen Grade schon jene Achtung und Bewunderung. In dem anderen Falle die Gleichförmigkeit, Gleichmäßigkeit und nie nachlassende Beständigkeit jener Anstrengung. Der Mann, der in Gefahren, unter Folterqualen, im Angesichte des Todes sogar, seine unveränderte Ruhe bewahrt und sich kein Wort, keine Gebärde entschlüpfen läßt, die nicht mit den Gefühlen des gleichgültigsten Zuschauers in voller Übereinstimmung stünden, flößt uns notwendig ein hohes Maß von Bewunderung ein. Wenn er noch dazu für die Sache der Freiheit und Gerechtigkeit leidet und um der Menschlichkeit und Vaterlandsliebe willen, dann verbinden sich das innigste Mitleid für seine Leiden, der stärkste Unwille gegen die Ungerechtigkeit seiner Verfolger, die wärmste, der Sympathie entspringende Dankbarkeit für seine wohltätigen Absichten, das höchste Gefühl für sein Verdienst,
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
und alle diese Empfindungen mischen sich mit der Bewunderung seiner Seelengröße und entflammen dieses Gefühl oft bis zur enthusiastischsten und hinreißendsten Verehrung. Die Helden der alten und modernen Geschichte, deren man mit ganz besonderer Gunst und Zuneigung gedenkt, sind größtenteils diejenigen, die um der Wahrheit, der Freiheit und Gerechtigkeit willen auf dem Schafott geendet haben und die dabei noch dort jene Ruhe und Würde an den Tag gelegt haben, die ihnen geziemte. Hätten die Feinde des Sokrates ihn ruhig in seinem Bette sterben lassen, so hätte selbst der Ruhm dieses großen Philosophen möglicherweise niemals jenen blendenden Glanz erreicht, in dem ihn alle folgenden Zeiten gesehen haben. Wenn wir in der englischen Geschichte die Porträts jener berühmten Häupter überblicken, die von Vertue und Houbraken gestochen worden sind, wird es kaum einen Menschen geben, der nicht fühlen würde, daß das Beil, welches unter einigen der berühmtesten derselben abgebildet ist als das Zeichen dafür, daß ihre Urbilder enthauptet worden sind – wie unter den Bildern eines Sir Thomas More, eines Raleigh, eines Russel, eines Sidney usw. – den Personen, deren Porträt es beigefügt ist, in Wahrheit eine Würde und Interessantheit verleiht, die weit höher ist als diejenige, die sie aus all den nichtigen Ornamenten der Heraldik schöpfen könnten, die ihren Bildern mitunter beigesetzt sind. Und diese Seelengröße verleiht nicht nur den Charakteren schuldloser und tugendhafter Menschen einen gewissen Glanz. Sie setzt auch diejenigen der größten Verbrecher bis zu einem gewissen Grade in ein günstiges Licht, und wenn ein Räuber oder Wegelagerer auf das Schafott gebracht wird und dort mit Anstand und Stärke auftritt, so werden wir oft – obgleich wir seine Bestrafung vollständig gutheißen – doch nicht umhin können, Bedauern darüber zu empfinden, daß ein Mensch, der so große und edle Kräfte besaß, so niedriger Untaten fähig gewesen ist. Der Krieg ist die große Schule, um diese Art von Seelenstärke
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zu erwerben und zu üben. Der Tod ist, wie wir sagen, der König der Schrecken, und der Mann, der einmal die Furcht vor dem Tode besiegt hat, würde wohl nicht leicht angesichts des Herannahens irgendeines anderen natürlichen Übels, die Geistesgegenwart verlieren. Im Kriege werden die Menschen mit dem Tode vertraut und werden dadurch von jenem abergläubischen Grauen geheilt, mit dem er von Schwächlingen und Unerfahrenen angesehen wird. Sie betrachten ihn nur als den Verlust des Lebens und als etwas, das keineswegs in höherem Maße Abneigung verdient, als das Leben wert ist begehrt zu werden. Sie gewinnen auch aus der Erfahrung die Erkenntnis, daß manche scheinbar großen Gefahren nicht so groß sind, wie sie zunächst erscheinen, und daß oft die größte Wahrscheinlichkeit dafür spricht, man werde sich mit Mut, Tatkraft und Geistesgegenwart mit Ehren aus Situationen ziehen können, die auf den ersten Blick hoffnungslos zu sein schienen. Die Furcht vor dem Tode wird so bedeutend vermindert und die Zuversicht oder die Hoffnung, ihm zu entgehen, wird vermehrt. Sie lernen, sich mit weniger Widerwillen Gefahren auszusetzen. Sie sind weniger ängstlich darauf bedacht, aus einer Gefahr herauszukommen, und werden nun weniger leicht ihre Geistesgegenwart verlieren, solange sie sich in der Gefahr befinden. Diese zur Gewohnheit gewordene Verachtung von Gefahr und Tod ist es, was den Beruf des Soldaten adelt, und was ihm in der gewöhnlichen Auffassung der Menschen einen Rang und eine Würde verleiht, die denjenigen aller anderen Berufe überlegen sind. In dem Charakter der Lieblingshelden aller Zeiten scheint der Umstand, daß sie in sachkundiger und erfolgreicher Weise diesen Beruf im Dienste ihres Landes ausgeübt haben, den hervorstechendsten Zug gebildet zu haben. Große kriegerische Heldentaten erwecken mitunter unsere Anteilnahme, obgleich sie gegen alle Grundsätze der Gerechtigkeit unternommen und ohne jede Rücksicht auf die Menschlichkeit
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durchgeführt wurden, und flößen uns trotzdem sogar bis zu einem gewissen Grade eine Art von Achtung für den ganz unwürdigen Charakter derjenigen ein, die diese Taten vollbrachten. Sogar die Taten der Buccanier erwecken unsere Teilnahme und wir lesen mit einer Art von Achtung und Bewunderung die Geschichte dieser ganz unwürdigen Menschen, die in Verfolgung ihrer äußerst verbrecherischen Absichten größere Beschwerden ertragen, größere Schwierigkeiten überwunden und größere Gefahren bestanden haben als vielleicht alle diejenigen, von denen die Geschichte in ihrem gewöhnlichen Verlauf berichtet. Die Beherrschung des Zornes erscheint in vielen Fällen nicht weniger edel und vornehm als die der Furcht. Der schickliche Ausdruck gerechten Unwillens bildet viele der glänzendsten und bewundertsten Stellen antiker und moderner Beredsamkeit. Die Philippiken des Demosthenes, die Catilinarischen Reden des Cicero verdanken ihre ganze Schönheit der edlen und schicklichen Weise, wie hier dieser Affekt zum Ausdruck gebracht wird. Und doch ist dieser gerechte Unwille nichts anderes als Zorn, in Schranken gehalten und schicklicherweise auf jenes Maß gemildert, welchem der unparteiische Zuschauer beizustimmen vermag. Der tobende und lärmende Affekt, der dieses Maß überschreitet, ist uns immer verhaßt und widerwärtig und erweckt nicht für denjenigen unsere Anteilnahme, der den Zorn empfindet, sondern für denjenigen, gegen den sich der Zorn richtet. Das vornehme Verzeihen scheint in vielen Fällen höher zu stehen als ein noch so schickliches Vergeltungsgefühl. Wenn von Seiten des Beleidigers geziemende Entschuldigungen vorgebracht wurden, oder wenn dies zwar nicht geschehen, wenn das öffentliche Interesse es jedoch erfordert, daß die erbittertsten Todfeinde zur Erfüllung irgendeiner wichtigen Pflicht sich einigen, dann wird derjenige, der alle seine Erbitterung von sich zu werfen vermag, und der imstande ist, in seinen Handlungen Vertrauen und Herzlichkeit gegenüber demjenigen zu bezeigen, der ihn am schwersten be-
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leidigt hatte, offenbar mit Recht unsere höchste Bewunderung verdienen. Die Beherrschung des Zorns wird indessen nicht immer in solchen glänzenden Farben erscheinen. Die Furcht ist dem Zorn entgegengesetzt und bildet oft den Beweggrund, der den letzteren in Schranken hält ; in derartigen Fällen nimmt die Niedrigkeit des Beweggrundes jener Zurückhaltung all ihre Vornehmheit. Der Zorn treibt uns, anzugreifen ; sich ihm hinzugeben, beweist mitunter eine Art von Mut und Überlegenheit über die Furcht. Sich dem Zorn zu überlassen, gilt mitunter als etwas, worauf man eitel ist ; niemals jedoch, sich der Furcht zu überlassen. Eitle und schwache Menschen stellen sich oft, wenn sie unter ihresgleichen oder unter solchen Menschen sind, die es nicht wagen, ihnen Widerstand zu leisten, so, als wären sie von einem großtuerischen Zorn überwältigt, und bilden sich ein, daß sie damit »ein feuriges Temperament« beweisen. Ein Prahler pflegt eine Menge Geschichten von seiner eigenen Rücksichtslosigkeit zu erzählen, die gar nicht wahr sind, und er bildet sich ein, daß er sich dadurch seiner Zuhörerschaft wenn schon nicht liebenswerter und achtungswürdiger, so doch wenigstens furchtbarer mache. Die moderen Sitten, von denen man behaupten könnte, daß sie durch die Begünstigung der Duellpraxis in gewissen Fällen die Privatrache ermutigen, tragen vielleicht sehr viel dazu bei, in neuerer Zeit die Zurückhaltung des Zornes durch Furcht noch verächtlicher zu machen, als sie dies sonst zu sein scheinen möchte. In der Beherrschung der Furcht liegt immer etwas Edles, gleichgültig, welches der Beweggrund war, auf den sie sich gründet. Mit der Beherrschung des Zornes verhält es sich nicht ebenso. Soferne diese sich nicht gänzlich auf das Gefühl für Anstand, Würde und Schicklichkeit gründet, ist sie niemals vollkommen angemessen. Es scheint uns kein besonderes Verdienst darin zu liegen, wenn man dort den Geboten der Klugheit, Gerechtigkeit und richtiger Wohltätigkeit gemäß handelt, wo keine Versuchung bestand, sich
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
anders zu verhalten. Jedoch inmitten der größten Gefahren und Schwierigkeiten mit kühler Überlegung zu handeln, gewissenhaft die heiligen Regeln der Gerechtigkeit zu beobachten, obwohl uns die stärksten Neigungen in Versuchung führen und die ärgsten Beleidigungen uns reizen mögen, diese Regeln zu verletzen ; niemals unsere wohlwollende Gemütsart durch die Bösartigkeit und Undankbarkeit derjenigen dämpfen und entmutigen zu lassen, denen gegenüber wir sie vielleicht gerade betätigt haben, das ist das Kennzeichen der erhabensten Weisheit und Tugend. Selbstbeherrschung ist nicht nur selbst eine große Tugend, sondern von ihr scheinen auch alle anderen Tugenden ihren Glanz in erster Linie zu empfangen. Die Beherrschung der Furcht und die Beherrschung des Zornes sind immer große und edle Leistungen der Seele. Wenn sie durch Gerechtigkeit und Wohlwollen geleitet werden, sind sie nicht nur große Tugenden, sondern sie vermehren noch den Glanz jener anderen Tugenden. Sie können indessen mitunter auch durch ganz andere Beweggründe geleitet werden und in diesem Falle sind sie zwar immer noch groß und achtunggebietend, können aber dabei äußerst gefährlich sein. Die unerschrockenste Tapferkeit kann in den Dienst einer höchst ungerechten Sache gestellt werden. Scheinbare Ruhe und gute Laune angesichts schwerer Herausforderungen kann mitunter die entschiedenste und grausamste Entschlossenheit zur Rache verbergen. Die Geistesstärke, die zu einer solchen Verstellung erforderlich ist, wird zwar immer und notwendigerweise durch die Niedrigkeit, die in der Falschheit liegt, befleckt werden, ist jedoch trotzdem oft von zahlreichen Leuten bewundert worden, deren Urteilsfähigkeit durchaus nicht zu verachten war. Die Verstellung der Catharina von Medici wird von dem gründlichen Historiker Davila wiederholt gefeiert, die des Lord Digby, nachmaligen Earl of Bristol, wird durch den ernsten und gewissenhaften Lord Clarendon, jene des älteren Ashley Earl of Shaftesbury durch den verständigen Locke
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gerühmt. Selbst Cicero scheint einem derartigen ränkevollen Wesen zwar freilich nicht die höchste Würde zuzuerkennen, aber er scheint doch der Meinung zu sein, daß es zu einer gewissen Biegsamkeit der Sitten nicht schlecht passe, welche er trotz allem im ganzen für angemessen und achtenswert hält. Als Beispiel führt er den Charakter von Homers Ulysses, den Charakter des Atheners Themistokles, des Spartaners Lysander und des Römers Marcus Crassus an. Diese finstere und listige Verstellung begegnet uns am häufigsten in Zeiten großer öffentlicher Unordnung ; inmitten der Gewalttätigkeit des Aufruhrs und des Bürgerkrieges. Wenn das Gesetz in der Mehrzahl der Fälle machtlos geworden ist, wenn die vollkommenste Schuldlosigkeit nicht mehr allein für die Sicherheit des einzelnen zu bürgen vermag, dann zwingt die Rücksicht auf die Selbstverteidigung die Mehrzahl der Menschen, zur Gewandtheit und Geschicklichkeit ihre Zuflucht zu nehmen und zu einer scheinbaren Anpassung an die im Augenblick gerade die Oberhand gewinnende Partei. Auch diese Falschheit ist häufig von einer äußerst kaltblütigen und entschlossenen Tapferkeit begleitet. Die richtige Betätigung derselben zwingt geradezu zu jener Tapferkeit, da gewöhnlich der Tod die sichere Folge der Entdeckung wäre. Jene Falschheit kann in gleicher Weise dazu verwendet werden, um jene wütende Erbitterung feindlicher Parteien – die eben den einzelnen zur Verstellung zwingt – anzufachen oder sie zu dämpfen, und obgleich jene Falschheit mitunter nützlich sein mag, so ist sie mindestens ebenso fähig, äußerst verderblich zu werden. Die Beherrschung der weniger heftigen und ungestümen Affekte scheint viel weniger leicht zu verderblichen Zwecken mißbraucht werden zu können. Mäßigkeit, Anstand, Bescheidenheit und Mäßigung sind immer liebenswert und können selten zu einem schlechten Endzweck gelenkt werden. Gerade aus der niemals nachlassenden Standhaftigkeit jener sanfteren Äußerungen der Selbstbeherrschung gewinnen die liebenswerte Tugend der
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
Keuschheit, die achtunggebietenden Tugenden des Fleißes und der Genügsamkeit all jenen ruhigen Glanz, der ihnen anhaftet. Das Verhalten aller derjenigen, die sich damit zufrieden geben, auf dem geringeren Pfade eines friedfertigen Privatlebens zu wandeln, schöpft größtenteils aus dem gleichen Prinzip die Schönheit und Anmut, die ihm zukommt, eine Schönheit und Anmut, die zwar weit weniger blendend, aber nicht immer weniger erfreulich ist als jene, die die glänzenderen Taten des Helden, des Staatsmannes oder des Gesetzgebers begleiten. Nach allem, was bereits in den verschiedenen Teilen dieser Abhandlung über das Wesen der Selbstbeherrschung gesagt wurde, halte ich es für unnötig, auf irgendwelche weitere Einzelheiten in bezug auf diese Tugend einzugehen. Ich will hier nur bemerken, daß der richtige, schickliche Grad eines jeden Affektes, derjenige Grad, welchen der unparteiische Zuschauer billigt, bei verschiedenen Affekten verschieden hoch gelegen ist. Bei manchen Affekten wirkt das Übermaß weniger unangenehm als eine zu geringe Stärke oder das gänzliche Fehlen des Affektes und bei solchen Affekten liegt offenbar der schickliche Grad ziemlich hoch oder doch näher zum Übermaß als zum Fehlen des Affektes. Bei anderen Affekten ist die zu geringe Stärke oder das Fehlen des Affektes weniger unangenehm als das Übermaß und bei solchen Affekten liegt der richtige Grad scheinbar ziemlich niedrig oder näher zum gänzlichen Mangel als zum Übermaß des Affektes. Die ersteren Affekte sind diejenigen, mit welchen der Zuschauer am leichtesten, die letzteren diejenigen, mit denen er am wenigsten leicht sympathisieren wird. Die ersteren Affekte sind auch diejenigen, deren unmittelbares Empfinden oder Fühlen dem zunächst Betroffenen angenehm ist, die letzteren diejenigen, deren Empfinden unangenehm ist. Man kann es als allgemeine Regel aufstellen, daß die Affekte, mit welchen der Zuschauer am leichtesten sympathisiert, und von denen man aus diesem Grunde sagen kann, daß bei ihnen der schickliche oder sittlich richtige Grad hoch
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liegt, diejenigen sind, deren unmittelbares Empfinden oder Fühlen dem zunächst Betroffenen mehr oder weniger angenehm ist, und daß umgekehrt diejenigen Affekte, mit welchen der Zuschauer am wenigsten leicht sympathisiert, und von denen man aus diesem Grunde sagen kann, daß bei ihnen der schickliche oder sittlich richtige Grad tief liegt, diejenigen sind, deren unmittelbares Empfinden oder Fühlen für den zunächst Betroffenen mehr oder weniger unangenehm oder selbst schmerzlich ist. Diese allgemeine Regel leidet – soweit ich zu beobachten imstande war – nicht eine einzige Ausnahme. Ein paar Beispiele werden diese Regel zur Genüge erklären und gleichzeitig den Beweis für ihre Richtigkeit erbringen. Der Hang zu denjenigen Neigungen, welche dahin wirken, die Menschen zur Gesellschaft zu einigen, der Hang zur Menschlichkeit, Güte, natürlichen Zuneigung, Freundschaft, Achtung, kann mitunter übermäßig stark sein. Indessen wird auch das Übermaß dieses Hanges jedermann für den betreffenden Menschen einnehmen. Obzwar wir dasselbe tadeln, betrachten wir es doch mit Mitleid und selbst mit Freundlichkeit, niemals jedoch mit Mißfallen. Es tut uns eher leid, als das wir uns darüber ärgern würden. Für den betreffenden Menschen selbst ist es in vielen Fällen nicht nur etwas Angenehmes, sich dem Übermaß dieser Neigungen hinzugeben, sondern geradezu etwas Herrliches. In manchen Fällen wird ihn dieser Hang freilich in wahre und tief gefühlte Bedrängnis stürzen, besonders dann, wenn sich jene Neigungen auf unwürdige Ziele richten, wie es ja nur allzu oft der Fall ist. Jedoch sogar bei solchen Gelegenheiten wird ein gut geartetes Gemüt ihn mit ausgesuchtem Mitleid und Erbarmen betrachten und den höchsten Unwillen gegen diejenigen fühlen, die sich so stellen, als würden sie ihn wegen seiner Schwäche und Unklugheit verachten. Der Mangel dieses Hangs auf der anderen Seite oder die sogenannte Herzenshärte wird, da sie den betreffenden Menschen für die Gefühle und Leiden der anderen unempfindlich macht,
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
die anderen ebenso gegen seine Gefühle und Leiden verhärten ; und indem sie ihn von der Freundschaft aller Welt ausschließt, wird sie ihn der besten und tröstlichsten aller sozialen Freuden berauben. Der Hang zu denjenigen Gefühlen, die die Menschen voneinander weg treiben, und die die Tendenz haben, gleichsam die Bande der menschlichen Gesellschaft zu zerbrechen, der Hang zu Zorn, Haß, Neid, Bosheit und Rachsucht pflegt umgekehrt weit leichter durch sein Übermaß als durch sein Fehlen Anstoß zu erregen. Das Übermaß dieses Hanges macht einen Menschen in seiner eigenen Meinung erbärmlich und elend und zieht ihm den Haß und mitunter sogar den Abscheu der anderen Menschen zu. Über den Mangel dieser Gefühle beklagt man sich sehr selten. Und doch können sie auch zu schwach sein. Das Fehlen eines gehörigen Unwillens ist ein äußerst wesentlicher Mangel in dem Charakter eines Mannes und würde diesen in vielen Fällen unfähig machen, sich selbst oder seine Freunde gegen Beleidigung oder Unrecht zu schützen. Selbst jenes Prinzip, in dessen Übermaß und unrichtiger Leitung der hassenswerte und abscheuliche Affekt des Neides besteht, kann zu schwach sein. Neid ist derjenige Affekt, welcher mit boshaftem Mißfallen den Vorrang derjenigen betrachtet, die doch wirklich auf den ganzen Vorrang, den sie besitzen, einen begründeten Anspruch haben. Derjenige jedoch, der es in wichtigen Angelegenheiten demütig duldet, daß andere Leute, die zu einem derartigen Vorrang keineswegs berechtigt sind, sich über ihn emporschwingen oder ihm zuvorkommen, der wird mit Recht als ein kleinmütiger Mensch verurteilt. Diese Schwäche beruht meistens auf Lässigkeit, mitunter auf Gutmütigkeit, auf einer Abneigung dagegen, anderen Widerstand zu leisten, Aufsehen zu erregen und immer wieder Gesuche zu stellen, und manchmal auch auf einer Art schlecht verstandener Großzügigkeit, die sich einbildet, daß sie jene Vorteile immer werde geringschätzen können, die sie jetzt
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geringschätzt und darum so leichten Herzens aufgibt. Auf solche Schwäche folgt indessen meistens starkes Bedauern und große Reue ; und was anfangs einen gewissen Anschein von großzügiger Gesinnung trug, macht häufig schließlich einem äußerst bösartigen Neid Platz und einem Haß gegen jenen Vorrang, auf welchen diejenigen, die ihn einmal erreicht haben, oft wirklich einen gewissen Anspruch besitzen mögen, und zwar eben auf Grund des Umstandes, daß sie diesen Vorrang erreicht haben. Um in der Welt angenehm zu leben, ist es ebenso notwendig, bei allen Gelegenheiten unsere Würde und unsere Stellung zu verteidigen, wie es nötig ist, unser Leben oder unser Vermögen zu verteidigen. Unsere Empfindlichkeit für persönliche Gefahren und Leiden pflegt ebenso wie die Empfindlichkeit für Beleidigungen, die sich gegen unsere Person richten, eher durch ihr Übermaß als durch ihre zu geringe Stärke Anstoß zu erregen. Kein Mensch wird mehr von aller Welt verachtet als ein Feigling – kein Mensch wird mehr von allen bewundert als derjenige, welcher dem Tode unerschrocken ins Auge sieht und inmitten der fürchterlichsten Gefahren seine Ruhe und seine Geistesgegenwart bewahrt. Wir achten einen Mann, der Schmerzen und sogar Folterqualen mit Männlichkeit und Standhaftigkeit erträgt, und wir können für denjenigen wenig Achtung empfinden, der diesen Schmerzen erliegt und sich unnützem Schreien und weibischem Klagen hingibt. Ein verdrossenes Gemüt, das sich in allzu großer Empfindlichkeit jede kleine Widerwärtigkeit zu Herzen nimmt, macht den betreffenden Menschen selbst unglücklich und macht ihn zugleich anderen Menschen unangenehm. Ein ruhiger Mensch, der seine Gemütsruhe nicht durch die kleinen Beleidigungen oder die kleinen Mißgeschicke stören läßt, die der gewöhnliche Lauf der menschlichen Angelegenheiten mit sich bringt, sondern der inmitten der natürlichen und moralischen Übel, die die Welt heimsuchen, darauf rechnet und auch damit zufrieden ist, unter beiden Arten von Übeln ein wenig zu leiden, ist ein Segen für sich
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
selbst und verbreitet zugleich unter allen seinen Gefährten Ruhe und Sorglosigkeit. Unsere Empfindlichkeit für die uns angetanen Beleidigungen und für das uns widerfahrende Unglück kann jedoch, obzwar sie im allgemeinen zu stark sein wird, ebensogut auch zu schwach sein. Derjenige, der für das Unglück, das ihn selbst trifft, wenig empfindet, wird notwendigerweise immer noch weniger für das Unglück anderer Leute fühlen und noch weniger geneigt sein, sie zu unterstützen. Derjenige, der wenig Vergeltungsgefühl wegen des Unrechtes empfindet, das ihm selbst zugefügt wird, wird immer noch weniger Vergeltungsgefühl für das Unrecht empfinden, das anderen zugefügt wurde, und darum weniger geneigt sein, sie zu schützen oder zu rächen. Eine stumpfe Unempfindlichkeit gegenüber den Ereignissen des menschlichen Lebens wird notwendigerweise jene scharfe und ernste Aufmerksamkeit auf die sittliche Richtigkeit unseres Verhaltens auslöschen, die das eigentliche Wesen der Tugend bildet. Wir können naturgemäß nur wenig Besorgnis in bezug auf die sittliche Richtigkeit unserer Handlungen fühlen, wenn uns der Erfolg gleichgültig läßt, der sich aus ihnen ergeben mag. Derjenige, der den ganzen Jammer des Unglücks fühlt, das ihn betroffen hat, der die ganze Niedrigkeit jener Ungerechtigkeit empfindet, die ihm angetan wurde, der aber noch stärker fühlt, was die Würde seines Charakters von ihm fordert ; der sich nicht der Führung ungezügelter Affekte überläßt, die seine Lage naturgemäß in ihm erwecken mag ; sondern der sein ganzes Benehmen und Verhalten gemäß jenen zurückgedämmten und auf das richtige Maß zurückgebrachten Gemütsbewegungen einrichtet, die der große Inwohner, der große Halbgott in seiner eigenen Brust, vorschreibt und billigt, er allein ist der wirklich tugendhafte Mensch, der in Wahrheit Liebe, Achtung und Bewunderung verdient. – Unempfindlichkeit und jene edle Standhaftigkeit, jene erhabene Selbstbeherrschung, die sich auf das Gefühl für Würde und sittliche Richtigkeit gründet, sind so weit davon entfernt, mit-
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einander identisch zu sein, daß im gleichen Maße, als die erstere sich irgendwo zeigt, das Verdienst der letzteren vermindert, ja in vielen Fällen ganz beseitigt wird. Obgleich aber der vollständige Mangel an Empfindlichkeit für das uns persönlich zugefügte Unrecht, für persönliche Gefahr und Not in derartigen Situationen das ganze Verdienst der Selbstbeherrschung beseitigen würde, so kann indessen jene Empfindlichkeit doch auch sehr leicht allzu überfein sein ; und das wird auch wirklich häufig zutreffen. Wenn das Gefühl für das sittlich Richtige, wenn die Autorität des Richters in unserer Brust diese außergewöhnlich feine Empfindlichkeit zu zügeln vermag, dann muß jene Autorität zweifellos als etwas sehr Edles und sehr Großes erscheinen. Die Anstrengung, die dazu nötig ist, jene Autorität durchzusetzen, kann aber allzu ermüdend, und was sie leisten müßte, allzuviel sein. Dem Individuum mag es zwar durch große Selbstüberwindung gelingen, sich ganz richtig zu betragen. Aber der Widerstreit zwischen jenen beiden Prinzipien, der Krieg, den sie in seiner Brust miteinander führen, kann allzu heftig sein, um überhaupt noch eine innere Ruhe und Glückseligkeit bestehen zu lassen. Ein weiser Mann, den die Natur mit jener außergewöhnlichen Empfindsamkeit begabt hat, und dessen allzu lebhaftes Fühlen nicht schon durch frühzeitig einsetzende Erziehung und durch richtige Übung abgestumpft und abgehärtet worden ist, wird, soweit es Pflicht und Sittlichkeit erlauben, jenen Situationen aus dem Wege gehen, denen er nicht vollkommen gewachsen ist. Ein Mann, dessen schwächliche und zarte Körperbeschaffenheit ihn für Schmerzen, Strapazen und körperliche Leiden aller Art zu empfindlich macht, sollte nicht ohne Not den Beruf eines Soldaten ergreifen. Ein Mann, der eine allzu starke Empfindlichkeit für ihm angetanes Unrecht besitzt, sollte nicht so unbesonnen sein, sich in Parteizwistigkeiten einzulassen. Sollte auch das Gefühl für das sittlich Richtige stark genug sein, um aller jener Empfindlichkeiten Herr zu werden, so
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
müßte doch stets in diesem Streit die Ruhe des Gemütes stark gestört werden. In dieser Verwirrung vermag die Urteilskraft nicht immer ihre gewohnte Schärfe und Genauigkeit aufrechtzuerhalten ; der betreffende Mensch mag zwar immer noch willens sein, sittlich richtig zu handeln, aber er wird in Wahrheit doch oft unbesonnen, unklug und in einer Weise handeln, deren er sich zeit seines Lebens immer schämen wird. Eine gewisse Unerschrockenheit, starke Nerven und ein abgehärteter Körper, mögen diese nun dem Menschen von Natur zu eigen oder erst von ihm erworben sein, sind zweifellos die besten Vorbereitungsmittel für alle großen Leistungen der Selbstbeherrschung. Krieg und Parteizwiste sind zwar sicherlich die besten Schulen, um in einem Menschen diese Gefühlsabhärtung und Charakterstärke auszubilden, und sind zugleich die besten Heilmittel, um ihn von den entgegengesetzten Schwächen zu kurieren, trotzdem aber dürften, wenn der Tag der Versuchung zufällig eintritt, bevor er seine Lektion vollständig erlernt hat, bevor das Heilmittel Zeit gehabt hat, seine richtige Wirkung hervorzubringen, die Folgen keine angenehmen sein. Unsere Empfänglichkeit für die Vergnügungen, für die Unterhaltungen und Genüsse des menschlichen Lebens kann in gleicher Weise durch ihr Übermaß wie durch ihr Fehlen Anstoß erregen. Von den beiden Extremen scheint hier jedoch das Übermaß weniger unangenehm als der Mangel. Sowohl für den Zuschauer als für die zunächst betroffene Person ist sicherlich eine starke Neigung zur Freude angenehmer als stumpfe Unempfindlichkeit gegen alles, was Unterhaltung und Zerstreuung bieten sollte. Die Heiterkeit der Jugend und selbst den Mutwillen der Kindheit finden wir immer reizend, wir werden dagegen der schalen und geschmacklosen Ernsthaftigkeit bald überdrüssig, wie sie allzu häufig dem Alter eigen ist. Wenn allerdings dieser Hang zur Freude nicht durch das Gefühl für das sittlich Richtige im Zaume gehalten wird, wenn er der Zeit oder dem Ort, dem Alter oder
Wen nennen wir tugendhaft ?
der Situation des Betreffenden nicht angemessen ist, wenn ein Mensch sein Interesse oder gar seine Pflicht vernachlässigt, um sich ihm zu überlassen, dann wird dieser Hang mit Recht getadelt, da er übermäßig und sowohl für das Individuum als für die Gesellschaft schädlich ist. Was man jedoch in der Mehrzahl solcher Fälle hauptsächlich daran auszusetzen findet, das ist nicht so sehr die Stärke jenes Hanges zur Freude als vielmehr die Schwäche des Pflichtgefühles und des Gefühles für das sittlich Richtige. Ein junger Mann, der an den Zerstreuungen und Unterhaltungen kein Vergnügen findet, die seinem Alter angemessen und natürlich sind, der von nichts anderem spricht als von seinen Büchern oder seinen Geschäften, wird allgemein mißfallen und für geziert und pedantisch gehalten werden ; und wir werden ihm nicht einmal recht glauben, daß er sich auch nur unschicklicher Genüsse enthalte, zu denen er doch so wenig Neigung zu empfinden scheint. Auch die Selbstachtung ist ein Prinzip, das ebensowohl zu stark wie zu schwach ausgebildet sein kann. Es ist uns so überaus angenehm, von uns selbst eine gute Meinung zu hegen und so unangenehm, von uns selbst schlecht zu denken, daß zweifellos für den Betreffenden selbst ein Übermaß von Selbstachtung weit weniger unangenehm ist als ein zu geringer Grad davon. Man könnte aber vielleicht der Ansicht sein, daß sich die Dinge dem unparteiischen Zuschauer ganz anders darstellen müssen, und daß ihm ein Mangel an Selbstachtung immer weit weniger unangenehm erscheinen muß, als ein Übermaß davon. Und bei unseren Gefährten beklagen wir uns zweifellos weit häufiger über zu große als über zu geringe Selbstachtung. Wenn sie uns gegenüber großtun oder wenn sie sich selbst über uns stellen, dann kränkt uns ihre Selbstachtung in unserer eigenen. Unser eigener Stolz und unsere eigene Eitelkeit treiben uns, sie des Stolzes und der Eitelkeit zu beschuldigen und wir hören damit auf, unparteiische Zuschauer ihres Verhaltens zu sein. Wenn indessen die gleichen Gefährten es
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
dulden, daß ein anderer sich eine Überlegenheit über sie anmaße, die ihm nicht gebührt, dann werden wir sie nicht nur tadeln, sondern oft sogar geringschätzen und für kleinmütig erklären. Wenn sie andererseits unter anderen Leuten sich ein wenig mehr vorwärts schieben und zu einer Höhe hinaufklettern, die, wie wir meinen, zu ihrem Verdienst in keinem richtigen Verhältnis steht, dann werden wir zwar ihr Betragen nicht vollkommen gutheißen aber es wird uns doch im großen Ganzen eher belustigen ; und wir werden in diesem Falle – wenn nicht gerade irgendwelcher Neid im Spiele ist – ihnen weit weniger zürnen, als wir es getan hätten, wenn sie sich unter die ihnen gebührende Stellung hätten herabsinken lassen. Wenn wir unsere eigenen Verdienste abschätzen, wenn wir über unseren Charakter und unser Verhalten urteilen wollen, haben wir zweierlei Maßstäbe, mit welchen wir sie natürlicherweise vergleichen. Der eine ist die Vorstellung genauer sittlicher Richtigkeit und Vollkommenheit, soweit jeder einzelne von uns eben fähig ist, diese Vorstellung überhaupt zu fassen. Der andere Maßstab ist jener Grad der Annäherung an diese Vorstellung, der gewöhnlich in der Welt erreicht wird, und welchen die Mehrzahl unserer Freunde und Gefährten, unserer Rivalen und Mitbewerber tatsächlich erreicht haben mögen. Wir werden selten – oder, wie ich glauben möchte, nie – den Versuch machen, über uns selbst zu urteilen, ohne daß wir dabei unsere Aufmerksamkeit mehr oder weniger auf diese beiden Maßstäbe lenken würden. Die Aufmerksamkeit verschiedener Menschen oder sogar desselben Menschen zu verschiedenen Zeiten ist oft sehr ungleich zwischen diesen Maßstäben geteilt und ist manchmal vorzugsweise auf den einen, manchmal auf den andern gerichtet. Solange sich unsere Aufmerksamkeit auf den ersten Maßstab richtet, wird selbst der Weiseste und Beste von uns allen in seinem eigenen Charakter und Verhalten nichts anderes zu sehen vermögen, als Schwäche und Unvollkommenheit. Er wird keinen Grund
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zur Anmaßung und Überhebung entdecken können, dafür um so mehr Grund zur Demut, zum Bedauern und zur Reue. Insofern unsere Aufmerksamkeit auf den zweiten Maßstab gerichtet ist, können wir den einen oder den andern Eindruck empfangen und uns entweder wirklich über oder wirklich unter dem Maß finden, mit dem wir uns vergleichen. Der Weise und Tugendhafte wird seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den ersten Maßstab lenken, nämlich auf die Vorstellung genauer sittlicher Richtigkeit und Vollkommenheit. In dem Geiste eines jeden Menschen gibt es eine derartige Vorstellung, die sich nach und nach aus seinen Beobachtungen über seinen eigenen Charakter und sein Verhalten sowie über diejenigen anderer Personen gebildet hat. Sie ist das langsam und schrittweise fortschreitende Werk des großen Halbgottes in seiner Brust, des großen Richters und Schiedsherrn über sein Verhalten. Diese Vorstellung ist in jedem Menschen mehr oder weniger genau gezeichnet, ihre Farben sind mehr oder weniger richtig, ihre Umrisse mehr oder weniger exakt gezogen, je nach der Zartheit und Schärfe jener Empfindsamkeit, mit welcher er diese Beobachtungen gemacht, und je nach der Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die er dabei aufgewendet hat. Von einem Weisen und Tugendhaften werden diese Beobachtungen mit der höchsten Schärfe und der zartesten Feinfühligkeit gemacht und die äußerste Sorgfalt und Aufmerksamkeit ist von ihm dabei aufgewendet worden. Jeden Tag wurde irgendein Zug verbessert, jeden Tag irgendein Fehler richtiggestellt. Er hat diese Vorstellung mehr als andere Leute studiert, er vermag diese Idee deutlicher zu erfassen, er hat sich ein richtigeres Bild von ihr gemacht und ihn erfüllt eine tiefere Liebe zu ihrer erlesenen und göttlichen Schönheit als alle die anderen Menschen. Er bemüht sich, so gut er kann, seinen eigenen Charakter diesem Urbild der Vollkommenheit ähnlich zu machen. Aber, was er nachahmt, ist das Werk eines göttlichen Künstlers, welchem man niemals gleichkommen kann. Er fühlt das Unvoll-
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
kommene in dem Erfolg seiner besten Bemühungen und sieht mit Kummer und Betrübnis, in wie mancherlei Zügen die sterbliche Kopie hinter dem unsterblichen Urbild zurückbleibt. Er erinnert sich mit großer Sorge und Kränkung, wie oft er aus Mangel an Aufmerksamkeit, aus Mangel an Urteilskraft, aus Mangel an Mäßigung, in Worten und Taten, im Verhalten und im Gespräch die genauen Regeln sittlicher Richtigkeit verletzt hat, und wie oft er insoferne von dem Muster abgewichen ist, nach welchem er doch seinen Charakter und sein Verhalten zu bilden wünschte. Sobald er aber seine Aufmerksamkeit auf den zweiten Maßstab richtet, nämlich auf jenen Grad von Trefflichkeit, den seine Freunde und Bekannten gewöhnlich erreicht haben, dann mag er sich freilich seiner eigenen Überlegenheit bewußt werden. Da aber seine Aufmerksamkeit der Hauptsache nach stets auf den ersten Maßstab gerichtet ist, wird er sich notwendig immer durch diesen Vergleich stärker gedemütigt fühlen, als er je durch den andern sich gehoben fühlen kann. Er wird niemals so aufgeblasen sein, daß er auf diejenigen, die wirklich unter ihm stehen, mit Übermut herabblicken würde. Er fühlt seine eigene Unvollkommenheit so gut, er weiß so gut, wie groß die Schwierigkeiten waren, die er zu überwinden hatte, um auch nur diese seine entfernte Annäherung an die Rechtschaffenheit zu erreichen, daß er nicht imstande ist, mit Verachtung auf die noch größere Unvollkommenheit anderer Leute zu blicken. Weit davon entfernt, über ihr Zurückbleiben zu spotten, betrachtet er es vielmehr mit dem nachsichtigsten Mitleid und ist jederzeit bereit, ihren weiteren Aufstieg durch seinen Rat und sein Beispiel zu fördern. Wenn sie in irgendeiner besonderen Eigenschaft etwa ihm überlegen sind – denn wer ist so vollkommen, daß ihm nicht manche Personen in mancherlei Eigenschaften überlegen sein sollten ? – dann wird er, weit entfernt, sie um ihre Überlegenheit zu beneiden, vielmehr, da er doch weiß, wie schwer es ist, sich auszuzeichnen, ihre ausgezeichneten Leistungen achten und ehren und wird niemals ermangeln,
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diesen im vollsten Maße, jenen Beifall zu spenden, den sie verdienen. Sein ganzes Gemüt trägt, kurz gesagt, das Gepräge und sein ganzes Betragen und Benehmen zeigen deutlich den Stempel einer wahrhaften Bescheidenheit ; sie zeigen eine sehr maßvolle Schätzung des eigenen Verdienstes und zu gleicher Zeit das volle Bewußtsein von den Verdiensten anderer Menschen. In allen freien Künsten, in der Malerei, in der Dichtkunst, in der Musik, in der Beredsamkeit, in der Philosophie, wird der große Künstler stets am besten empfinden, wie unvollkommen in Wahrheit selbst seine hervorragendsten Werke sind, und wird sich mehr als irgendein anderer Mensch dessen bewußt sein, wie sehr sie hinter jener idealen Vollkommenheit zurückbleiben, von der er sich einen Begriff gebildet hat, dem er, so gut er es vermag, nacheifert, obwohl er doch jede Hoffnung aufgegeben hat, ihn jemals ganz zu erreichen. Nur bei einem minder großen Künstler wird es vorkommen, daß er mit seinen Leistungen ganz zufrieden ist. Er weiß wenig von jener idealen Vollkommenheit, mit der er seine Gedanken nie belästigt hat, und er wird hauptsächlich mit Werken anderer Künstler, vielleicht mit solchen von noch niedrigerem Rang, seine eigenen Werke vergleichen wollen. Boileau, der große französische Dichter – der in manchem seiner Werke vielleicht hinter den größten antiken oder modernen Dichtern gleicher Art nicht zurücksteht – pflegte zu sagen, daß kein großer Mann jemals mit seinen eigenen Werken ganz zufrieden war. Sein Bekannter, Santeuil – Verfasser lateinischer Verse, der auf Grund dieser Schuljungenfertigkeit die Schwäche hatte, sich einzubilden, daß er ein Dichter sei – versicherte ihm einmal, daß er selbst mit seinen eigenen Werken stets vollkommen zufrieden gewesen sei. Boileau antwortete ihm darauf, vielleicht mit einer gewissen schalkhaften Zweideutigkeit, daß er (Santeuil) dann sicherlich der einzige große Mann wäre, dem es so ginge. Wenn Boileau seine Werke beurteilte, dann verglich er sie eben mit jenem Maßstab idealer Vollkommenheit, über welchen er auf sei-
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
nem besonderen Gebiete, der Dichtkunst, wie ich annehme, so tief nachgedacht, und den er so klar erfaßt hatte, als es einem Menschen überhaupt möglich ist, ein solches Ideal zu begreifen. Wenn dagegen Santeuil über seine eigenen Werke urteilte, dann verglich er sie, wie ich glaube, häuptsächlich mit jenen anderen Werken lateinischer Dichter seiner Zeit, hinter deren Mehrzahl er sicherlich durchaus nicht zurückstand. Sein Verhalten und seinen Lebenswandel jedoch ein ganzes Leben hindurch so zu führen und, wenn ich so sagen darf, so zu einem Ende zu bringen, daß sie eine gewisse Ähnlichkeit mit jener idealen Vollkommenheit zeigen, das ist sicherlich noch weit schwieriger, als irgendein Werk auf dem Gebiete einer jener freien Künste dem Ideal ähnlich zu machen. Der Künstler setzt sich ungestört zu seiner Arbeit, mit Muße und Sammlung und im vollen Besitz all seiner Geschicklichkeit, seiner Erfahrung und seines Wissens. Der Weise muß die Schicklichkeit seines Verhaltens aufrechterhalten in Gesundheit und Krankheit, im Erfolg und im Mißgeschick, in Stunden müder und schläfriger Lässigkeit, wie in Stunden der wachsamsten Aufmerksamkeit. Die plötzlichsten und unerwartetsten Schwierigkeiten und Leiden dürfen ihn niemals überraschen. Die Ungerechtigkeit anderer Menschen darf ihn niemals selbst zur Ungerechtigkeit hinreißen. Die Gewalttätigkeiten des Parteikampfes dürfen ihn niemals in Verwirrung bringen. All die Mühsale und Gefahren des Krieges dürfen ihn niemals entmutigen oder erschrecken. Unter den Menschen, die bei der Abschätzung ihrer Verdienste und bei der Beurteilung ihres Charakters und Verhaltens ihre Aufmerksamkeit zum weitaus größeren Teile auf den zweiten Maßstab richten, nämlich auf jenen gewöhnlichen Grad von Trefflichkeit, wie er gemeinhin von anderen Leuten erreicht wird, gibt es auch solche, die in Wahrheit und mit Recht das Gefühl haben, weit über dieses Maß hinaus zu ragen, und von denen jeder einsichtige und unparteiische Zuschauer anerkennen wird, daß dies wirklich der Fall ist. Da sich indes die Aufmerksamkeit sol-
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cher Menschen der Hauptsache nach nicht auf jenen Maßstab des Ideals richtet, sondern auf denjenigen gewöhnlicher Vollkommenheit, sind sie sich nur wenig ihrer eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten bewußt ; sie besitzen wenig Bescheidenheit, sie sind oft anmaßend, überhebend und eingebildet, sie hegen große Bewunderung für sich selbst und große Verachtung für alle anderen Menschen. Obwohl ihr Charakter im allgemeinen viel weniger sittlich ist und ihr Verdienst weit zurückbleibt hinter dem eines Mannes, der wahre und bescheidene Tugend sein eigen nennt, so pflegt doch ihr maßloser Eigendünkel, der sich auf ihre maßlose Selbstbewunderung gründet, die große Menge zu blenden und sogar solche Menschen zu täuschen, die weit über der großen Menge stehen. Die häufigen und oft wunderbaren Erfolge der unwissendsten Marktschreier und Betrüger, sowohl auf weltlichem als auf religiösem Gebiet, beweisen zur Genüge, wie leicht sich die große Menge selbst durch die ungeheuerlichste und unbegründetste Anmaßung betrügen läßt. Wenn aber derartige anmaßende Ansprüche durch sehr hohe, wahrhaft begründete Verdienste unterstützt werden, wenn sie mit all dem Glanz entfaltet werden, welchen ihnen nur Prahlerei und Großtuerei zu verleihen vermag, wenn sie durch den hohen Stand und die große Macht der betreffenden Menschen getragen werden, wenn sie oft mit Erfolg geäußert wurden und deswegen von dem lauten Beifall der großen Menge begleitet sind, dann wird sich oft auch ein besonnener und urteilsfähiger Mensch der allgemeinen Bewunderung anschließen. Schon der bloße Lärm jener törichten Beifallsrufe trägt oft dazu bei, seinen Verstand zu verwirren und er wird, solange er jene großen Männer nur aus einer gewissen Entfernung sieht, oft geneigt sein, sie mit aufrichtiger Bewunderung zu verehren, einer Bewunderung, die mitunter noch diejenige übertrifft, die jene Menschen anscheinend für sich selber hegen. Wenn nicht etwa ein Gefühl des Neides mitspielt, werden wir alle daran Gefallen finden, einen Menschen zu
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
bewundern, der in vielen Hinsichten so sehr der Bewunderung wert ist, und werden aus diesem Grunde naturgemäß geneigt sein, uns in unserer Einbildung jenen Menschen als in jeder Hinsicht vollendet und vollkommen vorzustellen. Die Maßlosigkeit der Selbstbewunderung, von der jene großen Männer erfüllt sind, wird freilich von weisen Menschen vielleicht recht wohl erkannt und sogar mit einer gewissen Verachtung durchschaut werden, wenn diese mit ihnen näher bekannt sind und daher insgeheim über jene stolze Anmaßung lächeln, welche von Leuten die ihnen ferner stehen, oft mit Ehrfurcht, ja fast mit Anbetung betrachtet wird. So ist es indessen zu allen Zeiten um die meisten Menschen bestellt gewesen, die sich den geräuschvollsten Ruhm und die ausgebreitetste Achtung verschafft haben, einen Ruhm und eine Achtung, die sich oft auch auf die späteste Nachwelt fortgepflanzt haben. Großer Erfolg in der Welt, großer Einfluß auf die Empfindungen und Meinungen der Menschen sind sehr selten ohne ein gewisses Maß jener übertriebenen Selbstbewunderung erworben worden. Die glänzendsten Charaktere, die Menschen, welche die berühmtesten Taten vollführt, und die größten Umwälzungen in den Lebensverhältnissen und in den Meinungen der Menschheit zustande gebracht haben, die erfolgreichsten Krieger, die größten Staatsmänner und Gesetzgeber, die beredten Gründer und Führer der ausgebreitetsten und erfolgreichsten Sekten und Parteien haben sich größtenteils weniger durch ihre wirklich sehr großen Verdienste, als durch ein Maß von Eigendünkel und Selbstbewunderung ausgezeichnet, das selbst zu jenem sehr großen Verdienste in keinem richtigen Verhältnis stand. Vielleicht war dieser Eigendünkel notwendig, nicht nur, um sie selbst zu Unternehmungen anzuspornen, an die ein besonnenerer Geist niemals auch nur zu denken gewagt hätte, sondern auch, um ihren Anhängern eine solche Unterwürfigkeit und solchen Gehorsam einzuflößen, daß sie ihnen in derartigen Unternehmungen Beistand leisteten.
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Darum hat sie dieser Eigendünkel, wofern ihre Unternehmungen von Erfolg gekrönt waren, oft zu einer Eitelkeit verleitet, die sich schon beinahe dem Wahnsinn und der Torheit näherte. Alexander der Große scheint nicht nur gewünscht zu haben, daß ihn andere Menschen für einen Gott hielten, sondern scheint schließlich selbst sehr geneigt gewesen zu sein, sich einzubilden, daß er ein Gott sei. Auf seinem Totenbette – also in einer am wenigsten gottähnlichen Situation – richtete er an seine Freunde die Aufforderung, sie mögen seiner alten Mutter Olympia die Ehre erweisen, sie zu der ansehnlichen Liste von Gottheiten, auf welche er selbst schon viel früher gesetzt worden war, nun ebenfalls hinzuzufügen. Inmitten der ehrerbietigen Bewunderung seiner Anhänger und Schüler, inmitten des allgemeinen Beifalls der Öffentlichkeit und, nachdem das Orakel, das wahrscheinlich der Stimme jenes Beifalls folgte, ihn für den weisesten der Menschen erklärt hatte, war selbst die große Weisheit eines Sokrates – obwohl sie es nicht zuließ, daß er sich selbst für einen Gott gehalten hätte – doch nicht groß genug, um ihn an der Einbildung zu verhindern, er empfange häufig insgeheim gewisse Winke von einem unsichtbaren, göttlichen Wesen. Der gesunde Verstand eines Cäsar war doch nicht so vollkommen gesund, daß er ihn daran gehindert hätte, an seiner göttlichen Abstammung von der Göttin Venus großen Gefallen zu finden und vor dem Tempel dieser seiner angeblichen Ahne den römischen Senat zu empfangen, ohne sich von seinem Sitz zu erheben, als jene erlauchte Körperschaft kam, um ihm gewisse Dekrete, in welchen ihm die außerordentlichsten Ehren übertragen wurden, zu überreichen. Dieser Übermut scheint zusammen mit einigen anderen Handlungen einer beinahe kindischen Eitelkeit, wie man sie bei einem so äußerst scharfen und zugleich so umfassenden Verstand kaum erwartet hätte, die Eifersucht der Öffentlichkeit angefacht, dadurch seine Mörder ermutigt und die Ausführung ihrer Verschwörung beschleunigt zu haben. Die Religion und die
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
Sitte moderner Zeiten gewähren unseren großen Männern wenig Aufmunterung dazu, sich für Götter oder auch nur für Propheten zu halten. Indessen hat großer Erfolg im Verein mit der Gunst des Volkes schon oft den größten unter ihnen so sehr den Kopf verdreht, daß er sie veranlaßt hat, sich eine Bedeutung zuzuschreiben und sich Fähigkeiten anzumaßen, welche über diejenigen weit hinausgingen, die sie wirklich besaßen, und daß er sie in ihrem Eigendünkel bewogen hat, sich in so manche unbedachte, mitunter sogar verderbliche Abenteuer zu stürzen. Es ist ein charakteristischer und fast einzig dastehender Zug des großen Herzogs von Marlborough, daß zehn Jahre so ununterbrochener und so glänzender Erfolge, wie kaum ein anderer General sich deren rühmen konnte, ihn niemals auch nur zu einer einzigen unbedachten Handlung, ja kaum zu einem einzigen unbedachten Wort oder Ausdruck zu verleiten vermochten. Eine gleich kühle Mäßigung und Selbstbeherrschung kann, wie ich glaube, keinem anderen großen Krieger neuerer Zeiten zugeschrieben werden ; weder dem Prinzen Eugen, noch dem verstorbenen König von Preußen, weder dem großen Prinzen von Condé, noch auch selbst Gustav Adolf. Turrenne scheint jener Selbstbeherrschung noch am nächsten gekommen zu sein, aber verschiedene Handlungen seines Lebens zeigen zur Genüge, daß sie bei ihm keineswegs zu jener Vollendung gelangt war, wie bei dem großen Herzog von Marlborough. Es gilt ebenso von den weniger bedeutenden Projekten des Privatlebens, wie von den ehrgeizigen und stolzen Bestrebungen von Personen, die sich in hohen Stellungen befinden, daß große geistige Anlagen und anfängliche Erfolge die Menschen häufig zu Unternehmungen ermutigt haben, die am Ende notwendig zu Bankrott und Untergang führen mußten. Die Achtung und Bewunderung, welche jeder unparteiische Zuschauer für das wahre Verdienst jener hochgemuten, selbstbewußten und edelgesinnten Personen empfindet, ist ein gerechtes
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und wohl begründetes, darum aber auch beständiges und bleibendes Gefühl und ist ganz und gar unabhängig von ihrem Glück oder Unglück. Anders verhält es sich mit jener Bewunderung, die er für jene übermäßige Selbstachtung und Anmaßung zu empfinden pflegt. Solange jene Personen in ihren Unternehmungen von Erfolg begünstig sind, läßt er sich oft durch sie vollkommen gefangen nehmen und hinreißen. Der Erfolg verbirgt seinem Auge nicht nur die große Unklugheit, sondern häufig auch die große Ungerechtigkeit ihrer Unternehmungen und, weit davon entfernt, diesen Mangel in ihrem Charakter zu tadeln, betrachtet er ihn oft mit äußerst enthusiastischer Bewunderung. Sobald sie indessen vom Unglück verfolgt werden, dann ändern die Dinge ihre Farben und ihre Namen. Was früher heldenmütige Seelenstärke war, das erhält nun wieder seinen richtigen Namen, nämlich den einer maßlosen Unbesonnenheit und Torheit ; die Schwärze jener Habsucht und Ungerechtigkeit, die früher unter dem Schimmer des Gelingens verborgen war, wird vollständig sichtbar und verdunkelt den ganzen strahlenden Glanz ihrer Unternehmungen. Hätte Cäsar die Schlacht von Pharsalus verloren, anstatt sie zu gewinnen, so wäre von dieser Stunde ab das Ansehen, das er in der öffentlichen Meinung genossen hätte, nur wenig über demjenigen des Catilina getanden und der ärgste Schwächling würde seine, gegen die Gesetze seines Landes gerichteten, Unternehmungen in schwärzeren Farben erblickt haben, als sie vielleicht selbst Cato mit all seiner parteimäßigen Erbitterung zu jener Zeit je betrachtet hat. Sein wirkliches Verdienst, sein treffender Geschmack, seine einfache und elegante Schreibweise, seine glänzende Beredsamkeit, seine Kunst der Kriegführung, seine Fähigkeit, in jeder Notlage Rettungsmittel zu finden, seine kühle und ruhige Urteilsfähigkeit in der Gefahr, seine vertrauensvolle Anhänglichkeit an seine Freunde, sein beispielloser Edelmut gegenüber seinen Feinden, all das wäre wohl anerkannt worden, aber nur eben so, wie die wirklichen Verdienste eines Catilina, der auch viele große Ei-
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
genschaften besaß, bis auf den heutigen Tag anerkannt werden. Aber der Übermut und die Ungerechtigkeit seines unersättlichen Ehrgeizes hätte den Ruhm all dieser wahren Verdienste verdunkelt und vielleicht ganz zum Verlöschen gebracht. Der Zufall hat in dieser Hinsicht wie in anderen bereits erwähnten Beziehungen einen großen Einfluß auf die ethischen Gefühle der Menschen und je nachdem ob er günstig oder ungünstig ist, vermag er einen und denselben Charakter zum Zielpunkt allgemeiner Liebe und Bewunderung oder zu dem allgemeiner Verhaßtheit und Verachtung zu machen. Diese arge Verwirrung in unseren ethischen Gefühlen ist indessen keineswegs ohne jeden Nutzen und wir können in diesem Falle wie in manchen anderen die Weisheit Gottes selbst an der Schwäche und Torheit des Menschen bewundern. Die Bewunderung, die wir für den Erfolg hegen, gründet sich auf dasselbe Prinzip wie die Achtung, die wir dem Reichtum und der Größe entgegenbringen ; beide sind gleich notwendig, um die Standesunterschiede und die Ordnung der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Diese Bewunderung des Erfolges lehrt uns, uns ruhiger denjenigen zu unterwerfen, die der Lauf der menschlichen Dinge zu unseren Vorgesetzten bestimmt, sie lehrt uns, jene Gewalttätigkeit, auf deren Seite das Glück steht, und der wir nicht länger Widerstand zu leisten vermögen, mit Ehrfurcht, ja sogar mit einer Art ehrerbietiger Zuneigung zu betrachten, und zwar nicht nur die Gewalttätigkeit so glänzender Charaktere, wie jene eines Cäsar oder eines Alexander waren, sondern oft auch jene der rohesten und wildesten Barbaren, eines Attila, eines Dschingis oder eines Tamerlan. Der gemeine Pöbel ist naturgemäß geneigt, zu jenen mächtigen Eroberern mit staunender dabei aber freilich zweifellos auch sehr schwächlicher und törichter Bewunderung emporzublicken. Diese Bewunderung lehrt die Menschen jedoch, sich mit weniger Widerstreben in jene Herrschaft zu fügen, die eine unwiderstehliche Gewalt ihnen auferlegt, und von welcher kein Widerstreben sie befreien könnte.
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Obgleich es mitunter den Anschein haben mag, daß im Wohlergehen derjenige, der eine maßlose Selbstachtung besitzt, vor einem Mann von pflichttreuer und bescheidener Tugend einen gewissen Vorteil voraus hat, obgleich der Beifall der großen Menge und derjenigen Menschen, die beide nur aus einer gewissen Entfernung erblicken, zugunsten des ersteren oft weit lauter ertönt als jemals zugunsten des anderen, so ist doch, wenn man alles genau erwägt, der wirkliche Überschuß von Vorteilen vielleicht in allen Fällen bei weitem mehr auf seiten des letzteren als auf der des ersteren. Derjenige, der sich weder selbst andere Verdienste zuschreibt als diejenigen, die ihm wirklich zukommen, noch den Wunsch hegt, daß andere ihm solche Verdienste zuerkennen möchten, fürchtet keine Erniedrigung und ängstet sich vor keiner Entdeckung, sondern ist stets zufrieden und sorglos und verläßt sich auf die echte Wahrheit und Gediegenheit seines Charakters. Seine Bewunderer mögen weder sehr zahlreich noch sehr laut in ihrem Beifall sein, der Weise jedoch, der ihn zugleich aus größter Nähe sieht und am besten kennt, wird ihn am meisten bewundern. Dem wirklich weisen Menschen gewährt darum die verständige und wohl erwogene Billigung eines einzigen Weisen eine weit tiefere und innigere Befriedigung als der ganze lärmende Beifall von zehntausend unwissenden, wenn auch noch so enthusiastischen Bewunderern. Er kann dasselbe sagen wie Parmenides, der einmal, als er eine philosophische Abhandlung vor einer öffentlichen Versammlung in Athen vorlas und plötzlich bemerkte, daß außer Plato die ganze Gesellschaft ihn verlassen hatte, trotzdem im Lesen fortfuhr und erklärte, daß Plato allein ihm eine genügende Zuhörerschaft wäre. Anders verhält es sich mit einem Menschen, der von übermäßiger Selbstachtung erfüllt ist. Die Weisen, die ihn aus der größten Nähe sehen, werden ihn am wenigsten bewundern. In dem Rausch des Glücks, in dem er sich befindet, scheint ihm ihre nüchterne und gerechte Einschätzung so weit hinter seiner
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
eigenen maßlosen Selbstbewunderung zurückzubleiben, daß er jene als bloße Böswilligkeit und als Neid betrachtet Er hegt gegen seine besten Freunde Argwohn. Ihre Gesellschaft wird ihm widerwärtig. Er vertreibt sie aus seiner Umgebung und belohnt ihre Dienste oft nicht bloß mit Undankbarkeit, sondern geradezu mit Grausamkeit und Ungerechtigkeit. Er schenkt sein Vertrauen Schmeichlern und Treulosen, die sich so stellen, als würden sie seine Eitelkeit und seinen Eigendünkel vergöttern, und so wird ein Charakter, der im Anfang zwar in gewisser Hinsicht mangelhaft, aber im großen Ganzen doch liebenswert und achtungswürdig war, schließlich verächtlich und hassenswert. In dem Rausch des Glücks tötete Alexander den Clytus, weil er die Kriegstaten seines Vaters Philipp den seinigen vorgezogen hatte, ließ er den Callisthenes zum Martertod führen, weil er sich geweigert hatte, ihm nach persischer Sitte die Adoration zu leisten, und mordete er den großen Freund seines Vaters, den ehrwürdigen Parmenio, nachdem er zuvor den einzigen, noch übrig gebliebenen Sohn des alten Mannes – alle anderen waren schon früher in seinem Dienste gefallen – auf einen ganz unbegründeten Verdacht hin zur Folter und schließlich zum Schafott hatte führen lassen. Das war jener Parmenio, von welchem Philipp zu sagen pflegte, daß die Athener sehr glücklich seien, da sie jedes Jahr zehn Generale finden könnten, während er dagegen in seinem ganzen Leben nur einen einzigen General zu finden vermochte, eben den Parmenio. Der Wachsamkeit und Aufmerksamkeit dieses Parmenio verdankte er es, daß er stets voll Sorglosigkeit und Vertrauen ruhen konnte, und in Stunden der Heiterkeit und Fröhlichkeit pflegte er zu sagen : »Lasset uns trinken, Freunde, ohne Gefahr können wir uns dem Trunke hingeben, denn Parmenio trinkt nie.« Es war dies derselbe Parmenio, von dem man sagte, daß Alexander in seiner Anwesenheit und mit seinem Rat alle seine Siege gewonnen, und daß er ohne seine Anwesenheit und seinen Rat niemals auch nur einen einzigen Sieg errungen habe.
