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German Pages 236 Year 2014
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Migration
Theater | Band 39
Wolfgang Schneider (Hg.)
Theater und Migration Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis
Gefördert von der Stiftung Universität Hildesheim sowie dem COMEDIA Theater Köln, dem Kulturamt der Stadt Köln, der ASSITEJ Austria, dem Theaterfestival SCHÄXPIR in Linz und dem Land Oberösterreich.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Türkisch Gold« (COMEDIA Theater Köln), © MEYER ORIGINALS Redaktion: Aron Weigl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1844-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Warum wir kein Migranten-Theater brauchen … … aber eine Kulturpolitik, die in Personal, Produktion und Publikum der dramatischen Künste multiethnisch ist W OLFGANG S CHNEIDER | 9
THEATER ALS BÜHNE KULTURELLER I DENTITÄTEN Kulturelle Identitäten in Deutschland. Untersuchungen zur Rolle von Kunst, Kultur und Migration S USANNE K EUCHEL | 21 Postmigrantisches Theater. Eine neue Agenda für die deutschen Bühnen A ZADEH S HARIFI | 35 Kulturelle Identitäten als dramatisches Ereignis. Beobachtungen aus dem Kinder- und Jugendtheater A NNETT I SRAEL | 47 Begegnungen zwischen den Kulturen. Eine Theater- und Tanzkultur der Differenz und Ambivalenz M IRIAM D REYSSE | 65
T HEATER ALS AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM F REMDEN Über das Bekenntnis zur Uneindeutigkeit. Die Konstruktion des „Anderen“ und was die Theaterkunst dem entgegensetzen kann A ZAR M ORTAZAVI | 73 Nicht Mangel, sondern Besonderheit. Die Spiegelung des Migrationsbegriffs auf deutschen Bühnen S ANDRA C ZERWONKA | 77
Wer ist „wir“? Theaterarbeit in der interkulturellen Gesellschaft M ARIAM S OUFI S IAVASH | 83 Migration ist selbstverständlich. Das Schauspiel Köln beleuchtet die multikulturelle Gesellschaft S TEFAN K EIM | 91 „Auf den Spuren von… Eine Reise durch die europäische Migrationsgeschichte“. Der Prozess einer Performance V ANESSA L UTZ | 99
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Interkulturelles Audience Development? Barrieren der Nutzung öffentlicher Kulturangebote und Strategien für kulturelle Teilhabe und kulturelle Vielfalt B IRGIT M ANDEL | 111 Da kann ja jeder kommen!? Anmerkungen zu Theater und Migration im Social Turn B IANCA M ICHAELS | 123 Von der Nachhaltigkeit partizipativer Tanzprojekte. Wie die Caritas Wien Toleranz choreografiert C AROLIN B ERENDTS | 135
T HEATER ALS ANGEBOT INTERKULTURELLER S PIELPLÄNE „Jeder macht das mal auf seine Art und Weise“. Ansätze und Herausforderungen einer interkulturellen Spielplangestaltung C HRISTINA H OLTHAUS | 147 „Mir ist egal, woher Du kommst, denn wir spielen ohnehin andere Rollen“. Interkultureller Dialog am Dschungel Wien K EVIN L EPPEK | 159
Die Umkehrung des eigenen Blickes. Beobachtungen und Bekundungen aus dem Blickwinkel Berliner Theater N INA P ETERS | 169 „Aber ich wollte es nicht einfach“. Migration als Fragestellung im Spielplan des Schauspiel Hannover T HOMAS L ANG | 177 „Bühne der Kulturen“. Das Arkadas Theater Köln als Modellversuch L ALE K ONUK | 187 „Wir sind alle Wien!“ Integriertes Sprech- und Tanztheater der Gruppe „daskunst“ H EINZ W AGNER | 191
THEATER UND MIGRATION ALS AUFTRAG EINER KULTUR - UND BILDUNGSPOLITIK Transkulturelle Bildung. Eine Herausforderung für Theater und Schule V ANESSA -I SABELLE R EINWAND | 203 Theater und Migration in der internationalen Kulturarbeit. Komplexe Realitäten brauchen Kulturelle Bildung U TE H ANDWERG | 213 Theater und kulturelle Vielfalt in Großbritannien. Eine Herausforderung für die Kulturpolitik G RAHAM L EY | 219 Autoren | 229
Warum wir kein Migranten-Theater brauchen … … aber eine Kulturpolitik, die in Personal, Produktion und Publikum der dramatischen Künste multiethnisch ist W OLFGANG S CHNEIDER Deutschland sei ein Einwanderungsland, heißt es mittlerweile sogar in der offiziellen Sprachregelung der Politik. Und in der Tat hat mehr als ein Fünftel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Migration allerdings findet im deutschen Theater nur als Marginalie statt. Den Stadttheatern fehlt das Personal, die Ausbildungsstätten haben bei weiten nicht den repräsentativen Anteil an migrantischen Nachwuchs und das Publikum wird zwar weniger und älter, aber ganz und gar nicht bunter. Jüngste Debatten des Deutschen Bühnenvereins kommen Jahrzehnte zu spät, erste strukturelle Maßnahmen in der Theaterpraxis sind längst überfällig, einige Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum Thema sind hilfreich für den Diskurs, Konsequenzen für die Kulturpolitik wären aber noch zu formulieren. Ein Symposium des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim hatte sich im Sommer 2010 zum Ziel gesetzt, diesem Desiderat zu begegnen. Es galt Fragen über die gesellschaftliche Selbstverständigung in den dramatischen Künsten in Sachen Migration zu stellen, es galt theaterpolitische Konzepte zur Initiierung des Austauschs der Kulturen zu untersuchen. Welche künstlerischen Programme verhandeln den kulturellen Wandel, welche kulturvermittelnden Angebote brauchen die Bühnen und wie verändert eine solche Reform möglicherweise auch das gesamte System Theater? Integration ist in Zeiten von Globalisierungsprozessen eine der großen Herausforderungen gesellschaftlichen und politischen Handelns. Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, religiöser Orientierung und kultureller Tradition soll eine gleichberechtigte Teilhabe am alltäglichen Leben gewährt werden. Ziel von Integration ist auch die Respektierung kultureller Vielfalt in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft. Kulturpolitik kann im Integrationsbemühen eine zentrale Rolle spielen, in dem sie zum Verständnis sowie zur Anerkennung kultureller Differenzen beiträgt. Interkultur wird in diesem Zusammenhang als Schlüsselbegriff benutzt um
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den Anspruch von Kulturpolitik zu definieren und Integration mittels kultureller Praxis zu ermöglichen. Migration ist ein Faktum. Jedes dritte Kind in Deutschland kommt derzeit aus einer migrantischen Familie, in einigen Städten haben zum Teil weit mehr als die Hälfte der Schüler einen Migrationshintergrund. Millionen von Menschen in Österreich sind türkischer oder osteuropäischer oder afrikanischer Abstammung. Die Migrantenmilieus unterscheiden sich allerdings weniger nach ethnischer Herkunft als nach ihren Wertvorstellungen, Lebensstilen und ästhetischen Vorlieben. Die meisten Migranten1 verstehen sich als Angehörige der multiethnischen deutschen Gesellschaft, wie die Studie zur Lebenswelten und Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland und Nordrhein-Westfalen ermittelte (vgl. Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen 2010). Wichtigste Erkenntnis ist aber, dass Einwanderer sich in Kunst und Kultur stärker repräsentiert sehen möchten. Denn gerade mal ein Prozent der Bildungsveranstaltungen aller Kultureinrichtungen richten sich an migrantische Zielgruppen, nur neun Prozent kooperieren mit Migrantenkulturvereinen, aber die meisten sehen Kunst und Kultur in diesem Zusammenhang als Brückenfunktion, wie das Zentrum für Kulturforschung in einer Untersuchung für das Bundesbildungsministerium herausfand (vgl. Keuchel/Weil 2010). Kunst und Kultur sind aber für einen gelingenden interkulturellen Dialog unverzichtbar. Die den Künsten innewohnende Dynamik, ihr Experimentier- und Innovationscharakter, ihr emotionales Potenzial und nicht zuletzt auch die Möglichkeit der nonverbalen Kommunikation erleichtern und befördern die Begegnung mit anderen Kulturen und Traditionen und können die wechselseitige Akzeptanz verstärken. Besonders kulturelle Bildungsprozesse vermögen es, unterschiedliche Wertvorstellungen und Lebensformen zu vermitteln. Kenntnis und Verständnis füreinander sind wesentliche Voraussetzungen für ein gewaltfreies Zusammenleben in der Gesellschaft. Der Weg ist damit vorgeschrieben: Von der interkulturellen Herausforderung zur Interkulturalität. Ganz im Sinne des Europäischen Jahres des interkulturellen Dialogs, in dem sich vor allen die zivilgesellschaftlichen Akteure in besonderer Weise hervorgetan haben. Es gelte die Sicht auf das zu lenken, was wir gemeinsam werden könnten: „Wir wollen interkulturelle Innovation herbeiführen und interkulturelle Maßnahmen der öffentlichen Entscheidungsträger fördern. Wir müssen die Interkulturalität, d.h. das Prinzip, Kulturen durch interkulturelles Engagement zu entwickeln, zu unserer neuen menschlichen Norm erheben“ (Platform for Intercultural Europe 2008: 5), heißt es im so genannten Rainbow Paper. Was heißt das für die Theaterstätten und Theatergruppen in Deutschland und Österreich? Was tut sich, was gibt es an Konzepten? Welche multieth-
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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in dieser Publikation, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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nischen Angebote, welche interkulturelle Kunstvermittlung prägen die Modelle? In Köln wurde diskutiert, die Diskurse sind im Folgenden dokumentiert. Kulturwissenschaftler und Theaterkünstler haben das Wort, Kulturpolitik und Theaterpraxis stehen auf dem Prüfstand. Es gibt Überschneidungen, es gibt unterschiedliche Positionen, es gibt Theoretisches und Pragmatisches zu sagen.
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Susanne Keuchel legt mit empirischer Kulturforschung die Grundlagen für eine kulturpolitische Auseinandersetzung. Im Mittelpunkt steht dabei die Pilotstudie „Kulturelle Identitäten in Deutschland“, die das Zentrum für Kulturforschung und die Universität Hildesheim 2009 für den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien durchgeführt haben. Keuchel zeigt den aktuellen Forschungsstand zum Themenfeld „Kunst, Kultur und Migration“ auf, erläutert aktuelle Identitätskonzepte in unserer Gesellschaft, beschreibt die Rolle nationaler bzw. kultureller Identitäten und fragt nach der Brückenfunktion von Kunst für mehr interkulturelle Verständigung. Gerade diese Brückenfunktion wird in der Studie als existent benannt und Bevölkerungsumfragen zeigen, dass es durchaus ein Potenzial der Bevölkerung gibt, sich mit den Kulturen anderer Länder auseinanderzusetzen. Was ist postmigrantisches Theater? Wie unterscheidet es sich vom migrantischen Theater? Und wie vom bisherigen deutschsprachigen Theater? Diesen Fragen geht Azadeh Sharifi in ihrer Analyse nach. Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass Künstler mit Migrationsbiografie von ihrer deutschen Sozialisation ebenso geprägt sind wie von der Kultur ihres Herkunftslandes. Eine kurze Geschichte der Einwanderer auf den Bühnen führt zum Beispiel „Ballhaus Naunynstraße“ in Berlin-Kreuzberg. Im Jahr 1983 eröffnet, traten hier erste migrantische Theatergruppen auf. Mittlerweile wendet man sich dort auch programmatisch dem Thema Migration zu, zum Beispiel mit dem Theaterfestival Dogland 2008. Es geht dort nicht um eine bestimmte kulturelle Zugehörigkeit, sondern um die „postmigrantische künstlerische Suche“ nach einer erst herauszufindenden Identität, die Dekonstruktion von Stereotypen und die spezielle Aneignung von deutschem Kulturgut. Neben den Herausforderungen, die eine solche Kunst mit sich bringt, fragt Sharifi auch kritisch nach der Rolle der Kulturpolitik und fordert eine Agenda der kulturellen Vielfalt. Brechts Verfremdungstheorie und Simmels Beschreibung des Fremden, als die Person, die „heute kommt und morgen bleibt“, dienen Annett Israel als Grundlage einer eingehenden Analyse des Umgangs mit Migration und dem Fremden im zeitgenössischen Theater für Kinder und Jugendliche. Aus der Kombination der beiden Theorien eröffnet sich ein fremder Blick auf unseren eigenen Alltag und die Gesellschaft. Diesen „fremden Blick“ durch die Brille einer anderen Kultur sucht Israel auf den Bühnen des Kinder- und Jugendtheaters. In einem umfassenden Überblick schildert sie, wo sie fündig
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geworden ist. Dabei lassen sich die Produktionen, die sich mit Migration beschäftigen, in drei Bereiche gliedern: in Geschichten, in denen Kinder erstens Opfer von Krieg und Flucht werden, in denen sie sich auf Identitätssuche zwischen zwei Kulturen befinden und in denen sie als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse zum Täter werden. Die Autorin kritisiert, dass Migration auch im Theater oft nur entlang des öffentlichen Meinungsbildes behandelt wird und weist darauf hin, dass die Internationalität eines Theaters nicht automatisch einer Interkulturalität entspricht. Miriam Dreysse sieht Formen des interkulturellen Theaters und Tanzes im Zuge kolonialer und postkolonialer Prozesse entstehen. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit diese Begegnung verschiedener Kulturen inszeniert wird, ob man weiterhin in kolonialen Denkmustern verharrt, Differenzen einebnet oder vielmehr die Gleichwertigkeit und zugleich Diversität der Kulturen in den Blick nimmt. Am Beispiel des Künstlerduos Gintersdorfer/Klaßen, das seit 2005 mit dem ivorischen Performer Yao zusammenarbeitet, analysiert Dreysse jene Inszenierungen, die Letzteres versuchen.
T HEATER ALS A USEINANDERSETZUNG MIT DEM F REMDEN Mit ihrer Forderung für eine Abkehr von unhinterfragten Darstellungen von Stereotypen auf der Bühne formuliert Azar Mortazavi ein Plädoyer für das Übertragen einer längst vorhandenen Normalität in die Kunst. Mit dem Begriff von „Differenzkonstruktion“ nach Eggers argumentierend, sieht die Autorin in Theater und Film nach wie vor eine Stereotypisierung, die Klischees bestätigt, anstatt sie zu hinterfragen. Dass oftmals Künstler mit Migrationshintergrund für die stereotype Darstellung verantwortlich sind, macht diese nicht richtiger. Mortazavi fordert deshalb Geschichten, welche die tatsächliche kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft aufgreifen und Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund als selbstverständlichen Teil dieser begreifen. Sandra Czerwonka stellt fest: Das Thema Migration hat Konjunktur auf den Spielplänen der deutschen Theater. Sie fragt kritisch, ob es dabei um eine „kulturpolitische Pflichterfüllung“ geht und ob damit nur eine gewisse Abwechslung auf der Bühne erzeugt werden soll. Zudem bemängelt sie die Euphemisierung des Begriffs „Ausländer“ hin zu „Mitbürger mit Migrationshintergrund“ und bezieht sich dabei auf den Linguisten und Psychologen Pinker. Auch lässt sich bei den Inszenierungen, die das Thema aufgreifen, eine Verquickung von Migration und Dokumentation erkennen, die oftmals zu einer Problematisierung von Migration führt, die es aber langfristig zu vermeiden gilt. Vielmehr soll es um die Fremdheitserfahrung des Zuschauers gehen, um die Abweichung vom Bekannten. Mariam Soufi Siavash fragt danach, inwieweit Theater interkulturell arbeiten und wie diese Arbeit aussieht. Sie erläutert in einem ersten Schritt, wie es zu einer häufigeren Thematisierung kam. Dabei fällt auf, dass die
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freie Theaterszene lange vor dem institutionalisierten Theater Interkulturalität in das Schaffen integriert hat. Interkulturelle Theaterprojekte werden aktuell vor allem in der Theaterpädagogik und in Form von Sonderprojekten umgesetzt. Des Weiteren stellt die Autorin heraus, dass die Arbeitsweise häufig mit starkem Lebensweltbezug der Beteiligten sowie biografisch stattfindet. Dies geschieht auch in Form des Erzählens über sich selbst, was als „Empowerment“ funktioniert. Die Partizipation von sonst eher theaterfernen Jugendlichen führt darüber hinaus dazu, dass ein „anderes“ Publikum angesprochen wird. Ebenso wie diese Zielgruppe stehen die beteiligten Künstler mit Migrationshintergrund in der Gefahr auf ihre Herkunft reduziert zu werden. Deshalb fordert Soufi Siavash einen Perspektivwechsel, der die Neudefinition der deutschen Mehrheit voraussetzt. Das Schauspiel Köln wurde häufig als „Multikulti-Theater“ bezeichnet, da dessen Schauspieler unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben. Stefan Keim zeigt, dass es der Intendantin Karin Beier dabei nicht um die Zurschaustellung dieser Vielfalt geht, sondern lediglich um eine Selbstverständlichkeit. Dabei zeichnet der Autor die Entwicklung Beiers und des Schauspiel Köln seit 2007 nach und geht auf verschiedene Inszenierungen ein. Es geht um die Konfrontation mit dem Fremden und gleichzeitig mit sich selbst. Interkulturalität ist nicht, Schauspieler und Regisseure aus anderen Ländern zu beschäftigen, sondern sich mit den Themen des Fremden an sich und in sich auseinander zu setzen. Mit einer Analyse der Performance „Auf den Spuren von… Eine Reise durch die europäische Migrationsgeschichte“ der Fräulein Wunder AG zeigt Vanessa Lutz, wie mit künstlerischen Mitteln versucht wird, gesellschaftliche Trennungen in „Wir“ und die „Anderen“ aufzulösen. Ausgangspunkt der Performance ist die Frage, wer die Deutschen und wer die Fremden sind und damit verbunden der „Wunsch nach einem Verständnis für kulturelle Prozesse jenseits dieses binären Modells“. Dazu forschen die Konzeptentwickler, gleichzeitig auch die Performer, in ihrer jeweils eigenen Familiengeschichte nach Hinweisen auf Migration. Wie sich herausstellt, unterscheiden sich die Performer nicht in der Tatsache, ob sie einen Migrationshintergrund haben, sondern nur wann die Familie migriert war. Diese Erkenntnis aufnehmend brechen sie dann in der Performance das Gefüge Publikum und Akteure auf, und machen die Zuschauer zu einem Teil des Kollektivs, um so das theatrale Binärsystem zu überwinden. Dadurch kann der Zuschauer nicht einfach nur beobachten, sondern ist gezwungen, sich mit seiner eigenen Identität auseinanderzusetzen.
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Birgit Mandel argumentiert, dass sich Kultureinrichtungen mit dem Thema Migration beschäftigen sollten, da es ihre Aufgabe ist, möglichst für viele Gruppen der Gesellschaft zu arbeiten. Dabei betont sie die Dialogfunktion
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von Kunst, die dazu beitragen kann, das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen zu fördern. Um überhaupt Strategien hierfür entwickeln zu können, muss die Generierung von Wissen über kulturelle Interessen und Barrieren vorgeschaltet werden. Als Ergebnisse der Besucherforschung stellt die Autorin zum Beispiel heraus, dass kulturelle Nutzung nicht vorwiegend von der ethnischen Herkunft abhängt, sondern von Bildung, sozialer Lage, Einstellungen und Herkunftsraum. Sie nennt Barrieren der Kulturnutzung allgemein und eröffnet Ansatzpunkte für ein interkulturelles Audience Development am Beispiel Großbritanniens. Abschließend beschreibt Mandel die Chancen und Herausforderungen eines Wandels der Kulturinstitutionen unter interkultureller Perspektive. Theoretische Grundlage der Analyse von Bianca Michaels ist der Begriff des Social Turn im Sinne einer Einbeziehung sozialer Prozesse in künstlerische Aktivitäten. Bezogen auf das Theater geht es, so die Autorin, meist um partizipative Projekte und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität im Allgemeinen wie im Speziellen. Zuerst nimmt Michaels eine Einordnung des Themas Migration in die aktuelle Entwicklung sich im Theater mit sozialen Fragen zu beschäftigen vor. Des Weiteren geht es Michaels vor allem um institutionelle Bedingungen dieser Entwicklung, im Sinne der Frage nach Legitimität bestehender Strukturen. Die Beschäftigung mit Menschen mit Migrationshintergrund sieht sie als Symptom des Aufbrechens der ehemals homogenen Zielgruppe des Theaters. Theater, die sich einer interkulturellen Öffnung verschließen, laufen demnach Gefahr sich in der Zukunft selbst zu marginalisieren. Den Social Turn begreift Michaels letztlich als Chance nicht nur ein neues Selbstverständnis von Theaterschaffenden zu bewirken, sondern außerdem daraus eine neue „Funktionsbestimmung von Theater in der Gesellschaft“ sowie eine neue „kulturpolitische Legitimation“ zu entwickeln. Wie können partizipative Kunstprojekte erfolgreich verschiedene Zielgruppen mit und ohne Migrationshintergrund erreichen und wie kann diese erfolgreiche Arbeit dann nachhaltig und dauerhaft weitergeführt werden? Am Beispiel des erfolgreichen Community Dance Projektes „Tanz die Toleranz“ in Wien zeigt Carolin Berendts Strategien auf, wie diese Ziele erreicht werden können. Sie zeichnet die Entwicklung des Projektes nach, das von der Caritas Wien organisiert wird und dadurch von vorneherein die Verbindung von Kunst und Sozialem integrierte. Berendts argumentiert, dass die Kunstform des Community Dance dabei besonders geeignet ist, interkulturelles Lernen und Integration zu fördern. Als strukturelle Faktoren für den Erfolg des Projektes nennt sie Projektteam, Choreografen, Vernetzung, institutionelle Unterstützung sowie Mut zur Innovation.
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INTERKULTURELLER
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Christina Holthaus geht in ihrem Beitrag den derzeitigen Problemen einer interkulturellen Spielplangestaltung auf den Grund und diskutiert, wie ein
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zeitgemäßes interkulturelles Theater aussehen sollte. Dabei geht es um Ansatzpunkte einer interkulturellen Ausrichtung, dem internationalen Austausch von Theatern, partizipativen Produktionen sowie dem Potenzial der Mehrsprachigkeit. Einzelne Projekte mit interkultureller Ausrichtung können ein Einstieg sein, so Holthaus, langfristig wären aber Strukturen und Inhalte zu überdenken, die Interkulturalität „zu einem selbstverständlichen Moment im Zentrum der Theaterarbeit werden“ lassen. Die Autorin will Interkulturalität als Querschnittsaufgabe eines Theaters verstanden wissen, die auch den Abbau von Barrieren hinsichtlich Publikum und eingeladenen Ensembles vornimmt, und so durch eine inhaltliche, personelle sowie konzeptuelle interkulturelle Ausrichtung neue gesellschaftliche Relevanz gewinnt. Kevin Leppeks Ausgangsthese, dass das Theater ein bedeutender Faktor bei der interkulturellen Entwicklung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung ist, führt ihn zur exemplarischen Hervorhebung des „Theaterhaus für junges Publikum – Dschungel Wien“. Seit der Gründung im Jahr 2004 wird hier bewusst der interkulturelle Dialog gepflegt, die kulturelle und künstlerische Vielfalt gefördert. Dies zeigt sich unter anderem in der integrativen Vermittlungsarbeit und der Kooperation mit Schulen und Vereinen sowie durch die regelmäßig veranstalteten Länderschwerpunkte. So werden Gastspiele vor allem aus anderen europäischen Ländern eingeladen. Genauso stehen Eigen- und Koproduktionen auf dem Programm, die interkulturelle Themen behandeln. Man will darin grundsätzlich das passive Beobachten der jungen Zuschauer vermeiden und aktives Mitdenken bewirken, so Leppek. Mit dem Fokus auf die Behandlung des Themas „Migration“ im Berliner Theaterschaffen zeigt Nina Peters auch für das Theater allgemein entscheidende Entwicklungen und Ausdifferenzierungen auf. Dabei bezieht sie die aktuelle gesellschaftliche Diskussion um Integration und Migration, um Sarrazin und Sezgin mit ein. Als Vorreiter für die Beschäftigung mit dem Thema in Berlin macht die Autorin die freie Szene aus. Auf die Berliner Kinderund Jugendtheater geht Peters ebenso ein wie auf den Heimathafen Neukölln, der einen besonderen Bezug zum direkten städtischen Umfeld im Kiez geschaffen hat. Die Frage, wie lange das Label „postmigrantisches Theater“ überhaupt noch gebraucht wird, stellt die Autorin zur Debatte und fügt hinzu, dass sich auch die Kulturpolitik genau überlegen sollte, „wie die Fördergelder der Zukunft für welches Theater verteilt werden“. Thomas Lang beschreibt anhand des Schauspiel Hannover, wie das Thema Migration Eingang in die Spielplanpolitik einer Theaterbühne findet. Er verweist dabei auf die aktuelle Debatte, wie sie an den deutschen Theatern und den Fachzeitschriften geführt wird. Als eines der Theater, die Fragen der Migration als Selbstverständlichkeit in den Spielplan aufgenommen haben, untersucht Lang beispielhaft Produktionen des Niedersächsischen Staatstheaters und zeigt wie Intendant Lars-Ole Walburg seine Ziele umsetzt. Zu diesen Zielen gehört unter anderem „die verschiedenen Meinungen hörbar zu machen“ oder gesellschaftliche Fragen und politische Diskussio-
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nen aufzugreifen und in die Kunst zu integrieren. Fragen der Migration werden also verknüpft mit „anderen wesentlichen gesellschaftlichen Fragen der Zeit“. Und das ist auch die Forderung, die Lang am Ende an das Theater stellt: diesen Fragen nicht auszuweichen, sondern sie selbstverständlich zu stellen. Als Geschäftsführerin der Ehrenfelder Spielstätte des Arkadas Theaters Köln in den Jahren 2006 bis 2010 tätig, beschreibt Lale Konuk das dortige Konzept „Bühne der Kulturen“. Konuk geht auf die strukturellen und politischen Bedingungen ebenso ein wie auf die ästhetischen Entwicklungen, die dazu führten, dass sich die unterfinanzierte Spielstätte wieder fest etablieren konnte und institutionelle Förderung erhielt. Als ausschlaggebend zeigten sich dabei die interkulturelle Programmgestaltung sowie die Mischung aus experimentellen Gastspielinszenierungen und Programmen von Community-Künstlern. Bestandteile der konzeptionellen Neugestaltung waren die gezielte Förderung von Künstlern mit Migrationshintergrund, der Schwerpunkt Zeitgenössischer Tanz und Kooperationen im Bereich Literatur/Comedy/ Musik. Als entscheidend für die erfolgreiche Arbeit von zugewanderten Künstlern bezeichnet Konuk die Existenz einer professionellen Beratung und Vermittlung zur Hilfe bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Projekte, besonders in Bezug auf regionale Gegebenheiten. Dass Interkulturalität vor allem abseits der großen Häuser zu einem grundlegenden Element der Theaterarbeit geworden ist, zeigt Heinz Wagner anhand des Wiener Ensembles „daskunst“. In den Produktionen dieses Theater- und Kulturvereins unter der künstlerischen Leitung von Aslı Kıúlal sind die verschiedenen Herkunftskulturen der Mitwirkenden Teil der Normalität und spiegeln lediglich die gesellschaftliche Wirklichkeit wider. Thematisch befasst sich „daskunst“ deshalb nicht ausschließlich mit Migration, wenngleich durch die kulturelle Vielfalt das Thema Eingang in die Arbeit findet. Vielfältig sollen auch die Mittel sein. Interdisziplinarität und Multimedialität ist Programm seit das Ensemble 2004 gegründet wurde. Wagner sieht in der Selbstverständlichkeit, mit der Fragestellungen zu Interkulturalität und Einwanderung in die Produktionen integriert werden, ohne dabei zu problematisieren, eine wünschenswerte Entwicklung.