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Jene demütigen Freunde, die ihm gegenüber stets voll Bewunderung und Schmeichelei waren, und die Alexander in Macht und Ansehen zurückließ, teilten sein Reich untereinander und nachdem sie so seine Familie und Verwandtschaft erst ihres Erbes beraubt hatten, ließen sie hierauf alle seine hinterbliebenen Angehörigen, Männer und Frauen, einen nach dem andern, töten. Bei Menschen von besonders glänzendem Charakter, die uns über das gewöhnliche Menschenmaß weit emporzuragen scheinen, werden wir häufig eine solche außerordentliche Selbstachtung nicht nur verzeihen, sondern wir werden ihr durchaus beipflichten und mit ihr sympathisieren. Wir nennen jene Menschen hochgemut, selbstbewußt und edelgesinnt ; das sind aber Wörter, die ihrer eigentlichen Bedeutung nach alle ein hohes Maß von Lob und Bewunderung ausdrücken. Bei solchen Charakteren dagegen, an denen wir keine so ausgezeichnete Überlegenheit bemerken, können wir einer derartig außerordentlichen Selbstachtung nicht beipflichten und mit derselben nicht sympathisieren. Sie ist uns widerwärtig und empört uns geradezu und nur mit einer gewissen Selbstüberwindung können wir sie verzeihen oder ertragen. Wir nennen sie Stolz oder Eitelkeit, das sind aber Wörter, von denen das letztere immer und das erstere in der Regel ein beträchtliches Maß von Tadel zum Ausdruck bringen. Jene beiden Laster sind indessen zwar in mancher Hinsicht einander ähnlich, da sie beide Modifikationen derselben außergewöhnlich starken Selbstachtung darstellen, in mancher anderen Beziehung jedoch voneinander sehr verschieden. Der Stolze ist aufrichtig und im Grunde seines Herzens von seiner Überlegenheit überzeugt, obgleich es manchmal schwer sein mag, zu erraten, worauf sich jene Überzeugung gründet. Er wünscht, daß ihr ihn in keinem anderen Lichte sehen möget, als in jenem, in welchem er selbst sich tatsächlich erblickt, sobald er sich in euere Lage versetzt. Er verlangt von euch nicht mehr, als was er für recht hält. Wenn ihr ihm zeigt, daß ihr ihn nicht
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
so achtet, wie er sich selbst achtet, dann wird er sich mehr beleidigt als gekränkt fühlen und wird dasselbe unwillige Vergeltungsgefühl empfinden, wie wenn er ein wirkliches Unrecht erlitten hätte. Auch dann wird er sich indessen nicht dazu herablassen, die Gründe auseinanderzusetzen, weshalb er jene Achtung beansprucht. Er verschmäht es, sich um euere Achtung zu bewerben. Er stellt sich sogar so, als würde er sie geringschätzen und bemüht sich, die Stellung, die er sich selbst zuerkennt, nicht so sehr dadurch aufrechtzuerhalten, daß er euch seine Überlegenheit fühlen läßt, als vielmehr dadurch, daß er euch euere eigene Minderwertigkeit zum Bewußtsein bringt. Es hat den Anschein, als wünsche er nicht so sehr, euere Achtung ihm gegenüber zu erwecken, als vielmehr, euere eigene Selbstachtung zu erschüttern. Der Eitle dagegen ist nicht aufrichtig und es wird sehr selten vorkommen, daß er im Grunde seines Herzens von jener Überlegenheit überzeugt wäre, von der er wünscht, daß ihr sie ihm zuerkennen möget. Er wünscht, daß ihr sein Bild in glänzenderen Farben sehen möget, als die sind, in denen es ihm selbst tatsächlich erscheint, wenn er sich in euere Lage versetzt und dabei annimmt, daß ihr alles das wisset, was er weiß. Sobald ihr ihm deshalb zeigt, daß ihr sein Bild in anderen Farben erblickt, vielleicht gerade in den richtigen Farben, dann wird er sich mehr gekränkt als beleidigt fühlen. Er benützt jede Gelegenheit, um die Gründe darzulegen, weshalb er Anspruch darauf erhebt, daß ihr ihm jene Überlegenheit zuerkennen möget, indem er sowohl in äußerst prahlerischer und unnötiger Weise die guten Eigenschaften und die Fertigkeiten zur Schau stellt, die er in leidlichem Grade besitzt, als auch, indem er manchmal sogar fälschlicherweise solche Eigenschaften zu besitzen vorgibt, die ihm entweder überhaupt fehlen, oder die er doch in einem so schwachen Grade besitzt, daß man mit gutem Grund sagen kann, er besitze sie überhaupt nicht. Weit davon entfernt, euere Achtung geringzuschätzen, bewirbt er sich um dieselbe vielmehr mit einer äußerst
Wen nennen wir tugendhaft ?
eifrigen Beflissenheit. Weit davon entfernt, euere Selbstachtung erschüttern zu wollen, ist er vielmehr glücklich, wenn er sie unterhalten kann, in der Hoffnung, daß ihr zum Lohn seine eigene Selbstachtung stützen helfen werdet. Er schmeichelt, damit man ihm schmeichle. Er bestrebt sich, euch zu gefallen, und bemüht sich, euch durch Höflichkeit und Gefälligkeit eine gute Meinung von sich beizubringen, mitunter sogar durch wirklich gute Dienste, die er vielleicht allerdings oft mit einer unnötigen Aufdringlichkeit zur Schau stellt. Der Eitle sieht, welche Achtung man hohem Rang und großem Vermögen zollt, und wünscht, diese Art von Achtung ebenso wie jene für Talente und Tugenden zu usurpieren. Seine Kleidung, seine Ausstattung, seine ganze Lebensführung, all das verkündet deshalb einen höheren Rang und ein größeres Vermögen, als ihm tatsächlich zukommt ; und um diesen törichten Betrug für ein paar Jahre im Anfange seines Lebens aufrechtzuerhalten, stürzt er sich oft in Armut und Not, lange vor dem Ende seines Lebens. Solange er indessen diesen Aufwand fortzuführen vermag, ergötzt es seine Eitelkeit, wenn er sich selbst nicht in dem Lichte betrachten muß, in dem ihr ihn erblicken würdet, wenn ihr alles wüßtet, was er weiß, sondern wenn er sich in dem Lichte betrachten kann, in dem ihr ihn tatsächlich erblickt, wozu er euch durch seine Geschicklichkeit gebracht zu haben glaubt. Von allen betrügerischen Täuschungen der Eitelkeit ist diese vielleicht die gewöhnlichste. Unbekannte Fremde, die auswärtige Länder besuchen, oder die aus einer entlegenen Provinz kommen, um für kurze Zeit die Hauptstadt ihres Landes zu besuchen, machen sehr häufig den Versuch, eine derartige Täuschung ins Werk zu setzen. Die Torheit eines derartigen Versuches ist zwar immer sehr groß und eines verständigen Menschen äußerst unwürdig, aber sie mag in solchen Fällen noch nicht so groß sein wie in den meisten anderen. Denn wenn der Aufenthalt kurz ist, können diese Menschen wohl einer schimpflichen Entdeckung entkommen,
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
und nachdem sie sich durch ein paar Monate oder ein paar Jahre ihrer Eitelkeit hingegeben haben, mögen sie vielleicht nach Hause zurückkehren und in der Folgezeit durch Sparsamkeit die Verluste wieder einbringen, die sie durch ihre Verschwendung erlitten haben. Den Stolzen wird man sehr selten dieser Torheit beschuldigen können. Das Bewußtsein seiner eigenen Würde wird ihn veranlassen, sorgsam über seine Unabhängigkeit zu wachen, und wenn sein Vermögen nicht gerade sehr bedeutend ist, wird er zwar immer noch anständig auftreten wollen, wird sich aber dabei bemühen, in allen seinen Ausgaben behutsam und haushälterisch zu sein. Der zur Schau getragene Aufwand des Eitlen ist ihm höchst widerwärtig. Dieser Aufwand stellt vielleicht seinen eigenen in den Schatten. Er ruft seinen Unwillen hervor, da er in ihm die unverschämte Anmaßung einer Stellung erblickt, die dem Betreffenden keineswegs gebührt, und er wird niemals von diesem Aufwand sprechen, ohne ihn mit dem strengsten und ernsthaftesten Tadel zu belegen. Der Stolze fühlt sich in Gesellschaft von Seinesgleichen nicht immer behaglich und noch weniger in der Gesellschaft solcher Menschen, die ihm übergeordnet sind. Er ist nicht imstande, seine anmaßenden Ansprüche aufzugeben, und doch schüchtert ihn das ganze Gebaren und die Unterhaltung einer solchen Gesellschaft so sehr ein, daß er es nicht wagt, diese Ansprüche auszukramen. Er nimmt seine Zuflucht zu der Gesellschaft geringerer Leute, für die er wenig Achtung empfindet, einer Gesellschaft, die er sonst nicht freiwillig aufsuchen würde, und die ihm keineswegs angenehm ist : der Gesellschaft seiner Untergebenen und solcher Menschen, die ihm schmeicheln, und die von ihm abhängig sind. Er besucht selten Personen, die ihm übergeordnet sind, und wenn er es tut, geschieht es eher, um zu zeigen, daß er berechtigt ist, in solcher Gesellschaft zu verkehren, als weil er daran eine wirkliche Befriedigung finden würde. Es steht damit so, wie Lord Claren-
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don von dem Earl of Arundel erzählt : dieser sei mitunter an den Hof gekommen, weil er nur da einen Mann finden konnte, der mehr war als er selbst, er sei aber sehr selten gekommen, weil er da einen Mann fand, der mehr war als er selbst. Ganz anders verhält es sich mit dem Eitlen. Er bewirbt sich um die Gesellschaft derjenigen, die ihm übergeordnet sind, ebensosehr, wie der Stolze sie meidet. Er scheint zu glauben, daß ihr Glanz auch auf diejenigen, die viel in ihrer Umgebung sind, einen gewissen Schimmer zurückwerfe. Er besucht in zudringlicher Weise die Höfe der Könige und die Morgenempfänge der Minister und gibt sich das Ansehen, als wäre er selbst ein Kandidat, der sich um Güter und Stellungen bewirbt, während er in Wahrheit das weit kostbarere Glück besitzt – wenn er nur verstände, dasselbe zu genießen – kein solcher Kandidat zu sein. Er ist versessen darauf, zu den Tafeln der Großen zugelassen zu werden, und noch mehr darauf, sich anderen Leuten gegenüber der Vertraulichkeit zu rühmen, mit welcher er dort beehrt wird. Er gesellt sich, soweit er nur kann, stets zu Personen von gutem Ton, zu solchen Männern, die im Ruf stehen, die öffentliche Meinung zu bestimmen, zu den witzigen, zu den gelehrten, zu den beim Volk beliebten Männern und er meidet die Gesellschaft seiner besten Freunde, so oft die doch äußerst ungewisse Strömung der Volksgunst in irgendeiner Hinsicht sich gerade gegen sie zu kehren scheint. Den Leuten gegenüber, denen er sich zu empfehlen wünscht, ist er nicht sehr fein in der Wahl der Mittel, die er zu diesem Zweck verwendet : unnötige Prahlerei, unbegründete Anmaßungen, fortwährendes Beistimmen, immer wiederholte Schmeichelei – obgleich eine gefällige und angenehme Schmeichelei und nur sehr selten die grobe und ekelhafte Schmeichelei eines Parasiten. Der Stolze dagegen wird niemals schmeicheln und wird häufig kaum zu irgend jemand höflich sein. Ungeachtet aller ihrer unbegründeten Anmaßungen ist jedoch die Eitelkeit fast immer eine lustige und heitere, ja oft sogar ei-
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
ne gutmütige Leidenschaft. Stolz ist immer ein ernster, finsterer und harter Affekt. Selbst die Falschheiten des Eitlen sind alles unschuldige Falschheiten, ihr Zweck ist es, den Betreffenden selbst zu erhöhen, nicht andere zu erniedrigen. Der Stolze wird sich freilich selten zur Niedrigkeit solcher Falschheiten herablassen ; das muß man zugeben, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Tut er es jedoch, dann sind seine Falschheiten keineswegs so unschuldig. Sie sind stets unheilbringend und ihr Zweck ist, andere Leute zu erniedrigen. Er ist voll Unwillens über den – wie er meint – unberechtigten Vorrang, der ihnen zuerkannt wird. Er betrachtet sie mit Böswilligkeit und Neid, und wenn er von ihnen spricht, bemüht er sich oft, alle jene Momente, so sehr er kann, herabzusetzen und zu schmälern, auf denen nach dem allgemeinen Dafürhalten ihr Vorrang beruht. Er wird zwar selten so weit gehen, an der Erfindung aller jener Erzählungen mitzuwirken, die zu ihren Ungunsten in Umlauf gesetzt werden, aber er wird sie doch oft mit großem Vergnügen glauben, wird durchaus nicht dagegen sein, sie zu wiederholen, und zwar mitunter sogar noch mit gewissen Übertreibungen. Die ärgsten Unwahrheiten der Eitelkeit sind stets sogenannte harmlose Lügen ; diejenigen des Stolzes – soferne er sich jemals zu Unwahrheiten erniedrigt – sind von durchaus anderer Beschaffenheit. Unsere Abneigung gegen Stolz und Eitelkeit macht uns im allgemeinen geneigt, diejenigen Personen, die wir dieser beiden Laster beschuldigen, eher unter als über das gewöhnliche Niveau zu setzen. Ich glaube jedoch, daß wir uns bei dieser Art der Beurteilung sehr häufig im Unrecht befinden werden, und daß sowohl der Stolze als der Eitle oft – vielleicht in der Mehrzahl der Fälle – ziemlich hoch über diesem Niveau stehen werden, wenn auch bei weitem nicht so hoch, als der eine es wirklich von sich glaubt und der andere es gerne die übrigen Menschen glauben machen möchte. Wenn wir ihren wahren Wert mit demjenigen vergleichen, den sie sich anmaßen, dann werden wir den Eindruck ge-
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winnen, daß sich die allgemeine Verachtung mit Recht gegen sie kehre. Wenn wir ihn aber mit dem vergleichen, der den meisten ihrer Rivalen und Mitbewerber wirklich zukommt, dann werden sie uns freilich ganz anders erscheinen und wir werden vielleicht den Eindruck gewinnen, daß sie weit über dem gewöhnlichen Niveau stehen. Wo diese wirkliche Überlegenheit sich findet, da ist der Stolz häufig von vielen ehrenwerten Tugenden begleitet : von Wahrhaftigkeit, von Rechtschaffenheit, von einem lebhaften Ehrgefühl, von herzlicher und beständiger Anhänglichkeit gegenüber Freunden, von der unbeugsamsten Standhaftigkeit und Entschlossenheit. Die Eitelkeit andererseits ist von vielen liebenswerten Tugenden begleitet : von Menschlichkeit, Höflichkeit, von einem Verlangen, überall im Kleinen gefällig zu sein, ja manchmal sogar von wirklichem Edelmut in großen Dingen, einem Edelmut jedoch, den sie oft in so glänzenden Farben darzustellen liebt, als sie nur irgend vermag. Die Franzosen wurden im letzten Jahrhundert von ihren Rivalen und Feinden der Eitelkeit beschuldigt, die Spanier des Stolzes ; und fremde Nationen waren geneigt, die einen als das liebenswürdigere Volk, die anderen als das achtenswertere Volk zu betrachten. Die Worte »eitel« und »Eitelkeit« werden nie in einem guten Sinne gebraucht. Wir sagen zwar mitunter, wenn wir in guter Laune von einem Menschen sprechen, daß seine Eitelkeit ihn gut kleide, oder daß seine Eitelkeit mehr unterhaltlich als widerwärtig sei, aber wir betrachten sie dabei doch als eine Schwäche und als einen Charakterfehler, der etwas Lächerliches an sich hat. Die Worte »stolz« und »der Stolz« dagegen werden mitunter in einem guten Sinne verwendet. Wir sagen häufig von einem Menschen, er sei zu stolz oder er besitze zu viel vornehmen Stolz, als daß er sich jemals erlauben würde, etwas Niedriges zu tun. Stolz wird in diesem Falle mit Seelengröße verwechselt. Aristoteles, ein Philosoph, der sicherlich die Welt kannte, schildert einmal den Charakter eines Menschen, der wahre Seelengröße besitzt, und
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stattet ihn dabei mit einer ganzen Reihe von Zügen aus, wie sie in den beiden letzten Jahrhunderten gewöhnlich dem Charakter der Spanier zugeschrieben wurden : er sagt, daß er in allen seinen Entschlüssen vorsichtig sei, langsam und selbst säumig in seinen Handlungen ; der Tonfall seiner Stimme sei ernst, seine Rede wohl überlegt, sein Schritt und seine Bewegungen langsam ; er erscheine lässig und selbst träge, durchaus nicht geneigt, von unbedeutenden Dingen viel Aufhebens zu machen, wohl aber bereit, bei großen und ruhmvollen Anlässen mit der bestimmtesten und kraftvollsten Entschlossenheit zu handeln ; er sei kein passionierter Liebhaber von Gefahren, kein Mensch, der sich voreilig kleinen Gefahren aussetzt, wohl aber sei er imstande, große Gefahren auf sich zu nehmen und, wenn er sich einmal in eine Gefahr begibt, dann kenne er durchaus keine Rücksicht mehr auf sein Leben. Der Stolze ist im allgemeinen zu sehr mit sich selbst zufrieden, als daß er der Meinung sein könnte, sein Charakter bedürfe irgendeiner Verbesserung. Der Mann, der sich ganz vollkommen fühlt, wird natürlicherweise jede weitere Vervollkommnung geringschätzen. Seine Selbstzufriedenheit und sinnlose Einbildung in bezug auf seine eigene Überlegenheit begleiten ihn gewöhnlich von der Jugend bis in sein höchstes Alter und er stirbt, wie Hamlet sagt, mit allen Sünden noch auf seinem Haupt, das keine letzte Ölung mehr empfing. Mit dem Eitlen verhält es sich häufig ganz anders. Das Verlangen nach der Achtung und Bewunderung anderer ist, soferne es sich auf Eigenschaften und Talente gründet, die wirklich der Achtung und Bewunderung wert sind, die echte Liebe nach wahrem Ruhm ; ein Affekt, der, wenn er nicht geradezu der beste von allen menschlichen Affekten ist, doch sicherlich einen der besten bildet. Eitelkeit ist sehr häufig nicht mehr als ein Versuch, sich vorzeitig jenes Ruhmes zu bemächtigen, ehe er uns gebührt. Wenn euer Sohn, solange er noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt ist,
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auch nichts anderes als ein Geck sein sollte, so verzweifelt deshalb nicht daran, daß er, bevor er vierzig ist, ein sehr weiser und würdiger Mann werden wird und ein Mensch, der es in allen jenen Talenten und Tugenden wahrhaft weit gebracht hat, die er sich vielleicht jetzt nur in prahlerischer Weise und ohne jede Berechtigung anmaßt. Das große Geheimnis der Erziehung ist es, die Eitelkeit auf die richtigen Ziele zu lenken. Gestattet ihm nie, daß er sich wegen unbedeutender Fertigkeiten hochschätze. Aber entmutiget nicht immer die anmaßenden Ansprüche, die er auf den Besitz solcher Fertigkeiten erhebt, die wirklich von Wichtigkeit sind. Er würde sich ihren Besitz nicht anmaßen, wenn er nicht ernstlich wünschte, sie zu besitzen. Ermutiget diesen Wunsch ; verschafft ihm alle Mittel, die es ihm leichter machen, diese Fertigkeiten zu erwerben, und nehmt nicht allzusehr Anstoß daran, wenn er sich auch einmal etwas früher das Ansehen geben sollte, sie bereits erlangt zu haben, als dies wirklich schon der Fall ist. Dies sind, behaupte ich, die eigentümlichen Züge von Stolz und Eitelkeit, soferne jedes dieser beiden Laster seinem eigentlichen Wesen gemäß handelt. Aber der Stolze ist oft auch eitel und der Eitle ist oft stolz. Nichts kann natürlicher sein, als daß derjenige, der von sich eine weit höhere Meinung hat, als er es verdient, auch wünscht, daß andere Leute eine noch höhere Meinung von ihm haben sollten ; oder daß derjenige, der den Wunsch hegt, daß andere Leute von ihm eine höhere Meinung haben mögen, als er sie selbst von sich hat, zugleich auch weit höher von sich denkt, als er es verdient. Da diese beiden Laster häufig in demselben Charakter miteinander verbunden sind, werden ihre eigentümlichen Züge notwendigerweise oft miteinander vermischt sein ; und wir finden manchmal die oberflächliche und grundlose Prahlerei der Eitelkeit verbunden mit dem bösartigsten und höhnischesten Übermut des Stolzes. Wir sind aus diesem Grunde manchmal in Verlegenheit, wie wir einen Charakter zu klassifizieren haben,
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
d. h. ob wir ihn unter die Stolzen oder unter die Eitlen einreihen sollen. Es kommt vor, daß Menschen, deren Verdienste das gewöhnliche Maß beträchtlich übersteigen, sich ebenso unterschätzen, wie sich andere überschätzen. Solche Menschen sind zwar nicht sehr würdevoll, sind jedoch oft in privater Gesellschaft durchaus nicht unangenehm. In der Gesellschaft eines so vollkommen bescheidenen und gar nicht anmaßenden Menschen fühlen sich alle seine Gefährten äußerst behaglich. Wenn jene Gefährten indes nicht mehr Urteilskraft und nicht mehr Edelmut besitzen als gewöhnlich, dann werden sie zwar vielleicht eine gewisse Freundlichkeit, jedoch selten eine große Achtung gegen ihn hegen ; und die Wärme ihrer Freundlichkeit wird selten genügend stark sein, um die Kälte ihres Achtungsgefühles wettzumachen. Menschen, die nur die gewöhnliche Urteilskraft besitzen, werden niemals einen anderen höher einschätzen, als er sich offenbar selber einschätzt. Er ist ja offenbar selbst im Zweifel, werden sie sagen, ob er für diese Situation oder für dieses Amt vollkommen geeignet ist, und werden sofort irgendeinem unverschämten Dummkopf den Vorzug geben, der über seine hervorragenden Eigenschaften keinen Zweifel hegt. Sollten sie aber auch genug Urteilsfähigkeit besitzen, so werden sie doch, wenn es ihnen dabei an Edelmut fehlt, niemals ermangeln, aus seiner Einfalt Nutzen zu ziehen und sich ihm gegenüber in ungebührlicher Weise einen Vorrang anzumaßen, auf den sie keinerlei Anspruch besitzen. Seine Gutmütigkeit wird ihn vielleicht fähig machen, dies eine Zeitlang zu ertragen ; schließlich aber wird er dessen überdrüssig werden und zwar häufig erst, wenn es zu spät ist, und wenn jene Stellung, die er hätte einnehmen sollen, unwiederbringlich verloren und infolge seiner Langsamkeit durch irgendwelche keckere, wenn auch weit weniger verdiente Gefährten an sich gerissen worden ist. Ein Mensch, der einen solchen Charakter besitzt, muß in der Wahl seiner Gefährten von vornherein sehr glücklich gewesen sein, wenn er wirklich
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auf seinem Wege durch das Leben immer nur Gerechtigkeit und Billigkeit erfahren soll, und sei es auch nur von seiten derer, die er auf Grund der Freundschaftsdienste, die er ihnen früher erwiesen hat, mit einigem Recht als seine besten Freunde betrachten könnte ; auf eine allzu wenig anmaßende und ehrgeizige Jugend folgt häufig ein armseliges, klagenreiches und unzufriedenes Alter. Jene unglücklichen Menschen, welche die Natur so gebildet hat, daß sie ein gutes Stück, unter dem Durchschnittsmaß stehen, scheinen sich manchmal noch tiefer unter dieses Maß einzuschätzen, als es den Tatsachen entspricht. Diese Selbsterniedrigung kann so weit gehen, daß solche Menschen zuweilen geradezu in Schwachsinn verfallen. Wer sich einmal die Mühe genommen hat, Schwachsinnige mit Aufmerksamkeit zu untersuchen, wird finden, daß bei vielen von ihnen die Verstandesfähigkeiten keineswegs schlechter sind als bei so manchen anderen Leuten, die zwar als dumm und schwerfällig gelten, die jedoch von niemand zu den Schwachsinnigen gerechnet werden. Viele Schwachsinnige, die bloß eine gewöhnliche Erziehung genossen haben, hat man leidlich richtig lesen, schreiben und rechnen gelehrt. Dagegen sind viele Menschen, die niemals unter die Schwachsinnigen gerechnet wurden, trotz der sorgfältigsten Erziehung und trotzdem sie in ihrem vorgerückten Alter genug Energie besaßen, um noch den Versuch zu machen, das zu lernen, was ihre frühere Erziehung sie nicht gelehrt hatte, niemals fähig gewesen, eine jener drei Fertigkeiten in leidlichem Maße zu erwerben. In einem gewissen angeborenen Gefühl von Stolz stellen sie sich dennoch auf eine Stufe mit denjenigen, die ihnen hinsichtlich des Alters und der Lebenslage gleichstehen, und durch Eifer und Ausdauer erhalten sie sich den ihnen gebührenden Platz unter ihren Gefährten. Infolge eines angeborenen Gefühles entgegengesetzter Natur wird sich der Schwachsinnige in jeder Gesellschaft, in die ihr ihn einführen möget, stets den anderen gegenüber minderwertig fühlen. Schlechte Behandlung, der er doch äußerst leicht ausgesetzt
Sechster Teil · Dritter Abschnitt
ist, wird imstande sein, ihn zu den heftigsten Ausbrüchen der Wut und Raserei zu treiben. Aber keine gute Behandlung, keine Güte und Nachsicht vermag jemals ihn soweit aufzurichten, daß er mit euch so verkehren würde, als ob er euresgleichen wäre. Wenn ihr ihn indessen dahin bringen könnt, überhaupt mit euch zu sprechen, so werdet ihr häufig seine Antworten ziemlich treffend und sogar verständig finden. Aber sie werden doch immer auch deutlich zeigen, daß er sich seiner eigenen Minderwertigkeit euch gegenüber klar bewußt ist. Es hat den Anschein, daß er gleichsam vor euerem Blick und vor dem Umgang mit euch zurückbebe und sich vor beidem zurückziehe, und daß er – wenn er sich in euere Lage versetzt – das Gefühl habe, ihr könntet trotz euerer offensichtlichen Herablassung doch nicht umhin, ihn als weit unter euch stehend zu betrachten. Bei manchen Schwachsinnigen – ja vielleicht bei der Mehrzahl derselben – scheint dies hauptsächlich oder ganz und gar von einer gewissen Trägheit oder Stumpfheit des Verstandesvermögens zu kommen. Aber es gibt auch solche, bei denen dieses Vermögen nicht träger oder stumpfer ist als bei vielen anderen, die man durchaus nicht zu den Schwachsinnigen rechnet. Jener angeborene Stolz dagegen, der so notwendig wäre, um in ihnen das Gefühl der Ebenbürtigkeit mit ihren Brüdern aufrechtzuerhalten, scheint bei den ersteren gänzlich zu fehlen, nicht aber bei den letzteren. Jenes Maß von Selbstachtung, welches am meisten zur Glückseligkeit und Zufriedenheit des betreffenden Menschen selbst beiträgt, scheint demnach auch dem unparteiischen Zuschauer am angenehmsten und passendsten zu sein. Demjenigen, der sich selbst so achtet, wie er soll, und nicht mehr als er soll, wird fast immer auch von Seiten der anderen jene Achtung zuteil werden, die ihm seiner eigenen Meinung nach gebührt. Er verlangt keine größere Achtung, als ihm gebührt, und er ist mit ihr stets vollkommen zufrieden. Der Stolze und der Eitle sind dagegen beständig unzufrieden.
Wen nennen wir tugendhaft ?
Den einen quält der Ärger über den seiner Meinung nach unberechtigten Vorzug, der anderen Leuten zuteil wird. Der andere lebt in einer immerwährenden Angst vor der Schande, die ihm – wie er wohl weiß – bevorstehen würde, wenn die Grundlosigkeit seiner Anmaßung zutage käme. Selbst die übergroße Anmaßung eines Menschen von wirklicher Seelengröße wird zwar, wenn sie durch glänzende Anlagen und Tugenden und vor allem durch Glück unterstützt wird, die große Masse täuschen, deren Beifall er indessen nur wenig beachtet, aber sie wird doch nicht jene Weisen täuschen, deren Billigung er allein zu schätzen vermag, und auf deren Achtung er am meisten erpicht ist. Er fühlt, daß sie seinen maßlosen Eigendünkel durchschauen, und argwöhnt sogar, daß sie denselben verachten, und so erleidet er oft das grausame Mißgeschick, gerade denjenigen Personen, an denen ihm am meisten gelegen war, erst ein eifersüchtiger geheimer Gegner und schließlich ein offener, wütender und rachsüchtiger Feind zu werden, während es ihm doch die größte Glückseligkeit bereitet hätte, wenn er sich ihrer Freundschaft in einer durch keinen Argwohn getrübten Sorglosigkeit hätte erfreuen können. Obgleich unsere Abneigung gegenüber stolzen und eitlen Menschen uns oft veranlaßt, sie eher niedriger einzuschätzen, als sie es verdienen, so werden wir doch selten, soferne wir nicht gerade durch irgendeine besondere und uns persönlich berührende Unverschämtheit herausgefordert wurden, uns unterstehen, sie schlecht zu behandeln. In der Mehrzahl der Fälle werden wir um unserer eigenen Ruhe willen uns bemühen, uns, so gut wir können, mit ihrer Torheit abzufinden und uns in sie zu fügen. Demjenigen aber, der sich selbst zu gering einschätzt, werden wir, woferne wir nicht eine schärfere Urteilskraft und einen größeren Edelmut besitzen, als sich bei der Mehrzahl der Menschen findet, fast immer mindestens ebensosehr Unrecht tun, wie er sich selbst, häufig aber sogar noch beträchtlich mehr. Er fühlt sich nicht nur in seinem Inneren unglücklicher als der Stolze oder der
Sechster Teil · Dritter Abschnitt · Schluß
Eitle, sondern er ist auch weit mehr jeder Art von schlechter Behandlung seitens anderer Menschen ausgesetzt. Es ist fast in allen Fällen besser, ein wenig zu stolz zu sein, als in irgendeiner Hinsicht zu bescheiden zu sein ; und es scheint, daß an dem Gefühle der Selbstachtung sowohl für den Betreffenden selbst als auch für den unparteiischen Zuschauer ein gewisser Grad von Übermaß weniger unangenehm ist als eine zu geringe Stärke dieses Gefühles. Es ist demnach bei diesem Gefühle wie bei allen anderen Gemütsbewegungen, Affekten und Charaktergewohnheiten so, daß derjenige Grad, welcher dem unparteiischen Zuschauer am angenehmsten erscheint, auch für die betreffende Person selbst am angenehmsten ist, und je nachdem, ob das Übermaß oder eine zu geringe Stärke dem ersteren weniger anstößig ist, in dem gleichen Verhältnis ist auch das Übermaß oder die zu geringe Stärke dem letzteren weniger unangenehm.
schluss des sechsten teiles Die Sorge um unsere eigene Glückseligkeit empfiehlt uns die Tugend der Klugheit, die Sorge um die Glückseligkeit anderer Menschen empfiehlt uns die Tugenden der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit, von denen die eine uns abhält, jene Glückseligkeit zu verletzen, die andere aber uns antreibt, sie zu befördern. Unabhängig von jeder Rücksicht darauf, welches die Empfindungen anderer Leute wirklich sind oder sein sollten oder unter einer gewissen Bedingung sein würden, wird uns die erste dieser drei Tugenden ursprünglich durch unsere selbstischen Neigungen, die beiden anderen dagegen durch unsere wohlwollenden Neigungen empfohlen. Die Rücksicht auf die Empfindungen anderer Menschen tritt jedoch nachher hinzu, um uns zur Ausübung all dieser Tugenden stärker anzutreiben und ihr die Richtung zu ge-
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ben ; und kein Mensch ist jemals sein ganzes Leben hindurch oder auch nur während eines beträchtlichen Abschnittes seines Lebens beständig und gleichförmig auf den Pfaden der Klugheit, der Gerechtigkeit oder der richtigen Wohltätigkeit gewandelt, dessen Verhalten nicht in erster Linie durch eine gewisse Rücksicht auf die Empfindungen des in Gedanken vorgestellten unparteiischen Zuschauers geleitet worden wäre, jenes großen Insassen unserer Brust, jenes großen Richters und Schiedsherren über unser Verhalten. Wenn wir im Laufe des Tages in irgendeiner Hinsicht von den Regeln abgewichen sind, die er uns vorschreibt, wenn wir in unserer Sparsamkeit zu streng oder zu nachlässig waren, wenn wir in unserem Fleiß zu weit gegangen sind oder zu sehr nachgelassen haben, wenn wir im Affekt oder aus Unachtsamkeit in irgendeiner Hinsicht die Interessen oder das Glück unseres Nächsten verletzt haben, wenn wir eine offenkundige und passende Gelegenheit, seine Interessen oder sein Glück zu fördern, unbeachtet gelassen haben, dann ist es dieser Insasse unserer Brust, der uns am Abend wegen all dieser Unterlassungen und Übertretungen zur Rechenschaft zieht, und seine Vorwürfe werden uns oft innerlich erröten lassen wegen unserer Torheit und unserer Unachtsamkeit, in bezug auf unsere Glückseligkeit und wegen unserer vielleicht noch größeren Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit gegenüber dem Glück anderer Menschen. Während aber die Tugenden der Klugheit, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit uns bei verschiedenen Anlässen durch zwei verschiedene Prinzipien beinahe gleich stark empfohlen werden, werden uns die Tugenden der Selbstbeherrschung bei den meisten Anlässen hauptsächlich und fast ausschließlich durch eines empfohlen : durch das Gefühl für das sittlich Richtige, durch die Rücksicht auf die Empfindungen des unparteiischen Zuschauers, den wir uns in unserem Innern vorstellen. Ohne die Zurückhaltung, welche dieses Prinzip ihm auferlegt, würde sich jeder Affekt bei den meisten Anlässen, wenn ich so sagen darf, über Hals
Sechster Teil · Dritter Abschnitt · Schluß
und Kopf auf das Ziel seiner Befriedigung losstürzen. Der Zorn würde den Eingebungen seiner Wut folgen, die Furcht den Eingebungen ihrer heftigen Aufregung. Keine Rücksicht auf Zeit und Ort würde die Eitelkeit veranlassen, sich der lautesten und unbegründetsten Prahlerei zu enthalten, noch die Genußsucht sich von einer ganz offenen, unanständigen und skandalösen Befriedigung ihres Verlangens zurückzuhalten. Die Rücksicht darauf, welches die Empfindungen anderer Menschen wirklich sind oder sein sollten oder unter einer gewissen Bedingung sein würden, ist das einzige Prinzip, welches in den meisten Fällen alle jene stürmischen und aufrührerischen Affekte gleichsam in Furcht setzt und sie auf jenen Ton und jene Verfassung herabstimmt, welcher der unparteiische Zuschauer beizustimmen und mit der er zu sympathisieren vermag. In manchen Fällen werden allerdings jene Affekte nicht so sehr aus einem Gefühl von ihrer Unschicklichkeit heraus im Zaume gehalten, als vielmehr aus kluger Erwägung der schlechten Folgen, welche ihre restlose Befriedigung nach sich ziehen könnte. In solchen Fällen werden die Affekte, die zwar gezügelt, aber nicht gänzlich besiegt worden sind, oft in der Brust zurückbleiben, wo sie nun mit all ihrer ursprünglichen Wildheit lauern. Derjenige, dessen Zorn nur durch Furcht im Zaume gehalten wird, wird nicht immer seinen Zorn ablegen, sondern bloß dessen Befriedigung auf eine sicherere Gelegenheit aufsparen. Derjenige dagegen, der, während er einem andern das Unrecht erzählt, das ihm angetan wurde, dadurch mit einemmal den wütenden Affekt abgekühlt und beschwichtigt fühlt, und zwar aus Sympathie mit den gemäßigteren Empfindungen seines Gefährten, und der nun diese gemäßigteren Empfindungen auch zu den seinigen macht und nun so weit kommt, daß er jenes Unrecht nicht mehr in den schwarzen und gräßlichen Farben erblickt, in welchen er es ursprünglich betrachtet hatte, sondern in dem weit milderen und helleren Licht, in welchem sein Gefährte es natürlicherweise sieht, der
Wen nennen wir tugendhaft ?
wird seinen Zorn nicht nur im Zaume halten, sondern bis zu einem gewissen Grad wenigstens besiegen. Der Affekt wird wirklich schwächer werden, als er vorher war, und wird nun weniger leicht imstande sein, ihn zu der gewalttätigen und blutigen Rache aufzureizen, die er vielleicht vorher seinem Beleidiger hatte zufügen wollen. Jene Affekte, die durch das Gefühl für das sittlich Richtige im Zaume gehalten werden, werden alle dadurch bis zu einem gewissem Grade wenigstens gemäßigt und überwunden. Diejenigen aber, die nur durch Klugheitserwägungen irgendeiner Art in Schranken gehalten wurden, werden dagegen häufig durch diese Zurückhaltung noch mehr angefacht und brechen mitunter – lange, nachdem die Beleidigung stattfand, und zu einer Zeit, wo niemand mehr an sie denkt – in sinnloser und unerwarteter Weise und mit zehnfacher Wildheit und Heftigkeit los. Der Zorn kann indessen ebenso wie jeder andere Affekt bei manchen Anlässen in sehr schicklicher Weise durch Klugheitserwägungen im Zaume gehalten werden. Ein gewisses Aufgebot von Mannhaftigkeit und Selbstbeherrschung ist selbst für diese Art Zurückhaltung notwendig und der unparteiische Zuschauer mag sie mitunter mit jener Art kühler Achtung betrachten, wie sie eben jener Gruppe von Verhaltungsweisen gebührt, die er bloß als eine Sache gewöhnlicher Klugheit ansieht ; er wird sie aber niemals mit jener liebevollen Bewunderung betrachten, mit welcher er dieselben Affekte ins Auge faßt, wenn sie durch das Gefühl für das sittlich Richtige gemäßigt und bis zu jenem Grade überwunden wurden, welchem er selbst leicht beizustimmen vermag. An der ersteren Art der Zurückhaltung mag er häufig einen gewissen Grad von Schicklichkeit, und wenn ihr wollt, selbst von Tugend erkennen ; aber es ist eine Schicklichkeit und eine Tugend, die weit hinter derjenigen zurückbleibt, welche er an der letzteren Art von Zurückhaltung immer mit höchster Freude und Bewunderung wahrnimmt.
Sechster Teil · Dritter Abschnitt · Schluß
Die Tugenden der Klugheit, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit besitzen immer nur eine Tendenz zur Hervorbringung äußerst angenehmer Wirkungen. Und wie die Rücksicht auf jene Wirkungen sie von Anfang an dem Handelnden empfiehlt, so auch nach der Handlung dem unparteiischen Zuschauer. Bei der Billigung, die wir dem Charakter eines klugen Menschen zuteil werden lassen, fühlen wir mit besonderem Wohlgefallen, welcher Ruhe und Sicherheit er sich erfreuen muß, wenn er so unter dem Schutze jener ruhigen und umsichtigen Tugend dahinwandelt. Bei der Billigung, die wir dem Charakter eines gerechten Menschen zuerkennen, fühlen wir mit gleichem Wohlgefallen die Sicherheit und Ruhe, welche alle, die mit ihm, sei es durch Nachbarschaft, Gesellschaft oder Geschäft, in Verbindung stehen, infolge seiner gewissenhaften Sorge, niemand zu verletzen oder zu beleidigen, in seiner Umgebung empfinden müssen. Bei der Billigung, die wir für den Charakter eines wohltätigen Menschen hegen, pflichten wir der Dankbarkeit all derer bei, welche im Wirkungsbereich seiner guten Dienste stehen, und wir empfinden mit ihnen im höchsten Maße das Verdienst jenes Wohltäters. Bei unserer Billigung aller jener Tugenden verbindet sich unser Bewußtsein von ihren angenehmen Wirkungen, also von ihrer Nützlichkeit – sei es für die Person, die sie ausübt, oder für gewisse andere Personen – mit unserem Gefühl von ihrer Schicklichkeit und trägt zum Zustandekommen jener Billigung immer einen beträchtlichen, manchmal sogar den größeren Teil bei. Bei der Billigung dagegen, die wir für die Tugenden der Selbstbeherrschung hegen, trägt das Wohlgefallen an ihren Wirkungen manchmal gar nicht und häufig nur zum geringsten Teile zu jener Billigung bei. Jene Wirkungen können mitunter angenehm, mitunter aber auch unangenehm sein, und obzwar unsere Billigung im ersten Falle zweifellos stärker sein wird, so muß sie doch keineswegs in dem anderen Falle völlig aufgehoben sein. Die heldenmütigste Tapferkeit kann ebensowohl für die Sache der Gerech-
Wen nennen wir tugendhaft ?
tigkeit, wie für die Sache der Ungerechtigkeit eingesetzt werden, und obzwar sie zweifellos im ersten Falle mehr geliebt und bewundert werden wird, so wird sie doch auch im letzteren Falle als eine große und achtungswerte Eigenschaft erscheinen. An dieser wie an allen anderen Tugenden der Selbstbeherrschung scheint das Glänzende und Blendende stets die Erhabenheit und Standhaftigkeit ihrer Anstrengungen zu sein, sowie das starke Gefühl für das sittlich Richtige, welches notwendig war, um jene Anstrengungen möglich zu machen und aufrechtzuerhalten. Die Wirkungen werden oft nur allzu wenig beachtet.
SIEBENTER TEIL Über einige Systeme der Moralphilosophie (Bestehend aus vier Abschnitten)
ERSTER ABSCHNIT T
Über die Fragen, welche in einer Theorie der ethischen Gefühle untersucht werden sollten. Wenn wir die berühmtesten und bemerkenswertesten unter den verschiedenen Theorien prüfen, die in bezug auf das Wesen und den Ursprung unserer ethischen Gefühle aufgestellt worden sind, so werden wir finden, daß fast alle von ihnen in dem einen oder anderen Punkte mit den Ansichten übereinstimmen, welche ich mich bemüht habe, hier darzulegen, und daß wir, wenn wir alles bisher Gesagte genau in Erwägung ziehen, nicht mehr in Verlegenheit sein werden, zu erklären, welches der Gesichtspunkt war, von welchem aus jeder einzelne Schriftsteller die Natur betrachtete, und von dem er sich bei der Aufstellung seines eigentümlichen Systems leiten ließ. Von dem einen oder anderen der Prinzipien, die ich mich bemüht habe hier darzulegen, ist vielleicht jedes Moralsystem, das jemals in der Welt in Ansehen gestanden ist, in letzter Linie abgeleitet gewesen. Da sie sich alle in dieser Beziehung auf natürliche Prinzipien gründen, sind sie alle in gewissem Maße im Recht. Da aber viele von ihnen aus einer einseitigen und unvollkommenen Art der Naturbetrachtung herrühren, sind auch viele von ihnen in mancher Beziehung im Unrecht. Wenn man eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral anstellen will, muß man zwei Fragen in Erwägung ziehen. Erstens : Worin besteht die Tugend ? Oder welches ist diejenige Gemütsverfassung und diejenige Art des Verhaltens, die den hervorragenden, lobenswürdigen Typus bilden, denjenigen Typus,
Siebenter Teil · Erster Abschnitt
der naturgemäß Achtung, Ehre und Billigung verdient ? Und zweitens : Durch welche Kraft oder durch welches Vermögen der Seele wird uns dieser Typus – sei es welcher immer – empfohlen ? Oder mit anderen Worten : wie kommt es und woher kommt es, daß die Seele die eine Art des Verhaltens einer anderen vorzieht, die eine als recht, die andere als unrecht bezeichnet und die eine für würdig hält, Billigung, Ehre und Lohn zu empfangen, während der anderen Tadel, Rüge und Bestrafung gebühre ? Wir beschäftigen uns mit der ersten Frage, wenn wir erwägen, ob die Tugend im Wohlwollen besteht, wie Dr. Hutcheson meint, oder in einem Handeln, das den verschiedenen Verhältnissen angepaßt ist, in denen wir zu den anderen stehen, wie Dr. Clarke annimmt, oder in der weisen und klugen Verfolgung unserer eigenen wirklichen und wahrhaften Glückseligkeit, wie es die Ansicht von anderen gewesen ist. Wir beschäftigen uns mit der zweiten Frage, wenn wir erwägen, ob der tugendhafte Typus (möge er worin immer bestehen) uns durch die Selbstliebe empfohlen wird, die uns erkennen läßt, daß ein solcher Charakter, sowohl an uns selbst als an anderen, am meisten dahin wirkt, unser eigenes Privatinteresse zu fördern ; oder durch die Vernunft, die uns den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Typus in gleicher Weise zeigt wie den zwischen Wahrheit und Falschheit ; oder durch ein besonderes Vermögen der Wahrnehmung, welches man einen moralischen Sinn nennt, dem dieser tugendhafte Typus wohlgefällig und erfreulich erscheint, wie ihm der entgegengesetzte mißfällt und Abscheu bereitet, oder schließlich durch irgendein anderes Prinzip der menschlichen Natur, wie etwa eine Modifikation die Sympathie oder dergleichen. Ich werde nun mit der Betrachtung derjenigen Systeme beginnen, welche in bezug auf die erste dieser Fragen aufgestellt wurden, und dann später dazu übergehen, diejenigen, welche die zweite Frage betreffen, zu untersuchen.
Über einige Systeme der Moralphilosophie
ZWEITER ABSCHNIT T
Über die verschiedenen Darstellungen, die man von dem Wesen der Tugend gegeben hat. einleitung Die verschiedenen Darstellungen, die man von dem Wesen der Tugend oder von derjenigen seelischen Verfassung gegeben hat, welche den hervorragenden und lobenswürdigen Typus bildet, können auf drei verschiedene Klassen zurückgeführt werden. Nach der Ansicht mancher Schriftsteller besteht die tugendhafte seelische Verfassung nicht in irgendeiner Gattung von Neigungen, sondern in der richtigen Leitung und Regierung aller unserer Neigungen, die je nach den Zielen, auf die sie sich richten, und je nach dem Grad von Heftigkeit, mit welcher sie diese Ziele verfolgen, tugendhaft oder lasterhaft sein können. Nach Ansicht dieser Schriftsteller besteht Tugend demnach in der Schicklichkeit oder sittlichen Richtigkeit. Nach der Ansicht anderer Schriftsteller besteht die Tugend in der klugen Verfolgung unseres eigenen privaten Vorteiles und unseres eigenen Glückes oder in der richtigen Leitung und Regierung jener selbstischen Neigungen, welche nur auf dieses Ziel gerichtet sind. Nach der Vorstellung dieser Schriftsteller besteht demnach die Tugend in der Klugheit. Eine andere Gruppe von Schriftstellern läßt die Tugend nur in jenen Neigungen bestehen, welche auf die Glückseligkeit der anderen abzielen, und nicht in denjenigen, die auf unsere eigene Glückseligkeit gerichtet sind. Nach ihrer Ansicht bildet demnach uninteressiertes Wohlwollen die einzige Triebfeder, welche irgendeiner Handlung den Stempel der Tugend aufzuprägen vermag. Das Prädikat »Tugend« muß offenbar entweder unterschiedslos allen unseren Neigungen zugeschrieben werden, sobald sie
Siebenter Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
unter richtiger Leitung und Regierung stehen, oder es muß auf eine gewisse Klasse oder Unterteilung von ihnen eingeschränkt werden. Die Haupteinteilung unserer Neigungen ist die in selbstische und wohlwollende. Wenn also das Prädikat Tugend nicht unterschiedslos allen unseren Neigungen zugeschrieben werden kann, sobald sie unter richtiger Leitung und Regierung stehen, so muß es entweder auf jene eingeschränkt werden, die direkt auf unsere eigene persönliche Glückseligkeit abzielen, oder auf diejenigen, welche direkt auf die Glückseligkeit anderer abzielen. Wenn also die Tugend nicht in der Schicklichkeit besteht, muß sie entweder in der Klugheit oder im Wohlwollen bestehen. Es läßt sich kaum vorstellen, daß außer diesen dreien noch irgendeine andere Darstellung von dem Wesen der Tugend gegeben werden könnte. Ich werde mich bemühen, im folgenden zu zeigen, wie alle die anderen Darstellungen, welche scheinbar von den angeführten abweichen, im Grunde mit der einen oder anderen von ihnen doch zusammenfallen.
erstes kapitel Über diejenigen Systeme, welche die Tugend in der Schicklichkeit bestehen lassen. Nach der Ansicht von Plato, Aristoteles und Zeno besteht die Tugend in der Schicklichkeit des Verhaltens oder in der Angemessenheit der Neigung, aus der wir handeln, zu dem Gegenstande, welcher die Neigung hervorrief. I. In dem System Platos * wird die Seele als etwas wie ein kleiner Staat oder eine Republik betrachtet, die aus drei verschiedenen Gewalten oder Ständen zusammengesetzt ist.
* Vgl. Plato, De Rep. lib. IV .
Über einige Systeme der Moralphilosophie
Die erste ist die Urteilskraft, jenes Vermögen, welches nicht nur festsetzt, welches die richtigen Mittel zur Erreichung eines Zweckes sind, sondern auch, welche Zwecke es verdienen, erstrebt zu werden, und welchen Grad von relativem Wert wir einem jeden dieser Zwecke beimessen sollen. Dieses Vermögen bezeichnet Plato mit gutem Grund als Vernunft und betrachtet es als dasjenige Vermögen, welches ein Recht darauf hätte, im Ganzen das herrschende Prinzip zu sein. Unter dieser Bezeichnung verstand er aber offenbar nicht nur jenes Vermögen, mittels dessen wir über Wahrheit und Falschheit urteilen, sondern auch dasjenige, durch welches wir über die sittliche Richtigkeit und Unrichtigkeit von Wünschen und Neigungen urteilen. Die verschiedenen Affekte und Begierden, welche die natürlichen Untertanen dieses gesetzgebenden Prinzipes bilden, die aber so gerne gegen ihren Herrn und Meister sich zu empören pflegen, führte er auf zwei verschiedene Klassen oder Ordnungen zurück. Die erste besteht aus jenen Affekten, welche sich auf Stolz und Vergeltungsgefühl gründen, oder auf das, was die Schulgelehrten den erzürnbaren Teil der Seele nennen : dem Ehrgeiz, der Leidenschaftlichkeit, dem Wunsch nach Ehre und der Furcht vor Schande, dem Verlangen nach Sieg, Vorrang und Rache, kurz aus allen jenen Affekten, von denen man annimmt, daß sie demjenigen entspringen oder auf dasjenige hindeuten, was man in unserer Sprache mit einer Metapher gewöhnlich als innere Glut oder feuriges Temperament bezeichnet. – Die zweite besteht aus jenen Affekten, die sich auf das Verlangen nach Lust gründen oder auf dasjenige, was die Schulgelehrten den begehrenden Teil der Seele nennen. Sie umfaßt alle körperlichen Begierden, das Verlangen nach Bequemlichkeit und Sicherheit und nach all den sinnlichen Genüssen. Selten kommt es vor, daß wir unter anderen Umständen jenen Plan der Lebensführung durchbrechen, den das herrschende Prinzip uns vorschreibt, und den wir uns selbst in allen besonne-
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nen Stunden als denjenigen vorgezeichnet haben, den zu befolgen für uns am richtigsten ist, als sobald wir durch die eine oder andere jener zwei verschiedenen Gruppen von Affekten dazu getrieben werden, nämlich entweder durch unbeherrschbaren Ehrgeiz und übermäßiges Vergeltungsgefühl oder durch die ungestümen Anreize augenblicklicher Bequemlichkeit und Lust. Obgleich uns aber diese beiden Ordnungen von Affekten so leicht in die Irre zu führen pflegen, werden sie doch als etwas betrachtet das notwendig zur menschlichen Natur gehört ; denn die erste der beiden Gruppen sei uns gegeben, um uns gegen Unrecht zu verteidigen, um unsere Stellung und Würde in der Welt zu behaupten, um uns nach allem trachten zu lassen, was edel und ehrenwert in der Welt ist, und uns zu veranlassen, diejenigen auszuzeichnen, die in gleicher Weise handeln, die zweite aber, damit wir für den Unterhalt und die Notdurft des Körpers sorgen. In die Stärke, Feinheit und Vollkommenheit des herrschenden Prinzipes wurde von Plato die wichtige Tugend der Klugheit gesetzt, die seiner Ansicht nach in einer richtigen und klaren, auf allgemeine und wissenschaftliche Vorstellungen gegründeten Erkenntnis der Zwecke besteht, welche schicklicherweise angestrebt werden sollten, und in der Erkenntnis der Mittel, die zur Erreichung dieser Zwecke die schicklichen und richtigen sind. Wenn die Affekte und Leidenschaften der ersten Gruppe, diejenigen des erzürnbaren Seelenteiles, jenen Grad von Stärke und Festigkeit besitzen, der sie fähig macht, unter der Leitung der Vernunft alle Gefahren zu verachten, die sich ihnen bei dem Streben nach dem Ehrenwerten und Edlen entgegenstellen, dann bilden sie die Tugend der Tapferkeit und der Seelenstärke. Diese Ordnung von Affekten ist also dem System Platos zufolge von edlerer und vornehmerer Natur als die andere. Sie werden in vielen Fällen als die Hilfstruppen der Vernunft angesehen, die dazu bestimmt sind, die niedrigeren und rohen Begierden zu bändigen und im Zaume zu halten. Wir sind oft über uns selbst ärgerlich, so wird
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gesagt, gegen uns selbst kehrt sich oft unser Unwille und unser Vergeltungsgefühl, sobald das Verlangen nach Lust uns zu einer Tat antreibt, die wir mißbilligen ; der erzürnbare Teil unserer Natur wird auf diese Weise zu Hilfe gerufen, um den vernünftigen Seelenteil gegen den begehrenden zu unterstützen. Sobald alle jene drei verschiedenen Teile unserer Natur in voller Eintracht miteinander stehen, wenn weder die mutartigen noch die begehrenden Affekte sich jemals auf eine Art der Befriedigung richten, welche die Vernunft nicht billigt, und wenn die Vernunft niemals etwas anderes befiehlt, als was jene von selbst zu vollbringen bereit sind, dann bildet diese glückliche Ruhe, diese vollständige und vollkommene Harmonie der Seele jene Tugend, welche in der griechischen Sprache durch ein Wort ausgedrückt wird, das wir gewöhnlich mit Mäßigkeit übersetzen, welches aber richtiger mit guter Gemütsverfassung, Gelassenheit und Gleichmut der Seele übersetzt werden dürfte. Gerechtigkeit, die letzte und größte der vier Kardinaltugenden, ist diesem System zufolge dann vorhanden, wenn jedes von jenen drei Seelenvermögen sich auf sein eigentliches Geschäft beschränkt, ohne den Versuch zu machen, in das eines anderen überzugreifen, wenn die Vernunft die Leitung hat und der Affekt gehorcht, und wenn jeder Affekt seine ihm eigentümliche Pflicht erfüllt und sich willig und ohne Widerstreben bemüht, das ihm eigentümliche Ziel zu erreichen, und zwar mit jenem Maß von Kraft und Energie, wie es dem Wert desjenigen angemessen ist, wonach er strebt. Darin besteht jene vollkommene Tugend, jene vollendete Schicklichkeit des Verhaltens, welche Plato nach dem Vorbild einiger von den alten Pythagoräern Gerechtigkeit nannte. Es ist bemerkenswert, daß das Wort, welches in der griechischen Sprache Gerechtigkeit bezeichnet, mehrere verschiedene Bedeutungen hat ; da aber das entsprechende Wort in allen anderen Sprachen, soweit ich weiß, die gleichen Bedeutungen besitzt, so muß zwischen jenen verschiedenen Vorstellungen, die es be-
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zeichnet, irgendeine natürliche Verwandtschaft bestehen. In dem einen Sinne sagt man, wir lassen unserem Nächsten »Gerechtigkeit widerfahren«, wenn wir uns dessen enthalten, ihm irgendeine positive Schädigung zuzufügen, und wenn wir ihn nicht direkt, sei es an seiner Person, an seinem Vermögen, oder in seinem guten Ruf, verletzen. Das ist jene Gerechtigkeit, von der ich oben gesprochen habe, jene Gerechtigkeit, deren Beobachtung man mit Gewalt erzwingen kann, und deren Verletzung uns der Bestrafung aussetzt. In einem anderen Sinne wird das Wort gebraucht, wenn man von uns sagt, daß wir unserem Nächsten nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, soferne wir nicht für ihn alle jene Liebe, jene Achtung und Wertschätzung empfinden, die wir angesichts seines Charakters, seiner Lebenslage, seines Verhältnisses zu uns schicklicher- und angemessenerweise fühlen sollten, und soferne wir nicht diesen Empfindungen gemäß handeln. In diesem Sinne sagt man, daß wir einem verdienstvollen Manne, der in irgend einer Verbindung zu uns steht, Unrecht tun, wenn wir es zwar unterlassen, ihn in irgendeiner Beziehung zu verletzen, uns aber nicht anstrengen, ihm gefällig zu sein und ihn in jene Situation zu versetzen, in welcher der unparteiische Zuschauer ihn gerne sehen würde. Die erste Bedeutung des Wortes fällt mit demjenigen zusammen, was Aristoteles und die Schulgelehrten die kommutative (ausgleichende) Gerechtigkeit nennen und mit demjenigen, was Grotius die justitia expletrix nennt, welche darin besteht, daß man sich alles dessen enthält, was einem anderen gehört, und daß man alles dasjenige freiwillig tut, wozu man uns mit Fug und Recht zwingen könnte. Die zweite Bedeutung des Wortes fällt mit demjenigen zusammen, was einige distributive (austeilende) Gerechtigkeit genannt haben * und mit der justitia attribu* Die distributive Gerechtigkeit des Aristoteles ist etwas anderes. Sie besteht in der richtigen Austeilung von Belohnungen aus dem öffentlichen Staatsschatz. Siehe Aristoteles, Ethic Nic. l. 5, c. 2.