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Vanessa-Isabelle Reinwand analysiert die Auswirkungen gesellschaftlicher Transkulturalität auf kulturelle Bildungsprozesse und untersucht, inwiefern Kultur- und Bildungsinstitutionen derzeit in der Lage sind diesen Herausforderungen zu begegnen bzw. die damit verbundenen Chancen zu nutzen. Bezugnehmend auf den Begriff der Transkulturalität im Sinne von Welsch, geht Reinwand davon aus, dass in jedem Menschen verschiedenartige kulturelle Einflüsse sich individuell zu einer Identität verbinden. Die Differenzerfahrung zwischen Fremdem und Vertrautem ist elementarer Bestandteil Kul-
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tureller Bildung und damit ist diese nach Reinwand in besonderem Maße dazu geeignet, Integrations- und Transformationsprozesse anzustoßen. Bildungseinrichtungen wie Kindertageseinrichtungen und Schulen müssen demnach die Idee einer transkulturellen Bildung ihrem Handeln zugrunde legen, so die Forderung. Zudem werden qualifizierte Vermittler gebraucht, die entsprechende Programme in die Praxis umsetzen können. Als bildungsund kulturpolitische Aufgaben benennt Reinwand die Förderung von rezeptiver und produktiver Beschäftigung mit den Künsten im Schulalltag sowie von künstlerischer Heterogenität und Individualität. Theater ist bei der Entwicklung transkultureller Orientierungen eines der wirksamsten Bildungsmittel. Aus einer bildungspolitischen Sichtweise heraus, setzt Ute Handwerg die beiden nationalen Debatten „Bildung nach PISA“ und „Deutschland als Einwanderungsland“ in einen Zusammenhang zueinander. Im Zuge dessen sieht sie auch die wachsende Bedeutung von Kultureller Bildung in Politik und Gesellschaft. Besonderer Betrachtung widmet Handwerg der interkulturellen theaterpädagogischen Arbeit. Was die internationale Theaterarbeit angeht, so sieht die Autorin einen Mangel an Konzepten in der Auswärtigen Kulturpolitik. Als beispielhaft benennt sie das vom Bundesjugendministerium geförderte Programm der jugendpolitischen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern. Hier funktioniert der Aufbau von nachhaltigen und gegenseitigen Kooperationen durch die Einbindung zivilgesellschaftlicher Strukturen und kulturvermittelnder Ansätze. „Cultural Diversity“ ist ein Begriff, der in den letzten Jahren Eingang in die Kulturförderung Großbritanniens gefunden hat, so Graham Ley. Anhand einiger Beispiele britisch-asiatischer Theatergruppen einerseits und Maßnahmen der britischen Kulturpolitik andererseits zeigt Ley die Herausforderungen der kulturellen Vielfalt in Großbritannien auf. Er zeichnet die Dynamik der Entwicklung kultureller Vielfalt nach und verweist dabei auf die britische Einwanderungspolitik, welche unter anderem die Gründung asiatischer Theatergruppen nach sich zog. Die Beispiele „Tara Arts“ und „Tamasha Theatre Company“ zeigen, dass in diesen Fällen kulturelle Selbstrepräsentation als Hauptmotiv der Theaterarbeit angesehen werden kann. Daneben war die Entscheidung der Förderinstitutionen wie des Arts Council, das mittels groß angelegter Initiativen die Einbindung von Kulturschaffenden mit Migrationshintergrund bewirkt hat, entscheidend für das Schaffen britisch-asiatischer Theaterkünstler. Der Autor betont, dass diese Unterstützung zudem einen besonderen Nutzen für die englische Theaterszene insgesamt gebracht hat. Nur im Zusammenspiel von Kulturschaffenden und Kulturpolitik ist dies gelungen. Das britische Modell kann zeigen, wie es geht, wenn eine Gesellschaft nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten Zuwanderung sanktioniert. Deshalb steht am Schluss dieser Publikation ein Beitrag aus diesem Land, in dem kulturpolitische Initiativen und Instrumente zu einer multiethnischen Theaterszene beigetragen haben. Da gibt es in Deutschland und in Öster-
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reich noch einiges zu tun. Es sind einzelne Beispiele, die hier zusammengetragen werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind in der Tat einige Beobachtungen zu machen, wie die Theater die interkulturelle Herausforderung aufnehmen. Von einer konzeptionellen Strategie ist die Kulturpolitik allerdings weit entfernt. Einige freie Gruppen leisten Pionierarbeit in der selbstverständlichen multiethnischen Kooperation und produzieren Theaterkunst mit und für Migranten, thematisieren Migration und sind dabei auch selbst Teil des postmigrantischen Kulturschaffens; einige institutionell organisierte Theaterhäuser bieten ihre Bühnen den Gruppen und Gastspielen, die sich mit dem Fremden, dem Anderen, der Differenz in dramatischen Geschehen auseinandersetzen; einige Stadt- und Staatstheater setzen vor allem auf die kulturelle Teilhabe, pflegen am Rande ihres Spielplans theaterpädagogische Projekte für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Es sind in besonderer Weise die Kinder- und Jugendtheater, die durch den Besuch von Schulklassen die gesamte Bandbreite der Gesellschaft im Publikum versammeln und die Aufgabe der interkulturellen Bildung einer inhaltlichen und ästhetischen Theatererziehung sowie dem Konzept des Audience Development wahrnehmen. Aus all den Überlegungen, aus all den theoretischen Diskursen, aus all den Analysen der Praxis lassen sich Erkenntnisse erzielen, die Eingang in einen Auftrag an die Kulturpolitik finden sollten. Die Entwicklung der Theaterlandschaften darf nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben, sondern muss aus Verantwortung, öffentliche Mittel nicht nur den klassischen Kulturnutzern zu Gute kommen zu lassen, der gesamten Gesellschaft ein Theater für alle ermöglichen. Wir brauchen keinen Migranten-Stadl, wir brauchen eine umfassende Reform des Theatersystems!
L ITERATUR Keuchel, Susanne/Weil, Benjamin (2010): Lernorte oder Kulturtempel. Infrastrukturerhebung. Bildungsangebote in klassischen Kultureinrichtungen, Köln: ARCult Media. Platform for Intercultural Europe (Hg.) (2008): Das Rainbow Paper. Interkultureller Dialog: Aus der Praxis zur Politik und zurück, deutsche Fassung, http://rainbow paper.labforculture.org/signup/public/read [20.04.2011]. Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2010): Von Kult bis Kultur. Von Lebenswelt bis Lebensart, http://www.interkulturpro.de/ik_pdf/Sinus-Studie _2009.pdf [19.03.2011].
Theater als Bühne kultureller Identitäten
Kulturelle Identitäten in Deutschland Untersuchungen zur Rolle von Kunst, Kultur und Migration S USANNE K EUCHEL Der Bevölkerungsanteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt derzeit in Deutschland bei 19,6 Prozent. Mit knapp 2,5 Millionen Menschen ist die Gruppe mit türkischem Migrationshintergrund die weitaus größte. Mit großem Abstand folgen als weitere häufige Herkunftsländer Italien, Polen, die Länder des Nahen und Mittleren Ostens und die Russische Föderation (vgl. Statistisches Bundesamt 2010). Die Zahlen verdeutlichen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, wobei das Phänomen der Migration die Bevölkerungsstruktur der verschiedenen Regionen Deutschlands unterschiedlich beeinflusst. Während 2007 in Hamburg, Bremen und Baden-Württemberg der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund sogar bei einem Viertel der Bevölkerung liegt und auch in Hessen, Berlin und NRW noch mehr als jeder fünfte Einwohner eine Migrationsgeschichte hat, steht demgegenüber für die neuen Bundesländer (ohne Berlin) bloß ein Anteil von fünf Prozent (vgl. BaMF 2010: 341). Prognosen darüber, wie sich der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund zukünftig entwickeln wird, sind kaum möglich, da dies von Faktoren wie der zukünftigen Außenwanderung ebenso abhängt wie von der Geburten- und Sterberate in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen (vgl. Schimany 2007: 113ff). Einen Eindruck vom Einfluss der Migration auf die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft gibt der Mikrozensus im Jahr 2007: Schon jedes dritte Kind der unter Fünfjährigen hatte einen Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt 2009: 48). In Deutschland haben Fragen des Zusammenlebens in einer von Einwanderung geprägten Gesellschaft zu Diskussionen geführt, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft integriert und wie zugleich Frei- und Erfahrungsräume für ein Zusammenleben auf der Basis kultureller Vielfalt entstehen können. Kultur könnte eine Schlüsselrolle einnehmen. So heißt es im Endbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“: „Im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung bedarf es der identitätsstiftenden Wirkung von Kunst und Kultur“ (Deutscher Bundestag 2007a: 43). Über
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das Medium Kunst und Kultur kann die Gesellschaft sich an Fragen annähern, die in anderen Diskursformen derzeit nur schwer zugänglich sind. Im Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration heißt es, dass als „Zielperspektive“ eine „Kultur der Vielfalt“ formuliert wird, „die kulturelle Eigenständigkeit respektiert, neue Formen der Kommunikation und Kooperation entwickelt und Kulturelle Bildung und Kulturarbeit weniger als Kulturvermittlung im traditionellen Sinne als vielmehr als ‚Kulturtransfer‘ und ‚interkulturellen Dialog‘ organisiert“ (Deutscher Bundestag 2007b: 93). Im Fokus der Vermittlungsarbeit gilt es also nicht, die eigene nationale bzw. europäische Kultur in Bildungsangeboten zu vermitteln, sondern dialogisch eine gemeinsame Ebene zu schaffen für mehr Akzeptanz, Verständnis und Wertschätzung von kulturellen Unterschieden und Leistungen innerhalb einer Gesellschaft, die sich durch Anerkennung der Unterschiede und Vielfalt einzelner Gruppen dennoch oder gerade dadurch als eine Gemeinschaft versteht. Die eigene kulturelle Identität wird hier als das Fundament gesehen, um mit kultureller Vielfalt umgehen zu können. Die Pilotstudie „Kulturelle Identitäten in Deutschland“, die das Zentrum für Kulturforschung und die Universität Hildesheim im Jahr 2009 für den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien durchführte, gliedert sich in drei Aufgabenfelder: Erstens wurden bestehende Bevölkerungsumfragen und empirische Untersuchungen zum Themenfeld Kunst, Kultur und Migration sekundäranalytisch ausgewertet. Zweitens wurde der aktuelle Forschungsstand zum Themenfeld der Identitätsforschung, kultureller und nationaler Identitäten systematisch zusammengetragen. Der dritte Teil reflektierte das zusammengetragene Material im Rahmen einer explorativen, qualitativen Befragung basierend auf zwölf Gesprächen. Die Stichprobe setzte sich dabei aus Künstlern und Nicht-Künstlern mit und ohne Migrationserfahrung zusammen. Im Fokus der Studie standen die Künstler mit Migrationserfahrung, deren Präsenz entsprechend in der Stichprobe höher war. Aufgrund vorliegender Studien, die nachgewiesen haben, dass der Faktor Bildung sowohl für integrations- wie kunstbezogene Fragen Relevanz besitzt, wurde dieser bei der Stichprobenzusammensetzung entsprechend berücksichtigt, ebenso wie die Verteilung der Herkunftsländer der Migranten in Deutschland.
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Die Enquete-Kommission empfahl, „dem erhöhten Forschungsbedarf im Bereich Interkultur Rechnung zu tragen“ (Deutscher Bundestag 2007a: 215f.). In den letzten Jahren wurden viele empirische Studien zur Migration in Deutschland durchgeführt. Exemplarisch zu erwähnen sind hier die Studie „Muslime in Deutschland“ im Auftrag des Bundespresseamtes (vgl. TNS Infratest Sozialforschung Berlin), die sehr umfangreiche Arbeit „Mus-
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limisches Leben in Deutschland“ im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BaMF) (vgl. Haug/Müssig/Stichs 2009) oder die repräsentative Bevölkerungsumfrage „Zuwanderer in Deutschland“ des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bertelsmann Stiftung (vgl. Walther 2009). Dabei wurden im Bereich Kultur selektiv bisher nur Bereiche wie Schulbildung, Sprache, Mediennutzung, politische und vor allem religiöse Einstellungen und Werte untersucht. Es fehlt zusammenhängendes Wissen über Zugänge zur Kunst, über kulturelle Teilhabe und künstlerische Kreativität. Teilbereiche werden in der Sinus-Milieu-Migranten-Studie (Sinus Sociovision 2008), in einer Studie des ZAD in Berlin (vgl. Zentrum für Audience Development 2009) und einer Studie des Zentrums für Kulturforschung (ZfKf) für das Bundesministerium für Bildung und Forschung zu Bildungsangeboten in Kultureinrichtungen mit einem Fokus auf Migrantenangebote (Keuchel/Weil 2010) thematisiert. Trotz der inhaltlichen Breite der bisherigen Migrationsforschung besteht eine große Forschungslücke bei der empirischen Betrachtung der Bereiche Kunst und Kultur. So gibt es kein gesichertes Wissen über die kulturelle Identität Deutscher mit Migrationshintergrund. Fühlen sie sich einer türkischen Kultur, einer deutschen, einer deutsch-türkischen, europäischen, populären oder anderen Lebenskultur verbunden? Singen sie türkische Lieder, sehen sie Kulturzeit und/oder James Bond im Kino? Und wie sieht es mit der kulturellen Identität der Bevölkerung ohne konkrete Migrationserfahrung aus? Welche kulturellen Erfahrungen prägen uns? Wo bilden sich gemeinsame kulturelle Erfahrungen? Welche neuen hybriden Formen entwickeln sich durch das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturellen Erfahrungen? Mit Blick auf fehlende Grundlagenforschung fehlt es in Schule, Kulturund kulturellen Bildungseinrichtungen auch an geeigneten Vermittlungskonzepten im Bereich der Kulturellen Bildung. Die vorausgehend erwähnte empirische ZfKf-Studie, die das Bildungsangebot der klassischen Kultureinrichtungen in Deutschland, wie Theater, Museen, Orchester und Bibliotheken systematisch erfasste, zeigt auf, dass unter den im Jahr 2008 erfassten Bildungsveranstaltungen aller Kultureinrichtungen gerade einmal ein Prozent auch explizit an migrantische Zielgruppen adressiert waren. Nur neun Prozent der Einrichtungen kooperieren beispielsweise mit Migrantenkulturvereinen. Die Rückmeldungen der Einrichtungen belegen dabei kein Desinteresse an dieser großen Bevölkerungsgruppe als vielmehr Unsicherheit. So möchten 24 Prozent der Einrichtungen künftig mehr Bildungsangebote für migrantische Zielgruppen etablieren. Eine Fachtagung mit den Fachverbänden am 29.4.2010 in Bonn verdeutlichte jedoch viele offene Fragen zur Konzeption solcher Angebote. Die Unsicherheit im Bereich Kunst, Kultur und heutiger Migration spiegelt sich auch in der Begriffsvielfalt wieder, mit der man versucht das The-
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menfeld in der Fachdiskussion zu beschreiben. Die Konzepte „Multikulti“, „Interkultur“ oder „Transkultur“ sind Definitionsversuche, welche die künstlerischen und kulturellen Migrationsprozesse beschreiben sollen: das losgelöste Nebeneinanderstehen der Kunst aus Herkunftsländern und Einwanderungsland; die Dialogform, die jedoch im Bestandteil sehr schwer zu beschreiben ist – einerseits ein Kennenlernen der Kunst des „Anderen“, andererseits die gemeinsame Entwicklung „neuer Kunstformen“, die auch unter dem Label „hybride Formen“ etikettiert werden –; die Aufhebung von Kunstformen, die (Länder-)Grenzen unterliegen; Individuen mit unterschiedlichen Kunsterfahrungen, die auf Basis dieser Differenz ein gemeinsames Verständnis aufbauen. Speziell bei der Diskussion um transkulturelle Phänomene spielt auch die Identität des Einzelnen bezogen auf Migrationserfahrungen eine wichtige Rolle ebenso wie Gobalisierungseffekte durch Medien. Gemeinsam ist allen drei Definitionsversuchen die Ablehnung einer uniformen, globalen „Weltkultur“, was als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass der Mensch kulturelle Symbole benötigt, die zwei Funktionen erfüllen: das Schaffen einerseits einer Gruppenzugehörigkeit, andererseits einer Basis, durch die man sich von anderen unterscheidet.
Z U I DENTITÄTSKONZEPTEN IN UNSERER G ESELLSCHAFT Ältere Identitätskonzepte gehen von einer Stabilität und Kohärenz der Identität einer Person aus, wie sie beispielsweise der deutsch-amerikanische Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Erik H. Erikson in den 1970er Jahren beschreibt. Demzufolge löst der Mensch während der Adoleszenz den zentralen Konflikt zwischen „Identität“ und „Rollendiffusion“ (Montada 1998: 65) und integriert verschiedene Aspekte, wie Geschlecht, Herkunft, Religion oder Moral zu einem konsistenten persönlichen Selbstbild, welches in der Folge den Kern der Identität ausmache. Neuere Konzepte, wie das des Sozialpsychologen Heiner Keupp weisen dagegen die Vorstellung eines Kerns der Identität zurück und konzipieren Identität stattdessen als dynamisches Rahmenkonzept, das niemals abgeschlossen ist. Das Individuum kann dabei gleichzeitig mehrere, sich auf unterschiedliche Aspekte wie Beruf, Familie oder Hobbies beziehende, so genannte „Identitätsprojekte“ (Keupp 2008: 189) verfolgen. Die Herstellung der Identität wird dabei als offener Prozess konzipiert. Dabei gilt es, entstehende Konflikte zu lösen und das Patchwork durch eine persönlich sinnvoll erscheinende Narrationsarbeit zu verknüpfen (vgl. hierzu auch Sen 2007).
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Abbildung 1: Schematische Darstellung des Modells der alltäglichen Identitätsarbeit nach Keupp (2008: 266f.)
Quelle: ZfKf 2009.
Die neueren Konzepte der Identitätsforschung sprechen somit auch einer Migrationserfahrung im Erwachsenenalter die Möglichkeit zu, die eigene Identität weiterzuentwickeln bzw. zu verändern. In den qualitativen Gesprächen der Pilotstudie wurde diese Ansicht von den Befragten mit Migrationserfahrung geteilt und auch Lebensaspekte benannt, die nach Meinung der Gesprächspartner die Identitätsbildung im Erwachsenenalter beeinflussten, wie beispielsweise der Beruf oder die Elternrolle. Auch Migrationserfahrung wird als Prägung der Persönlichkeit empfunden. Was im Umkehrschluss bedeutet: Die Reduzierung einer Person mit Migrationserfahrung auf das Herkunftsland, wie dies in der Praxis oft gehandhabt wird, greift immer nur einen Teilaspekt der Person auf, die eben auch vom Aufnahmeland und vielen weiteren Aspekten geprägt wird. „Teilidentitäten“ (ebd.: 60) bzw. unterschiedliche Rollen, welche die Gesprächspartner der Pilotstudie in ihrem Leben einnehmen, können in ihrer Gewichtung der folgenden Übersicht entnommen werden, wobei Konsens darüber herrscht, dass die Rolle des Familienmitglieds, insbesondere die Elternrolle, und die des Berufstätigen einen dominierenden Stellenwert einnehmen. Neben Familie und Beruf spielen für die Gesprächspartner mit Migrationserfahrung die Nationalität und (weniger) die Religion eine wichtige Rolle, für kulturelle Identitäten in Deutschland ohne Migrationshintergrund das soziale Umfeld, Freunde, Nachbarn und das Ehrenamt bzw. Vereinsleben.
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Abbildung 2: Eigene „Rollen“ bzw. Teilidentitäten und deren Gewichtung nach Einschätzung der qualitativen Gesprächspartner Quelle: ZfKf 2009.
Bei der Frage nach dem Einfluss der Gesellschaft auf die eigene Identitätsbildung fällt auf, dass speziell die Künstler als auch die Personen mit Migrationserfahrung den Einfluss der Gruppe eher gering einstufen: „Ich bin von meinen Wurzeln geprägt, aber die Hauptsache sind meine Persönlichkeit, meine künstlerische Tätigkeit und mein Verstand. Ich kann jede Kultur mit meiner Vergangenheit und Kunst aufnehmen und bearbeiten.“ (Türkischer Maler)
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VON NATIONALEN UND KULTURELLEN I DENTITÄTEN Bei der Analyse der Teilidentitäten der Gesprächspartner in den qualitativen Interviews wird deutlich, dass der nationale Faktor für Menschen mit Migrationserfahrung einen wichtigeren Stellenwert einnimmt als für Menschen ohne Migrationsgeschichte. Die Mehrzahl der Menschen mit Migrationshintergrund hob ihr Herkunftsland als Referenzpunkt der eigenen Person hervor. Die befragten Deutschen ohne konkrete Migrationserfahrung thematisierten ihre Nationalität dagegen nicht. Es stellt sich hier die Frage, ob dies geschichtsbedingt ein typisch deutsches Phänomen ist oder ob die Nationalität ohne Migrationserfahrung allgemein weniger im Mittelpunkt steht. Der Begriff der kulturellen Identität wird in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft oftmals in Einklang gebracht mit dem der nationalen Identität. Interessanterweise gaben alle befragten Kulturexperten unabhängig von ihrem Migrationsstatus an, dass Kulturen durch spezifische Bedingungen zumindest teilweise an Länder oder Regionen gebunden sind und auch die Nicht-Künstler waren trotz einzelner Zweifler in der Mehrzahl dieser Mei-
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nung. „Natürlich sind Kulturen an Staaten und Regionen gebunden. Bei der Entstehung von Differenzen spielt die Religion ebenso eine große Rolle wie die wirtschaftliche Entwicklung und die Geschichte eines Landes.“ (Türkischer Maler) In aktuellen repräsentativen, bundesweiten ZfKf-Bevölkerungsumfragen wird deutlich, dass vor allem die junge Bevölkerung, die, wie eingangs skizziert, in ganz anderem Maße von der Migrationsentwicklung berührt wird, eine Beziehung zwischen Kultur und Nation sieht. Kultur ist für die junge Bevölkerung und vor allem für junge migrantische Gruppen neben der Übersetzung in einen klassisch-traditionellen Kunstbegriff, der konform ist mit dem Verständnis älterer deutscher Bevölkerungsgruppen, heute in der Wahrnehmung primär die „Kultur der Länder und Völker“ (Keuchel 2010: 233). Abbildung 3: Persönliche Definition von Kultur in einer offenen Fragestellung bei verschiedenen bundesweiten ZfKf-Bevölkerungsumfragen (vgl. ZfKf 2005; Keuchel/Wiesand 2006; Keuchel/Wiesand 2008)
Quelle: ZfKf 2004/2005/2007.
Gründe für die stärkere Wahrnehmung und Betonung der eigenen Nationalität speziell bei Menschen mit nationaler Migrationsgeschichte findet man bei den Theorien der Vertreter der Cultural Studies wie dem britischen Soziologen Stuart Hall, der die Entstehung kultureller Identität auf Grundlage der „Abweichung von der kulturellen Norm“ (Assmann 2005: 172) erklärt. Ein Modell, dessen praktische Wirksamkeit die Aussage einer deutschrussischen Interviewten verdeutlicht: „In Russland waren wir immer Deutsche. Hier sind wir immer Russen.“ (Deutschrussische Nicht-Künstlerin) Eine andere Beobachtung in der Pilotstudie, die sich für die verschiedenen Gruppen in ähnlicher Weise darstellte, war der deutlich spürbare Identi-
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tätsfaktor der eigenen Wohnregion. Man ist Rheinländer, „Ruhri“ oder Berliner. Diese Beobachtung deckt sich mit Thesen der regionalen Identitätsforschung, die davon ausgehen, dass in Zeiten von Globalisierung und europäischer Integration regionale Bezüge wieder an Relevanz gewinnen (vgl. Buß 2002: 19ff.). Auch wenn speziell die befragten Künstler mit Migrationshintergrund die Kultur des Herkunftslandes als wichtigen Bezugspunkt hervorheben, so verweisen sie zugleich in den qualitativen Gesprächen auf weitere wichtige Bezugssysteme wie die Kultur aus Deutschland, Europa und/oder auch Kultur als Ganzes. Die meisten Künstler mit Migrationserfahrung fühlen sich mehreren (national gebundenen) Kulturen nahe: „Ich fühle mich der russischen, der jüdischen und der deutschen Kultur verbunden. Meine persönliche Identität setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen.“ (Russischer Musiker) Abbildung 4: Verbundenheit der qualitativen Gesprächspartner mit einer Kultur (Mehrfachnennungen möglich) Herkunfts-
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land
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Künstler mit Migrationshin-
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tergrund Künstler ohne Migrationshintergrund Nicht-Künstler mit Migrationshintergrund Nicht-Künstler ohne Migrati-
+
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onshintergrund Quelle: ZfKf 2010.
Damit eine kulturelle Identität überhaupt entstehen kann, muss nach Jan Assmann, ein „Komplex an symbolisch vermittelter Gemeinsamkeit“ (Assmann 2005: 139), welcher neben der Sprache auch „Riten und Tänze, Muster und Ornamente, Trachten und Tätowierungen, Essen und Trinken, Monumente, Bilder, Landschaften, Weg- und Grenzmarken“ (ebd.: 139) umfassen kann, durch ständige Kommunikation am Leben erhalten werden. Diese Pflege kultureller Erinnerung an das Herkunftsland war den befragten
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Migranten ein großes Anliegen. Man wünschte sich, dass wichtige Feste, wie beispielsweise das persische Neujahrsfest Nouruz auch von den Deutschen ernst genommen würden. Hier wird deutlich, dass sich Menschen mit Migrationserfahrung häufig in einer Situation des „Dazwischen-Seins“ befinden. Ein Zustand, der unter dem Begriff der kulturellen Hybridität heute in nahezu jeder Debatte über (kulturelle) Identitäten als dritter Raum – gewissermaßen der zwischen den Kulturen – thematisiert wird und durch Migration geöffnet werde (vgl. Bhabha 1996: 54ff). Dieser wird nicht mehr bloß als defizitär im Sinne eines „Nicht-Dazugehörens“ angesehen, sondern stellt auch eine Quelle dar für Kreativität und die Fähigkeit, Bestehendes zu hinterfragen, wie dies Homi K. Bhabha einer der führenden Theoretiker der Hybridität bemerkt (vgl. Eickelpasch/Rademacher 2004: 106). Unterstützt wird diese Theorie durch eine Beobachtung des 1. Jugend-KulturBarometers, das herausfand, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund anteilig mehr künstlerisch-kreative Hobbyaktivitäten pflegen als die ohne Migrationsgeschichte. Auch erleben die meisten kreativ tätigen befragten Migranten ihre Wanderungsgeschichte als Gewinn im Sinne einer Erweiterung der verfügbaren Optionen. Alle Künstler betonten, dass Migration künstlerische Kreativität in der einen oder anderen Weise begünstige. „Migration kann die Kreativität fördern, da man ja eine doppelte Vergangenheit hat. Ich ernähre mich kulturell aus verschiedenen Ländern und das ist eine Bereicherung für meine künstlerische Handschrift.“ (Türkischer Maler)
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ALS B RÜCKENFUNKTION FÜR MEHR INTERKULTURELLE V ERSTÄNDIGUNG ?
In dem eingangs genannten Zitat der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ wurde das Potenzial der Kunst als mögliche Brückenfunktion bei interkulturellen Prozessen hervorgehoben. Unterstützung findet diese Annahme durch Beobachtungen in ZfKf-Bevölkerungsumfragen, wo deutlich wird, dass das „Fremde“ in der Kunst eine Anziehungskraft ausübt, wie dies exemplarisch in den Ausstellungsinteressen von jung und alt deutlich wird, wo völkerkundlichen Ausstellungsthemen ein großes Interesse entgegengebracht wird. Es gibt also ein Potenzial in der Bevölkerung, sich mit Künsten und Kulturen anderer Länder auseinanderzusetzen.
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Abbildung 5: Interesse an folgenden Ausstellungsthemen nach dem JugendKulturBarometer und dem KulturBarometer 50+
Quelle: ZfKf/GfK 2004; ZfKf/IFAK 2007.
In den qualitativen Gesprächen der Pilotstudie wurde ebenfalls eine mögliche existierende Brückenfunktion von Kunst und Kultur zur Disposition gestellt. In ihren Antworten bejahten die Interviewpartner mehrheitlich die Chance des Brückenbaus mit Kunst. Dabei waren es vor allem nonverbale Künste, wie Musik oder auch Kunstausstellungen, denen eine Vermittlerfunktion zugesprochen wurde. Eine iranische Sängerin meinte dazu: „Kunst kann auf jeden Fall eine Brücke sein. Ich muss mit anderen Musikern nicht sprechen, es reicht, wenn wir alle musizieren. Das ist dann die Sprache.“ (Iranische Sängerin) Formen, wie Kunst eine Brückenfunktion einnehmen kann, wurden von den befragten Künstlern unterschiedlich definiert. So wurden einerseits Situationen genannt, in denen sich Rezipienten aus einem Kulturkreis mit Kunst aus einem anderen Kulturkreis auseinandersetzten. Ein türkischer Maler berichtete, dass solche Aktionen wie die Ausstellung Berlin-Istanbul dazu beitragen könnten, die Kenntnisse der Menschen über andere Länder zu erweitern und so falsche Vorstellungen zu korrigieren. Auch sprach der Befragte von Begegnungen im Rahmen seiner eigenen Ausstellungen. Über Kunst könne man „ins Gespräch kommen, um die falschen Bilder im Kopf abzutragen.“ Ein anderes Beispiel für solche Arten des kulturellen Brückenbaus sind Konzerte, bei denen die Musik anderer Kulturen aufgeführt wird. So sagte ein Musiker: „Die Aufführung von Musik anderer Kulturen erhöht die Verständigung zwischen den Völkern und das Verständnis für andere kulturelle Facetten.“ (Russischer Musiker) Andererseits wurden als Beispiele kulturellen Brückenbaus Kunstprojekte genannt, bei denen Künstler mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund gemeinsam kreativ tätig werden. So meinte ein Schauspieler, dass internationale Produktionen immer zu mehr Offenheit und Verständnis führten, und ein Kalligraf berichtete von einem Projekt, bei welchem Schriftkünstler aus verschiedenen Regionen der Welt im Rahmen eines interkulturellen Festes gemeinsam ein Buch gestalteten. Ein Befragter hob als
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Form des kulturellen Brückenbaus Crossover-Musik hervor, die verschiedene Stile miteinander verschmilzt und etwas Neues entstehen lässt. Letztgenannte Beispiele ermöglichen nicht nur im Sinne eines Brückenbaus eine bessere Verständigung durch Kunst für die Kultur des „Anderen“, sondern dienen als Katalysator für das Entstehen neuer, „hybrider“ Kunstformen. Neben solchen positiven Rückmeldungen gab es punktuell auch skeptische Stimmen, was die Chancen eines kulturellen Brückenbaus durch Kunst angeht. So betonte ein Maler, der grundsätzlich positiv einer solchen Verständigung gegenüber eingestellt ist, dass dies doch eigentlich nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung betreffe. In ähnlicher Weise äußerte sich eine deutsche Musikkabarettistin. Auch sie begründete ihre Meinung damit, dass Kunst oft so elitär sei, dass sie keine breiten Bevölkerungsteile erreiche, sondern höchstens „Reiche mit Reichen“ verbinden könnte. Eine wahre Brücke müsse den Bereich der „Lebenskultur“ einschließen, damit auch „der normale Mensch Zugang“ habe.
F AZIT : M EHR F ORSCHUNG K ULTUR UND M IGRATION
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B EREICH K UNST ,
Aktuelle empirische Studien wie unter anderem die Migranten-SinusMilieu-Studie (vgl. Sinus Sociovision 2008) haben aufgezeigt, dass die Lebenswelt der migrantischen Bevölkerungsgruppen nicht eindimensional, sondern von vielen Faktoren, wie Bildung, Einkommen oder Familienstand abhängig ist, die zu unterschiedlichsten Lebensmodellen führen. Der aktuelle Forschungsstand legt jedoch nahe, dass auch Kunst und Kultur des Herkunfts- wie des Einwanderungslandes die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen prägen, also auch die Migrationserfahrung selbst ein entscheidender Faktor ist. Dabei gibt es verschiedene Szenarien, wie sich das Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Symbole und Praktiken entwickelt, polarisierend kann man dies in drei Extremen wie folgt umschreiben: Entweder die eigene Definition erfolgt über das Abgrenzen, bei dem sich das Anderssein durch andere kulturelle Symbole des Herkunftslandes legitimiert, oder aber diese erfolgt über Anpassung an die kulturellen Symbole des Aufnahmelandes, die vollständig übernommen werden unter Verzicht alter Symbole des Herkunftslandes, da man nicht anders sein möchte. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass das eigene kulturelle Potenzial des Herkunftslandes als Basis genutzt und diese mit neuen kulturellen Symbolen bereichert wird. Entsprechende Tendenzen kann man sowohl für Menschen mit als auch ohne konkrete Migrationserfahrung beobachten, die sich im Umgang mit neuen, vielfältigen kulturellen Lebensformen positionieren müssen. Um den letztbeschriebenen Prozess gezielt zu unterstützen, fehlt es an Kenntnis über identitätsbildende Prozesse und Multiplikatoren im Bereich Kunst und Kultur. Im Rahmen des geplanten Forschungsprojektes „InterKulturBarometer“ soll ein weiterer Schritt in die Richtung unternommen
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werden, Kenntnisse zu eben diesen identitätsbildenden Kulturfaktoren zu erhalten, um diese gezielt in die Entwicklung von kulturellen Bildungskonzepten einfließen zu lassen.
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Postmigrantisches Theater Eine neue Agenda für die deutschen Bühnen A ZADEH S HARIFI Als „Das Theaterwunder von Kreuzberg“ bezeichnet „Foyer – Das Theatermagazin“ (2011) des Fernsehsenders 3sat die Inszenierung „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, die am 12. Februar 2011 im Ballhaus Naunynstraße in Berlin Premiere hatte. In der Sendung wird von begeisterten Kritikern sowie begeistertem Publikum gesprochen und der Frage nach postmigrantischem Theater nachgegangen. Im Gespräch wird der „Verrücktes Blut“-Darsteller Tamer Arslan neben möglicher Identifikation mit seiner Figur auch nach seiner Herkunft und seiner Zugehörigkeit gefragt. Tamer Arslan antwortet, dass er sich selbst als Berliner Türke, aber niemals als Deutscher definiere, da man ihm das Deutschsein nicht glauben würde. Als Begründung führt er an, dass mit dem Finger auf ihn gezeigt und er als Türke bezeichnet werde. So und ähnlich geht es sicherlich vielen Kulturschaffenden und Künstlern, die in erster Linie durch Name und äußeres Erscheinungsbild als nichtdeutsch wahrgenommen werden und auf ihre „ursprüngliche“ Herkunft, wo immer sie auch sein mag, reduziert werden. Aber wie Tamer Arslan sind die meisten Künstler und Kulturschaffenden mit einer familiären Migrationsbiografie mindestens bikulturell, das heißt gleichzeitig durch die deutsche Kultur sowie die Kultur ihrer Familie geprägt und in ihrer künstlerischen Arbeit beeinflusst. Sie interessieren sich meist weniger für das Herkunftsland ihrer Familie, sondern mehr für ihre eigene Lebenssituation – einer Lebenssituation nach der Migration in Deutschland. Sie haben eine deutsche Sozialisation mit einer postmigrantischen Biografie, die sie bei ihrer künstlerischen Arbeit auf und hinter der Bühne einbringen, wie auch Künstler ohne Migrationsbiografie ihre deutsche Sozialisation und ihre nichtmigrantische Biografie in ihre künstlerische Arbeit einbringen. Nun wird im Falle von Künstlern mit Migrationsbiografie von einem migrantischen und in letzter Zeit postmigrantischen Theater gesprochen. Aber was ist postmigrantisches Theater? Wie unterscheidet es sich vom migrantischen Theater? Und wie vom „deutschen“ Theater?
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G ASTARBEITER
UND
E INWANDERER
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In den 1960er und 1970er Jahren haben Gastarbeiter sich in Laien- und Amateurtheatergruppen zusammen gefunden. Manfred Brauneck beschäftigte sich ab 1979 im Forschungsprojekt „Populäre Theaterkultur“1 mit dem so genannten „Theater der Ausländer“ (vgl. Brauneck 1983). Bei den 53 freien Theatergruppen, die Brauneck in seinem Bericht darstellt, steht einerseits „Spaß am Theaterspielen“, aber auch „ein Interesse an der Auseinandersetzung mit gesellschafts- und sozialkritischen Problemen, insbesondere Integrationsproblemen“ (Brauneck 1983: 27) im Vordergrund. Die politische Situation der Zeit sah „die Aufrechterhaltung der Verbundenheit der ausländischen Arbeiternehmer und Familien mit Sprache und Kultur ihres Herkunftslandes“ (Kommission „Ausländerpolitik“ der CDU/CSU S.141, zit. n. Brauneck 1983: 12) als Aufgabe des Herkunftslandes an. Daher wurden die künstlerischen Aktivitäten „der Eigeninitiative und Selbstorganisation der Ausländer“ (ebd.) überlassen. Mit dieser kulturpolitischen Haltung war der Weg zur Professionalisierung von „ausländischen“ Theatergruppen so gut wie ausgeschlossen. So ist es für die Theaterarbeit der Einwanderer bis weit in die 1990er (und möglicherweise auch in die heutige Zeit) charakteristisch, dass sie sich ausschließlich in der freien Szene abspielte. (vgl. Sappelt 2000) Einige Theatergruppen haben sich jedoch durch Beständigkeit und herausragende Persönlichkeiten, welche die Theaterarbeit vorangebracht haben, durchsetzen und damit etablieren können. Das Theater an der Ruhr wurde 1980 von Roberto Ciulli, einem italienischen Exilanten, und dem Dramaturgen Helmut Schäfer gegründet. Obwohl das Theater an der Ruhr immer wieder als Vorzeigemodell, das sich über die Jahre etabliert hat, zitiert wird, sollen hier nur die wichtigsten Pfeiler erwähnt werden, die für die Entwicklung von postmigrantischem Theater eine Rolle spielen. Der wesentliche Gedanke bei der Gründung des Theater an der Ruhr war eine flexible Struktur, die sich immer wieder nach den Erfordernissen der Kunst ausrichtet und den kreativen Prozess der Theaterarbeit nicht bestimmt. Theater mit seiner universellen Sprache, die verbale und nonverbale Elemente enthält, wurde als eine Möglichkeit aufgefasst, einen weitreichenden Dialog der Kulturen zu führen, bei dem sprachliche und kulturelle Differenzen ästhetisch dargestellt werden. In Form von Touren (Reisen)
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Ab dem Jahr 1979 hat eine Forschungsgruppe der Universität Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Manfred Brauneck die Arbeit des Amateurtheaters und des Freien Theaters in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin untersucht. Dabei „wurde die Theaterarbeit von in der Bundesrepublik lebenden damals als ausländische Arbeiternehmer bezeichnete Migranten untersucht“. Die Pilotstudie wurde im 1981 abgeschlossen.
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mit verschiedenen Produktionen wird der Anspruch der Flexibilität und des Austausches umgesetzt. Dies hat dazu geführt, dass das Theater an der Ruhr sehr früh schon zu einer international renommierten Bühne geworden ist, während eine nationale Bedeutung erst über die Jahre entstand. Schließlich hat das Theater an der Ruhr einen regionalen Bezug, der durch seine „radikale Ästhetik“ junge Zuschauer, aber auch ein multiethnisches Publikum anzieht (vgl. Bloomfield 2003). Diese wichtigen Aspekte haben dazu geführt, dass die Theaterarbeit von Theater an der Ruhr einen großen Stellenwert in der Entwicklung des deutsch-migrantischen und postmigrantischen Theaters einnimmt. Eine andere Theatergruppe, die durch Veränderungswillen auf eine lange Geschichte zurückblicken kann, ist die Bühne der Kulturen – Arkadas Theater. Necati Sahin war Anfang der 1970er Jahre als ausgebildeter Lehrer nach Deutschland gekommen, um an einer deutschen Schule türkischstämmige Kinder zu unterrichten. Er gründete 1986 das deutsch-türkische Arkadas Theater, um den kulturellen Austausch zwischen Deutschen und Türken zu fördern, da es bis dahin kaum kulturelle Angebote für die türkischstämmige Bevölkerung gab. (Vgl. Boran 2004) Das Arkadas Theater sah sich zunächst in der Tradition und als Produkt der Gastarbeiterbewegung (vgl. Boran 2004: 160). Es hatte keine feste Bühne, sondern war bis zum Jahr 1997 ausschließlich als Tourneebetrieb organisiert. Mit dem Theaterhaus begann eine neue Phase, die sowohl die Zielsetzung als auch den Charakter des Theaters entscheidend veränderte: Von dem rein deutsch-türkischen Theater entwickelte sich das Arkadas Theater zu einer Bühne der verschiedenen Kulturen. Nicht nur ein türkisches Ensemble und das türkische Publikum, sondern die verschiedenen in Köln lebenden Nationalitäten, die durch die verschiedenen Ensembles wie ein deutsch-griechisches, ein russisches und ein türkisches repräsentiert werden. Das interkulturelle Konzept manifestiert sich durch die Künstler und Mitarbeiter sowie die Bühnensprache. Unter der Leitung von Lale Konuk2 wurde die Bühne der Kulturen auch professionalisiert. Das Theater an der Ruhr und die Bühne der Kulturen stehen exemplarisch für die migrantischen Theatergruppen, deren Wege sich durch drei Aspekte auszeichnen: Künstler und Kulturschaffende mit Migrationsbiografie, klassische Theatergeschichten aus dem Orient und Okzident, die von einen neuen Blickwinkel aus beleuchten werden, und Geschichten, die von der Lebenssituation der Einwanderer in der neuen Heimat erzählen, sowie Flexibilität auf dem Weg zur Professionalisierung der Theaterarbeit. Ein wichtiger Moment für migrantisches Theater war die Anerkennung und Förderung der künstlerischen Arbeit durch die Kulturpolitik. Mittels der Förderung von Strukturen der migrantischen Theater konnte die Professio-
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Lale Konuk war bis 2010 künstlerische Leiterin der Bühne der Kulturen am Arkadas Theater Köln.
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nalisierung umgesetzt werden. Die Tatsache, dass Künstler, Kulturschaffende und Publikum mit Migrationsbiografie in den deutschen Kulturinstitutionen meist fehlten, führte zu verstärkten Vorgaben für die Kulturinstitutionen durch Kommunen und Länder wie Nordrhein-Westfalen und Berlin.
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POSTMIGRANTISCHE KÜNSTLERISCHE S UCHBEWEGUNG Mit der Erkenntnis, dass die Teilhabe von Migranten bzw. Postmigranten nur durch gezielte Förderung gewährleistet werden kann, wurde in Berlin das Ballhaus Naunynstraße gegründet. Bereits 1983 wurde das Ballhaus nach umfassender Restaurierung als Spielstätte des Kunstamtes Kreuzberg eröffnet. In Kreuzberg, in einem von Gastarbeitern stark besiedelten Stadtgebiet, wo „Arbeitsmigration […] zu diesem Zeitpunkt bereits Spuren hinterlassen“ (Ballhaus Naunynstraße 2008) hatte, traten die ersten migrantischen Theatergruppen auf. Şermin Langhoff war zuvor beim Hebbel am Ufer in Berlin als Kuratorin unter anderem beim Festival „Beyong Belonging – Migration“, welches sich mit Kunst und Politik in Auseinandersetzung mit Migration beschäftigte, tätig. Ein Hauptgrund für die Schaffung eines eigenen Hauses war, dass die (post)migrantischen Künstler und Kulturschaffenden fast ausschließlich in der freien Szene tätig waren und die Theaterarbeit unzureichend institutionalisiert war. Aufgrund der großen Nachfrage von künstlerischer Seite wurde über eine feste Plattform für postmigrantische Kulturpraxis und die Gründung eines „postmigrantischen Theaters“ nachgedacht. Das Konzept einer inter- und transkulturellen Spielstätte für das Ballhaus Naunynstraße wurde der Kommune Friedrichshain-Kreuzberg vorgelegt, die nun die Spielstätte zusammen mit dem Land Berlin trägt. Jährlich wird das Haus mit Mitteln aus der interkulturellen Projektförderung in Höhe von 250 000 Euro unterstützt. Zudem wird durch Einzelprojektförderungen des Fonds Kulturelle Bildung in Berlin, des Fonds Soziokultur, des Fonds Darstellende Künste und anderer Förderer der Schwerpunkt „interkulturelles Theater“ ausgebaut. Ab 2011 ist eine Konzeptionsförderung beantragt, damit eine mittelfristige Planung und ein längerfristiges künstlerisches Arbeiten am Ballhaus Naunynstraße möglich ist. Mit dem Theaterfestival „Dogland“ wurde die Spielstätte am 7. November 2008 eröffnet. Das Theaterfestival stand unter dem Motto „Wie lassen sich migrantische und entgrenzte Geschichten auf der Bühne erzählen“ Es wurden von November 2008 bis Januar 2009 Produktionen gezeigt, die sich ästhetisch mit der Nachbarschaft des Ballhaus Naunynsstraße und seinen
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internationalen Bewohnern auseinandersetzten.3 Theaterstücke von erfolgreichen postmigrantischen Dramatikern (Nuran David Çalış, Feridun Zaimoğlu) wurden ebenfalls inszeniert. Die Künstler, die am Ballhaus Naunynstraße spielen oder inszenieren, sind meist in Deutschland geboren oder zumindest in jungen Jahren nach Deutschland gekommen und somit in der deutschen Gesellschaft aufgewachsen. Sie bringen ein Verständnis für die deutsche Kultur wie auch für die Kultur ihrer Familien mit und thematisieren diese auf verschiedene ästhetische Art und Weise. Die meisten Künstler haben an deutschen Schauspielschulen Regie oder Schauspiel studiert und stehen am Anfang ihrer künstlerischen Karrieren. Das Ballhaus Naunynstraße versteht sich als „Talentschmiede und Sprungbrett“ für postmigrantische Künstler, auch in klassische Einrichtungen der Hochkultur. Die Künstler wie Nuran David Çalış, Neco Çelik und Nurkan Erpulat sind mittlerweile gefeierte Regisseure in der deutschen Theaterszene und inszenieren an großen Häusern wie Schauspiel Bochum, Deutsches Theater Berlin oder Münchener Kammerspiele. Auch Schauspielerinnen wie Sesede Terziyan und Pegah Ferydoni arbeiten an anderen Theaterhäusern und in deutschen Kino- und Fernsehproduktionen. Alle genannten Künstler besitzen in ihrer künstlerischen Arbeit einen anderen Blickwinkel auf Themen und Geschichten, die auf die Bühne gebracht werden. Die künstlerische Leitung des Ballhaus Naunynstraße nennt dies eine „postmigrantische künstlerische Suchbewegung“. Es geht um einen „postmigrantischen Raum“, der „beyond belonging“ im Sinne einer nicht bestimmten Zugehörigkeit und vielmehr als Suche einer zu herauszufindenden Identität verstanden werden könnte. Thematische und inhaltliche Auseinandersetzung mit Migration und Identität sind dabei Schwerpunkte und werden durch spezifische und differenzierte Bilder zu erzählen versucht. Diese Geschichten, die sich als neue deutsche Geschichten verstehen, beschreiben das Erleben von nicht „biodeutschen“ Deutschen. Das Ballhaus Naunynstraße hat jedoch den Anspruch, universelle Geschichten zu erzählen, in denen nicht nur die eine oder die andere, sondern alle ethnischen Bevölkerungsgruppen in Deutschland angesprochen werden sollen. Neben der translokalen Perspektive werden Aspekte der Interdisziplinarität und Nachhaltigkeit sowie der internationale Austausch entwickelt. Dabei bedienen sich die Theaterschaffenden am Ballhaus Naunynstraße an ästhetischen Elementen des Dokumentartheaters. Es werden Recherchen betrieben und auf Basis dieser die Stücke erarbeitet. Zudem stehen Protagonisten aus den realen Zusammenhängen auf der Bühne. Der Zusammenstoß von Realität und Fiktion auf der Bühne erzeugt eine Authentizität, die gewohnte Denkund Sehstrukturen durch das Vorführen bricht.
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Ein Beispiel einer solchen Produktion war „Kahvehane: Turkish Delight – German Fright? Theater-Parcours durch anatolische Kaffeehäuser in BerlinKreuzberg und -Neukölln“.
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Die Eröffnung des Ballhaus Naunynstraße löste neben dem großen Interesse seitens der Theaterszene und den Feuilletons auch eine große Begeisterung beim Publikum aus. Die Theaterleitung spricht von einer neunzigprozentigen Auslastung und von einem „polymigrantischen“ generationsübergreifenden Publikum, welches das Haus besucht. Mit diesem Publikum sind nicht nur die gängigen Theaterbesucher – und in Berlin sind im Vergleich zu den restlichen Theaterhäusern in Deutschland auch überdurchschnittlich viele junge kultur- und theaterinteressierte Personen gemeint –, sondern auch ein Publikum mit Migrationsbiografien und vor allem Personen aus der direkten Nachbarschaft des Ballhaus Naunynstraße in Kreuzberg. Der Grund für die Teilnahme von Personen aus der Nachbarschaft ist vor allem der, dass am Ballhaus Naunynstraße viele partizipatorische Projekte produziert werden, in denen vor allem Jugendliche aus Kreuzberg teilnehmen und an das Theater herangeführt werden. ùermin Langhoff hat bereits 2004 die „akademie der autodidakten“ gegründet, um jungen begabten migrantischen Künstlern verschiedener Genres ohne akademische Ausbildung – daher Autodidakten – den Zugang zur Kulturproduktion, insbesondere zum Theater zu ermöglichen. Im Laufe der Jahre konnten Künstler wir Neco Çelik, Hülya Duyar, Tamer Yi÷it unterstützt und gefördert werden. Die „akademie der autodidakten“ möchte aber auch Kulturelle Bildung anbieten. Ein wöchentlich stattfindender Theater- und Schauspielworkshop dient als Anlaufstelle für junge Theaterinteressierte. Die Teilnehmenden können sich an den verschiedenen Theater- und Videoproduktionen am Haus beteiligen. Diese Projekte werden von bekannten Regisseuren und Künstlern aus dem Netzwerk des Ballhaus Naunynstraße betreut. In diesem Kontext ist „Ferienlager – Die 3. Generation“ entstanden. Ein weiteres Projekt ist die „Kiez-Monatsschau: Nachrichten aus der Naunynstraße“, bei der Jugendliche eine Nachrichtensendung produzieren, in der sie ihre Sichtweise auf ihren „Kiez“ (Nachbarschaft) zeigen. Die „Kiez-Monatsschau“ ist nun bei der achten Produktion angelangt (vgl. Ballhaus Naunynstraße 2011).
D AS P RINZIP DER D EKONSTRUKTION VON S TEREOTYPEN Wie bereits erwähnt ist eines der momentan erfolgreichen Theaterproduktionen, die am Ballhaus Naunynstraße gezeigt werden und das Prinzip des postmigrantischen Theaters auf den Punkt bringen, „Verrücktes Blut“. Das Prinzip von „Verrücktes Blut“ ist der Bruch und die Dekonstruktion von Stereotypen, die Aneignung von deutschem Kulturgut, die aus neuer Perspektive von neuen Produzenten erzählt und dargestellt wird. „Verrücktes Blut“ ist ein Theaterstück von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, das frei nach dem Film „La journee de la jupe“ von Jean-Paul Lilienfeld entstanden ist. Das Theaterstück ist im Ballhaus Naunynstraße in Koproduktion mit der Ruhrtriennale inszeniert worden und hatte unter der Regie von Nurkan Erpulat im September 2010 Premiere.
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„Verrücktes Blut“ handelt von einer Lehrerin, die von ihren Schülern – meist mit Migrationshintergrund – nicht ernst genommen und sogar als „Schlampe“ bezeichnet wird. Sie ist nicht in der Lage, sich gegen die machistisch-pubertären Verhaltensformen ihrer Schüler verbal zur Wehr zu setzen. Bei dem Versuch, beinahe missionarisch ihren disziplinlosen Schülern Friedrich Schillers idealistische Vorstellungen vom klassischen deutschen Theater nahe zu bringen, fällt ihr in einem Gerangel mit und zwischen den Schülern eine Pistole in die Hände. Aus Hilflosigkeit oder möglicherweise aus der ihr plötzlich zugefallenen Machtposition macht sie ihre Schüler zu Geiseln und zwingt sie mit vorgehaltener Waffe auf der Schulbühne zu spielen. So setzt sie ihre Mission der Aufklärung nun mit Gewalt um. Am Anfang geht es nur um die richtige Aussprache des schillerschen Subjektivitäts-Vokabulars, wie „Ich“ und nicht „Isch“, nicht „Vernumft“, sondern „Vernunft“. Aber dann sollen die Schüler Schiller spielen, getreu dessen Maximen zur ästhetischen Erziehung, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Aber beim Spiel im Spiel werden zunehmend die Identitäten vertauscht und die Theatertexte von Schiller bekommen eine neue Bedeutung. Die Rollen von Franz und Karl Moor, Amalie, Ferdinand und Luise werden durch die Realitätsaneignungen der Jugendlichen gebrochen. Die Vergiftung Luises durch Ferdinand in „Kabale und Liebe“ wird als Ehrenmord entlarvt. In „Verrücktes Blut“ ist diese Szene jedoch nicht im Sinne einer Identifikation mit der „eigenen Tradition“ der Schüler gemeint, sondern als das Vorführen eines überkulturellen Phänomens. Es ist nicht der Schüler, sondern die aus der deutschen Klassik entspringende Figur des Ferdinand, die einen Mord aus Ehrgefühl begeht. Mit dem Fortgang der Geiselnahme vollzieht sich die langsame Dekonstruktion aller vermeintlich klaren Identitäten. Nach und nach eignen sich die Schüler der Schillerschen Texte an, um ihre eigene Situation zu beschreiben. Dazwischen entstehen immer wieder Sprachbrüche. Die „Kanackengesten“4 und die falsche Aussprache der Schüler werden durch deutsche Volkslieder, die in einem „korrekten Deutsch“ gesungen werden, unterbrochen, um so eine „Ordnung“ auf der Bühne zu schaffen. Der Bühne in Form einer viereckigen Kampfarena wird die sittsame Anordnung eines Chors hinzugefügt, der mahnend zwischen den Szenen interveniert und zu einem verbindenden Element wird. Am Ende des Theaterstückes scheint die Lehrerin das Ziel ihrer Mission erreicht zu haben. Die Schüler sind „aufgeklärt“, zitieren Schiller und die Leitsätze der Französischen Revolution und lehnen Gewalt ab. Nur sie selbst kann an die Veränderung der Schüler nicht glauben. Plötzlich outet sie sich selbst als Türkin, die keine Lust mehr auf die „Kanakenselbsthassnummer“ hat. Einer der Schüler, der weiter Franz Moor spielen will, greift zur Waffe und schießt in letzter Konsequenz auf das Publikum.
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Regieanweisungen im Text.
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In „Verrücktes Blut“ zerfallen vermeintlich kulturelle Identitäten und bestehende Denkweisen werden aufgelöst. Die postmigrantischen Personen fühlen sich nicht einer Kultur zugehörig, sondern sind im Prozess einer Kultur- und Identitätsfindung, in der alte Traditionen angenommen und mit einer anderen Sichtweise neu präsentiert werden. Das Prinzip des Ballhaus Naunynstraße mit seinem postmigrantischen Theater kann als Institutionalisierung und Öffnung des Zugangs für postmigrantische Künstler und ihre künstlerischen Arbeiten beschrieben werden. Für die deutsche Theaterszene werden nicht nur neue Produzenten und Geschichten, sondern auch neue Rezipienten gewonnen.
P OSTMIGRANTISCHES T HEATER ALS KULTURPOLITISCHE H ERAUSFORDERUNG Neue Geschichten, wie sie von Feridun Zaimo÷lu, Nuran David Çalıú und Nurkan Erpulat geschrieben und auf den Theaterbühnen erzählt werden, bleiben noch große Ausnahmen auf den deutschen Bühnen. Obwohl „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje offensichtlich großen Erfolg hatte, bestehen bei den meisten Theaterhäusern noch Hemmnisse, ein solches Theaterstück zu spielen.5 Auch ist wohl eine Angst vorhanden, wenn es darum geht, postmigrantischen Künstlern klassische, europäische Theaterstücke anzuvertrauen. Nurkan Erpulat hat vor kurzem in einem Interview berichtet: „Ich behaupte mal, dass ich Shakespeare besser kenne als Neuköllner Straßengeschichten. Aber den Intendanten fehlte bis jetzt der Mut, mich auch solche Stoffe inszenieren zu lassen. Das ändert sich gerade […]. Bis dato war ich ja ausschließlich für interkulturelle Themen zu ständig.“ (Erpulat 2010: 48)
Was aber eine Beschäftigung von (post)migrantischen Künstlern an den deutschen Theaterhäusern bedeuten könnte, konnte beispielsweise bei der letzten Produktion von Nurkan Erpulat in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin festgestellt werden.6 Zum Premierenabend waren neben dem gängigen Theaterpublikum auch viele Zuschauer mit Migrationsbiografie anwesend. Ob diese dem Familien- und Angehörigenkreis angehörten oder schon das neue Publikum des Deutschen Theaters sind, bleibt im positiven Sinne offen.
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Im Gespräch mit der Lektorin des Pegasus Verlag, bei dem Nurkan Erpulat unter Vertrag steht. „Clash“, ein Stück von Nurkan Erpulat und Dorle Trachernach mit Jugendlichen aus Berlin, das am 5. Februar 2011 am Deutschen Theater Premiere hatte.