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trix des Grotius, welche in richtiger Wohltätigkeit besteht, in dem gebührenden Gebrauch dessen, was uns gehört, und in der Verwendung dieser Güter zu jenen Zwecken der Mildtätigkeit oder der edlen Freigebigkeit, zu welchen sie in unserer Lage geziemenderweise verwendet werden sollen. In dieser Bedeutung umfaßt Gerechtigkeit alle sozialen Tugenden. Es gibt jedoch noch eine andere Bedeutung, in welcher das Wort Gerechtigkeit manchmal genommen wird, die noch weiter ist als die angeführten, obzwar sie mit der letzten Bedeutung sehr nahe verwandt ist, und die, soweit mir bekannt ist, ebenfalls sich durch alle Sprachen hindurchzieht. In diesem letzten Sinne sagt man von uns, daß wir ungerecht sind, wenn wir für irgendeinen bestimmten Gegenstand nicht eine so hohe Achtung hegen und uns nicht mit so großem Eifer um ihn bemühen, wie er es nach der Ansicht des unparteiischen Zuschauers verdienen würde, und obwohl er nach der Ansicht des letzteren die natürliche Eignung hätte, jene Gefühle hervorzurufen. So sagt man, daß wir einem Gedicht oder einem Gemälde Unrecht tun, wenn wir es nicht genügend bewundern, und man sagt, daß wir ihm mehr als Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn wir es zu sehr bewundern. Ebenso sagt man, daß wir uns selbst Unrecht tun, wenn wir augenscheinlich irgendeinem bestimmten Gegenstande des Selbstinteresses keine hinreichende Aufmerksamkeit schenken. Was man in dem zuletzt angeführten Sinne Gerechtigkeit nennt, ist dasselbe wie genaue und vollkommene Schicklichkeit oder sittliche Richtigkeit des Verhaltens und Benehmens und faßt nicht nur das Geschäft der kommutativen und der distributiven Gerechtigkeit in sich, sondern auch dasjenige jeder anderen Tugend : der Klugheit, der Tapferkeit, der Mäßigkeit. In diesem letzteren Sinne versteht Plato augenscheinlich den Ausdruck Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit begreift deshalb nach seiner Meinung die Vollendung einer jeden Art von Tugend in sich. Dies ist die Darstellung, welche Plato von dem Wesen der Tu-
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gend oder von jener Gemütsverfassung gibt, die in Wahrheit Lob und Billigung verdient. Sie besteht nach seiner Ansicht in jenem Zustande der Seele, in welchem jedes Seelenvermögen sich auf seine eigentümliche Sphäre beschränkt – ohne auf diejenige eines anderen überzugreifen – und sein eigenes Geschäft genau mit jenem Maße von Kraft und Stärke vollführt, wie sie ihm zukommt. Seine Darstellung deckt sich offenbar in jeder Beziehung mit dem, was wir oben über die Schicklichkeit oder sittliche Richtigkeit des Verhaltens gesagt haben. II . Nach Aristoteles * besteht die Tugend in dem Habitus (oder der erworbenen Gewohnheit), der rechten Mitte gemäß und in Übereinstimmung mit der wahren Vernunft zu handeln. Jede einzelne Tugend liegt nach seiner Ansicht in einer Art von Mittlerem zwischen zwei einander entgegengesetzten Lastern, von denen das eine dadurch Anstoß erregt, daß man sich von einer bestimmten Art von Gegenständen zu sehr in Mitleidenschaft ziehen läßt, das andere dadurch, daß man sich diese Gegenstände zu wenig nahegehen läßt. So liegt die Tugend der Tapferkeit oder des Mutes in der Mitte zwischen den entgegengesetzten Lastern der Feigheit und der vermessenen Tollkühnheit, von denen das eine dadurch Anstoß erregt, daß es sich von den furchterregenden Gegenständen zu sehr in Mitleidenschaft ziehen läßt, das andere dadurch, daß es sich von ihnen zu wenig rühren läßt. So liegt auch die Tugend der Sparsamkeit in einem Mittleren, und zwar in dem Mittleren zwischen den Lastern des Geizes und der Verschwendung, von denen das eine in einem Übermaß, das andere in einem Mangel gehöriger Aufmerksamkeit gegenüber den Objekten des Eigennutzes besteht. Ebenso liegt die Seelengröße in einem Mittleren zwischen dem Zuviel, nämlich der Anmaßung, und dem Zuwenig, nämlich der Kleinmütigkeit, wovon die eine in einem zu starken, die andere in einem zu schwachen Gefühl von unse* Siehe Aristoteles, Ethic. Nic. l. II , c. 5 et sequ. et l. III , c. 5 et sequ.
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rem eigenen Wert und unserer Würde besteht. Es ist unnötig zu bemerken, daß auch diese Darstellung der Tugend ziemlich genau demjenigen entspricht, was oben in bezug auf die Schicklichkeit und Unschicklichkeit des Verhaltens gesagt wurde. Nach der Ansicht des Aristoteles * besteht die Tugend freilich nicht so sehr in diesen gemäßigten und richtigen Neigungen und Gefühlen, als vielmehr in dem Habitus dieser Mäßigung. Um dies zu verstehen, muß man bemerken, daß die Tugend entweder als Eigenschaft einer Handlung oder als Eigenschaft einer Person betrachtet werden kann. Betrachtet man sie als die Eigenschaft einer Handlung, so besteht sie auch nach der Ansicht des Aristoteles in der vernünftigen Mäßigung der Neigung oder des Gefühles, aus welchem die Handlung hervorgeht, mag nun diese Gesinnung der Person zum Habitus geworden sein oder nicht. Betrachtet man sie als die Eigenschaft einer Person, so besteht sie in dem Habitus dieser vernünftigen Mäßigung oder darin, daß diese zur gewohnheitsmäßigen und gewöhnlichen Gesinnung der Seele geworden ist. So ist die Handlung, welche aus einer gelegentlichen Anwandlung von Edelmut hervorgeht, zweifellos eine edelmütige Handlung, aber derjenige, der sie vollbringt, ist darum noch nicht notwendig ein edelmütiger Mensch, denn es mag dies die einzige Handlung dieser Art sein, die er jemals vollbracht hat. Die Triebfeder und die innerste Gesinnung seines Herzens, aus welcher heraus er die Handlung vollführte, mag ganz gerecht und sittlich gewesen sein : aber da diese glückliche Stimmung mehr die Wirkung einer zufälligen Laune gewesen zu sein scheint, als die eines ständigen oder bleibenden Zuges in seinem Charakter, so kann sie auf den, der die Handlung vollbrachte, nicht viel Ehre zurückstrahlen. Wenn wir einen Charakter edelmütig oder mildtätig oder in irgendeiner Beziehung tugendhaft nennen, so wollen wir damit zum Ausdruck bringen, daß die Gesinnung, welche * Siehe Aristoteles, Ethic. Nic. lib. II , cap. 1, 2, 3 und 4.
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eben durch jede einzelne dieser Benennungen bezeichnet wird, die gewöhnliche und gewohnheitsmäßige Gesinnung dieser Person ist. Irgendwelchen einzelnen Handlungen jedoch, . mögen sie noch so richtig und angemessen sein, kommt nur eine geringe Beweiskraft zu, um darzutun, daß dies wirklich der Fall ist. Wenn eine einzelne Handlung hinreichend wäre, um demjenigen, der sie vollbracht hat, den Stempel der Tugend aufzuprägen, dann würde selbst der nichtswürdigste unter den Menschen auf alle Tugenden Anspruch erheben, da es doch keinen Menschen gibt, der nicht in einigen Fällen nach der Vorschrift der Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Tapferkeit gehandelt hätte. Obgleich aber einzelne Handlungen, so lobenswert sie auch sein mögen, nur wenig Lob auf denjenigen zurückstrahlen, der sie vollbringt, so wird doch eine einzige lasterhafte Handlung, wenn sie von einem Menschen vollbracht wird, dessen Verhalten sonst gewöhnlich streng pflichtgemäß ist, unsere gute Meinung von seiner Tugend stark vermindern, ja mitunter sogar zerstören. Eine einzige Handlung dieser Art zeigt zur Genüge, daß seine Charaktergewohnheiten nicht vollkommen sind, und daß man sich auf ihn nicht so verlassen kann, wie wir nach der gewöhnlichen Art seines Betragens wohl angenommen hätten. Wenn Aristoteles * die Tugend in erworbenen Gewohnheiten des Handelns bestehen ließ, so hatte er damit wohl auch die Absicht, der Lehre Platos entgegenzutreten, der der Ansicht gewesen zu sein scheint, daß gerechte Empfindungen und vernünftige Urteile über das, was getan oder gemieden werden soll, allein ausreichend wären, um die vollendetste Tugend zu bilden. Nach der Ansicht Platos könnte die Tugend als eine Art von Wissen betrachtet werden und kein Mensch könnte, seiner Meinung nach, klar und deutlich sehen, was recht und was unrecht ist, ohne auch demgemäß zu handeln. Affekte könnten uns wohl bestimmen, gegen * Siehe Aristoteles, Mag. Mor. lib. I, c. i.
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zweifelhafte und unsichere Meinungen zu handeln, jedoch nicht gegen klare und einleuchtende Erkenntnisse. Aristoteles dagegen war der Meinung, daß keine verstandesmäßige Überzeugung imstande wäre, über eingealterte Gewohnheiten des Handelns die Oberhand zu gewinnen, und daß Sittlichkeit nicht aus dem Wissen, sondern aus dem Handeln entspringe. III . Nach Zeno *, dem Begründer der stoischen Lehre, ist jedes Lebewesen von der Natur seiner eigenen Obsorge anvertraut und mit dem Prinzip der Selbstliebe ausgestattet worden, damit es sich bemühen möge, nicht nur seine Existenz, sondern alle die verschiedenen Teile seines Wesens in dem besten und vollkommensten Zustande zu erhalten, dessen sie fähig sind. Die Selbstliebe des Menschen umfaßt, wenn ich so sagen darf, seinen Körper und alle die verschiedenen Glieder desselben und seine Seele und alle ihre verschiedenen Vermögen und Kräfte und strebt danach, sie alle in ihrem besten und vollkommensten Zustande zu erhalten und zu behaupten. Alles, was dahin wirkt, diesen Zustand des Daseins zu erhalten, wurde ihm deshalb von der Natur als dasjenige bezeichnet, was er wählen solle, und alles, was dahin wirkt, ihn zu zerstören, als dasjenige, was er verwerfen solle. So wurden Gesundheit, Stärke, Beweglichkeit und Wohlbefinden des Körpers ebenso wie die äußeren Güter, die diese zu befördern vermögen, wie Reichtum, Macht, Ehre, die Achtung und Wertschätzung seitens derjenigen, mit denen wir umgehen, uns von der Natur als Dinge bezeichnet, die gewählt zu werden verdienen, und deren Besitz ihrem Fehlen vorzuziehen ist. Auf der anderen Seite wurden in gleicher Weise Krankheit, Schwächlichkeit, Ungelenkheit des Körpers, körperliche Schmerzen und ebenso alle die äußeren Hemmungen, welche die Tendenz haben, eines dieser Übel zu veranlassen oder herbeizuführen, wie Armut, Mangel an * Siehe Cicero de finibus lib. III , sowie Diogenes Laertius in Zenone lib. VII , segment. 84.
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Ansehen, Verachtung oder Haß, von seiten derjenigen, mit denen wir umgehen, uns als Dinge bezeichnet, die zu meiden und zu fliehen sind. In jeder dieser beiden Klassen von Gütern und Übeln gibt es jedoch solche, die es mehr als andere der gleichen Klasse verdienen, gewählt oder gemieden zu werden. So erscheint in der ersten Klasse offenbar die Gesundheit der Stärke und die Stärke der Beweglichkeit gegenüber den Vorzug zu verdienen, ebenso der gute Ruf gegenüber der Macht und die Macht gegenüber dem Reichtum. Und ebenso ist in der zweiten Klasse Krankheit stärker zu vermeiden als Ungelenkheit des Körpers, Schande mehr als Armut und Armut mehr als der Verlust der Macht. Tugend und Schicklichkeit des Verhaltens bestehen nun darin, daß wir alle die verschiedenen Gegenstände und Umstände in dem gleichen Verhältnis wählen und verwerfen, als sie von der Natur selbst zu Dingen gemacht wurden, die zu wählen oder zu verwerfen sind, und zwar indem wir unter den verschiedenen Gegenständen, die uns zur Wahl dargeboten werden, immer diejenigen auslesen, die am meisten wert sind, ausgewählt zu werden – soferne wir sie nicht alle erlangen können – und daß wir auch von den verschiedenen Gegenständen, die sich uns zur Verwerfung darbieten, dasjenige auslesen, was am wenigsten zu meiden war – soferne es eben nicht in unserer Macht stand, sie alle zu meiden. Wenn wir bei unserem Wählen und Verwerfen in so gerechter und genauer Weise unterscheiden, wenn wir jedem einzelnen Gegenstande genau jenen Grad von Aufmerksamkeit widmen, den er verdient, dem Platz entsprechend, den er in dieser natürlichen Rangordnung der Dinge einnimmt, dann halten wir nach Ansicht der Stoiker jene vollkommene Korrektheit des Verhaltens aufrecht, die das Wesen der Tugend bildet. Dies nannten sie übereinstimmend leben oder gemäß der Natur leben und jenen Gesetzen und Anleitungen gehorchen, welche die Natur oder der Schöpfer der Natur uns für unser Verhalten vorgeschrieben hat. Insoweit ist der stoische Begriff der Schicklichkeit und Tugend
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nicht sehr verschieden von jenem des Aristoteles und der alten Peripatetiker. Zu jenen Gütern, die uns die Natur als in erster Linie zu wählende empfohlen hat, gehört das Wohlergehen unserer Familie, unserer Verwandten, unserer Freunde, unseres Staates, der Menschheit und des Universums im allgemeinen. Die Natur hat uns auch gelehrt, daß das Wohlergehen von zweien demjenigen von einem vorzuziehen ist, und daß deshalb das Wohlergehen von vielen oder gar von allen demjenigen des einen noch unendlich mehr vorzuziehen sein muß. Daß wir selbst jeder nur einer sind, und daß infolgedessen unser Wohlergehen überall dort, wo es mit demjenigen des Ganzen oder mit dem eines beträchtlichen Teiles des Ganzen unvereinbar ist, selbst in unserer eigenen Wahl demjenigen zu weichen hat, was so ungeheuer mehr vorzuziehen ist. Da alle Ereignisse in dieser Welt durch die Vorsehung eines weisen, mächtigen und guten Gottes gelenkt werden, können wir versichert sein, daß alles, was geschieht, darauf abzielt, das Wohlergehen und die Vervollkommung des Ganzen zu befördern. Wenn wir uns selbst in Armut, in Krankheit oder in irgendeiner anderen Notlage befinden, sollen wir darum vor allem uns die äußerste Mühe geben, uns – soferne es die Gerechtigkeit und unsere Pflicht gegenüber anderen erlauben – aus diesen widrigen Umständen zu befreien. Wenn sich uns dies aber, nachdem wir alles getan haben, was wir tun konnten, als unmöglich herausstellt, dann sollen wir uns damit zufrieden geben, daß die Ordnung und Vervollkommnung des Universums es verlangen, daß wir einstweilen in dieser Situation verharren. Und da sogar wir selbst der Ansicht sein sollten, daß das Wohlergehen des Ganzen den Vorzug verdiene vor einem so unbedeutenden Teile desselben, wie wir es sind, sollten wir von diesem Augenblick an in unsere Situation – möge sie welche immer sein – einwilligen und an ihr Gefallen finden, wenn wir anders jene vollkommene Schicklichkeit und Korrektheit des Gefühles und des Verhaltens aufrecht
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erhalten wollen, in welcher die Vollkommenheit unserer Natur besteht. Wenn sich freilich irgendeine Gelegenheit bieten sollte, uns aus dieser Lage herauszuwinden, dann wäre es unsere Pflicht, sie zu ergreifen. Die Ordnung des Universums würde dann offenbar nicht mehr von uns verlangen, daß wir in dieser Situation verharren, denn der große Lenker der Welt hat uns ja offensichtlich aufgefordert, sie zu verlassen, indem er uns so deutlich den Weg zeigte, dem wir zu folgen haben. Ebenso verhält es sich mit dem Mißgeschick unserer Verwandten, unserer Freunde, unseres Landes. Wenn es in unserer Macht steht, ihrer Notlage vorzubeugen oder ein Ende zu setzen, ohne daß wir dadurch eine heiligere Verpflichtung verletzen müßten, dann sei es zweifellos unsere Pflicht, dies zu tun. Die Schicklichkeit unseres Handelns, die Regel, welche uns Jupiter zur Leitung unseres Verhaltens gegeben hat, verlange dies offensichtlich von uns. Wenn es aber ganz und gar außer unserer Macht steht, eines von beiden zu tun, dann sollen wir dieses Ereignis als das glücklichste betrachten, das sich überhaupt hätte zutragen können ; denn wir können versichert sein, daß es am meisten auf das Wohlergehen und die Ordnung jenes Ganzen abzielt und das ist es ja, was wir, wenn wir weise und gerecht sind, vor allem wünschen sollen. Es ist letzten Endes unser eigener Vorteil, sofern wir diesen als einen Teil jenes Ganzen betrachten, dessen Wohlergehen nicht nur das höchste, sondern das einzige Ziel unseres Verlangens sein sollte. »In welchem Sinne«, sagt Epiktet, »nennt man gewisse Dinge unserer Natur gemäß und andere unserer Natur zuwider ? Nur in jenem Sinne, in welchem wir uns als getrennt und abgesondert von allem anderen betrachten. Denn so kann man sagen, es sei der Natur des Fußes gemäß, immer rein zu sein. Wenn du ihn aber als einen Fuß betrachtest und nicht als etwas von dem übrigen Körper Getrenntes, dann muß es sich für ihn geziemen, manchmal in den Kot zu stapfen und manchmal auf Dornen zu treten und manchmal auch um des ganzen übrigen Körpers willen abge-
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schnitten zu werden ; und wenn er sich dessen weigert, ist er kein Fuß mehr. So sollten wir auch mit Bezug auf uns selbst denken. Was bist du ? Ein Mensch. Wenn du dich als etwas Getrenntes und Abgesondertes betrachtest, ist es deiner Natur angemessen, bis in ein hohes Alter zu leben, reich zu sein und gesund zu bleiben. Aber wenn du dich als einen Menschen und als einen Teil des Ganzen betrachtest, dann wird es sich für dich um des Ganzen willen geziemen, daß du manchmal krank bist, daß du manchmal den Unbequemlichkeiten einer Seereise ausgesetzt, daß du manchmal in Not bist und schließlich vielleicht, daß du vorzeitig stirbst. Warum beklagst du dich dann ? Weißt du nicht, daß du, wenn du dies tust, aufhörst, ein Mensch zu sein, ebenso wie jener Fuß aufhören würde, ein Fuß zu sein ?« Ein Weiser beklagt sich nie über die Fügungen der Vorsehung, noch meint er, daß das Universum aus den Fugen sei, wenn er aus der Ordnung herausgekommen ist. Er sieht sich selber nicht als ein Ganzes an, das von jedem anderen Teile der Natur getrennt und abgesondert wäre, und auf das um seiner selbst willen geachtet werden müßte. Er betrachtet sich in dem Lichte, in dem, wie er glaubt, der große Genius der menschlichen Natur und der Welt ihn ansieht. Er versetzt sich, wenn ich so sagen darf, in die Empfindungen jenes göttlichen Wesens und betrachtet sich selbst als ein Atom, als ein kleinstes Teilchen eines unermeßlichen und unendlichen Systems, ein Teilchen, über welches so verfügt werden muß und soll, wie es für das Gedeihen des Ganzen am besten ist. Da er sich der Weisheit, die alle Ereignisse des menschlichen Lebens lenkt, versichert fühlt, nimmt er jedes Los, das ihn trifft, mit Freude hin und ist überzeugt, daß es gerade dasjenige Los ist, das er sich selbst gewünscht hätte, wenn er alle die Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten gekannt hätte, die zwischen den verschiedenen Teilen des Universums bestehen. Wenn dieses Los Leben bedeutet, so ist er zufrieden, zu leben ; wenn es Tod ist, dann geht er bereitwillig, wohin zu gehen ihm befohlen
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wird, da die Natur offenbar seine Anwesenheit auf Erden nicht mehr benötigt. Ein kynischer Philosoph, dessen Lehren in dieser Beziehung denen der Stoiker gleich sind, sagt einmal : »Jedes Schicksal, das mich treffen kann, nehme ich mit gleicher Freude und Genugtuung hin. Reichtum oder Armut, Lust oder Schmerz, Gesundheit oder Krankheit, alles gilt mir gleich und ich würde nicht wünschen, daß die Götter in irgendeiner Hinsicht das mir bestimmte Schicksal ändern. Wenn es mir möglich wäre, von ihnen außer demjenigen, was ihre Güte mir bereits gewährt hat, noch etwas zu verlangen, dann wäre es, daß sie mir im voraus mitteilen möchten, was sie belieben werden mit mir zu tun, damit ich mich aus eigenem Antrieb in jene Lage begeben und die Heiterkeit zeigen könnte, mit welcher ich das mir von ihnen zugeteilte Los auf mich nehmen würde.« – »Wenn ich zur See gehen soll«, sagt Epiktet, »dann wähle ich das beste Schiff und den besten Steuermann und warte auf das günstigste Wetter, soweit es mir meine Verhältnisse und meine Pflicht erlauben werden. Klugheit und Schicklichkeit, die Prinzipien, welche die Götter mir gegeben haben, damit ich mein Verhalten durch sie leiten lasse, verlangen dies von mir ; mehr aber verlangen sie von mir nicht : und wenn sich trotzdem ein Sturm erhebt, dem weder die Stärke des Fahrzeuges, noch die Geschicklichkeit des Steuermannes Widerstand zu leisten vermag, dann mache ich mir keine Sorgen über das, was daraus erfolgen mag. Alles, was ich tun mußte, ist bereits getan. Die Lenker meines Verhaltens befehlen mir niemals, unglücklich, ängstlich, verzweifelt oder furchtsam zu sein. Ob wir ertrinken oder in einen Hafen gelangen sollen, das ist Jupiters Sache, nicht meine. Ich überlasse es ganz und gar seiner Entscheidung und störe mir niemals meine Ruhe durch Betrachtungen darüber, auf welche Seite sich sein Entschluß wohl richten werde, sondern nehme alles, was auch kommen mag, mit demselben Gleichmut und mit derselben Ruhe entgegen.« Aus diesem vollkommenen Vertrauen in jene wohlwollende
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Weisheit, welche das Universum regiert, und aus dieser völligen Ergebung in alles, was jene Weisheit anzuordnen beliebt, folgt mit Notwendigkeit, daß dem stoischen Weisen alle Ereignisse des menschlichen Lebens zum größten Teile gleichgültig sein müssen. Seine Glückseligkeit besteht durchaus darin, daß er erstens die Glückseligkeit und Vollkommenheit des großen Systems des Universums und die weise Regierung jenes großen Gemeinwesens betrachtet, das aus Göttern und Menschen, ja allen vernünftigen und fühlenden Wesen gebildet wird, und zweitens darin, daß er seine Pflicht erfüllt, und daß er in sittlich richtiger Weise in allen Angelegenheiten dieses großen Gemeinwesens handelt, wie klein auch immer der Teil sein mag, den jene Weisheit ihm davon zugewiesen hat. Die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit seiner Bemühungen mag von großer Wichtigkeit für ihn sein. Ihr Erfolg oder ihr Mißlingen kann für ihn überhaupt keine Bedeutung haben, kann keine leidenschaftliche Freude oder Bekümmernis, keine leidenschaftliche Begierde oder Abscheu in ihm hervorrufen. Wenn er gewisse Ereignisse anderen vorzieht, wenn manche Situationen zum Gegenstande seiner Wahl und andere zum Gegenstande seiner Verwerfung werden, so geschieht dies nicht, weil er die einen an und für sich für besser hielte als die anderen, oder weil er vielleicht glaubte, daß seine Glückseligkeit in der sogenannten glücklichen Lage vollkommener sein würde als in derjenigen, die man als unglücklich betrachtet, sondern weil die Schicklichkeit des Handelns, die Regel, welche die Götter ihm gegeben haben, damit er sein Verhalten nach ihr lenke, es von ihm verlangt, in dieser Weise zu wählen und zu verwerfen. Alle seine Neigungen werden gleichsam von zwei großen Neigungen aufgesaugt oder verschlungen ; die eine dieser Neigungen ist das Verlangen nach Erfüllung seiner Pflicht, die andere diejenige nach der größtmöglichen Glückseligkeit aller vernünftigen und fühlenden Wesen. Was die Befriedigung dieser letzteren Neigung betrifft, so verläßt er sich in vollster Sorglosigkeit auf die Weisheit und Macht
Siebenter Teil · Zweiter Abschnitt · Erstes Kapitel
des großen obersten Lenkers des Universums. Seine ganze Sorge richtet sich ausschließlich auf die Befriedigung der ersteren Neigung, nicht aber auf den Erfolg, sondern auf die Schicklichkeit seiner Bemühungen. Welches auch immer der Erfolg sein mag, er vertraut auf eine höhere Macht und Weisheit, die diesen Erfolg schon so wenden werde, daß er jenen großen Endzweck fördere, den er selbst so sehr zu fördern wünscht. Diese Schicklichkeit im Wählen und Verwerfen ist uns aber zwar ursprünglich durch die Dinge und um dieser gewählten und verworfenen Dinge willen angezeigt und gleichsam empfohlen und kundgemacht worden, wenn wir jedoch erst einmal mit ihr völlig vertraut sind, dann erscheint uns die Ordnung, die Anmut, die Schönheit, die wir in diesem Verhalten erkennen, die Glückseligkeit, die sich, wie wir fühlen, aus ihm ergibt, notwendig viel wertvoller als der Umstand, daß wir diese verschiedenen Gegenstände unserer Wahl wirklich erhalten, oder daß wir alle die Übel, die wir verwerfen, wirklich vermeiden. Daraus, daß man diese Regeln der Schicklichkeit befolgt, entspringen die Glückseligkeit und der Ruhm, daraus, daß man sie vernachlässigt, das Elend und die Schande der Menschen. Einem Weisen jedoch, einem Menschen, dessen Affekte dem herrschenden Prinzip seiner Natur vollkommen unterworfen sind, ist es bei allen Gelegenheiten gleich leicht, diese Regeln der Schicklichkeit zu befolgen. Ist er in glücklichen Verhältnissen, so stattet er Jupiter seinen Dank dafür ab, daß er ihn in eine Lage versetzt habe, die leicht zu beherrschen und in der die Versuchung gering sei, Unrecht zu tun. Ist er in widrigen Verhältnissen, so stattet er ebenso dem Leiter dieses Schauspiels, genannt menschliches Leben, seinen Dank ab dafür, daß er ihm einen kraftvollen Athleten zum Gegner gegeben hat ; denn mag auch der Kampf mit ihm wahrscheinlich schwerer sein, so ist doch der Sieg über ihn voraussichtlich ruhmvoller und dennoch gleich sicher. Kann in einem Unglück irgendwelche Schande liegen, das uns zustößt,
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ohne daß irgendeine Schuld auf unserer Seite vorgelegen wäre, und in welchem wir uns vollkommen sittlich richtig benahmen ? Es kann kein Übel darin liegen, sondern vielmehr gerade das größte Gut und der höchste Vorteil. Ein tapferer Mann wird in Gefahren frohlocken, in die ihn nicht seine eigene Unbesonnenheit, sondern sein Schicksal verwickelt hat. Sie bieten ihm eine Gelegenheit, jene heldenmütige Unerschrockenheit zu bewähren, deren Betätigung ihm die höchste Wonne bereitet, welche aus dem Bewußtsein fließt, daß man mit besonderer sittlicher Stärke gehandelt und sich der allgemeinen Bewunderung würdig gemacht habe. Ein Mann, der in allen Leibesübungen Meister ist, wird nicht abgeneigt sein, seine Kraft und seine Behendigkeit auch mit dem Stärksten zu messen. Und ebenso wird ein Mann, der Herr und Meister über alle seine Affekte ist, keine Lage fürchten, in welche der oberste Lenker des Universums ihn zu versetzen für gut finden mag. Die Güte dieses göttlichen Wesens hat ihn mit Tugenden ausgestattet, die ihn fähig machen, einer jeden Lebenslage gewachsen zu sein. Ist es Lust, so besitzt er Mäßigkeit, um sich ihrer zu enthalten ; ist es Schmerz, so besitzt er Standhaftigkeit, um ihn zu ertragen, ist es Gefahr oder Tod, so hat er Seelengröße und Tapferkeit, um diese geringzuschätzen. Die Ereignisse des menschlichen Lebens vermögen ihn niemals unvorbereitet zu treffen, niemals können sie ihn in Verlegenheit bringen, wie er wohl jene Schicklichkeit der Empfindung und des Verhaltens aufrecht erhalten soll, die nach seiner Überzeugung zugleich seinen Ruhm und sein Glück bilden. Es scheint, daß die Stoiker das menschliche Leben als ein Spiel betrachtet haben, in dem es auf große Geschicklichkeit ankommt, in dem jedoch auch der Zufall mitwirkt oder das, was man eben gemeinhin unter Zufall versteht. In solchen Spielen ist der Einsatz gewöhnlich eine Kleinigkeit und das ganze Vergnügen des Spieles entspringt daraus, daß man gut spielt, anständig spielt und geschickt spielt. Wenn der gute Spieler trotz aller seiner Geschick-
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lichkeit dennoch durch den Einfluß des Zufalls etwa verlieren sollte, dann soll der Verlust ihm eher ein Anlaß zur Heiterkeit sein als zu ernsthaftem Kummer. Er hat keinen falschen Zug gemacht, er hat nichts getan, dessen er sich schämen müßte, er hat das Vergnügen des Spieles vollständig genossen. Wenn auf der anderen Seite der schlechte Spieler trotz all seiner Schnitzer in gleicher Weise etwa gewinnen sollte, dann könnte ihm sein Erfolg doch nur wenig Befriedigung gewähren. Die Erinnerung an alle die Fehler, die er gemacht hat, ärgert ihn. Sogar während des Spieles kann er in keiner Hinsicht das Vergnügen genießen, welches das Spiel zu bieten vermag. Infolge seiner Unkenntnis der Spielregeln sind Furcht, Zweifel und Zögern die unangenehmen Empfindungen, welche fast jedem einzelnen Zug, den er im Spiel macht, vorhergehen, und wenn er ihn gemacht hat, dann findet er, daß der Zug ein grober Schnitzer war, und der Ärger darüber vollendet gewöhnlich den unangenehmen Kreis seiner Empfindungen. Das menschliche Leben mit all den Annehmlichkeiten, die es möglicherweise begleiten können, soll nach den Stoikern bloß wie ein Einsatz von zwei Pfennigen betrachtet werden ; als eine Angelegenheit, die viel zu unbedeutend ist, um irgendwelche ängstliche Sorge zu verdienen. Unsere eifrige Sorge sollte nicht auf den Einsatz, sondern einzig und allein auf die richtige Art des Spielens gerichtet sein. Wenn wir unser Glück auf den Gewinn des Einsatzes einstellen, dann setzen wir es in etwas, was von Ursachen abhängt, die über unsere Macht hinausgehen, und die außerhalb unserer Verfügung stehen. Wir setzen uns damit notwendig beständiger Furcht und Unruhe und häufig auch kummervollen und kränkenden Enttäuschungen aus. Wenn wir es aber darein setzen, gut zu spielen, anständig zu spielen, gescheit und geschickt zu spielen, wenn wir es, kurz gesagt, in die Schicklichkeit unseres Betragens setzen, dann haben wir es damit in etwas verlegt, das infolge richtiger Selbstzucht, Erziehung und Aufmerksamkeit durchaus im Bereich unserer Macht und unserer Verfügung stehen kann. Un-
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sere Glückseligkeit ist dann vollkommen sicher und dem Einfluß des Schicksals gänzlich entrückt. Denn wenn der Ausgang unserer Handlungen außerhalb unserer Macht steht, so steht er doch ebenso auch jenseits unserer Besorgnis und wir können niemals Furcht oder Angst um seinetwillen fühlen, noch jemals eine kummervolle oder auch nur eine ernstliche Enttäuschung erleiden. Das menschliche Leben selbst, so sagen sie, könne für uns ebenso wie jeder von den Vorteilen oder Nachteilen, die damit verbunden sein mögen, je nach der Verschiedenheit der Umstände mit Recht zum Zielpunkt der Wahl oder aber der Verwerfung werden. Wenn in unserer gegenwärtigen Lage mehr Umstände gegeben sind, die mit der Natur übereinstimmen, als solche, die im Gegensatz zu ihr stehen, mehr Umstände, die gewählt zu werden verdienen, als solche, die zu verwerfen sind, dann ist in diesem Falle das Leben im großen Ganzen schicklicherweise zu wählen und dann verlangt es die sittliche Richtigkeit des Verhaltens, daß wir in ihm verharren. Wenn sich aber andererseits in unserer gegenwärtigen Lage mehr Umstände finden, die im Widerspruch zur Natur stehen, als solche, die mit ihr übereinstimmen, mehr Umstände, die es verdienen, verworfen zu werden, als solche, die zu wählen sind – ohne daß eine begründete Hoffnung auf Besserung bestünde –, dann wird in diesem Falle das Leben selbst für den Weisen eine Sache, die zu verwerfen ist, und er hat nicht nur die Freiheit, sich daraus zu entfernen, sondern die sittliche Richtigkeit des Verhaltens, die Regel, welche die Götter selbst ihm gegeben haben, damit er sein Verhalten danach bestimme, verlangen von ihm, dies zu tun. »Ich erhalte den Befehl«, sagt Epiktet, »nicht in Nikopolis zu wohnen. Ich wohne deshalb nicht dort. Ich erhalte den Befehl, nicht in Athen zu wohnen. Ich wohne nicht in Athen. Ich erhalte den Befehl, nicht in Rom zu wohnen. Ich wohne nicht in Rom. Ich erhalte den Befehl, auf der kleinen und felsigen Insel Gyarae zu wohnen. Ich reise hin und wohne dort. Aber das Haus in Gyarae raucht. Wenn der Rauch mäßig ist, wer-
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de ich ihn ertragen und dort bleiben. Wenn er außergewöhnlich stark ist, werde ich mich in ein Haus begeben, aus dem mich kein Tyrann entfernen kann. Ich werde immer daran denken, daß die Türe offen ist, daß ich herausspazieren kann, wann es mir gefällt, um mich in jenes gastliche Haus zurückzuziehen, welches zu allen Zeiten aller Welt offen steht ; denn weiter als bis zu meinem untersten Gewand, weiter als bis auf meinen Körper reicht keines lebenden Menschen Macht über mich«. Wenn deine Lage im Ganzen unangenehm ist, wenn dein Haus dir zu stark raucht, sagen die Stoiker, dann gehe unbedingt daraus hinweg ; aber gehe hinweg, ohne Ärger, ohne Murren und ohne Klagen. Gehe ruhig, zufrieden und freudig hinweg und statte deinen Dank den Göttern ab, die in ihrer grenzenlosen Güte den sicheren und ruhigen Hafen des Todes uns geöffnet haben, der zu allen Zeiten bereit ist, uns aufzunehmen nach unserer Fahrt auf dem stürmischen Ozean des menschlichen Lebens ; die uns dieses heilige, dieses unverletzliche, dieses gewaltige Asyl bereitet haben, das immer offen, immer zugänglich ist, das durchans außerhalb des Bereiches menschlicher Wut und Ungerechtigkeit liegt, und das weit genug ist, um alle aufzunehmen – sowohl alle diejenigen, die sich in dieses Asyl zu flüchten wünschen, als auch alle diejenigen, die es nicht wünschen : ein Asyl, das jedem Menschen selbst den Vorwand nimmt, sich zu beklagen oder sich auch nur einzubilden, daß es irgendwelche Übel im menschlichen Leben geben könne, ausgenommen solche, die er infolge seiner eigenen Torheit und Schwachheit erleiden mag. Die Stoiker sprechen in den wenigen Bruchstücken ihrer Philosophie, die auf uns gekommen sind, von dem Verlassen des Lebens manchmal mit einer Heiterkeit, ja sogar mit einer Leichtfertigkeit, die uns, wenn wir diese Stellen für sich allein betrachten müßten, zu der Annahme veranlassen könnten, sie seien der Meinung gewesen, daß wir mit Fug und Recht das Leben verlassen dürften, sobald wir nur Lust dazu hätten – mutwillig und lau-
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nenhaft, bei dem unbedeutendsten Widerwillen oder Unbehagen, daß uns überkommt. »Wenn du mit jenem Menschen zu Abend issest«, sagt Epiktet, »dann beklagst du dich über die langen Geschichten, die er dir von den Mysischen Kriegen erzählt. ›Nachdem ich dir nun erzählt habe‹, sagt jener Mensch, ›wie ich an dem und dem Platze die Anhöhe in Besitz genommen habe, will ich dir erzählen, wie ich an jenem anderen Orte belagert wurde‹. Wenn du aber keine Lust hast, dich von ihm mit seinen langen Geschichten belästigen zu lassen, dann nimm die Einladung zum Abendessen bei ihm nicht an. Nimmst du jedoch sein Abendessen an, dann hast du nicht den geringsten Vorwand, dich über seine langen Geschichten zu beklagen. Und ebenso verhält es sich mit demjenigen, was du die Übel des menschlichen Lebens nennst. Beklage dich niemals über etwas, wovon du dich doch jederzeit zu befreien vermagst«. Trotz der Heiterkeit und sogar einer gewissen Leichtfertigkeit, die sich in diesen Ausdrücken findet, ist doch nach Ansicht der Stoiker die Entscheidung, ob man das Leben verlassen oder in ihm verharren soll, eine Angelegenheit, welche die ernsthafteste Überlegung verdient, und der große Bedeutung zukommt. Niemals sollen wir das Leben verlassen, solange wir nicht klar und deutlich von jener alles lenkenden Macht dazu aufgefordert werden, die uns ursprünglich in dieses Leben gestellt hat. Wir dürfen aber auch nicht der Ansicht sein, daß wir nur an der natürlichen, fest bestimmten und unvermeidlichen Grenze des menschlichen Lebens die Aufforderung, das Leben zu verlassen, erhalten können. Wenn die Vorsehung jener alles lenkenden Macht unsere Lebensverhältnisse einmal so gestaltet hat, daß sie im Ganzen mit Fug und Recht eher zu verwerfen als zu wählen wären, dann verlangt das große Gesetz, das sie uns gegeben hat, damit wir danach unser Verhalten leiten, von uns, das Leben zu verlassen. Man könnte dann von uns sagen, daß wir die ehrwürdige und wohlwollende Stimme jenes göttlichen Wesens selbst vernehmen, wie sie uns klar und deutlich zu diesem Schritte auffordert.
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Aus diesem Grunde könnte es nach der Ansicht der Stoiker für den Weisen Pflicht sein, aus dem Leben zu scheiden, auch wenn er vollständig glücklich wäre, während es dagegen für einen schwächlichen Menschen Pflicht sein könnte, darin zu verbleiben, obgleich er sich notwendig unglücklich fühlte. Wenn in der Lage, in welcher sich der Weise befindet, mehr solche Umstände vorhanden sind, die Verwerfung verdienen, als solche, die zu wählen wären, dann verdient seine ganze Lebenslage verworfen zu werden, und dann verlangt das Gesetz, welches die Götter ihm gegeben haben, damit er danach sein Verhalten bestimme, daß er so schleunig aus diesem Leben scheide, als seine besonderen Umstände es tunlich machen. Er ist jedoch auch in dem Zeitraume, während dessen es ihm schicklich scheint, im Leben zu verbleiben, vollkommen glücklich. Er setzt seine Glückseligkeit nicht darein, daß er diejenigen Dinge erhält, die er gewählt oder diejenigen meidet, die er verworfen hat, sondern vielmehr darein, daß er stets in genau sittlich richtiger Weise wählt und verwirft, somit nicht in den Erfolg, sondern in die Angemessenheit seiner Bestrebungen und Anstrengungen. Wenn dagegen in der Lage, in welcher sich der schwächliche Mensch befindet, mehr solche Umstände vorhanden sind, die naturgemäß gewählt zu werden verdienen, als solche, die zu verwerfen sind, dann verdient seine ganze Lebenslage gewählt zu werden und es ist seine Pflicht, darin zu verharren. Dennoch ist er unglücklich und zwar deshalb, weil er jene Umstände nicht zu benutzen versteht. Mögen seine Karten noch so gut sein, er versteht es nicht, mit ihnen zu spielen, und kann weder an dem Fortschreiten, noch an dem Ausgang des Spieles irgendwelche wirkliche Befriedigung finden, auf welche Art immer das Spiel schließlich ausfallen mag *.
* Siehe Cicero, De finibus, lib. 3, c. 13 (Ausgabe von Olivet).
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Die Lehre, daß der freiwillige Tod in manchen Fällen sittlich richtig sei, wurde zwar vielleicht von den Stoikern eindringlicher betont als von irgendeiner der anderen antiken Philosophenschulen, war aber im Grunde allen diesen Schulen gemeinsam und findet sich sogar bei den friedfertigen und trägen Epikureern. Während des Zeitalters, in welchem die Gründer der hervorragendsten antiken Philosophenschulen blühten, während des Peloponnesischen Krieges und noch durch viele Jahre nach seiner Beendigung waren alle die verschiedenen Staaten Griechenlands im Inneren fast immer durch die leidenschaftlichsten Parteikämpfe zerrüttet, während sie nach außen in die blutigsten Kriege verwickelt waren ; und es waren dies Kriege, in denen jeder dieser Staaten nicht nur danach trachtete, den Vorrang und die Oberherrschaft zu erringen, sondern alle seine Feinde gänzlich auszurotten oder – was nicht weniger grausam war – sie in den niedrigsten Zustand herabzudrücken, den es gibt, nämlich in denjenigen der Sklaverei, und sie, Männer, Frauen und Kinder, wie eine ebenso große Herde von Nutzvieh auf dem Markt an den Meistbietenden zu verkaufen. Die Kleinheit der meisten dieser Staaten mußte es jedem einzelnen von ihnen als ein durchaus nicht unwahrscheinliches Ereignis erscheinen lassen, daß er selbst eben in jenes Unglück stürzen könnte, welches er so häufig dem einen oder anderen seiner Nachbarn wirklich auferlegt hatte, oder das er doch wenigstens versucht hatte, ihm aufzuerlegen. In dieser ungeordneten Lage der Dinge konnte die vollkommenste Schuldlosigkeit, verbunden mit dem höchsten gesellschaftlichen Rang und den größten Verdiensten gegenüber der Öffentlichkeit, einen Menschen nicht davor schützen, daß er nicht sogar in seiner Heimat und mitten unter seinen Verwandten und Mitbürgern heute oder morgen, wenn eine ihm feindliche, von wütendem Eifer erfüllte Partei ans Ruder käme, zu der grausamsten und schimpflichsten Strafe verurteilt werden würde. Wenn er in Kriegsgefangenschaft geriet, oder wenn die Stadt, deren Bürger
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er war, erobert wurde, dann war er womöglich noch größeren Beschimpfungen und Verhöhnungen ausgesetzt. Es ist jedoch ganz natürlich oder vielmehr es ist notwendig, daß sich jeder Mensch in seinen Gedanken mit einem Unglück vertraut macht, dem ihn voraussichtlich seine Lebensverhältnisse sehr leicht aussetzen können. Es ist unmöglich, daß ein Seemann nicht häufig an Sturm, Schiffbruch und Untergang auf hoher See denken und sich nicht in der Phantasie ausmalen sollte, was er selbst wohl in solchen Fällen fühlen und was er tun würde. Es war ebenso unmöglich, daß ein griechischer Patriot oder Kriegsheld sich nicht in Gedanken mit all den verschiedenen Notlagen hätte vertraut machen sollen, welchen ihn seine Lebensverhältnisse, wie er wohl wußte, häufig oder vielmehr beständig aussetzen mußten. Wie ein amerikanischer Wilder seinen Todesgesang vorbereitet und Überlegungen darüber anstellt, was er tun würde, wenn er seinen Feinden in die Hände fallen und von ihnen unter den langwierigsten Martern und unter dem Hohn und Spott aller Zuschauer zu Tode gequält werden würde, so konnte ein griechischer Patriot oder Kriegsheld gar nicht anders, als seine Gedanken immer wieder mit Betrachtungen darüber beschäftigen, was er erdulden und wie er handeln müßte, wenn er in die Verbannung geschickt würde, wenn er in Gefangenschaft geriete, wenn er in die Sklaverei geführt, wenn er auf die Folter oder gar auf das Schafott gebracht würde. All die Philosophen der verschiedenen Schulen stellten aber mit vollem Recht die Tugend, das heißt ein weises, gerechtes, standhaftes und maßvolles Verhalten als den Weg dar, der nicht nur mit höchster Wahrscheinlichkeit, sondern mit Gewißheit und Unfehlbarkeit schon in diesem Leben zur Glückseligkeit führen muß. Ein solches Verhalten konnte indessen denjenigen, der es befolgte, nicht immer von all den Nöten befreien, die mit einer so ungefestigten Lage der öffentlichen Angelegenheiten notwendig verbunden waren, ja es mochte ihn mitunter denselben sogar noch stärker aussetzen. Darum bemühten sie sich entweder
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zu zeigen, daß die Glückseligkeit gänzlich, oder daß sie wenigstens in hohem Grade vom Schicksal unabhängig sei ; die Stoiker versuchten zu beweisen, daß die Glückseligkeit völlig unabhängig davon sei, die Philosophen der Akademie und der peripatetischen Schule, daß dies in hohem Grade der Fall sei. Ein weises, kluges und sittlich gutes Verhalten das ist in erster Linie dasjenige Verhalten, das am ehesten in jeder Art von Unternehmungen Erfolg verbürgen kann ; sollte es aber auch diesen günstigen Erfolg nicht erreichen, so läßt es doch die Seele nicht ganz ohne Trost. Der tugendhafte Mensch kann sich immer noch des vollen Beifalls seines eigenen Herzens erfreuen und darf immer noch fühlen, daß, so widerwärtig die Dinge da draußen auch sein mögen, in seinem Inneren doch Ruhe, Friede und Eintracht herrscht. Er darf sich im allgemeinen auch mit dem sicheren Bewußtsein trösten, daß er die Liebe und Achtung eines jeden verständigen und unparteiischen Zuschauers besitzt, der nicht umhin können wird, sein Verhalten zu bewundern und sein Unglück zu bedauern. Jene Philosophen bemühten sich zugleich, zu zeigen, daß das größte Unglück, dem das Leben der Menschen ausgesetzt ist, leichter zu ertragen sei, als man gemeinhin annehme. Sie bemühten sich, auf die Tröstungen hinzuweisen, die dem Menschen immer noch bleiben, wenn er in Armut gestürzt, wenn er in die Verbannung getrieben wird, wenn er den ungerechten Angriffen einer tobenden Volksmenge ausgesetzt ist, wenn er unter Blindheit oder unter Taubheit leidet, wenn er an der äußersten Grenze des Alters steht oder sich im Angesicht des Todes befindet. Sie wiesen auch auf die Betrachtungen hin, die ihm helfen könnten, seine Standhaftigkeit unter quälenden Schmerzen und selbst auf der Folter zu bewahren, oder in Krankheit, in dem Kummer über den Verlust von Kindern, über den Tod von Freunden und Verwandten usw. standhaft auszuharren. Die wenigen Fragmente, die von jenen Abhandlungen auf uns gekommen sind, in welchen die
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antiken Philosophen diesen Gegenstand behandelt haben, bilden vielleicht einen der lehrreichsten und zugleich einen der interessantesten Überreste des Altertums. Der feurige Geist und die Mannhaftigkeit ihrer Lehren stehen in einem wunderbaren Kontrast zu dem verzweifelten, klagenden und weinerlichen Tone einiger moderner Systeme. Während sich aber jene antiken Philosophen in dieser Weise bemühten, alle Überlegungen an die Hand zu geben, die imstande waren, wie Milton sagt, »mit Geduld so wie mit dreifach Erz die hart gewordne Brust zu wappnen «, gaben sie sich zugleich vor allem Mühe, ihre Anhänger davon zu überzeugen, daß der Tod kein Übel sei und keines sein könne, und daß, wenn ihre Lage ihnen jemals trotz aller Standhaftigkeit zu schwer werden sollte, das Heilmittel nicht ferne sei, denn die Türe stehe offen und sie könnten ohne Furcht hinauswandern, wann es ihnen gefalle. Gibt es jenseits dieser gegenwärtigen Welt keine andere, dann, sagten sie, kann der Tod kein Übel sein, und wenn es eine andere Welt gibt, dann müssen die Götter auch in dieser anderen Welt sein und ein gerechter Mensch kann kein Übel fürchten, solange er unter ihrem Schutz steht. Kurz, jene Philosophen bereiteten, wenn ich so sagen darf, einen Todesgesang vor, welchen die griechischen Patrioten und Kriegshelden bei den richtigen Gelegenheiten verwerten konnten, und man muß, glaube ich, anerkennen, daß von all den verschiedenen Philosophenschulen die Stoiker bei weitem den begeistertsten und feurigsten Gesang gedichtet haben. Der Selbstmord scheint indessen unter den Griechen niemals sehr verbreitet gewesen zu sein. Ich kann mich augenblicklich mit Ausnahme des Kleomenes keines besonders berühmten Patrioten oder Kriegshelden Griechenlands errinnern, der durch eigene Hand gestorben wäre. Der Tod des Aristomenes liegt ebensosehr jenseits des Zeitalters wahrer Geschichte wie der des Ajax. Die allgemein verbreitete Erzählung von dem Tod des Themistokles spielt zwar innerhalb dieses Zeitalters, trägt aber im übrigen
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alle Kennzeichen einer höchst romantischen Erdichtung an der Stirne. Von all den griechischen Helden, deren Lebensgeschichten Plutarch geschrieben hat, scheint Kleomenes der einzige gewesen zu sein, der auf diese Weise ums Leben kam. Theramenes, Sokrates und Phokion, Männer, denen es sicher nicht an Mut fehlte, ertrugen es, daß man sie ins Gefängnis schickte, und unterwarfen sich geduldig der Todesstrafe, zu der sie die Ungerechtigkeit ihrer Mitbürger verurteilt hatte. Der tapfere Eumenes duldete es, daß ihn seine eigenen meuternden Soldaten seinem Feinde Antigonus auslieferten, und wurde, ohne daß er auch nur den Versuch unternommen hätte, einen Selbstmord zu begehen, in der Gefangenschaft getötet, indem man ihn verhungern ließ. Der wackere Philopoemen ertrug es, daß er von den Messeniern gefangengenommen wurde ; er wurde in einen Kerker geworfen und, wie man annimmt, im geheimen vergiftet. Von einigen Philosophen erzählt man allerdings, daß sie auf jene Weise gestorben seien ; aber ihre Lebensgeschichte ist so äußerst töricht beschrieben worden, daß man der Mehrzahl der Geschichten, die man von ihnen erzählt, sehr wenig Glauben schenken darf. Drei verschiedene Berichte sind uns von dem Tode Zenos, des Stoikers, überliefert worden. Der eine lautet dahin, er sei, nachdem er durch achtundneunzig Jahre sich der besten Gesundheit erfreut hatte, eines Tages, als er eben seine Schule verließ, zufällig gestürzt und obgleich er keinen anderen Schaden dabei nahm, als daß er sich einen Finger brach oder verrenkte, habe er den Erdboden mit der Hand geschlagen und mit den Worten der Niobe des Euripides gesprochen : »Ich komme, warum rufst du mich ?« Hierauf sei er sofort nach Hause gegangen und habe sich aufgehängt. Bei seinem hohen Alter hätte er, möchte man glauben, etwas mehr Geduld haben können. Ein anderer Bericht geht dahin, daß er im selben Alter und infolge eines ähnlichen Zufalls sich selbst durch freiwilliges Verhungern getötet habe. Der dritte Bericht erzählt, er sei im Alter von zweiundsiebzig Jahren eines natürlichen Todes
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gestorben ; das ist weitaus der wahrscheinlichste der drei Berichte und er wird noch gestützt durch die Autorität eines Zeitgenossen, der genügend Gelegenheit gehabt haben muß, sich genau zu unterrichten, nämlich durch die des Persaeus, der zuerst der Sklave und später der Freund und Schüler Zenos gewesen ist. Der erste Bericht wird von Apollonius von Tyrus gegeben, der ungefähr zur Zeit des Cäsar Augustus blühte, zwischen zweihundert und dreihundert Jahren nach dem Tode des Zeno. Ich weiß nicht, wer der Urheber des zweiten Berichtes ist. Apollonius, der selbst Stoiker war, hat wahrscheinlich gemeint, es würde für den Gründer einer Schule, die so viel von dem freiwilligen Tode sprach, eine Ehre gewesen sein, wenn er in dieser Weise durch eigene Hand gestorben wäre. Von Männern der Wissenschaft spricht man zwar häufig nach ihrem Tode mehr als von den größten Fürsten und Staatsmännern ihrer Zeiten, zu ihren Lebzeiten jedoch sind sie im allgemeinen so unbekannt und unwichtig, daß ihre Erlebnisse selten von zeitgenössischen Geschichtschreibern aufgezeichnet werden. Die Geschichtschreiber späterer Zeiten wollen die allgemeine Neugierde befriedigen, und da es doch keine authentischen Dokumente gibt, um ihre Erzählungen zu stützen oder zu widerlegen, scheinen sie häufig diese Erzählungen nach ihrer eigenen Phantasie und fast immer mit einem starken Zusatz von Wunderbarem bearbeitet zu haben. In unserem Falle hat, wie es scheint, das Wunderbare, obwohl es durch keine Autorität gestützt war, die Oberhand über das Wahrscheinliche gewonnen, obgleich dieses durch die beste Autorität getragen war. Diogenes Laertius gibt offensichtlich der Erzählung des Apollonius den Vorzug. Lukian und Laktanz scheinen beide der Geschichte von dem hohen Alter und dem gewaltsamen Tode Glauben geschenkt zu haben. Diese Mode, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, scheint unter den stolzen Römern viel mehr geherrscht zu haben, als jemals bei den lebhaften, geistreichen und anpassungsfähigen Griechen. Selbst bei den Römern scheint aber diese Mode nicht in den frü-
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hen und, wie man sie zu nennen pflegt, den tugendhaften Zeiten der Republik eingeführt worden zu sein. Die bekannte Geschichte vom Tode des Regulus ist zwar wahrscheinlich eine Sage, aber sie hätte niemals erfunden werden können, wenn man der Ansicht gewesen wäre, daß auf jenen Helden deshalb ein Schatten von Schande hätte fallen können, weil er sich geduldig den Martern unterwarf, welche die Karthager über ihn verhängt haben sollen. In den letzten Zeiten der Republik würde ihm meiner Ansicht nach diese geduldige Unterwerfung unter die Martern eine gewisse Schande gebracht haben. In den verschiedenen Bürgerkriegen, die dem Untergang der Republik vorangingen, zogen viele der hervorragendsten Männer der streitenden Parteien es vor, durch eigene Hand den Tod zu finden, als ihren Feinden in die Hände zu fallen. Der Tod Catos, der von Cicero gefeiert und von Cäsar getadelt wurde, und der so der Gegenstand einer sehr ernsthaften Auseinandersetzung zwischen den zwei berühmtesten Advokaten wurde, die die Welt vielleicht jemals gesehen hat, verlieh dieser Art des Sterbens einen Glorienschein, den sie, wie es scheint, durch eine ganze Reihe folgender Perioden behalten hat. Die Beredsamkeit des Cicero trug den Sieg davon über die des Cäsar. Die bewundernde Partei gewann bei weitem die Oberhand über die tadelnde, und die Verehrer der Freiheit blickten noch lange Zeit hindurch auf Cato als auf den verehrungswürdigsten Märtyrer der republikanischen Partei. Das Haupt einer Partei, so bemerkt der Kardinal von Retz, mag tun, was ihm beliebt ; solange es das Vertrauen seiner Freunde besitzt, kann es niemals Unrecht tun – ein Grundsatz, von dessen Wahrheit seine Eminenz selbst bei verschiedenen Anlässen Gelegenheit hatte, sich zu überzeugen. Cato vereinigte, wie es scheint, mit seinen übrigen Tugenden diejenige eines ausgezeichneten Zechbruders. Seine Feinde beschuldigten ihn der Trunksucht, aber Seneca sagt, wer immer dieses Laster dem Cato vorwarf, wird es weit leichter finden, zu beweisen, daß Trunksucht eine
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Tugend sei, als daß Cato irgendeinem Laster hätte ergeben sein können. In der Kaiserzeit scheint diese Art des Sterbens lange Zeit hindurch geradezu modern gewesen zu sein. In den Briefen des Plinius finden wir Erzählungen über mehrere Personen, die sich, wie es scheinen möchte, mehr aus Eitelkeit und Prahlerei entschlossen, auf diese Weise zu sterben, als aus Gründen, die selbst einem auch nur einigermaßen nüchternen und besonnenen Stoiker schicklich oder triftig hätten erscheinen können. Sogar die Damen, die allerdings selten zurückstehen, wenn es sich darum handelt, eine Mode mitzumachen, scheinen häufig höchst überflüssigerweise diese Art des Sterbens gewählt zu haben, und manche von ihnen scheinen wie die vornehmen Frauen in Bengalen ihren Gatten in den Tod gefolgt zu sein. Zweifellos hatte die Herrschaft dieser Mode zahlreiche Todesfälle zur Folge, die sich sonst nicht zugetragen hätten. Die Verwüstung jedoch, welche diese Sitte anrichten könnte, eine Sitte, die vielleicht den Gipfel menschlicher Eitelkeit und Narrheit darstellt, dürfte wahrscheinlich trotzdem zu keiner Zeit besonders groß sein. Der Grundsatz, welcher den Selbstmord empfiehlt, das Prinzip, das uns lehrt, bei manchen Anlässen jene Gewalttat als etwas zu betrachten, was Beifall und Billigung verdient, scheint durchaus ein künstliches Erzeugnis der Philosophie zu sein. Die Natur scheint uns in ihrem gesunden und heilsamen Zustande niemals zum Selbstmord anzutreiben. Es gibt allerdings eine Art von Trübsinn – eine Krankheit, die zu den vielen Plagen gehört, denen die menschliche Natur unglückseligerweise ausgesetzt ist –, die von einem unwiderstehlichen Verlangen nach Selbstzerstörung – wie man es nennen könnte – begleitet zu sein scheint. Man weiß, daß diese Krankheit ihre unglücklichen Opfer häufig zu diesem verhängnisvollen letzten Schritte getrieben hat, und zwar trotz höchst günstiger äußerer Verhältnisse, ja manchmal auch trotz ernsten und tiefgewurzelten religiösen Fühlens. Die
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unglücklichen Menschen, die auf diese elende Weise zugrundegehen, verdienen nicht Tadel, sondern Mitleid. Will man sie noch bestrafen, sobald sie sich schon einmal jenseits des Bereiches menschlicher Strafen befinden, so ist dies ebenso ungerecht wie sinnlos. Diese Bestrafung kann nur ihre überlebenden Freunde und Verwandten treffen, die immer vollständig unschuldig sind, und für die der Verlust ihrer Lieben unter so schmählichen Umständen allein schon ein sehr schwerer Schlag sein muß. Die Natur treibt uns zwar in ihrem gesunden und heilsamen Zustande an, bei allen Anlässen jede Notlage zu meiden, in manchen Fällen sogar uns dagegen zu verteidigen und sei es auch mit der Gefahr oder selbst mit dem sicheren Bewußtsein, bei dieser Verteidigung zugrundezugehen. Wenn wir aber weder imstande waren, uns dagegen zu verteidigen, noch bei dieser Verteidigung zugrundegegangen sind, dann befiehlt uns, wie mir scheint, kein natürliches Prinzip, keine Rücksicht auf die Billigung des unparteiischen Zuschauers, den wir in uns annehmen, keine Rücksicht auf das Urteil des inneren Menschen, der in unserer Brust wohnt, dieser Not dadurch zu entfliehen, daß wir uns selbst töten. Es ist nur das Bewußtsein unserer eigenen Schwäche, unserer Unfähigkeit, das Unglück mit der richtigen Mannhaftigkeit und Festigkeit zu ertragen, was uns zu diesem Entschluß zu treiben vermag. Ich erinnere mich nicht, von einem amerikanischen Wilden gelesen oder gehört zu haben, daß er, wenn er durch einen feindlichen Stamm gefangengenommen wurde, sich selbst den Tod gegeben hätte, um so dem Schicksal zu entgehen, durch Martern und unter dem Hohn und Spott seiner Feinde zu Tode gequält zu werden. Er setzt gerade seinen Ruhm darein, jene Martern mit Mannhaftigkeit zu ertragen und jenen Hohn mit zehnfacher Verachtung und mit spöttischem Lachen zu erwidern. Diese Geringschätzung des Lebens und des Todes auf der einen Seite und zugleich die bedingungslose Unterwerfung unter die Ordnung der Vorsehung, die vollkommenste Zufriedenheit
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mit jedem Ereignis, welches der Lauf des menschlichen Lebens möglicherweise mit sich bringen mag, auf der anderen Seite, können als die beiden Hauptlehren angesehen werden, auf denen das ganze Gebäude der stoischen Ethik ruht. Der von starkem Unabhängigkeitsgefühl beseelte, temperamentvolle, wenn auch oft etwas heftige Epiktet kann als der größte Apostel der ersten dieser beiden Lehren betrachtet werden, der milde, menschenfreundliche, wohlwollende Antoninus als derjenige der letzteren Lehre. Der freigelassene Sklave des Epaphroditus, der in seiner Jugend dem Übermut eines rohen Herrn preisgegeben war, der in reiferen Jahren durch die Eifersucht und den Eigensinn des Domitian aus Rom und Athen verbannt und gezwungen wurde, in Nicopolis zu wohnen, und der jeden Augenblick erwarten durfte, durch denselben Tyrannen nach Gyarae geschickt oder zum Tode verurteilt zu werden, war nur dadurch imstande, seine Ruhe zu bewahren, daß er in seiner Seele eine grenzenlose Verachtung gegenüber dem menschlichen Leben nährte. Niemals frohlockt er deshalb so sehr und niemals ist seine Beredsamkeit so begeistert, als wenn er die Flüchtigkeit und die Nichtigkeit aller Freuden und aller Leiden des Menschenlebens darstellt. Der gutherzige Kaiser, der unumschränkte Herrscher über das ganze zivilisierte Gebiet der Welt, der sicherlich keinen besonderen Grund hatte, sich über sein Los zu beklagen, findet seine höchste Freude darin, seine Zufriedenheit mit dem gewöhnlichen Lauf der Dinge auszudrücken und in diesem Lauf auch dort noch Schönheiten auszumalen, wo gewöhnliche Beobachter nichts derartiges zu sehen vermögen. Es liegt eine gewisse Schönheit und sogar eine gewisse gewinnende Anmut, so meint er, ebenso im Alter wie in der Jugend ; und die Schwäche und Gebrechlichkeit des einen Zustandes ist der Natur ebenso angemessen wie das Blühen und die Kraft des anderen. Der Tod ist eine ganz ebenso angemessene Grenze des Alters, wie die Jugend das Ende der Kindheit, das Mannesalter das der Jugend ist. Wie wir häufig sagen – so
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bemerkt er bei einer anderen Gelegenheit –, der Arzt habe diesem oder jenem Menschen verordnet, viel zu reiten, oder kalte Bäder zu gebrauchen, oder barfuß zu gehen, so sollten wir auch sagen, die Natur, der große Leiter und Arzt des Universums, habe diesem oder jenem Mann eine Krankheit oder die Amputation eines Gliedes oder den Verlust eines Kindes verordnet. Auf die Vorschriften gewöhnlicher Ärzte hin schluckt der Patient manche bittere Arznei, unterzieht er sich so mancher schmerzlichen Operation. Aber in der – doch immer sehr unsicheren – Hoffnung, daß er dadurch Gesundheit erlangen werde, unterwirft er sich gerne allen Anordnungen. Der Patient darf aber ebenso hoffen, daß die härtesten Vorschriften des großen Arztes Natur zu seiner Gesundheit, zu seinem schließlichen Wohlergehen und zu seiner Glückseligkeit beitragen werden ; und er darf ganz sicher sein, daß sie zur Gesundheit, zum Wohlergehen und zur Glückseligkeit des Universums nicht nur beitragen werden, sondern daß sie unentbehrliche Mittel dazu und damit zur Förderung und Durchführung der großen Pläne Jupiters notwendig sind. Wären sie dies nicht gewesen, so hätte das Universum sie niemals hervorgebracht ; sein allweiser Baumeister und Lenker würde niemals zugelassen haben, daß sie sich ereignen. Wie alle, selbst die kleinsten der gleichzeitig vorhandenen Teile des Universums genau einander angepasst sind und alle dazu beitragen, ein unermeßliches und zusammenhängendes System zu bilden, so stellen alle, auch die scheinbar unwichtigsten Ereignisse in der Folge des Geschehens Teile und zwar notwendige Teile jener großen Kette der Ursachen und Wirkungen dar, die keinen Anfang hatte und die kein Ende haben wird ; und da sich diese Teile alle notwendig aus der ursprünglichen Anordnung und dem ursprünglichen Plan des Ganzen ergeben, sind sie alle nicht nur für sein Gedeihen, sondern sogar für seine Fortdauer und seine Erhaltung wesentlich notwendig. Jeder, der nicht mit herzlicher Freude alles entgegennimmt, was ihm widerfährt, jeder, dem es leid tut, daß ihm
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dies oder jenes widerfahren ist, oder der wünscht, daß es ihm nicht hätte widerfahren mögen, der wünscht damit, soweit es an ihm liegt, die Bewegung des Universums zum Stehen zu bringen, die große Kette der einander folgenden Ereignisse zu zerbrechen, durch deren Fortschreiten jenes System allein fortgesetzt und erhalten werden kann und wünscht damit, um einer kleinen eigenen Bequemlichkeit willen, die ganze Maschine der Welt in Unordnung zu bringen und zu zerstören. »O Welt«, sagt er an einer anderen Stelle, »alles paßt mir, was dir paßt. Nichts ist mir zu früh oder zu spät, was dir rechtzeitig scheint. Jede Frucht ist mir willkommen, die deine Jahreszeiten hervorbringen. Von dir kommt alles, in dir ist alles, für dich ist alles. Ein Mann sagt : o, du geliebte Stadt des Kekrops. Willst du nicht sagen : o, geliebte Stadt Gottes ?« Aus diesen sehr erhabenen Lehren suchen die Stoiker oder wenigstens einige der Stoiker alle ihre Paradoxa abzuleiten. Der stoische Weise trachtet, sich in die Absichten des großen obersten Lenkers des Universums hineinzudenken und die Dinge in dem gleichen Lichte zu sehen, in welchem jenes göttliche Wesen sie erblickt. Aber für den großen obersten Lenker des Universums sind alle die verschiedenen Ereignisse, welche seine Vorsehung im Laufe des Geschehens hervorbringen mag, gleich wichtig, sowohl diejenigen, welche uns die kleinsten, wie diejenigen, welche uns die größten zu sein scheinen, das Platzen einer Seifenblase, wie Pope sagt, und der Untergang einer Welt zum Beispiel, sie alle sind in gleicher Weise Glieder jener großen Kette, die er für alle Ewigkeit vorausbestimmt hat, sie sind in gleicher Weise die Wirkungen derselben niemals irrenden Weisheit, desselben universalen und grenzenlosen Wohlwollens. Ebenso sind für den stoischen Weisen alle jene verschiedenen Ereignisse vollkommen gleich. In dem Lauf jener Ereignisse ist ihm freilich nur ein kleiner Abschnitt zugewiesen worden, in welchem ihm eine gewisse beschränkte Verwaltung und Leitung zusteht. In diesem
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Abschnitt bemüht er sich, so richtig vorzugehen als er kann, und sich jenem Auftrag gemäß zu verhalten, der ihm, wie er es versteht, vorgeschrieben worden ist. Aber er bekümmert sich keineswegs in ängstlicher oder leidenschaftlicher Weise darum, ob seine redlichen Bemühungen von Erfolg begleitet sind oder ob sie fehlschlagen. Das höchste Gedeihen jenes kleinen Abschnittes, jenes kleinen Systems, das seiner Obsorge in gewissem Maße anvertraut wurde, ist ihm ebenso vollständig gleichgültig, wie dessen vollständige Zerstörung. Wenn diese Ereignisse von ihm abhingen, würde er die einen wählen und die anderen verwerfen. Da sie aber nicht von ihm abhängen, vertraut er einer höheren Weisheit und ist vollkommen überzeugt, daß jenes Ereignis, welches wirklich eintritt – möge es welches immer sein – eben dasjenige ist, welches er selbst auf das ernstlichste und dringendste herbeigesehnt haben würde, wenn er alle die Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten der Dinge gekannt hätte. Was er auch immer unter dem Einfluß und unter der Leitung jener Prinzipien tut, ist gleich vollkommen ; und wenn er seinen Finger ausstreckt – um das Beispiel anzuführen, welches die Stoiker gewöhnlich verwendeten – vollbringt er eine Handlung, die in jeder Beziehung ebenso verdienstlich, ebenso des Lobes und der Bewunderung würdig ist, wie wenn er sein Leben hingibt, um seinem Vaterlande zu dienen. Wie für den großen Lenker des Universums die größten und die kleinsten Äußerungen seiner Macht, die Bildung und Auflösung einer Welt, die Bildung und Auflösung einer Seifenblase gleich leicht, gleich bewundernswert und in gleicher Weise die Wirkungen derselben göttlichen Weisheit und Güte sind, so erfordert von dem stoischen Weisen eine Tat, die wir groß nennen würden, keine größere Anstrengung als irgendeine unbedeutende, sie ist gleich leicht, sie entspringt aus genau den gleichen Prinzipien, sie ist in keiner Hinsicht verdienstlicher noch eines höheren Grades von Lob und Bewunderung würdig. Wie alle diejenigen, die diesen Zustand der Vollkommenheit
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erreicht haben, gleich glücklich sind, so sind alle diejenigen, die auch bloß um das kleinste Stück dahinter zurückbleiben, so sehr sie sich auch schon diesem Zustand genähert haben mögen, gleich elend. Wie derjenige, sagten sie, der bloß einen Zoll unter der Oberfläche des Wassers ist, nicht mehr Atem schöpfen kann als derjenige, der sich hundert Ellen darunter befindet, so kann derjenige, der nicht alle seine persönlichen, parteiischen und selbstsüchtigen Leidenschaften vollständig bezwungen hat, der noch irgendeinen anderen ernsthaften Wunsch hegt als den, die universale Glückseligkeit zu fördern, der aus diesem Abgrund des Elends und der Ordnungslosigkeit nicht vollkommen aufgetaucht ist, in den seine ängstliche Sorge um die Befriedigung aller jener persönlichen, parteiischen und selbstsüchtigen Leidenschaften ihn gestürzt hatte, nicht eher imstande sein, die reine Luft der Freiheit und Unabhängigkeit zu atmen, er kann sich nicht eher der Sorglosigkeit und Glückseligkeit des Weisen erfreuen als derjenige, der am weitesten von diesem Standort entfernt ist. Wie alle Handlungen des Weisen vollkommen und gleich vollkommen sind, so sind alle Handlungen desjenigen, der jene oberste Weisheit nicht erreicht hat, schlecht und, wie manche Stoiker behaupteten, gleich schlecht. Wie eine Wahrheit, sagten sie, nicht wahrer sein könne und eine Unwahrheit nicht unwahrer als eine andere, so könne eine ehrenwerte Handlung nicht ehrenwerter und eine schändliche Handlung nicht schändlicher sein als eine andere. Wie beim Wettschießen derjenige, der das Ziel um einen Zoll verfehlt hat, es doch ebenso verfehlt hat wie derjenige, der um hundert Ellen daneben traf, so sei derjenige, der in einer Handlung, die uns ganz unwichtig scheint, unrichtig und ohne zureichenden Grund vorgegangen ist, ebenso schlecht, wie derjenige, der dies in einer Angelegenheit getan hat, die uns die wichtigste scheint ; der Mann, der z. B. einen Hahn ungehörigerweise und ohne zureichenden Grund getötet hat, ebenso schlecht, wie derjenige, der seinen Vater ermordet hat.