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Jüngst hat auch die Dramaturgische Gesellschaft eine Jahreskonferenz mit dem Titel: „Wer ist wir? Theater in der interkulturellen Gesellschaft“ veranstaltet.7 Die Konferenzteilnehmer beschäftigten sich mit den Aufgaben und Herausforderungen des Theaters in der sich dramatisch verändernden Gesellschaft. Die hauptsächlich deutschen Dramaturgen haben festgestellt, dass die kulturelle Vielfalt sich noch zu wenig in den Programmen und Ensembles der Stadttheater widerspiegelt. Öffnungsprozesse sollten sich vor allem in der künstlerischen Arbeit selbst vollziehen und als Kernaufgabe der Theater verstanden werden und nicht auf Sonderprojekte oder Vermittlungsarbeit beschränkt bleiben. Überholte Konzepte wie Integration und Leitkultur sollten damit durch neue kulturelle Leitbilder ersetzt werden (vgl. Dramaturgische Gesellschaft 2011). Was bedeutet es nun, wenn in Abgrenzung zu migrantischem oder sogar deutschem Theater vom „postmigrantischen Theater“ gesprochen wird? Man könnte eine Abgrenzung zwischen migrantischem und postmigrantischem Theater darin beschreiben, dass migrantisches Theater viel stärker eine Auseinandersetzung mit Herkunftskultur und Herkunftstradition sowie Erfahrung der Migration und des Zurechtfindens in einer neuen Gesellschaft beinhaltet. Postmigrantisches Theater könnte im Sinne eines Austarierens von vermeintlichen Identitäten aufgefasst werden, die von der deutschen Gesellschaft oder von Eltern und Familie auferlegt werden, aber von postmigrantischen Künstlern und Kulturschaffenden ästhetisch neu definiert werden müssen. Es geht um die Schaffung einer eigenen Identität in der deutschen Gesellschaft und dem theatralen Kosmos, in dem sich die postmigrantischen Künstler und Kulturschaffenden bewegen. Themen und Traditionen der deutschen Kultur und der Kultur der Familien müssen in einer neuen Art und Weise geschaffen und erzählt werden, weil die bisherigen Instrumente nicht ausreichen. Ist aber wirklich eine Abgrenzung zum deutschen Theater und zu deutschen Theaterkünstlern notwendig? Denn sind nicht auch deutsche Theaterkünstler genauso davon betroffen, sich in der neuen deutschen Realität mit der neuen deutschen Realität auseinanderzusetzen? Aber wie könnten Zugänge für die an den Stadttheatern fehlenden postmigrantischen Künstler und Kulturschaffenden ermöglicht werden? Wie können sie Räume und Institutionen für sich einnehmen bzw. sich Platz verschaffen? Ein wichtiger Aspekt ist die kulturpolitische Dimension und eine Agenda der kulturellen Vielfalt durch die Kulturpolitik. Welche Rolle kann die Kulturpolitik in diesem Prozess spielen? Kann die Schaffung von gezielter Partizipation durch Kommunen und Länder wirklich den Weg öffnen? Sind überhaupt Vorgaben durch die Kulturpolitik notwendig? Oder werden sich Theaterszene und Theaterhäuser automatisch mit der Zeit verändern. Sicherlich sind politische
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Die Jahreskonferenz fand vom 27. bis zum 30. Januar 2011 am Theater Freiburg statt.
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Vorgaben notwendig, die aber in einer optimistischen Sichtweise durch gesellschaftliche Veränderungen überflüssig werden. Auch in der Kulturpolitik und damit in den kommunalen und kulturpolitischen Strukturen bedarf es an Menschen, die ein Verständnis für die Herausforderung besitzen, interkulturelle Kompetenz mitbringen und Kreativität bei der Schaffung von Partizipations- und Zugangsmöglichkeiten aufweisen.8 Das migrantische Theater hat in Deutschland eine lange Tradition zumindest in der freien Theaterszene, aber postmigrantische Künstler und Kulturschaffende sind neue Mitspieler und bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit und Förderung, um sich als Teil der deutschen Theaterlandschaft etablieren zu können.
L ITERATUR Ballhaus Naunynstraße (2011): http://www.ballhausnaunynstrasse.de/haus. 8.0.html [14.02.2011]. Ballhaus Naunynstraße (Hg.) (2008): Dogland. Junges postmigrantisches Theaterfestival, Begleitheft zum Festival vom 07.11.2008 bis zum 29.01.2009 in Berlin. Bloomfield, Jude (2003): Crossing the Rainbow. National Differences and International Convergences in Multicultural Performing Arts in Europe, Brüssel: IETM. Boran, Erol M. (2004): Eine Geschichte des Türkisch-Deutschen Theaters und Kabaretts. Dissertation; Ohio: Ohio State University. Brauneck, Manfred (1983): Ausländertheater in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin. 1. Arbeitsbericht zum Forschungsprojekt „Populäre Theaterkultur“; Hamburg: Pressestelle d. Univ. Hamburg. Dramaturgische Gesellschaft (Hg.) (2011): Auf dem Weg zu einem interkulturellen Theater, http://www.dramaturgische-gesellschaft.de [20.02. 2011]. Erpulat, Nurkan (2010): „Menschen zu besseren Menschen machen. Der Autor und Regisseur Nurkan Erpulat im Gespräch mit Patrick Wildermann“, in: Theater der Zeit. Zeitschrift für Politik und Theater, Heft 11/2010, Berlin: Theater der Zeit, S. 48. Foyer – Das Theatermagazin (2011): Sendung vom 01.02.2011 auf 3sat. Sappelt, Sven (2000): „Theater der Migrant/innen“, in: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch; Stuttgart: Metzler, S. 275-293.
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So und ähnlich, aber auf die gesamte Künstler- und Theaterszene bezogen, formuliert es Wolfgang Schneider im Prolog des Report Darstellende Künste (vgl. Schneider 2010).
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Schneider, Wolfgang (2010): „Es geht um die Zukunft unserer Theaterlandschaft“, in: Günther Jeschonnek/Kulturpolitische Gesellschaft e. V. (Hg.), Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland. Studien, Diskurse, Internationales Symposium, Essen: Klartext.
Kulturelle Identitäten als dramatisches Ereignis Beobachtungen aus dem Kinder- und Jugendtheater A NNETT I SRAEL
D IE
EIGENE G ESCHICHTE ANDERS ERZÄHLEN ODER DAS B EKANNTE FREMD ERSCHEINEN LASSEN
„Das bin ich, das sind meine Hände, das sind meine Beine, das ist mein Gesicht. Das ist kein Theaterkostüm. Das hier ist keine deutsche Erscheinung. Ich bin Ausländer, oder Migrant, das klingt nicht so beladen. Ein Flüchtling. Politisch oder ökonomisch, das weißt du jetzt noch nicht. Vielleicht sogar Moslem. Oder ich bin einfach im Urlaub, das kann natürlich auch sein. Das ist die heiterste Version. Das ist nicht meine Stimme. Das ist nicht meine Sprache. Das ist die Stimme eines Schauspielers.“ (Verhoeven 2009a)
In „Niemandsland“ geht es um Identität, um meine, um die eines anderen Menschen, der sein Land verlassen hat oder verlassen musste, um anderswo in meiner Stadt ein besseres Leben zu finden. Erlebt habe ich diesen theatralischen Stadtrundgang des Niederländers Dries Verhoeven im November 2009 während des Festivals „Beyond Belonging“ am HAU Berlin. Viele Deutungsmöglichkeiten wurden mir da angeboten, banale, erschütternde, erwartete und erstaunliche – allesamt plausibel. Es geht um Distanz und Nähe, um Vertrauen und Sichanvertrauen, um Neugier, Ängste und um die Bilder, die wir uns von anderen machen. Und es geht um die Chancen zur Begegnung. Die zunehmenden Spannungen zwischen Zuwanderern und Einheimischen im einst toleranten Amsterdam haben Verhoeven, der als großes Talent gilt, zu dem Stück inspiriert. „Seit einigen Jahren ist es salonfähig, negative Gedanken über Migranten zu haben“, sagt er. Gleichzeitig beobachtet der Holländer seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in seiner Heimat einen Rückzug der Migranten in eine Art Niemandsland. „Ihr Körper ist hier, aber ihre Seele nicht.“ (Sticht 2009) Im „Niemandsland“ habe ich diese abwesende Anwesenheit sehr unmittelbar erfahren. Dries Verhoe-
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ven sagte in einem Gespräch: „Mein Theater ist immer der Versuch, die Leute dazu zu bringen, die Realität anders zu sehen als bisher. Ich will nicht nur beeindrucken, ich will den Menschen ihre eigene Geschichte ein wenig anders erzählen. Jeder hört seine eigene Geschichte ja doch am liebsten.“ (Verhoeven 2009b) Das führt mich zu Brechts Theorie des epischen Theaters und zum Prinzip der Verfremdung. In seiner „Rede an die dänischen Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung“ heißt es: „Du, der Schauspieler / Musst vor allen anderen Künsten / Die Kunst der Beobachtung beherrschen. / […] Eure erste Schule / Sei euer Arbeitsplatz, eure Wohnung, euer Stadtviertel. / Sei Straße, Untergrundbahn und Laden. / Alle Menschen dort / Sollt ihr beobachten, / Fremde, als seien sie Bekannte, aber / Bekannte als seien sie euch fremd.“ (Brecht 1993: 862f.)
„Was ist Verfremdung?“ fragt Brecht. Und er antwortet: „Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden, heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.“ (Brecht 1981: 208) In seinem Exkurs über den Fremden schreibt der Soziologe Georg Simmel schon 1908: „Es ist hier also der Fremde nicht […] als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.“ (Simmel 1992: 764)
Verkürzt gesagt ist der Fremde nicht der, der heute kommt und morgen geht, also nicht der Gast, der Tourist – mit dem können wir uns alle arrangieren, er wird sogar umworben, sondern derjenige, der heute kommt und morgen bleibt, also mit uns, unter uns lebt. Diesem Fremden spricht Simmel eine besondere Eigenschaft zu, nämlich diejenige der Objektivität: „Objektivität ist keineswegs Nicht-Teilnahme […]. Man kann Objektivität auch als Freiheit bezeichnen. […] Freiheit, die den Fremden auch das Nahverhältnis wie aus der Vogelperspektive erleben und behandeln lässt.“ (Ebd.: 767) Sicher ist das nur ein Aspekt der simmelschen Theorie. Für mich verweist er aber auf eine besondere Qualität, die in der derzeit meist polemisch geführten Diskussionen über Migrationskulturen und Teilhabe übersehen wird: Hier ist die Rede von „bildungsfernen Schichten“, von „Parallelgesellschaften“, von „Wirtschaftsflüchtlingen“ von „Menschen mit Migrationshintergrund“, da wird „kulturelle Vielfalt“ beschworen und gefordert und immer schwingt eine Schwierigkeit mit, ein Unbehagen mit dem, was ist, was nicht zu ändern ist.
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Wenn man aber Simmels Aussagen über den Fremden und Brechts Verfremdungstheorie zusammendenkt, ergibt sich eine andere Dimension. Es ist der fremde Blick auf unseren Alltag, auf das Zusammenleben der Menschen, ihre Beziehungen, ihre Werte, ihre Ausdrucksformen, kurz auf die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse, gesehen durch die Brille einer anderen Kultur. Er bereichert seit langem das deutsche Kino, die bildende Kunst, vor allem aber die Literatur und ist so Teil unserer Kultur geworden. Dieser fremde Blick auf das Bekannte, die Haltung des Befragens nicht des Bestätigens ist jeglicher Kunst eigen. Die kritische Distanz zum Vorgefundenen, zum Gewohnten lässt Widersprüche im Zusammenleben der Menschen sichtbar werden. Und Widersprüche handelnder Figuren schaffen jene Konflikte, ohne die Theater nicht denkbar wäre. Sie halten das Theater zusammen und in Bewegung, egal ob man seine Handlungen chronologisch erzählt, ob sie montiert oder simultan miteinander verwoben sind. Auch wenn das Theater unserer Zeit, den Figuren als Handlungsträgern und dem Drama als Handlungsspielraum misstraut, bleibt das Staunen, bleibt der distanzierte Blick auf das Bekannte, bleibt der Widerspruch ein Antrieb für die Kunst, Theater zu spielen. Früher war es der Blick von unten nach oben zur Macht, der Reibung und Widerspruch im Theater erzeugte. Heute, angesichts einer Gleichzeitigkeit und Vielheit von nicht nur ethnisch determinierten Kulturen, denen sich die Menschen oft zeitgleich zugehörig fühlen, ist es der Blick von außen nach innen, in scheinbar geschlossene funktionierende Systeme, der Bewegung erzeugt. Dieser Blick verläuft wechselseitig quer durch die Gesellschaft und fasst Abweichendes bzw. Andersartiges wie Gemeinsames gleichermaßen ins Auge. Finden wir das auf den Bühnen der deutschen Kinderund Jugendtheater wieder? Oder ist hier ebenso kapituliert worden wie vielleicht im deutschen Stadt- und Staatstheater? Der Theaterwissenschaftler Christoph Balme meint, „Interkulturalität wirkt in der Theaterlandschaft wie ein Fremdwort.“ (Balme 2007: 20) Und Ulrich Khuon sagte auf der Tagung „Dialog Theater und Religion“ im Dezember 2008 in Hamburg: „Ich gebe zu, das Theater in Deutschland hat das Thema Migration verpasst und verschlafen.“ Zugegebenermaßen, es tut sich etwas, zum Beispiel am Kölner Theater mit einem Ensemble, das man sich als Normalfall wünschen würde, weil es unsere längst schon nicht mehr homogen deutsche Gesellschaft spiegelt, aber auch am Theater in Freiburg und anderen. An einigen Stadttheatern wird mit Jugendlichen der dritten Einwanderergeneration oder Migranten Theater gespielt.
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Wenn man eine Blick in das Jahrbuch der in der ASSITEJ zusammengeschlossenen professionellen Kinder- und Jugendtheater „Grimm & Grips“ schaut, finden sich für die Spielzeit 2009/2010 unter den am häufigsten gespielten Stücken mit zehn Inszenierungen „Ein Schaf fürs Leben“ nach einem Kinderbuch der Niederländerin Magritgen Matter. Es ist ein Stück über ein kleines Schaf, das seine Kleewiese verlässt und auf einen überaus hungrigen Wolf trifft, dem es viele Vorschläge macht, um nicht gefressen zu werden – noch dazu sein Leben rettet – und am Ende als Freund von ihm geht. Auf immerhin neun Inszenierungen bringen es die Märchenbearbeitungen von „Hänsel und Gretel“, und die „Die Bremer Stadtmusikanten“. Dabei ist auch „Wir alle für immer zusammen“ in der Spielfassung von Phillip Besson, nach dem preisgekrönten Kinderbuch des Niederländers Guus Kuijer. Dieses Stück zeigt uns Polleke, ein elfjähriges Mädchen, dessen Kinderleben an einem ganz normalen Schultag ins Wanken gerät. Als der Lehrer sie fragt, was sie beruflich werden möchte, sagt Polleke: „Dichterin!“ Gleich darauf empfängt sie von Mimun, ihrem Freund, dessen Eltern aus Marokko in die Niederlande kamen, einen Brief, in dem er mit ihr Schluss macht und erklärt, dass es in seiner Kultur nicht erlaubt sei, dass Frauen Dichter werden. Den wütenden Antwortbrief von Polleke, in dem es heißt „Deine Scheißkultur kannst du dir sonst wohin stecken!“ fängt der Lehrer ab und startet empört ein Antirassismusprogramm. Pollekes Mutter ist entsetzt, obendrein verliebt sie sich in den Lehrer. Soweit der Grundkonflikt. Dass Polleke und ihre Freundin Caro die einzigen Kinder der Klasse sind, deren Eltern geborene Niederländer sind, erfahren wir und dass es bei diesen „Einheimischen“ Väter gibt, die bei einem wohnen, aber nicht wirklich Väter sind, Väter, die nicht mit einem wohnen oder Väter, die man nicht kennt. Der Konflikt spitzt sich zu, als der von der Familie getrennt lebend Vater wegen Haschverkaufs ins Gefängnis kommt und Mimuns Mutter Polleke klar macht, dass ihr Sohn ohnehin ein marokkanisches Mädchen heiraten wird. „Manchmal ist das Leben ein Brechmittel“ findet Polleke und erst auf dem Land bei den Großeltern kommt sie zur Ruhe. Sie sehnt sich nach Mimun und versucht zu verstehen, was es heißt, einen Glauben zu haben. Schlussendlich löst sie den Konflikt mit Mimun auf ihre Art und schreibt ein Gedicht: „Alles ist gut so, wie es ist: / Ein Fisch gehört ins Wasser, / ein Vogel in die Luft, / eine Hand in meine – seine.“ (Kuijer 2006: 36) Hier begegnet uns ein außergewöhnlich starkes, kreatives Mädchen, das mit Unvoreingenommenheit und Liebe den widersprüchlichen und ungeschützten Alltag eines heutigen Kindes zu bewältigen hat. Dass dieses Kinderleben ganz und gar mit dem ebenso konfliktbeladenen Leben der Erwachsenen verbunden ist und dass es für die Jüngsten keine harmlosere und freundlichere Extrawelt gibt, sondern nur die eine, die sie mit uns teilen, ist ein entscheidender Aspekt. Der kulturelle Konflikt zwischen Mimun und Polleke ist nur einer unter vielen, den das Mädchen auszuhalten und mit
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Ernsthaftigkeit und Humor zu bewältigen hat. Verschiedenartigkeit wird als Chance begriffen. Auf ebenfalls neun Inszenierungen bringt es der Dauerbrenner für Jugendliche im Klassenzimmer „Klamms Krieg“ von Kai Hensel, ein Stück über einen Lehrer, der seinen Schüler in den Selbstmord getrieben haben soll und nun seinen Konflikt vor der Klasse austrägt. Acht Inszenierungen finden sich von „An der Arche um halb acht“ von Ulrich Hub, einer Komödie für Kinder, die zeigt, wie ein Pinguinpärchen sich bemüht, verbotenerweise einen befreundeten dritten Pinguin auf der Arche des Noah unterzubringen und damit zu retten. Siebenmal wurde das Jugendstück „Aussetzer“ von Lutz Hübner, die Geschichte der Erpressung einer Lehrerin durch einen ihrer Schüler gezeigt. Darüber hinaus finden sich „Don Carlos“ von oder nach Friedrich Schiller, „Die Wanze“, ein Insektenkrimi nach dem Buch von Paul Shipton und „Alice Im Wunderland“. Auf sechs Inszenierungen bringen es das Märchen „Der Gestiefelte Kater“ und „King A“ von der Niederländerin Inèz Derksen, welche die Sage um König Artus und die Fragen von Heldentum, Rittersein, von Lieben und Verantwortung für Kinder bearbeitet hat. Die Kinderstücke „Pippi Langstrumpf“, „Das hässliche Entlein“ und „Die Odyssee“ von Ad de Bont, ebenfalls Niederländer, wurden immerhin fünfmal auf die Spielpläne gesetzt. Die Odyssee bildet innerhalb einer Trilogie, welche die Zerissenheit von Familien behandelt, den erzählerischen Rahmen und schildert die Irrfahrt aus den jeweils verwobenen, wechselnden Perspektiven der beteiligten Personen. Ergänzt wird die antike Familiensaga durch zeitgenössische Geschichten, die das Thema der zerrissenen Familie in unsere Zeit hinein fortschreiben: „Desaparecidos“ und „Haram“. Diese Trilogie wurde dem Autor vom Jungen Schauspielhaus Hamburg in Auftrag gegeben und 2007 uraufgeführt. Konzipiert war ein Theatertag für alle ab zwölf Jahren als Reise durch drei Theatergeschichten an die Orte der Handlungen mit Rastpausen und Proviant. „Haram“ wurde von einigen Theatern als eigenständiges Stück aus der Trilogie herausgelöst und findet sich immerhin viermal auf deutschen Kinder- und Jugendtheaterbühnen: am „Grips Theater“ in Berlin, am Theater „Marabu“ in Bonn, am Schnawwl in Mannheim und am Kinder- und Jugendtheater des Landestheaters Tübingen. Schon der Titel „Haram“ – „verboten“ bzw. „Tabu“ – ein arabisches Wort, dass für das islamrechtlich Verbotene steht (vgl. Wikipedia 2011), aber auch „die Schande“ meint, zeigt, dass in diesem Stück Schwerwiegendes verhandelt wird. Es setzt sich auseinander mit kulturellen Tabus und den Schwierigkeiten einer marokkanischen Familie, sich in zwei Kulturen zurechtzufinden, der ihrer Herkunft und der ihres Wohn- und Arbeitsortes in den Niederlanden. Ein Elternpaar, dass alljährlich mit seinen drei Kindern, zwei Jungen und einem Mädchen, in die alte Heimat in den Urlaub fährt, beschließt, dass es allein zurückkehren wird und seine Kinder bei Verwandten unterbringt, damit sie Menschen
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werden, „die Respekt haben vor dem andern / Menschen die aus dem Glauben leben / Menschen denen Gemeinschaft etwas bedeutet.“ (De Bont 2006: 18) Das Stück, das die epische Spielweise erfordert, also „erzählt“ gespielt werden muss, beginnt mit einem Prolog, der die Zuschauer sofort in die Geschichte zieht: Die beiden älteren Kinder, Bruder und Schwester, erzählen, was sie erwartet in Marokko und was sie in den Niederlanden, ihrer Heimat, vermissen werden. Das sind vor allem Freunde. Dieselben Eltern, die ihren Kindern einst in den Niederlanden Anpassung verordnet hatten und Mitmachen, die sich ihre Zukunft am neuen Lebensort ausmalten, beginnen ihre erste Szene so: „MUTTER VATER MUTTER VATER MUTTER VATER MUTTER VATER
verfluchen werden sie uns ja und sich selber den Tod wünschen vielleicht sicher nur kurz Aziza jedenfalls ihr wird es schwer fallen bestimmt aber sie wird sich damit abfinden“ (Ebd.: 11)
Sie findet sich nicht damit ab. Das Mädchen und der älteste Bruder fliehen, verstecken sich und werden von Verwandten und der Polizei gesucht, gedemütigt, geschlagen bis sie sich durchsetzen und die Eltern einen Kompromiss finden. Bei der Untersuchung der Spielpläne stellt man fest, dass sich unter den vierzehn meistgespielten Stücken neben Bearbeitungen von Märchen und Sagen, von Bilder- und Kinderbüchern, welche die Spielpläne deutscher Kinder- und Jugendtheater ohnehin im Wesentlichen bestimmen, zwei Stücke finden, die sich direkt mit migrantischen Themen auseinandersetzen. Um die oben gestellte Frage zu beantworten: Ist hier im Kinder- und Jugendtheater ebenso kapituliert worden wie vielleicht im deutschen Stadtund Staatstheater? Diese Frage ist trotz des quantitativen Ergebnisses mit nein zu beantworten. Widersprüche und Konflikte, die in den realen Migrationsgeschichten Westeuropas ihren Ursprung haben, sind Themen, mit denen sich das Kinder- und Jugendtheater auseinandersetzt. Selbstverständlich gibt es viele Stücke mehr, auch Eigenproduktionen der Theater, die aber nicht oder noch nicht so häufig nachgespielt werden.
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Mir fiel bei meinen Recherchen und beim Theatersehen auf, dass Migration als „Lebensform“ meist als schwieriges und alleiniges Problem in den Stücken und Aufführungen behandelt wird. Anders als in der Geschichte um das Mädchen Polleke haben Migranten oder deren Kinder in diesen Stücken nur ein Problem, nämlich jenes, dass sie Migranten sind und sich an Kulturen reiben müssen. Mitleiden: Kinder als Opfer von Krieg und Flucht Zum ersten Bereich gehören Stücke, die als Reaktion auf den Krieg in Jugoslawien entstanden waren. Viele Menschen, vor allem aus BosnienHerzegowina, waren Mitte der 90er Jahre in die westeuropäischen Länder geflohen: Einbruch in eine heile Welt. Dieser widersprüchliche Krieg fand zwar täglich in unseren Wohnzimmern statt, nur zwei Meter von unserem Fernsehsessel entfernt, aber da konnte man ihn abschalten. Plötzlich saßen diese geschundenen, erfahrenen, traumatisierten Kinder gemeinsam auf der Schulbank mit Kindern, deren Eltern Krieg nur noch aus den Erzählungen kannten. Welche Grausamkeiten sie durchlitten hatten, davon konnten sie nicht sprechen. Die Kindertheater taten es. Sie versuchten diesen Kindern eine Stimme zu geben. Drei Stücke, die sich mit Kinderschicksalen in Kriegen auseinandersetzen, werde ich im Folgenden exemplarisch beschreiben: „Mirad, ein Junge aus Bosnien“ ist angeregt durch einen Zeitungsartikel über den Jungen Mirad Balcic, der seiner Pflegefamilie in Deutschland entflohen ist, um in Bosnien seine Mutter zu suchen. Geschrieben wurde das Stück von Ad de Bont und 1993 von der Gruppe Wederzijds in Amsterdam uraufgeführt. Es erzählt von dem 13-jährigen Mirad mitten im Krieg. Seine Familie – mit allen Völkern des ehemaligen Jugoslawien verwandt – ist nun im Krieg zerrissen. Mirad war Zeuge, als sein Vater hingerichtet und seine Schwester von einer Granate getroffen wurde. Ob seine Mutter noch lebt, weiß er nicht. Von seiner Heimatstadt ist er neunzig Kilometer zu Fuß zu Tante und Onkel nach Sarajevo gelaufen. Während der Neffe schon unterwegs in ein westeuropäisches Land ist, stehen beide auf der Bühne, der bosnisch-muslimische Onkel und seine Frau, die Kroatin. Sie berichten aus Tagebuchaufzeichnungen und Briefen des Jungen. Sie erzählen in Rückblende und Vorgriff von Hunger, Folter, Angst und von der Kälte in der Stadt Sarajevo – einst Sinnbild für das friedliche Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Kulturen. Das Stück wurde 1994 ins Deutsche übersetzt und eroberte, meist als szenische Lesung vorgetragen, die Bühnen, vielmehr die Klassenzimmer. Allein in der Spielzeit 1995/96 stand es zehnmal auf den Spielplänen der deutschen in der ASSITEJ assoziierten Theater, wurde aber vielfach auch an anderen Bühnen gezeigt. Von einem ähnlichen Schicksal erzählt „Fluchtwege“, ein Stück von Nick Wood, das in Deutscher Erstaufführung von Yüksel Yolcu am Hans
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Otto Theater Potsdam inszeniert wurde. Es beschreibt aus der Rückblende die Flucht des Geschwisterpaares Riva und Andrea, das gemeinsam mit der Mutter vor ein paar Wochen in Deutschland angekommen ist und nun auf den positiven Bescheid über seinen Asylantrag wartet. Charles Ways „Blutrote Schuhe“ ist ebenfalls eine Geschichte aus dem Bosnienkrieg. Das Mädchen Franverra, das eigentlich immer nur tanzen will, bekommt zum Geburtstag rote Schuhe geschenkt. Plötzlich bricht der Krieg aus und die kleine Franverra wird mitgerissen durch die Ereignisse. Der Raum füllt sich mit Geschichten, mit Bildern von Krieg, Vertreibung und Flucht. In diesem einen Kind erkennen wir die Kinder an den Kriegsschauplätzen dieser Welt, die entwurzelt und alleingelassen umherirren, um zu überleben. Seit 2006 wird diese Geschichte vom Consol Theater Gelsenkirchen in der mehrfach preisgekrönten Inszenierung und Choreografie von Andrea Kramer gezeigt. Zu erwähnen seien an dieser Stelle auch die Inszenierungen, die im Rahmen der Kampagnen „Hier geblieben!“ 2005 und „SOS for Human Rights“ 2010 am Berliner „Grips Theater“ entstanden. Krieg, Tod, Vertreibung, Schicksale, Ohnmacht, Verzweiflung, Widerstand. Das sind die Schlüsselworte für Geschichten, die ich Fluchtgeschichten nenne. Befremden: Zerrissenheit, Widerstand und Identitäten zwischen zwei Kulturen Zu diesem Themenbereich kann man das oben beschriebene Stück „Haram“ ebenso zählen wie „Ayla, Alis Tochter“, ein Stück, das im Januar 2010 am Kindermusiktheater „Atze“ in Berlin Premiere hatte. Es ist eine Reaktion auf die mehrfachen Meldungen über Ehrenmorde, mit einem auf Recherchen basierenden Text von Thomas Sutter und in der Regie von Nicole Oder. Wir Zuschauenden werfen buchstäblich einen Blick hinter die Gardine – sie ist das einzige Bühnenelement – der türkischstämmigen Community in Berlin, genau genommen in eine durchaus nicht streng konservative türkisch-muslimische Familie, die bereits in zweiter und dritter Generation hier lebt. Hier sind Deutsche die Ausländer, die man unter den Jungen anmachen und bloßstellen kann. Gefühle sind keine Privatsache, sondern müssen in die richtigen traditionsgemäßen Bahnen gelenkt werden. Ayla trifft Jasper in der Disko und verliebt sich in den Jungen aus der anderen Kultur. Die Mutter wird misstrauisch. Deshalb wird zunächst Aylas Bruder von den Eltern zu erhöhter Wachsamkeit gegenüber der Schwester verpflichtet und dann rasch ein Ehemann gefunden. Es ist der Cousin, dessen Familie bald wegen des Heiratsarrangements vorsprechen wird. Wir sehen eine ebenso komische wie bedrohliche Szene des Drumherumredens und Aushandelns, in der Ayla zum Objekt wird und sich wehrt. Hier beginnt eigentlich eine Tragödie. Doch die vielschichtige psychologische Auseinandersetzung um das, was „Ehre“, „Ehrenmord“ und „Fremdsein“ für die Eltern bedeuten, bleibt aus. Die Inszenierung verweigert sie bewusst. Sie arbeitet mit Typisierungen und
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mit Klischees so, dass die Szenen, die flott und dicht aufeinander folgen, zwangsläufig in die Katastrophe führen. Das gemischte Ensemble zeigt, was abläuft, nicht, warum es so abläuft. Im „Heimathafen Neukölln“, einem Ort für neues Volkstheater im ehemaligen Berliner Vergnügungsviertel Rixdorf, wurde im November 2010 „Arabqueen – oder das andere Leben“ kurz nach dem Erscheinen des Buches uraufgeführt. „Die Journalistin Güner Balci schildert anhand der (wahren) Geschichte Mariams die Zerreißprobe, vor der viele junge muslimische Frauen in Deutschland stehen: der Tradition zu folgen oder sich von ihrer Familie zu emanzipieren – mit allen Konsequenzen“ (Heimathafen Neukölln 2010) verrät die Webseite des Spielortes. Regie führte, wie schon bei „Ayla“, Nicole Oder. Verurteilen: Der jugendliche Täter – Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse Als Beispiel für diesen Bereich kann man „Underdogs.de“ wählen, die einer anderen Fassung desselben Stoffes unter dem Titel „Verrücktes Blut“ in der Regie von Nurkan Erpulat, der auch den Text mitverantwortet, seit September 2010 im Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg gespielt wird. Ebenso kann die 2006 uraufgeführte Bühnenbearbeitung von Zoran Dvenkars Roman „Cengiz und Locke“ vom Berliner „Grips Theater“, in der Regie von Frank Panhans, beschrieben werden, die jugendliche Migranten zeigt, die sich in Straßengangs zusammengeschlossen haben und ihre Revierkämpfe austragen, wobei ein Mädchen erschossen wird. „Ehrensache“ von Lutz Hübner ist ebenfalls ein Stück dieses Themenfeldes. Es wäre fast verboten worden und gelangte bis vor das Bundesverfassungsgericht, weil Hübner sich – so der Vorwurf – erkennbar deutlich auf den „Hagener Mädchenmord“ des Jahres 2004 bezog, in dem zwei vierzehnjährige Schülerinnen von zwei türkischstämmigen Mitschülern niedergestochen wurden. Hübner „zeigt, dass Menschen zwar in derselben Stadt, aber trotzdem in verschiedenen Welten leben können.“ (Hartmann & Stauffacher Verlag 2011) Der Mord und seine Beweggründe werden untersucht. Ehre, Männerfreundschaft, patriarchalische Beziehungsvorstellungen, Kontrollverlust sind die Themen, die zum Plot geschmiedet werden. Noch eine andere Aufführung wurde seit Juni 2009 in Berlin begeistert gefeiert, ebenfalls in der Inszenierung von Nicole Oder. Vorlage für das Stück „Arabboy“ war das Buch „Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder das kurze Leben des Rashid A.“, geschrieben von Güner Yasemin Balcı. Der Klappentext verrät: „Rashid, Sohn einer libanesisch-palästinensischen Familie, ist weder Deutscher noch Libanese oder Palästinenser, er ist ein „Arabboy“. So nennt er sich in den einschlägigen Chaträumen, die er und seine Kumpel mit selbstgemachten Gewalt-Clips versorgen. Sie gehorchen dem Gesetz der Straße, auf der sich jeder sein Recht nehmen muss. Wer das nicht kann, wird zum Opfer – er ist dem Lebenskampf nicht gewach-
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sen. Mit Hilfe von Aabid, der es vom Flüchtlingsjungen zum Mega-Checker im Rotlichtmilieu gebracht hat, macht Rashid kriminelle Karriere, bis er durch seine Drogensucht die Kontrolle über sein Leben verliert. Ihn rettet seine Verhaftung. Im Gefängnis wartet er auf seine Abschiebung und Deutschland, das so verhasste Land, wird für ihn zum Inbegriff aller Sehnsüchte.“ (Balcı 2008)
Die Inszenierung zeigt, wovon in den öffentlichen Diskussionen immer die Rede ist: Arabboy ist ein Verlierer. Sein Beispiel veröffentlicht Szene für Szene, wie die Spirale aus mangelnder Bildung und Perspektivlosigkeit unweigerlich und unabänderlich zur Gewalt und Kriminalität führt, wie sich jugendliches Selbstbewusstsein am Schmerz der Opfer aufbaut. Das wird deutlich anhand von schonungsloser Darstellung von Vergewaltigung, Zuhälterei und Drogenkonsum. Die Spieler wissen, wovon sie reden. Sie zeigen einen Zustand, einen Alptraum, aus dem es in den Grenzen des Stückes, das die Regisseurin verantwortet, kein Entrinnen gibt. Diese Realität ist dort, wo sie spielt, in Neukölln, zum Teil Normalität.
M IGRATION
WIRD IM T HEATER MEIST ENTLANG DES ÖFFENTLICHEN M EINUNGSBILDES REFLEKTIERT Insbesondere Jugendliche der zweiten oder gar dritten Einwanderergeneration, die hier leben, werden in der Öffentlichkeit nur allzu häufig stigmatisiert: entweder als die Täter also Kriminelle oder als Opfer von Flucht, Vertreibung und Schlepperbanden, aber auch als Opfer mangelnder Integration durch verfehlte Bildung und daher sozial unterprivilegiert. Migration ist in der öffentlichen Meinung ein Problem, obwohl sie längst historisch eine Normalität darstellt, auch wenn sich Deutschland erst seit 2004 selbst als Einwanderungsland bezeichnet. Unter der Überschrift „Ausländer in den Medien eher negativ dargestellt“ findet sich das zusammenfassende Ergebnis einer Studie über die Berichterstattung in deutschen Massenmedien von 1996-2007. Darin heißt es: „Die deutschen Meinungsführermedien stellen Ausländer unverändert im negativen Kontext dar. Nahezu die Hälfte aller Beiträge, in denen Menschen ohne deutschen Pass Haupt-Gegenstand der Berichterstattung sind, steht im Zusammenhang mit Straftaten.“ (Media Tenor 2008) Zum Widerspruch gegen dieses gängige Bild verhelfen neueste soziologische Erkenntnisse: Glaubt man der im Dezember 2008 veröffentlichten und von verschiedenen Ministerien und Verbänden beauftragten Studie des Sinus-Instituts, die auf das „Verstehen der Alltagswelt von Migrantinnen, ihre[r] Wertorientierungen, Lebensziele, Wünsche und Zukunftserwartungen“ (Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen 2010: 9) gerichtet war, so ergibt sich ein anderes Bild, das mit den medialen Vorurteilen gründlich aufräumt. Mehr als hundert mehrstündige Tiefeninterviews mit Migranten unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Bildung, unterschiedlichen Alters
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und Geschlechts wurden durchgeführt und sozialwissenschaftlich ausgewertet. Darüber hinaus wurden 2027 Personen befragt. Die Studie zeigt ein facettenreiches Bild und widerlegt viele hierzulande verbreitete Negativ-Klischees über die Einwanderer. Die Ressourcen an kulturellem Kapital von Migranten, ihre Anpassungsleistungen und der Stand ihrer Etablierung in der Mitte der Gesellschaft werden meist unterschätzt. „Die Migranten-Milieus unterscheiden sich untereinander weniger nach ethnischer Herkunft als nach ihren Wertvorstellungen, Lebensstilen und ästhetischen Vorlieben.“ (Ebd.: 11) Nur in einer der acht beschriebenen Gruppen, hier Milieus genannt, spielt die Religion eine den Alltag bestimmende Rolle als Rahmen eines traditionellen, von autoritärem Familismus geprägten Wertesystems. Integrationsdefizite finden sich – nicht anders als in der deutschen Bevölkerung – bei den sozial Schwachen. Doch viele haben ein bikulturelles Selbstbewusstsein, „sehen Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit als Bereicherung – für sich selbst und für die Gesellschaft.“ (Ebd.: 12) Gleichzeitig wird die Beherrschung der deutschen Sprache als wichtiger Integrationsfaktor gesehen. Immerhin 65 Prozent unterhalten sich im familiären Umfeld auf Deutsch, für 82 Prozent ist Deutsch die Verkehrssprache mit Freunden und Bekannten. Beklagt wird allerdings die mangelnde Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft und das geringe Interesse an den Eingewanderten. Was wir in unserer Gesellschaft verhandeln, ist also nicht in erster Linie ein so genanntes Migrantenproblem, sondern ein soziales Problem. Bildungs- und Aufstiegschancen sind für Kinder aus allen einkommensschwachen und nicht bildungsorientierten Elternhäusern schwer zu erreichen, trotz deutscher Muttersprache.
I NTERNATIONAL
HEISST NICHT INTERKULTURELL
Das Thema Migration findet auf deutschen Kinder- und Jugendtheaterbühnen statt, wird aber wie beschrieben fast immer problematisiert. Darüber hinaus finden sich Defizite bezüglich Interkulturalität. So wurde das deutsche Theater für ein junges Publikum in seiner Entwicklung vielfach von europäischen Autoren und Spielweisen geprägt und seine Szene behauptet – nicht ohne Stolz – eine selbstverständliche europäische Identität. Denn seit mehr als 25 Jahren profitieren die bundesdeutschen Theater für ein junges Publikum von Nachbarn und richten sich mit Stücken niederländischer, schwedischer, dänischer, italienischer, französischer oder belgischer Autoren westeuropäisch aus. Doch das allein kann Internationalität nicht ausmachen. In einem Beitrag über die Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland formulierte ich 2009 meine Bedenken so: „Doch wo findet sich die ganze Welt im deutschen Kindertheater? Kehren wir also unmittelbar vor der eigenen deutschen Haustür. Abgesehen von theaterpädagogischen Projekten, die sich speziell an junge Leute mit Migrationshintergrund wenden und vielerorts betrieben werden, fehlen die Vielsprachigkeit und kulturelle Vielfalt unse-
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rer Gesellschaft im Kinder- und Jugendtheater fast ganz. Obwohl jeden Morgen Schulklassen und Kindergartengruppen ins Theater drängen und sich Kinder aus vielen Kulturen im Zuschauersaal versammeln – das Kinder- und Jugendtheater bietet in seinen Stoffen, Themen, Stücken, Spielweisen kaum Identifikationsmöglichkeiten und -figuren an. Nur wenige Ensemblemitglieder und Regisseure sind nicht westeuropäischer Herkunft. Was im Tanz und im Musiktheater selbstverständlich ist, im Sprechtheater auch an den Stadttheatern sucht man Künstler aus anderen Kulturen oft vergeblich. Die großen Epen anderer Kulturkreise – auf den Kindertheaterbühnen finden sie nicht [heute müsste man sagen: kaum] statt. Die multi-, inter- und transkulturelle Gesellschaft ist kein Problem sondern, vor allem in den urbanen Ballungszentren des Landes, längst Normalität. Sie ist eine Herausforderung, die sich dem Kindertheater durch sein Publikum stellt. Will es wirklich ein ‚Theater für alle‘ sein, wird sie angenommen werden müssen.“ (Israel 2009: 39f.)
Es ist dieses sozial gemischte und kulturell vielfältige Publikum, das die Kinder- und Jugendtheater von den Stadt- und Staatstheatern und ihren bildungsbürgerlichen Besuchern unterscheidet.
D AS T HEATER MUSS I DENTIFIKATIONSMÖGLICHKEITEN
BIETEN
Selbstverständlich lassen sich Themen wie Fremdsein und kulturelle Verschiedenheit auch in mythischen, klassischen oder modernen Stoffen auffinden. Homers „Odyssee“, Lessings „Nathan der Weise“ oder Ingeborg von Zadows „Besuch bei Katt und Fredda“ sollen dazu als Beispiel genügen. Nicht immer müssen Figuren diese Themen dicht an der Realität verhandeln. Auch an den Theatern selbst ist mittlerweile einiges in Bewegung geraten, um kulturelle Vielfalt als einen Reichtum auf den Bühnen zu fassen. Einige laden sich Schauspieler aus anderen Kulturkreisen für Produktionen ein oder wechseln mit ihren Geschichten die Perspektiven. In wenigen Ensembles finden sich auch Schauspieler aus anderen Herkunftskulturen. Anregendes von den professionellen Bühnen Anne Richter vom Schnawwl in Mannheim erzählte mir, wie sich die Arbeit und Rezeption des Märchens „Tölpelhans“ verändert hat, einfach dadurch, dass ein Spieler der Titelfigur aus Weißrussland stammt und eigene Ungeschicklichkeitserfahrungen aus seiner Zeit mangelnder Sprachkennisse in die Inszenierung einflossen. An diesem Theater wurde die Spielzeit 2010 unter dem Motto „Fremde Freunde“ mit dem „Lied von Rama“ , also der „Ramayana“, dem indischen Nationalepos eröffnet. Beschlossen wird sie dann mit einer Koproduktion mit dem Theater Ranga Shankara aus dem südindischen Bangalore. Gespielt wird „Der Junge mit dem Koffer“ von Mike Kenny, ein Stück, das die Fluchtgeschichte zweier Kinder nach Westeuropa beschreibt. Es soll in Mannheim, in Bangalore und auf einer Tour
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durch Indien gezeigt werden. Solche Koproduktionen, wie sie auch das Theater im Marienbad Freiburg mit dem Dramatic Arts Center in Teheran unter dem Titel „Simurghs“ zum persischen Nationalepos „Schahnameh“ unternahm, geben Anlass zur Hoffnung auf andere Stoffe und vielleicht auch Spielweisen. Dass solche Unternehmungen Reibungen und Schwierigkeiten mit sich bringen, ist keine Frage, aber in der künstlerischen Begegnung mit der anderen Kultur und Theaterkultur liegt immer auch die Chance, gemeinsam etwas Neues zu kreieren. Am Jungen Ensemble Stuttgart (JES) stand gleich die ganze Spielzeit 2009/2010 unter dem Titel „Fremde Welten“. Hier schickte Brigitte Dethier, künstlerische Leiterin und Regisseurin die dem Publikum schon aus anderen Produktionen vertrauten Theaterfiguren Mama Salz und Papa Pfeffer, ein durch und durch normales deutsches Ehepaar, in die Türkei. Heraus kam die Aufführung „Merhaba Mama Salz und Papa Pfeffer“. Hier wird deren „scheinbar wohlgeordnetes Weltbild […] durcheinander gewirbelt von der hektischen Betriebsamkeit, der fremdem Sprache, die sie nicht verstehen, der Musik, dem klebrigen Nachtisch, der ungewohnten Kleidung und den fremden Bräuchen.“ (Junges Ensemble Stuttgart 2010) Brigitte Dethier berichtete auf der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft im Januar 2011, wie die türkischsprachigen Kinder, die morgens mit ihren Schulklassen im Theatersaal saßen, förmlich einen Kopf größer das Theater verließen. Sie hatten nämlich immer dann verstanden, wenn Mama Salz und Papa Pfeffer am Türkischen scheiterten und übersetzten fröhlich während der Vorstellung für ihre ebenfalls nichts ahnenden Mitschüler. Die Aufführung „Zwischen Fischen. Eine Einladung zum Fremdsein“ der deutsch-schweizerischen Kompanie Kopfstand wartet mit Geschichten vom Sichfremdfühlen auf. Sie sind eingebettet in die Ergebnisse einer einjährigen Materialrecherche, die das junge Ensemble mit den Spielerinnen Charlotte Baumgart, Annika Biehl und Regisseurin Anika Roth gemeinsam an Schulen in Deutschland, Liechtenstein und der Schweiz zum Thema Fremdsein unternahm. Die beiden Spielerinnen/Moderatorinnen stellten Fragen nach Fremdheitserfahrungen und sie bekamen Antworten: „Eine ist umgezogen. In der neuen Schule starren sie alle an. Ein anderer aus der Ferne weiß nicht, wie sich Schnee anfühlt. Und einer unter anderen kann seinem besten Freund nicht mehr in die Augen sehen.“ (Seher 2007) Hier wir das Thema Fremdsein in einem größeren Zusammenhang verhandelt und nicht eindeutig einer bestimmten Gruppe von Kindern zugeordnet. Fremdsein ist etwas, was alle Kinder kennen und erleben, was sie aushalten und überwinden müssen. Ein weiteres Beispiel ist „Die Treppe zum Garten“ am Theater Marabu. Tina Jücker sagt zu dem Stück: „Eigentlich wollten wir ein Kinderbuch dramatisieren, in dem es um das Schicksal eines Kindes in einem fremden Land geht. Als dann die beiden Musiker und die Schauspielerin zusammen kamen und anfingen zu erzählen, warum sie hier in Deutschland gelandet sind, was ihre Geschichten vom Weggehen, vom Unterwegs-
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sein und vom Ankommen sind, da war klar, dass dies die Geschichten sind, die auf die Bühne gehören. Sie sind so voll von Bildern, von Poesie, von Traurigkeit und von Humor, dass sie alles bieten, was es braucht, um daraus Theater entstehen zu lassen.“ (Jücker 2010)
Hier erzählen, spielen und musizieren eine Schauspielerin und zwei Musiker darüber, was Worte wie Heimat, Heimat verlassen, Unterwegs sein, Fremde und Freundschaft bedeuten. Sie sprechen deutsch und in ihren Heimatsprachen, übersetzen sich die Bedeutung von Worten und Begriffen und bringen Geschichten aus ihren Herkunftsländern mit auf die Bühne. Das Junge Schauspielhaus Düsseldorf spielt seit 2008 eine Bühnenfassung des Films „Nenn mich einfach Axel“. Er erzählt von dem zehnjährigen Axel, der die muslimischen Freunde seiner großen Schwester bewundert, mit ihren Goldketten und ihren schnellen Autos. Deshalb beschließt er, Moslem zu werden. Er ändert seinen Namen, seine Kleidung, seine Essgewohnheiten, seinen Tagesablauf. Doch es gibt Widerstände bei Familie und Freunden. Anregendes aus dem Theater mit Kindern und Jugendlichen Bemerkenswertes findet sich auch dort, wo junge Menschen ihr Theater selber spielen, so beispielsweise 2006 in Düsseldorf im tanzhaus NRW mit „Kopf&Tuch“. Dreizehn junge Erwachsene unterschiedlicher kultureller Herkunft gehen hier der Frage nach, was ihre Identität ausmacht: Herkunft oder Glaube, Haltung oder Pose? Die Gruppe forscht gemeinsam spielend und Hip-Hop tanzend nach Formen der Begegnung und ihrem ganz eigenen Bezug zur islamisch-orientalischen Kultur. Auf Kampnagel in Hamburg fragen 2007 in der Produktion „Perspektive Hamburg“ vierzig Grundschulkinder aus den Stadtteilen Eppendorf, in dem gut situierte Bevölkerungsschichten wohnen, und Jenfeld, der als sozialer Brennpunkt mit hohem Migrantenanteil gilt: Was trennt uns, was haben wir gemeinsam? Wer schafft es? Wer wird erfolgreich? Sind die Weichen schon gestellt oder ist noch alles möglich? Sie stehen als Protagonisten ihrer Geschichten gemeinsam auf der Bühne. Aus dem Blick der Kinder entsteht das Panorama einer kommenden Generation, die ihre Chancen von den Erwachsenen einfordert. Am Jungen Schauspiel Hannover inszenierten Nurkan Erpulat und Barbara Kantel 2009 mit 16 Jugendlichen „Familiengeschichten“. Es ist ein Tabu über die eigene Familie zu reden, ihre Situation, ihre Probleme und Konflikte in der Öffentlichkeit darzustellen. Die jugendlichen Spieler, allesamt Postmigranten, haben sich auf die Suche begeben nach ihren Familiengeschichten. Sie erforschen spielerisch darin Gemeinsames und Unterschiedenes, nehmen Anleihen in den Mythen der Antike und geben Auskunft über ihre Identitäten, die gelebten und die erhofften. Auch in einigen theaterpädagogischen Programmen der Kinder- und Jugendtheater, oft aber noch nicht auf ihren Bühnen, finden sich Formen und
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Themen, die für die künstlerische Auseinandersetzung bedenkenswert sind. Da wird zu Mythen und Märchen anderer Kulturkreise in Projektwochen mit Schulklassen gespielt, da werden die Feste der Welt gefeiert, zum Beispiel am Berliner „Theater an der Parkaue“, das für eine Winterakademie mit Kindern zudem eine Kooperation mit der Türkei unternahm, oder es werden Erzählreihen mit Märchen und Geschichten aus anderen Ländern angeboten. Beispiele gibt es viele, nur sollten diese Beschäftigungen nicht dazu führen, das Andersartige auszustellen, Folklore und Exotismus zu fördern, sondern miteinander Erfahrungen und Entdeckungen ermöglichen. Anregendes bei den Erzählern und in Kinderspielen Auch von der Szene der freien mündlichen Erzähler, mit denen ich während des europäischen Erzählertreffens „Epos“ 2003 eine ganze Woche verbrachte, ließen sich Anregungen holen, denn sie erzählen seit Jahrhunderten Märchen, Mythen und aufgesammelten Geschichten aus der ganzen Welt. Das tun sie, weil gute Geschichten – egal woher sie kommen – erzählt werden müssen. Und sie setzen sich auf ihren Konferenzen mit den Erzählweisen und -traditionen, mit kulturellen Identitäten, mit Bezügen und den gemeinsamen Wurzeln der mündlichen Erzählungen auseinander. Spielanlässe lassen sich auch immer von neuem in den Kinderspielen der Welt entdecken. Spielend gemeinsam um die Welt reisen und sie erobern, herausfinden, was sich in der Regel ähnelt, was sich unterscheidet und vielleicht neue Spiele entwickeln und in den Kinderspielen Theatersituationen entdecken, das könnte ein Weg sein, um in einem „KinderTheaterHaus“ als Spielraum mit den Jüngsten für sie zu arbeiten.
E IN T HEATER FÜR
ALLE
Das Theater hat sich in Deutschland im Wesentlichen als ein Medium etabliert, das nationalstaatliches Interesse des Bürgertums repräsentierte und entfaltete in den Zeiten feudaler Kleinstaaterei lange Zeit die Vorstellung der deutschen Kulturnation, die sich anders, als beispielsweise in Frankreich, nicht auf ein eingegrenztes Territorium beschränkte. Wir sprechen vom Bildungsbürgertum und meinen einen kulturellen Kanon, der den Besuch im Stadttheater einschließt. Anders verhält es sich mit dem Theater für ein junges Publikum. Das Kinder- und Jugendtheater, nicht das Stadttheater, ist derzeit noch immer jener öffentliche Ort, der sich täglich, insbesondere in den Ballungszentren, mit einem vielsprachigen jungen Publikum füllt, oft im Klassenverband oder mit der Kita-Gruppe. Der andere Ort, an dem Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunftskulturen zuverlässig zusammentreffen, ist die Schule, insbesondere die Grundschule, in der Kinder aus allen sozialen Schichten und Milieus gemeinsam lernen. Das Verbindende beider Institutionen liegt auf der Hand. Es geht für beide Seiten darum, das Verhältnis produktiv zu gestalten. In
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den oft „soziale Brennpunkte“ genannten Vierteln der Städte verzeichnen die Schulen einen großen bis ausschließlichen Anteil an Kindern aus Familien mit einer Migrationsgeschichte. An manchen Schulen verschwinden die „deutschstämmigen“ deutschen Schüler fast ganz, wie etwa in Berlins Bezirk Kreuzberg, wo neu hinzugezogene Eltern zwar die Szene schätzen, ihre Kinder aber lieber in anderen Bezirke für den Schulbesuch anmelden. Dass das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen Lebensvorstellungen Befremden, Reibung, Widerstand erzeugt, Widersprüche also, die unbedingt auf die Theaterbühne – noch dazu für ein junges Publikum – gehören, ist unbestritten. Zeigen „was ist“, war immer auch Aufgabe des Theaters; den Finger in Wunden legen; der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, damit sie nicht wegsehen kann; das Theater als öffentlichen Ort gesellschaftlicher Diskussion behaupten. Das tun die problemorientierten Stücke allesamt, wenn ihre Inszenierungen es schaffen, über das Schicksal des Einzelnen hinauszuweisen. Dennoch schlage ich einen Perspektivwechsel vor: Wollen wir mit Brecht von der „Veränderbarkeit der Welt“ träumen, mit Wolfgang Heise im Theater als „Laboratorium sozialer Phantasie“ Entdeckungen machen, Entwürfe wagen, nicht nur zeigen, was ist, sondern was möglich ist, dann sollten wir in der Vielfalt den Reichtum entdecken und in der künstlerischen Begegnung, in der gemeinsamen Produktion, in deutsch- und mehrsprachigen Ensembles Neues finden und erfinden. Das heißt kulturelle Übersetzungen finden, vielleicht den Vorgang des Übersetzens selbst zum Theatervorgang erheben, gerade im Theater für junge Zuschauer. Es entspricht längst ihrer Lebenswirklichkeit und wird ihre Zukunft bestimmen.
L ITERATUR Balcı, Güner Yasemin (2008): Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder das kurze Leben des Rashid A., Frankfurt am Main: Fischer. Balme, Christopher (2007): „Deutsches Welttheater?“, in: Die Deutsche Bühne, Jg. 78, H. 5, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 20-23. Brecht, Bertolt (1981) „Über experimentelles Theater“, in: Bertolt Brecht: Werke in 5 Bänden, Schriften, Bd. 5, S. 280. Brecht, Bertolt (1993): „Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung“, in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Schriften 2, Teil 2 Darmstadt: Wiss. Buchges., S. 862863. De Bont, Ad (2006): Haram. Geschichte einer marokkanischen Familie, Deutsch von Barbara Buri, Stückmanuskript, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Hartmann & Stauffacher Verlag (Hg.) (2011): „Ehrensache. Inhalt“, Verlagsmitteilung, http://cms.hsverlag.com/?werke/detail/t894 [09.04.2011]. Heimathafen Neukölln (Hg.) (2010): Arabqueen – oder das andere Leben, http://www.heimathafen-neukoelln.de/?q=node/415 [19.03.2011].
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Israel, Annett (2009): „Entgrenzung. Das aktuelle Erscheinungsbild des Kinder- und Jugendtheater und seine historischen Bezüge“, in: Andrea Gronemeyer/Julia Dina Heße/Gerd Taube (Hg.), Kinder- und Jugendtheater in Deutschland. Perspektiven einer Theatersparte, Berlin: Alexander Verlag, S. 22-43. Jücker, Tina (2010) in: Interview von Gabriela Vilchez mit Tina Jücker, http://www.migrapolis-deutschland.de/index.php?id=1698 [19.03.2011]. Junges Ensemble Stuttgart (2010): „Merhaba Mama Salz und Papa Pfeffer“, Inszenierungsankündigung, http://www.jes-stuttgart.de/stuecke/merhaba _mama_salz_und_papa_pfeffer/index.html [09.04.2011]. Kuijer, Guus (2006): Wir alle für immer zusammen. Stückfassung von Philippe Besson, Andreas Steudtner nach der Übersetzung aus dem Niederländischen von Sylke Hachmeister, Stückmanuskript, Hamburg: Verlag für Kindertheater. Media Tenor (Hg.) (2008): Ausländer in den Medien eher negativ dargestellt, http://www.mediatenor.de/newsletters.php?id_news=614 [19.03. 2011]. Seher, Thomas (2007): „ZwischenFischen“, http://www.thomasseher.de/de/ musik/theater [09.04.2011]. Simmel, Georg (1992): „Exkurs über den Fremden“, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 11, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, Gesamtausgabe Bd. 11, S. 764-771. Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2010): Von Kult bis Kultur. Von Lebenswelt bis Lebensart, www.interkulturpro.de/ik_pdf/ Sinus-Studie_2009.pdf [19.03.2011]. Sticht, Christina (2009): „Stadtführung ins ‚Niemandsland‘. Zum Projekt des holländischen Regisseurs Dries Verhoeven“, in: Die Berliner Literaturkritik vom 12.06.09, http://www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/ artikel/theater-als-stadtfuehrung-ins-niemandsland.html [09.04.2011]. Verhoeven, Dries (2009a): Niemandsland, unveröffentlichtes Manuskript. Verhoeven, Dries (2009b) in: „‚Young Directors Award‘ geht an Dries Verhoeven“, Die Presse.com vom 24.08.2009, http://diepresse.com/home/ kultur/news/503747/Young-Directors-Award-an-Dries-Verhoeven?from=suche.intern.portal [09.04.2011]. Wikipedia (2011): „Haram“, wikipedia.org/wiki/Haram_(Islam) [19.03. 2011].