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Wenn schon das erste dieser beiden Paradoxa gewaltsam genug scheinen dürfte, so ist das zweite offensichtlich zu sinnlos, um eine ernsthafte Erwägung zu verdienen. Es ist tatsächlich so ganz sinnlos, daß man sich kaum des Verdachtes erwehren kann, daß es einigermaßen mißverstanden oder falsch dargestellt worden ist. Keinesfalls kann ich es über mich bringen, zu glauben, daß Männer wie Zeno oder Kleanthes, Männer, die, wie man sagt, die einfachste wie die erhabenste Beredsamkeit beherrschten, die Verfasser dieser und der Mehrzahl der übrigen stoischen Paradoxa gewesen seien, die im allgemeinen bloß belanglose Sophistereien darstellen und ihrem System so wenig Ehre machen, daß ich nicht weiter von ihnen berichten werde. Ich bin geneigt, sie eher dem Chrysipp zuzuschreiben, der zwar der Schüler und Nachfolger des Zeno und Kleanthes war, der aber nach allem, was uns über ihn überliefert ist, ein bloß mit Wortstreitigkeiten beschäftigter Pedant gewesen zu sein scheint, der weder irgendwelchen Geschmack, noch höhere Eleganz besaß. Er mag der erste gewesen sein, der ihre Lehren in ein scholastisches oder technisch durchgebildetes System künstlicher Definitionen, Einteilungen und Untereinteilungen brachte – was vielleicht eine der besten Methoden ist, um jeden gesunden Menschenverstand, der sich in einem ethischen oder metaphysischen Lehrgebäude finden mag, zum Verlöschen zu bringen. Man kann sich sehr leicht vorstellen, daß ein solcher Mann einige begeisterte Ausdrücke allzu wörtlich verstanden hat, in welchen seine Lehrer und Meister die Glückseligkeit des vollkommen tugendhaften Menschen sowie die Unglückseligkeit eines jeden anderen, der hinter jenem Ideal zurückbleibt, beschrieben haben mögen. Die Stoiker scheinen im allgemeinen zugegeben zu haben, daß es unter denjenigen, die nicht bis zu vollkommener Tugend und Glückseligkeit gelangt waren, doch ein gewisses Maß von »Fortschreiten« geben könne. Sie teilten jene »Fortschreitenden« in ver-
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schiedene Klassen ein, je nach dem Grade, in welchem sie sich jenem Ziele genähert hatten, und sie nannten die unvollkommenen Tugenden, zu deren Ausführung sie derartige Personen für fähig hielten, nicht »rechte Handlungen«, sondern schickliche, angemessene oder anständige und geziemende Handlungen, für die ein einleuchtender oder wahrscheinlicher Grund angegeben werden könnte, was Cicero durch das Wort officia, und Seneca, wie ich glaube genauer, durch das Wort convenientia ausdrückt. Die Lehre von jenen unvollkommenen, aber erreichbaren Tugenden scheint dasjenige gebildet zu haben, was wir die praktische Ethik der Stoiker nennen können. Diese ist das Thema von Ciceros Schrift De officiis und sie soll auch den Gegenstand eines anderen Buches gebildet haben, das von Marcus Brutus geschrieben wurde, welches jetzt aber verloren ist. Der Plan und das System der Lebensführung, welches die Natur uns für unser Betragen vorgeschrieben hat, scheint mir von demjenigen, welches die stoische Philosophie entworfen hat, ganz verschieden zu sein. Von Natur aus werden diejenigen Ereignisse, welche unmittelbar jenen kleinen Abschnitt berühren, in dem uns eine gewisse Verwaltung und Leitung zusteht, jene Ereignisse, die unmittelbar uns selbst, unsere Freunde, unser Vaterland angehen, am meisten unser Interesse erwecken und in erster Linie unsere Neigungen und Abneigungen, unsere Hoffnungen und Befürchtungen, unsere Freuden und Sorgen hervorrufen. Sollten jene Affekte zu häufig sein – und sie pflegen dies sehr leicht zu werden –, so hat die Natur für ein passendes Heilmittel und für Abhilfe gesorgt. Die wirkliche oder auch nur vorgestellte Anwesenheit des unparteiischen Zuschauers, die Autorität jenes inneren Menschen in unserer Brust ist immer nahe und immer bereit, jene Affekte einzuschüchtern und sie auf einen angemessenen Ton und eine gemäßigte Stimmung zu dämpfen. Wenn trotz unserer redlichsten Bemühungen alle Ereignisse,
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die auf jenen kleinen Abschnitt einzuwirken vermögen, zum Unglück und zum Unheil ausschlagen sollten, so hat uns die Natur auch in diesem Falle keineswegs ganz ohne Trost gelassen. Jenen Trost können wir nicht nur aus der vollkommenen Billigung des inneren Menschen in unserer Brust, sondern auch aus einem womöglich noch vornehmeren und edleren Prinzip schöpfen, nämlich aus der festen Zuversicht auf jene gütige Weisheit und aus einer ehrfurchtsvollen Ergebung in ihre Entschließungen, jener Weisheit, die alle Ereignisse des Menschenlebens lenkt und die, wie wir mit Sicherheit annehmen dürfen, diese Unglücksfälle nicht zugelassen hätte, wenn sie für das Wohl des Ganzen nicht unumgänglich notwendig gewesen wären. Die Natur hat uns aber diese erhabenen Betrachtungen nicht gleichsam als wichtigste Aufgabe und als Hauptbeschäftigung unseres Lebens vorgeschrieben. Sie weist uns auf sie nur hin als auf einen Trost in unserem Elend. Die stoische Philosophie schreibt sie uns dagegen als die wichtigste Aufgabe und als die Hauptbeschäftigung unseres Lebens vor. Jene Philosophie lehrt uns, an keinem Ereignis, soweit es nicht die richtige Ordnung unserer Seele, die Schicklichkeit unseres Wählens und Verwerfens angeht, ernstlichen und eifrigen Anteil zu nehmen, ausgenommen jene Ereignisse, die gerade ein Gebiet betreffen, auf dem uns keinerlei Verwaltung oder Leitung zusteht, noch auch zustehen darf, nämlich den Wirkungskreis des großen obersten Lenkers des Universums. Dadurch, daß diese Philosophie uns eine vollständige Apathie vorschreibt, daß sie sich bemüht, alle unsere persönlichen, parteiischen und selbstsüchtigen Neigungen nicht zu mäßigen, sondern auszurotten, und daß sie uns für alles, was uns selbst, unseren Freunden oder unserem Vaterland begegnen kann, nicht einmal die sympathetischen und gemäßigten Affekte des unparteiischen Zuschauers fühlen läßt, strebt sie dahin, uns vollständig gleichgültig und teilnahmslos gegenüber dem Erfolg oder dem Mißlingen alles dessen zu machen, was die Natur uns
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als die eigentliche Aufgabe und Beschäftigung unseres Lebens vorgeschrieben hat. Man kann aber behaupten, daß die Argumentationen der Philosophie zwar vielleicht den Verstand verwirren und verblüffen mögen, daß sie aber doch die notwendige Verbindung nicht zerreißen können, welche die Natur zwischen Ursachen und deren Wirkungen festgesetzt hat. Die Ursachen, welche naturgemäß unsere Begierden und Abneigungen, unsere Hoffnungen und Befürchtungen, unsere Freuden und Sorgen erwecken, werden zweifellos trotz aller Argumentationen der stoischen Philosophie auf jedes Individuum ihre richtigen und notwendigen Wirkungen hervorbringen, je nach dem Maße von dessen tatsächlicher Empfindlichkeit. Die Urteile des inneren Menschen in unserer Brust mögen indessen durch jene Argumentationen beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen werden und jener große Richter, der in unseren Herzen wohnt, mag sich durch sie zu dem Versuch bestimmen lassen, alle unsere persönlichen, parteiischen und selbstsüchtigen Neigungen zu einer mehr oder weniger vollkommenen Ruhe zu dämpfen. Die Urteile dieses uns innewohnenden Richters zu leiten, ist ja das große Ziel aller Moralsysteme. Daß die stoische Philosophie auf den Charakter und das Verhalten ihrer Anhänger einen sehr großen Einfluß besaß, kann nicht in Zweifel gezogen werden und ebensowenig, daß ihre Tendenz im allgemeinen, mag sie ihre Anhänger auch mitunter dazu getrieben haben – höchst unnötigerweise – Hand an sich zu legen, doch dahin ging, sie zu Handlungen der heldenmütigsten Seelenstärke und des ausgebreitetsten Wohlwollens anzufeuern. IV . Neben diesen antiken gibt es auch einige moderne Systeme, welche lehren, daß die Tugend in der Schicklichkeit oder in der Angemessenheit bestehe, in welcher die Neigungen, aus denen wir handeln, zu der Ursache oder dem Gegenstande stehen, der sie hervorrief. Das System des Dr. Clarke, das die Tugend dar-
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ein setzt, daß wir gemäß den Verhältnissen der Dinge handeln, daß wir unser Verhalten danach regeln, ob die Anwendung gewisser Handlungen auf gewisse Dinge oder auf gewisse Verhältnisse passend oder unangemessen ist ; das System von Wollaston, welches die Tugend darein setzt, daß wir gemäß der Wahrheit der Dinge handeln, gemäß ihrer eigentlichen Natur und ihrem eigentlichen Wesen oder darein, daß wir sie als das behandeln, was sie wirklich sind und nicht als das, was sie nicht sind ; das System des Lord Shaftesbury, welches die Tugend darein setzt, daß wir ein gewisses richtiges Gleichgewicht der Neigungen aufrecht erhalten und keinen Affekt den ihm zukommenden Bereich überschreiten lassen, sie alle sind mehr oder weniger ungenaue Darstellungen der gleichen Grundidee. Keines jener Systeme gibt einen klaren und genauen Maßstab, mittels dessen man die Angemessenheit oder Schicklichkeit der Neigungen bestimmen oder beurteilen könnte, ja keines von ihnen behauptet auch nur, einen solchen Maßstab zu geben. Jener genaue und klare Maßstab kann nirgends anders gefunden werden als in den sympathetischen Gefühlen des unparteiischen und wohl unterrichteten Zuschauers. Die Beschreibung, welche alle diese Moralsysteme von der Tugend geben oder doch zu geben vorhaben oder beabsichtigen – denn einige unter den neueren Schriftstellern sind nicht sehr glücklich in ihrer Art, sich auszudrücken –, ist zweifellos ganz richtig, soweit sie eben reicht. Es gibt keine Tugend ohne Schicklichkeit, und überall, wo Schicklichkeit vorliegt, gebührt der Handlung bis zu einem gewissen Grade unsere Billigung. Aber diese Beschreibung ist doch noch unvollständig. Denn obgleich die Schicklichkeit oder die richtige Angemessenheit ein wesentliches Merkmal einer jeden tugendhaften Handlung bildet, so ist sie doch nicht immer ihr einziges Merkmal. Wohltätige Handlungen tragen noch andere Eigenschaften an sich, auf Grund deren sie offenbar nicht nur Billigung, sondern auch Belohnung
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verdienen. Keines jener Systeme gibt einen einleuchtenden oder hinreichenden Grund dafür an, weshalb solchen Handlungen ein höheres Maß von Achtung gebührt, oder weshalb die Gefühle, die sie naturgemäß erwecken, so ganz anders sind, als dies bei sonstigen Handlungen der Fall ist. Die Beschreibung des Lasters ist ebensowenig vollständig. Denn obgleich Unschicklichkeit in gleicher Weise ein wesentliches Merkmal jeder lasterhaften Handlung bildet, so ist sie doch nicht immer das einzige Merkmal derselben ; und es liegt oft die größte Ungereimtheit und Unschicklichkeit in ganz unschädlichen und bedeutungslosen Handlungen. Vorbedachte, für unsere Umgebung verderbliche Handlungen haben neben ihrer Unschicklichkeit eine besondere, ihnen eigentümliche Eigenschaft, auf Grund deren sie offenbar nicht nur Mißbilligung, sondern Bestrafung verdienen ; eine Eigenschaft, durch die sie nicht nur die Abneigung, sondern das Vergeltungsgefühl und den Ahndungstrieb der Menschen auf sich ziehen ; und keines jener Moralsysteme gibt einen einleuchtenden oder hinreichenden Grund dafür an, warum wir gegen solche Handlungen einen um soviel stärkeren Abscheu empfinden.
zweites kapitel Über diejenigen Systeme, welche die Tugend in der Klugheit bestehen lassen. Unter jenen Systemen, welche die Tugend in der Klugheit bestehen ließen, ist das älteste, von dem einige beträchtliche Überreste auf uns gekommen sind, jenes des Epikur ; Epikur soll indessen alle Hauptgrundsätze seiner Philosophie von einigen seiner Vorgänger, in erster Linie von Aristipp, entlehnt haben – obzwar es trotz dieser Behauptungen seiner Feinde sehr wahrscheinlich ist, daß mindestens die Art, wie er diese Prinzipien anwendet, durchaus ihm eigentümlich gewesen ist.
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Nach Epikur * sind körperliche Lust und Unlust die einzigen Gegenstände, auf welche sich in letzter Linie unsere natürliche Zuneigung und Abneigung richtet. Daß Lust und Unlust, immer von Natur aus Gegenstände jener Affekte seien, das meinte er, bedürfe keines Beweises. Manchmal mag es allerdings scheinen, daß man die Lust meiden müsse ; indessen nicht darum, weil sie Lust ist, sondern weil wir dadurch, daß wir sie genießen, entweder eine größere Lust verscherzen, oder uns einer Unlust aussetzen würden, die noch stärker zu meiden wäre, als jene Lust begehrt zu werden verdient. Ebenso mag es manchmal scheinen, daß Unlust wählenswert sei, indessen nicht darum, weil es Unlust ist, sondern weil wir dadurch, daß wir sie ertragen, entweder eine noch größere Unlust vermeiden oder eine Lust von weit größerer Bedeutung erwerben können. Daß also körperliche Lust und Unlust immer und von Natur aus Gegenstände unserer Zuneigung und Abneigung sind, das dachte er, sei völlig einleuchtend. Und nicht weniger einleuchtend sei es, wie er meinte, daß sie die einzigen Gegenstände sind, auf die sich jene Affekte in letzter Linie richten. Alles, was sonst begehrt oder gemieden wird, das werde nur darum begehrt oder gemieden, weil es die Tendenz habe, die eine oder andere dieser Empfindungen (nämlich Lust oder Unlust) hervorzubringen. Die Tendenz, Lust hervorzubringen, lasse Macht und Reichtum begehrenswert erscheinen, wie die entgegengesetzte Tendenz, Unlust zu erzeugen, eben Armut und Machtlosigkeit zum Gegenstande der Abneigung mache. Ehre und Ansehen werden deshalb geschätzt, weil die Achtung und Liebe derer, mit denen wir umgehen, für uns von größter Wichtigkeit sind, um uns Lust zu verschaffen und gegen Unlust zu schützen. Schande und schlechter Ruf müssen andererseits gemieden werden, weil der Haß, die Verachtung und das Vergeltungsgefühl derjenigen, mit denen wir umgehen, alle Ruhe und Sicherheit * Siehe Cicero, De finibus, lib. I ; Diogenes Laert. lib. X.
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zerstören und uns mit Notwendigkeit den größten körperlichen Übeln aussetzen würden. Alle geistigen Lust- und Unlustgefühle stammen nach Epikur in letzter Linie von körperlichen Lust- und Unlustgefühlen. Die Seele ist glücklich, wenn sie an die vergangene körperliche Lust denkt und auf eine andere zukünftige hofft, und sie ist unglücklich, wenn sie an die Schmerzen denkt, die der Körper früher ertragen hat, und wenn sie die gleichen oder noch ärgere für die Zukunft befürchtet. Obzwar aber die seelischen Lust- und Unlustgefühle in letzter Linie von denjenigen des Körpers herstammen, sind sie doch weit stärker als ihre Urbilder. Der Körper fühlt nur die Empfindung des gegenwärtigen Augenblicks, während die Seele auch die vergangene und zukünftige empfindet – die eine in der Erinnerung, die andere durch die Vorausnahme – und infolgedessen in weit höherem Grade Leid und Freude erlebt. Wenn wir die stärksten körperlichen Schmerzen mitmachen, werden wir, wie er meint, bei einiger Aufmerksamkeit immer bemerken, daß uns nicht das gegenwärtige, augenblickliche Leiden am meisten quält, sondern die qualvolle Erinnerung an das vergangene oder die noch schrecklichere Furcht vor dem zukünftigen Leiden. Der Schmerz des einzelnen Augenblicks, an sich selbst betrachtet und losgelöst von demjenigen, der ihm voranging oder auf ihn folgt, ist eine Lappalie, die nicht der Beachtung wert ist, und doch ist es alles, wovon man sagen kann, daß der Körper es erleidet. In gleicher Weise werden wir, wenn wir die größte Lust genießen, immer finden, daß die körperliche Empfindung, die Empfindung des gegenwärtigen Augenblicks, nur einen kleinen Teil unserer Glückseligkeit ausmacht, daß unser Genuß hauptsächlich aus der frohen Erinnerung an die vergangene oder der noch freudigeren Vorausnahme der zukünftigen Lust entspringt, und daß die Seele stets den weitaus größten Teil zu unserem Ergötzen beiträgt. Da also unser Glück und unser Unglück in erster Linie von der
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Seele abhängen, so ist es wenig wichtig, auf welche Weise unser Körper durch irgendeinen Umstand berührt wird, wenn nur jener Teil unseres Wesens in guter Verfassung ist, wenn nur unsere Gedanken und Meinungen so sind, wie sie sein sollten. Auch unter großen körperlichen Schmerzen können wir doch noch ein bedeutendes Maß von Glück genießen, wenn unsere Vernunft und unsere Urteilskraft ihre Herrschaft behaupten. Wir können uns durch die Erinnerung an vergangene und durch die Hoffnung auf künftige Lust erheitern, wir können die Heftigkeit unserer Schmerzen dadurch lindern, daß wir uns darauf besinnen, was es denn ist, was wir eigentlich in dieser Situation zu erleiden haben. Nämlich, daß dies nur die körperliche Empfindung ist, nur der Schmerz des gegenwärtigen Augenblicks, der doch an und für sich nie sehr groß sein kann. Daß alles Leid, das wir infolge der Furcht vor längerer Dauer jener Schmerzen erdulden, nur die Wirkung von Gedanken und Meinungen ist, die durch richtigere Empfindungen korrigiert werden könnten ; wir sollen bedenken, daß unsere Schmerzen, wenn sie besonders heftig sind, voraussichtlich nur von kurzer Dauer sein werden und daß sie, falls sie lang anhalten, voraussichtlich nur mäßig stark sein und zahlreiche Ruhepausen mit sich bringen werden : und daß auf alle Fälle der Tod uns stets zu Gebote steht und gleichsam in Rufweite ist, der Tod, der nach Epikurs Ansicht aller Empfindung ein Ende setzt –, sowohl der Empfindung des Schmerzes, wie derjenigen der Lust – und der darum nicht als ein Übel angesehen werden kann. Wenn wir sind, sagt er, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist, sind wir nicht, der Tod kann darum für uns nicht mehr als ein Nichts sein. Wenn die gegenwärtige Empfindung wirklichen Schmerzes es so wenig verdient, gefürchtet zu werden, so verdient es jene der Lust noch weniger, begehrt zu zu werden. Von Natur ist die Empfindung der Lust weit weniger lebhaft als die der Unlust. Wenn also die letztere einer Seele, die in der richtigen Verfassung ist,
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so wenig von ihrer Glückseligkeit zu rauben vermag, so vermag die erstere dieser Glückseligkeit kaum irgend etwas hinzuzufügen. Sobald der Körper frei von Schmerz und die Seele frei von Furcht und Angst ist, dann kann es keine große Bedeutung mehr haben, wenn die Empfindung körperlicher Lust noch hinzutritt ; sie kann in diese Lage vielleicht eine gewisse Abwechslung bringen, gewiß jedoch keine eigentliche Vermehrung der Glückseligkeit gewähren. In körperlichem Wohlbefinden und in der Sorglosigkeit oder Ruhe der Seele besteht infolgedessen nach Epikur der vollkommenste Zustand der menschlichen Natur, die vollkommenste, deren der Mensch überhaupt fähig ist. Dieses höchste Ziel des natürlichen Verlangens zu erreichen, ist der einzige Endzweck aller Tugenden, die seiner Ansicht nach nicht um ihrer selbst willen wünschenswert sind, sondern nur um der ihnen innewohnenden Tendenz willen, jene Situation zustandezubringen. Die Klugheit zum Beispiel, obzwar nach dieser Philosophie die Quelle und Grundlage aller Tugenden, ist nicht um ihrer selbst willen begehrenswert. Jene vorsorgliche, eifrige und arbeitsame Einstellung der Seele, die immer wachsam und immer aufmerksam auf die entferntesten Folgewirkungen einer jeden Handlung ist, kann nicht um ihrer selbst willen, sondern nur wegen ihrer Tendenz, die größten Güter zu verschaffen und die größten Übel abzuhalten, etwas Wohlgefälliges oder Anziehendes sein. Es kann auch nicht um seiner selbst willen begehrenswert sein, sich von Vergnügen zu enthalten, unsere natürliche Leidenschaft nach Genuß zu bändigen und im Zaume zu halten, was alles das Geschäft der Mäßigkeit bildet. Der ganze Wert dieser Tugend entspringt aus ihrem Nutzen, daraus, daß sie uns fähig macht, den gegenwärtigen Genuß um eines größeren zukünftigen willen zurückzustellen oder um dadurch einen größeren Schmerz zu vermeiden, der als Folge dieses Genusses eintreten könnte. Kurz, Mä-
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ßigkeit ist nichts anderes als Klugheit in bezug auf Vergnügen und Lust. Arbeit und Mühen auf sich zu nehmen, Schmerz zu ertragen, sich Gefahren oder selbst dem Tode auszusetzen –, alles Situationen, in die uns die Tapferkeit oft bringen mag – sind sicherlich noch weniger das Ziel eines natürlichen Begehrens. Sie werden nur gewählt, um größere Übel dadurch zu meiden. Wir unterwerfen uns der Arbeit, um die größere Schande und Unlust der Armut zu vermeiden, und wir setzen uns Gefahren und selbst dem Tode aus, um Freiheit und Eigentum und damit die Mittel und Werkzeuge für Lust und Glückseligkeit zu verteidigen, oder um unser Heimatland zu schützen, in dessen Sicherheit unsere eigene Sicherheit notwendig inbegriffen ist. Die Tapferkeit macht uns fähig, all dies heiter und gern zu tun, als das Beste was in unserer augenblicklichen Lage getan werden kann, und sie ist in Wahrheit nichts anderes als Klugheit, Verständigkeit und Geistesgegenwart im richtigen Einschätzen von Schmerz, Mühe und Gefahren, die stets das geringere Übel wählt, um das größere zu vermeiden. Ebenso verhält es sich mit der Gerechtigkeit. Sich dessen zu enthalten, was einem anderen gehört, das ist nicht um seiner selbst willen begehrenswert und es kann sicherlich für dich nicht besser sein, daß ich dasjenige besitze, was mein eigen ist, als wenn du es besäßest. Dennoch sollst du dich alles dessen enthalten, was mir gehört, weil du das Vergeltungsgefühl und den Unwillen der Menschen herausfordern würdest, wenn du dich anders verhieltest. Die Ruhe und Sorglosigkeit deiner Seele wäre dann ganz vernichtet. Furcht und Bestürzung würden dich erfüllen bei dem Gedanken an jene Strafe, die deiner Meinung nach die Menschen jederzeit über dich zu verhängen bereit sein müßten, und das wäre ein Gedanke, vor welchem dich keine Macht, keine List, kein Verbergen jemals zu schützen vermöchte. Jene andere Art der Gerechtigkeit, welche darin besteht, daß man den verschiedenen Personen die gebührenden guten Dienste erweist, je nach den verschie-
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denen Beziehungen, in welchen sie zu uns stehen mögen, etwa in der eines Nachbarn, eines Verwandten, eines Freundes, eines Wohltäters, eines Vorgesetzten, eines uns Gleichgestellten, wird uns durch die gleichen Gründe anempfohlen. In allen diesen verschiedenen Verhältnissen schicklich zu handeln, verschafft uns die Achtung und Liebe unserer Umgebung, wie es ihre Verachtung und ihren Haß hervorrufen würde, wenn wir anders vorgingen. Durch die eine Art des Verhaltens sichern wir naturgemäß unsere eigene Behaglichkeit und Ruhe, durch die andere gefährden wir notwendigerweise diese Güter, die doch das größte und letzte Ziel aller unserer Wünsche bilden. Die ganze Tugend der Gerechtigkeit, die wichtigste von allen Tugenden, ist also nichts anderes, als ein verständiges und kluges Verhalten in bezug auf unsere Nächsten. Dies ist die Lehre des Epikur in bezug auf das Wesen der Tugend. Es mag sonderbar scheinen, daß dieser Philosoph, der uns als ein Mann von höchst liebenswürdigen Sitten geschildert wird, niemals bemerkt haben sollte, daß doch abgesehen von den Wirkungen, welche jene Tugenden oder die ihnen entgegengesetzten Laster in bezug auf unser körperliches Wohlbefinden und unsere Ruhe haben mögen, die Empfindungen, die diese Tugenden und Laster naturgemäß in anderen hervorrufen, der Gegenstand eines weit leidenschaftlicheren Verlangens oder Widerstrebens sind, als alle ihre anderen Folgen, daß es von einem jeden wohlbeschaffenen Gemüt weit höher geschätzt wird, liebenswert und achtungswürdig zu sein und allgemeines Ansehen zu verdienen, als alles Wohlbefinden, alle Sicherheit und Ruhe zu genießen, welche uns die Liebe, die Achtung und das Ansehen verschaffen können ; daß es auf der anderen Seite furchtbarer ist, hassenswert und verächtlich zu sein und den allgemeinen Unwillen zu verdienen, als alle die Unannehmlichkeiten, die wir an unserem Körper infolge dieses Hasses, dieser Verachtung und dieses Unwillens erdulden können ; daß infolgedessen unser Verlangen nach Tugend und unser
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Abscheu vor dem Laster nicht aus der Rückichtsnahme auf jene Wirkungen entspringen können, welche Tugend und Laster auf unser körperliches Wohlbefinden hervorbringen dürften. Dieses System ist zweifellos ganz unvereinbar mit demjenigen, welches ich mich bemüht habe, hier aufzustellen. Es ist jedoch nicht schwer zu entdecken, von welcher Einstellung, wenn ich so sagen darf, von welcher Art und Weise, die Natur zu betrachten, diese Darstellung der Dinge ihren Anschein von Richtigkeit hernimmt. Infolge der weisen Einrichtung des Schöpfers der Natur ist in der Mehrzahl der Fälle die Tugend auch im Hinblick auf dieses Leben die wahre Weisheit und das sicherste und wirksamste Mittel, um Sicherheit und Vorteil zu erringen. Der Erfolg oder Mißerfolg unserer Unternehmungen muß sehr stark von der guten oder schlechten Meinung abhängen, die man gemeinhin von uns hegt, und von der allgemeinen Bereitwilligkeit unserer Umgebung, uns zu unterstützen oder uns Widerstand zu leisten. Der beste, sicherste, leichteste und kürzeste Weg jedoch, um eine vorteilhafte Beurteilung durch die anderen zu erlangen und ihre ungünstige Meinung zu vermeiden, ist zweifellos dasjenige Verhalten, durch welches wir uns einer günstigen und nicht einer ungünstigen Meinung würdig machen. »Wünschest du«, sagt Sokrates, »den Ruf eines guten Musikers zu erlangen ? Der einzig sichere Weg, um dir diesen Ruf zu erwerben, ist der : ein guter Musiker zu werden. Oder, möchtest du wünschen, daß man dich für fähig halte, deinem Staate als General oder als Staatsmann zu dienen ? Auch in diesem Falle ist der beste Weg der, daß du die Kunst und Erfahrung der Kriegführung und der Regierung erwirbst, und daß du wirklich geeignet wirst, ein General oder Staatsmann zu sein. Und ebenso, wenn du willst, daß man dich für nüchtern, für mäßig, für gerecht und billig halte, so ist der sicherste Weg, um diesen Ruf zu erwerben, der, daß du wirklich nüchtern, mäßig, gerecht und billig wirst. Gelingt es dir, ein liebenswerter, verehrungswürdiger Mensch zu werden, ein Mensch, der wirklich die
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allgemeine Achtung verdient, dann mußt du dir keine Sorge darum machen, daß du nicht bald die Liebe, Verehrung und Achtung deiner ganzen Umgebung erwerben werdest.« Da die Übung der Tugend also so vorteilhaft ist und diejenige des Lasters unserem Vorteil so stark zuwiderläuft, so verleiht die Erwägung dieser einander entgegengesetzten Wirkungsweisen zweifellos der einen eine neue Schönheit und Schicklichkeit und dem anderen eine neue Häßlichkeit und Unschicklichkeit. Daher werden Mäßigkeit, Seelenstärke, Gerechtigkeit und Wohlwollen nicht nur im Hinblick auf ihr eigenes Wesen gebilligt, sondern auch überdies noch als Ausdruck der höchsten Weisheit und der wahrsten Klugheit. Und ebenso kommt es, daß die entgegengesetzten Laster der Unmäßigkeit, der Ungerechtigkeit, der Bosheit oder der schmutzigen Selbstsucht nicht nur im Hinblick auf ihr eigenes Wesen mißbilligt werden, sondern überdies auch noch als Ausdruck der kurzsichtigsten Torheit und Schwäche. Es scheint, daß Epikur bei jeder Tugend nur auf diese Art von Schicklichkeit geachtet habe. Es ist dies diejenige, welche sich denen am meisten aufdrängt, deren Streben darauf gerichtet ist, andere zu sittlich geregeltem Verhalten anzuhalten. Wenn Menschen durch ihr Verhalten und vielleicht sogar durch die Grundsätze, welche sie äußern, offensichtlich zeigen, daß die natürliche Schönheit der Tugend auf sie nicht viel Eindruck zu machen vermag, wie soll es dann möglich sein, sie anders zu rühren, als dadurch, daß man ihnen die Torheit ihres Verhaltens vor Augen führt und sie darauf hinweist, wie sehr sie am Ende selbst darunter zu leiden haben werden. Wenn Epikur all die verschiedenen Tugenden auf diese eine Art von Schicklichkeit zurückführte, folgte er dabei einem Hang, der allen Menschen von Natur zu eigen ist, welchen aber ganz besonders Philosophen mit einer eigentümlichen Leidenschaft, ja Verliebtheit, in sich auszubilden pflegen, da sie ihn für das beste Mittel ansehen, um ihren Scharfsinn zu entfalten – dem Hang nämlich, alle Erscheinungen aus so wenig Prinzipien als möglich
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zu erklären. Und er gab sich zweifellos ebenso diesem Hang hin, wenn er alle ursprünglichen Gegenstände natürlichen Verlangens und natürlicher Abneigung auf körperliche Lust- und Unlustgefühle zurückführte. Der große Schutzpatron der atomistischen Philosophie, der so viel Vergnügen daran fand, alle Kräfte und Eigenschaften der Körper aus den auffallendsten und bekanntesten dieser Eigenschaften, nämlich der Gestalt, Bewegung und Anordnung der kleinsten Teilchen der Materie abzuleiten, fühlte zweifellos eine ähnliche Genugtuung, wenn er ebenso alle Empfindungen und Affekte der Seele aus den augenfälligsten und bekanntesten Gefühlen erklären konnte. Das System des Epikur stimmt mit denjenigen von Plato, Aristoteles und Zeno in dem Punkte überein, daß er die Tugend darin bestehen läßt, daß man in der angemessensten Weise handelt, um die ursprünglichen Gegenstände * natürlichen Begehrens zu erlangen. Es unterscheidet sich dagegen von allen diesen Systemen in zwei anderen Beziehungen : erstens in der Darstellung, die es von diesen ursprünglichen Gegenständen natürlichen Begehrens gab, und zweitens in der Erklärung, die es von der Vortrefflichkeit der Tugend vorbrachte, oder von dem Grunde, warum diese Eigenschaft geschätzt werden soll. Die ursprünglichen Gegenstände natürlichen Begehrens bestehen nach Epikur in körperlicher Lust und Unlust und in nichts anderem ; während es den anderen drei Philosophen zufolge viele andere Güter gibt, wie etwa die Erkenntnis, ferner die Glückseligkeit unserer Verwandten, unserer Freunde, unseres Vaterlandes, die in letzter Linie um ihrer selbst willen begehrenswert seien. Auch die Tugend verdient es nach Epikur nicht, um ihrer selbst willen angestrebt zu werden, und sie ist nicht an und für sich eines der letzten Ziele des natürlichen Begehrens, sondern ist wählenswert nur um ihrer Tendenz willen, Unlust zu vermeiden und * Prima naturae.
Siebenter Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
Wohlbefinden und Lust zu verschaffen. Nach Ansicht der drei anderen dagegen ist sie begehrenswert nicht nur als ein Mittel, um uns die übrigen ursprünglichen Gegenstände natürlichen Begehrens zu verschaffen, sondern als etwas, das an sich selbst wertvoller ist als alle diese. Da der Mensch zum Handeln geboren sei, so müsse, dachten sie, seine Glückseligkeit nicht nur in der Annehmlichkeit seiner passiven Gefühle, sondern auch in der Schicklichkeit seiner aktiven Bestrebungen liegen.
drittes kapitel Über jene Systeme, welche die Tugend im Wohlwollen bestehen lassen. Die Lehre, welche die Tugend im Wohlwollen bestehen läßt, halte ich zwar nicht für so alt wie jene Moralsysteme, von denen ich bereits berichtet habe, sie ist jedoch jedenfalls auch von sehr hohem Alter. Es scheint dies die Lehre der Mehrzahl jener Philosophen gewesen zu sein, welche im Zeitalter des Augustus und nachher auftraten, die sich selbst Eklektiker nannten und behaupteten, in erster Linie den Ansichten von Plato und Pythagoras zu folgen, und die deshalb gemeinhin unter dem Namen der späteren Platoniker bekannt sind. Im Wesen der Gottheit ist nach der Lehre dieser Philosophen Wohlwollen oder Liebe das einzige Prinzip des Handelns und dieses gibt der Betätigung aller übrigen Attribute der Gottheit ihre Richtung. Die Weisheit der Gottheit befaßt sich damit, die Mittel ausfindig zu machen um jene Zwecke zu verwirklichen, die ihre Güte ihr eingibt und ihre unendlich große Macht ist darauf gerichtet, jene Mittel zur Ausführung zu bringen. Wohlwollen jedoch ist dabei immer noch das oberste und leitende Attribut, dem alle anderen dienen, und aus welchem in letzter Linie die ganze Vortrefflichkeit, und wenn ich einen solchen Ausdruck gebrauchen
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darf – die ganze sittliche Größe der göttlichen Taten herstammt. Die ganze Vollkommenheit und Tugend der menschlichen Seele besteht in einem gewissen Ähnlichwerden mit der Gottheit, in einer gewissen Teilnahme an den göttlichen Vollkommenheiten und infolgedessen darin, daß man von dem gleichen Prinzip des Wohlwollens und der Liebe erfüllt ist, welches alle Handlungen der Gottheit bestimmt. Nur die Handlungen der Menschen, die aus dieser Triebfeder entspringen, sind allein in Wahrheit lobenswürdig oder können in den Augen der Gottheit ein Verdienst beanspruchen. Nur durch Handlungen der Mildtätigkeit und Menschenliebe können wir, soweit es an uns ist, das Verhalten Gottes nachahmen und nur durch sie können wir unsere demütige und andächtige Bewunderung seiner unendlichen Vollkommenheiten zum Ausdruck bringen ; nur dadurch, daß wir in unserer Seele das gleiche göttliche Prinzip großziehen, können wir unsere eigenen Neigungen zu einer größeren Ähnlichkeit mit seinen heiligen Attributen erheben und dadurch einen höheren Anspruch auf seine Liebe und Wertschätzung gewinnen, bis wir schließlich zu jenem unmittelbaren Verkehr und Umgang mit der Gottheit gelangen, zu welchem uns emporzuheben das große Ziel dieser Philosophie gewesen ist. Wie dieses System bei vielen der alten christlichen Kirchenväter in hohem Ansehen stand, so wurde es auch nach der Reformation von einigen Theologen angenommen, die sich durch die hervorragendste Frömmigkeit und Gelehrsamkeit sowie durch äußerst liebenswerte Sitten auszeichneten, besonders von Dr. Ralph Cudworth, von Dr. Henry More und von John Smith aus Cambridge. Aber von allen alten und neuen Verteidigern dieses Systems war zweifellos der verstorbene Dr. Hutcheson der unvergleichlich scharfsinnigste, klarste, philosophisch tiefste und was wichtiger als dies alles ist, der besonnenste und verständigste. Daß die Tugend im Wohlwollen besteht, ist eine Vorstellung, die durch zahlreiche Erscheinungen in der Natur des Menschen
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gestützt wird. Es ist bereits bemerkt worden, daß richtiges Wohlwollen die anmutigste und angenehmste von allen Neigungen ist, daß es uns durch eine doppelte Sympathie empfohlen wird, daß es infolge seiner notwendig wohltätigen Tendenz Dankbarkeit und Belohnung verdient, und daß es aus all diesen Gründen nach allen unseren natürlichen Empfindungen ein höheres Verdienst als jede andere Neigung zu besitzen scheint. Es ist auch bereits bemerkt worden, daß selbst die Schwachheiten des Wohlwollens uns nicht sehr unangenehm sind, während uns diejenigen eines jeden anderen Affektes stets äußerst zuwider sind. Wer würde nicht maßlose Bosheit, übermäßige Selbstliebe oder übermäßiges Vergeltungsgefühl verabscheuen ? Wenn man sich aber auch noch so maßlos einer, sei es selbst parteiischen, Freundschaft hingibt, wirkt dies doch nicht so anstößig. Nur bei den wohlwollenden Affekten kommt es vor, daß sie sich äußern dürfen, ohne auf Schicklichkeit zu achten oder Rücksicht zu nehmen, und dabei doch immer noch etwas Anziehendes an sich haben. Es liegt etwas uns Wohlgefälliges sogar in bloß triebhaftem Wohlwollen, welches darauf ausgeht, anderen gute Dienste zu leisten, ohne darüber nachzudenken, ob es durch solches Verhalten sich des Tadels oder der Billigung würdig macht. Mit den anderen Affekten verhält es sich dagegen nicht so. In dem Augenblicke, in dem sie von dem Gefühle für das sittlich Richtige im Stiche gelassen werden und von ihm nicht mehr begleitet sind, hören sie auf, uns angenehm zu sein. Wie das Wohlwollen denjenigen Handlungen, die aus ihm hervorgehen, eine Schönheit verleiht, die höher ist als jede andere, so teilt das Fehlen des Wohlwollens und noch mehr eine Neigung entgegengesetzter Art jeder Tat, die eine solche Gesinnung beweist, eine ganz eigentümliche Häßlichkeit mit. Verderbenbringende Handlungen sind oft aus keinem anderen Grunde strafbar, als weil sie einen Mangel an genügender Aufmerksamkeit gegenüber der Glückseligkeit unseres Nächsten zeigen.
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Überdies bemerkt Dr. Hutcheson * noch folgendes : Sobald an irgendeiner Handlung, von der wir voraussetzten, daß sie aus wohlwollenden Neigungen hervorgehe, irgendeine andere Triebfeder entdeckt wird, dann wird unser Gefühl von dem Verdienst dieser Handlung genau in demselben Maße vermindert, als wir annehmen müssen, daß diese Triebfeder den Betreffenden zu der Handlung bestimmt habe. Wenn wir bei einer Handlung, von der wir glaubten, daß sie aus Dankbarkeit hervorging, nun entdecken sollten, daß sie aus der Erwartung künftiger neuer Gunstbezeigungen entsprungen ist, oder wenn wir bei einer Tat, von der wir annahmen, daß sie aus Gemeinsinn hervorging, nachträglich finden sollten, daß ihr Beweggrund die Hoffnung auf eine materielle Belohnung gewesen ist, so würde eine solche Entdeckung unsere Überzeugung von dem Verdienst oder der Lobenswürdigkeit der Handlungen in beiden Fällen gänzlich zunichte machen. Da also die Beimengung irgendeines egoistischen Beweggrundes wie jene eines geringeren Metalles in einer Legierung den Wert vermindert oder gänzlich aufhebt, der sonst einer Handlung zugekommen wäre, so, meint er, sei es einleuchtend, daß die Tugend lediglich in reinem und uninteressiertem Wohlwollen bestehen müsse. Wenn wir auf der anderen Seite bei Handlungen, von denen man allgemein annimmt, daß sie aus einer egoistischen Triebfeder hervorgehen, nachträglich entdecken, daß sie aus einer wohlwollenden Neigung entsprungen sind, so erhöht dies sehr stark unser Gefühl von dem Wert der Handlungen. Wenn wir von irgend jemand die Überzeugung gewönnen, daß er sein Vermögen lediglich aus dem Grunde zu vermehren trachte, um gute Werke leisten und sich seinen Wohltätern in geziemender Weise erkenntlich zeigen zu können, so würden wir ihn nur um so mehr lieben und achten. Und diese Beobachtung schien Hutcheson noch * Siehe Untersuchung über die Tugend, 1. und 2. Abschnitt.
Siebenter Teil · Zweiter Abschnitt · Drittes Kapitel
mehr in dem Schluß zu bestärken, daß es nur das Wohlwollen sei, was einer Handlung den Stempel der Tugend aufzuprägen vermöge. Schließlich bemerkt er – und das sei, wie er meint, ein einleuchtender Beweis für die Richtigkeit dieser Darstellung der Tugend – ist doch das allgemeine Beste derjenige Maßstab, worauf alle Kasuisten in ihren Streitigkeiten über die sittliche Richtigkeit eines Verhaltens immer wieder Bezug nehmen, und sie erkennen dadurch ganz allgemein an, daß alles, was darauf abziele, die Glückseligkeit der Menschen zu fördern, recht, lobenswert und tugendhaft und das Gegenteil unrecht, tadelnswert und lasterhaft sei. In den neueren Debatten über den passiven Gehorsam und das Widerstandsrecht war der einzige Punkt, der unter vernünftigen Menschen strittig war, die Frage, ob im Falle der Verletzung gewisser Rechte und Befugnisse die allgemeine Unterwerfung voraussichtlich größere Übelstände zur Folge haben würde als ein vorübergehender Aufstand. Ob dasjenige, was im Ganzen am stärksten dahin wirke, die Glückseligkeit der Menschen zu fördern, nun auch das moralisch Gute sei, das, sagt er, sei niemals in Frage gezogen worden. Da also Wohlwollen die einzige Triebfeder sei, die einer Handlung den Stempel der Tugend aufprägen könne, so ist, je größer das Wohlwollen, welches durch eine Handlung an den Tag gelegt wird, um so größer auch das Lob, welches dieser Handlung zukommen muß. Da jene Handlungen, welche auf die Glückseligkeit eines großen Gemeinwesens abzielen, ein ausgebreiteteres Wohlwollen beweisen als jene, welche nur auf die Glückseligkeit einer kleineren Gruppe gerichtet sind, so seien die ersteren auch im gleichen Verhältnis um so tugendhafter. Die tugendhafteste von allen Neigungen sei demnach diejenige, welche als ihr Ziel die Glückseligkeit aller vernünftigen Wesen umfasse. Dagegen sei von allen Neigungen, welchen in irgendeiner Hinsicht das Prädikat Tugend
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zukommen könne, diejenige die am wenigsten tugendhafte, welche sich nicht weiter erstrecke als auf die Glückseligkeit eines Individuums, etwa auf die des eigenen Sohnes, des Bruders oder des Freundes. Darin, daß wir alle unsere Handlungen so lenken, daß sie ein möglichst großes Gut fördern, darin, daß wir alle niedriger stehenden Neigungen dem Wunsche nach der allgemeinen Glückseligkeit der Menschheit unterordnen, darin, daß wir uns selbst nur als einen von den vielen betrachten, dessen Wohlergehen nicht mehr erstrebt werden dürfe, als insoweit es mit demjenigen des Ganzen vereinbar ist oder dazu beiträgt, darin besteht die vollkommene Tugend. Selbstliebe sei ein Prinzip, welches niemals in irgendeinem Maße oder in irgendeiner Hinsicht tugendhaft sein könne. So oft sie dem allgemeinen Besten zuwiderlaufe, sei sie lasterhaft. Sobald sie keine andere Wirkung habe, als daß sie das Individuum veranlaßt, für seine eigene Glückseligkeit zu sorgen, sei sie bloß unschuldig und sie verdiene dann zwar kein Lob, sollte aber auch nicht getadelt werden. Aus diesem Grunde aber seien jene wohlwollenden Handlungen, die trotz eines starken widerstrebenden eigennützigen Beweggrundes vollbracht werden, die tugendhafteren. Denn sie beweisen die Stärke und Kraft des wohlwollenden Prinzips. Hutcheson* war so weit davon entfernt, zuzugeben, daß Selbstliebe in irgendeinem Falle die Triebfeder einer tugendhaften Handlung sein dürfe, daß er der Ansicht war, schon durch die Rücksicht auf das Lustgefühl der Selbstbilligung, auf den erfreulichen Beifall unseres eigenen Gewissens werde das Verdienst einer wohlwollenden Handlung vermindert. Dies sei, meinte er, ein egoistischer Beweggrund, und, insofern er bei einer Handlung im Spiele * Untersuchung über die Tugend, 2. Abschnitt, Kapitel 4, ebenso Erläuterungen über den moralischen Sinn, 5. Abschnitt, letzter Absatz.
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sei, beweise dies die Schwäche jenes reinen und uninteressierten Wohlwollens, welches allein dem Verhalten eines Menschen den Stempel der Tugend aufprägen könne. In der gewöhnlichen sittlichen Beurteilung der Menschen ist jedoch diese Rücksicht auf die Billigung unseres eigenen Bewußtseins so weit davon entfernt, als ein Umstand betrachtet zu werden, der irgendwie die Tugendhaftigkeit einer Handlung zu vermindern vermöchte, daß sie vielmehr geradezu als die einzige Triebfeder angesehen wird, welche die Benennung tugendhaft verdient. Dies ist die Darstellung, welche in diesem liebenswürdigen System von dem Wesen der Tugend gegeben wird, einem System, welches in ganz besonderem Maße die Fähigkeit hat, im menschlichen Herzen die edelsten und angenehmsten aller Neigungen zu nähren und zu stützen und nicht nur jede unbillige Selbstliebe einzudämmen, sondern von diesem Prinzip in gewissem Maße ganz und gar abzuschrecken, indem es dasselbe als etwas hinstellt, das auf diejenigen, die sich dadurch bestimmen lassen, niemals irgendwelche Ehre zurückstrahlen kann. Während einige von den anderen Systemen, über welche ich bereits berichtet habe, nicht hinreichend erklären, woher die eigentümliche, überragende Würde der höchsten Tugend des Wohlwollens stammt, so scheint dieses System den entgegengesetzten Fehler zu enthalten, indem es nicht hinreichend erklärt, woher unsere Billigung der niedrigeren Tugenden kommt, wie die der Klugheit, der Wachsamkeit, Vorsicht, Mäßigkeit, Standhaftigkeit und Festigkeit. Die Absicht und das Ziel unserer Neigungen, die wohltätigen und schädlichen Wirkungen, die sie hervorzubringen streben, das sind die einzigen Momente, welche in diesem System an den Neigungen Beachtung finden. Ihre Schicklichkeit und Unschicklichkeit, ihre Angemessenheit und Unangemessenheit im Verhältnis zu den Ursachen, die sie erregen, bleiben gänzlich unbeachtet. Die Rücksicht auf unser eigenes Glück und auf unseren per-
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sönlichen Vorteil erscheint aber in zahlreichen Fällen auch als ein sehr lobenswertes Prinzip des Handelns. Charaktergewohnheiten wie Wirtschaftlichkeit, Fleiß, Umsicht, Aufmerksamkeit, geistige Regsamkeit, werden nach allgemeinem Dafürhalten aus eigennützigen Beweggründen gepflegt, und doch hält man sie zugleich für sehr lobenswürdige Eigenschaften, die die Achtung und Billigung eines jeden verdienen. Es ist wahr, daß die Mitwirkung eines egoistischen Beweggrundes oft die Schönheit jener Handlungen zu beflecken scheint, die aus wohlwollenden Neigungen entspringen sollten. Die Ursache davon ist indessen nicht die, daß Selbstliebe niemals die Triebfeder einer tugendhaften Handlung sein kann, sondern daß dem wohlwollenden Prinzip in diesem besonderen Falle das ihm gebührende Maß von Stärke abzugehen und daß es seinem Gegenstande durchaus unangemessen zu sein scheint. Darum erscheint der Charakter (des Handelnden) offenkundig unvollkommen und im Ganzen eher Tadel als Lob zu verdienen. Bei einer Handlung, zu welcher uns zu veranlassen die Selbstliebe genügen sollte, pflegt die Mitwirkung einer wohlwollenden Triebfeder freilich unser Gefühl von der Schicklichkeit der Handlung oder von der Tugend desjenigen, der sie vollbracht hat, nicht ebenso zu vermindern. Wir hegen nicht leicht gegen irgend jemand den Argwohn, daß es ihm an Egoismus fehle. Dies ist keineswegs die schwache Seite des Menschen oder diejenige Eigenschaft, deren Fehlen wir leicht vermuten würden. Wenn wir indessen wirklich von jemand glauben könnten, daß er, geschähe es nicht aus Rücksicht auf seine Familie und Freunde, nicht die richtige Obsorge für seine Gesundheit, sein Leben oder sein Vermögen walten lassen würde, eine Obsorge, zu der ihn der Selbsterhaltungstrieb allein genügend veranlassen sollte, so wäre das ohne Zweifel ein Fehler, aber dabei doch einer jener liebenswürdigen Fehler, die einen Menschen eher zum Gegenstande des Mitleides als zu dem der Verachtung und des Hasses machen. Er würde indessen doch die Würde und Achtbarkeit seines Charakters etwas vermindern.