Begegnungen zwischen den Kulturen Eine Theater- und Tanzkultur der Differenz und Ambivalenz M IRIAM D REYSSE Formen des interkulturellen Theaters und Tanzes entstehen im Zuge kolonialer und postkolonialer Prozesse, welche die europäisch-westliche Kultur mit anderen Kulturen in Verbindung bringen. Gerade im Zeitalter der Globalisierung werden diese Beziehungen zunehmend enger und es ist zu fragen, in welcher Weise das europäische Theater und der zeitgenössische Tanz darauf reagieren, wie eine Begegnung der verschiedenen Kulturen inszeniert wird und welche Rolle dabei die andere, fremde Kultur im Verhältnis zur eigenen Kultur spielt. Wird sie zu einem Objekt eines eurozentrischen, in kolonialen Denkmustern verharrenden Blicks, werden Differenzen eingeebnet oder werden Begegnungen in Szene gesetzt, welche die Gleichwertigkeit und zugleich Diversität der Kulturen erfahrbar machen? Eine solche nicht hierarchisierte Begegnung verschiedener Kulturen, die Differenzen zulässt und sichtbar macht, ist beispielsweise „Pichet Klunchun and Myself“ von Pichet Klunchun und Jérôme Bel aus dem Jahr 2005, ein Dialog zwischen dem thailändischen Tänzer Pichet Klunchun und dem französischen Choreografen Jérôme Bel über ihre Arbeit als Tänzer in zwei verschiedenen Kulturen (vgl. Brandstetter 2008: 18; Dreysse 2007: 153). Eine solche Begegnung entsteht auch, um ein weiteres Beispiel zu nennen, während des Audiowalks „Call Cutta“ von Rimini Protokoll, bei dem man per Telefon von Angestellten eines indischen Call Centers durch Berlin geführt, auf Besonderheiten und Gemeinsamkeiten der deutschen und indischen Geschichte aufmerksam gemacht wird und sich allmählich ein Dialog über das eigene Leben und das Leben des Gesprächspartners im fernen Kalkutta entwickelt (vgl. Dreysse/Malzacher 2007).
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Auch das Künstlerduo Gintersdorfer/Klaßen inszeniert solche Begegnungen verschiedener Kulturen. Seit 2005 arbeiten die Regisseurin Monika Gintersdorfer und der bildende Künstler Knut Klaßen mit dem ivorischen Tänzer, Performer und Choreografen Franck Edmond Yao zusammen. Dabei geht es immer wieder um das Verhältnis zweier Kulturen zueinander, um die Eigenarten der beiden Kulturen, die Unterschiede gerade bezüglich des Verständnisses von Tanz und Theater sowie um das Bild, das man sich vom jeweils Anderen macht. Wesentlich ist dabei, dass nicht nur die afrikanische bzw. ivorische Kultur als fremde Kultur inszeniert wird, sondern auch der Blick auf das Eigene, auf die westeuropäische Kultur verfremdet wird. Es wird nicht versucht Unterschiede zu verschleiern, sondern das Andere gerade in seiner Andersartigkeit sichtbar zu machen und als wesentlich auch für das Eigene zu begreifen. Fixierte Bilder vom Fremden wie vom Eigenen werden dabei brüchig und das Eigene auch als fremd erfahrbar. So werden beispielsweise in der fünfteiligen Performance-Reihe „Logobi 01-05“ (2009/10) Begegnungen zwischen jeweils einem ivorischen und einem europäischen Tänzer inszeniert.1 Logobi ist ein Tanz, der in der Elfenbeinküste auf der Straße getanzt wird, ein Tanz aus der alltäglichen Lebenswelt der Hauptstadt Abidjan. Und er ist Ausgangspunkt des Dialogs der beiden jeweiligen Tänzer der Logobi-Serie. Sie zeigen sich gegenseitig verschiedene Formen des Tanzes ihrer jeweiligen Kultur, den Logobi und andere moderne Alltagstänze ebenso wie traditionelle afrikanische Tänze und Variationen des zeitgenössischen europäischen Bühnentanzes. Sie erklären Bedeutung und Funktion der einzelnen Tänze sowie die Veränderungen des Tanzes durch die sich schnell ändernde zeitgenössische Gesellschaft. Die Logobi-Serie ist ein Prozess der Annäherung, der die Distanz aber nicht zu kitten versucht, sondern unterschiedliche, wechselnde Nähe- und Fremdbeziehungen zulässt, und der nicht zu einem Abschluss kommt. Diese Prozesshaftigkeit wird dadurch betont, dass, ähnlich der oralen Erzähltradition Afrikas, viele der Texte nicht im Vorhinein festgelegt sind, sondern auf der Bühne während der Aufführung entstehen. Auf diese Weise ist auch das gegenseitige Interesse der beiden Performer immer wieder neu und andersartig. Während Yao oder Depri etwas zeigen und auf Französisch erklären, übersetzt ihr europäischer Tanzpartner das Gesagte auf Deutsch. Die Muttersprache der Ivorer, die für die Zuschauer in Deutschland eine fremde Sprache ist, nimmt szenisch Raum ein und der Akt der Übersetzung wird
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„Logobi 01“: Gotta Depri und Hauke Heumann; „Logobi 02“: Gotta Depri und Gudrun Lange; “Logobi 03”: Franck Edmond Yao und Laurent Chétouane; „Logobi 04“: Yao und Jochen Roller; „Logobi 05“: Yao und Richard Siegal.
B EGEGNUNGEN
ZWISCHEN DEN
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auf der Bühne sichtbar gemacht. Die Inszenierung der Übersetzung hinterfragt den Austausch zwischen den Kulturen, fragt immer wieder neu nach der Übersetzbarkeit und den Grenzen des Verstehens. Die Übersetzung bemüht sich um Neutralität und kann doch nie alle Details erfassen und eindeutig übertragen. Übersetzung meint hier, das Andere so zu akzeptieren, wie es ist, auch wenn es den eigenen Ansichten oder Werten zuwiderläuft. Die Übersetzung versucht nicht, sich das Fremde anzueignen, sondern es sichtbar zu machen, sich ihm anzunähern und es dabei als Anderes, vielleicht Unverständliches bestehen zu lassen. In den Aufführungen finden noch andere Formen der Übersetzung statt: zwischen den beiden Körpern, wenn Tanzbewegungen nachgemacht werden, sowie diejenige zwischen Körperbewegung und Sprache, wenn Bewegungen erläutert, Gesagtes durch Bewegungen konkretisiert wird. Dabei gilt auch hier: Übertragung und Übertragenes bleiben nebeneinander bestehen, Kopie und Original sind nicht eindeutig fixierbar, beide erzeugen einen je singulären Überschuss, die Bewegungen sind mehr als eine Illustration des Gesagten. Die verschiedenen Formen der Übersetzung, Übertragung und des Kopierens arbeiten auf diese Weise einer Hierarchisierung von Bedeutung und subjektiver Körperlichkeit entgegen.
K ULTURELLE D ISKURSE
UND THEATRALE
D IALOGE
Im Jahr 2008 erarbeiten Gintersdorfer/Klaßen eine Aufführung mit dem Titel „Othello, c’est qui“, die unter anderem 2009 mit dem Preis des Festivals „Impulse“ ausgezeichnet wird und 2010 auf dem Theatertreffen zu sehen ist. Es ist keine Inszenierung des Stücktextes, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Mythos Othello in der westlichen Kultur. Othello ist der berühmteste Schwarze des westlichen Theaters, in Afrika kennt ihn kaum jemand. Das ist der Ausgangspunkt eines Dialogs zwischen der deutschen Schauspielerin Cornelia Dörr und Franck Edmond Yao über kulturelle Differenzen und Identitäten und den europäischen Blick auf das Fremde. Othello ist, das wird gleich zu Beginn deutlich, eine europäische Angelegenheit: Yao erzählt, dass er und auch alle seine afrikanischen Freunde noch nie von Othello gehört hätten, als er für diese Rolle angefragt wurde, während in Deutschland selbst der Schaffner und die zufällige Sitznachbarin im Zug Othello kannten. Später beschreibt er, wie er in Hamburg am Bahnhof ankommt und das Deutsche Schauspielhaus sieht, dieses große, weiße Gebäude, in dem der schwarze Othello auf der Bühne steht. Und im Bahnhof stehen die anderen Schwarzen, die hier ihre Geschäfte verfolgen und nie zu dem schwarzen Othello ins Theater gehen. Die Figur des Othellos, dieser einzige schwarze Protagonist des europäischen Theaters bis ins 20. Jahrhundert hinein, ist eine Konstruktion, eine weiße Phantasie des Fremden, Anderen, die nichts mit konkreten, realen Menschen schwarzer Hautfarbe und nichts mit der afrikanischen Kultur zu tun hat. Außerdem wird deutlich, dass Othello nicht für einen konkreten Menschen oder einen dramatischen Kon-
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flikt steht, sondern eine Stelle in der Logik von Besetzungshierarchien einnimmt: Auf seine Frage „Mais Othello, c’est qui?“ erhält Yao immer nur die Antwort: „Das ist eine ganz wichtige Rolle“. Yao und Dörr unterhalten sich über Eigenarten, Werte und Konventionen der beiden Kulturen. Yao erklärt beispielsweise, welchen hohen Stellenwert Geld an der Elfenbeinküste hat; Dörr beschreibt, wie wichtig für eine Schauspielerin am deutschen Theater die Haupt- und Titelrollen sind. Auch hier nimmt der Akt der Übersetzung einen wichtigen Stellenwert ein. Bilingualität und Stimmwechsel rhythmisieren und musikalisieren die Aufführung. Die Fremdsprache und der Akt des Übersetzens sind darüber hinaus verfremdende Mittel, durch welche die beiden Darsteller von uns distanziert und gleichzeitig ihre unterschiedlichen kulturellen Hintergründe konkretisiert werden. Dörr und Yao sprechen über Theater- und Tanzkultur in ihren Ländern, aber auch über Themen, die in „Othello“ verhandelt werden, wie beispielsweise Sex. Dabei werden gegenseitige Vorurteile deutlich: „Wenn ihr tanzt, ist das Sex pur“, sagt Dörr, und Yao antwortet, „Nein, aber in Europa, da sieht man ständig überall Sex, immer fummelt ihr aneinander rum in der Öffentlichkeit“. Solche Missverständnisse und Vorstellungen vom Anderen werden nicht aufgelöst, sondern bleiben bestehen. Auf diese Weise entwickelt sich ein Dialog, der nicht dialektische Vermittlung oder eine Lösung im zwischenmenschlichen Austausch zum Ziel hat, sondern der einen Raum eröffnet, der von Differenzen, Ambivalenzen und Vernetzungen lebt. Dabei wird sichtbar, dass auch das Weißsein eine Konstruktion ist, nicht nur durch den Blick des anderen, sondern auch durch den eigenen Blick auf das Fremde, der Identität stiftet und das Eigene normalisiert. Im Zentrum des Stücktextes steht das Paar Othello und Desdemona, der schwarze Mann und die weiße Frau, welche die abendländische Phobie der „Rassenmischung“ verkörpern und dem Stereotyp des Schwarzen, der der weißen Frau Gewalt antut, als Liebespaar entgegentreten und dieses Stereotyp am Ende doch zu erfüllen scheinen.2 Irgendwann kommen Dörr und Yao auf das Thema Eifersucht zu sprechen. Yao beschreibt, wie eng Ehebruch und Eifersucht in der Elfenbeinküste mit der Vorstellung von Ehre verbunden sind und wie lebendig der Glaube an Dämonen und Besessenheit ist. Im Zuge dieser Unterhaltung verändert sich seine Darstellungshaltung, er scheint sich mehr und mehr mit dem Erzählten zu identifizieren und versucht, Dörr von dem Dämon des Fremdgehens zu befreien. Was anfangs noch wie ein Spiel wirkt, kippt immer mehr in die realistische Verkörperung einer Rolle: der Rolle des von Eifersucht oder Irrglauben besessenen, „wilden“ Schwarzen, der sich der unschuldigen weißen Frau bemächtigt, der Rolle des Othello.
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Zur Rezeptionsgeschichte von Othello vgl. Neill 2006 und Potter 2002; zur Konstruktion von „Rasse“ bei Shakespeare vgl. Wells 2000.
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SCHAFFEN UND
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ERMÖGLICHEN
War jedes Spiel, jede Nachahmung, jede Identitätskonstruktion bisher durch Rahmung und Erläuterung kenntlich gemacht, geht der Übergang von der distanzierten Darstellerhaltung zur Verkörperung nun schleichend vonstatten. Bislang wurde die Fremdheit zwar als Differenz belassen, aber intellektuell durch Erklärung überbrückt, jetzt bleibt nur das Gefühl des NichtVerstehens – der Schwarze wird uns plötzlich wirklich fremd, wir können ihn nicht mehr einordnen, so wie wir den Darstellungsstil nicht mehr klar von der Realität unterscheiden können. So wie die Figur Othello in seiner unmäßigen Leidenschaft und Gewalt am Ende der Tragödie Stereotype des „Mohren“ verkörpert, so scheint Yao am Ende der Aufführung ebenfalls solche, noch heute gültigen Stereotype und Ängste vor dem Fremden zu verkörpern, scheint das christlich geprägte, rationale Selbst zu gefährden, verstört auf alle Fälle unsere Erwartungshaltung grundlegend. Er ist jetzt Othello – jener Othello, den das europäische Theater in Geschichte und Gegenwart immer wieder nach seinen eigenen Vorstellungen als Ikone des Fremden hervorbringt, ein Othello, dessen Konstruiertheit in der um Realismus bemühten Verkörperung verschleiert wird und der auf diese Weise die Identität des Eigenen absichert. Indem Yao sich des ihm zugeschriebenen Stereotyps bedient, entzieht er sich unserer Definitionsmacht, verstört die Ordnung unserer Zuschreibungen, die sicher geglaubten Kategorien von Eigenem und Fremdem (vgl. auch Hall 2004: 158ff.). „Othello, c’est qui“ reflektiert so quasi an „Othello“ entlang den Zusammenhang von Identität, Fremdheit und Darstellungskonventionen, die Identitäten hervorbringen, das Eigene normalisieren und den anderen dabei kolonialisieren. Und solche, die den eigenen Standpunkt denaturalisieren, Nicht-Verstehen zulassen und auf diese Weise Freiräume schaffen für eine Begegnung mit dem Anderen jenseits stabiler Identitäten. Gintersdorfer und Klaßen haben nicht nur eine Theaterform entwickelt, die es ermöglicht, kulturelle Differenzen sichtbar und künstlerisch produktiv zu machen, sondern sie arbeiten auch als Produzenten an einer „Verflechtung“ von Kulturen (Brandstetter 2008: 16). So haben sie im Jahr 2010 verschiedene Künstler wie zum Beispiel Gob Squad, Richard Siegal und Ted Gaier nach Abidjan eingeladen, um dort im Rahmen des „Festival Rue Princesse“ Arbeiten zu produzieren; einige dieser Arbeiten wurden dann wiederum in Hamburg auf Kampnagel gezeigt. Durch die Produktion vor Ort und die Arbeit mit ivorischen Künstlern wird versucht, den Dialog und die Übersetzung zwischen den Kulturen zu einem integralen Bestandteil künstlerischer Arbeit zu machen: nicht als restlose Vermittlung, sondern als ein Prozess, der beide Seiten gleichermaßen befragt und produktiv macht.
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L ITERATUR Brandstetter, Gabriele (2008): „Verflechtungen von Tanzkulturen. Pichet Klunchun und Jérôme Bel“, in: Christel Weiler/Jens Roselt/Clemens Risi (Hg.), Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, Berlin: Theater der Zeit, S. 16-27. Dreysse, Miriam (2007): „Gespräche, Bekenntnisse, Aussprachen – Populäre Medienformate und zeitgenössische Performance“, in: Forum Modernes Theater Bd. 22/2, S. 153-166. Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.) (2007): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin: Alexander. Hall, Stuart (Hg.) (2004): Ideologie, Identität, Repräsentation, Hamburg: Argument. Neill, Michael (2006): „Introduction“, in: The Oxford Shakespeare. Othello, the Moor of Venice, Oxford: Clarendon Press, S. 1-180. Potter, Lois (2002): Othello, Shakespeare in Perfomance, Manchester u. a.: Manchester University Press. Wells, Stanley (Hg.) (2000): Shakespeare and Race, Cambridge: University Press.
Theater als Auseinandersetzung mit dem Fremden
Über das Bekenntnis zur Uneindeutigkeit Die Konstruktion des „Anderen“ und was die Theaterkunst dem entgegensetzen kann A ZAR M ORTAZAVI
„W IR “
UND DIE
„A NDEREN “
Spätestens seit der Anwerbung der so genannten Gastarbeiter ist kulturelle Vielfalt Normalzustand in Deutschland. Dennoch werden Menschen mit Migrationshintergrund noch immer nicht als selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft betrachtet. Der Wunsch nach kollektiver, nationaler Identität führt zu der Entgegensetzung von Eigenem und Fremdem. Die Differenzierung „wir“ und die „anderen“ grenzt Menschen mit Migrationshintergrund aus und erklärt sie zum Gegensatz des eigenen Wesens. Maureen Maisha Eggers spricht in diesem Zusammenhang von Differenzkonstruktionen: „Subalterne Kategorien, Personen, und Gruppen werden mit Eigenschaften belegt. Es wird ein ‚Wissen‘ über ihr Wesen erzeugt. In diesem Wissen besteht die Hauptaussage in der Artikulation ihrer ‚Differenz‘ in Relation zu der hegemonialen weißen Gruppe.“ (Eggers 2005: 57)
Klar ist, dass die Differenzkonstruktion nur dann funktioniert, wenn es sich um Kulturen handelt, die als stark kontrastreich zur eigenen Kultur empfunden werden. In Deutschland handelt es sich hierbei um die Gruppe der muslimischen Einwanderer. Deshalb werden Begriffe wie Migration häufig nur mit bestimmten kulturellen Hintergründen in Beziehung gesetzt und werden dadurch problematisch. Verbunden mit der Differenzkonstruktion ist eine Bestätigung und Aufwertung der eigenen Identität. Wenn in den Debatten muslimische Migranten als traditionell, undemokratisch und unmodern dargestellt werden, wird gleichzeitig behauptet, selbst aufgeschlossen, liberal und modern zu sein. Mit der Produktion von Wissen über eine bestimmte Gruppe geht die Stereotypisierung einher, die sich in der Wiederholung manifestiert. Alle Differenzen werden in einem stark vereinfachten Bild unter-
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drückt und eine Homogenität wird behauptet, die kaum Unterschiede zulässt.
S TEREOTYPE IN DER KÜNSTLERISCHEN A USEINANDERSETZUNG Stereotype sind Zuspitzungen und daher im Kern immer extrem. Das macht wohl den Reiz für die Kunst aus, sich mit Stereotypen auseinanderzusetzen. Im Film sowie im Theater ist etwa der „Ghettotürke“, bildungsfern, traditionell und religiös, meistens auch noch frauenfeindlich und brutal, zum Kunstobjekt geworden. Genauso wie das unterdrückte „Kopftuchmädchen“. In der Rezeption werden die stereotypisierenden Darstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund schnell als einzige Wahrheit akzeptiert, da sie die Klischees, die aufgrund von ständiger Wiederholung sowieso schon herrschen, bestätigen. „As always, the stereotype operates principally through a judicious combination of adjectives, which establish [certain] characteristics as [if they were] eternal verities.“ (Hulme 1986: 49f.) Besonders wirksam lassen sich Stereotype verkaufen, wenn derjenige, der sie entworfen hat, selber Migrationshintergrund hat. Dann scheint auch der letzte Zweifel aus dem Weg geräumt zu sein, dass es sich bei den Darstellungen um nichts als die Wahrheit handeln muss. Wenn Stereotype inszeniert werden, ist eine logische Konsequenz, dass sich der Zuschauer vom Dargestellten abgrenzt, denn Stereotype bieten niemals eine Chance zur Identifikation. Sie werfen keine Fragen auf, sondern präsentieren angebliche Gewissheiten. Die Gefahr der Stereotypisierung ist umso größer, wenn jemand über eine Lebensrealität berichtet, die nicht dem eigenen Erfahrungshorizont entspricht. Denn was unsere Lebenswelt angeht, so wissen wir, dass Ambivalenz und Widersprüchlichkeit die Realität ausmachen. Um in der künstlerischen Auseinandersetzung die vorhandenen Stereotype nicht unhinterfragt zu wiederholen, muss der eigene Blick auf den so genannten Fremden mitreflektiert werden. Die Frage, wie der „Fremde“ repräsentiert und somit interpretiert wird, darf nicht ausgeblendet, sondern muss mitgedacht werden. Erst dann kann das Hervorbringen des „Fremden“ durch bloße Differenzkonstruktion verhindert werden. Hier muss erwähnt werden, dass natürlich nicht jede Form von Kunst, die mit Stereotypen arbeitet, eine Fortführung der Differenzkonstruktion bedeutet. In Inszenierungen wie „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat werden die gängigen Klischees ausgestellt und in ihrer Lächerlichkeit entlarvt. Die Inszenierung nutzt das Potenzial von Theater und verdeutlicht, wie der so genannte Fremde konstruiert wird. Die zugrunde liegenden Mechanismen werden sichtbar.
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K ULTURELLE V IELFALT
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ALS
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Wenn aber die Mechanismen der Konstruktion des „Anderen“ in der Kunst weiter fortgeführt werden, wird diese um ihr Potenzial beraubt, die Individuen hinter den Begriffen zu zeigen und damit die Vielschichtigkeit, die ein einziges Individuum ausmacht. Wir brauchen also Geschichten, welche die kulturelle Vielfalt unserer deutschen Gesellschaft aufgreifen, die Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund nicht als „Fremde“ ausstellen, sondern die sie als selbstverständlichen Bestandteil unserer Gesellschaft vorkommen lassen. „Literatur sollte […], wie jede Kunst, die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt eines Landes in seiner Gesamtheit abbilden. Die Welt der Zuwanderer mit ihren Besonderheiten und Perspektiven, ihre kulturelle und sprachliche Verortung sind Teil dieser Normalität. Wenn es demnach keine Literatur von Zuwanderern gibt, wenn diese besondere Perspektive fehlt, so wie es im deutschsprachigen Raum bis vor nicht allzu langer Zeit der Fall war, dann herrscht ein Mangel, eine Anomalie. Durch die Literatur von Zuwanderern wird also Normalität hergestellt und keine Bereicherung erzeugt.“ (Vertlib 2007: 35)
An diesem Zitat wird deutlich, dass es für die gesamte deutsche Gesellschaft wichtig ist, Themen wie Migration, hybride Identitäten, kulturelle Vielfalt und gegenseitige Beeinflussung in der Kunst zu behandeln, da diese Themen, die lange vernachlässigt wurden, Teil unserer Normalität sind. Das bedeutet aber auch, dass die künstlerische Auseinandersetzung nur dann ein Gewinn ist, wenn ausgrenzende Mechanismen und Sonderbehandlungen nicht fortgeführt werden, sondern wenn ein selbstverständlicher Umgang mit der kulturellen Vielfalt stattfindet. Damit würde sich die Kunst aus der dualistischen Logik der politischen Diskurse, die zu starken Vereinfachungen einer komplexen Realität führt, befreien. Nach Hans-Thies Lehmann ist dieser Befreiungsakt die Grundbedingung eines politischen Theaters: „Das Politische kommt im Theater zum Tragen, wenn und nur wenn es gerade auf keine Weise übersetzbar oder rückübersetzbar ist in die Logik, Syntax und Begrifflichkeit des politisches Diskurses der gesellschaftlichen Wirklichkeit.“ (Lehmann 2002: S. 17)
So muss es als Aufgabe von Kunst verstanden werden, die Komplexität der Wirklichkeit, welche in Zeiten der Globalisierung und Migration präsenter denn je ist, aufzuzeigen. Zu dieser Komplexität gehört die permanente Veränderung, die aufgrund von kulturellen Austauschprozessen entsteht. Kultur kann also nicht als abgeschlossenes, feststehendes System verstanden werden, Kultur ist ein Prozess, der sich im Aufbau befindet. Dieser bewegte Zustand beinhaltet ein großes Potenzial für die künstlerische Auseinandersetzung: Was passiert, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten begegnen? Wie beeinflussen und entwickeln wir uns angesichts
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der kulturellen Vielfalt? Welche Ängste entstehen bezüglich dieser Veränderungen? Wie sieht unser alltägliches Zusammenleben aus? Wenn wir anfangen genau hinzusehen, offen sind für die feinen Unterschiede, die vielen Facetten, die das Chaos unserer Welt ausmachen, dann ist die Kunst Spiegel der Gesellschaft und nicht Instrument der Politik.
L ITERATUR Eggers, Maureen Maisha (2005): „Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland“, in: Dies. et al. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast. Hulme, Peter (1986): Colonial Encounters. Europe and the native Caribbean, 1494-1797, London u. a.: Methuen. Lehmann, Hans-Thies (2002): „Wie politisch ist das postdramatische Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann“, in: Ders. (Hg.): Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin: Theater der Zeit. Vertlib, Vladimir (2007): Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006, Dresden: Thelem.
Nicht Mangel, sondern Besonderheit Die Spiegelung des Migrationsbegriffs auf deutschen Bühnen S ANDRA C ZERWONKA Der Migrationshintergrund hat Konjunktur auf den Spielplänen deutscher Theaterbühnen: Zum einen tauchen Dramen auf, die sich mit kulturellen Unterschieden und Konflikten im Einwanderungsland Deutschland beschäftigen und an Themen wie Herkunft und Zugehörigkeit, Vorurteilen und gegenseitiger Verständigung abarbeiten. Zum anderen entstehen Inszenierungen und Projekte, die mit Laiendarstellern, oft Jugendlichen, mit Migrationshintergrund arbeiten. Besonders im zweiten Fall haben sich bereits Musterbeispiele von Produktionen und Regisseuren herausgebildet, die von Theaterwissenschaft und -kritik goutiert und zu Vorreitern einer neuen Sparte wurden. Dazu gehört die viel beachtete Inszenierung „Homestories – Geschichten aus der Heimat“, Premiere war im Februar 2006 am Schauspiel Essen, die der Regisseur Nuran David Çalıú mit Jugendlichen aus Essen-Katernberg, viele davon mit Migrationshintergrund, auf die Bühne brachte. Ebenfalls von Çalıú stammt das Stück „Next Generation“, deren Premiere im Oktober 2010 am Schauspielhaus Bochum stattfand, mit Jugendlichen aus dem Ruhrgebiet, das bei nachtkritik.de wie folgt besprochen wird: „‚Next Generation‘ ist kein Multi-Kulti-Gut-Gemeint-Projekt, sondern hier wird eine Tür aufgestoßen: Theaterpublikum trifft auf Straßenkultur. Das Schauspielhaus Bochum gibt dem Ganzen die nötige Bedeutung, indem es das Stück ins Repertoire aufnimmt, gleichwertig mit allen anderen des Spielplans. Das Theater will sich in der Mitte der Gesellschaft verankern, sich als relevanter Ort behaupten. Und das ist hiermit gelungen.“ (Edinger 2010)
Der Rezensionsausschnitt ist symptomatisch für die zwei Seiten der Medaille, die das Interesse des Theaters für Migration spiegelt – einerseits scheint es um eine Art kulturpolitischer Pflichterfüllung zu gehen, dem Thema Migration „die nötige Bedeutung“ zu geben „gleichwertig mit allen anderen [Stücken] des Spielplans“, und damit das für das Theater, „sich in der Mitte
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der Gesellschaft [zu] verankern“ (ebd.), andererseits deuten sich in dem allgemein lobenden Tenor Zwischentöne an, dass die Bühnenpräsenz „echter“ Migranten eine interessante Abwechslung für Theatergänger sein kann.
S TRASSENKULTUR ODER E INBAHNSTRASSE : D AS AUTHENTISCHE A NDERE Formulierungen wie „Theaterpublikum trifft auf Straßenkultur“, oder „Theatermensch mit street credibility“ (Keim 2010) legen nahe, dass sich in der Betrachtung von jungen Laien mit Migrationshintergrund für den Zuschauer bzw. den „typischen“ Theatergänger eine Fremdheitserfahrung einlöst, die einerseits den Blick für eine Art von Realität öffnet, die eine Auseinandersetzung wert ist und zusätzlich einen gewissen Reiz des Unbekannten verspricht. Dies ist nicht weiter verwunderlich: Voyeurismus ist ein Aspekt der zum Großteil blickbestimmten Theaterrezeption und die Erfahrung von Fremdheit eine wichtige Begleiterscheinung des interkulturellen Theaters, die den jeweiligen Zuschauer vor eine Herausforderung stellt. Doch von welcher Herausforderung kann gesprochen werden, wenn die Bewältigungsstrategie „straßenferner Schichten“ sich, genau wie deren Kritik, in einem Lob der „Ghettokids“ (ebd.) erschöpft? Die Frage ist auch, inwieweit ein pädagogischer und kulturpolitischer Impetus des Sichtbar-Machens und Teilhaben-Lassens migrationsgeprägter Jugendlicher sich mit der Darstellung von problematisierten und eben darum interessanten Verhältnissen ununterscheidbar voneinander vermischt. Mark Terkessidis weist auf eine „Verquickung von Migration und ‚Doku‘“ (Terkessidis 2010: 7) im deutschen Gegenwartstheater hin, die auf Problemfixierung hinausläuft: „Die Themenauswahl ist von der medial forcierten Problemagenda der ‚Integration’ bestimmt. Es geht häufig um Gewaltverhältnisse in der Familie […] oder kriminelle Karrieren. Migration und Personen mit Migrationshintergund tauchen im Modus des Soziologischen, Pädagogischen und Kriminologischen auf. Auch wenn die Macher des Doku-Theaters oft ein durchaus reflektiertes Verhältnis zu so etwas wie Realität haben, werden die Aufführungen vorwiegend als authentischer Einblick in die ‚Parallelgesellschaft‘ wahrgenommen.“ (Ebd.: 7)
Weder soll hier das Theater als Möglichkeitsraum für Jugendliche gleich welcher Herkunft unterschätzt noch die zu Recht erfolgreichen Produktionen diskreditiert werden. Zu vermeiden ist aber langfristig ein Abdriften des Stoffs „Migration“ in die Problemtheater-Ecke – zumal der „Migrationshintergrund“ im Sprachgebrauch bereits seine Unschuld verloren hat.