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Fahrlässige Sorglosigkeit und Mangel an Wirtschaftlichkeit werden allgemein mißbilligt, jedoch gewiß nicht, weil sie aus einem Mangel an Wohlwollen entspringen, sondern weil sie einen Mangel an geziemender Aufmerksamkeit gegenüber denjenigen Dingen zeigen, auf welche der Eigennutz sich richtet. Mag auch der Maßstab, nach welchem die Kasuisten gewöhnlich bestimmen, was an dem Verhalten der Menschen recht oder unrecht ist, dessen Eignung sein, die Wohlfahrt oder das Verderben der Gesellschaft zu fördern, so folgt daraus nicht, daß die Rücksicht auf die Wohlfahrt der Gesellschaft der einzige tugendhafte Beweggrund des Handelns sein sollte, sondern nur, daß diese, wenn sie mit anderen Triebfedern gleichsam in Wettbewerb tritt, gegenüber allen anderen den Ausschlag geben soll. Wohlwollen mag vielleicht bei der Gottheit das einzige Prinzip des Handelns sein und es bestehen einige nicht untriftige Gründe, die es uns wahrscheinlich erscheinen lassen möchten, daß es sich wirklich so verhalte. Man kann sich nicht leicht vorstellen, aus welchem anderen Beweggrunde ein unabhängiges und allervollkommenstes Wesen handeln sollte, das keiner äußeren Dinge bedarf, und dessen Glückseligkeit vollkommen in seinem eigenen Wesen ruht. Wie immer es sich aber auch mit der Gottheit verhalten mag, ein so unvollkommenes Geschöpf wie der Mensch, das schon zur Erhaltung seines Daseins so vieler äußerer Dinge bedarf, muß sicher oft aus so manchem anderen Beweggrunde handeln. Die Lebensbedingungen der menschlichen Natur wären besonders hart, wenn jene Neigungen, die infolge der ganzen Beschaffenheit unserer Natur häufig unser Betragen bestimmen müssen, in keinem Falle anderen Menschen tugendhaft erscheinen, uns ihnen empfehlen und ihre Achtung verdienen würden. Jene drei Systeme : jenes, welches die Tugend in die Schicklichkeit setzt, jenes, welches sie in die Klugheit setzt, und jenes, welches sie im Wohlwollen bestehen läßt, sind die hauptsächlichsten Darstellungen, die von dem Wesen der Tugend gegeben worden
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sind. Auf das eine oder andere dieser Systeme sind alle anderen Schilderungen der Tugend, so verschieden sie auch scheinen mögen, leicht zurückzuführen. Das System, welches die Tugend in den Gehorsam gegenüber dem Willen der Gottheit setzt, kann entweder zu jenen gerechnet werden, welche die Tugend in der Klugheit bestehen lassen, oder zu jenen, welche sie in die Schicklichkeit setzen. Wenn gefragt wird, warum wir dem Willen der Gottheit gehorchen sollen, so kann diese Frage – welche im höchsten Grade gottlos und ungereimt sein würde, wenn sie aus dem Zweifel entspränge, ob wir ihm gehorchen sollen – nur zwei verschiedene Antworten zulassen. Man muß entweder sagen, daß wir dem Willen der Gottheit gehorchen sollen, weil sie ein Wesen ist, das unendliche Macht besitzt, das uns für ewige Zeiten belohnen wird, wenn wir ihm gehorchen, und uns für ewige Zeiten bestrafen wird, wenn wir anders handeln ; oder man muß sagen, daß unabhängig von jeder Rücksicht auf unsere eigene Glückseligkeit oder auf irgendwelche Belohnungen und Bestrafungen eine gewisse Schicklichkeit oder Angemessenheit darin liegt, daß ein Geschöpf seinem Schöpfer gehorche, daß ein beschränktes und unvollkommenes Wesen sich einem Wesen unterordne, das unendliche und unvorstellbare Vollkommenheit besitzt. Es ist unmöglich, sich außer diesen beiden Antworten irgendeine andere Antwort vorzustellen, die auf diese Frage gegeben werden könnte. Wenn die erste Antwort richtig ist, dann besteht die Tugend in der Klugheit oder in dem richtigen Streben nach unserem eigenen schließlichen Vorteil und Glück ; denn aus diesem Grunde sind wir ja (dieser Ansicht zufolge) verpflichtet, dem Willen der Gottheit zu gehorchen. Ist die zweite Antwort die richtige, dann muß die Tugend in der Schicklichkeit bestehen, da ja die Grundlage unserer Gehorsamsverpflichtung in der Angemessenheit oder Übereinstimmung liegt, in welcher unsere Empfindungen der Demut und Unterwürfigkeit
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zu der Erhabenheit des Gegenstandes stehen, der sie in uns erweckte. Jenes System, welches die Tugend in die Nützlichkeit setzt, fällt mit demjenigen zusammen, das sie in der Schicklichkeit bestehen läßt. Diesem System zufolge werden alle diejenigen Eigenschaften der Seele, welche angenehm oder vorteilhaft sind – sei es für den Betreffenden selbst oder für andere – als tugendhaft gebilligt und die entgegengesetzten als lasterhaft mißbilligt. Die Annehmlichkeit oder Nützlichkeit einer Neigung hängt aber von dem Grade ab, in welchem man sie sich entfalten läßt. Jede Neigung ist nützlich, wenn sie auf eine gewisse mäßige Stärke beschränkt wird, und jede Neigung ist nachteilig, wenn sie die angemessenen Schranken überschreitet. Nach diesem System liegt also die Tugend nicht in irgendeiner Neigung, sondern in dem schicklichen Grad aller Neigungen. Der einzige Unterschied zwischen diesem System und jenem, welches ich aufzustellen versucht habe, ist der, daß jenes die Nützlichkeit und nicht die Sympathie oder die entsprechende Neigung des Zuschauers zum natürlichen und ursprünglichen Maßstab macht, nach welchem dieser schickliche Grad bestimmt wird.
viertes kapitel Über Systeme, welche jede sittliche Bindung aufheben. Alle Systeme, von denen ich bisher berichtet habe, setzen voraus, daß es einen wirklichen und wesentlichen Unterschied zwischen Laster und Tugend gibt, worin auch immer diese Eigenschaften bestehen mögen. Es ist eine wirkliche und wesentliche Verschiedenheit zwischen der Schicklichkeit und Unschicklichkeit einer Neigung vorhanden, zwischen dem Wohlwollen und jedem anderen Prinzip des Handelns, zwischen wahrer Klugheit und kurz-
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sichtiger Torheit oder voreiliger Unbesonnenheit. Im großen Ganzen wirken sie auch alle dahin, die lobenswerte Gesinnung zu ermutigen und von der tadelnswerten abzuschrecken. Es mag vielleicht auch von einigen dieser Systeme wahr sein, daß sie einigermaßen dahin zielen, das Gleichgewicht der Neigungen zu stören und der Seele einen einseitigen Hang zu gewissen Prinzipien des Handelns zu verleihen, der über jenes Verhältnis hinausgeht, das ihnen gebührt. Die antiken Systeme, welche die Tugend in die Schicklichkeit setzen, scheinen hauptsächlich die großen, erhabenen und achtunggebietenden Tugenden zu empfehlen, die Tugenden der Selbstregierung und Selbstbeherrschung : Tapferkeit, Seelenstärke, Unabhängigkeit vom Schicksal und die Verachtung aller äußeren Ereignisse, die Verachtung des Schmerzes, der Armut, der Verbannung ja sogar des Todes. In diesen großen Leistungen der Selbstüberwindung entfaltet sich die vornehmste Schicklichkeit des Verhaltens. Auf die sanften, liebenswürdigen, milden Tugenden, auf alle Tugenden nachsichtiger Menschlichkeit, wird im Vergleich mit jenen wenig Gewicht gelegt und es scheint, daß sie oft, ganz besonders von den Stoikern, vielmehr als bloße Schwächen betrachtet wurden, die der Weise nicht in seiner Brust beherbergen soll. Das System des Wohlwollens scheint andererseits, während es alle jene zarteren Tugenden im höchsten Grade begünstigt und ermutigt, ganz und gar die erhabeneren und achtunggebietenderen Eigenschaften der Seelethe more lawful and respectable qualities of the mind» anstatt «the more awful and respectable etc.» So richtig in der 4. und 5. Auflage.« zu vernachlässigen. Es verweigert ihnen selbst die Bezeichnung von Tugenden. Es nennt sie sittliche Fertigkeiten und behandelt sie als Eigenschaften, welche nicht dieselbe Art von Achtung und Billigung verdienen, wie sie den eigentlich sogenannten Tugenden gebührt. Alle jene Prinzipien des Handelns aber, die nur auf unseren eigenen Vorteil abzielen, behandelt es, wenn dies möglich ist, noch schlechter. Sie sind so
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weit davon entfernt, an sich selbst verdienstlich zu sein, daß sie vielmehr, wie diese Lehre behauptet, das Verdienst des Wohlwollens sogar vermindern, wenn sie mit ihm zusammenwirken, und von der Klugheit wird versichert, daß sie niemals für eine Tugend gehalten werden könnte, wenn sie nur zur Förderung des persönlichen Interesses verwendet wird. Jenes System wieder, das die Tugend nur in der Klugheit bestehen läßt, gibt zwar den Charaktergewohnheiten der Vorsicht, Aufmerksamkeit, Besonnenheit, Wachsamkeit und verständiger Mäßigung die höchste Aufmunterung, aber es scheint in gleicher Weise auf der anderen Seite die liebenswürdigen und achtunggebietenden Tugenden herabzusetzen und die ersteren all ihrer Schönheit, die letzteren all ihrer Größe zu berauben. Trotz dieser Mängel jedoch ist es die allgemeine Tendenz eines jeden dieser drei Systeme, die besten und lobenswertesten Charaktergewohnheiten der menschlichen Seele zu ermuntern, und es stünde gut um die Gesellschaft, wenn die Menschen, sei es nun die Menschen im allgemeinen oder wenigstens jene wenigen, die vorgeben, gemäß einer philosophischen Regel zu leben, bereit wären, ihr Verhalten nach den Vorschriften eines dieser Systeme einzurichten. Wir können aus einem jeden von ihnen etwas Eigentümliches und Wertvolles lernen. Wäre es möglich, durch Lehren und Ermahnungen der Seele Tapferkeit und Seelenstärke einzuflößen, so würden die antiken Systeme der Schicklichkeit wohl dazu geeignet erscheinen, dies zu bewerkstelligen. Oder wenn es möglich wäre, durch dieselben Mittel die Seele zu besänftigen und zur Menschenfreundlichkeit umzustimmen und die Neigungen der Güte und allgemeinen Liebe zu allen jenen, mit denen wir umgehen, in uns wachzurufen, dann könnte manche der Schilderungen, wie sie das System des Wohlwollens darbietet, fähig scheinen, diese Wirkung hervorzubringen. Aus dem System Epikurs, das zwar zweifellos das unvollkommenste von allen dreien ist, können wir doch lernen, wie sehr die Betätigung der liebens-
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würdigen und achtunggebietenden Tugenden geeignet ist, unseren eigenen Vorteil zu fördern und uns sogar schon in diesem Leben Wohlbefinden, Sicherheit und Ruhe zu verschaffen. Da Epikur die Glückseligkeit in der Erlangung von Wohlbefinden und sorgloser Sicherheit erblickte, bemühte er sich mit besonderem Eifer, zu zeigen, daß Tugend nicht nur das beste und sicherste, sondern das einzige Mittel sei, um jene unschätzbaren Besitztümer zu erwerben. Die guten Wirkungen der Tugend auf unsere innere Ruhe und auf den Frieden unserer Seele sind diejenigen Umstände, welche andere Philosophen in erster Linie gepriesen haben. Epikur läßt dieses Argument zwar nicht unbeachtet, betont aber in erster Linie den Einfluß jener liebenswerten Eigenschaften auf unser äußeres Wohlergehen und unsere äußere Sicherheit. Das war der Grund, weshalb seine Schriften in der Antike so sehr von Angehörigen aller verschiedenen Philosophenschulen studiert wurden. Aus Epikur entlehnt Cicero, der große Feind des epikureischen Systems, seine ansprechendsten Beweise für den Grundsatz, daß die Tugend allein hinreichend sei, um uns die Glückseligkeit zu sichern. Seneca, obzwar Anhänger der Stoiker, also derjenigen Schule, die der Schule Epikurs am meisten entgegengesetzt war, zitiert doch diesen Philosophen häufiger als irgendeinen anderen. Es gibt jedoch ein anderes System, das den Unterschied zwischen Laster und Tugend gänzlich aufzuheben scheint, und dessen Tendenz aus diesem Grunde ganz und gar verderblich ist : ich meine das System des Dr. Mandeville. Obwohl die Meinungen dieses Schriftstellers fast in jeder Hinsicht irrtümlich sind, so gibt es doch gewisse Erscheinungen in der Natur des Menschen, die, sofern man sie von einem gewissen Gesichtspunkt aus betrachtet, diese Meinungen auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen könnten. Diese Erscheinungen, welche von Dr. Mandeville mit seiner lebhaften und humorvollen, wenn auch rohen und groben Beredsamkeit beschrieben und – übertrieben – dargestellt
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wurden, haben seinen Lehren einen Anschein von Wahrheit oder wenigstens von Wahrscheinlichkeit verliehen, welcher sehr wohl imstande ist, unerfahrene Menschen zu täuschen. Dr. Mandeville betrachtet alles, was aus dem Gefühl für das sittlich Richtige, aus Rücksicht auf das, was anerkennenswert und lobenswürdig ist, getan wurde, als etwas, das aus Verlangen nach Lob und Anerkennung oder, wie er es nennt, aus Eitelkeit getan wurde. Der Mensch hat, meint er, von Natur aus ein stärkeres Interesse für seine eigene Glückseligkeit als für diejenige der anderen, und es ist unmöglich, daß er jemals in seinem Herzen wirklich ihr Wohlergehen seinem eigenen vorziehen sollte. Wenn es einmal den Anschein hat, daß er dies tue, dann können wir versichert sein, daß er uns betrügt, und daß er auch diesmal aus denselben egoistischen Beweggründen handelt, wie sonst allemal. Unter seinen egoistischen Leidenschaften ist Eitelkeit eine der stärksten und der Beifall seiner Umgebung ist ihm immer im höchsten Grade schmeichelhaft und ergötzlich. Sobald er den Anschein erweckt, als opfere er sein Interesse jenem seiner Gefährten auf, weiß er ganz gut, daß dieses Verhalten ihrer Selbstliebe höchst angenehm sein wird, und daß sie darum nicht ermangeln werden, ihre Genugtuung darüber dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß sie ihm das überschwänglichste Lob spenden. Das Vergnügen, das er daraus erwartet, wiegt in seinen Augen schwerer als die Vorteile, die er preisgibt, um sich jenes zu verschaffen. Sein Verhalten ist also in diesem Falle in Wahrheit genau so egoistisch und entspringt aus genau ebenso niedrigen Beweggründen wie in allen anderen Fällen. Indessen schmeichelt ihn der Glaube – und er schmeichelt sich selbst damit – daß sein Verhalten ganz uninteressiert ist, da es ohne diese Voraussetzung weder in seinen Augen, noch in denjenigen der anderen jener Anerkennung wert scheinen würde. Aller Gemeinsinn, alle Bevorzugung des allgemeinen Interesses vor dem persönlichen ist also nach Mandeville nichts als Täuschung und Betrug an der Menschheit, und jene Tu-
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gend, mit der die Menschen so gerne groß tun, und die so großen Wetteifer unter den Menschen hervorruft, ist nur der Sprößling, den die Schmeichelei in ihrer Verbindung mit dem Stolz hervorgebracht hat. Ob auch die edelmütigsten und gemeinsinnigsten Handlungen nicht in gewissem Sinne als Wirkungen der Selbstliebe betrachtet werden können, das will ich jetzt nicht untersuchen. Die Entscheidung dieser Frage ist meiner Meinung nach nicht von Bedeutung, wenn es sich darum handelt, die Realität der Tugend darzutun, da ja Selbstliebe häufig auch ein tugendhafter Beweggrund des Handelns sein kann. Ich werde hier nur zu zeigen versuchen, daß der Wunsch, das zu tun, was ehrenhaft und edel ist, der Wunsch, uns der allgemeinen Achtung und Billigung würdig zu machen, nicht – und sei es auch nur mit einem Schein von Recht – Eitelkeit genannt werden könnte. Selbst das Verlangen nach einem wohlgegründeten Ruf und Ansehen, der Wunsch, die allgemeine Achtung durch Handlungen zu erwerben, die wirklich achtungswert sind, selbst sie verdienen nicht diesen Namen. Das erstere ist die Liebe zur Tugend, der edelste und beste Affekt der Menschen. Das zweite ist die Liebe zu wahrem Ruhm, ein Affekt, der zweifellos von geringerem Rang ist als der eben genannte, der aber in seinem Wert unmittelbar nach ihm zu kommen scheint. Derjenige ist der Eitelkeit schuldig, der Lob begehrt für Eigenschaften, die entweder überhaupt nicht lobenswert sind oder doch nicht in jenem Grade, in welchem er um ihretwillen gelobt zu werden erwartet, wie etwa derjenige, der in die nichtigen Äußerlichkeiten der Kleidung oder der Ausstattung oder in den ebenso nichtigen äußeren Schliff des gesellschaftlichen Benehmens seine Ehre setzt. Derjenige macht sich der Eitelkeit schuldig, der für etwas Lob verlangt, was freilich dieses Lob durchaus verdient, der aber sehr wohl weiß, daß dieses Lob nicht ihm gebühre. Der hohle Geck, der sich das Ansehen einer Bedeutung gibt, die ihm nicht zukommt, der einfältige Lügner, der sich für Abenteuer, die sich
Siebenter Teil · Zweiter Abschnitt · Viertes Kapitel
nie ereignet haben, ein Verdienst anmaßt, der törichte Plagiator, der sich für den Verfasser eines Werkes ausgibt, das nicht von ihm stammt, sie alle werden mit Fug und Recht der Eitelkeit beschuldigt. Auch von demjenigen sagt man, daß er sich der Eitelkeit schuldig mache, der mit den stillen Gefühlen der Achtung und Billigung nicht zufrieden ist, dem es mehr um den lärmenden Ausdruck dieser Gefühle zu tun ist, dem mehr an beifälligen Zurufen liegt als an jenen Gefühlen selbst, der niemals zufrieden ist, als wenn ihm sein eigenes Lob in die Ohren tönt, und der sich mit ängstlicher Zudringlichkeit um alle äußeren Zeichen der Achtung bewirbt, der in Titel und Ehrenbezeigungen vernarrt ist, der den höchsten Wert darauf legt, daß man ihn besucht und ihm seine Aufwartung macht, und daß man ihm, wenn er in der Öffentlichkeit erscheint, mit dem Ausdruck der Ehrerbietung und Achtung begegnet. Diese kindische Leidenschaft ist von den beiden vorher erwähnten durchaus verschieden und ist diejenige Leidenschaft, welche den niedrigsten und letzten unter den Menschen zu eigen ist, wie jene beiden anderen Affekte für die edelsten und größten Menschen charakteristisch sind. Obgleich aber diese drei Affekte, nämlich das Verlangen, uns der allgemeinen Ehre und Achtung würdig zu machen, also ehrenwert und achtungswürdig zu werden ; das Verlangen, Ehre und Achtung zu erwerben dadurch, daß man sich jener Empfindungen wert macht, und schließlich das kindische Verlangen nach Lob um jeden Preis, voneinander auf das stärkste verschieden sind, obgleich die beiden ersteren immer gebilligt werden, während das letztere niemals ermangelt, geringgeschätzt zu werden, so besteht dennoch eine gewisse entfernte Verwandtschaft zwischen ihnen, eine Verwandtschaft, die von diesem temperamentvollen Schriftsteller mit der ihm eigenen humoristischen und unterhaltlichen Beredtheit übertrieben dargestellt wurde, und die es ihm so möglich machte, den Leser zu täuschen. Es besteht insofern eine Verwandtschaft zwischen der Eitelkeit und der Liebe zu
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wahrem Ruhm, als beide Affekte dahin zielen, Achtung und Billigung zu erwerben. Aber sie sind in dem Punkte voneinander verschieden, daß der eine ein berechtigter, vernünftiger und billiger Affekt ist, während der andere ein unberechtigter, sinnloser und lächerlicher ist. Der Mensch, der Achtung verlangt für etwas, was wirklich achtenswert ist, verlangt nur das, worauf er einen Anspruch hat, und was ihm nicht ohne eine Art von Ungerechtigkeit verweigert werden kann. Wer dagegen aus anderen Gründen Achtung heischt, verlangt etwas, worauf er keinen berechtigten Anspruch hat. Der erste wird bald zufriedengestellt und nicht leicht eifersüchtig sein oder den Argwohn hegen, daß wir ihn nicht genügend achten, und er wird selten darauf erpicht sein, viele äußere Zeichen unserer Achtung zu empfangen. Der andere dagegen ist niemals zufriedenzustellen, ist voll Eifersucht und Argwohn, daß wir ihn nicht so sehr achten, wie er es wünscht, weil er sich insgeheim dessen bewußt ist, daß er mehr verlangt, als er verdient. Die mindeste Außerachtlassung der Höflichkeitsformen betrachtet er als eine tödliche Beleidigung und als den Ausdruck der stärksten Verachtung. Er ist ruhelos, ungeduldig und beständig in Furcht, daß wir alle Achtung für ihn verloren haben könnten, er ist eben darum stets darauf erpicht, neue Beweise unserer Achtung zu erhalten, und kann nur durch fortwährende Aufmerksamkeiten und Schmeicheleien bei guter Laune erhalten werden. Eine Verwandtschaft besteht auch zwischen dem Verlangen, ehrenwert und achtungswürdig zu werden, und dem Verlangen nach Ehre und Achtung, zwischen der Liebe zur Tugend und der Liebe zu wahrem Ruhm. Sie ähneln einander nicht nur in dem Punkt, daß beide darauf abzielen, wirklich das zu sein, was ehrenwert und edel ist, sondern auch in jenem Punkte, in welchem die, Liebe zum wahren Ruhm der eigentlich so genannten Eitelkeit ähnelt, nämlich in einer gewissen Bezugnahme auf die Empfindungen anderer. Ein Mensch, der von der höchsten see-
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lischen Größe erfüllt ist, der die Tugend um ihrer selbst willen begehrt, und dem es höchst gleichgültig ist, welche Meinungen die Menschen wohl in Wirklichkeit über ihn hegen mögen, den erfreut doch trotz allem der Gedanke daran, welche Meinungen sie über ihn hegen sollten, d. h. das Bewußtsein, daß er, obwohl ihm weder Ehre noch Beifall zuteil wird, dennoch Ehre und Beifall verdient, und daß die Menschen, wenn sie leidenschaftslos, unparteiisch, mit sich selbst im Einklang und mit den Beweggründen und näheren Umständen seines Verhaltens richtig bekannt wären, sicher nicht ermangeln würden, ihn zu ehren und ihm ihren Beifall zu bezeigen. Er schätzt zwar die Ansichten gering, die tatsächlich über ihn im Schwange sind, aber er legt den höchsten Wert darauf, welche Meinungen man von ihm hegen sollte. Der große und erhabene Beweggrund seines Verhaltens ist stets, daß er sich selbst jener ehrenvollen Gefühle für würdig halten könne, und daß er – welche Ansichten auch andere Menschen von seinem Charakter hegen mögen – doch selbst immer die beste Meinung von sich selbst hegen könnte, wenn er sich in ihre Lage versetzen und überlegen würde, nicht welches ihre Ansichten sind, sondern welches ihre Ansichten sein sollten. Da also selbst in der Liebe zur Tugend immer noch eine Beziehung auf die Meinung der anderen liegt, zwar nicht auf diese Meinung, wie sie tatsächlich ist, wohl aber darauf, wie sie mit Fug und Recht sein sollte, so besteht auch in dieser Beziehung eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Liebe zur Tugend und der Liebe zu wahrem Ruhm. Es besteht aber zugleich doch auch ein großer Unterschied zwischen beiden. Derjenige, der lediglich aus Rücksicht darauf handelt, was zu tun recht und billig ist, also aus Rücksichtnahme auf das, was Achtung und Billigung verdient, handelt – wenn ihm auch niemals diese Gefühle entgegengebracht werden – aus dem erhabensten und gottähnlichsten Beweggrund, dessen die menschliche Natur überhaupt fähig ist. Derjenige dagegen, der, während er Billigung zu ver-
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dienen wünscht, zugleich ängstlich besorgt ist, sie zu empfangen, ist zwar auch im Grunde lobenswert, doch seine Beweggründe enthalten eine starke Beimengung menschlicher Schwäche. Er läuft Gefahr, durch die Unwissenheit und Ungerechtigkeit der Menschen gekränkt zu werden, und seine Glückseligkeit ist dem Neid seiner Rivalen und der Torheit des Publikums ausgesetzt. Die Glückseligkeit des anderen ist dagegen sicher und sie ist unabhängig vom Schicksal und von der Laune seiner Umgebung. Die Verachtung und der Haß, welche ihm die Unwissenheit der Menschen entgegenbringen mag, betrachtet er als etwas, was ihn nicht betrifft, und er fühlt sich durch sie überhaupt nicht gekränkt. Die Menschen verachten und hassen ihn nur aus einer falschen Vorstellung von seinem Charakter und Verhalten. Kennten sie ihn besser, so würden sie ihn achten und lieben. Nicht er ist es, genau genommen, den sie hassen und geringschätzen, sondern ein anderer Mensch, für den sie ihn eben irrtümlich halten. Würden wir unseren Freund etwa auf einer Maskerade in dem Gewand unseres Feindes treffen, so würde er sich eher belustigt als gekränkt fühlen, wenn wir an ihm unseren Unwillen auslassen wollten, bloß darum, weil er sich in dieser Verkleidung befindet. Ganz ebenso sind die Empfindungen eines Menschen von wirklicher Seelengröße, sobald er ungerechtem Tadel ausgesetzt ist. Es kommt jedoch selten vor, daß die menschliche Natur sich zu diesem Grad von Standhaftigkeit emporschwingt. Obzwar nur die schwächsten und unwürdigsten unter den Menschen sich an falschem Ruhm besonders erfreuen, so ist doch infolge einer sonderbaren Inkonsequenz eine unbegründete Schande oft imstande, auch diejenigen Menschen empfindlich zu kränken, die uns am entschlossensten und standhaftesten zu sein scheinen. Dr. Mandeville ist damit nicht zufrieden, daß er den nichtigen Beweggrund der Eitelkeit als die Quelle all jener Handlungen hinstellt, die gemeinhin für tugendhaft gehalten werden. Er bemüht sich auch, die Unvollkommenheit menschlicher Tugend
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in manchen anderen Beziehungen aufzuzeigen. In jedem Falle, behauptet er, bleibt sie hinter jener vollständigen Selbstverleugnung zurück, die sie doch zu sein vorgibt, und anstatt ein Sieg über unsere Affekte zu sein, ist sie gemeinhin nichts anderes, als ein verstecktes Sichhingeben an diese Affekte. Überall, wo unsere Zurückhaltung in bezug auf die Lust hinter der asketischsten Enthaltsamkeit zurückbleibt, behandelt er sie als grobe Üppigkeit und Sinnlichkeit. Nach ihm ist alles Üppigkeit oder Schwelgerei, was über das zur Erhaltung des Menschen absolut Notwendige irgendwie hinausgeht, so daß schon in dem Gebrauch eines reinen Hemdes oder einer bequemen Wohnung ein Laster liegt. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes in einer höchst gesetzmäßigen Verbindung betrachtet er als die gleiche Sinnlichkeit wie die zügelloseste Befriedigung dieser Leidenschaft und er verspottet jene Mäßigkeit und jene Keuschheit, die um einen so billigen Preis geübt werden können. Das geistvolle Sophisma seiner Argumentationen ist hier wie in vielen anderen Fällen durch den Doppelsinn der Sprache verhüllt. Es gibt einige unter unseren Affekten, welche keine anderen Namen haben als solche, die einen unangenehmen oder anstößigen Grad des betreffenden Affektes bezeichnen. Der Zuschauer pflegt sie eher zu bemerken und zu beachten, wenn sie in einem solchen Grad auftreten, als wenn sie in normaler Stärke vorhanden sind. Wenn sie seinem ganzen Empfinden zuwider sind, wenn sie in ihm eine Art Antipathie erregen und ihm ein gewisses Mißbehagen verursachen, dann ist er notwendigerweise gezwungen, auf sie zu achten, und wird dadurch naturgemäß veranlaßt, ihnen einen Namen zu geben. Wenn sie jedoch mit dem gewöhnlichen Zustande seiner eigenen Seele in Einklang stehen, dann pflegt er sie sehr leicht ganz und gar zu übersehen und gibt ihnen entweder überhaupt keinen Namen oder, wenn er ihnen einen Namen gibt, so ist es einer, der eher die Unterdrückung und Bezähmung dieses Affektes bezeichnet als das Maß, in welchem man ihn bestehen läßt, nachdem er so un-
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terdrückt und bezähmt wurde. So bezeichnen die gewöhnlichen Benennungen * des Verlangens nach Lust und der geschlechtlichen Liebe einen lasterhaften und anstößigen Grad dieser Affekte. Die Wörter Mäßigkeit und Keuschheit andererseits scheinen eher die Bezähmung und Unterdrückung zu bezeichnen, welcher diese Affekte unterworfen werden, als den Grad, in dem man sie noch bestehen läßt. Wenn Mandeville also zu zeigen vermag, daß sie in gewisser Stärke noch immer bestehen, dann bildet er sich ein, er habe die Realität der Tugenden Mäßigkeit und Keuschheit gänzlich vernichtet und habe gezeigt, daß sie nichts anderes als ein Betrug an der Unaufmerksamkeit und Einfältigkeit der Menschen seien. Jene Tugenden verlangen jedoch gar nicht eine vollständige Unempfindlichkeit gegenüber den Gegenständen jener Affekte, die sie zu beherrschen beabsichtigen. Sie zielen nur darauf ab, die Heftigkeit jener Affekte so weit im Zaume zu halten, daß sie weder das Individuum schädigen, noch gegen die Ruhe und Ordnung der Gesellschaft verstoßen. Es ist der große Trugschluß von Dr. Mandevilles Buch **, daß es jeden Affekt als durchaus lasterhaft hinstellt, der, wenn er in einem gewissen Grade und in einer gewissen Richtung auftritt, allerdings lasterhaft ist. So kommt es, daß er alles als Eitelkeit behandelt, was irgendeine Beziehung auf die Empfindungen anderer in sich enthält, sei es, wie diese nun wirklich sind, oder wie sie sein sollten ; und mittels dieses Sophismas begründet er seinen Lieblingsschluß, daß die Laster des einzelnen Wohltaten für die Allgemeinheit seien. Wenn Prachtliebe, wenn Geschmack an den Künsten der Eleganz und der verfeinerten Kultur des menschlichen Lebens, an allem, was angenehm und bequem ist von Kleidung, Hausgerät oder Einrichtung, wenn Geschmack an der Baukunst, an Bildhauerei, Malerei und Musik als Schwelge* Genußsucht und Wollust. ** Die Bienenfabel.
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rei, Sinnlichkeit und Prahlerei angesehen werden müßten, und zwar auch bei solchen Menschen, deren Situation es ihnen erlaubt, diesen Neigungen ohne irgendwelche ungünstige Folgen nachzugeben, dann ist es sicher, daß Schwelgerei, Sinnlichkeit und Prahlerei Wohltaten für die Allgemeinheit sind ; da ja ohne diese Eigenschaften – denen er solch schimpfliche Namen beizulegen für richtig findet – die höheren Künste niemals irgendeine Ermunterung finden könnten und aus Mangel an Beschäftigung dahinschwinden müßten. Gewisse populäre asketische Lehren, die vor seiner Zeit im Umlauf gewesen waren, und welche die Tugend in die vollständige Ausrottung und Vernichtung aller unserer Affekte setzten, waren die wahre Grundlage dieses Systems, welches jede sittliche Bindung aufhob. Es war für Dr. Mandeville leicht, zu beweisen, erstens, daß diese vollständige Besiegung der Affekte sich tatsächlich niemals unter Menschen findet, und daß zweitens, wenn es möglich wäre, daß sie allgemein verwirklicht werden würde, dies für die Gesellschaft verderblich wäre, da es allem Handel und Gewerbefleiß, ja, in gewissem Sinn sogar dem ganzen Getriebe des menschlichen Lebens ein Ende setzen müßte. Durch den ersten dieser beiden Sätze schien er zu beweisen, daß es keine wahre Tugend gebe, und daß alles, was sich für Tugend ausgibt, nur eine Täuschung und ein Betrug an der Menschheit sei, und durch den zweiten, daß die Laster des einzelnen Wohltaten für die Allgemeinheit seien, da ja ohne sie keine Gesellschaft gedeihen und blühen könne. Dies ist das System Dr. Mandevilles, das einst so viel Aufsehen in der Welt machte, und das zwar vielleicht niemals mehr Laster veranlaßt hat, als es auch ohne dasselbe gegeben hätte, das aber zumindest jene Laster, die aus anderen Ursachen entsprangen, gelehrt hat, mit größerer Frechheit aufzutreten und die Verderbtheit ihrer Beweggründe mit einer ruchlosen Kühnheit einzugestehen, wie man sie niemals früher gehört hatte. Wie verderblich aber auch dieses System erscheinen mag, es
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hätte doch niemals eine so große Zahl von Personen zu täuschen vermocht, noch hätte es jemals unter denen, die Freunde besserer Grundsätze sind, eine so allgemeine Empörung hervorrufen können, hätte es nicht in gewissen Punkten an die Wahrheit gestreift. Ein System der Naturwissenschaft mag sehr einleuchtend erscheinen und lange Zeit hindurch in der Welt ganz allgemein angenommen sein und doch keine Grundlage in der Natur, noch die mindeste Ähnlichkeit mit der Wahrheit besitzen. Die Descartesschen Wirbel wurden von einer sehr geistvollen Nation beinahe ein Jahrhundert hindurch als eine höchst befriedigende Erklärung der Umdrehungen der Himmelskörper angesehen. Dennoch ist auf eine alle Welt überzeugende Weise der Beweis erbracht worden, daß diese angeblichen Ursachen jener wunderbaren Wirkungen nicht nur in Wirklichkeit nicht existieren, sondern auch völlig unmöglich sind, und daß sie, wenn sie auch existierten, keine derartigen Wirkungen hervorbringen könnten, wie sie ihnen zugeschrieben werden. Anders aber verhält es sich mit Systemen der Moralphilosophie und ein Schriftsteller, der vorgibt, den Ursprung unserer ethischen Gefühle zu erklären, kann uns nicht so grob täuschen, noch von aller Ähnlichkeit mit der Wahrheit so weit abweichen. Wenn ein Reisender uns von einem entfernten Lande berichtet, so kann er unsere Leichtgläubigkeit hintergehen und uns die grundlosesten und ungereimtesten Erfindungen als die gewissesten Tatsachen darstellen. Wenn es aber jemand unternimmt, uns über die Vorgänge in unserer Nachbarschaft und über Angelegenheiten eben des Kirchspiels zu unterrichten, in welchem wir leben, dann kann er zwar auch, wenn wir so unvorsichtig sind, die Dinge nicht mit unseren eigenen Augen zu überprüfen, uns in mancher Beziehung täuschen, aber die ärgsten Lügen, welche er uns aufschwatzt, müssen doch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Wahrheit haben und müssen sogar eine beträchtliche Beimengung von Wahrheit in sich enthalten. Ein Schriftsteller, der die Naturwissenschaft behandelt und die Ursa-
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chen der großen Phänomene des Universums angeben will, unternimmt es gleichsam, uns einen Bericht von einem sehr weit entfernten Lande zu geben, über welches er uns erzählen darf, was ihm beliebt, und solange seine Erzählung sich innerhalb der Grenzen dessen hält, was uns möglich scheint, braucht er niemals an der Hoffnung zu verzweifeln, daß wir ihm Glauben schenken werden. Wenn seine Absicht aber dahin geht, den Ursprung unserer Begierden und Neigungen und unserer Empfindungen der Billigung und Mißbilligung darzulegen, dann unternimmt er es nicht nur, uns einen Bericht von dem Kirchspiel zu geben, in dem wir leben, sondern geradezu uns von unseren eigenen häuslichen Angelegenheiten zu erzählen. Obwohl wir auch hier, wie unaufmerksame Herren, die ihr Vertrauen auf einen Verwalter setzen, der sie betrügt, sehr stark der Gefahr ausgesetzt sind, hintergangen zu werden, so werden wir doch nicht imstande sein, einen Bericht hingehen zu lassen, der nicht den geringsten Anschein von Wahrheit besitzt. Einige seiner Angaben müssen wenigstens richtig sein und auch diejenigen, welche am meisten übertrieben sind, müssen doch eine gewisse Grundlage besitzen, sonst würde der Betrug schon durch die oberflächlichste Überprüfung, die wir etwa anstellen wollten, aufgedeckt werden. Ein Schriftsteller, der als Ursache irgendeiner natürlichen Empfindung ein Prinzip angeben wollte, das in keinerlei Zusammenhang mit dieser Empfindung stünde, noch irgendeinem anderen Prinzip ähnelte, welches einen Zusammenhang mit dieser Empfindung hätte, würde selbst dem unerfahrensten und am wenigsten urteilsfähigen Leser ungereimt und lächerlich erscheinen.
Über einige Systeme der Moralphilosophie
DRITTER ABSCHNIT T
Über die verschiedenen Systeme, die in bezug auf das Prinzip der Billigung aufgestellt worden sind. einleitung Nach der Untersuchung über das Wesen der Tugend ist die nächste bedeutsame Frage der Moralphilosophie die nach dem Prinzip der Billigung, nach der Kraft oder dem Vermögen der Seele, welches uns gewisse Charaktere angenehm oder unangenehm macht, welches uns veranlaßt, die eine Art des Verhaltens einer anderen vorzuziehen, die eine recht und die andere unrecht zu nennen und die eine als eine Verhaltensart zu betrachten, welche Billigung, Ehre und Belohnung verdient, während der anderen Tadel, Rüge und Bestrafung gebührt. Drei verschiedene Erklärungen hat man von diesem Prinzip der Billigung gegeben. Nach der Ansicht der einen billigen und mißbilligen wir unsere eigenen Handlungen und die Handlungen anderer nur aus Selbstliebe oder von dem Gesichtspunkt aus, ob sie die Tendenz haben, unser Glück zu fördern oder zu unserem Mißgeschick beizutragen ; nach der Ansicht anderer ist es die Vernunft, dasselbe Vermögen, vermittels dessen wir zwischen Wahrheit und Falschheit unterscheiden, die uns auch fähig macht, zwischen demjenigen zu unterscheiden, was an unseren Handlungen und Neigungen angemessen und dem, was an ihnen unangemessen ist ; nach der Ansicht einer dritten Gruppe ist diese Unterscheidung durchaus die Wirkung einer unmittelbaren Empfindung und eines unmittelbaren Gefühles und entspringt aus der Befriedigung oder Abneigung, mit welcher die Betrachtung gewisser Handlungen oder Neigungen uns erfüllt. Selbstliebe, Vernunft und Gefühl sind also die drei verschiedenen Quellen, die als die Ursprünge des Prinzips der Billigung bezeichnet worden sind.
Siebenter Teil · Dritter Abschnitt · Erstes Kapitel
Bevor ich dazu übergehe, eine Darstellung dieser drei verschiedenen Systeme zu geben, muß ich bemerken, daß die Entscheidung dieser zweiten Frage zwar von der größten Wichtigkeit für die Theorie ist, aber keine Bedeutung für die Praxis hat. Die Frage nach dem Wesen der Tugend hat notwendigerweise in vielen Einzelfällen einen gewissen Einfluß auf unsere Vorstellungen von recht und unrecht. Die Frage nach dem Prinzip der Billigung kann durchaus keine solche Wirkung haben. Die Untersuchung darüber, aus welcher Einrichtung, oder aus welchem inneren Mechanismus jene verschiedenen Vorstellungen und Gefühle entspringen, ist bloß eine Angelegenheit der philosophischen Neugierde. erstes kapitel Über jene Systeme, welche das Prinzip der Billigung aus der Selbstliebe ableiten. Diejenigen, welche das Prinzip der Billigung aus der Selbstliebe erklären, pflegen dies doch nicht alle auf die gleiche Weise darzustellen und es liegt in all ihren verschiedenen Systemen ein gut Teil Verwirrung und Ungenauigkeit. Nach Hobbes und vielen seiner Anhänger * wird der Mensch nicht durch irgendeine natürliche Neigung, die er zu seinen Gattungsgenossen hegt, dazu getrieben, in der Gesellschaft seine Zuflucht zu suchen, sondern, weil er ohne die Hilfe der anderen unfähig ist, in Ruhe und Sicherheit sein Dasein zu fristen. Aus diesem Grunde wird die Gesellschaft für ihn eine Notwendigkeit und alles, was die Tendenz hat, ihre Erhaltung und Wohlfahrt zu fördern, betrachtet er auch als etwas, das eine entfernte Tendenz zur Förderung seiner eigenen Glückseligkeit besitzt ; und umgekehrt, was immer die Gesellschaft in ihrer Ordnung stören oder gar die Gesellschaft vernichten könnte, * Pufendorf, Mandeville.
Über einige Systeme der Moralphilosophie
betrachtet er als für ihn selbst in gewissem Maße schädlich oder verderblich. Nun ist aber die Tugend das wichtigste erhaltende, das Laster das wichtigste störende Moment in der menschlichen Gesellschaft. Die erstere ist darum jedermann angenehm, das letztere jedermann zuwider, da er aus der einen das Gedeihen, aus dem anderen die Zerrüttung und den Untergang desjenigen erwarten muß, was für die Bequemlichkeit und die Sicherheit seines eigenen Daseins so notwendig ist. Daß wirklich die Tendenz der Tugend, die Ordnung der Gesellschaft zu fördern, und die Tendenz des Lasters, diese Ordnung zu stören, sobald wir die Sache kühl und philosophisch betrachten, der Tugend eine sehr bedeutende Schönheit und dem Laster eine bedeutende Häßlichkeit verleiht, das kann, wie ich bei einer früheren Gelegenheit bemerkt habe, überhaupt nicht in Frage gezogen werden. Die menschliche Gesellschaft erscheint, wenn wir sie in einem gewissen abstrakten und philosophischen Lichte betrachten, wie eine große, ungeheuere Maschine, deren regelmäßige und harmonische Bewegungen tausend angenehme Wirkungen hervorbringen. Wie bei jeder anderen schönen und edlen Maschine, die das Erzeugnis menschlicher Kunst ist, alles, was die Tendenz hat, ihre Bewegungen reibungsloser und ruhiger zu machen, aus dieser Wirkung eine gewisse Schönheit empfangen würde ; und umgekehrt, alles, was die Tendenz hat, diese Bewegungen zu stören, aus diesem Grunde Mißfallen erregen müßte, so muß die Tugend, welche gleichsam die feine Politur an den Rädern der Gesellschaftsmaschine ist, notwendig Wohlgefallen hervorrufen ; während das Laster wie der schlechte Rost, der schuld ist, wenn die Räder knarren und sich aneinander reiben, uns notwendig anstößig erscheinen muß. Diese Erklärung von dem Ursprung der Billigung und Mißbilligung geht also, soweit sie denselben aus der Rücksicht auf die Ordnung der Gesellschaft ableitet, in jenes Prinzip über, welches der Nützlichkeit die Schönheit zuerkennt, und welches ich bei einem früheren
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Anlasse dargelegt habe ; und aus diesem Umstand stammt der ganze Anschein von Wahrscheinlichkeit, den es besitzt. Wenn jene Schriftsteller die unzähligen Vorteile eines gesitteten und vergesellschafteten Lebens gegenüber einem wilden und einsiedlerischen Leben beschreiben, wenn sie sich über die Notwendigkeit der Tugend und Ordnung für die Aufrechterhaltung des Gesellschaftslebens verbreiten und beweisen, wie die Vorherrschaft des Lasters und des Ungehorsams gegenüber den Gesetzen unfehlbar die Tendenz hat, jenes einsiedlerische Leben wieder heraufzuführen, so ist der Leser entzückt von der überwältigenden Größe jener ganz neuen Ausblicke, die sich ihm eröffnen : er erblickt an der Tugend nun deutlich eine neue Schönheit und am Laster eine neue Häßlichkeit, die er nie zuvor bemerkt hatte, und ist gewöhnlich so erfreut über diese Entdeckung, daß er sich selten Zeit nimmt, zu überlegen, daß sich ihm dieser Ausblick auf die Gesellschaftzwecke niemals in seinem früheren Leben gezeigt habe, und daß er deshalb unmöglich der Grund jener Billigung und Mißbilligung sein könne, mit welcher er doch immer schon jene beiden verschiedenen Eigenschaften zu betrachten gepflegt hatte. Wenn jene Schriftsteller andererseits das Interesse, das wir an der Wohlfahrt der Gesellschaft nehmen, und die Achtung, welche wir aus diesem Grunde der Tugend zollen, nun aus der Selbstliebe ableiten, so meinen sie damit nicht, daß, wenn wir in der gegenwärtigen Zeit der Tugend des Cato unseren Beifall spenden und die Schurkerei des Catilina verabscheuen, unsere Empfindungen dabei durch die Vorstellung irgendeines Vorteiles bestimmt würden, den wir von jenem empfangen oder durch diejenige eines Schadens, den wir durch den letzteren erlitten hätten. Nicht deshalb achten wir – nach der Lehre jener Philosophen – den tugendhaften Charakter und tadeln wir den ungezügelten, weil das Gedeihen oder der Umsturz der Gesellschaft in jenen weit zurückliegenden Zeiten und bei jenen längst vergangenen
Über einige Systeme der Moralphilosophie
Völkern unserer Auffassung nach irgendeinen Einfluß auf unser Glück oder Elend in den gegenwärtigen Zeiten hätten. Sie haben sich niemals eingebildet, daß unsere Empfindungen durch irgendeinen Vorteil oder Nachteil bestimmt würden, der unserer Meinung nach von jenen Männern sich tatsächlich bis auf uns erstrecken würde ; wohl aber durch jene Vorteile und Nachteile, die sich auch auf uns erstrecken würden, wenn wir in jenen entlegenen Zeiten und Ländern gelebt hätten, oder durch jene Vorteile und Nachteile, die jetzt noch ihre Wirkung auf uns erstrecken könnten, wenn wir in unserer eigenen Zeit gleichartigen Charakteren begegnen sollten. Kurz, die Vorstellung, welche jenen Schriftstellern vorschwebte, ohne daß sie jedoch jemals fähig gewesen wären, sie deutlich darzulegen, war jene indirekte Sympathie, die wir mit der Dankbarkeit oder dem Vergeltungsgefühl derjenigen empfinden, die die Vorteile empfingen oder die Nachteile erlitten, welche aus solchen entgegengesetzten Charakteren für ihre Umwelt sich ergeben ; und das war es, worauf sie undeutlich anspielten, wenn sie sagten, es sei nicht der Gedanke an das, was wir wirklich gewonnen oder erlitten haben, der unseren Beifall oder unseren Unwillen veranlaßt, sondern der Begriff oder die Vorstellung von dem, was wir gewinnen oder erleiden könnten, wenn wir in der Gesellschaft solcher Genossen leben müßten. Die Sympathie kann jedoch in keinem Sinne als ein egoistisches Prinzip betrachtet werden. Wenn ich mit deinem Kummer oder mit deinem Unwillen sympathisiere, so könnte man freilich behaupten, daß meine Gemütsbewegung sich auf Selbstliebe gründe, weil sie daraus entsteht, daß ich deine Angelegenheit gleichsam zu der meinigen mache, daß ich mich in deine Lage versetze und von da aus mir vorzustellen suche, was ich in den gleichen Verhältnissen fühlen würde. Obgleich man aber mit vollem Recht sagen kann, die Sympathie entspringe daraus, daß ich in Gedanken einen Tausch zwischen meiner Situation und
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der des zunächst betroffenen Menschen vollziehe, so wird dabei doch nicht angenommen, daß dieser Tausch mir in meiner eigenen Person und gleichsam in meiner eigenen Rolle widerfährt, sondern vielmehr in der Person desjenigen, mit dem ich sympathisiere. Wenn ich mit dir Beileid empfinde, weil du deinen einzigen Sohn verloren hast, und ich deinen Kummer nachzufühlen trachte, dann überlege ich nicht, was ich, ein Mensch von dieser bestimmten Stellung und diesem bestimmten Beruf, erdulden würde, wenn ich einen Sohn hätte und dieser unglückseligerweise stürbe, sondern ich überlege, was ich erdulden würde, wenn ich wirklich du wäre, und ich tausche nicht nur meine Verhältnisse mit den deinen, sondern ich tausche auch die Person und die Rolle mit dir. Ich empfinde darum meinen Kummer durchaus nur um deinetwillen, nicht im mindesten um meinetwillen. Er ist also nicht im mindesten egoistisch. Wie kann ein Affekt als ein egoistischer betrachtet werden, der nicht einmal aus der Vorstellung von irgend etwas entspringt, das mich betroffen hat, oder das sich auf mich in meiner eigenen Person und meiner eigenen Rolle bezieht, sondern der ganz und gar mit dem beschäftigt ist, was sich auf dich bezieht ? Ein Mann kann mit einer Wöchnerin wohl sympathisieren ; aber es ist doch ganz unmöglich, daß er sich vorstellen könnte, er selbst würde in seiner eigenen Person und seiner eigenen Lebenslage ihre Schmerzen erleiden. Jene ganze Erklärung der menschlichen Natur jedoch, welche alle Empfindungen und Neigungen aus der Selbstliebe ableitet, eine Erklärung, die so viel Lärm in der Welt gemacht hat, die aber, soviel ich weiß, noch niemals vollständig und ganz klar und deutlich dargelegt worden ist, scheint mir aus einem verworrenen Mißverständnis des Sympathiesystems entsprungen zu sein.
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zweites kapitel Über diejenigen Systeme, welche die Vernunft zum Prinzip der Billigung machen. Es ist allgemein bekannt, daß es einer der Lehrsätze von Hobbes gewesen ist, der Naturzustand sei ein Zustand des Krieges und vor der Einsetzung einer bürgerlichen Verfassung könne es unter den Menschen keine sichere oder friedliche Gesellschaft gegeben haben. Die Gesellschaft erhalten, heißt also nach Hobbes, die bürgerliche Verfassung stützen, und die bürgerliche Verfassung vernichten, bedeute, dem Bestehen der Gesellschaft ein Ende machen. Die Existenz der bürgerlichen Verfassung hängt aber von dem Gehorsam ab, der der obersten Behörde gezollt wird. In dem Augenblicke, wo diese ihre Autorität verliert, ist es mit aller Regierung und Verfassung zu Ende. Da nun der Selbsterhaltungstrieb den Menschen lehrt, alles gutzuheißen, was dahin zielt, die Wohlfahrt der Gesellschaft zu fördern, und alles zu tadeln, was sie schädigen kann, so sollte sie dasselbe Prinzip lehren – wenn sie in ihrem Denken und Sprechen konsequent bleiben wollten – in allen Fällen den Gehorsam gegenüber der bürgerlichen Obrigkeit gutzuheißen und jeden Ungehorsam und Aufruhr zu tadeln. Die Vorstellung des Lobenswerten und Tadelnswerten sollte geradezu mit derjenigen dieses Gehorsams, beziehungsweise Ungehorsams sich decken. Die Gesetze der bürgerlichen Obrigkeit sollten deshalb als der einzige letzte Maßstab angesehen werden für das, was gerecht und ungerecht, oder was recht und unrecht ist. Es war die eingestandene Absicht von Hobbes, durch die Verbreitung dieser Vorstellungen die Gewissen der Menschen unmittelbar den bürgerlichen, anstatt den kirchlichen Gewalten zu unterwerfen, da ihn die Vorfälle seiner eigenen Zeit gelehrt hatten, diese kirchlichen Gewalten mit ihrem fanatischen und herrschsüchtigen Geist als die Hauptquelle aller Zerrüttung der Gesell-
Siebenter Teil · Dritter Abschnitt · Zweites Kapitel
schaft zu betrachten. Seine Lehre war aus diesem Grunde den Theologen besonders anstößig, die auch demgemäß nicht ermangelten, ihrem Unwillen gegen ihn mit großer Schärfe und Bitterkeit Ausdruck zu geben. Sie war aber ebenso allen Vertretern einer gesunden Ethik anstößig, da sie voraussetzt, daß es von Natur aus keinen Unterschied zwischen recht und unrecht gebe, daß diese Begriffe wandelbar und veränderlich und bloß von der Willkür der bürgerlichen Obrigkeit abhängig seien. Diese Darstellung der Dinge wurde daher aus allen Lagern und mit jeder Art von Waffen angegriffen, ebenso mit der nüchternen Vernunft, wie mit der leidenschaftlichsten Deklamation. Um eine so verhaßte Lehre zu widerlegen, war es notwendig, zu beweisen, daß die Seele vor jedem Gesetz oder jeder positiven Rechtseinrichtung von Natur aus mit einem Vermögen begabt sei, durch welches sie an gewissen Handlungen und Neigungen die Eigenschaften recht, lobenswert und tugendhaft und an anderen die Eigenschaften unrecht, tadelnswert und lasterhaft unterscheiden könne. Das Gesetz könnte, wie Dr. Cudworth * richtig bemerkte, nicht die ursprüngliche Quelle dieser Unterscheidungen sein, da es ja unter der Voraussetzung, daß es ein solches Gesetz gebe, entweder recht sein muß, ihm zu gehorchen, und unrecht, ihm nicht zu gehorchen, oder es gleichgültig sein müßte, ob wir ihm gehorchen oder nicht gehorchen. Jenes Gesetz, dem gegenüber es gleichgültig ist, ob wir ihm Gehorsam oder Ungehorsam entgegenbringen, könnte offenbar nicht die Quelle jener Unterscheidungen sein ; aber auch jenes Gesetz, dem gegenüber der Gehorsam recht und der Ungehorsam unrecht ist, könnte nicht die Quelle derselben sein, da ja gerade dann vorausgesetzt wird, daß ihm die Vorstellungen oder Begriffe von recht und unrecht vorhergehen, und daß der Gehorsam gegen das Gesetz gleichbedeutend ist mit der * »Unveränderliche Sittlichkeit« I. B..
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Vorstellung »recht«, und Ungehorsam gegen das Gesetz gleichbedeutend ist mit der Vorstellung »unrecht«. Da also die Seele eine Vorstellung von jenen Unterscheidungen vor allen Gesetzen in sich trägt, scheint die Folgerung notwendig, daß sie diese Begriffe aus der Vernunft schöpfe, die den Unterschied zwischen recht und unrecht ebenso anzeigt, wie denjenigen zwischen Wahrheit und Falschheit ; und dieser Schluß, der zwar in mancher Beziehung richtig, in anderen Beziehungen jedoch ziemlich voreilig war, wurde in einer Zeit leichter angenommen, in der die abstrakte Wissenschaft von der Natur des Menschen erst in ihren Anfängen steckte, und in der die unterschiedlichen Funktionen und Kräfte der verschiedenen Vermögen der menschlichen Seele noch nicht so sorgfältig untersucht und voneinander getrennt worden waren. Damals, als diese Polemik gegen Hobbes mit der größten Wärme und Schärfe geführt wurde, hatte man noch an kein anderes Vermögen gedacht, von welchem man hätte annehmen können, daß aus ihm derartige Ideen entspringen könnten. Es wurde deshalb zu dieser Zeit allgemein herrschende Lehre, daß das Wesen von Tugend und Laster nicht in der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetze eines Höheren liege, sondern in ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Vernunft, die so als die ursprüngliche Quelle und als das ursprüngliche Prinzip der Billigung und Mißbilligung angesehen wurde. Daß die Tugend in der Übereinstimmung mit der Vernunft besteht, ist in gewisser Hinsicht wahr, und dieses Vermögen kann in gewissem Sinne mit vollem Recht als die Quelle und das Prinzip der Billigung und Mißbilligung und aller begründeten Urteile über recht und unrecht angesehen werden. Durch die Vernunft entdecken wir jene allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit, durch welche wir unsere Handlungen bestimmen sollen, und durch dasselbe Vermögen bilden wir jene vageren und unbestimmteren Begriffe von dem, was klug, was anständig, was edel und vornehm
Siebenter Teil · Dritter Abschnitt · Zweites Kapitel
ist, die wir beständig mit uns tragen, und nach welchen wir, so gut wir können, die Art unseres Verhaltens zu regeln trachten. Die allgemeinen Grundsätze der Sittlichkeit werden wie alle anderen allgemeinen Grundsätze aus Erfahrung und Induktion gebildet. Wir bemerken an einer großen Mannigfaltigkeit von Einzelfällen, was unserem moralischen Vermögen gefällt oder mißfällt, was dieses billigt oder mißbilligt, und durch Induktion aus diesen Erfahrungen bilden wir jene allgemeinen Regeln. Die Induktion wird aber immer als ein Verfahren angesehen, das ein Werk der Vernunft ist. Man sagt deshalb mit vollem Recht, daß wir alle jene allgemeinen Grundsätze und Begriffe aus der Vernunft ableiten. Nur nach diesen Grundsätzen und Begriffen richten sich jedoch die meisten unserer moralischen Urteile, die äußerst unsicher und ungewiß wären, wenn sie ganz und gar von einer Ursache abhingen, die so vielen Veränderungen ausgesetzt ist wie die unmittelbare Empfindung und das Gefühl, welches doch durch die verschiedenen Zustände der Gesundheit und der Stimmung so wesentlich in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Da also unsere begründetsten Urteile in bezug auf recht und unrecht sich nach Grundsätzen und Begriffen richten, die aus einer Induktion der Vernunft hergeleitet sind, kann man mit vollem Recht sagen, daß die Tugend in einer Übereinstimmung mit der Vernunft bestehe, und insofern kann dieses Vermögen als die Quelle und das Prinzip der Billigung und Mißbilligung angesehen werden. Obgleich aber die Vernunft zweifellos die Quelle der allgemeinen Regeln der Sittlichkeit ist und zugleich die Quelle aller sittlichen Urteile bildet, welche wir mittels dieser fällen, so wäre es doch ganz und gar ungereimt und unverständlich, wenn man annehmen wollte, daß die ersten Wahrnehmungen von recht und unrecht aus der Vernunft abgeleitet werden könnten, und zwar auch in jenen Fällen, welche selbst gerade die Grundlage jener Erfahrungen darstellten, aus welchen die allgemeinen Regeln gebildet wurden. Diese ersten Wahrnehmungen können ebensowenig
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wie alle anderen Erfahrungen, auf welche sich allgemeine Regeln gründen, Gegenstand der Vernunft sein, sondern müssen Gegenstand einer unmittelbaren Empfindung oder eines Gefühls sein. Wenn wir in einer großen Mannigfaltigkeit von Fällen finden, daß eine bestimmte Art des Verhaltens beständig in einer gewissen Weise unser Wohlgefallen erregt und eine andere ebenso beständig unser Mißfallen, dann bilden wir aus diesen Erfahrungen die allgemeinen Regeln der Sittlichkeit. Die Vernunft aber kann nicht irgendeinen einzelnen Gegenstand um seiner selbst willen uns angenehm oder unangenehm machen. Die Vernunft kann uns zeigen, daß dieser Gegenstand das Mittel ist, um einen anderen zu erlangen, der von Natur aus uns wohlgefällig oder mißfällig ist, und sie kann in dieser Weise den Gegenstand uns um eines anderen willen angenehm oder unangenehm machen. Nichts aber kann uns angenehm oder unangenehm um seiner selbst willen sein, das nicht durch eine unmittelbare Empfindung und ein Gefühl dazu gemacht würde. Wenn also die Tugend in jedem einzelnen Falle notwendig um ihrer selbst willen gefällt, und wenn das Laster ebenso sicherlich um seiner selbst willen unser Mißfallen erregt, dann kann es nicht die Vernunft, sondern nur eine unmittelbare Empfindung oder ein Gefühl sein, das uns auf diese Weise die Tugend anziehend und das Laster abstoßend erscheinen läßt. Lust und Unlust sind die Hauptziele des Begehrens und der Abneigung : diese aber werden nicht durch die Vernunft, sondern durch eine unmittelbare Empfindung und ein unmittelbares Gefühl unterschieden. Wenn also die Tugend um ihrer selbst willen begehrenswert ist, und wenn das Laster um seiner selbst willen Abneigung hervorruft, so kann es nicht die Vernunft sein, die diese verschiedenen Eigenschaften ursprünglich auseinanderhält, sondern nur eine unmittelbare Empfindung und ein unmittelbares Gefühl. Da die Vernunft jedoch in gewissem Sinne mit Recht als das Prinzip der Billigung und Mißbilligung betrachtet werden kann,
Siebenter Teil · Dritter Abschnitt · Drittes Kapitel
wurden diese Gefühle der Billigung und Mißbilligung lange Zeit aus Mangel an Aufmerksamkeit so angesehen, als ob sie ursprünglich aus der Betätigung dieses Seelenvermögens entstünden. Dr. Hutcheson hat das Verdienst, der erste gewesen zu sein, der mit einiger Genauigkeit unterschied, in welcher Hinsicht man von den moralischen Unterscheidungen behaupten kann, daß sie aus der Vernunft entspringen, und in welcher Hinsicht sie sich auf eine unmittelbare Empfindung oder ein Gefühl gründen. In den Erläuterungen zu seiner Theorie des moralischen Sinnes hat er dies so erschöpfend und meiner Ansicht nach so unwiderlegbar dargestellt, daß ich, wenn noch immer über diesen Gegenstand eine Kontroverse besteht, dies nichts anderem zuschreiben kann, als entweder einem Mangel an Aufmerksamkeit gegenüber den Schriften dieses Herrn oder einer abergläubischen Anhänglichkeit an gewisse Formen des Ausdrucks, eine Schwäche, die unter Gelehrten nicht gar so ungewöhnlich ist, besonders wenn es sich um Themen handelt, die so starkes Interesse erregen wie das in Frage stehende, bei dessen Erörterung ein tugendhafter Mensch oft abgeneigt ist, auch nur eine einzige Phrase als unzutreffend preiszugeben, an die er sich einmal gewöhnt hat.
drittes kapitel Über jene Systeme, welche das Gefühl zum Prinzip der Billigung machen. Jene Systeme, welche das Gefühl zum Prinzip der Billigung machen, können in zwei Klassen eingeteilt werden. 1. Nach der Ansicht der einen gründet sich das Prinzip der Billigung auf ein Gefühl von eigentümlicher Natur, auf ein besonderes Vermögen der Wahrnehmung, das von der Seele angesichts gewisser Handlungen oder Neigungen in Tätigkeit gesetzt wird ; einige dieser Handlungen und Affekte berühren dieses Vermögen ange-
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nehm, andere unangenehm, den ersteren wird der Stempel des Rechten, Lobenswerten und Tugendhaften aufgeprägt, den letzteren jener des Unrechten, Tadelnswerten und Lasterhaften. Da dieses Gefühl von eigentümlicher Art und von jedem anderen verschieden ist und die Wirkung eines besonderen Wahrnehmungsvermögens darstellt, geben sie ihm einen besonderen Namen und nennen es den moralischen Sinn. 2. Nach der Ansicht anderer ist es nicht nötig, ein neues Wahrnehmungsvermögen anzunehmen, von dem man niemals zuvor gehört hatte, um das Prinzip der Billigung zu erklären. Die Natur, meinen sie, gehe hier wie in allen anderen Fällen mit der größten Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit vor und bringe eine Menge von Wirkungen aus einer und derselben Ursache zustande ; und die Sympathie, ein Vermögen, von dem man immer schon Kenntnis gehabt hatte, und mit dem die Seele ganz offenkundig begabt ist, sei, wie sie meinen, hinreichend, um alle die Wirkungen zu erklären, die jenem eigentümlichen Seelenvermögen zugeschrieben werden. 1. Dr. Hutcheson* hatte mit großem Aufwand von Mühe bewiesen, daß das Prinzip der Billigung sich nicht auf die Selbstliebe gründe. Er hatte auch bewiesen, daß es nicht aus irgendeiner Tätigkeit der Vernunft entspringen könne. Es blieb also, wie er meinte, nichts übrig, als anzunehmen, daß es ein Vermögen besonderer Art sei, mit welchem die Natur die menschliche Seele begabt hat, um diese eine eigentümliche und wichtige Wirkung hervorzubringen. Es fiel ihm nicht ein, daß es, nachdem Selbstliebe und Vernunft ausgeschlossen worden waren, noch ein anderes bekanntes Vermögen der Seele gebe, welches diesen Zweck in jeder Hinsicht zu erfüllen vermöchte. Dieses neue Vermögen der Wahrnehmung nannte er den moralischen Sinn und nahm an, daß es etwas den äußeren Sinnen * »Untersuchung über die Tugend«.
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Analoges darstelle. Wie die Körper, die uns umgeben, dadurch, daß sie die äußeren Sinne in gewisser Weise affizieren, in uns den Eindruck erwecken, daß sie jene verschiedenen Eigenschaften des Tones, des Geschmackes, des Geruches, der Farbe besitzen, so erwecken die verschiedenen Neigungen und Gefühle der menschlichen Seele dadurch, daß sie dieses eigentümliche Seelenvermögen in bestimmter Weise rühren, den Eindruck, daß ihnen die verschiedenen Eigenschaften des Liebenswürdigen und Hassenswerten, des Tugendhaften und Lasterhaften, des Rechten und Unrechten zukommen. Die verschiedenen Sinne oder Wahrnehmungsvermögen, * aus welchen die menschliche Seele alle ihre einfachen Vorstellungen empfängt, sind nach diesem System von zweierlei Art, wovon er die einen direkte oder primäre, die anderen reflexive oder sekundäre Sinne nannte. Die direkten Sinne sind jene Seelenvermögen, mittelst deren die Seele die Wahrnehmung jener Arten von Dingen empfängt, die nicht die vorausgehende Wahrnehmung anderer Dinge voraussetzen. So seien Töne und Farben Gegenstände der direkten Sinne. Einen Ton hören oder eine Farbe sehen setzt nicht voraus, daß die Wahrnehmung irgendeiner anderen Eigenschaft oder eines anderen Gegenstandes vorherging. Die reflexiven oder sekundären Sinne seien auf der anderen Seite jene Seelenvermögen, durch welche die Seele die Wahrnehmung solcher Arten von Dingen empfange, welche die vorhergehende Wahrnehmung anderer Dinge voraussetzen. So seien Harmonie und Schönheit Gegenstände der reflexiven Sinne. Um die Harmonie eines Klanges oder die Schönheit einer Farbe wahrnehmen zu können, müssen wir zuerst den Schall oder die Farbe wahrnehmen. Der moralische Sinn wurde nun als ein Vermögen dieser letzteren Art betrachtet. Jenes Vermögen, welches Locke Reflexion nennt, und aus welchem er die einfachen Vorstellungen * »Abhandlung über die Affekte«
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der verschiedenen Affekte und Gemütsbewegungen der menschlichen Seele ableitet, ist nach Hutcheson ein direkter innerer Sinn. Jene Fähigkeit wiederum, mittelst deren die Schönheit oder Häßlichkeit wahrgenommen wird, ebenso wie die Tugendhaftigkeit oder Lasterhaftigkeit jener verschiedenen Affekte und Gemütsbewegungen ist ein reflexiver innerer Sinn. Dr. Hutcheson suchte seine Theorie noch weiter zu stützen, indem er zeigte, daß diese Theorie den sonstigen natürlichen Verhältnissen entspreche, und daß die Seele mit einer ganzen Zahl verschiedener anderer reflexiver Sinne ausgestattet sei, welche dem moralischen Sinn ganz ähnlich sind ; so z. B. mit einem Sinn für Schönheit und Häßlichkeit an äußeren Gegenständen, mit einem sozialen Sinn, auf Grund dessen wir mit dem Glück oder Elend unserer Mitmenschen sympathisieren, mit einem Sinn für Schande und Ehre und mit einem Sinn für das Lächerliche. Aber trotz aller Mühe, welche sich dieser scharfsinnige Philosoph gegeben hat, um zu beweisen, daß das Prinzip der Billigung sich auf ein besonderes Vermögen der Wahrnehmung gründe, das den äußeren Sinnen irgendwie analog sei, so ergeben sich doch aus seiner Lehre, wie er selbst anerkennt, gewisse Folgerungen, die von manchen vielleicht als eine hinreichende Widerlegung dieser Lehre angesehen werden dürften. Er gibt zu, * daß die Eigenschaften, welche den Objekten irgendeines Sinnes angehören, nicht ohne die größte Ungereimtheit dem betreffenden Sinne selbst zugeschrieben werden könnten. Wer hat jemals daran gedacht, den Gesichtssinn schwarz oder weiß, den Gehörssinn laut oder leise, oder den Geschmackssinn süß oder bitter zu nennen ? Und es ist nach Hutcheson ebenso ungereimt, unser moralisches Vermögen tugendhaft oder lasterhaft, moralisch gut oder böse zu nennen. Diese Eigenschaften gehören den Objekten jenes Ver* Erläuterungen zu dem moralischen Sinn, 1. Abschnitt, S. 237 ff. der 3. Auflage.
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mögens an, nicht dem Vermögen selbst. Wenn also ein Mensch so abnormal veranlagt wäre, daß er Grausamkeit und Ungerechtigkeit billigen und als die höchsten Tugenden erklären wollte, dagegen Billigkeit und Menschlichkeit als die jammervollsten Laster mißbilligen würde, so könnte man zwar eine solche seelische Veranlagung als für das Individuum und für die Gesellschaft nachteilig betrachten und ebenso als seltsam, erstaunlich und als an und für sich unnatürlich ansehen, aber man könnte diese Veranlagung nicht ohne die größte Ungereimtheit als lasterhaft oder als moralisch schlecht bezeichnen. Und dennoch – wenn wir zusähen, wie ein Mann mit Bewunderung und Beifall einer barbarischen und unverdienten Hinrichtung zujauchzt, die irgendein übermütiger Tyrann anbefohlen hat, so würden wir uns wohl nicht einer großen Ungereimtheit für schuldig halten, wenn wir dieses Betragen als im höchsten Grade lasterhaft und moralisch schlecht bezeichneten, obgleich es doch nur eine Verderbtheit der sittlichen Veranlagung ausdrückt, indem hier in sinnloser Weise diese abscheuliche Handlung als eine edle, erhabene und große Tat gebilligt wird. Unser Herz würde, wie ich glaube, beim Anblick eines solchen Zuschauers für eine Weile seine Sympathie mit dem Leidenden vergessen und nichts als Grauen und Abscheu bei dem Gedanken an einen so verabscheuenswürdigen Schurken fühlen. Wir würden ihn sogar mehr verabscheuen als den Tyrannen selbst, der vielleicht durch die starken Affekte des Argwohns, der Furcht, des Vergeltungsgefühls zu seiner Tat angestachelt worden sein mag, und der aus diesem Grunde eher entschuldbar ist. Die Empfindungen des Zuschauers aber würden uns gänzlich ohne Ursache und Beweggrund zu sein scheinen und eben darum uns schlechterdings vollständig verabscheuenswürdig dünken. Es gibt keine Perversion der Empfindung oder der Neigung, in welche unser Herz sich weniger leicht versetzen könnte, oder welche es mit größerem Haß und Unwillen von sich weisen würde als eine derartige,
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und so weit sind wir davon entfernt, eine solche seelische Verfassung bloß als etwas Sonderbares und Nachteiliges, aber in keiner Beziehung Lasterhaftes oder moralisch Schlechtes zu betrachten, daß wir sie eher geradezu als die letzte und fürchterlichste Stufe sittlicher Verderbtheit ansehen möchten. Richtige ethische Gefühle dagegen erscheinen uns naturgemäß in gewissem Grade lobenswert und sittlich gut. Derjenige, dessen Tadel und Beifall in allen Fällen dem Wert oder der Wertlosigkeit des Gegenstandes mit größter Genauigkeit angepaßt ist, scheint uns in gewissem Maße auch sittliche Billigung zu verdienen. Wir bewundern die Feinheit und Treffsicherheit seiner ethischen Gefühle : sie leiten unsere eigenen Urteile, und sie erregen auf Grund ihrer ungewöhnlichen und überraschenden Richtigkeit sogar unsere Bewunderung und unseren Beifall. Wir können freilich nicht immer sicher sein, daß das Verhalten eines solchen Menschen in irgendeiner Hinsicht der Sicherheit und Genauigkeit entsprechend sein müßte, welche seine Urteile über das Verhalten anderer auszeichnet. Die Tugend verlangt ebenso eine gewisse Charaktergewohnheit und Entschlossenheit des Geistes wie Feinheit des Gefühles und unglücklicherweise fehlen die ersteren Eigenschaften mitunter gerade dort, wo die letztere am vollständigsten ausgebildet ist. Wenn aber diese seelische Verfassung zwar manchmal auch mit Unvollkommenheiten verbunden sein kann, so ist sie doch mit allem grob Verbrecherischen ganz unverträglich und bildet das beste Fundament, auf welchem das Gebäude vollkommener Tugend errichtet werden kann. Es gibt viele Menschen, die die besten Absichten hegen, und die den ernsten Vorsatz haben, zu tun, was sie für ihre Pflicht halten, die uns aber trotzdem wegen der Roheit ihrer ethischen Gefühle unangenehm sind. Man könnte nun vielleicht sagen, daß das Prinzip der Billigung sich zwar nicht auf irgendein Wahrnehmungsvermögen gründe, welches den äußeren Sinnen irgendwie analog wäre, daß es aber gleichwohl auf einem besonderen Gefühle beruhen möchte, wel-
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ches nur diesem einen besonderen Zweck dient und keinem anderen. Billigung und Mißbilligung, könnte man behaupten, sind gewisse Gefühle oder Gemütsbewegungen, die in der Seele beim Anblick verschiedener Charaktere und Handlungen entstehen ; und so wie man das Vergeltungsgefühl als den Sinn für erlittene Beleidigungen bezeichnen könnte oder Dankbarkeit als den Sinn für Wohltaten, so könnten diese Gefühle mit vollem Recht die Bezeichnung eines Sinnes für recht und unrecht oder eines moralischen Sinnes erhalten. Diese Darstellung der Dinge ist nun zwar vielleicht nicht denselben Einwendungen ausgesetzt wie die vorhergehende, aber es können ihr andere Einwände entgegengehalten werden, die ebenso unwiderleglich sind. Vor allem : eine besondere Gemütsbewegung mag welche Veränderungen auch immer erleiden, sie behält doch die allgemeinen Züge, die sie als eine Gemütsbewegung solcher Art auszeichnen, und diese allgemeinen Wesenszüge sind immer auffallender und bemerkenswerter als irgendeine Veränderung, die sie in den einzelnen Fällen erleiden mag. So ist der Zorn eine Gemütsbewegung von besonderer Art : und demgemäß sind seine allgemeinen Wesenszüge immer deutlicher unterscheidbar als die Veränderungen, die er in einzelnen Fällen erleidet. Der Zorn gegenüber einem Manne ist zweifellos etwas anders als der Zorn gegenüber einer Frau und dieser wieder anders als der Zorn gegenüber einem Kinde. In jedem dieser drei Fälle empfängt der allgemeine Affekt des Zornes eine andere Modifikation, und zwar durch die eigentümliche Natur des Gegenstandes, auf den er sich richtet, wie das jeder aufmerksame Beobachter leicht bemerken kann. Die allgemeinen Wesenszüge des Affektes herrschen aber in allen diesen Fällen vor. Es verlangt keine besonders genaue Beobachtung, um diese zu unterscheiden ; dagegen ist eine auf das höchste gesteigerte Aufmerksamkeit notwendig, um ihre Veränderungen zu entdecken : jedermann bemerkt die ersteren, aber kaum ir-
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gend jemand beobachtet die letzteren. Wenn also Billigung und Mißbilligung so wie Dankbarkeit und Vergeltungsgefühl Gemütsbewegungen einer besonderen Art und von jeder anderen verschieden wären, dann sollten wir erwarten, daß bei allen den Veränderungen, welche diese beiden Gemütsbewegungen erleiden, sie dennoch immer die allgemeinen Wesenszüge, welche eine Gemütsbewegung dieser besonderen Art kennzeichnen, behalten und dieselben klar, deutlich und leicht erkennbar an sich tragen. Tatsächlich verhält es sich aber ganz anders. Wenn wir aufmerksam darauf achten, was wir in Wahrheit fühlen, wenn wir bei verschiedenen Anlässen billigen oder mißbilligen, so werden wir finden, daß unsere Gemütsbewegung in dem einen Falle oft ganz und gar verschieden ist von derjenigen in einem anderen Falle, und daß überhaupt keine gemeinsamen Wesenszüge an den beiden Gemütsbewegungen entdeckt werden können. So ist die Billigung, mit welcher wir eine zärtliche, weiche und humane Empfindung betrachten, ganz verschieden von derjenigen, die uns eine erhabene, kühne und große Empfindung abnötigt. Unsere Billigung beider Empfindungen mag bei den verschiedenen Anlässen ganz vollkommen sein, aber der eine Anlaß stimmt uns weich, während der andere erhebend auf uns wirkt, und es besteht keinerlei Ähnlichkeit zwischen den Gemütsbewegungen, welche beide in uns hervorrufen. Nach derjenigen Theorie aber, welche ich hier aufzustellen versucht habe, muß es sich notwendigerweise so verhalten. Da die Gemütsbewegungen desjenigen Menschen, dem wir unsere Billigung erteilen, in den beiden Fällen einander ganz entgegengesetzt sind, und da unsere Billigung aus der Sympathie mit diesen einander entgegengesetzten Gemütsbewegungen entspringt, kann das, was wir bei dem einen Anlaß fühlen, keinerlei Ähnlichkeit mit demjenigen haben, was wir bei dem anderen Anlaß fühlen. Das aber könnte nicht der Fall sein, wenn die Billigung in einer besonderen Gemütsbewegung eigener Art bestünde, die mit den Empfindungen, die wir billigen,
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nichts gemein hätte, sondern die angesichts jener Empfindungen ebenso entstünde, wie irgendein anderer Affekt angesichts des ihm entsprechenden Gegenstandes. Dasselbe gilt mit Bezug auf die Mißbilligung. Der Abscheu, den wir gegenüber der Grausamkeit hegen, besitzt keinerlei Ähnlichkeit mit der Verachtung, die wir gegenüber der Kleinmütigkeit fühlen. Die Dissonanz, die wir beim Anblick jedes dieser beiden Laster zwischen unserer eigenen Seele und der Seele desjenigen Menschen fühlen, dessen Empfindungen und Betragen wir in Betracht ziehen, ist von ganz verschiedener Art. Zweitens habe ich bereits bemerkt, daß nicht nur die verschiedenen Affekte oder Neigungen der menschlichen Seele, die gebilligt oder mißbilligt werden, moralisch gut oder böse erscheinen, sondern daß auch die richtige oder unrichtige Billigung selbst unseren natürlichen Gefühlen zufolge den gleichen Stempel zu tragen scheint. Ich möchte also fragen, wie es sich mit diesem System vereinbaren läßt, daß wir richtige oder unrichtige Billigung wieder billigen, beziehungsweise mißbilligen ? Es gibt, wie ich meine, nur eine vernünftige Antwort, die auf diese Frage gegeben werden kann. Man muß sagen, daß wir die Billigung, mit welcher unser Nächster das Verhalten eines Dritten betrachtet, dann wieder billigen, wenn diese seine Billigung mit unserer eigenen Ansicht über das Verhalten des Dritten übereinstimmt ; in diesem Falle betrachten wir seine Billigung als sittlich gut ; und man muß andererseits sagen, daß wir die Billigung unseres Nächsten dann mißbilligen und als moralisch schlecht betrachten, wenn sie mit unseren eigenen Empfindungen nicht übereinstimmt. Man muß also zugeben, daß mindestens in diesem einen Falle die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen den Empfindungen des Beobachters und denen des Beobachteten moralische Billigung oder Mißbilligung zustandebringt. Und wenn dies in diesem einen Falle zutrifft, warum, so möchte ich fragen, sollte es nicht auch in allen anderen Fällen so sein ? Wozu dann ein neues Wahrneh-
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mungsvermögen erfinden, um dadurch jene Empfindungen zu erklären ? Gegen jede Darstellung des Prinzips der Billigung, welche dieses von einer besonderen Empfindung abhängen läßt, die von jeder anderen verschieden sein soll, möchte ich folgendes einwenden : es ist doch seltsam, daß diese Empfindung, welche die Vorsehung doch zweifellos zum herrschenden Prinzip in der Natur des Menschen bestimmt hat, bisher so wenig sollte bemerkt worden sein, daß sie noch in keiner Sprache einen Namen erhalten hat. Die Bezeichnung »moral sense« (moralischer Sinn) ist eine sehr junge Wortbildung und kann noch nicht als ein Ausdruck betrachtet werden, der einen Bestandteil der englischen Sprache ausmachen würde. Das Wort »Billigung« (approbation) ist erst in den letzten Jahren dazu verwendet worden, etwas Derartiges im besonderen zu bezeichnen. Nach dem richtigen Sprachgebrauch ist seine Bedeutung eine weitere : wir »billigen« (approve) alles, was zu unserer vollen Zufriedenheit ist, die Form eines Gebäudes, die Konstruktion einer Maschine, den Wohlgeschmack eines Fleischgerichtes. Das Wort Gewissen (conscience) bezeichnet auch nicht unmittelbar ein moralisches Vermögen, durch welches wir billigen oder mißbilligen. Das Gewissen setzt vielmehr die Existenz eines derartigen Vermögens voraus und bezeichnet im eigentlichen Sinne unser Bewußtsein davon, daß wir in Übereinstimmung mit dessen Anordnungen oder diesen entgegen gehandelt haben. Wenn Liebe, Haß, Freude, Kummer, Dankbarkeit, Vergeltungsgefühl, nebst so vielen anderen Affekten, die alle für die Untertanen dieses Prinzips gehalten werden, sich genügend bemerkbar gemacht haben, um Bezeichnungen zu erhalten, unter denen sie bekannt sind, ist es dann nicht überraschend, daß der Beherrscher von ihnen allen bisher so wenig beachtet wurde, daß mit Ausnahme von ein paar Philosophen es noch kein Mensch der Mühe für wert gehalten hat, ihm einen Namen zu verleihen ? Nach der hier dargelegten Lehre stammen die Empfindungen,
Siebenter Teil · Dritter Abschnitt · Drittes Kapitel
die wir erleben, wenn wir einen Charakter oder eine Handlung billigen, aus vier Quellen, die in gewissen Punkten voneinander verschieden sind. Wir sympathisieren erstens mit den Beweggründen des Handelnden ; wir nehmen zweitens teil an der Dankbarkeit derjenigen, die die wohltätigen Folgen seiner Handlungen empfangen ; wir beobachten drittens, daß sein Verhalten den allgemeinen Regeln angemessen gewesen ist, nach welchen jene beiden Formen der Sympathie sich gewöhnlich richten, und wenn wir schließlich solche Handlungen als Teile eines ganzen Systems von Verhaltungsweisen betrachten, welches die Tendenz hat, die Glückseligkeit des Individuums oder der Gesellschaft zu fördern, dann scheinen sie uns aus dieser Nützlichkeit eine Schönheit zu gewinnen, die derjenigen nicht unähnlich ist, die wir einer gut konstruierten Maschine zuschreiben. Wenn wir in irgendeinem einzelnen Falle alles abziehen, wovon man anerkennen muß, daß es aus dem einen oder dem anderen dieser vier Prinzipien hervorgeht, so würde ich sehr gerne wissen, was dann noch übrig bleibt, und würde bereitwillig zustimmen, daß dieses »Mehr« dem moralischen Sinn zugeschrieben wird oder irgendeinem anderen besonderen Vermögen, vorausgesetzt, daß irgend jemand genau feststellt, was dieses Mehr ist. Man möchte vielleicht erwarten, wenn es irgendein solches besonderes Prinzip gäbe, ein solches Prinzip, wie man annimmt, daß der moralische Sinn es sei, daß wir es dann in bestimmten einzelnen Fällen abgesondert und von jedem anderen getrennt fühlen würden, so wie wir oft Freude, Kummer, Hoffnung und Furcht rein, und ohne daß sie mit irgendeiner anderen Gemütsbewegung vermischt wären, empfinden. Dies jedoch kann, wie ich glaube, nicht einmal behauptet werden. Ich habe niemals einen Fall anführen hören, von dem man hätte sagen können, daß sich hier dieses Prinzip allein äußere und ohne mit Sympathie oder Antipathie vermengt zu sein, und ohne mit Dankbarkeit oder Vergeltungsgefühl, mit der Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstim-
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mung irgendeiner Handlung mit einer bestehenden Regel, oder schließlich mit jenem allgemeinen Geschmack für Schönheit und Ordnung verbunden zu sein, der ebensowohl durch unbelebte wie durch belebte Objekte erregt wird. 2. Es gibt noch ein anderes System, welches den Ursprung unserer ethischen Gefühle aus der Sympathie zu erklären sucht, das aber von demjenigen verschieden ist, welches ich hier aufzustellen versucht habe. Es ist dies jenes, welches die Tugend in die Nützlichkeit setzt, und welches das Vergnügen, mit dem der Zuschauer den Nutzen irgendeiner Eigenschaft betrachtet, aus der Sympathie mit der Glückseligkeit derjenigen erklärt, die durch dieselbe betroffen werden. Diese Sympathie ist sowohl von derjenigen verschieden, auf Grund deren wir an den Beweggründen des Handelnden Anteil nehmen, als auch von derjenigen, mit der wir die Dankbarkeit derjenigen Personen nachempfinden, die die wohltätigen Folgen dieser Handlungen empfangen haben. Es ist dasselbe Prinzip wie jenes, auf Grund dessen wir eine wohl konstruierte Maschine gutheißen. Aber keine Maschine kann Gegenstand jener zwei zuletzt erwähnten Formen der Sympathie sein. Ich habe schon im vierten Teil dieser Abhandlung einiges von diesem System berichtet.
VIERTER ABSCHNIT T
Von der Art, in welcher verschiedene Schriftsteller die praktischen Regeln der Sittlichkeit dargestellt haben. Es ist im dritten Teile dieser Abhandlung bemerkt worden, daß die Regeln der Gerechtigkeit die einzigen sittlichen Regeln sind, die fest bestimmt und genau sind, daß diejenigen aller anderen Tugenden lax, vage und unbestimmt sind, daß die ersteren mit den Regeln der Grammatik verglichen werden können, die anderen aber mit den Regeln, welche die Ästhetiker als Kriterium des Erha-
Siebenter Teil · Vierter Abschnitt
benen und Eleganten in der Darstellungsweise aufstellen und die uns eher eine allgemeine Vorstellung von der Vollkommenheit gewähren, welche wir anstreben sollen, als daß sie uns sichere und untrügliche Leitlinien dafür bieten würden, wie dieselbe erreicht werden kann. Da die verschiedenen Regeln der Sittlichkeit einen so verschiedenen Grad von Genauigkeit besitzen, so sind die Schriftsteller, welche sich bemüht haben, diese Regeln zu sammeln und in ein System zu bringen, auf zweierlei Weise vorgegangen ; die eine Gruppe hat durchwegs jene laxe Verfahrensweise befolgt, zu der sie durch die Betrachtung der einen Art von Tugenden naturgemäß bestimmt wurden, während eine andere Gruppe jene Art von Genauigkeit in ihre Vorschriften allgemein einzuführen versucht hat, deren doch nur einige derselben fähig sind. Die ersten haben wie die Ästhetiker, die zweiten wie die Grammatiker geschrieben. 1. Die erste Gruppe, der wir alle antiken Moralphilosophen zuzählen dürfen, hat sich damit begnügt, in ganz allgemeiner Weise die verschiedenen Laster und Tugenden zu beschreiben und die Häßlichkeit und das Elend, welches der einen Gesinnung anhaftet, ebenso aufzuzeigen wie die Schicklichkeit und Glückseligkeit der anderen, aber sie haben nicht vorgegeben, eine große Zahl von genauen Regeln aufstellen zu können, die ausnahmslos in allen einzelnen Fällen gelten sollten. Sie habe sich nur bemüht, festzustellen – soweit die Sprache eben erlaubt, dies festzustellen – erstens, worin die innerste Empfindung des Herzens besteht, auf die sich jede einzelne Tugend gründet, welche Art von innerem Gefühl oder Gemütsbewegung es ist, die das Wesen der Freundschaft, der Menschlichkeit, des Edelmutes, der Gerechtigkeit, der Seelenstärke und aller anderen Tugenden ausmacht, wie auch aller Laster, die ihnen entgegengesetzt sind ; und zweitens, welches die allgemeine Art des Handelns ist, die gewöhnliche Weise und Beschaffenheit des Verhaltens, zu welcher eine jede dieser Emp-
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findungen uns anleitet, oder wie im allgemeinen ein freundschaftlich denkender, ein edelmütiger, ein tapferer, ein gerechter und ein human gesinnter Mensch in der Mehrzahl der Fälle handeln dürfte. Die Empfindungen des Herzens zu charakterisieren, auf welche sich jede einzelne Tugend gründet, erfordert zwar einen feinen und genau zeichnenden Pinsel, aber es ist doch eine Aufgabe, die mit einer gewissen Exaktheit ausgeführt werden kann. Es ist freilich unmöglich, alle die Veränderungen zum Ausdruck zu bringen, welche eine jede Empfindung erfährt oder erfahren sollte entsprechend allen einzelnen Veränderungen der Umstände, die sich ereignen können. Sie sind unendlich zahlreich und der Sprache fehlen die Worte, um sie zu bezeichnen. Die Empfindung der Freundschaft, die wir gegen einen alten Mann fühlen, ist z. B. von derjenigen verschieden, die wir gegenüber einem jungen Menschen empfinden ; diejenige, welche wir für einen strengen Mann empfinden, verschieden von derjenigen, die wir für einen Mann von weicheren und liebenswürdigeren Umgangsformen hegen, und diese ist wieder verschieden von derjenigen, die wir für einen Menschen von besonders fröhlichem und lebhaftem Temperament empfinden. Die Freundschaft, die wir gegenüber einem Manne hegen, ist anders als das Freundschaftsgefühl, das eine Frau in uns erweckt, auch dann, wenn kein gröberer Affekt mit im Spiele ist. Welcher Schriftsteller vermöchte diese und alle die anderen unzähligen Abarten aufzuzählen und festzustellen, in welchen diese Empfindung auftreten kann ? Die allgemeine Empfindung der Freundschaft jedoch und der vertraulichen Zuneigung, welche ihnen allen gemeinsam ist, kann mit hinreichender Genauigkeit ermittelt werden. Das Bild, das davon entworfen wird, wird zwar immer in vielen Punkten unvollständig sein, es kann jedoch eine solche Ähnlichkeit mit dem Original besitzen, daß es uns in die Lage versetzt, dieses zu erkennen, wenn wir ihm begegnen, und die Empfindung, die es darstellt, von anderen zu
Siebenter Teil · Vierter Abschnitt
unterscheiden, die eine beträchtliche Ähnlichkeit mit ihr haben, wie etwa Wohlwollen, Verehrung, Achtung und Bewunderung. Noch leichter ist es, die gewöhnliche Art des Handelns in allgemeiner Weise zu beschreiben, zu welcher jede einzelne Tugend uns antreibt. Es ist überhaupt kaum möglich, die innere Empfindung oder Gemütsbewegung, auf welche sie sich gründet, zu beschreiben, ohne etwas Derartiges zu unternehmen. Es ist unmöglich, die unsichtbaren Wesenszüge – wenn ich so sagen darf – aller verschiedenen Modifikationen des Affektes durch die Sprache so auszudrücken, wie sie sich dem inneren Erleben darstellen. Es gibt keine andere Methode, sie zu kennzeichnen und voneinander zu unterscheiden, als daß man die Wirkungen beschreibt, die sie in der Außenwelt hervorbringen, die Veränderungen, die sie in dem Gesichtsausdruck, in den Gebärden und dem äußeren Benehmen veranlassen, die Entschließungen, die sie bewirken, die Handlungen, zu denen sie antreiben. Diese Methode befolgt Cicero in dem ersten Buch seiner »Pflichten«, wo er sich bemüht, uns zur Betätigung der vier Kardinaltugenden anzuleiten, und ebenso Aristoteles in den praktischen Abschnitten seiner Ethik, wenn er uns die verschiedenen Charakterdispositionen darlegt, nach denen wir, wie er meint, unser Betragen regeln sollen, wie Freigebigkeit, Großmut, Seelenstärke und sogar auch Spaßhaftigkeit und Humor, Eigenschaften, welche dieser nachsichtige Philosoph eines Platzes in seinem Tugendverzeichnis für würdig gehalten hat, obgleich das geringe Lob, das wir ihnen naturgemäß zu erteilen pflegen, sie anscheinend zu einem so verehrungswürdigen Namen nicht berechtigt. Solche Werke bieten uns ansprechende und lebendige Sittengemälde. Durch die Lebhaftigkeit ihrer Schilderungen entflammen sie unsere natürliche Liebe zur Tugend und vermehren unseren Abscheu gegen das Laster ; durch die Richtigkeit und Feinheit ihrer Beobachtungen mögen sie uns oft dazu helfen, unsere natürlichen Empfindungen in bezug auf die Schicklichkeit des
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Verhaltens zu verbessern und zu festigen, und indem sie uns in manchen Punkten zu höherer und schärferer Aufmerksamkeit anregen, bilden sie uns zu einer vollendeteren Korrektheit des Betragens heran, als jene war, die wir ohne solche Unterweisung auch nur anzustreben fähig gewesen wären. In dieser Art von den Sittlichkeitsregeln zu handeln, macht das Wesen jener Wissenschaft aus, die im eigentlichen Sinn Ethik genannt wird, eine Wissenschaft, die zwar wie die Ästhetik nicht der höchsten Genauigkeit und Bestimmtheit fähig ist, die aber dennoch äußerst nützlich und ansprechend ist. Sie ist mehr als alle anderen Wissenschaften für den Schmuck der Beredsamkeit empfänglich und ist imstande, durch diese auch den geringsten Regeln der Pflicht womöglich ein höheres Gewicht zu verleihen. Ihre Vorschriften sind, wenn sie in derartiger Einkleidung und Ausschmückung auftreten, fähig, den edelsten und nachhaltigsten Eindruck auf die lenkbare und bildsame Jugend hervorzubringen, und da sie hier mit dem natürlichen Idealismus dieses edelgesinnten Lebensalters zusammentreffen, sind sie imstande, wenigstens eine Zeitlang die Seele zu den heldenmütigsten Entschließungen zu begeistern, und wirken so dahin, die besten und nützlichsten Charakterdispositionen zu begründen und zu befestigen, deren die Seele des Menschen fähig ist. Was Lehren und Ermahnungen leisten können, um uns zur Tugendübung anzufeuern, das wird von dieser Wissenschaft, sofern sie auf solche Art betrieben wird, vollbracht. 2. Die zweite Gruppe von Moralphilosophen, zu denen wir alle Kasuisten der christlichen Kirche des Mittelalters und der späteren Zeiten ebenso rechnen dürfen, wie alle diejenigen, die in dem gegenwärtigen und im vorigen Jahrhundert Untersuchungen über das sogenannte Naturrecht angestellt haben, begnügt sich nicht damit, daß sie in dieser allgemeinen Weise jene Art des Verhaltens charakterisiert, die sie uns anempfehlen möchte, sondern bemüht sich, genaue und fest bestimmte Regeln aufzustellen, nach denen wir unser Verhalten bis in die kleinsten Umstände
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hinein bestimmen sollen. Da aber nun die Gerechtigkeit die einzige Tugend ist, für welche solche genaue Regeln schicklicherweise aufgestellt werden können, so ist es auch gerade diese Tugend, die von diesen beiden Gruppen von Schriftstellern hauptsächlich in Betracht gezogen wurde. Sie handeln jedoch von ihr in ganz verschiedener Weise. Diejenigen Schriftsteller, welche die Prinzipien des Rechts darstellen, ziehen nur die Verbindlichkeiten in Betracht, bezüglich deren sich die Person, der die Leistung geschuldet wird, für berechtigt halten darf, dieselbe mit Gewalt einzutreiben ; und bezüglich deren jeder unparteiische Zuschauer diese Art der Eintreibung gutheißen würde, Verbindlichkeiten von solcher Beschaffenheit, daß ein Richter oder Schiedsrichter, dem der Fall unterbreitet würde und der den guten Willen hätte, dem Gläubiger Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, den Schuldner zwingen müßte, die Exekution zu dulden oder zu erfüllen. Die Kasuisten andererseits untersuchen nicht so sehr, welche Leistungen von Rechts wegen mit Gewalt eingetrieben werden dürfen, als vielmehr, zu welchen Leistungen derjenige, der die Erfüllung schuldig ist, sich selbst für verpflichtet halten soll, wenn er aus einer heiligen und gewissenhaften Achtung gegen die allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit handelt und aus einer gewissenhaften Scheu, seinem Nächsten unrecht zu tun, oder die tadellose Reinheit seines eigenen Charakters zu beflecken. Der Zweck der Rechtswissenschaft ist es, Regeln für die Entscheidungen der Richter und Schiedsrichter vorzuschreiben. Der Zweck der Kasuistik ist es, Regeln für das Verhalten eines guten Menschen vorzuschreiben. Wenn wir alle Regeln des Rechtes beobachten, so würde, auch wenn man voraussetzt, daß diese Regeln noch so vollkommen wären, doch ein solches Verhalten nicht mehr Anerkennung verdienen als die, daß wir von äußerer Bestrafung frei bleiben. Wenn wir die Regeln der Kasuistik beobachten, so würden wir – wenn man voraussetzt, daß diese Regeln so sind, wie sie sein sollten – durch die genaue
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und gewissenhafte Sorgfalt unseres Betragens bedeutendes Lob verdienen. Es mag sich häufig ereignen, daß ein guter Mensch aus einer heiligen und gewissenhaften Achtung gegen die allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit sich für verpflichtet hält, manches zu leisten, wozu man ihn doch nie zwingen könnte, ohne das höchste Unrecht zu begehen, und was auch kein Richter oder Schiedsrichter ihm mit Gewalt auferlegen dürfte. Um ein abgedroschenes Beispiel zu geben : ein Straßenräuber zwingt einen Reisenden durch Todesdrohungen, ihm in seiner Angst eine gewisse Summe Geldes zu versprechen. Ob ein solches Versprechen, das derartig durch ungerechte Gewalt erpreßt worden ist, als bindend angesehen werden soll, ist eine Frage, die sehr viel erörtert worden ist. Wenn wir sie nur als eine Frage des Rechts betrachten, dann kann die Entscheidung keinem Zweifel unterliegen. Es wäre ungereimt, wenn man annehmen wollte, der Straßenräuber könne berechtigt sein, Gewalt zu gebrauchen, um den anderen zur Erfüllung zu zwingen. Das Versprechen zu erpressen war ein Verbrechen, das die höchste Strafe verdient, und wollte nun der Straßenräuber auch die Erfüllung erpressen, so würde er zu dem früheren Verbrechen nur ein neues hinzufügen. Wer nur von einem Menschen betrogen wurde, der ihn mit vollem Recht ebensogut hätte töten können, kann sich doch nicht beklagen, es sei ihm Unrecht geschehen. Wollte man annehmen, der Richter hätte die Erfüllung solcher Versprechen zu erzwingen oder die Behörde hätte ihm das Klagerecht zuzugestehen, so wäre dies wohl die lächerlichste von allen Ungereimtheiten. Wenn wir also diese Frage als eine Frage des Rechts betrachten, so können wir über die Entscheidung nicht in Verlegenheit sein. Wenn wir sie aber als eine Frage der Kasuistik betrachten, so wird sie nicht so leicht entschieden werden können. Ob ein guter Mensch aus gewissenhafter Ehrfurcht gegenüber der heiligen Regel der Gerechtigkeit, welche die Beobachtung aller ernsthaften
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Versprechen gebietet, sich nicht für gebunden erachten müßte, das Versprechen zu halten, das ist zum mindesten zweifelhafter. Daß auf die fehlgeschlagenen Hoffnungen des Schurken keine Rücksicht zu nehmen ist, der ihn in diese Situation gebracht hat, daß dem Räuber kein Unrecht geschieht, und daß infolgedessen nichts durch Gewalt erzwungen werden darf, das wird auch in seinen Augen durchaus nicht strittig sein. Ob er aber nicht auch in diesem Falle seiner eigenen Würde und Ehre eine gewisse Rücksicht schuldig ist, ob er nicht auf die unverletzliche Heiligkeit jener inneren Stimme achten müsse, die ihn antreibt, für das Gesetz der Wahrheit Ehrfurcht zu empfinden und alles zu verabscheuen, was der Treulosigkeit und Falschheit auch nur nahe kommt, das könnte vielleicht mit mehr Recht in Frage gezogen werden. Demgemäß sind auch die Meinungen der Kasuisten über diesen Punkt stark geteilt. Die eine Partei, zu der wir von den Alten Cicero, von den Modernen Pufendorf, seinen Kommentator Barbeyrac und vor allem den kürzlich verstorbenen Dr. Hutcheson rechnen dürfen – einen Mann, der sich in der Mehrzahl der Fälle durchaus nicht als ein leichtfertiger Kasuist gezeigt hat – entscheidet, ohne im mindesten zu zögern, die Frage dahin, daß einem derartigen Versprechen keine Achtung zu zollen ist, und daß es nichts als Schwäche und Aberglauben ist, wenn man darüber anders denkt. Eine andere Partei, zu welcher wir einige der alten Kirchenväter, sowie einige besonders hervorragende moderne Kasuisten rechnen dürfen, * ist jedoch anderer Meinung gewesen und hat alle derartigen Versprechen für bindend erklärt. Betrachten wir die Angelegenheit so, wie sie sich dem gewöhnlichen Empfinden der Menschen darstellt, so werden wir finden, daß dieses selbst einem derartigen Versprechen eine gewisse Achtung zubilligt, daß es jedoch unmöglich ist, durch eine allgemeine Regel, die auf jeden einzelnen Fall ohne Ausnahme passen wür* Hlg. Augustinus, La Placette.
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de, zu entscheiden, wieviel Achtung ihm gebühre. Einen Menschen, der derartige Versprechen ganz freimütig und bereitwillig gibt und sie dann ebenso leicht und ohne viel Umstände zu machen, bricht, den würden wir nicht zu unserem Freund und Gefährten wählen. Ein Mann von Stand, der einem Straßenräuber fünf Pfund verspricht und sein Versprechen nicht erfüllt, würde sich dadurch einen gewissen Tadel zuziehen. Wenn indessen die versprochene Summe sehr groß ist, kann es zweifelhafter sein, was man richtigerweise tun soll. Wenn sie z. B. so groß wäre, daß ihre Bezahlung die ganze Familie des Versprechenden zugrunde richten würde, wenn sie so groß wäre, daß sie hinreichte, um die nützlichsten Zwecke zu fördern, dann würde es beinahe als verbrecherisch, zumindesten aber als vom sittlichen Standpunkt aus unrichtig erscheinen, sie bloß um einer übertriebenen Feinfühligkeit willen in so unwürdige Hände wegzuwerfen. Ein Mann, der sich selbst zum Bettler machen wollte, oder der hunderttausend Pfund verschleudern würde, bloß um ein Ehrenwort zu halten, das er einem Dieb gegeben hat, würde, auch wenn es ihm leicht fiele, eine so große Summe aufzubringen, dem gesunden Menschenverstand unverständig und im höchsten Grade überspannt vorkommen. Eine solche Verschwendung würde mit seinen Pflichten und mit dem, was er sich und anderen schuldig ist, unvereinbar scheinen und keine Achtung auf ein unter solchen Umständen erpreßtes Versprechen wäre imstande, sie zu rechtfertigen. Es ist jedoch offenbar unmöglich, durch eine genau formulierte Regel festzustellen, welches Maß von Achtung diesem Versprechen gezollt werden soll, oder welches die höchste Summe wäre, die man auf Grund dieses Versprechens zu zahlen hätte. Beides würde sich ändern, je nach dem Charakter der beteiligten Personen, je nach ihren Verhältnissen, je nach der Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit des Versprechens und sogar nach den näheren Umständen des Rencontres ; und wenn derjenige, der dann das Versprechen gegeben hat, dabei mit jener ausgesuchten Artigkeit und Höflichkeit
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behandelt worden ist, wie man sie mitunter selbst bei Menschen findet, die den verworfensten Charakter besitzen, dann würden wir den Eindruck haben, daß dem Angreifer mehr zu bezahlen wäre als unter anderen Umständen. Man kann im allgemeinen sagen, daß die strenge Rücksicht auf das sittlich Richtige überall dort die Einhaltung solcher Versprechungen verlangt, wo dies nicht mit anderen, heiligeren Pflichten unvereinbar ist, wie etwa mit der Rücksicht auf die öffentlichen Interessen oder mit der Rücksicht auf diejenigen Personen, deren Versorgung uns Dankbarkeit, natürliche Zuneigung oder die Gebote schicklicher Wohltätigkeit zur Pflicht machen. Wie wir jedoch bereits früher bemerkt haben, besitzen wir keine genauen und fest bestimmten Regeln, um zu entscheiden, welche äußeren Handlungen aus Rücksicht auf solche Beweggründe zu vollbringen sind, und wir haben folglich auch keine Regeln, die uns angeben könnten, wann jene Tugenden die Beobachtung solcher Versprechen nicht zulassen. Es ist jedoch bemerkenswert, daß immer, wenn derartige Versprechen – und sei es auch aus den zwingendsten Gründen – gebrochen werden, dies für denjenigen, der sie geleistet hat, eine gewisse Schande mit sich bringt. Nachdem das Versprechen gegeben wurde, sind wir vielleicht überzeugt, daß es unrichtig wäre, es zu halten. Aber es liegt doch immer ein gewisses Verschulden darin, daß er es überhaupt gegeben hat. Es ist zumindesten ein Abweichen von den höchsten und edelsten Grundsätzen der Seelengröße und der Ehre. Ein rechtschaffener Mann sollte eher sterben wollen, als ein Versprechen leisten, das er ohne Torheit nicht halten und ohne Schande nicht brechen kann. Denn eine gewisse Schande haftet immer an einer derartigen Situation. Treulosigkeit und Falschheit sind so gefährliche und fürchterliche Laster und zugleich Laster, denen man sich so leicht, und häufig so straflos, hingeben kann, daß wir ihnen gegenüber strenger sind als gegen jedes andere Laster. Deshalb verbinden wir in unserem Denken mit allen Verletzungen der Treue in jedem Verhältnis und in jeder
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Lage die Vorstellung von Schande. Sie ähneln in dieser Beziehung den Verletzungen der Keuschheit bei dem schönen Geschlecht, einer Tugend, auf die wir aus den gleichen Gründen äußerst streng sind ; unsere Empfindungen sind in diesem Punkte ebenso heikel wie in bezug auf die letztere. Jede Verletzung der Keuschheit bewirkt eine Schande, die nicht wieder abzuwaschen ist. Keine Umstände, keine Verführung können sie entschuldigen, kein Kummer, keine Reue vermag sie zu sühnen. Wir sind in dieser Hinsicht so empfindlich, daß sogar eine Vergewaltigung dem Opfer Schande bringt und die Schuldlosigkeit der Seele in unseren Augen die Befleckung des Körpers nicht abzuwaschen vermag. Und ebenso verhält es sich mit einer Verletzung der Treue, wenn jemand einmal seine Ehre zum Pfande gesetzt hat, und sei es auch gegenüber dem unwürdigsten der Menschen. Treue ist eine so wichtige Tugend, daß wir im allgemeinen der Ansicht sind, sie zieme sich auch gegenüber demjenigen, gegen den wir keine andere Tugend zu üben verpflichtet sind, und den wir unserer Überzeugung nach mit Fug und Recht töten und vernichten dürfen. Vergebens würde derjenige, der sich eines Treubruches schuldig gemacht hat, darauf bestehen, daß er das Versprechen nur gegeben habe, um sein Leben zu retten, und daß er sein Versprechen nur deshalb gebrochen habe, weil es mit einer anderen achtenswürdigen Pflicht unvereinbar gewesen wäre, es zu halten. Diese Umstände können seine Schmach geringer erscheinen lassen, aber sie vermögen nicht, sie gänzlich auszulöschen. Er scheint sich einer Tat schuldig gemacht zu haben, mit der eben in dem Urteil der Menschen eine gewisse Schande unabtrennbar verbunden ist. Er hat ein Versprechen gebrochen, das zu halten er feierlich versichert hatte ; und an seinem Ruf, wenn er nicht gar mit unauslöschlichen Flecken besudelt ist, haftet von nun ab zumindesten etwas Lächerliches und es wird ihm sehr schwer werden, dies gänzlich zu beseitigen – kein Mensch, der ein derartiges Abenteuer erlebt hat, wird, wie ich glaube, besonders gerne die Geschichte davon erzählen.
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Dieses Beispiel mag dazu dienen, klar zu machen, worin der Unterschied zwischen Kasuistik und Rechtswissenschaft besteht, sogar wenn sie beide die Verpflichtungen gegenüber den allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit in Betracht ziehen. Obzwar dieser Unterschied aber wirklich und wesentlich ist, obzwar diese beiden Wissenschaften auf ganz verschiedene Zwecke abzielen, hat doch die Identität des Gegenstandes eine solche Ähnlichkeit zwischen ihnen zustandegebracht, daß die Mehrzahl der Schriftsteller, deren eingestandene Absicht es war, vom Recht zu handeln, die verschiedenen Fragen, die sie untersuchten, manchmal gemäß den Prinzipien des Rechts und manchmal gemäß den Prinzipien der Kasuistik entschieden haben, ohne zu unterscheiden und vielleicht ohne selbst dessen gewahr zu werden, wann sie nach den einen und wann sie nach den anderen Prinzipien ihre Entscheidung fällten. Die Lehre der Kasuisten beschränkt sich jedoch keineswegs auf diejenigen Pflichten, deren Einhaltung eine gewissenhafte Rücksicht auf die allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit von uns verlangen würde. Sie umfaßt auch viele andere Gebiete christlicher und sittlicher Pflichten. Was in erster Linie den Anlaß zur Pflege dieser Art von Wissenschaft gegeben hat, war die Sitte der Ohrenbeichte, die von dem römisch-katholischen Aberglauben in Zeiten der Barbarei und der Unwissenheit eingeführt worden ist. Auf Grund dieser Einrichtung mußten die geheimsten Handlungen und selbst die Gedanken eines jeden einzelnen, soweit sie im Verdacht stehen konnten, auch nur im geringsten von den Regeln christlicher Lauterkeit abzuweichen, dem Beichtvater enthüllt werden. Der Beichtvater gab dann seinen Beichtkindern den Bescheid, ob und in welcher Hinsicht sie ihre Pflicht verletzt hatten, und welche Buße sie auf sich zu nehmen hätten, bevor er ihnen im Namen der beleidigten Gottheit die Absolution erteilen könne. Das Bewußtsein oder selbst nur der Argwohn, Unrecht getan
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zu haben, ist für jede Seele eine schwere Last und führt bei all denen, die nicht durch lange Gewohnheit des Unrechttuns abgestumpft sind, Angst und Schrecken mit sich. Die Menschen sind naturgemäß in dieser wie in allen anderen Notlagen sehr geneigt, sich dadurch von dem Druck zu befreien, der, wie sie fühlen, auf ihrer Seele lastet, daß sie ihre Seelenqualen irgendeinem Menschen entdecken, auf dessen Verschwiegenheit und Diskretion sie vertrauen können. Die Scham, die dieses Bekenntnis in ihnen erweckt, wird durch die Erleichterung vollständig aufgewogen, welche die Sympathie ihres Vertrauten ihnen in ihrem Ungemach fast immer bereitet. Es erleichtert sie, zu sehen, daß sie der Achtung der Menschen nicht ganz unwürdig sind, und daß – mag auch ihr früheres Verhalten noch so getadelt werden – wenigstens ihre gegenwärtige Gesinnung gebilligt wird und vielleicht hinreicht, ihr früheres Verschulden aufzuwiegen oder sie wenigstens bei ihren Freunden in einer gewissen Wertschätzung zu erhalten. Ein zahlreicher und listiger Klerus hat es in jenen Zeiten des Aberglaubens verstanden, sich in das Vertrauen beinahe einer jeden Familie einzuschleichen. Sie besaßen all das bißchen Gelehrsamkeit, welches jene Zeiten zu bieten vermochten, und ihre Sitten waren zwar in mancher Hinsicht roh und ungeschliffen, aber sie schienen fein und streng geregelt im Vergleich mit denjenigen des Zeitalters, in welchem sie lebten. Sie wurden deshalb nicht nur als die höchsten Führer in den religiösen Pflichten, sondern auch als die berufenen Lehrer der sittlichen Pflichten angesehen. Eine vertrauliche Bekanntschaft mit ihnen verlieh jedem, der so glücklich war, sie zu besitzen, ein höheres Ansehen, und jedes Zeichen ihrer Mißbilligung drückte allen, die das Unglück hatten, sich dieselbe zuzuziehen, den Stempel der tiefsten Schande auf. Da man sie als die berufenen Richter über recht und unrecht betrachtete, wurden sie naturgemäß in allen Gewissenszweifeln, die sich ergaben, zu Rate gezogen, und es war für jeden einzelnen ehrenvoll, wenn er im Rufe stand, daß er jene heiligen
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Männer zu Vertrauten in allen seinen Geheimnissen mache, und daß er in seiner ganzen Lebensführung keinen wichtigen oder heiklen Schritt unternehme, ohne sich ihres Rates und ihrer Billigung versichert zu haben. Es war deshalb für die Geistlichkeit nicht schwer, es als eine allgemein gültige Regel durchzusetzen, daß man ihnen anvertrauen müsse, was ihnen bereits nach der damals herrschenden Mode gewöhnlich anvertraut wurde, und was man ihnen also auch anvertraut hätte, wenn eine solche Regel nicht eingeführt worden wäre. Es wurde daher ein unerläßlicher Bestandteil des Studiums der Geistlichen und Theologen, sich zu Beichtigern heranzubilden, und dadurch wurden sie veranlaßt, sogenannte Gewissensfälle zu sammeln, schwierige und heikle Situationen, bei welchen es schwer ist zu entscheiden, in welcher Richtung das sittlich richtige Verhalten gelegen war. Sie meinten, daß solche Werke sowohl für die Führer der Gewissen als für diejenigen, welche geführt werden sollten, von Nutzen sein möchten, und aus diesen Erwägungen entstanden die Bücher der Kasuistik. Die moralischen Pflichten, auf welche sich die Überlegungen der Kasuisten erstreckten, waren hauptsächlich solche, die sich wenigstens bis zu einem gewissen Maß durch allgemeine Regeln umschreiben ließen, und deren Übertretung naturgemäß Gewissensbisse und eine gewisse Furcht vor Bestrafung mit sich bringt. Die Absicht jener Einrichtung, die den Anlaß zu ihren Werken gab, war es, jene Schrecken des Gewissens zu besänftigen, welche die Verletzung solcher Pflichten zur Folge haben mußte. Nicht der Mangel einer jeden Tugend hat aber in gleicher Weise eine derartig schwere Zerknirschung zur Folge und kein Mensch wendet sich an seinen Beichtiger mit der Bitte um Absolution, weil er etwa nicht die edelste, die freundschaftlichste, die großherzigste Handlung vollbracht hat, die er in seiner Lage hätte vollbringen können. Bei Fehlern dieser Art ist die Regel, welche verletzt wurde, gemeinhin nicht sehr genau bestimmt und ist überdies im allgemeinen von solcher Art, daß zwar ihre Befolgung Anspruch auf
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Ehre und Belohnung gibt, daß aber ihre Übertretung niemanden einem positiven Tadel, einer Rüge oder einer Bestrafung aussetzt. Die Betätigung solcher Tugenden scheinen die Kasuisten als eine Art von übergebührlichen (supererogativen) Werken betrachtet zu haben, die nicht wirklich streng gefordert werden konnten, und von denen zu handeln daher ihnen nicht notwendig schien. Die Übertretungen sittlicher Pflichten, die vor das Tribunal der Beichtväter kamen, und die aus diesem Grunde auch dem Erkenntnis der Kasuisten anheimfielen, waren hauptsächlich von dreierlei Art. Erstens und vor allem Übertretungen der Regeln der Gerechtigkeit. Auf diesem Gebiete sind die Regeln alle ausdrücklich und bestimmt formuliert und ihre Verletzung hat naturgemäß das Bewußtsein, Strafe zu verdienen, und damit die Furcht, von Gott und Menschen Strafe erleiden zu müssen, zur notwendigen Folge. Zweitens Übertretungen der Regeln der Keuschheit. In allen schwereren Fällen sind dies wirkliche Übertretungen der Regeln der Gerechtigkeit und kein Mensch kann sich ihrer schuldig machen, ohne zugleich auch einem anderen ein ganz unverzeihliches Unrecht zuzufügen. In leichteren Fällen, wenn sie nur eine Verletzung jener feineren Anstandsregeln sind, die in dem Verkehr der beiden Geschlechter beobachtet werden sollten, können sie freilich nicht als Verletzungen der Regeln der Gerechtigkeit betrachtet werden. Sie bilden indessen im allgemeinen doch immer Verletzungen einer ziemlich klaren Regel und haben wenigstens bei dem einen Geschlecht die Wirkung, Schande über die Person zu bringen, die sich ihrer schuldig gemacht hat, und haben infolgedessen, wenn die schuldige Person gewissenhaft ist, eine gewisse Scham und Zerknirschung der Seele zur Folge. Drittens Übertretungen der Regeln der Wahrhaftigkeit. Es ist bemerkenswert, daß die Verletzung der Wahrheit nicht immer eine Verletzung der Rechtspflicht darstellt – obwohl dies in vielen Fällen zutrifft – und daß sie infolgedessen den Schuldigen nicht
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immer äußeren Strafen auszusetzen vermag. Das Laster gewöhnlicher Lügenhaftigkeit ist zwar eine erbärmliche Gemeinheit, mag aber häufig niemandem Schaden bringen, und in diesem Falle kann weder dem Betrogenen noch anderen Personen ein berechtigter Anspruch auf Ahndung oder Genugtuung zustehen. Wenn die Verletzung der Wahrheit aber auch nicht immer ein Vergehen gegen die Rechtsordnung darstellt, so ist sie doch immer die Übertretung einer höchst klaren Regel und pflegt naturgemäß in der Person, die sich ihrer schuldig gemacht hat, die höchste Scham zu wecken. Kleine Kinder scheinen einen instinktartigen Hang zu besitzen, alles zu glauben, was man ihnen erzählt. Die Natur scheint es als für die Erhaltung der Kinder notwendig erachtet zu haben, daß sie wenigstens eine gewisse Zeit hindurch gegen diejenigen blindes Vertrauen hegen, denen die Obsorge für ihre Kindheit und für den frühesten und wichtigsten Abschnitt ihrer Erziehung anvertraut ist. Demgemäß ist ihre Leichtgläubigkeit überaus groß und es erfordert eine lange und umfassende Erfahrung von der Falschheit der Menschen, um ihnen ein vernünftiges Maß von Mißtrauen und Argwohn beizubringen. Unter erwachsenen Menschen ist der Grad der Leichtgläubigkeit zweifellos sehr verschieden. Die weisesten und erfahrensten Menschen sind im allgemeinen die am wenigsten leichtgläubigen. Aber der Mensch ist kaum zu finden, der nicht immer noch leichtgläubiger wäre, als er es sein sollte, und der nicht in vielen Fällen solchen Geschichten Glauben schenken würde, die sich nicht nur schließlich als vollständig unwahr erweisen, sondern bezüglich deren ihn schon eine ganz oberflächliche Überlegung und ein wenig Aufmerksamkeit hätte lehren können, daß sie nicht wohl wahr sein können. Der natürliche Hang geht immer dahin, zu glauben. Nur die nach und nach erworbene Weisheit und Erfahrung lehren den Menschen, ungläubig zu sein, und sehr selten lehren sie ihn dies in genügendem Maße. Auch der Weiseste und Vorsichtigste von uns schenkt
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häufig noch so unwahren Geschichten Glauben, daß er sich nachher schämt und zugleich verwundert, wie er auch nur daran denken konnte, sie für wahr zu halten. Derjenige, dem wir Glauben schenken, ist notwendig in den Dingen, bezüglich deren wir ihm eben glauben, unser Führer und Lehrer und wir blicken mit einer gewissen Achtung und Verehrung zu ihm empor. Wie wir aber, wenn wir andere Menschen bewundert haben, selbst schließlich wünschen, bewundert zu werden, so gelangen wir – wenn wir durch andere belehrt und geführt wurden – schließlich zu dem Wunsche, selbst Lehrer und Führer zu werden. Und wie es uns auf die Dauer nicht Befriedigung gewähren kann, bloß bewundert zu werden, sofern wir nicht zugleich selbst die Überzeugung gewinnen können, daß wir in gewissem Maße der Bewunderung wahrhaft würdig sind, so kann es uns auf die Dauer keine Befriedigung gewähren, daß man uns Glauben schenkt, sofern wir uns nicht zugleich dessen bewußt sind, daß wir wahrhaft des Vertrauens würdig sind. Wie das Verlangen nach Lob und jenes nach Lobenswürdigkeit zwar miteinander sehr nahe verwandt, aber doch eben verschiedene und getrennte Wünsche sind, so sind der Wunsch, daß man uns Glauben schenken möge, und der, daß wir des Vertrauens würdig seien, zwar auch sehr nahe miteinander verwandt, aber es sind eben doch auch zwei voneinander verschiedene und getrennte Wünsche. Der Wunsch, daß man uns Glauben schenken möge, der Wunsch, andere Leute zu überzeugen, zu führen und zu leiten, scheint eine der stärksten von allen natürlichen Begierden zu sein. Er ist vielleicht der Trieb, auf den sich das Vermögen zu sprechen, gründet, also das für die menschliche Natur charakteristische Vermögen. Kein anderes Lebewesen besitzt diese Fähigkeit und bei keinem anderen Lebewesen können wir den Wunsch entdecken, die Urteile und das Verhalten seiner Artgenossen zu führen und zu leiten. Der hohe Ehrgeiz, das Verlangen nach wirk-
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licher Überlegenheit, das Verlangen, zu führen und zu leiten, scheint durchaus dem Menschen eigentümlich zu sein, und die Sprache ist das Hauptwerkzeug, dessen sich der Ehrgeiz bedient, um sich eine wirkliche Überlegenheit über die anderen zu verschaffen, und um deren Urteile und Verhalten zu führen und zu leiten. Es ist immer kränkend für uns, wenn man uns keinen Glauben schenkt, und es ist doppelt kränkend, wenn wir argwöhnen müssen, daß man uns nicht glaubt, weil man uns für unglaubwürdig und für fähig hält, andere ernstlich und absichtlich zu täuschen. Einem Menschen zu sagen, daß er lügt, ist die tödlichste von allen Beschimpfungen. Wer aber andere ernstlich und absichtlich täuscht, der ist sich notwendig dessen bewußt, daß er diese Beschimpfung verdient, daß er nicht würdig ist, Glauben zu finden, daß er jeden Anspruch auf jenes Vertrauen verwirkt hat, das ihm doch allein in der Gesellschaft von seinesgleichen ein ruhiges, angenehmes und zufriedenes Leben ermöglichen kann. Ein Mann, der das Unglück hätte, sich vorstellen zu müssen, daß niemand auch nur ein Wort von dem glaubt, was er sagt, würde die Empfindung haben, daß er aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen ist, würde vor dem bloßen Gedanken zurückschrecken, sich in die Gesellschaft zu begeben oder vor die Augen der Menschen zu treten, und könnte, wie ich glaube, kaum ein anderes Schicksal haben, als vor Verzweiflung zu sterben. Es ist indessen wahrscheinlich, daß kein Mensch jemals triftige Gründe hatte, diese demütigende Meinung von sich selbst hegen zu müssen. Selbst ein notorischer Lügner spricht, wie ich glaube, wenigstens zwanzigmal die reine Wahrheit gegenüber einem Mal, daß er mit Ernst und Überlegung lügt ; und wie bei dem vorsichtigsten Menschen die Neigung, dem anderen Glauben zu schenken, den Hang zum Zweifel und zum Mißtrauen zu überwiegen pflegt, so überwiegt selbst bei denjenigen Menschen, die am wenigsten auf die Wahrheit achten, doch in der Mehrzahl der Fälle die Neigung,
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die Wahrheit zu sagen, über den Hang, die anderen zu täuschen oder in irgendeiner Hinsicht die Wahrheit zu verändern oder zu entstellen. Es kränkt uns, wenn wir einmal andere Menschen, obwohl unabsichtlich und nur, weil wir selbst getäuscht wurden, in Irrtum führen. Obwohl diese unbeabsichtigte Unwahrheit häufig kein Zeichen eines Mangels an Wahrhaftigkeit oder auch nur eines Mangels der vollkommensten Liebe zur Wahrheit sein mag, so ist sie doch immer bis zu einem gewissen Grad ein Zeichen von Mangel an Urteilskraft, von Mangel an Gedächtnis, von ungehöriger Leichtgläubigkeit, von einer gewissen Voreiligkeit und Unbesonnenheit. Sie vermindert immer unsere Autorität, um andere zu überzeugen, und läßt stets unsere Fähigkeit, andere zu führen und zu leiten, in einem schlechten Licht erscheinen. Derjenige, der mitunter aus Versehen andere in Irrtum führt, ist jedoch durchaus verschieden von demjenigen, der imstande ist, andere absichtlich zu täuschen. Dem ersteren kann man in vielen Fällen ruhig vertrauen, dem letzteren kann man sehr selten auch nur in irgendeinem Falle Glauben schenken. Offenheit und Freimütigkeit erwerben uns Vertrauen. Wir trauen demjenigen, der stets bereit scheint, uns zu trauen. Wir meinen den Weg klar vor uns zu sehen, auf dem er uns zu führen beabsichtigt, und wir überlassen uns mit Vergnügen seiner Führung und Leitung. Zurückhaltung und Geheimtuerei dagegen rufen Mißtrauen hervor. Wir scheuen uns, einem Menschen zu folgen, von dem wir nicht wissen, wohin er geht. Das große Vergnügen der Geselligkeit und der Unterhaltung mit anderen entspringt überdies aus einer gewissen Übereinstimmung der Empfindungen und Meinungen, aus einer gewissen Harmonie der Seelen, die wie ebensoviele musikalische Instrumente miteinander harmonieren und den gleichen Takt halten. Aber diese höchst erfreuliche Harmonie kann man nicht erreichen, sofern nicht ein freier Austausch der Empfindungen und Meinungen stattfindet.