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M IGRATION – MEHR
ALS NUR EIN
W ORT
Der Linguist und Psychologe Steven Pinker hat für das Scheitern von „political correctness“ in Wort und Rede den Terminus der „euphemism treadmill“ (vgl. Pinker 2003), der Euphemismus-Tretmühle, geschaffen und beschreibt damit ein bekanntes Phänomen: „People invent new ‚polite‘ words to refer to emotionally laden […] things, but the euphemism becomes tainted by association and the new one that must be found acquires its own negative connotations. […] The euphemism treadmill shows that concepts, not words, are in charge: give a concept a new name, and the name becomes colored by the concept; the concept does not become freshened by the name.“ (Pinker 1994)
So zu beobachten am Begriff des „ausländischen Mitbürgers“, der im Sprachgebrauch pejorisiert und durch das Attribut „mit Migrationshintergrund“ ersetzt wurde – sodass, der problemfixierten Verwendung der Bezeichnung „Ausländer“ geschuldet, dieses Attribut völlig unbeabsichtigt als Euphemisierung erscheint. Ist die von Terkessidis im Gegenwartstheater beobachtete Beschränkung des Stoffs „Migration“ auf sein Quäntchen Brisanz ein Indiz, dass das Theater in seinen gut gemeinten Bemühungen, ein gesellschaftlich relevantes Thema anzugehen, zuweilen auch in einer Tretmühle verfangen ist? Wie Pinker bemerkt, scheitert der Versuch, einen kontaminierten Begriff durch ein neues Wort von seinen Altlasten zu befreien, solange sich nicht die gesellschaftliche Vorstellung des zu Benennenden verändert hat. Und das Theater als öffentlich geförderte und anerkannte Kulturinstitution formuliert zumindest den Anspruch gesellschaftliche Konzepte mitzubestimmen. Solange ein medialer und theatraler Umgang mit Migration bewusst oder unbewusst das Zusammendenken von Migrationshintergrund und Makel perpetuiert, wird vor allem unterschlagen, dass es sich bei Migration um ein gesellschaftliches Phänomen handelt, das künstlerische Betrachtungsweisen jenseits von Problemzuspitzung erfahren kann. 2008 entstand in Lausanne eine Produktion unter der Leitung von Lola Arias und Stefan Kaegi (Rimini Protokoll), in der acht Kinder als Protagonisten einer „dritten Kultur“ auftreten. Einige von ihnen stammen aus Brasilien, Indonesien, Angola und Marokko. Als Kinder von Botschaftern oder Managern international agierender Konzerne sind sie wahre Experten der Migration, sprechen oft mehr als zwei Sprachen und leben im Wissen und der gleichzeitigen Ungewissheit, dass ein erneuter Wechsel des Lebensraums ihnen jederzeit bevorstehen kann. Das Stück, dessen Premiere im Juni 2008 am Théâtre Vidy-Lausanne war, heißt „Airport Kids“, passend zu dem Bühnenbild, einer Komposition aus Rollband und Gepäckcontainern, und beschreibt eine Lebenswelt, in der schon Zehnjährige mit Kreditkarte und Rollköfferchen umzugehen wissen.
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In der Konfrontation mit Grundschulkindern, die dem Publikum ihren ökonomisierten Umgang mit kulturellen Codes erklären – Leben in der Schweiz, Gespräche mit Freunden auf Englisch, SMS zum Vater nach England, mangels Kyrilliza in lateinisch transkribiertem Russisch – kann vielleicht der ein oder andere Zuschauer feststellen, dass es sich hier auch um Folgen der Migration handelt.
A BWEICHUNG ALS Z UKUNFTSMODELL : W ELTGEWANDTE N OMADEN Doch hier wird ein neues Blickschema jenseits einer eurozentrisch geprägten „universalistische[n] Arroganz“ (Regus 2009: 252) herausgefordert. Die Kinder, denen ihr „exotischer Hintergrund“ (vgl. hierzu Regus 2009: 78ff.) eingeschrieben ist, ermöglichen eben keine Deutungshoheit aus westlicher Perspektive über das „Fremde“, sondern scheinen im Zeitalter der Globalisierung und ihren Anforderungen schon jetzt uneinholbar weit vorne. Trotz aller Schwierigkeiten, die in „Airport Kids“ bezüglich Zugehörigkeit, Umgewöhnung, Auflösung dauerhafter Strukturen verhandelt werden, wird das Thema Migration als ein Umstand gezeigt, der letztlich auch das Publikum betrifft. Denn die „Airport Kids“ sind ein sehr spezieller Fall eines Gesamtphänomens: der Verschiebung in der Wahrnehmung von Grenzen, Hybridität von Kulturen, Infragestellung von Herkunft und Zugehörigkeit. All dies sind auch Aspekte, die in oben beschriebenen „MigrationsDokus“ eine Rolle spielen. Doch unter Migrationstheater scheint „Airport Kids“ nach Durchsicht der Rezensionen nicht zu fallen – beschrieben werden sie allenfalls als „kleine Weltnomaden“ (Klaeui 2008). Die Theaterwissenschaftlerin Christine Regus weist in ihrer Forschung zum interkulturellen Theater der Gegenwart darauf hin, dass in „der westlichen Welt […] einerseits Identität und Ortsverbundenheit, und andererseits Entwurzeltsein und Wanderungsbewegungen als zusammengehörig gedacht“ werden und somit „Migration […] als Deviation gedeutet.“ (Regus 2009: 158) Abweichung kann ambivalent verstanden werden als Defizit und als Besonderheit. Die Herausforderung für einen theatralen Umgang mit dem Phänomen Migration besteht darin, das abweichende Moment nicht als Mangel zu verstehen, sondern als Besonderheit – mit der Macht, den hegemonial geprägten Blick auf „die Anderen“ zur Disposition zu stellen.
L ITERATUR Edinger, Kerstin (2010): „Das ist doch scheiße, oder?“, in: nachtkritik.de vom 28.10.2010, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_ content&view=article&id=4828:next-generation-nuran-david-calis-bring t-in-bochum-die-traeume-von-jugendlichen-auf-die-buehne-&catid=91 [20.03.2011].
NICHT MANGEL, SONDERN BESONDERHEIT | 81
Keim, Stefan (2010): „Lust auf Zukunft“, in: Frankfurter Rundschau vom 29.10.2010. Klaeui, Andreas (2008): „Neun kleine Weltnomaden“, in: nachtkritik.de vom 10.06.2008, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_ content&view=article&id=1479:airport-kids--stefan-kaegi-und-lola-arias -zeigen-die-utopien-globalisierter-kinder&catid=263 [20.03.2011]. Pinker, Steven (1994): „The Game oft the Name“, in: The New York Times vom 03.04.1994, http://pinker.wjh.harvard.edu/articles/media/1994_04_ 03_newyorktimes.pdf [21.03.2011]. Pinker, Steven (2003): Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur, Berlin: Friedrich Berlin. Regus, Christine (2009): Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik – Politik – Postkolonialismus, Bielefeld: Transcript. Terkessidis, Mark (2010): „Die Heimsuchung der Migration. Die Frage der interkulturellen Öffnung des Theaters“, in: Aenne Quiñones/Tom Mustroph (Hg.): Neue Spieler, alte Städte. Programmheft des Theaterfestivals Favoriten 2010, Beilage in Theater der Zeit 10/2010, Berlin: Theater der Zeit, S. 5-10.
Wer ist „wir“? Theaterarbeit in der interkulturellen Gesellschaft M ARIAM S OUFI S IAVASH Ein alter Mann und eine junge Frau betreten ein imposantes Gebäude. Im Innenraum finden sich eng nebeneinander gedrängt Feldbetten und Matratzenlager sowie notdürftig hergerichtete Trennwände. Eine große Anzahl Menschen lebt hier. Der Mann berichtet der Frau, dass dieses Gebäude früher einmal ein Theater gewesen sei, in dem täglich gespielt wurde, was man mittlerweile aber so ja nicht mehr kenne. In dieser Szene aus dem ZDFDreiteiler „Aufstand der Alten“, der im Jahre 2030 spielt, sind die Theater zu einer Art Obdachlosenheim geworden. Will das städtische Theater diesem Szenario entgehen, muss es sich neuen Perspektiven sowie Definitionen öffnen und als Bestandteil der Lebenswelt einer größeren Anzahl von Bevölkerungsgruppen etablieren. Zu diesen Bevölkerungsgruppen gehören auch Menschen mit Migrationshintergrund, die bisher als Publikum städtischer Theater stark unterrepräsentiert sind. Aus einer aktuellen Audience Development Studie über Migranten als Publikum in deutschen Kulturinstitutionen geht hervor, dass für fünfzig Prozent der im Rahmen der Studie befragten Kulturinstitutionen „Migranten“ ein Thema ist. Allerdings ist das Bewusstsein für die Relevanz dieser Zielgruppe noch ausbaufähig. (Vgl. Zentrum für Audience Development 2009: 43ff.)
I NTERKULTURALITÄT – EIN DEUTSCHEN T HEATERN ?
F REMDWORT
AN
Im nicht institutionalisierten Theater sind Theaterprojekte mit Darstellern unterschiedlicher ethnischer Herkunft schon seit den 1970er Jahren etabliert (vgl. Köhler 2010: 130). In den 1990er Jahren benannten sich die Theaterprojekte explizit als „interkulturelle Theaterprojekte“, mit Namen wie „Rangi Moja – afrikanisch-deutsche Theatergruppe“ oder „Türkisch-Deut-
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sches Theater – Interkulturelles Theater“, kurz „TDT“.1 Zunächst stand die Auseinandersetzung mit Themen wie Fremdheit und kulturelle Differenzen im Mittelpunkt der Theaterarbeit, der folglich eine die Integration fördernde Wirkung zugeschrieben wurde (vgl. Nübling 1994: 150; Bernstorff/Plate 1997: 1f.). Mittlerweile fand bei vielen der interkulturellen Theatergruppen ein Paradigmenwechsel weg von den „ausländerspezifischen“ Themen statt. So auch beim „TDT“: Die Darsteller wollten nicht mehr nur als „theaterspielende Türken“ angesehen werden (vgl. Rösler/Tscholl 2000: 1f.). An den städtischen Theatern erhielten interkulturelle Theaterprojekte erst in den letzten Jahren verstärkt Einzug. Diese Entwicklung hängt unter anderem mit dem gesteigerten Interesse an der Verknüpfung mit der städtischen Umgebung zusammen (vgl. Terkessidis 2010: 175). Häufig sind die interkulturellen Theaterprojekte in der Theaterpädagogik oder in Sonderprojekten verortet. Die Inszenierung „homestories“ von Nuran Çalıú am Schauspiel Essen (2006) entstand zum Beispiel im Zuge der Öffnung des Hauses und dessen Verankerung in der Stadt anhand von Stadtteilprojekten. Ein leer stehender Kindergarten im Essener Stadtteil Katernberg wurde als Probenraum und Projektort genutzt. Der Regisseur Nuran Çalıú lebte zu Beginn des Projektes ein halbes Jahr vor Ort (vgl. Soufi Siavash 2008). Die Inszenierungen „Heimat im Kopf“ (2008), „Familiengeschichten“ (2009) von Nurkan Erpulat sowie „How to become a gangster“ (2008) und „Tacheles“ (2009) von Miriam Tscholl wurden im Rahmen des Formats „Theater mobil“ des Jungen Schauspiel Hannover entwickelt. Das Format wurde konzipiert, um theaterferne Jugendliche2 zu erreichen. Um diese Zielgruppe für die Projekte zu gewinnen, bewegten sich die Theatermacher aus dem Theater hinaus, hin zu den Jugendlichen und deren Lebenswelt. Interkulturelle Theaterarbeit greift oftmals die Lebenswelt der Beteiligten auf und nutzt eine biografische Arbeitsweise. Anhand von Schreibwerkstätten, Improvisationen sowie Interviews werden Erfahrungen und Erlebnisse der Beteiligten als Material für die Inszenierungen generiert. Themen wie Heimat, Identität etc. stehen dabei im Vordergrund. Häufig werden den Jugendlichen nahe stehende Ausdrucksformen wie Film, Musik und Tanz
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Diese beiden interkulturellen Theatergruppen entstanden 1990 und 1992 im Umfeld des Studiums der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis, damals Kulturpädagogik, an der Universität Hildesheim. Die Affinität zu kulturellem Angebot und der Bildungsstand stehen in engem Zusammenhang. Des Weiteren besteht eine Abhängigkeit zwischen Bildungschance und sozialem Hintergrund. Zum Teil gibt es deswegen Überschneidungen der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund mit der Gruppe der sozial benachteiligten und kulturfernen Bevölkerung, da Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland häufig strukturell benachteiligt sind (vgl. Zentrum für Audience Development 2009: 1f.).
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eingesetzt. Der Kultur- und Theaterwissenschaftler Wolfgang Sting formuliert diesbezüglich eine „Soziale Ästhetik“, die sich an „den sozialen Ausdrucksformen und Themen der beteiligten Spieler orientiert“ (Sting 2005: 45). Dieser Lebensweltbezug sowie die biografische Arbeitsweise birgt für Kritiker die Gefahr der Reduktion der Beteiligten auf bestimmte „Ghettorollen“, die „authentisch“ das Bild der Straße wiedergeben oder Ausdruck der jeweiligen Tradition sind. Die Beteiligten seien auf der Bühne dem voyeuristischen Blick eines bildungsbürgerlichen Hochkultur-Publikums ausgeliefert und ihr Leben diene „als Rohstoff zur Erfrischung des Theaters“ (Terkessidis 2008: 13).
„W ER VON SICH ERZÄHLT , WIRD WAHRGENOMMEN “ – E RZÄHLEN ALS F ORM DES E MPOWERMENT Dieser Perspektive entgegengesetzt, findet sich im Programmheft von „homestories“ folgender Satz: „Wer von sich erzählt, wird wahrgenommen“. Bei Theaterprojekten wie „homestories“, „Heimat im Kopf“, „Tacheles“ etc. erhalten junge Menschen mit Migrationshintergrund auf der Bühne eines Staatstheaters die Plattform, von sich zu erzählen. Diese aktive Gestaltung des eigenen Bildes wird hier zum Empowerment, das heißt zur Selbstermächtigung dieser Jugendlichen und weitergefasst zum Empowerment von marginalisierten Gruppen der Gesellschaft, die aus verschiedenen Gründen seltener in den Stadt- und Staatstheatern anzutreffen sind. Es geht hier also auch um die Perspektive der Darsteller als Zugehörige zu sonst marginalisierten Gruppen, über die mehrheitlich ein defizitäres Bild durch Medien, Gesellschaft oder Sprachgebrauch transportiert wird. Die beteiligten Jugendlichen gelangen aus der „Rolle des Sozialopfers in die Rolle des Handelnden“ und die „Rezipienten von der Rolle des Voyeurs in die Rolle des Adressaten“ (Tscholl 2008: 128). Klischeehafte Bilder und generalisierende Vorstellungen werden in diesen Inszenierungen vielfach aufgegriffen und wieder gebrochen, um damit das klassische „deutsche“ Publikum zu konfrontieren. Auch Jens Hillje beschreibt die Widersetzung gegen die Politik der Zuschreibung und die Selbstermächtigung als Erfahrung während des Arbeitsprozesses zu „Verrücktes Blut“ (vgl. Theater heute 2011: 17).
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Theaterprojekte und -gruppen wie „Heimat im Kopf“, „homestories“, das „Türkisch-Deutsche Theater“ und andere brachten immer auch ein „anderes“ Publikum mit sich; ein Publikum, das zum Teil aus Familie, Freunden, Mitschülern etc. bestand, die sonst weniger in den Zuschauerrängen erscheinen. Dies führte auch zu sehr unterschiedlicher Zuschauerresonanz, beispielsweise bei „Heimat im Kopf“. Zum einen gab es hier Zuschauer, die
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sich mit den Geschichten und Erfahrungen identifizierten und berührt waren, diese auf der Bühne eines Stadttheaters zu finden. Zum anderen war das „klassische“ Theaterpublikum mit diesen „anderen“ Themen bzw. Perspektiven konfrontiert und konnte aufgrund des Theatererlebnisses die Jugendlichen in einem neuen Licht wahrnehmen. Diese an städtischen Theatern verorteten interkulturellen Theaterprojekte tragen damit dazu bei, das Theater auf der „cognitive map“ derer zu verankern, denen es als Ort nicht vertraut ist. Solche Zugänge müssen ermöglicht werden, da die „neuen Zuschauer“ ebenso Bestandteil der Bevölkerung sind. Sie haben daher ein „Anrecht darauf, dass die staatliche Förderung von Kultur, sei sie nun institutionell oder projektförmig auch bei ihnen ankommt“ (Terkessidis, 2010: 182). Bei interkulturellen Theaterprojekten ist jedoch die Zielgruppendefinition kritisch zu betrachten, da der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ der Heterogenität dieser „Gruppe“ nicht im Ansatz gerecht wird. Darüber hinaus stigmatisiert und diskriminiert die Kategorie „mit Migrationshintergrund“, sobald sie zur „Zielgruppenbezeichnung politischer und pädagogischer Absichten“ (Marquardt/Weber 2008: 52) wird, da mit ihr ein defizitäres Bild verbunden ist. Die interkulturelle Theaterarbeit befindet sich diesbezüglich in einem Dilemma, da eine defizitäre Zielgruppendefinition der Darsteller mit Migrationshintergrund und damit verbundene Ziele wie Integrationsförderung die Chance einer finanziellen Förderung erhöht. Eine ressourcenorientierte und differenzierte Zielgruppendefinition in den Konzeptformulierungen sowie das Bewusstsein für diese Problematik in den für die Förderungen zuständigen Institutionen können diesem Dilemma entgegenwirken. In der Praxis der Theaterprojekte wie „Heimat im Kopf“, „Familiengeschichten“ und „homestories“ erwies es sich als sinnvoll, die Zielgruppe an den Konzepten zu beteiligen, da sonst die Gefahr bestand, die Bedürfnisse der Zielgruppe nicht zu berücksichtigen. „Niemand kennt diese Zielgruppe besser als diese selbst“, heißt es in einer Studie des Zentrum für Audience Development (2009: 49) der Freien Universität Berlin. Die Regisseure, die jeweils über einen ähnlichen biografischen Hintergrund verfügten wie die Projektbeteiligten, waren an den Konzepten maßgeblich beteiligt. Dieser ähnliche biografische Hintergrund erwies sich auch bei der Teilnehmerakquirierung als ausschlaggebend. Hierbei fungierten die Regisseure jeweils als Identifikationspersonen. Für die Teilnehmerakquirierung stellte sich des Weiteren die Zusammenarbeit mit Multiplikatoren und Bezugspersonen als überaus hilfreich heraus.3 Darüber hinaus zeigte sich eine zielgruppenge-
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Bei „Heimat im Kopf“ wurde mit Vereinsvorsitzenden und Jugendgruppenleitern einer alevitischen Gemeinde sowie eines türkischen Vereins, Sozialarbeitern eines Stadtteiltreffs sowie Lehrern verschiedener Schulen zusammengearbeitet.
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rechte Form der Teilnehmerakquirierung von großer Bedeutung. Im Fall von „homestories“ fand in dem ehemaligen Kindergarten im Stadtteil Katernberg eine Informationsveranstaltung in Form einer „Kick-Off“-Party inklusive Casting statt (vgl. Soufi Siavash 2008).
W ER IST „ WIR “? – P ERSPEKTIVWECHSEL UND N EUDEFINITION Wie zuvor beschrieben bewährte sich in der Praxis der interkulturellen Theaterarbeit die Besetzung von Leitungspositionen mit Menschen mit einer ähnlichen Biografie wie die der Beteiligten. Die beteiligten Künstler befinden sich damit allerdings in dem Dilemma auf ihren Migrationshintergrund reduziert zu werden. Die Regisseure werden beispielsweise hauptsächlich als zum Beispiel türkisch oder persisch wahrgenommen und dementsprechend für Inszenierungen mit „Migrantenthemen“ engagiert. Diesbezüglich muss es einen Perspektivwechsel geben. Genauso wie die deutsch-deutschen können auch die Künstler mit Migrationshintergrund Geschichten erzählen, die über ihre eigene Biografie hinausweisen. Das Berliner Ballhaus Naunynstraße, erstes postmigrantisches Theater, geht hier beispielhaft voran: Regisseure, Schauspieler etc. mit türkischem oder persischem Namen sind selbstverständlich. Hier hat ein Perspektivwechsel in der Frage „Wer ist wir? Was heißt es deutsch zu sein?“ stattgefunden. Hillje dazu: „Diese Notwendigkeit einer Neudefinition ist verunsichern und eine große Herausforderung – am Theater wie in der öffentlichen Debatte. ‚Postmigrantisch‘ zu sein, heißt […], dass man Anspruch auf das ganze Land erhebt – eine enorme Provokation für die Mehrheit. Deshalb ist Integration auch weniger das Problem einer Minderheit als das der Mehrheit, die sich neu definieren muss.“ (Theater heute 2011: 13)
Diesen Perspektivwechsel und dieses Verständnis von Integration hat die derzeitige Leitung im aktuellen Konzept und bei Beantragung um Förderung aufgenommen (vgl. Nolden 2010: 4f.). So merkt Şermin Langhoff in einem Radiointerview an, dass sie das Ballhaus Naunynstraße eigentlich nicht postmigrantisches Theater, sondern Neues Deutsches Theater hätten nennen sollen (vgl. Tappaz 2011). Für eine Neudefinition ist, im Sinne Terkessidis, die Idee einer Gruppe, die sich anstatt über die Vergangenheit über eine gemeinsame Zukunft definiert, interessant. Ausschlaggebend wäre weniger, woher die Menschen kommen, sondern vielmehr wie sie Zukunft gemeinsam gestalten wollen (vgl. Borries/Böttger/Heilmeyer 2008: 47). Im „Mani-
Über Flyer, Leporello oder Ähnlichem wurden kaum Jugendliche für das Projekt begeistert.
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fest der Vielen – Deutschland erfindet sich neu“ heißt es auch: „Wir leben heute schon in der Welt von morgen“ (Sezgin 2011: 234). Im derzeitigen Projekt „future-vision-city-dreams – Hannover 2050“ des Jungen Schauspiel Hannover im Zuge von „Theater mobil“ entwickeln Menschen zwischen 17 und 87 Jahren ihre Visionen für Hannover im Jahr 2050. Über die Hälfte der Beteiligten verfügt über Migrationshintergrund. Die zentrale Frage in diesem Theaterprojekt jedoch bedeutet: Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben? Auf dem im Oktober 2010 in Wolfenbüttel stattgefundenen Fachtreffen „Selbstverständlich – Migrationskulturen in Theater und Theaterpädagogik“4, stellte Raimund Vogels von der Hochschule für Musik und Theater Hannover Überlegungen zu einem Begriff „to theater“ an. Diesen leitet er von dem Begriff „to music“, der nicht nur das aktive Musikmachen, sondern das Eindringen von Musik in alle Lebensbereiche beschreibt, ab. Ein Schritt auf dem Weg zum „to theater“ bedeutet zum Beispiel das von Jugendlichen selbstverwaltete BallhofCafé im Jungen Schauspiel Hannover. Die Jugendlichen gestalten das Programm selbst. Hier wird abgehangen, geslammt, Konzerte gegeben, Schauspieler des Ensembles interviewt und JugendclubTreffen finden statt. Hier wird sich verliebt und das Theater als Bühne des eigenen Lebens genutzt. Hier findet TheatErLeben statt: „theatern“ eben. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind dabei. Ganz selbstverständlich! Damit „to theater“ sich bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund zur Selbstverständlichkeit entwickelt, bedarf es nicht nur vereinzelter Theaterprojekte, sondern darüber hinaus langfristiger Strategien und Formate wie postmigrantisches Theater oder Neues Deutsches Theater. Wenn „to theater“ diese Selbstverständlichkeit erreicht, dann besteht für Theater eine Chance nicht als Obdachlosenheim zu enden.
L ITERATUR Bernstorff, Wiebke/Plate, Uta (1997): Fremd bleiben. Interkulturelle Theaterarbeit am Beispiel der afrikanisch-deutschen Theatergruppe Rangi Moja, Frankfurt am Main: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation. Borries, Friedrich von/Böttger, Matthias/Heilmeyer, Florian (2008): „Die permanente Krise ist Bestandteil des Lebens geworden. Im Gespräch mit Mark Terkessidis“, in: Dies. (Hg.), Bessere Zukunft? Auf der Suche nach den Räumen von Morgen, Berlin: Merve, S. 41-47.
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Fachtreffen der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel & Theater am 21. und 22.10.2010.
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Köhler, Norma (2010): „Neugier-Ich. Subjektorientierte Biografiearbeit als interkulturelles Theater“, in: Wolfgang Sting et al. (Hg.): Irritation und Vermittlung. Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft, Berlin: LIT-Verlag, S. 129-144. Kolland, Dorothea (2003): „Kiez ‚International‘ in der ‚Contact Zone‘. Interkulturelle Konzepte in Berlin-Neukölln“, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/03. Thema: Interkultur, Band 3, Essen: Klartext, S. 247-262. Marquardt, Petra/Weber, Anette Dorothea (2007): „Bretter, die die Welt bedeuten?! Theaterarbeit mit Jugendlichen vor dem Hintergrund subjektiver Biografien und der Suche nach Bedeutung von Herkunft, Heimat und kultureller Identifikation“, in: Ulrike Henschel et al. (Hg.), Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen, 23. Jhg., Heft 51, Uckerland: Schibri-Verlag, S. 51-54. Nolden, Andrea (2010): Antrag auf Förderung des theaterpädagogischen Projekts „Eine ganze Welt“ – Türkisch-Deutsches Theater – Interkulturelles Theater Hildesheim (unveröffentlicht). Nübling, Sebastian (1994): „Türkisch-Deutsches Theater (TDT), Hildesheim. Hallo Türken! Selam Almanlar!“, in: Hajo Kurzenberger/Frank Matzke (Hg.): Interkulturelles Theater und Theaterpädagogik. Dokumentation der Tagung und des Festivals an der Universität Hildesheim und in der Kulturfabrik Löseke, November 1993, Hildesheim, S. 148150. Rösler, Julia/Tscholl, Miriam (2000): Antrag auf Förderung des theaterpädagogischen Projekts „besser“ – Türkisch-Deutsches Theater – Interkulturelles Theater Hildesheim (unveröffentlicht). Sezgin, Hilal (Hg.) (2011): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin: Blumenbar-Verlag. Soufi Siavash, Mariam (2008): Interview mit Ines Habich, Projektleitung „homestories“, Essen 17.09.2008 (unveröffentlicht). Sting, Wolfgang (2010): „Differenz zeigen. Chancen interkultureller Theaterarbeit“, in: Ulrike Henschel et al. (Hg.), Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen, 21. Jhg., Heft 46, Uckerland: Schibri-Verlag, S. 41-47. Tappaz, Guylaine (2011): „ùermin Langhoff, Theater-Leiterin“, in: radiobremen vom 02.03.2011, http://www.radiobremen.de/funkhauseuropa/ serien/portraet/portrait424.html [22.03.2011]. Terkessidis, Mark (2008): „Neue Rollen braucht das Land“, in: Der Tagesspiegel vom 20.04.2008, http://www.tagesspiegel.de/meinung/komment are/neue-rollen-braucht-das-land/1215682.html [22.03.2011]. Terkessidis, Mark (2010): Interkultur, Berlin: Suhrkamp. Theater heute (Hg.) (2011): „Im Feld der Verhandlung. Im Gespräch mit Bernhard Glocksin, Shermin Langhoff und Jens Hillje“, in: Theater heute 1/2 2011, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 12-17.