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Aus diesem Grunde wünschen wir alle, zu wissen, wie der andere durch einen Vorfall berührt wird, wir wünschen in des anderen Busen gleichsam einzudringen und die Empfindungen und Neigungen zu beobachten, die in Wahrheit hier herrschen. Derjenige, der uns in dieser natürlichen Leidenschaft unseren Willen tut, der uns in sein Herz einlädt, der uns gleichsam die Pforten seiner Brust öffnet, scheint eine Art von Gastfreundschaft gegen uns zu üben, die für uns erfreulicher ist als jede andere. Kein Mensch von halbwegs guter Gemütsart wird verfehlen, unser Wohlgefallen zu erregen, wenn er den Mut findet, seine wirklichen Empfindungen zu äußern, wie er sie fühlt, und weil er sie fühlt. Die rückhaltlose Aufrichtigkeit ist es, was uns sogar das Geplauder eines Kindes angenehm macht. Ist ein Mensch offenherzig, so macht es uns Vergnügen, uns in seine Ansichten, mögen sie auch noch so unzulänglich und unvollkommen sein, hineinzudenken, und wir bemühen uns, unseren Verstand gleichsam auf das Niveau seiner Fassungskraft herabzustimmen und jeden Gegenstand in dem Lichte zu sehen, in welchem er ihn betrachtet zu haben scheint. Diese Leidenschaft, die wirklichen Empfindungen der anderen zu ergründen, ist von Natur aus so stark, daß sie oft in eine lästige und unverschämte Neugierde ausartet, die auch in jene Geheimnisse des Nächsten einzudringen sucht, die dieser aus durchaus gerechtfertigten Gründen verbergen will ; und in vielen Fällen erfordert es Klugheit und ein starkes Gefühl für das sittlich Richtige, um diesen Affekt, wie alle anderen der Natur des Menschen eigenen Affekte zu beherrschen und ihn auf jenes Maß herabzustimmen, das ein unparteiischer Zuschauer gutzuheißen vermag. Diese Neugierde jedoch auch dort zu enttäuschen, wo sie sich innerhalb der Grenzen des Schicklichen hält und sich auf nichts richtet, das man aus triftigen Gründen zu verbergen hätte, das ist auf der anderen Seite ebenso ungehörig. Der Mann, der unseren unschuldigsten Fragen ausweicht, der auf unsere arglosesten Erkundigungen keine befriedigende Antwort gewährt, der sich
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offensichtlich in ein undurchdringliches Dunkel hüllt, scheint gleichsam sein Herz mit einer Mauer zu umgeben. Mit dem ganzen Eifer harmloser Neugierde stürmen wir vorwärts, um in diese Mauer einzudringen, und fühlen uns plötzlich mit der rohesten und beleidigendsten Gewalt zurückgestoßen. Ein Mensch, der sich in Zurückhaltung und Geheimtuerei gefällt, erscheint uns zwar selten als ein sehr liebenswerter Typus, aber er wird doch nicht mißachtet und geringgeschätzt. Wir haben den Eindruck, daß seine Gefühle uns gegenüber kühl sind, und ebenso kühl sind unsere Gefühle ihm gegenüber. Er wird nicht sehr gelobt oder geliebt, aber er wird ebensowenig gehaßt oder getadelt. Er hat es indessen selten nötig, seine Vorsicht zu bereuen, und ist im allgemeinen eher geneigt, sich selbst wegen der Klugheit seiner Zurückhaltung zu schätzen. Obwohl also sein Verhalten sehr fehlerhaft und mitunter sogar schädlich gewesen sein mag, wird er doch sehr selten geneigt sein, seinen Fall den Kasuisten vorzulegen oder sich einzubilden, daß er ihres Freispruchs oder ihrer Billigung bedürfe. Es verhält sich dagegen nicht immer ebenso mit demjenigen, der infolge falscher Information, infolge von Unaufmerksamkeit, Voreiligkeit oder Unbesonnenheit einen anderen unabsichtlich getäuscht hat. Wenn es sich um eine Angelegenheit von geringer Bedeutung handelt, etwa um die Erzählung irgendeiner alltäglichen Neuigkeit, so wird sich der Betreffende, wenn er wirklich ein wahrheitsliebender Mensch ist, seiner Unachtsamkeit schämen und wird nicht ermangeln, bei nächster Gelegenheit sich auf das nachdrücklichste zu entschuldigen. Handelt es sich um eine Angelegenheit von einiger Bedeutung, so wird seine Zerknirschung noch größer sein ; und wenn sich aus seinem falschen Bericht irgendwelche unglückliche oder unheilvolle Folgen ergeben haben, so wird er sich dies kaum jemals verzeihen können. Obwohl er nicht schuldig ist, fühlt er sich doch im höchsten Grade, was die Alten »sühnebedürftig« nannten, und ist ängstlich und eifrig dar-
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auf bedacht, jede Art von Genugtuung zu leisten, die in seiner Macht steht. Ein solcher Mensch dürfte häufig geneigt gewesen sein, seinen Fall den Kasuisten vorzulegen, die solchen Personen gegenüber im allgemeinen sehr günstig gesinnt gewesen sind und sie zwar mit Recht manchmal wegen Unbesonnenheit verurteilt, aber im allgemeinen von der Schande der Unwahrhaftigkeit freigesprochen haben. Am häufigsten aber hatte es derjenige nötig, sie zu Rate zu ziehen, der sich auf dem Boden der Zweideutigkeit und der Mentalreservation bewegte, derjenige, der den anderen mit ernstlicher und überlegter Absicht täuschte, der sich aber zugleich selbst mit der Vorstellung zu schmeicheln wünschte, daß er wirklich die Wahrheit gesprochen habe. Mit dieser Gestalt haben sie sich mannigfach beschäftigt. Sobald sie die Beweggründe des Betruges gebilligt haben, haben sie ihn manchmal freigesprochen, obwohl man, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zugeben muß, daß sie ihn im allgemeinen weit häufiger verurteilt haben. Die Hauptthemen der Werke der Kasuisten waren also folgende : die gewissenhafte Achtung, die wir den Regeln der Gerechtigkeit schuldig sind ; die Frage, inwieweit wir das Leben und Eigentum unseres Nächsten zu achten haben ; die Verpflichtung zum Schadenersatz ; die Gesetze der Keuschheit und Mäßigkeit und die Frage, worin das besteht, was sie in ihrer Sprache die Sünden der Begehrlichkeit nannten ; ferner die Gesetze der Wahrhaftigkeit und die Verbindlichkeit der Eide, Versprechen und der Verträge aller Art. Man kann von den Werken der Kasuisten im allgemeinen sagen, daß sie den vergeblichen Versuch machten, durch genaue und strikte Regeln zu bestimmen, was allein vor den Richterstuhl des Gefühls und der Empfindung gehört. Wie wäre es möglich, durch genaue Regeln den Punkt festzustellen, bei welchem in jedem Falle ein gewissenhafter Sinn für das Rechte in lächerliche und schwächliche Gewissensskrupel überzugehen beginnt ? Wo
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ist der Punkt, an welchem Verschwiegenheit und Zurückhaltung anfangen, Verstellung und Heuchelei zu werden ? Wie weit darf eine Ironie getrieben werden, um uns noch zu gefallen, und bei welchem genau festzustellenden Punkt beginnt sie in verwerfliche Lüge auszuarten ? Welches ist das höchste Maß von freiem und ungezwungenem Benehmen, das noch als anmutig und geziemend angesehen werden kann, und wo ist der Punkt, an dem es zuerst anfängt, in nachlässige und gedankenlose Ausgelassenheit überzugehen ? Von allen diesen Problemen läßt sich behaupten, daß, was in dem einen Falle gilt, kaum in einem anderen Falle genau so zutreffen würde, und daß dasjenige, was das schickliche und glückliche Benehmen ausmacht, in jedem einzelnen Falle mit der geringsten Änderung der Situation sich ebenfalls ändert. Bücher über Kasuistik sind deshalb im allgemeinen ebenso unnütz, wie sie gemeinhin langweilig zu sein pflegen. Sie könnten demjenigen wenig helfen, der sie bei irgendeiner Gelegenheit zu Rate ziehen wollte – vorausgesetzt sogar, daß ihre Entscheidungen richtig wären – weil trotz der großen Menge von Fällen, die in ihnen gesammelt sind, es doch angesichts der weit größeren Mannigfaltigkeit der möglichen Umstände ein bloßer Zufall wäre, wenn unter allen jenen in den Büchern angeführten Fällen auch nur einer gefunden werden könnte, der demjenigen genau parallel liegt, welcher hier in Frage steht. Ein Mensch, der wirklich darauf bedacht ist, seine Pflicht zu erfüllen, muß sehr schwach sein, wenn er sich einbilden kann, daß er dazu unbedingt derartige Bücher brauche ; und wenn es sich wieder um einen Menschen handelt, der nachlässig in bezug auf seine Pflichten ist, so ist der Stil jener Schriften durchaus nicht dazu angetan, ihn zu höherer Aufmerksamkeit anzuspornen. Keines dieser Bücher hat die Tendenz, uns zu allem, was schön und edel ist, zu begeistern. Keines dieser Bücher hat aber auch die Tendenz, unser Gemüt zu besänftigen und zu allem, was sanft und menschenfreundlich ist, zu bewegen. Dagegen wirken viele von diesen Büchern vielmehr dahin,
Siebenter Teil · Vierter Abschnitt
uns zu lehren, mit unserem eigenen Gewissen zu rechten, und dienen mit ihren eitlen Spitzfindigkeiten nur dazu, uns gerade gegenüber unseren wichtigsten Pflichten zu zahllosen Ausflüchten und Klügeleien zu ermächtigen. Jene lächerliche, kleinliche Genauigkeit, welche sie auf Gebieten einzuführen suchten, die dieser Genauigkeit nicht fähig sind, führte sie mit Notwendigkeit in jene gefährlichen Irrtümer und machte zugleich ihre Werke trocken und unangenehm, überfließend von dunklen und metaphysischen Unterscheidungen, dabei aber unfähig, in den Herzen der Leser eines jener Gefühle wachzurufen, die zu erwecken doch sonst der größte Nutzen jener Bücher ist, die von der Sittlichkeit handeln. Die zwei allein nützlichen Teile der Moralphilosophie sind demnach Ethik und Rechtslehre : die Kasuistik sollte ganz und gar verworfen werden und die alten Moralphilosophen scheinen hier weit einsichtsvoller gewesen zu sein, da sie bei der Behandlung des gleichen Gegenstandes keine solch strenge Exaktheit erheuchelten, sondern sich damit zufrieden gaben, in allgemeiner Weise zu beschreiben, welches die Empfindungen sind, auf die sich Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Wahrhaftigkeit gründen, und welches die gewöhnliche Art und Weise des Handelns ist, zu der uns jene Tugenden gemeinhin wohl antreiben dürften. Von einigen Philosophen scheint allerdings der Versuch gemacht worden zu sein, etwas zu schaffen, was der Lehre der Kasuisten nicht unähnlich war. Etwas Derartiges liegt vor in dem dritten Buch von Ciceros »Pflichten«, wo er sich wie ein Kasuist bemüht, Regeln für unser Verhalten in vielen heiklen Fällen aufzustellen, in denen es schwer ist, zu bestimmen, in welcher Richtung das sittlich richtige Verhalten liegen mag. Aus manchen Stellen dieses Buches gewinnt man auch den Eindruck, daß schon einige andere Philosophen vor ihm etwas dieser Art versucht haben. Weder Cicero noch diese anderen Philosophen scheinen jedoch die Absicht gehabt zu haben, ein vollständiges System dieser Art
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aufzustellen, sondern ihr Vorhaben war nur darauf gerichtet, zu zeigen, daß es Situationen geben kann, in welchen es zweifelhaft ist, ob hier die richtigste Art des Verhaltens darin liegt, daß man sich an die Vorschriften hält, welche in gewöhnlichen Fällen als die Regeln der Pflicht gelten, oder darin, daß man von diesen Vorschriften abweiche. Jedes System des positiven Rechtes kann als ein mehr oder weniger unvollkommener Versuch zu einem System des Naturrechtes betrachtet werden oder zu einer Aufzählung der einzelnen Regeln der Gerechtigkeit. Da die Verletzung der Gerechtigkeit ein Verhalten ist, das die Menschen niemals voneinander ruhig hinnehmen werden, ist die Obrigkeit gezwungen, die Macht des Gemeinwesens dazu zu verwenden, um die Übung dieser Tugend zu erzwingen. Ohne diese Vorsicht würde die bürgerliche Gesellschaft ein Schauplatz des Blutvergießens und der Unordnung werden, auf dem jedermann sich mit eigener Hand rächen würde, wann immer er sich einbildete, daß er beleidigt worden sei. Um die Verwirrung zu verhüten, die aus einem Zustand entstehen müßte, in welchem jedermann sich selbst sein Recht verschafft, unternimmt es in allen Staaten, in denen die Regierung eine leidliche Autorität erlangt hat, die Obrigkeit, allen Recht zu verschaffen, und verspricht sie, jede Klage über erlittenes Unrecht anzuhören und zu richten. Auch sind in allen wohlregierten Staaten nicht nur Richter eingesetzt, um die Streitigkeiten der einzelnen Bürger zu entscheiden, sondern auch Gesetze aufgezeichnet, um die Entscheidungen jener Richter zu leiten ; und diese Gesetze sollten im allgemeinen nach der Absicht der Gesetzgeber mit denjenigen des Naturrechtes übereinstimmen. Es trifft freilich nicht zu, daß die Gesetze in jedem einzelnen Falle von solcher Art sind. Manchmal lenkt das, was man die Staatsverfassung nennt, d. h. das Interesse der Regierung, manchmal auch das Interesse einzelner Stände, die die Regierung tyrannisieren, die positiven Gesetze des Landes von dem ab, was das Naturrecht vorschreiben wür-
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de. In manchen Ländern verhindert es die Roheit und Barbarei des Volkes, daß das natürliche Rechtsgefühl jene Feinheit und Bestimmtheit erreiche, zu der es sich bei höher zivilisierten Nationen allerdings naturgemäß erhebt. Ihre Gesetze sind wie ihre Sitten grob, roh und rücksichtslos. In anderen Ländern verhindert es die unglückliche Verfassung ihrer Gerichtshöfe, daß sich jemals eine geregelte Rechtsordnung bei ihnen auszubilden vermag, obwohl die verfeinerten Sitten des Volkes derart sein mögen, daß sie des vollendetsten Rechtssystems fähig wären. In keinem Lande fallen die Entscheidungen des positiven Rechtes genau in jedem einzelnen Falle mit den Regeln zusammen, welche das natürliche Rechtsgefühl vorschreiben würde. Die positiven Rechtsordnungen können deshalb – obwohl sie als Dokumente der Empfindungen der Menschheit in verschiedenen Zeitaltern und bei verschiedenen Völkern das höchste Ansehen verdienen – doch niemals als genau zutreffende Systeme der Regeln des Naturrechtes betrachtet werden. Man hätte vielleicht erwarten sollen, daß die Erörterungen, welche die Rechtsgelehrten über die verschiedenen Unvollkommenheiten und Verbesserungen des Rechtes in verschiedenen Ländern angestellt haben, ihnen schon Anlaß zu einer Untersuchung darüber hätte geben können, welches die natürlichen Regeln der Gerechtigkeit, unabhängig von allen positiven Einrichtungen, seien. Man hätte erwarten sollen, daß diese Erörterungen sie dahin hätten führen müssen, die Aufstellung eines Systemes anzustreben, das man mit gutem Recht als ein System des Naturrechtes hätte bezeichnen können, oder eine Theorie von den allgemeinen Prinzipien, welche sich durch die Gesetze aller Völker hindurchziehen und zugleich deren Grundlage bilden sollten. Obgleich aber die Erörterungen der Rechtsgelehrten etwas Derartiges hervorgebracht haben, und obgleich niemand die Gesetze eines einzelnen Landes systematisch behandelt hat, ohne in sein Werk mancherlei Beobachtungen dieser Art einzumengen, so
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ist man doch erst in letzter Zeit dazu gelangt, daß man an ein solches allgemeines System gedacht hat, oder daß die Rechtsphilosophie für sich allein und ohne Rücksicht auf die besonderen Einrichtungen irgendeines Volkes behandelt wurde. Bei keinem der alten Moralphilosophen finden wir den Versuch einer Aufzählung der einzelnen Regeln der Gerechtigkeit. Cicero handelt in seinen »Pflichten« und Aristoteles in seiner »Ethik« von der Gerechtigkeit in der gleichen allgemeinen Weise, in der sie von allen anderen Tugenden handeln. In den »Gesetzen« Ciceros und Platons, in denen wir doch eigentlich den Versuch einer Aufzählung jener Regeln der natürlichen Billigkeit hätten erwarten dürfen, die durch die positiven Gesetze eines jeden Staates erzwungen werden sollten, findet sich dennoch nichts von dieser Art. Ihre Gesetze sind Gesetze der Verwaltung, nicht Gesetze der Gerechtigkeit. Grotius scheint der erste gewesen zu sein, der den Versuch machte, der Welt so etwas wie ein System jener Prinzipien zu schenken, welche sich durch die Gesetze aller Nationen hindurchziehen und deren Grundlage bilden sollten ; und sein Werk über das Recht des Krieges und des Friedens ist mit allen seinen Unvollkommenheiten vielleicht bis zum heutigen Tage das vollendetste Werk, das über dieses Thema geschrieben worden ist. Ich werde in einer anderen Abhandlung eine Darstellung der allgemeinen Prinzipien des Rechtes und der Regierung zu geben versuchen, sowie der verschiedenen Umwälzungen, die sie in den verschiedenen Zeitaltern und Epochen der Gesellschaft durchgemacht haben, und zwar nicht nur insofern es sich um die Gerechtigkeit (oder Rechtspflege) handelt, sondern auch was Verwaltung, Staatseinkünfte und Militärwesen, und alle sonstigen Gegenstände der Gesetzgebung anbelangt. Ich werde deshalb jetzt auf weitere Einzelheiten in bezug auf die Geschichte der Rechtswissenschaft (und des Rechts) nicht eingehen.
ANMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS
(S. 13) Smith denkt an Mandeville und Larochefoucauld, die er später ausdrücklich zitiert, wohl auch an Hobbes. (S. 41) Auf diese Ausführungen über den Ausdruck körperlicher Schmerzen bezieht sich Lessing in seinem Laokoon (IV , 3), indem er den Philoktet des Sophokles gegen den Vorwurf eines Verstoßes gegen den guten Anstand in Schutz nimmt und darauf verweist, daß »nichts betrüglicher sei, als allgemeine Regeln für unsere Empfindungen.« (S. 43) Smith meint die Tragödie »Philoktetes« von Sophokles. (S. 43) Hippolytus in dem gleichnamigen Trauerspiel des Euripides. (S. 43) Smith denkt an die »Trachinierinnen« des Sophokles. (S. 46) Abraham Cowley, 1618–1667. Francesco Petrarca, 1304– 1374, bekanntlich einer der bedeutendsten italienischen Lyriker. Horaz scheint von Smith besonders geschätzt worden zu sein. Bonar führt in seinem Katalog von Smiths Bibliothek zehn verschiedene Horazausgaben an. (S. 46) Albius Tibullus, der hervorragendste unter den römischen Elegikern, lebte 54–19 v. Chr. Unter den »glücklichen Inseln« meint S. jedenfalls die Inseln der Seligen, µακάρων νῆσοι, auf welchen nach griechischer Vorstellung die von den Göttern geliebten Sterblichen nach dem Tode im Vollgenuß des Glücks weiterleben. Besonders geschildert von Hesiod und Pindar. (S. 47) Das Stück ist von Thomas Otway (1651–1685) verfaßt und führt den Titel »Die Waise oder die unglückliche Ehe«. Monimia, eine Waise, lebt unter der Obhut eines alten Hofmanns, dessen beide Söhne Castalio und Polydor Monimia lieben. Sie selbst gibt Castalio den Vorzug ; insgeheim heiraten Castalio und Monimia und vereinbaren, daß Castalio auf ein bestimmtes Zeichen von Monimia in ihr Gemach eingelassen werden soll. Dabei soll kein Licht entflammt und kein Wort gesprochen werden, damit niemand von der heimlichen Ehe erfahre.
Anmerkungen des Herausgebers
Polydor hat dieses Gespräch belauscht und, ohne von der Heirat zu wissen, macht er von dem Zeichen Gebrauch und wird von Monimia eingelassen. Am nächsten Tag stellt sich der wahre Sachverhalt heraus, Polydor wird von Castalio erstochen, Monimia und Castalio begehen Selbstmord. (S. 48) Smith meint die »Phèdre« des Racine, die, nach dem Vorbild von Senecas Drama gearbeitet, die Gestalt der Phädra schon darum sympathischer erscheinen läßt, weil die Verleumdung Hippolyts nicht wie in der Tragödie des Euripides von Phädra selbst, sondern von ihrer Amme Oenone ausgeht. (S. 50) Gemeint ist offenbar Shakespeares »Othello«. (S. 70) Die Anmerkung, welche in der 2. Auflage zum erstenmal beigefügt wurde, bezieht sich auf einen Einwand, welchen David Hume in einem Brief an Smith nach dem Erscheinen der 1. Auflage erhoben hatte. Der Brief (abgedruckt bei J. H. Burton, Life and correspondence of David Hume, Edinb. 1846 Bd. II , S. 59, wiederveröffentlicht bei Rae, S. 145) trägt das Datum 28. Juli 1759 ; die in Frage stehende Stelle lautet : »Ich höre, daß Sie eben eine neue Auflage vorbereiten und schlage Ihnen vor, einige Zusätze und Änderungen vorzunehmen, um dadurch gewissen Einwendungen zu begegnen. Ich werde mir die Freiheit nehmen, eine solche Änderung vorzuschlagen, die Sie, falls sie Ihnen irgend von Wichtigkeit zu sein scheint, im Auge behalten mögen. Ich wünschte, Sie hätten den Beweis Ihrer Behauptung, daß alle Arten von Sympathie angenehm seien, mehr ins Einzelne und gründlicher durchgeführt. Es ist dies der Angelpunkt Ihres Systems und doch erwähnen Sie die Frage auf Seite 20 nur ganz im Vorübergehen. Nun möchte es aber scheinen, daß es ebenso auch eine unangenehme Sympathie gibt, wie eine angenehme. Und in der Tat muß der sympathetische Affekt, da er nur ein Spiegelbild des ursprünglichen Affekts ist, an dessen Eigenschaften teilnehmen und deshalb schmerzlich sein, sobald dieser es ist. Freilich, wenn wir mit einem Menschen umgehen, mit dem wir vollkommen sympathisieren können, das heißt, wenn uns mit ihm eine warme und innige Freundschaft verbindet, dann überwindet die herzliche Offenheit eines solchen Verkehres den Schmerz und die Unlust eines unangenehmen Sympathiegefühles und macht
Anmerkungen des Herausgebers
die ganze Gemütsbewegung angenehm ; aber in einem gewöhnlichen Falle kann dies nicht eintreten. Ein Mensch, der gegen alles und jedes Überdruß und Widerwillen empfindet, der beständig gelangweilt und unpäßlich ist, der sich fortwährend über irgend etwas beklagt und stets in alle möglichen Widerwärtigkeiten verwickelt ist, ein solcher Mensch verbreitet zweifellos eine Art von Niedergeschlagenheit über seine Umgebung, welche man, wie ich glaube, als Sympathie betrachten wird, und die dennoch unangenehm ist. Es wird immer für ein schwieriges Problem gehalten, das Wohlgefallen zu erklären, welches aus den Tränen, dem Kummer und der Sympathie mit den Vorgängen eines Trauerspieles entsteht, und doch wäre dies kein Problem, wenn jede Sympathie angenehm wäre. Ein Spital wäre dann ein unterhaltlicherer Ort als ein Ballsaal. Ich fürchte, daß dieser Satz auf Seite 99 und 111 Ihnen wider Willen entschlüpft ist oder vielmehr sich in Ihre Argumentation eingemengt hat. Sie sagen an dieser Stelle ausdrücklich : ›Es ist schmerzlich, den Kummer des anderen mitzuempfinden, und nur mit Widerstreben nehmen wir jedesmal an ihm teil.‹ Es wird wohl notwendig sein, daß Sie diesen Gedanken ändern oder erklären und mit Ihrem System in Einklang setzen.« Die Anmerkung auf S. 70 bildet die Entgegnung auf diesen Brief. Die Anmerkung enthielt übrigens in den früheren Auflagen noch einen Schlußsatz der folgenden Wortlaut hatte : »Zwei Töne können, meine ich, jeder für sich allein genommen, mißtönend sein, doch kann uns, wenn sie vollkommen zusammenstimmen, die Wahrnehmung ihrer Harmonie und ihres Zusammenklingens angenehm dünken.« (S. 74) Die Stelle bei Seneca auf welche Smith hier anspielt, dürfte »De Providentia« 2,9 sein : »Non video, quid habeat in terris Juppiter pulchrius si eo convertere animum velit quam ut spectat Catonem iam partibus non semel fractis stantem nihilominus inter ruinas publicas rectum [. . . etc.]« (S. 74) Vgl. Platon, »Phädon«, 117 C ff. (S. 76) Charles de Gontaut, Herzog von Biron, 1562–1602, Marschall von Frankreich, wurde wegen hochverräterischer Verbindung mit den Spaniern vom Parlament zum Tode verurteilt und in der Bastille hingerichtet.
Anmerkungen des Herausgebers
(S. 81) Karl I wurde im Jahre 1649 vom Rumpfparlament wegen Hochverrats verurteilt und am 30. 1. öffentlich hingerichtet. (S. 82) Smith spielt hier auf die Theorie der Volkssouveränität und die Lehre vom »Widerstandsrecht« an, wie sie von den Monarchomachen des 16. Jahrhunderts und im 17. Jahrhundert insbesondere von Milton, Locke und Sidney vertreten wurde, an welche letzteren S. wohl in erster Linie denkt. (S. 83) Am 12. Dezember 1688 wurde Jakob II ., der sich an der Küste von Kent eingeschifft hatte, um aus England zu fliehen, an Bord des Schiffes, das infolge ungünstiger Winde nicht auslaufen konnte, von einer Fischerbande überfallen, die unter den Passagieren wohlhabende Aristokraten vermutete, und wurde von den Fischern, die ihn nicht erkannten, unter Mißhandlungen festgenommen und als Gefangener an Land gebracht. (Vgl. Macaulay, Gesch. Englands, üb. v. Bülau, II , S. 519 ff.) (S. 85) »Sein Geschichtsschreiber.« Gemeint ist Voltaire, in dessen Werk »Siècle de Louis XIV « sich die hier angezogene Stelle in chapitre X XV findet. Sie lautet wörtlich : »Le roi l’emportait sur tous ses courtisans par la richesse de sa taille et par la beauté majestueuse de ses traits. Le son de sa voix, noble et touchant, gagnait les cœurs qu’intimidait sa présence. Il avait une démarche qui ne pouvait convenir qu’à lui et à son rang, et qui eut été ridicule en tout autre. L’embarras qu’il inspirait à ceux qui lui parlaient, flattait en secret la complaisance avec laquelle il sentait sa supériorité. Ce vieil officier qui se troublait, qui bégayait, en lui demandant une grâce, et qui, ne pouvant achever son discours, lui dit : ›Sire, je ne tremble pas ainsi devant vos ennemis,‹ n’eut pas de peine à obtenir ce qu’il demandait.« (Ausgabe bei Flammarion, I., S. 312.) Der Text folgt natürlich auch hier der nicht ganz genauen englischen Übersetzung, welche Smith von der Stelle gibt. (S. 88) Perseus von Mazedonien, in der Schlacht bei Pydna (168 v. Chr.) von dem römischen Feldherrn L. Aemilius Paulus besiegt und bald darauf gefangen genommen, wurde von letzterem in seinem Triumphzug als Gefangener mitgeführt. Die Schilderung, welche Smith gibt, beruht auf der Erzählung bei Plutarch, »Leben des Paulus Aemilius«, cap. X X XV sequ., wo alle diese Einzelheiten berichtet werden.
Anmerkungen des Herausgebers
(S. 89) Das Zitat aus La Rochefoucauld ist hier nach Smiths Übersetzung wiedergegeben, der auch diesmal nicht genau zitiert. Die Stelle findet sich in La Rochefoucaulds »Réflexions Morales«, trägt die Ziffer CDXC und hat folgenden Wortlaut : »On passe souvent de l’amour à l’ambition, mais on ne revient guère de l’ambition à l’amour.« (S. 93) Jean François Paul de Gondi, Kardinal von Retz (1614– 1679). Die zitierte Stelle findet sich in den im Jahre 1717 erschienenen Memoiren des Kardinals und hat folgenden Wortlaut : »Les plus grands dangers ont leurs charmes pour peu que l’on aperçoive de gloire dans la perspective des mauvais succés ; les mediocres n’ont que des horreurs quand la perte de la réputation est attachée à la mauvaise fortune.« (Oeuvres, ed. Feillet, Paris 1872, II , S. 68.) (S. 98) Maximilian von Béthune, Herzog von Sully, 1560–1641, Großmeister der Artillerie unter Heinrich IV ., später Marschall von Frankreich. Sullys Worte lauteten : »Sire, quand le roi votre père, de glorieuse mémoire me faisait l’honneur de m’appeler pour m’entretenir des affaires, au préalable il faisait sortir les bouffons.« (Nach Biographie Universelle, IV /434.) (S. 101) Schlacht bei Pharsalus, 48 v. Chr., Sieg Caesars über Pompeius, von dessen Anhängern eine sehr große Zahl getötet wurde. Darüber, daß Caesar keine Leibwache duldete, vgl. Mommsen, III , 487. M. Claudius Marcellus, 44 v. Chr. von Caesar begnadigt. Smith dürfte bei dieser Stelle Ciceros Rede Pro Marcello im Auge gehabt haben, die aus Anlaß dieser Begnadigung im Senat gehalten wurde. In dieser Rede heißt es (8, 25) : »Itaque illam tuam praeclarissimam et sapientissimam vocem invitus audivi : satis diu vel naturae vixi vel gloriae. Satis si ita vis fortasse naturae, addo etiam, si placet, gloriae : at quod maximum est patriae certe parum. Qua re omitte istam, quaeso, doctorum hominum in contemnenda morte prudentiam : noli nostro periculo esse sapiens . . . « Es scheint mir beachtenswert, daß Smith im Text eine ähnliche Steigerung bringt wie Cicero, wenn auch mit entgegengesetzter Tendenz, so daß man eine vielleicht Smith selbst unbewußte Beeinflussung durch Cicero annehmen darf, da S. wohl auch hier wie gewöhnlich auswendig zitiert hat. (S. 117) P. Cornelius Scipio Africanus, der Sieger im zweiten
Anmerkungen des Herausgebers
Punischen Krieg ; M. Furius Camillus, römischer Feldherr (der »zweite Gründer Roms«), Timoleon korinthischer, Aristides athenischer Feldherr. (S. 127) Es scheint, daß Smith hier an Hume gedacht hat. Hume handelt von der Gerechtigkeit im 3. Abschnitt der »Principles of morals« und im III . Anhang zu dieser Schrift, an letzterer Stelle auch insbesondere von dem Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und den sozialen Tugenden der Menschlichkeit und der Nächstenliebe, wobei hervorgehoben wird, daß diese Tugenden sich an einen bestimmten Einzelnen wenden und mit der Förderung dieses Einzelnen zufrieden sind, während die Gerechtigkeit auf das Wohl der Gesamtheit abzielt. Weder an diesen Stellen jedoch, noch in der Abhandlung über die menschliche Natur findet sich ein Hinweis auf jene höhere Verpflichtung gegenüber der Gerechtigkeit, von der Smith spricht. (S. 141) Smith scheint hier an Hume zu denken. In dem 3. Abschnitt der »Principles of morals«, der die Überschrift »Über die Gerechtigkeit« trägt (ähnlich übrigens bereits in dem »Treatise on human nature«), versuchte Hume den Nachweis zu erbringen, »daß der Nutzen für die Allgemeinheit der alleinige Ursprung der Gerechtigkeit sei, und daß Erwägungen über die wohltätigen Folgen dieser Tugend die einzige Grundlage ihrer Verdienstlichkeit bilden.« (S. 150) In seinen Vorlesungen über Rechtswissenschaft, welche Cannan herausgegeben hat, verwies Smith selbst darauf, daß nach dem Recht mancher Länder das Schwert oder sonstige Werkzeug, welches einen Menschen getötet hatte, für verabscheuungswürdig galt und deshalb vernichtet wurde, so insbesondere in Athen. Ebenso nach altem englischen Recht : ein solcher Gegenstand galt als »Deodand« d. h., wie Smith hinzufügt, er war dem Teufel verfallen ; in späterer Zeit wurde der Gegenstand für wohltätige Zwecke verwendet. (Smith, »Lectures on jurisprudence«, S. 141). (S. 152) Die Tötung von Tieren, welche den Tod von Menschen verursacht hatten, ist nicht nur bei Primitiven, sondern auch bei den meisten alten Kulturvölkern üblich gewesen. In Europa sind seit dem 13. Jahrhundert förmliche Tierprozesse und Hinrichtungen von Tieren nachzuweisen.
Anmerkungen des Herausgebers
(S. 152) Der »Türkische Spion«, abgekürzte Bezeichnung des anonym erschienenen Werkes von Giovanni Paolo Marana aus Genua (1642–1693) »L’espion du Grand-Seigneur dans les cours des princes chretiens« in 9 Bänden 1756. Der 1. Band erschien 1684 unter dem Titel : »L’Espion du Grand-Seigneur et ses Relations secrètes. Envoyées au Divan de Constantinople, et découvertes à Paris pendant le règne de Louis le Grand ; traduites de l’arabe en italien par le Sieur Jean Paul Marana, et de l’italien en françois par . . . (Ces Relations contiennent les Evenemens les plus considerables de la Chrestienté et de la France, depuis l’Année 1637 jusques en l’Année 1682.) Amsterdam. Chez H. Wetstein et H. des Bordes, 1684.« Die von Smith zitierte Stelle findet sich im 36. Brief des 3. Bandes. (S. 159) Im dritten Mithradatischen Kriege übernahm Pompeius, 66 v. Chr., den Oberbefehl von Lucullus. Smith folgt hier, wie es scheint, der Darstellung des Plutarch im »Leben des Lucullus«, cap. l ii . (S. 161) Diese Bestimmung des schottischen Rechts kann nicht als Ausdruck der Milde angesehen werden, sondern war wohl wie in den meisten germanischen Rechten eine Art Beweis für den Kausalzusammenhang zwischen Verletzung und Tod ; auch im langobardischen und in mehreren nordischen Rechten bestand diese Frist von einem Jahre. (Vgl. Brunner, »Deutsche Rechtsgeschichte« II , § 138, S. 630). Sie findet sich übrigens auch im englischen Recht. (Vgl. Stephen, »History of the criminal law of England«, III , S. 8.) (S. 162) Die Todesstrafe für Taschendiebstahl wurde in England erst 1808 aufgehoben. (S. 164) Diese Erzählung stammt aus Plutarch, »Leben des Lucullus«, cap. X X XVII . Der herannahende Feind war Lucullus mit seinem Heer, der unvermutet in Armenien eingebrochen war. (S. 166) Das Zitat findet sich in dieser Form nicht im »Corpus juris« und scheint aus dem Gedächtnis wiedergegeben zu sein. (S. 166) Ein Fall von Erfolgshaftung, wie sie in mittelalterlichen germanischen Rechten häufig vorkommt, z. B. im »Schwabenspiegel« und in vielen deutschen Stadtrechten. (S. 168) Die »Lex Aquilia« enthielt Bestimmungen über die rechtswidrige Beschädigung fremder Sachen (in erster Linie fremder
Anmerkungen des Herausgebers
Sklaven und Haustiere). Zu dem von Smith erwähnten Fall vgl. § 8 Inst. (4, 3) : »Eadem placuerunt de eo quoque, qui cum equo veheretur impetum eius aut propter infirmitatem suam aut propter imperitiam suam retinere non potuerit«. (S. 174) Oedipus und Jokaste in dem »König Oedipus« des Sophokles. Isabella heißt die Heldin in der Tragödie des Thomas Southerne (1659 bis 1746) »Isabella oder die verhängnisvolle Ehe«. Der Inhalt dieser Tragödie ist kurz folgender : Isabella, die ihren Gatten Biron im Kriege gefallen glaubt, läßt sich vorschnell zu einer zweiten Ehe bewegen. Biron, den sie immer noch liebt, kehrt unerwartet zurück. Das Unglück der Heldin endet in Wahnsinn und Tod. (Vgl. die »Cyclopaedia of English Literature von Chambers« I, S. 605 f.). Zur Sache selbst vergleiche die Bemerkungen des Aristoteles, »Poetik« 13, 1453, 9 u. 16 : der tragische Held darf nicht durch seine Schlechtigkeit und Lasterhaftigkeit (διὰ κακίαν καὶ µοχθηρίαν) ins Unglück gestürzt sein, sondern durch einen großen Fehler (δἰ ἁµαρτίαν µεγάλην) ; Aristoteles gibt derjenigen Tragödie den Vorzug, in der das Fürchterliche (τὸ δεινόν) unwissentlich verübt wird, wie im Ödipus des Sophokles (1453 b 30), wie denn auch unser Mitleid nicht dem bösen Menschen zuteil wird, wenn er ins Unglück stürzt, sondern demjenigen, der ein solches Unglück nicht verdient hat. (1453, 4 : δ µὲν [sc. ἔλεος] γὰρ περὶ τὸν ἀνάξιόν ἐστι δυστυχοῦντα.) (S. 194) Der unglückliche Calas ist durch Voltaires erfolgreiche Bemühungen um Wiederaufnahme des Prozesses und Rehabilitierung des Hingerichteten sowie seiner Angehörigen berühmt geworden. Brougham vermutet, daß Smith während seines Aufenthaltes in Toulouse, wo Calas gelebt und wo sich seine Verurteilung und Hinrichtung abgespielt hatte, diese Anekdote gehört hat, vorausgesetzt, wie er vorsichtig hinzufügt, daß sie nicht schon in früheren Auflagen enthalten wäre. Smiths Aufenthalt in Toulouse fällt in die Jahre 1764 und 1765, die Stelle findet sich aber tatsächlich erst in der 6. Auflage von 1790. Calas war zwei Jahre vor Smiths Ankunft in Toulouse hingerichtet worden und die Stadt befand sich gerade damals in großer Aufregung über den Wiederaufnahmeprozeß, der im März 1765 zur Rehabilitierung führte (vgl. Rae, S. 186).
Anmerkungen des Herausgebers
(S. 199) Racines »Phèdre« war 1677 infolge der Intrigen einiger Gegner, die gleichzeitig mit der Premiere ein eigens zu diesem Zweck bestelltes Stück »Phèdre et Hippolyte« von einem gewissen Pradon aufführen ließen, durchgefallen. (S. 199) Popes »Dunciade«, d. h. das »Lied von den Dummköpfen«, 1728 und 1742 erschienen, war eine scharfe Satire gegen einige literarische Gegner, insbesondere gegen den Shakespeare-Herausgeber Theobald und den Dichter Colley Cibber. (S. 199) Thomas Gray, 1716-1771, bekannter englischer Dichter. . (S. 199) Dr. Robert Simson, Professor in Glasgow, bei dem Smith zusammen mit dem hier erwähnten Matthew Stewart Mathematik hörte. (S. 201) Nicolas Boileau-Despréeaux 1636-1711, Philippe Quinault 1635 bis 1688, Charles Perrault 1628–1703, Antoine Houdart de La Motte 1672–1731, Jean Lafontaine 1621–1695, bekannte französische Dichter und Schriftsteller. (S. 201) Joseph Addison 1672–1719, englischer Dichter und Gelehrter. (S. 201) Bernard le Bovier de Fontenelle 1657–1757, ständiger Sekretär der »Académie des sciences«, verfaßte eine »Histoire de l’Académie des sciences« sowie »Eloges des Académiciens«. Jean le Rond d’Alembert 1717–1783, Philosoph und Mathematiker, seit 1772 Sekretär der »Académie Francaise«. Smith besaß d’Alemberts »Eloges lus dans les séances publiques de l’Académie Françoise« 6 Bände, Paris 1779. (Nach Bonars Catalogue, S. 2). (S. 203) Smith meint wohl La Rochefoucauld und Mandeville, von denen er im 7. Teil spricht, vielleicht auch Helvetius, den er bei Abfassung dieser Stelle – er hatte ihn 1766 in Paris persönlich kennengelernt – bereits kannte. (S. 205) Vgl. Cicero, »De officiis« I, 71fr. : »Sunt enim, qui in rebus contrariis parum sibi constent, voluptatem severissime contemnant, in dolore sint molliores, gloriam neglegant, frangantur infamia, atque ea quidem non satis constanter.« (S. 209) D. h. ein Weg an den englischen bzw. französischen Hof. (S. 209) Jean Baptiste Massillon, berühmter französischer Kan
Anmerkungen des Herausgebers
zelredner. Die Stelle, welche Smith (mit einigen interessanten Abweichungen) zitiert, findet sich in dem »Discours prononcé à une bénediction des drapeaux du régiment Catinat« und hat folgenden Wortlaut : »Et ce qu’il y a ici le plus déplorable pour vous Messieurs, c’est que dans une vie rude et pénible, dans des emplois dont les dévoirs passent quelquefois la rigueur et les travaux des Cloîtres les plus austères, vous souffrez toujours en vain pour l’autre vie et très-souvent pour celle-ci. Ah ! du moins le Solitaire dans sa retraite, obligé de mortifier sa chair et de la soumettre à l’esprit, est soutendu par l’espoir d’une récompense assurée, et par l’onction secrete de la grace qui adoucit le joug du Seigneur. Mais vous au lit de la mort oserez-vous présenter à JesusChrist vos fatigues et les désagréments journaliers de votre emploi ? Oserez-vous le solliciter d’une récompense ? Et qu’a-t-il du mettre sur son compte dans toutes les violences que vous êtes faites ? Cepandant les plus beaux jours de votre vie, vous les avez sacrifiés à votre profession ; dix ans de services ont plus usé votre corps qu’une vie entière de pénitence : eh mon Frère un seul jour de ces souffrances consacré an Seigneur vous auroit peut-être valu un bonheur éternel ; une seule action pénible à la nature et offerte à Jésus-Christ vous auroit peut-etre assuré l’heritage des Saints ; et vous en avez tant fait en vain pour le mondel« (Ausgabe vom Jahre 1748, Band »Petit Carème«, S. 348.) (S. 211) Die von Smith zitierte Stelle findet sich in Voltaires »Pucelle« im 5. Gesang und lautet : »Vous y grillez, sage et docte Platon (sc. in der Hölle) – Divin Homère, éloquent Cicéron – Et vous Socrate enfant de la sagesse – Martyr de Dieu dans la profane Grèce – Just Aristide et vertueux Solon – Tous malheureux sans confession.« Voltaire wurde von Smith, der ihn im August 1764 in Ferney besuchte, zeitlebens ungemein verehrt. »Die Vernunft«, sagt Smith einmal zu einem französischen Gast, »verdankt Voltaire unschätzbare Dienste . . . Er hat für das Wohl der Menschheit mehr getan als jene ernsten Schriftsteller, die nur von wenigen gelesen werden.« Und zu einem Bekannten, der einen geistreichen aber etwas oberflächlichen Schriftsteller als »einen Voltaire« bezeichnete, meinte Smith entrüstet, indem er dabei mit der Hand auf den Tisch schlug : »Mein Herr, es gibt nur einen Voltaire !« (Vgl. Rae, S. 189 f.)
Anmerkungen des Herausgebers
(S. 218) Die Stelle aus Thomsons »Seasons« (Jahreszeiten) – in der englischen Ausgabe von Zippel, Berlin 1908 auf S. 285 – lautet in freier Übersetzung : »Ach, wie wenig denken die heiter’n, zügellosen, stolzen Menschen, die von Vergnügen, Macht und Überfluß umgeben sind, die ihre Stunden gedankenlos in leichtfertiger Heiterkeit und liederlichen, ja oft grausamen Ausschreitungen vergeuden, wie wenig denken sie, während sie so durch das Leben dahin tanzen, daran, wie viele Menschen gerade in diesem Augenblick Todesqualen und Schmerzen aller Art erdulden müssen.« Es folgt hierauf die Schilderung verschiedener Todesarten und der vielen Formen menschlichen Elends. Die Worte »Siehe Pascal« beziehen sich wohl auf Blaise Pascals »Penseés sur la réligion«. Das Buch enthält bekanntlich zahlreiche Betrachtungen über die Größe des menschlichen Elends und über den Egoismus des Menschen. (S. 221) Die Stelle stammt aus Epiktets »Encheiridion«, Kap. 26, und lautet im Original : τέκνον ἄλλου τέθνηκεν ἢ γυνή οὐδείς ἐστιν δς οὐκ ἂν εἴποι »δτι ἀνθρώπινον.« ἀλλ᾽ δταν τὸ αὐτοῦ τινος ἀποθάνῃ εὐθὺς »οἴµοι τάλας ἐγώ.« ἐχρῆν δὲ µεµνῆσθαι τί πάσχοµεν περὶ ἄλλων αὐτὸ ἀκούσαντες. (Wenn das Kind oder die Frau eines anderen gestorben ist, dann gibt es niemanden, der nicht sagen würde : »Das ist eben des Menschen Los.« Wenn aber sein eigenes Kind stirbt, dann ruft jeder gleich : »Weh mir, ich Unglücklicher.« Und doch sollten wir daran denken, welchen Eindruck es auf uns machen würde, wenn wir eine solche Klage von anderen hörten.) (S. 223) Samuel Richardson, 1689–1761, einer der Hauptvertreter der englischen »empfindsamen« Romandichtung. Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux, 1688–1763, französischer Romanschriftsteller und Dramatiker. Riccoboni, (Marie Jeanne Laboras de Mézières,) 1714–1792 französische Schriftstellerin, deren Romane : Lettres de Fanny Butler, Histoire du marquis de Cressy und Lettres de milady July Catesby sich im 18. Jahrhundert in Frankreich großer Beliebtheit erfreuten und den Romanen Richardsons gleichgestellt wurden. Smith hatte in Paris die persönliche Bekanntschaft dieser Schriftstellerin gemacht. (S. 224) Das Zitat stammt aus einem Gedicht Thomas Grays, welches als Grabschrift für die im Jahre 1757 im Wochenbett gestorbene
Anmerkungen des Herausgebers
Arztgattin Johanna Clarke verfaßt und im Jahre 1774 zum ersten Male veröffentlicht worden war. Das Gedicht lautet in freier Übersetzung : Grabschrift für Frau Clarke. Wo dieser Marmor klagt in stummem Schmerz, Ruht einer Freundin – Gattin – Mutter Herz. Dies Herz schloß einst in seinem heil’gen Schrein Der Güte Tugenden wohl alle ein. Innig Gefühl und Glaube wohnten hier Und Menschlichkeit war dieses Herzens Zier. Als Siechtum dann und Tod sie uns entriß, Fühlt’ sie die Wunde, die zurück sie ließ. Ihr Kind, ihr gleich, des Unglücks nicht bewußt, Schmiegt sich an Vaters schmerzzerriß’ne Brust. – Was sein noch harrt in diesem Schmerzenstal, In dem er einsam irrt, sich selbst zur Qual ? Ein stechend Weh, verborg’nem Kummer lieb, Ein Seufzen, Weinen, dem kein Hoffen blieb – Bis einst die Zeit ein jedes Leid verweht Und Leben, Liebe und Erinnerung vergeht. (S. 235) Antoine Nompar de Caumont, Herzog von Lauzun, Günstling Ludwigs des XIV ., wurde wegen einer Beleidigung der Marquise von Montespan verhaftet und durch mehrere Jahre gefangen gehalten. (S. 236) Die Erzählung findet sich bei Plutarch. Der König von Epirus ist Pyrrhus, sein Günstling Cineas. Vgl. Plutarch, »Leben des Pyrrhus«, cap. XVI ; die Anekdote ist hier von Smith frei wiedergegeben. (S. 237) Bonar weist darauf hin, daß Smith diese Grabschrift möglicherweise dem »Spectator« (Nr. 25 vom 29. März 1710) entnommen hat. Die Stelle findet sich im 1. Band des »Spectator« (London 1767) S. 105 und lautet in Übersetzung : »Dies (sc. der Brief eines Hypochonders, der alle möglichen Mittel anwendet, um sich von einer Menge eingebildeter Krankheiten zu kurieren, obwohl ihm eigentlich nichts fehlte und er sich bei seinem Verfahren nur immer schlechter befindet) erinnert mich an eine italienische Grabschrift, die auf dem Grabstein eines Valetudinariers stand : Stavo bene, ma per star meglio, sto qui ; ein
Anmerkungen des Herausgebers
Satz der sich ins Englische nicht übersetzen läßt. Die Furcht vor dem Tode erweist sich oft selbst als tödlich und treibt die Menschen oft dazu, daß sie, in der Absicht, ihr Leben zu retten, solche Verfahrensweisen einschlagen, die ihnen unfehlbar den Tod bringen müssen.« (S. 247) Vgl. Seneca, De prov. 6, 6 : hoc est quo deum antecedatis : ille extra patientiam malorum est, vos supra patientiam. Ferner Epist. ad Lucil. 124, 14. (S. 249) Adam Smith bezieht sich hier auf das Werk Malebranches »Recherche de la vérité«. Das 5. Buch dieses Werks handelt von den Affekten und im 11. Kapitel desselben, das den Titel führt : »Que toutes les passions se justifient et des jugements qu’elles nous font faire pour leur justification«, sucht Malebranche zu zeigen, daß der Verstand gemeinhin der Sklave der Einbildungskraft ist und daß er daher alle Gegenstände, auf welche sich die Affekte richten, bloß darum schon für gut hält, weil wir im Genuß dieser Gegenstände Lust empfinden. Die Affekte wirken auf die Einbildungskraft und diese verfälscht die Urteile des Verstandes. Siehe bes. die folgende Stelle : »Ainsi les passions agissent sur l’imagination, et l’imagination corrompue fait effort contre la raison en lui représentant à toute heure les choses, non selon ce qu’elles sont en elles-mêmes afin que l’esprit prononce un jugement de vérité, mais selon ce qu’elles sont par rapport à la passion présente afin qu’il porte un jugement qui la favorise« (Ausgabe Flammarion, Bd. II , S. 247). (S. 251) Der »moralische Sinn«, von dem hier und w. u. (S. 248) die Rede ist, wurde von Hutcheson, dem Lehrer von Smith, als Grundlage des Sittlichen angenommen. (S. 270) Der Bischof von Clermont ist Massillon. Die zitierte Stelle findet sich in dem »Sermon pour le lundi de la première semaine de Carème. Sur la vérité d’un avenir«, II . Abs. und hat folgenden Wortlaut : »Quoi ! mes frères il seroit de sa grandeur de laisser le monde qu’il a créé, dans un désordre si universel ; de voir l’impie prévaloir presque toujours sur le juste ; l’innocent détrôné par l’usurpateur ; le père devenu la victime de l’ambition d’un fils dénaturé ; l’époux expirant sous les coups d’une épouse barbare et infidèle ? Du haut de sa grandeur, Dieu se feroit un délassement bizarre de ces tristes événemens, sans y prend-
Anmerkungen des Herausgebers
re part ! Parce qu’il est grand, il seroit ou foible ou injuste ou barbare ! parce que les hommes sont petits, it leur seroit permis d’être ou dissolus sans crime, ou vertueux sans mérite ? O Dieu ! si c’etoit là le caractère de votre Etre suprême ; si c’est vous que nous adorons sous des idées si affreuses ; je ne vous reconnois donc plus pour mon père, pour mon protecteur, pour le consolateur de mes peines, le soutien de ma foiblesse, le rémunérateur de ma fidélité. Vous ne seriez donc plus qu’un tyran indolent et bizarre, qui sacrifie tous les hommes à sa vaine fierté et qui ne les a tirés du néant, que pour les faire servir de jouet à son loisir ou à ses caprices !« (S. 274) Matth. 22, 37 ff., Marc. 13, 29 ff., Luc. 10, 27 nach III . Mos. 19, 18, V. Mos. 6, 5. (S. 278) Das »Testament politique« von Richelieu befand sich in Smiths Bibliothek (nach Bonar). (S. 284) Im »Mahomet« Voltaires ermordet Seid seinen Vater Sopir auf Anstiften Mahomets. (S. 288) Der geistreiche und sympathische Philosoph, von dem hier die Rede ist, ist Hume . Die Ursache, »warum Nützlichkeit gefällt«, sucht Hume in seinem »Enquiry concerning the Principles of Morals« anzugeben, dessen Section V die Überschrift trägt »Why utility pleases«, worauf Smith hier anspielt. (S. 298) Der berühmte Gesetzgeber Rußlands ist wohl Peter der Große (1689-1725). Vgl. auch Smith, Wealth of Nations, V, I, 1 (Vol. II , p. 200 der Ausgabe von Cannan). (S. 303) Der »geistvolle und anregende Schriftsteller« ist wieder Hume, dessen »Enquiry concerning the Principles of Morals« tatsächlich diese utilitarische Auffassung vertritt. (S. 309) Lucius Junius Brutus, welcher der Sage zufolge der Königsherrschaft in Rom ein Ende gesetzt hat und Roms erster Konsul gewesen sein soll, verurteilte seine beiden Söhne, als sie sich an einer Verschwörung des Tarquinius Superbus beteiligten, zum Tode und ließ das Urteil ungeachtet der Fürbitte des Volkes vor seinen Augen vollstrecken. (S. 318) Der Vers lautet im Original : »Let me have your advice in a weighty affair.«
Anmerkungen des Herausgebers
Der Vers stammt aus einem scherzhaften Gedicht Jonathan Swifts, das überschrieben ist : »The Grand Question Debated : Whether Hamiltons Bawn should be turned into a Barrack or a Malt-house« (verfaßt 1729). Das Gedicht bezieht sich auf einen verfallenen Bau, genannt »Hamiltons Bawn«, den sein Besitzer Sir Arthur Acheson, mit dem Swift befreundet war, dem Kronschatz zur Erbauung einer Kaserne überließ. Es beginnt mit folgenden Versen : Thus spoke to my lady the knight full of care : Let me have your advice in a weighty affair. This Hamilton’s Bawn, whilst it sticks on my hand, I lose by the house what I get by the land ; But how to dispose of it to the best bidder For a barrack or malt-house, we now must consider. (S. 318) Der »tragische zehnsilbige Vers« (the heroic verse of ten syllables) ist ein fünffüßiger, paarweise gereimter Vers, der besonders in der erzählenden Dichtung bevorzugt wurde. (Vgl. Schipper, »A History of English Versification«, Ch. XI ., § 158, p. 217.) Smith scheint im Text den Ausdruck weiter zu fassen und auch den Blankvers der Tragödie darunter zu verstehen. (S. 319) Samuel Butler, 1612–1680, der Dichter des berühmten komischen Epos »Hudibras«, dichtete ebenso wie später Jonathan Swift, 1667–1745 (z. B. in seiner »Tale of a Tub«) in den vierhebigen jambischanapästischen Versen ; John Dryden, 1631–1700, Joseph Addison, 1672– 1719, und Alexander Pope, 1688–1744, verwendeten hauptsächlich den fünftaktigen Vers (heroic verse oder Blankvers). (S. 320) Claude Buffier, Mitglied der Gesellschaft Jesu, 1661–1737, gibt diese Erklärung vom Wesen des Schönen in seinem »Traité des premiers Véritez et de la source des nos jugements«, Chap. 13. (Enthalten in : »Cours de sciences sur des principes nouveaux et simples ; pour former le langage, l’esprit et le cœur dans l’usage ordinaire de la vie«. Hier heißt es (Spalte 587 ff.) : »Ce qu’on apelle beau ou beauté me semble donc consister en ce qui est au même tems de plus commun et de plus rare, dans les choses de même espèce ; ou pour m’exprimer d’une autre manière, c’est la disposition particulière la plus commune, parmi les autres dispositions particulières, qui se rencontrent dans
Anmerkungen des Herausgebers
une même espèce de choses.« Buffier zeigt sodann an dem Beispiel des menschlichen Gesichts und der Teile desselben (Nase, Stirn usw.), daß unter einer größeren Anzahl von Gegenständen sich nur ganz wenige befinden werden, welche für schön gelten können, und daß diese für schön geltenden Gegenstände untereinander – aber auch gegenüber den häßlichen – weniger Abweichungen aufweisen als die häßlichen untereinander, von denen jeder eine andere Art von Unregelmäßigkeit und Häßlichkeit zeigt. Bis zu einem gewissen Grade sei es richtig, daß die schönen Menschen alle einander ähnlich sind ; darum könne ein Maler leichter eine große Porträtähnlichkeit erzielen, wenn es sich um ein häßliches Modell handelt. Buffier zeigt ferner, daß sich das Schönheitsideal nach Zeit und Ort ändere, je nach der Häufigkeit eines bestimmten Typus (darum wurden bei den Römern schwarze Augen als schön betrachtet, während bei uns blaue Augen für schön gelten). Nicht in der Proportion, wie man wohl zuweilen gemeint hat, liege die Schönheit, sondern in der Häufigkeit. Was für Europa schön ist, müsse darum noch keineswegs für Äthiopien schön sein. (S. 321) Smith denkt wohl an den bei manchen primitiven Völkern herrschenden Brauch, die Ohrläppchen durch Anhängen von Gewichten oder schweren Metallringen künstlich zu verlängern. (S. 322) Ähnlich Locke in »Some Thoughts concerning Education«, I, §11– 12. (S. 330) Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, daß Smith selbst einige Jahrzehnte später (1781) zum Ehrenhauptmann einer Bürgerwehr, nämlich der sog. Trained Bands in Edinburgh gewählt wurde (vgl. Rae, S. 374). (S. 336) In seinen »Reflexions critiques sur la poésie et sur la peinture« erwähnt der Abbé Du Bos (im 5. Abschnitt), daß die Bewohner derjenigen Gegenden Europas, welche der Sonne näher sind, lebhaftere Gefühle besitzen und daß darum die Werke der Kunst auf sie einen stärkeren Eindruck machen. (S. 337) C. Laelius d. Ä. und sein gleichnamiger Sohn waren berühmte römische Feldherren und Staatsmänner. Der Sohn ist der Hauptunterredner in Ciceros »De amicitia«. M. Porcius Censorius Cato d. Ä., 234 bis 149, der berühmte Politiker und Redner.
Anmerkungen des Herausgebers
(S. 337) L. Licinius Crassus, 140–91, angesehener Redner ; Cicero rechnet ihn zu den größten Rednern seiner Zeit und gibt in seiner Schrift »Brutus, de claris oratoribus« eine ausführliche Schilderung seiner Redekunst (Kap. 36 ff.). Publius Sulpicius Rufus, geboren 124, Gegner Sullas, wird ebenfalls von Cicero als bedeutender Redner gerühmt. (S. 342) Vgl. Platon, »Politeia«, 460 C f., wo es als notwendig erklärt wird, die mißgestaltet geborenen Kinder, sowie die Kinder der Untüchtigen und die Kinder jener Eltern, welche über das richtige Zeugungsalter hinaus sind, an einem unzugänglichen und unbekannten Ort zu verbergen, um so das Geschlecht der Wächter rein zu erhalten. – In bezug auf Aristoteles vergleiche »Politik«, IV (vulgo VII ) Kap. 16, 1335 b ; hier verlangt Aristoteles, daß sämtliche verkrüppelte Kinder ausgesetzt werden sollen ; Überschreitung der gesetzlich bestimmten Kinderzahl soll keinen Grund zur Aussetzung bilden, vielmehr soll in solchen Fällen, falls die Eltern bereits diese Anzahl von Kindern erreicht haben, die Abtreibung der Leibesfrucht stattfinden, und zwar in einem Zeitpunkt, bevor sich in dieser noch Empfindung und Leben (αἴσθησις und ζωή) entwickelt haben (denn nach diesem Gesichtspunkt ist, wie er hinzufügt, die Frage zu bestimmen, ob die Abtreibung erlaubt sei). (S. 364) Necessitudo bedeutet zunächst Notwendigkeit, dann jede freundschaftliche Beziehung (wie zwischen Freunden, Verwandten, Amtsgenossen usw.). (S. 369) Der Inhalt von Voltaires Trauerspiel »L’orphelin de la Chine« (1753) ist kurz folgender : Zamti, ein chinesischer Mandarin, hat dem letzten regierenden Fürsten in dessen Todesstunde versprochen, seinen kleinen Sohn, den einzigen Sprossen des Herrscherhauses, dessen sämtliche übrigen Angehörige von den Tataren ermordet worden sind, vor der Mordgier dieser rücksichtslosen Eroberer zu schützen. Als nun Dschingis Khan, der Kaiser der Tataren, das Kind von Zamti fordert, entschließt dieser sich, sein eigenes Kind den Tataren auszuliefern, und läßt gleichzeitig den Fürstensohn in der Gruft seiner Ahnen verbergen. Zamtis Gattin Idame will die Tötung ihres Söhnchens verhindern und klärt Dschingis Khan über den wahren Sachverhalt auf. Dschingis
Anmerkungen des Herausgebers
Khan erkennt in ihr das Mädchen, daß er vor seiner Erobererlaufbahn geliebt hat, und will sie überreden, ihren Mann zu verlassen und ihn zu heiraten. Zamti, der davon erfährt, erklärt, sich selbst den Tod geben zu wollen, damit Idame dem Tatarenkaiser angehören könne – ein Ansinnen, das Idame entschieden zurückweist. Idame gelingt es, die Koreaner, welche den kleinen Fürstensohn zu ihrem König proklamiert haben, zu dem Versteck des Kindes zu führen und mit ihrer Hilfe dasselbe vor den Tataren zu retten. Dschingis Khan will von Idame nicht ablassen und verlangt, daß Zamti sich von Idame scheiden lasse, wofür er Zamti zu begnadigen verspricht. Zamti und Idame beschließen gemeinsam zu sterben, werden aber an der Ausführung des Selbstmordes durch Dschingis Khan gehindert, der, von so viel Edelmut und Selbstbeherrschung gerührt (»je fus un conquérant, vous m’avez fait un roi«) ihnen und ihrem Söhnchen das Leben schenkt und zugleich Zamti zu seinem Minister macht. Über Voltaires »Orphelin de la Chine« äußert sich Smith bereits in dem Artikel der Edinburgh Review von 1755 (Brief an die Herausgeber über den allgemeinen Zustand der Literatur in Europa) äußerst lobend. (S. 372) Vgl. Plutarch, »Leben Catos«, Kap. 41, wo Catos und Scipios Worte so wie im Text berichtet werden. (S. 375) Claude de Mesmes, Comte d’Avaux 1595–1650, hervorragender französischer Diplomat. Der Kardinal von Retz ist der oben bereits zitierte Jean François Paul de Gondi, 1614–1679. Der König Wilhelm, von dem Smith spricht, ist wohl Wilhelm III . (geb. 1650, † 1702) ; Smiths Bemerkung dürfte sich auf die Teilnahme Wilhelms an dem Bündnis der Kontinentalstaaten gegen die Eroberungskriege Frankreichs beziehen, eine Politik, welche von seiner Nachfolgerin Anna (geb. 1664, † 1714) fortgesetzt wurde. (S. 378) Das hier mit Parteidoktrinarismus wiedergegebene Wort lautet im Original : »spirit of system«, wie im folgenden auch »the man of system« mit Parteidoktrinär wiedergegeben wurde. Die Berechtigung dieser Ubersetzung erweisen wohl die im Text folgenden Ausführungen. – Es ist möglich, daß Smith diese Passage unter dem frischen Eindruck der französischen Revolution vom Herbst 1789 niedergeschrieben hat. (Nach Stewarts Bericht hat Smith die Zusätze,
Anmerkungen des Herausgebers
darunter auch das vorliegende Kapitel, am Anfang des Winters 1789/ 90 an den Verleger abgeschickt.) (S. 379) Cf. Cicero, »Ad Fam.« I, 9, 18 : »Id enim iubet idem ille Plato, quem ego vehementer auctorem sequor tantum contendere in re publica quantum probare tuis civibus possis, vim neque parenti, neque patriae adferri oportere.« Der Ausdruck »göttlich« findet sich im gleichen Brief etwas früher : Erant praeterea haec animadvertenda in civitate quae sunt apud Platonem nostrum scripta divinitus : quales in re publica principes essent, tales reliquos solere esse cives. (S. 385) Smith denkt natürlich an die Selbstbetrachtungen des Kaisers Marcus Aurelius Antoninus. (S. 385) Avidius Cassius, Feldherr unter Marc Aurel, erklärte sich 174 v. Chr. auf die falsche Nachricht vom Tode Marc Aurels zum Kaiser, wurde jedoch wenige Monate später ermordet. Die von Smith zitierte Äußerung findet sich in einem Brief des Avidius Cassius, der in der von Vulcacius Gallicanus verfaßten Vita des Avidius Cassius angeführt wird. (Jetzt abgedruckt in Scriptores historiae Augustae, ed. Jordan et Eyssenhart, Vol. I, p. 76 ff.) Die Stelle lautet : »M. Antoninus philosophatur et quaerit de elementis et de animis et de honesto et iusto, nec sentit pro re publica . . . « (1. c. I, p. 86). Die in dieser Schrift mitgeteilten Briefe und Dokumente werden jedoch heute größtenteils als unecht angesehen. (S. 388) Das Werk über englische Geschichte, auf welches sich Smiths Bemerkung bezieht, dürfte sein : »The Heads of Illustrious Persons of Great Britain engraved by Mr. Houbraken and Mr. Vertue with their Lives and Characters by Thomas Birch A. M. F. R. S. – J. and P. Knapton. London 1743–1752.« George Vertue, englischer Kupferstecher, 1684–1756. Er lieferte auch die Porträts für Rapins History of England, 1736. Jacobus Houbraken (nicht Howbraken, wie Smith schreibt) holländischer Maler und Kupferstecher 1698–1780. – Stiche von Houbraken erschienen übrigens auch in »The History of England by Mr. Rapin de Thoyras, Continued from the Revolution to the Accession of King George II by N. Tindal« 1744 (über Houbraken vergleiche A Ver Huell J. H. et son Oeuvre 1845). – Thomas More (Morus) geboren 1480, der berühmte Verfasser der »Uto-
Anmerkungen des Herausgebers
pia«, Kanzler unter Heinrich VIII ., wurde 1535 wegen seiner Weigerung, Heinrichs Scheidung von Katharina anzuerkennen und den Suprematseid zu leisten, hingerichtet. Sir Walter Raleigh, geboren 1552, General und Flottenkommandant, 1600 wegen angeblicher Teilnahme an einer Verschwörung gegen Jakob I. zum Tode verurteilt, damals jedoch begnadigt, wurde 1618 über Verlangen der Spanier, gegen die er in Amerika Krieg geführt hatte, hingerichtet. Algernon Sidney, geboren 1622, Politiker und Gelehrter, wurde im Jahre 1683 gleichzeitig mit Lord William Russell (geboren 1639) wegen Beteiligung an der vom Herzog von Monmouth gegen Karl II . angestifteten Verschwörung enthauptet. (S. 390) Buccanier, berüchtigte Seeräuber, die im 17. Jahrhundert in den westindischen Gewässern ihr Unwesen trieben und der spanischen Schifffahrt und den spanischen Kolonien besonders gefährlich wurden. (S. 393) Henrico Caterino Davila, Verfasser der »Historia delle Guerre Civili in Francia« ; Edward Hyde Graf von Clarendon, Autor der »History of the Rebellion and Civil Wars in England« Oxford 1702 ; beide Werke fanden sich (nach Bonars Angabe) in Smiths Bibliothek. John Digby, erster Earl of Bristol, 1580–1654, berühmter Diplomat und Politiker. Antony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury, 1621–1683, war der Großvater des Philosophen Shaftesbury und Gönner John Lockes. Locke schrieb über ihn in den »Memoirs, relating to the Life of Shaftesbury«. (Vgl. The Works of John Locke. 8th edition, London 1777, Vol. IV , p. 233 ff.) Locke erzählt hier lobend von der Verschwiegenheit, Klugheit und List des älteren Shaftesbury. – Die Cicerostellen, die Smith im Auge hat, dürften sein : Bezüglich des Themistokles des M. Crassus und des Lakedämoniers Lysander »De off.« I, 108, 109. Bezüglich des Ulixes vielleicht »Tusc.« I, 98 ; V, 7. (S. 405) Im Original heißt es : »the liberal and ingenious arts«, ebenso zwei Seiten später, »any of the ingenious arts«. Ingenious wäre hier eigentlich unverständlich, ich vermutete daher, daß Smith irrtümlich ingenious für ingenuous geschrieben hat, zumal der Ausdruck ingenious arts auch in Smiths »Dedication to the second Edition of the Poems of Mr. Hamilton« wiederkehrt. (»Mr. Craufurd . . . joined a love of learning and of all the ingenious arts«.) Der Ausdruck wäre dann
Anmerkungen des Herausgebers
eine Wiedergabe des lateinischen »artes ingenuae« (ungefähr gleichbedeutend mit artes liberales) d. h. also die Künste, die sich für freie, vornehme Personen ziemen. Ich wählte darum die Übersetzung »freie Künste«. Meine Vermutung wurde durch den Artikel »Ingenious« im N. E. D. (p. 284) verstärkt, wo ausdrücklich angegeben wird, daß von älteren englischen Schriftstellern der Ausdruck »ingenious« infolge einer Verwechslung für ingenuous oder lateinisch ingenuus gebraucht wird. Insbesondere von Beschäftigungen, Studien usw. werde das Wort im Sinne von »liberal« gebraucht, in der Bedeutung : geziemend für Personen vornehmen Standes ; als Beispiel werden Stellen von Shakespeare, Marshall und sogar eine Stelle aus Smiths »Wealth of Nations« I, X, angeführt. (S. 409) Das »Daimonion«, von dem Sokrates warnende Zeichen zu empfangen behauptete. (S. 409) Vgl. Suetonius, »De Vita Caesarum« I, 78 : »Adeuntis se cum plurimis honorificentissimisque decretis universos patres conscriptos sedens pro aede Veneris Genetricis excepit . . . « (S. 410) John Churchill, Herzog von Marlborough, 1650–1722, berühmter britischer Feldherr. Prinz Eugen von Savoyen, 1663–1736, der bekannte österreichische Feldmarschall. Der verstorbene König von Preußen ist wohl Friedrich II ., der vier Jahre vor dem Erscheinen der 6. Auflage der Theory, in welcher sich dieser Passus zum erstenmal findet, gestorben war. Der Prinz von Condé, den Smith erwähnt, ist jedenfalls Ludwig II . von Bourbon, Prinz von Condé, 1621–1686, französischer (eine Zeitlang spanischer) Oberkommandierender. Henry de Latour d’Auvergne Vicomte Turenne, 1611–1675, berühmter Marschall von Frankreich. (S. 412) Dschingis Khan (d. h. höchster Herrscher), eigentlich Temudschin, ca. 1160–1220, mongolischer Eroberer, der China und Persien seiner Herrschaft unterwarf. Tamerlan (verstümmelt aus Timur-Lenk), 1335–1405, Mongolen-Khan, der seinen Stammbaum von Dschingis Khan ableitete, eroberte und verwüstete die meisten Länder Mittelasiens. (S. 413) Es scheint mir hier eine Verwechslung vorzuliegen. Cicero erzählt in seiner Schrift »Brutus, oder von den berühmten Rednern«,
Anmerkungen des Herausgebers
Kap. 51, eben diese Anekdote von dem karischen Dichter Antimachos : er habe sein bekanntes großes Werk vor einer Versammlung vorgelesen ; während dieser Vorlesung hätten sich jedoch alle Hörer bis auf Platon entfernt ; da habe nun Antimachos gesagt, er lese nichtsdestoweniger weiter, denn Platon allein sei ihm so gut wie tausende. – Parmenides, wahrscheinlich 540/39 vor unserer Zeitrechnung geboren, also etwa 110 Jahre früher als Platon, hätte unmöglich von diesem gehört werden können – ist doch schon die Gegenüberstellung des Parmenides mit Sokrates in dem platonischen Dialog »Parmenides« gewiß ein Anachronismus. Es ist mir auch nicht bekannt, daß irgendwo eine solche oder eine ähnliche Anekdote von Parmenides erzählt würde, vielmehr scheint Smith, der wohl auch hier aus dem Gedächtnis zitierte, den Namen des Helden der Geschichte verwechselt zu haben. (S. 414) Kleitos (Smith schreibt Clytus) hatte, vom Wein erhitzt, nicht nur auf die Kriegstaten Philipps hingewiesen – wohl, wie Kaerst meint, weil er in Philipp den Repräsentanten des nationalen makedonischen Königtums erblickte – sondern auch prahlend hervorgehoben, daß er Alexander einst das Leben gerettet habe, und hatte schließlich unter Berufung auf ein Dichterwort erklärt, daß jeder Feldherr sich den Ruhm anmaße, der eigentlich seinen Truppen gebührt. Diese Worte sollen es gewesen sein, die Alexanders Zorn so entfachten, daß er einer Wache die Lanze entriß und damit Kleitos durchbohrte. – Kallisthenes scheint nicht nur Alexander die Proskynesis verweigert zu haben (die kniefällige Verehrung, welche sich Alexander nach orientalischem Vorbild eine Zeitlang auch von den Makedonen erweisen ließ), sondern überhaupt der Führer der hellenisch-makedonischen Opposition gegen Alexanders orientalisches Despotentum gewesen zu sein. Er wurde im Frühjahr 327 der Beteiligung an einer Verschwörung gegen Alexanders Leben beschuldigt und auf dessen Befehl getötet, nachdem er einige Zeit in Gefangenschaft gehalten worden war. Nach einem anderen Bericht, den auch Plutarch erwähnt (Alexander, Kap. 75) und den Smith im Auge zu haben scheint, wurde er ans Kreuz geschlagen. (Über Kleitos und Kallisthenes vergleiche Kaerst, »Geschichte des Hellenismus« I, S. 441 ff. und 531 ff., sowie E. Meyer, »Kleine Schriften«, S. 319 ff.) Der hier erwähnte Sohn Parmenios war Philotas, der wegen Teilnah-
Anmerkungen des Herausgebers
me an einer Verschwörung gegen Alexander nach einer Verhandlung vor dem Heeresgericht der Makedonen verurteilt und hingerichtet wurde. Die Verdachtsgründe waren wohl ziemlich belastend, doch scheinen auch persönliche Motive bei dem Urteil mitgewirkt zu haben, da Philotas abfällige Äußerungen über die Göttlichkeit Alexanders und insbesondere über sein Verhältnis zu Jupiter Ammon getan haben soll. Nach Vollstreckung des Urteils sandte Alexander Eilboten an die Befehlshaber in Medien, welche unter dem Oberkommando des Parmenio standen, mit dem Auftrag, diesen zu ermorden – wohl um zu verhindern, daß Parmenio, der großen Anhang im makedonischen Heer besaß, den Tod seines Sohnes räche. »Der Mord Parmenios wirft«, wie Kaerst sagt, »einen dunklen Schatten, vielleicht den dunkelsten Schatten auf das Bild Alexanders« (vgl. Kaerst a. a. O. 425). (S. 419) Vgl. Edward Earl of Clarendon, »The History of the Rebellion and Civil Wars in England« in der Ausgabe Basil 1798, I, S. 94. Die Stelle hat hier folgenden Wortlaut : »He resorted sometimes to the Court, because there only was a greater man than himself ; and went thither the seldomer, because there was a greater man than himself.« (S. 422) Vgl. Aristoteles, »Eth. Nic.« IV , 1124 b, 6 ff. : οὐκ ἔστιν (sc. ὁ µεγαλόψυχος) δὲ µικροκίνδυνος, οὐδὲ φιλοκίνδυνος διὰ τὸ ὀλίγα τιµᾶν, µεγαλοκίνδυνος δὲ, καὶ ὅταν κινδυνεύῃ, ἀφειδὴς τοῦ βίου ὡς οὐκ ἄξιον ὂν πάντως ζῆv. – Ferner l. c. 1124 b, 24 : καὶ ἀργὸν εἶναι καὶ µελλητὴν ἀλλ᾽ ἢ ὃπου τιµὴ µεγάλη ἢ ἔργον, καὶ ὀλίγων µὲν πρακτικόν, µεγάλων δὲ καὶ ὀνοµαστῶν und l. c. 1125 a, 12 : καὶ κὶνησις δὲ βραδεῖα τοῦ µεγαλοψύχου δοκεῖ εἶναι καὶ φωνὴ βαρεῖα καὶ λέξις στάσιµος. – »Der Hochgesinnte bringt sich nicht für Kleines in Gefahr und ist nicht waghalsig, weil er dafür wenige Dinge hoch genug achtet. Dagegen setzt er sich um Großes der Gefahr aus und tut er es, so schont er seines Lebens nicht, da es ihm zu schlecht ist, um jeden Preis zu leben.« – »Er ist langsam und bedächtig, außer wo es sich um eine große Ehre oder um ein großes Ding handelt. Nicht vieles nimmt er in die Hand ; aber was er tut, ist groß und hat einen Namen.« – »Man hat auch die Vorstellung, daß der Gang des Hochgesinnten langsam, seine Stimme tief, seine Rede ruhig sein müsse.« (S. 422) Die Stelle in Shakespeares Hamlet findet sich im I. Akt,
Anmerkungen des Herausgebers
5. Szene, wo der Geist von Hamlets Vater, nachdem er den Hergang seiner Ermordung beschrieben hat, ausruft : »Cut off even in the blossoms of my sin, Unhousell’d, disappointed, unanel’d !« Das Zitat bei Smith lautet jedoch : »with all his sins upon his head, unanointed, unanealed« und entspricht somit durchaus nicht dem Original. Noch auffallender ist aber, daß Smith diese Worte Hamlet selbst in den Mund legt. Das Zitat dürfte eben, wie auch Bonar (ad v. Shakespeare) bemerkt, aus dem Gedächtnis wiedergegeben sein. (S. 436) Die von Smith erwähnten Hauptfragen der Ethik werden in der neueren Ethik gewöhnlich als die Fragen nach dem Kriterium und nach dem Fundament des Sittlichen bezeichnet. (S. 436) Die hier erwähnten Kriterien des Sittlichen wären demnach : a) soziale Wohlfahrt (Wohlwollen – Altruismus), b) Übereinstimmung der Handlungen mit den natürlichen Verhältnissen (Fitness of the things), c) individuelle Wohlfahrt. (S. 436) Die hier erwähnten Lösungen des Problems »welches ist das Fundament der Moral«, die im folgenden noch näher besprochen werden, sind also : 1. Egoismus (Mandeville, Hobbes, im weiteren Sinn alle – individualistischen – Utilitarier, einschließlich der meisten antiken Schulen, aber auch Hume), 2. Vernunft (die englischen Rationalisten wie Clarke, Wollaston, Price), 3. der »Moralische Sinn« (Hutcheson, zum Teil auch Shaftesbury, Butler), 4. ein anderes Prinzip der menschlichen Natur z. B. Sympathie. (S. 439) Im Text heißt es »irascible« ; im Deutschen wird der zugrunde liegende griechische Ausdruck : θυµοειδές gewöhnlich mit »mutartig« wiedergegeben ; diese Übersetzung wurde darum auch hier gelegentlich gewählt. (S. 439) Im Original : Spirit or natural fire. (S. 439) Im Text »concupiscible« – griechisch ἐπιθυµητικόν. (S. 441) Das griechische Wort ist σωφροσύνη. Smiths Bemerkung ist durchaus zutreffend, wie denn auch das griechische σώφρων eigentlich denjenigen bezeichnet, »der einen gesunden Sinn hat«. (S. 441) Gerechtigkeit in dem weiteren Sinn des griechischen
Anmerkungen des Herausgebers
δικαιοσύνη, in dem es die Gesamtheft aller Tugenden bedeutet (bes. bei Aristoteles). (S. 444) Der englische Text lautet : »Virtue . . . consists in the habit of mediocrity according to right reason« ; ich habe mich hier etwas enger an das aristotelische Original gehalten, da die Fassung von Smith ziemlich unklar ist und doch wohl nur eine verkürzte Wiedergabe der aristotelischen Tugenddefinition in Eth. Nic. II , 6, 1106b, 36 ff. bildet : ἔστιν ἄρα ἡ ἀρετὴ ἕξις προαιρετικὴ ἐν µεσότητι οὖσα τῇ πρὸς ἡµᾶς, ὡρισµέvη λόγῳ καὶ ὡς ὁ φρόµιµος ὁρίειε. (S. 445) Im Deutschen läßt sich das Wort »Tugend« nicht wohl auf Handlungen anwenden ; diese Ungenauigkeit mußte in Kauf genommen werden, wenn eine allzu starke Veränderung des Textes vermieden werden sollte. (S. 448) »Übereinstimmend leben« (ὁµολογουµέvως ζῆν), bekanntlich die Hauptforderung der stoischen Ethik in ihrer ursprünglichen Fassung, wie sie schon von Zeno aufgestellt wurde. (Nach Stobaeus soll erst Kleanthes diesen Satz ergänzt haben in : »Mit der Natur übereinstimmend leben«.) (S. 452) Vgl. Epiktet, Diss. II , 5, 10 ff. : ἀλλ᾽ οἷόν τι ἐπὶ τοῦ πλοῦ ποιοῦµεν. τί µοι δύναται; τὸ ἐκλέξασθαι τὸν κυβερνήτην, τοὺς ναύτας, τὴν ἡµέραν, τὸν καιρόν. εἶτα χειµὼν ἐµπέπτωκεν. τί οὖν ἔτι µοι µέλει; τὰ γὰρ ἐµὰ ἐπεπλήρωται. τί οὖν ἔχω ποιῆσαι; ὅ δύναµαι τοῦτο µόνον ποιῶ· µὴ φοβούµενος ἀποπvίγοµαι οὐδὲ κεκραγὼς οὐδ᾽ ἐγκαλῶν τῷ θεῷ, ἀλλ᾽ εἰδώς, ὅτι τὸ γενόµενον καὶ φθαρῆναι δεῖ. (S. 458) Vgl. Epiktet, Diss. I, 25, 18 ff. : τούτου γὰρ µέµνησθαι καὶ κρατεῖν ὅτι ἡ θύρα ἤνοικται. ἀλλὰ ;µὴ οἴκει ἐν Νικοπόλει;. οὐκ οἰκῶ. ;µηδ᾽ ἐν ᾽Αθήναις;˜– οὐδ᾽ ἐν ᾽Αθήναις. ;µηδ᾽ ἐν Πώµῃ.; οὐδ᾽ ἐν Πώµῃ. ;ἐν Γυάροις οἴκει.; οἰκῶ. ἀλλὰ πολύς µοι καπνὸς φαίνεται τὸ ἐν Γυάροις οἰκεῖν˜– ἀποχορῶ, ὅπου µ᾽ οὐδεὶς κωλύσει οἰκεῖν· ἐκείνη γὰρ ἡ οἴκησις παντὶ ἤνοικται. καὶ τὸ τελευταῖον χιτωνάριον, τοῦτ᾽ ἕστι τὸ σωµάτιον, τούτου ἀνωτέρω οὐδενὶ οὐδὲν εἰς ἐµὲ ἔξεστιν. Smith hat die unmittelbar vorangehende Stelle in die hier angeführten Sätze einbezogen : καπνὸν πεποίηκεν ἐν τῷ οἰκήµατι; ἂν µέτριον µενῶ· ἂν λίαν πολύν ἐξέρχοµαι . . . (S. 459) Vgl. Epiktet 1. c. I, 25, 15 – λοιπὸν οἱ µέν εἰσι κακαύ-
Anmerkungen des Herausgebers
στηροι καὶ κακαοστόµαχοι καὶ λέγουσιν ;ἐγὼ οὐ δύναµαι παρὰ τούτῳ δειπνεῖν, ἵν᾽ αὐτοῦ ἀνέχοµαι καθ᾽ ἡµέραν διηγουµένου, πῶς ἐν Μυσίᾳ ἐπολέµησεν· ΄διηγησάµην σοι, ἀδελφέ. πῶς ἐπὶ τὸν λόφον ἀνέβην· πάλιν ἄρχοµαι πολιορκεῖσθαι΄.; ἄλλος λέγει ;ἐγὼ δειπνῆσαι θέλω µᾶλλον καὶ ἀκούειν αὐτοῦ ὅσα θέλει ἀδολεσχοῦντος;˜– καὶ σὺ σύγκρινε ταύτας τὰς ἀξίας· µόνον µηδέν βαρούµενος ποίει, µὴ θλιβόµενος µηδ᾽ ὑπολαµβάνον ἐν κακοῖς εἶναι· τοῦτο γὰρ οὐδείς σε ἀναγκάξει (S. 460) Der Hinweis auf Cicero stammt von Smith ; es ist nicht recht verständlich, warum Smith ausdrücklich die Ausgabe von Olivet (die sich in Smiths Bibliothek vorgefunden hat) erwähnt, da er doch keine Seitenzahl angibt ; übrigens scheint mir die zitierte Stelle zu dem im Text Gesagten nicht ganz zu passen. (S. 464) Smith meint offenbar die katholisch-theologische Ethik, gegen die er sich später ausdrücklich wendet. (S. 464) Die Stelle stammt aus dem 2. Gesang von Miltons »Verlorenem Paradies« und lautet in freier Übersetzung : Von Gut und Böse sprachen sie dann viel, Vom Glück und von dem Elend, das ihm folgt, Von Leidenschaft und Kälte, Ruhm und Schmach ; Doch eitle Afterweisheit war ihr Wort, Das nur für kurze Zeit die Kraft besaß, All ihre Qual und Angst in falsche Lust Und trügerische Hoffnung zu verwandeln, Und mit Geduld so wie mit dreifach Erz Die hartgeword’ne Brust zu wappnen. (v. 562–569.) (S. 464) Smith scheint hier irrtümlich Aristomenes anstatt Aristodemos geschrieben zu haben. Aristodemos, ein Messenier, der der Sage zufolge aus dem königlichen Geschlecht der Aipytiden stammte, soll zur Zeit des 1. messenischen Krieges gelebt haben. Als den Messeniern während dieses Krieges (nach Pausanias ca. 738 a. C.) durch ein Orakel aufgetragen wurde, eine Jungfrau zu opfern, soll A. seine eigene Tochter dazu erboten haben, und auf den Widerspruch ihres Bräutigams, der, um sie zu retten, ihre Jungfräulichkeit bestritt, die Tochter selbst erstochen und den Leichnam mit seinem Schwert aufgeschnitten
Anmerkungen des Herausgebers
haben, um diese Behauptung zu widerlegen. Später zum König gewählt, soll er sich im Jahre 724 v. Chr. auf dem Grabe seiner Tochter den Tod gegeben haben, die ihm im Traume erschienen war. Die Gestalt des Aristodemos gehört tatsächlich ganz der historischen Dichtung an, die wahrscheinlich erst nach der Wiederherstellung Messeniens (370/69 v. Chr.) entstanden ist (nach Pauly-Wissowa, Bd. II , S. 947). Ein Aristomenes, der Selbstmord begangen hätte, wird nirgends erwähnt ; der berühmteste Träger dieses Namens, der im 1. messenischen Kriege lebte, starb nach einer Überlieferung eines natürlichen Todes, nach einer anderen wurde er von den Spartanern getötet. (S. 465) Von Themistokles berichtet Thukydides (I, 138), daß er nach einer Version an einer Krankheit gestorben sei, nach einer anderen Version jedoch habe er Gift genommen, als er sich außerstande sah, sein dem Perserkönig gegebenes Versprechen (sc. ihn zum Herrn über Griechenland zu machen) zu halten. Kleomenes, König von Sparta, der nach der Niederlage bei Sellasia (122 v. Chr.) in Ägypten eine Zuflucht gefunden hatte, beging nach einem mißlungenen Aufstand gegen Ptolemäos Philopator mit seinen Gefährten Selbstmord. Vgl. Plutarch, Agis und Cleomenes, Kap. l xix . Theramenes (nicht Theramines, wie Smith schreibt), einer der dreißig Tyrannen, von Kritias zum Tode verurteilt, Phokion, athenischer Feldherr und Staatsmann, 317 v. Chr. wegen Hochverrats verurteilt, mußte ebenso wie Theramenes und Sokrates den Giftbecher leeren (vgl. Plutarch, Phokion, Kap. xli). Eumenes, Feldherr Alexanders des Großen, 316 v. Chr. von den eigenen Truppen dem Antigonos ausgeliefert ; Smith folgt der Darstellung Plutarchs (Eumenes, Kap. X XIV ). Philopoemen, berühmter Feldherr, wiederholt Stratege des achäischen Bundes, 183 v. Chr. von den Messeniern gefangengenommen und zum Tode verurteilt (vgl. Plutarch, Philopoemen, Kap. X X XI ). (S. 466) Dieser Bericht des Apollonios von Tyros bei Diog. Laert. VII , 28, ebendort die Angaben des Persaios (nach denen Zeno nur ein Alter von 72 Jahren erreicht hätte), die auch heute als die glaubwürdigeren angesehen werden. Vgl. Felix Jacoby, Apollodors Chronik, S. 367. Die angeblichen Worte Zenos : »Ich komme, warum rufst du mich« (῎Ερχοµαι τί µ᾽ αὔεις) stammen übrigens wahrscheinlich aus der
Anmerkungen des Herausgebers
Niobe des Äschylos, nicht, wie Smith angibt, aus einer Niobe des Euripides, der unseres Wissens kein Stück dieses Namens verfaßt hat. (S. 466) Vgl. Lukian, Macrobioi 19. Hier wird erzählt, daß Zeno im Alter von 98 Jahren auf dem Wege zur Schule gestürzt sei und ausgerufen habe : »Warum rufst du mich ?« (τί µε βοᾷς;). Darauf sei er nach Hause zurückgekehrt und habe seinem Leben ein Ende gemacht, indem er sich jeder Nahrung enthielt. Die Stelle aus Lactantius, auf die sich Smith bezieht, dürfte sein : Divinarum Institutionum liber tertius. De falsa sapientia philosophorum, cap. 18. Hier heißt es bloß : »Multi ergo ex iis, quia aeternas esse animas suspicabantur, tamquam in coelum migraturi essent, sibi ipsis manus intulerunt : ut Cleanthes, ut Chrysippus, ut Zeno, ut Empedocles« etc. (S. 467) C. Atilius Regulus, röm. Feldherr, 255 v. Chr. in karthagische Kriegsgefangenschaft geraten, wurde einige Jahre später von den Karthagern als Gesandter nach Rom geschickt, um Frieden und Austausch der Gefangenen zu erwirken, sprach im Senat gegen die Annahme dieses Vorschlages, kehrte seinem Versprechen gemäß in die Gefangenschaft zurück und wurde von den Karthagern unter fürchterlichen Martern getötet. Die Erzählung vom Tode des Regulus gilt heute allgemein als Erfindung und auch seine Sendung nach Rom ist schlecht beglaubigt (vgl. Mommsen, Rom. Gesch. I, 530, Anm.). (S. 467) Nachdem Cato der Jüngere sich im April 46 den Tod gegeben hatte, erschien zunächst ein Enkomion von Cicero mit dem Titel »Cato« (von Gellius XIII , 20, 3 als Laus Catonis bezeichnet), worauf Caesar einen »Anticato« veröffentlichte. (S. 467) Cf. Seneca, »Ad Serenum de tranqu. Animi«, cap. XVII , 9 ; »Catoni ebrietas obiecta est : facilius efficiet, quisquis obiecit ei, crimen honestum, quam turpem Catonem.« (S. 468) Nach einer Vermutung Bonars (Catalogue, p. 53), welche mir richtig zu sein scheint, wäre diese Stelle über den Selbstmord, die ja erst in der 6. Auflage hinzugefügt wurde, gegen Humes nachgelassenen, im Jahre 1777 veröffentlichten Essay über den Selbstmord gerichtet. Tatsächlich scheint dies der Fall zu sein, da insbesondere der ausführliche Nachweis, welchen Smith dafür zu erbringen sucht, daß Selbstmord oft Modesache war und aus den nichtigsten Gründen ver-
Anmerkungen des Herausgebers
übt wurde, wie eine Polemik gegen Humes Behauptung (am Ende des erwähnten Essays) klingt, »daß noch niemand ein Leben wegwarf, das zu erhalten der Mühe wert gewesen wäre«, da »unsere natürliche Furcht vor dem Tode so groß sei, daß kleine Beweggründe nie imstande sein werden, uns mit ihm auszusöhnen«. (S. 468) Auf welche Stelle in den Briefen des Plinius sich Smith bezieht, scheint mir unklar. Wohl erzählt Plinius im 12. Brief des I. Buches von dem freiwilligen Tode des Corellius Rufus, welcher an einer unheilbaren Krankheit litt, im 16. Brief des III . Buches von dem Selbstmord und dem vorhergehenden Selbstmordversuch der Arria, Gattin des Paetus, welche ihren Sohn verloren hatte, und im 24. Brief des VI . Buches von dem gemeinsamen Selbstmord eines Ehepaares wegen eines unheilbaren und ekelerregenden Leidens des Mannes, aber in all diesen Fällen führt Plinius eben die Gründe der Tat an und spricht besonders in den beiden zuletzt genannten Fällen mit hoher Bewunderung von dem Mut der betreffenden Personen. (S. 469) Smiths Eintreten gegen die Bestrafung des Selbstmordes (allerdings nur mit der Begründung, daß diese Strafe nur die Nachkommen treffen könne) ist immerhin als fortschrittlich anzusehen. Im 18. Jahrhundert wurde der Selbstmord noch allgemein als Verbrechen betrachtet ; insbesondere nach schottischem und englischem Recht galt der Selbstmord als eine Art Mord. Bracton (Commentaries, IV , 188 ff.) rechtfertigt die zu seiner Zeit im englischen Recht vorgeschriebene Bestrafung des Selbstmörders ; es sei recht und billig, daß er an Vermögen und Ruf bestraft werde ; dies geschah einerseits durch die Konfiskation seiner sämtlichen Güter, andererseits durch eine schimpfliche Art der Bestattung : der Selbstmörder wurde an einem Kreuzweg begraben, ein Pfahl durch die Brust des Leichnams getrieben (über Ursprung und Sinn dieser Sitte vgl. Westermarck, »Origin and Development of the Moral Ideas«, chap. 29). – Die Konfiskation des Vermögens wurde 1870 aufgehoben, auch die eigentümliche Art der Bestattung verschwand in späterer Zeit. Aber noch nach dem jetzigen englischen Recht gilt der Selbstmord als Verbrechen und diejenigen, die sich der Beihilfe zum Selbstmord schuldig machen, werden
Anmerkungen des Herausgebers
als Mörder bestraft (Stephen, »History of the Criminal Law of England«, III , 104 ff.). (S. 470) Der freigelassene Sklave des Epaphroditus ist Epiktet. (S. 470) Cf. Marci Antonini, »In semet ipsum libri duodecim«, IX , 3, 1 u. ö. (S. 471) Marc. Ant. 1. c. V, 8, 1 ff. : »ὁποῖόν τί ἐστι τὸ λεγόµενον ὅτι συνέταξεν ὁ ᾽Ασκληπιὸς τσύτῳ ἱππασίαν ἢ ψυχρολουσίαν ἢ ἀνυποδησίαν, τοιοῦτόν ἐστι καὶ τὸ συνέταξεν τούῖῳ ἡ τῶν ὅλων φύσις νόσον ἢ πήρωσιν ἢ ἀποβολὴν ἢ ἄλλο τι τῶν τοιούτων κ. τ. λ.« Ferner l. c. V, 8, 7 ff. : δεχώµεθα οὖν αὐτὰ ὡς ἐκεῖνα, ἃ ὁ ᾽Ασκληπιὸς συντάττει. πολλὰ γοῦν καὶ ἐν ἐκείνοις ἐστὶ τραχέα, ἀλλὰ ἀσπαζόµεθα τῇ ἐλπίδι τῆς ὑγιείας τοιοῦτόν τί σοι δοκείτω ἄνυσις καὶ συντέλεια τῶν τῇ κοινῇ φύσει δοκούντων, οἷον ἡ σὴ ὑγίεια. καὶ οὕτως ἀσπάζου πᾶν τὸ γινόµενον, κἂν ἀπηνέστερον δοκῇ, διὰ τὸ ἐκεῖσε ἄγειν ἐπὶ τὴν τοῦ κόσµου ὑγίειαν καὶ τὴν τοῦ ∆ιὸς εὐοδίαν καὶ εὐπραγίαν. οὐ γὰρ ἂν τούτῳ τι ἔφερεν, εἰ µὴ τῷ ὅλῳ συvέφερεν· . . . κ. τ. λ. (S. 472) Vgl. Marc. Ant., »In semet ipsum«, IV , 23. πᾶν µοι συναρµόζει, ὅ σοὶ εὐάρµοστόν ἐστιν, ὦ κόσµε· οὐδέν µοι πρόωρον οὐδὲ ὄψιµον τὸ σοὶ εὔκαιρον. πᾶν µοι καρπός, ὅ φέρουσιν αἱ σαὶ ὧραι, ὦ φύσις· ἐκ σοῦ πάντα, ἐν σοὶ πάντα, εἰς σὲ πάντα. ἐκεῖνος µέν φησι πόλι φίλη Κέκροπος. σὺ δὲ οὐκ ἐρεῖς ὦ πόλι φίλη ∆ιός; Smith übersetzt am Schluß des Zitats »Gott« statt »Zeus«. (S. 472) Die Stelle findet sich in Popes »Essay on man« und zwar in Epistle I (Of the nature and state of man with respect to the universe) Vers 90 und lautet in freier Ubersetzung : O Zukunftsblindheit ! Teure Himmelsgabe, Die der Mensch empfing, um seines Daseins Kreis Mit Gleichmut zu vollenden. Gott allein Sieht mit demselben Blick den Helden sterben Und den Sperling enden ; Atome schwinden und Systeme stürzen ; die Seifenblase platzen Und eine Welt vergeh’n. (S. 475) Smiths Urteil über Chrysipp ist sicher bis zu einem gewissen Grade richtig, wenn auch Smith aus einem gewissen Mangel
Anmerkungen des Herausgebers
an Verständnis für den Rigorismus der stoischen Ethik jene Gleichnisse (die ja nicht wörtlich genommen sein wollen) wohl allzu schroff ablehnt ; ihr Wert liegt in der populären und dabei paradoxen, gleichsam den Hörer aufrüttelnden Art, wie hier die Gesinnung als das allein Maßgebende hingestellt und von diesem Gesichtspunkt aus dem strebenden Menschen ein »alles oder nichts« zugerufen wird. (S. 476) Der »Fortschreitende« (griechisch προκόπτων), nach der strengen Lehre der Stoa theoretisch als φαῦλος, µαινόµενος, κακοδαίµων betrachtet, hat doch (sofern er ein ἐπ᾽ ἄκρον προκόπτων d. h. auf der höchsten Stufe Stehender ist) die rechte Lebensanschauung, er ist frei von Leidenschaften, erfüllt alle καθήκοντα, ist selbst der höchsten Selbstaufopferung fähig, es fehlt ihm nur jenes βέβαιον, die innere Festigkeit und Beständigkeit, die ausschließlich dem Weisen zukommt. – Was Cicero mit officia übersetzt, ist das griechische καθήκοντα »das Gebührende« und Smith ist gewiß im Recht, wenn er den Ausdruck con-venientia vorzieht, da sich καθήκοντα mit »Pflichten« keineswegs deckt, weil es auch egoistische Handlungen umfaßt. Nur die Handlung des Weisen kann als κατόρθωµα als »rechte Tat« gelten (was Smith mit »rectitude« wiedergibt). Die Auffassung, daß die unvollkommener sind als die κατορθώµατα, ist nur insofern richtig, als die Erfüllung des »Gebührenden« (καθῆκον) seitens eines Unweisen als µέσον gilt (d. h. weder gut noch böse ist) und nur wenn es der Weise vollbringt, als κατόρθωµα oder τέλειον καθῆκον betrachtet wird. (Vgl. über diese Begriffe die glänzenden Ausführungen bei Bonhöffer, Die Ethik des Stoikers Epiktet, S. 193, Exkurs III .) Die Definition des officium, auf die Smith anspielt, findet sich bei Cicero, De fin. bon. III , 58 : »est autem officium, quod ita factum est, ut eius facti probabilis ratio reddi potest.« Von dem Buch eines M. Brutus, welches eine derartige praktische oder angewandte Ethik enthielt, erzählt Seneca, Ad. Lucil. Epist. 95, 45 : »M. Brutus in eo libro, quem negl περὶ καθήκοντος inscripsit, dat multa praecepta et parentibus et liberis et fratribus etc.« Es scheint mir, daß Smith diese Stelle im Auge hat. (S. 487) Smith scheint hier an Xenophons »Memorab.« I, Kap. 7 zu denken, wo das im Text Zitierte (zwar nicht wörtlich, aber dem Sinne nach) als Äußerung des Sokrates berichtet wird.
Anmerkungen des Herausgebers
(S. 489) Der Ausdruck »prima naturae« (πρῶτα κατὰ φύσιν) ist stoischen Ursprungs. Die Stoiker pflegten zu den prima naturae Gesundheit, Stärke, richtige Sinneswahrnehmung usw. zu rechnen. (Vgl. Zeller, »Phil. d. Griechen«, III /1, 264 ff.) Wenn im folgenden neben der Lust auch die Unlust als ursprünglicher Gegenstand natürlichen Begehrens bezeichnet wird, so liegt hier offenbar ein Versehen Smiths vor. (S. 491) Ralph Cudworth (1617–1688), Henry More (1614–1687), John Smith (1618–1652) gehören zu jener Gruppe von Philosophen, die unter dem Namen »Platoniker von Cambridge« bekannt sind. Francis Hutcheson (1694–1747) war Smiths Lehrer und einer seiner Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Moralphilosophie an der Universität Glasgow. (S. 493) Der genaue Titel dieser Schrift ist : »An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue« 1725. (Smith zitiert ungenau : »Inquiry concerning Virtue.«) Smith bezieht sich auf den zweiten Teil der Schrift, der im Original die Überschrift führt : »An Inquiry concerning Moral, Good, and Evil«. (S. 494) Vgl. Hutcheson, »Inquiry into the Original etc.«, p. 169 (3. Aufl.). Die Stelle lautet in wörtlicher Übersetzung bei Hutcheson : »In unseren neueren Debatten über den passiven Gehorsam und das Widerstandsrecht war der Punkt, über den unter vernünftigen Leuten gestritten wurde, die Frage ›Ob im Falle der Verletzung gewisser Rechte und Befugnisse die allgemeine Unterwerfung voraussichtlich größere natürlichen Übelstände zur Folge haben würde als ein vorübergehender Aufstand‹ und nicht ›Ob dasjenige, was im ganzen auf das natürliche allgemeine Beste abziele, auch das moralisch Gute sei‹.« (S. 495) Die Untersuchung über die Tugend ist wieder der 2. Teil der oben genannten Schrift »An Inquiry concerning Moral, Good, ans Evil«. Die »Erläuterungen über den moralischen Sinn« bilden das zweite Buch von Hutchesons »Treatise on the Passions«. (S. 500) Smith meint die Moralphilosophie David Humes, dessen Namen er, wie bereits bemerkt, in der Theory nie erwähnt. (S. 500) Die Überschrift dieses Kapitels lautet im Original »Of licentious systems«, was oft (z. B. von Kosegarten) wörtlich wiedergegeben wurde mit : »Zügellose Systeme«. – Richtiger als diese sicher falsche Übertragung wäre »Systeme der Zügellosigkeit«, aber auch dieser Titel
Anmerkungen des Herausgebers
schien mir allzu unverständlich, weshalb die im Text enthaltene sinngemäße aber freiere Fassung gewählt wurde. Der Plural »Systeme« erklärt sich daraus, daß dieses Kapitel früher nicht nur von Mandeville, sondern auch von La Rochefoucauld handelte. (S. 503) Es ist bekannt, welche Verehrung Epikur im Altertum überhaupt genoß. (S. 511) Im Original : »luxury« and »lust«. (S. 511) Dieser Satz bildet den Untertitel von Mandevilles Buch. Der volle Titel lautete : »The fable of the bees, or private vices publick benefits« (Ausgabe von 1714). Das Flugblatt, in dem das Gedicht zum erstenmal veröffentlicht worden war (1705), hatte den Titel : »The grumbling hive or knaves turn’d honest.« (Der summende Bienenstock, oder Schurken, die in ehrliche Leute verwandelt wurden.) Über Mandeville äußerte sich Smith bereits in dem »Brief an die Herausgeber« (Edinburgh Review 1755) sehr abfällig. (S. 513) In den »Principia philosophiae« (Vierter Teil : De mundo adspectabili) stellt Descartes die Theorie auf, daß die den ganzen Himmelsraum erfüllende flüssige Materie beständig in einer kreisenden Bewegung begriffen sei. Diese kreisende Strömung oder Zentralbewegung der Materie nennt Descartes Wirbel oder Strudel (tourbillon) und sucht aus ihr die Bewegung der Planeten, Monde und Kometen zu erklären ; wie leichte Gegenstände, die man in den Strudel eines Flusses wirft, von diesem mitgerissen und je nach ihrer Entfernung vom Zentrum des Strudels schneller oder langsamer in kreisähnlicher Bewegung umhergetrieben werden, so verursachen die Wirbel der Himmelsmaterie die Bewegung der Planeten. (Vgl. »Princ. phil.«, III , § 30 und K. Fischer I/1, 35 ff.) (S. 518) Damit ist Humes Moralphilosophie gemeint. Ich halte es für möglich, daß hier ein Druckfehler vorliegt : Man würde hier eher »System« statt »Prinzip« erwarten. (S. 522) Der genaue Titel von Cudworths hier zitiertem Werk ist »Treatise concerning Eternal and Immutable Morality« ; dasselbe wurde 1731 von Bischof Chandler aus Cudworths Nachlaß herausgegeben. Die Stelle, die Smith im Auge hat, dürfte wohl Bk. I, chapter 2, § 3 f. sein. Cudworth erklärt hier (in naturrechtlichem Sinn), daß die Gehorsams-
Anmerkungen des Herausgebers
pflicht nicht durch positives Gesetz begründet werden könne, sondern diesem vorausgehen müsse, da sie aus dem Wesen von Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht folge. (S. 528) Der volle Titel dieser Schrift ist »Essay on the Nature and Conduct of the Passions, with Illustrations upon the Moral Sense«. 1728. (Smith zitiert : »Treatise of the Passions«.) Die von Smith zitierte Einteilung der Sinne oder Wahrnehmungsvermögen findet sich übrigens, soviel ich sehe, in dem erwähnten Buche von Hutcheson nicht ; wohl aber in Hutchesons »Philosophiae moralis Institutio compendiaria lib. III Ethices et Jurisprudentiae Naturalis Elementa continens«, Glasg. 1745 ; in diesem Buch findet sich die angegebene Unterscheidung auf S. 6 f., hier heißt es : »Utrumque hoc perceptionum externarum genus dici potest directum et antecedens ; quod non alias ideas aut species praecurrentes exigat. Aliae autem sunt perceptiones, etiam earum specierum, quae non sine organis corporeis ad animum pervenirent, quas, distinguendi causa, dicimus reflexas aut subsequentes, quia alias prius admissas subsequantur ideas . . . « Vgl. übrigens auch a. a. O. S. 14 f. Ich nehme an, daß Smith dieses Werk (das 1747 auch in englischer Übersetzung erschien) im Auge hatte. (S. 537) Gemeint ist hier wieder die Moralphilosophie David Humes. Übrigens findet sich in Humes »Enquiry concerning the principles of morals« als Beispiel für das Wohlgefallen am Nützlichen gleichfalls der Hinweis auf eine Maschine und die Erwähnung eines »wohlkonstruierten Hauses« . (S. 544) Cicero spricht sich in »De officiis«, III , 19 gegen die Gültigkeit solcher durch Todesdrohung erpreßter Versprechen aus, Pufendorf teilt diese Ansicht und begründet sie (indem er gegen Grotius und Hobbes polemisiert) damit, daß nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen jedermann zur Wiedergutmachung eines schuldhafterweise verursachten Schadens verpflichtet sei, demnach der Räuber den Betrag, den er auf Grund einer derartigen Erpressung von seinem Opfer erhielte, zurückzuerstatten genötigt wäre ; man könne deshalb von einer Verpflichtung des Überfallenen, sein Versprechen zu halten, nicht sprechen, da er das Geleistete doch wieder zurückfordern könnte.
Anmerkungen des Herausgebers
(S. 563) Smith denkt natürlich an Platons Alterswerk »Nomoi« und an Ciceros »De Legibus«. (S. 563) Smith ist zur Ausführung dieses Versprechens nicht mehr gekommen. Vgl. Smiths Vorwort zur 6. Auflage.
NAMENREGISTER
Addison 201, 319 Ajax 464 Alexander 160, 347, 409, 412, 414 f. Antigonus 465 Antoninus 385, 470 Apollonius 466 Aristides 117 Aristipp 347, 480 Aristomenes 464 Aristoteles 342, 421, 438, 442, 444–447, 449, 489, 540, 563 Attila 412 Augustinus 544 Augustus 466, 490 Barbeyrac 544 Biron 76 Boileau 405 Borgia 118, 351 f. Brutus, d. Ältere 309 f. Brutus, Marcus 476 Buccanier 390 Buffier 320 Butler 319 Calas 193 f. Callisthenes 414
Camillus 117 Cassius 385 Catharina von Medici 392 Catilina 390, 411, 518 Cato 74, 411, 467, 468, 518 Cato, d. Ältere 337, 372 Chrysipp 223, 475 Cicero 205, 337, 379, 390, 393, 447, 460, 467, 476, 481, 503, 540, 544, 560, 563 Clarendon 392, 419 Clarke 436, 478 Claudius 323 Clytus 414 Condé, Prinz von 410 Cowley 46 Crassus 337 Crassus, Marcus 393 Cudworth 491, 522 D’Alembert 201 D’Avaux 374 Demosthenes 390 Descartes 513 Despreaux 201 Digby 392 Diogenes Laertius 447, 466, 481
Namenregister
Dryden 319 Dschingis 412 Du Bos 336 Epaphroditus 470 Epiktet 220, 223, 450, 452, 457, 459, 470 Epikur 461, 480–484, 486, 488 f., 502 f., 503 Eugen, Prinz 410 Eumenes 465 Euripides 465 Fontenelle 201 Gracchen 337 Gray 199, 224 Grotius 442 f., 563 Gustav Adolf 410
Johanna 239 Karl I. 81, 83 Karl II. 325 Karl V. 239 Kleanthes 475 Kleomenes 464, 465 La Fontaine 201 La Motte 201 La Rochefoucauld 89 Laktanz 466 Lauzun 235 Locke 52, 392, 528 Lucullus 159 Ludwig XIII. 97 Ludwig XIV. 84 Lukian 466 Lysander 393
Idame 369
Macchiavelli 352 Malebranche 249 Mandeville 503 f., 509, 511 f., 516 Marcellus 101 Marivaux 223 Marlborough 410 Massillon 209 Milton 199, 464 More, Henry 491 More, Sir Thomas 388
Jakob I. 113, 298 Jakob II. 83
Nero 118, 323 Newton 199
Hamlet 422 Herkules 43 Hippolytus 43 Hobbes 516, 521, 523 Homer 393 Horaz 46 Houbraken 388 Hutcheson 436, 491, 493, 495, 526 f., 544
Namenregister
Niobe 465 Olivet 460 Olympia 409 Ovid 46 Palmira 285 Parmenides 413 Parmenio 414 Pascal 218 Paulus Ämilius 88 Perrault 201 Persaeus 466 Peter von Rußland 347 Petrarca 46 Phaedra 47 Philipp von Kastilien 239 Philipp von Mazedonien 347, 390, 414 Philoktetes 43 Philopoemen 465 Phokion 465 Platon 211, 342, 381, 490, 563 Plinius 468 Plutarch 465 Pompeius 159 Pope 199, 201, 319, 472 Pufendorf 516, 544 Pythagoras 490 Quinault 201 Quintilian 319 Racine 198, 201, 223, 318
Raleigh 388 Regulus 467 Retz 93, 278, 374, 467 Riccoboni 223 Richardson 223 Richelieu 278 Robertson 239 Russel 388 Sallust 319 Santeuil 405 f. Scipio 117 Scipio Nasica 337, 372 Seid 243, 285 Seneca 74, 247, 319, 467, 476, 503 Shaftesbury 392 Sidney 388 Simson 199 Smith 491 Sokrates 74, 347, 388, 409, 465, 487 Solon 380 Stewart 199 Sully 97 Sulpitius 337 Swift 319, 347 Tacitus 319 Tamerlan 412 Themistokles 393, 464 Theramenes 465 Thomson 218
Namenregister
Tibull 46 Tigranes 164 Timoleon 117 Ulysses 393 Vertue 388 Voltaire 199, 211, 223, 284, 318, 347, 369
Wilhelm III. von England 374 Wollaston 479 Zamti 369 Zeno 223, 438, 447, 465 f., 466, 475, 489