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Tscholl, Miriam (2008): „Jenseits des Hochkulturbunkers. Arbeit mit jungen Migranten: eine Produktion des Staatstheaters Hannover“, in: Klaus Hoffmann/Rainer Klose (Hg.), Theater interkulturell. Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen, Milow u. a.: Schibri-Verlag, S. 122-131. Zentrum für Audience Development (Hg.) (2009): Migranten als Publika in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen. Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite, Berlin: ZAD, http://www.geisteswissenschaft en.fu-berlin.de/v/zad/media/zad_migranten_als_publika_angebotsseite.p df [23.03.2011].
Migration ist selbstverständlich Das Schauspiel Köln beleuchtet die multikulturelle Gesellschaft S TEFAN K EIM Karin Beier mag keine Plattheiten. Dass sich die meisten Medien auf ihre Schauspieler mit verschiedenen kulturellen Hintergründen stürzten und Köln als „Multikulti-Theater“ darstellten, ging ihr schnell auf die Nerven. Die Regisseurin und Intendantin mag nicht auf Modewellen schwimmen. Dass bei ihr Menschen mit ganz unterschiedlichen Migrationsgeschichten arbeiten, ist eine Selbstverständlichkeit. Vor Köln hatte sie großen Erfolg mit mehrsprachigen Inszenierungen, zum Beispiel Shakespeares „Sommernachtstraum“ in Düsseldorf. Ihr Blick richtet sich auf die Stadt, in der sie arbeitet. Und da sieht man schon auf den Straßen Leute verschiedener Herkunft. „Wenn Sie in Köln durch eine beliebige U-Bahn gehen und Nationen zählen, kriegen Sie bestimmt ungefähr zwanzig zusammen. Das kann man mögen oder nicht, das ist einfach ein Fakt. Es ist absurd, dass so viele Theater den Anspruch haben, sich damit auseinander zu setzen, dass sich das aber auf der Bühne so wenig wieder spiegelt. Deshalb habe ich nach Schauspielern mit Migrationshintergrund gesucht.“ (Beier 2007)
Rückblende: Oktober 2007. Karin Beier ist nervös. In wenigen Tagen startet sie mit vier Premieren ihre Intendanz. Ihre Einstandsinszenierung sind Hebbels „Nibelungen“, für viele ein Blick in die urdeutsche Seele. Für Beier allerdings ist die Tragödie „ein europäischer Menschheitsmythos. Wir wollen Bezüge herstellen zwischen unserer Gegenwart und der Zeit, in der dieser Mythos entstanden ist, der Zeit der Völkerwanderung. Es geht um Begegnung mit Fremden und ihren Kulturen, um Ausdehnung der Macht und um Machterhalt.“ (Ebd.) Dieser Blickwinkel spiegelt sich in der Besetzung, die genau durchdacht ist. „Ich mache da keine eindeutigen Zuordnungen. Ich besetze keinen Asiaten als Hunnenkönig Etzel und keine Isländerin als Brunhild. Das wäre zu einfach. Unsere
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Kriemhild kommt aus Polen, der Siegfried aus Kroatien, Gerenot aus Jamaika, Giselher aus Ägypten. Das sind alles deutsche Schauspieler, ich rede von ihren Vorfahren. Bei manchen sieht man es, bei anderen nicht. Etzel ist übrigens ein Deutscher, den spielt Josef Ostendorf. Wir zeigen Deutschland, wie es heute aussieht. So wollen wir im Theater mit Internationalität umgehen. Wir wollen nicht ständig darüber nachdenken, ob ich einen Schwarzen als Bruder eines Weißen besetzen kann. Wir können das. Punkt, Ende, Aus.“ (Ebd.)
Dann die Premiere: Sie zeigt die Recken um König Gunter als inkompetenten, perspektivlosen Haufen, der nur vom klugen Taktierer Hagen zusammen gehalten wird. Michael Wittenborn spielt einen zynischen Politiker im grauen Anzug, ohne jede Dämonie, einen Technokrat des Todes. Patrycia Zióákowska glaubt man als Kriemhild jeden dunklen Ton ihrer brachialen Hassreden und Michael Weber persifliert als Gunther virtuos die rhetorischen Floskeln, mit denen heutige Politiker ihre Soldaten in den Krieg schicken. Als Gast gibt Josef Ostendorf den Hunnenkönig Etzel als zarten Riesen mit wunden Beinen und keuchendem Atem, ein Eroberer und Machtmensch, dem sein eigener Körper zerfällt. Köln hat wieder ein gutes Ensemble, das beweist die kurzweilige, fast vierstündige Inszenierung. Ein großer Wurf ist sie nicht, aber ein großer Publikumserfolg und eine klare Richtungsbestimmung. Das Schauspiel Köln will die großen Gegenwartsthemen verhandeln. In den „Nibelungen“ stellt Karin Beier die Frage, welche Werte eine so große Bedeutung haben, dass es sich lohnt, für sie zu kämpfen. Ein guter Anfang. Es soll noch viel mehr kommen.
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In der zweiten Premiere stellt sich das Kölner Ensemble sofort der türkischdeutschen Stadtgeschichte. „Fordlandia“, ein Projekt von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner in der Halle Kalk, hat viel Witz. Die Geschichte der Autofirma, ein wilder Streik türkischer Arbeiter in den siebziger Jahren im Kölner Werk, die Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland überhaupt und noch viel mehr rühren die beiden Autoren in ihrer „Fließbandproduktion“ zusammen. Grandios sind die Puppenszenen. Henry Ford, gespielt von der in Köln immer wieder gastierenden Suse Wächter, will einfach nicht sterben und durchgeistert auch nach seinem Tod das Stück, lässt seine Nachfahren nicht aus den Klauen. Kuttner gießt seinen temperamentvollen Wortschwall über das Publikum und die Schauspieler sprühen im fliegenden Rollenwechsel. Die Beschäftigung mit Migrantenthemen spielt auch in den folgenden Jahren eine große Rolle am Kölner Schauspiel. Da gab es zum Beispiel „Schattenstimmen“ von Feridun Zaimo÷lu und Günther Senkel, Monologe aus der Dunkelwelt, der anderen Seite der Wirklichkeit, von Menschen ohne Aufenthaltsrecht und Papiere. Da spricht ein schwarzer Stricher namens „Sklave“, eine marokkanische Spülhilfe, ein Drogendealer. Die junge, sehr
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begabte Regisseurin Nora Bussenius hat die Monologe aufgebrochen und ihr jeden Psychorealismus ausgetrieben. Jeder Schauspieler übernimmt mehrere Rollen, die anderen bleiben als Sprechchor im Hintergrund präsent, schaffen Stimmungen, wiederholen Sätze, kommentieren, widersprechen manchmal. Mit rotziger Energie und Galgenhumor schaffen sich diese Menschen eine Existenz. Aber emotional wirken diese Geschichten kaum, einige Jahre später sind sie schon weitgehend vergessen und man muss nachlesen, um sich an die Aufführung noch zu erinnern.
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SUCHEN
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Anders verhält es sich bei der „Kölner Affäre“, der ersten von vielen Arbeiten des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis am dortigen Schauspiel. Schon die Grundidee ist grandios. Schauspieler suchen sich Menschen, deren Leben sie erforschen wollen. Sie haben sie auf der Straße angesprochen, eine hat lange gesucht und mehrere Frauen getroffen, bevor sie sich für die vierte entschied. Dann haben sie einander monatelang begleitet, sich viel erzählt, die Geschichten aufgeschrieben. Vorgegeben war nur: Die „Prototypen“ sollten keine Künstler sein und nicht verheiratet. Nur der lettische Schauspieler Juri Baratinski erzählt einfach sein eigenes Leben, was spannend genug ist. Schließlich war er Immobilienmakler in Russland und Mönch in Burma. Die Bühne ist viergeteilt, jeder Raum voll gestopft mit Requisiten der Realität. Hermanis liebt den Hyperrealismus, die gegen jede Reduktionsmode übervollen Bühnenbilder, die oft mehr Geschichten andeuten, als an den Theaterabenden erzählt wird. Dann verschmelzen die Schauspieler mit ihren Rollen, verkörpern die realen Menschen, machen den Prozess allerdings auch zum Thema. Erst chargieren sie ein wenig, setzen kleine Pointen, finden erst langsam aber unaufhaltsam zur Authentizität. Da gibt es die stille Nastassja aus der Ukraine, die Liebesgeschichten erzählt, kitschig, wie in einem Groschenroman, doch – wie Heine so schön schreibt – mit falscher Stimme und wahrem Gefühl. Ein Knaller ist Markus John als Zuhälter Foxi, der sich durchs Kölner Nachtleben prügelt und den Knast als Kur sieht. Erst ganz am Ende überschreiten die vier die Grenzen zwischen ihren Welten. Sie nehmen nicht wirklich Kontakt auf, aber sie nehmen die anderen Sphären wahr, ein erster Schritt. Foxi nimmt sich ein Stück Kuchen, das Nastassja gehört, und Juri greift sich ein Kissen der anderen Frau. Ende offen, alle hoffen. Das ist viel.
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Die Kölner Großtaten sind allerdings Aufführungen, die sich gar nicht auf den ersten Blick mit Migration, Fremde oder Integration beschäftigen. Theater jenseits aller Schlagworte, entstanden aus einer klaren, offenen Haltung,
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aus einer Forscherneugier, die sich auf den Zuschauer überträgt oder sogar von ihm verlangt wird. Was da eine dänisch-österreichische Performancetruppe namens Signa treiben würde, war auch großen Teilen der Kölner Theaterleitung nicht klar. Niemand erwartete, dass mit einer Migrantengeschichte eine neue Spielform entwickelt würde, die sich seitdem international durchgesetzt hat. „Die Erscheinungen der Martha Rubin“ heißt das Stück, wenn man es denn so nennen will. Die Zuschauer betreten eine Art Zigeunerstadt, die von Soldaten kontrolliert wird, Rubytown. Alles beginnt in einer Militärbaracke. In einem kleinen Fernseher läuft ein langweiliger Informationsfilm über Rubytown. Niemand darf die Stadt betreten, ohne ihn gesehen zu haben. Auch einen Pass brauchen die Zuschauer, mit ihrem Fingerabdruck darin. Die Soldaten bleiben stets präsent. Wer ihren Anordnungen nicht Folge leistet, kann abgeführt und verhört werden. Es geht um Macht in der Performance-Installation „Die Erscheinungen der Martha Rubin“. Vierzig Schauspieler aus vielen Ländern haben Signa Sörensen und Arthur Koestler für dieses Projekt trainiert. Die mehrsprachigen Aufführungen in der Halle Kalk des Kölner Schauspiels dauerten bis zu 84 Stunden. Hier darf sich niemand in den Vordergrund spielen oder in einer Szene besonders glänzen wollen. Alle zusammen lassen Rubytown entstehen, eine Stadt im Niemandsland zwischen zwei Staaten, ein Ort, an dem nichts wächst und keine Kinder geboren werden. Warum das so ist, bleibt wie vieles rätselhaft. Die Containerstadt haben die Schauspieler selbst gebaut, auch die elektrischen Leitungen sind von ihnen verlegt worden. Die Häuschen sind abgewrackt, die Toiletten stinken, im Fernsehen laufen alte Schwarzweißfilme. Was die Zuschauer erleben, ist ihnen überlassen. Sie bewegen sich in Rubytown wie in einem Realität gewordenen Computerspiel. Die Bewohner sind freundlich, wollen und müssen aber auch Geld verdienen. Es gibt einen Friseur, eine Peepshow, eine Bar. Jeder verkauft irgendetwas. Und manchmal tanzen alle miteinander. Über den Containern schläft die Patronin dieser Stadt, in der alle miteinander verwandt sind. Martha Rubin ist eine alterslose Seherin, deren Geschichte jeder erfährt, der ihren Schrein betritt und sich an die Regeln hält. Dazu gehört ein kleines Opfer, Zigaretten oder Schokolade zum Beispiel. Die Zuschauer knien vor Martha, sehen ihr beim Schlafen zu, vielleicht öffnet sie kurz die Augen, vielleicht auch nicht. Einige Soldaten, die englisch sprechen, geben sich im Lauf der Zeit etwas offener. Doch plötzlich dringen Schreie aus der Baracke. Drinnen versuchen zwei Soldaten einer Kameradin eine Spritze in den Arm zu rammen. Sie brüllt wie am Spieß, fordert die Zuschauer auf, ihr zu helfen. Wieder ist es ganz dem Einzelnen überlassen, wie die Szene weiter geht. Wenn er nichts tut, akzeptiert er die Gewalt, die einem in diesem Moment überwältigend authentisch vorkommt. Wenn er eingreift, ist er mittendrin in der Szene, und zwar ganz körperlich. Die Schauspieler sind instruiert, nicht zu weit zu gehen, aber sie verlassen niemals ihre Rolle. Einen festen Griff oder einen Schubser kann der Zuschauer schon abbekommen.
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Der Besucher Rubytowns ist eine Art Ethnologe, der eine fremde Kultur erforscht. Doch ebenso häufig ist er mit sich selbst beschäftigt, muss reagieren oder nicht, auf jeden Fall Entscheidungen treffen. Signa gelingt hier eine neue Theaterform, die viel mehr ist als Mitmachtheater. Hier entsteht eine künstliche, aber reale Welt voller Berührungen, Kontakten und Konflikten. Wer sich mehrere Stunden in Rubytown aufhält, wird mit Namen gegrüßt und beginnt, sich als Teil dieser Stadt zu fühlen. Mit den „Erscheinungen der Martha Rubin“ ist Karin Beier eine Entdeckung gelungen, die ein Publikum anzieht, das weit über das gewohnte Theaterumfeld hinausgeht. Aufgrund der Kölner Aufführungen sind Internetforen entstanden, Signa wurde zum Stadtgespräch. Man tauschte seine Erlebnisse in Rubytown aus und verabredete sich für den nächsten Besuch. Was zur Folge hatte, dass die Karten gegen Ende immer knapper wurden. Diese Performance überträgt den Reiz guter Rollen- und Computerspiele in ein außergewöhnliches Theatererlebnis, in dem jeder Besucher mit fremden Menschen und sich selbst konfrontiert wird.
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Dieses Thema zieht sich durch die gesamte Zeit, die Karin Beier bisher in Köln verbracht hat. Ihre Arbeit als Regisseurin zeichnet es besonders aus, dass sie inhaltliche und ästhetische Anregungen der Theatermacher aufnimmt, die sie engagiert. Da zeigt sich das Prinzip, wie eine Gesellschaft der Zukunft funktioniert, im Mikrokosmos des Theaters. Die Gastarbeiter – hier die Gastregisseure – geben Impulse, die das Leben im Kern mitbestimmen und verändern. Das spürt man vor allem in einer der besten Inszenierungen Karin Beiers. Sie sind unter uns. Und es sind viele. Sie sehen aus wie wir. Aber sie haben niemals eine Sinfonie gehört, ein Gedicht auswendig gelernt oder ein Theater besucht. Sie schauen fern und freuen sich, wenn in den Nachmittagstalkshows Leute auftreten, die noch blöder sind als sie. Dann fühlen sie sich überlegen und einen Moment lang herausgehoben aus ihrem Alltag aus Gebrüll, Missachtung und Jagd nach Billigartikeln. Sie zu benennen, ohne politisch unkorrekt zu werden, ist schwierig. Unterschicht? Prekariat? Alles klingt, als wolle man sich über sie erheben. Will man ja auch, aber es soll eben nicht so klingen. Nennen wir sie doch einfach „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“. Meistens erleben wir diese Menschen, die aussehen wie wir, auf der Bühne in idealisierter Form. In den wundervollen Horváth-Stücken oder in Jugendclub-Aufführungen, die kreatives Potential in Problemkindern wecken. Da spürt man, dass sie nicht so werden müssen, wenn wir sie ernst nähmen und die Geduld aufbrächten, ihnen Stolz und Anerkennung zu vermitteln, einen aufrechten Gang. Das geschieht immer noch viel zu wenig, die Realität ist eine andere. Der Filmemacher Ettore Scola hat sie mit seinen
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Mitteln einzufangen versucht, mit einer entfesselten Handkamera, nah dran an der Vier-Generationen-Familie, die unter einem Dach zusammen lebt und nebeneinander schläft, vögelt, säuft und sich prügelt. Giacinto, der Patriarch, verliert bei einem Arbeitsunfall ein Auge, kriegt eine große Summe von der Versicherung und muss das Geld vor seinen gierigen Verwandten verteidigen. Für „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ hat Scola 1976 in Cannes den Preis für die beste Regie bekommen. Karin Beier hat den Film nicht adaptiert, sondern dem Stoff eine grundlegend neue Form gegeben, ihn für das Theater neu erfunden. „Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie“ heißt ihre Inszenierung im Untertitel. Ein breiter Wohncontainer steht in der Halle Kalk des Kölner Schauspiels. Die Menschen darin agieren hinter Glas. Kaum ein Laut dringt zu den Zuschauern. Nur kurz öffnen sich die Türen, dann hört man ein paar Sätze. Bis einer „Tür zu!“ brüllt. Die Schauspieler sprechen, aber die Zuschauer hören ihre Dialoge nicht. Bis auf die wenigen Szenen, die draußen spielen. Wir beobachten diese Leute, die aussehen wie wir, aber keine Hemmungen mehr kennen. Der Clanchef – gespielt vom glaubwürdig verkommenen Markus John, dessen Haar wohl noch nie die Nähe eines Shampoos gespürt hat – verteidigt sein Geld mit brutaler Gewalt. Als sein Sohn an die Scheine will, schießt Papa auf ihn. Und seine Frau verletzt er mit einer abgebrochenen Bierflasche. In einem Rudel ist das Leittier immer in Gefahr. Wenn es Schwäche zeigt, verliert es sofort seine Position und kann froh sein, wenn es die anderen nicht tot beißen. So ein Rudelführer ist Markus John, stets misstrauisch, aufmerksam und bereit zuzuschlagen. Die Oma des Clans ist nur noch geduldet, weil sie einmal im Monat Rente bekommt. Dann stürzt die gesamte Sippschaft aus dem Haus und verbrät Omas Moneten. Ihre klagende Rufe „Gib mir mein Geld“ stoßen nur auf Spott. Sie hat noch die Kraft einen Traum zu formulieren, eine Reise nach Rio. Ihr Sohn, der Leitwolf, malt mit einem Lappen einen Hügel auf das schmutzige Fenster. „Da haste Rio“, knurrt er und Oma murmelt, er sei doch das einzige, was sie im Leben habe. Das ist einer der wenigen Momente der Inszenierung, in der doch so etwas wie Mitleid aufblitzt, aber auch das wird gebrochen. Denn die Oma wird von Michael Wittenborn gespielt, der den Geschlechterwechsel zur Andeutung von Tragik nutzt, aber auch zur hemmungslosen Groteske. Gleich zu Beginn trinkt Oma Spülmittel, was in einem Teil des Publikums Lachen, in einem anderen Ekel auslöst. Diese Gratwanderung setzt sich fort. Später bringt der Boss eine asiatische Geliebte mit nach Hause, will sie als Teil der Familie etablieren. Das ist eine Machtprobe, er will zeigen, dass er seine eigenen Gesetze macht und die anderen demütigen kann, wie es ihm gefällt. Die Familie beschließt, ihren Leitwolf mit Rattengift umzubringen. Markus John schüttelt sich vor Krämpfen, weißer Schleim läuft aus dem Mund des wuchtigen Schauspielers, er scheint zu krepieren. Aber er steht wieder auf, ist nicht totzukriegen. Seine Frau, gespielt von Julia Wieninger, reagiert darauf mit einem hohlen, humorlosen Lachen, dem Höllenlachen
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einer Verlorenen, die auch mit größter Gewissenlosigkeit keine Chance hat, etwas zu ändern.
W IR
SIND ES SELBST
Es sind nicht die schauspielerischen Leistungen, die den außergewöhnlichen Rang dieser Inszenierung ausmachen. Es ist der mehrfach gebrochene Blick des Zuschauers. Karin Beier will keine pseudorealistische Wolfsmenschenwelt erschaffen, wie es Ettore Scola in seinem Film getan hat. Unser Blick auf diese Leute ist das Thema der Aufführung, die Lust am Voyeurismus aus sicherer Distanz. Denn auch wir schauen sie gern an, die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen, aus den gleichen Gründen, warum sie wiederum die Proletentalkshows sehen. Es ist der Kitzel der Überlegenheit, die Freude an der Abgrenzung, die Bestätigung des Bewusstseins, zu einem anderen Milieu zu gehören. Hier beschreibt Karin Beier eine Bruchstelle unserer Gesellschaft, die sich immer weiter ausdifferenziert, auseinander driftet, nicht einmal den Ansatz von Solidarität kennt mit den anderen, die aussehen wie wir. Es gibt Wege zueinander, das zeigen die Theaterprojekte mit Jugendlichen aus problematischen Gegenden, die Aufführungen von Nuran David Çalıú und vielen anderen. Aber wir wollen uns damit höchstens am Rande beschäftigen, weil die Kommunikation anstrengend ist und einen auf sehr direkte Art in Frage stellen könnte. Nebenbei gilt das besonders für einen Teil der Theaterkritik, der Kinder- und Jugendtheater nicht ernst nimmt und bei sozialen Kontexten gleich fehlenden Kunstanspruch wittert. Karin Beier führt diesen Diskurs auf höchstem ästhetischem Niveau, gibt dem Zuschauer die Freiheit, sich seine eigenen Gedanken zu machen und hat einen der vielschichtigsten und packendsten Theaterabende der letzten Jahre inszeniert. Es sind nicht die anderen, auf die wir schauen. Wir sind es selbst. Die Gegenwart: Februar 2011. Alvis Hermanis inszeniert Gonscharows Roman „Oblomow“. Wieder eine Begegnung mit dem Fremden, mit einem Totalverweigerer, einem Menschen, der im Bett bleibt und alle Anforderungen der bürgerlichen Leistungsgesellschaft als Zumutung abwehrt. Oberflächlich ist das kein Migrantenthema, aber Hermanis lässt die Hauptrolle, den aus der Welt Gefallenen, vom lettischen Schauspieler Gundars Abolins verkörpern. Die anderen sind Deutsche. Es sind nur leicht veränderte Tonfälle, die eine andere Herkunft andeuten. Am Ende legt sich Oblomows Freund und Gegenpart, der deutschstämmige Russe Stolz, gespielt von Martin Reincke, ins Bett des toten Faulenzers. Und man spürt die Sehnsucht danach, anders zu sein, aus der eigenen Haut heraus zu können. „Wir sind es selbst“, das ist die Aussage, die viele Aufführungen im Kölner Schauspiel durchzieht. Hier führt das Theater eine Debatte mit seinen Mitteln, läuft nicht den Themen der Medien nach, sondern beobachtet selbst die Wirklichkeit. Das tut es beharrlich, nachdenklich und immer auch komödiantisch. Kein Wunder, dass Karin Beier überregionale Kritikerumfragen gewinnt
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und die wohl begehrteste deutsche Intendantin ist. Sie macht das Theater der Zukunft.
L ITERATUR Beier, Karin (2007): „Die Nibelungen haben nichts mit deutschen Tugenden zu tun“, Gespräch mit Stefan Keim, in: Die Welt vom 10.10.2007, http://www.welt.de/kultur/theater/article1249802/Die_Nibelungen_habe n_nichts_mit_deutschen_Tugenden_zu_tun.html [20.03.2011].
„Auf den Spuren von… Eine Reise durch die europäische Migrationsgeschichte“ Der Prozess einer Performance V ANESSA L UTZ Das Theaterprojekt „Auf den Spuren von… Eine Reise durch die europäische Migrationsgeschichte“, das im August 2010 in den Landungsbrücken Frankfurt uraufgeführt wurde, ist die zehnte Produktion des seit 2004 bestehenden Kollektivs für Theater, Performance und Aktionskunst Fräulein Wunder AG. Das Konzept für dieses Projekt wurde mit dem Innovationspreis der Bundeszentrale für politische Bildung im Ideenwettbewerb Lateinamerika ausgezeichnet und die Inszenierung wurde zu den Hessischen Theatertagen 2011 eingeladen. Das interdisziplinäre Arbeiten der Gruppe zwischen Performance, Schauspiel, Installation und Video mittels kollektiver Arbeitsstrukturen und -strategien ist geprägt durch das gemeinsame Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis bzw. Szenischen Künste an der Universität Hildesheim. Alle Mitglieder sind zugleich jeweils Konzeptentwickler, Dramaturg, Regisseur sowie Performer. Gäste und assoziierte Künstler werden in diese Arbeitsweise integriert. Die Fräulein Wunder AG untersucht abstrakte Themenkomplexe ebenso wie dramatische oder literarische Stoffe mithilfe kulturwissenschaftlicher Fragestellungen. Der Prozess des Theatermachens wird dabei als Forschungsauftrag und Experiment verstanden: Die Mitwirkenden prüfen und hinterfragen Strukturen, die den gesellschaftlichen Alltag prägen, und begeben sich dabei auf die Suche nach einer ästhetischen ebenso wie einer persönlichen Positionierung zu den Phänomenen der Jetzt-Zeit. Es ist dem bürgerschaftlichen Engagement der Mitglieder, der Auseinandersetzung mit Themenkomplexen wie Geschlecht, Ethnizität und Interkulturalität in Studium und Beruf sowie nicht zuletzt der binationalen Zusammensetzung der Gruppe – fünf in Deutschland geborene Künstlerinnen bzw. Künstler und ich als gebürtige Brasilianerin – geschuldet, dass soziale und politische Fragestellungen bei der Fräulein Wunder AG fester Bestand-
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teil sowohl der Projekte als auch der kollektiven Arbeitsstrukturen und -prozesse sind.
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DER
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Vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren wachsenden Aufmerksamkeit für die Themen Einwanderung und Integration nahm dieser Bereich in der Gruppe eine neue Dimension ein. In der Auseinandersetzung mit den öffentlichen Debatten stießen wir uns an der vorherrschenden Problematisierung und Betonung von Differenz: „Denn in der kollektiven Rede über Migranten spiegelt sich eine ethnozentristische (deutsch-nationale) Haltung mit der binären Codierung vom ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ wider. Dabei werden ‚die Fremden‘ wiederum binär unterschieden in Integrationsfähige/-willige versus Integrationsverweigerer mangels Kompetenz oder Bereitschaft. Auch die vor einigen Jahren angezettelte und immer wieder revitalisierte Diskussion um die ‚deutsche Leitkultur‘ reproduzierte und festigte diese Perspektive, ohne sie produktiv (dialektisch) aufzuheben.“ (Wippermann/Flaig 2009: 4)
Überwiegend geht es nicht nur um ein „wir“, sondern vor allem um dessen Abgrenzung zu einem „Anderen“. Es ist die Rede von den „fremden“ Kulturen, die es zu entdecken, zu respektieren, zu integrieren oder zu assimilieren, zum Beispiel indem man sie an die Leitkultur einer Mehrheitsgesellschaft anpasst, gilt. Dies vollzieht sich bis in die Selbstbezeichnung der mit ihnen befassten Institutionen als „Fremdheitsagentur“ oder „Referat Arbeit mit Fremden“. So werden diese binären Kategorien fortwährend reproduziert. Aber wer sind die „Deutschen“ und wer die „Fremden“? Das Statistische Bundesamt versucht, diese Trennlinie mit den Begriffen Ausländer und Deutsche mit oder ohne Migrationshintergrund zu ziehen. Die Deutschen als Subjekt des Diskurses werden im „Hier“ verortet, während der Migrant immer mit Fremdheit gleichgesetzt und im Außen lokalisiert wird, in der Differenz zu einem „wir“, das auf der dichotomischen Prämisse basiert, dass es Menschen ohne Migrationshintergrund gibt. Es ist aber unklar, ab wann die Zuwanderungsgeschichte des Einzelnen irrelevant wird. Zählen nur die letzten fünfzig Jahre dazu oder auch aus Schlesien vertriebene Vorfahren oder sogar Hugenotten? Wann wird man vom Migrant zum Nicht-Migrant und überquert die Grenze zwischen „den Anderen“ und dem „wir“? Der Wunsch nach einem Verständnis für interkulturelle Prozesse jenseits dieses binären Modells war der Ausgangspunkt für die Konzeption des Projektes „Auf den Spuren von…“. Wir haben uns gefragt: Was, wenn diese Zweiteilung aufgehoben wird, weil man annehmen kann, dass sich für jeden von uns eine Migrationsgeschichte finden lässt, wenn man nur danach sucht? Diese Frage gab den Anstoß zu einem Selbstversuch – wir begaben uns auf Ahnenforschung.
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DEN S PUREN DER EIGENEN MIGRANTISCHEN I DENTITÄT Für den ersten Schritt der individuellen Recherchearbeit war die unmittelbare Verwandtschaft meist die ertragreichste Bezugsquelle. Der Auftrag Dokumente, Anekdoten und Artefakte für das Theaterprojekt der Kinder, Enkel, Nichten und Neffen zu sammeln, löste in einigen Familien wahre Forschungslawinen aus. Es war erstaunlich festzustellen, wie viele nie erzählte Geschichten in den Familien schlummerten. Bei manchen Mitwirkenden war die Praxis des Überlieferns der eigenen Familiengeschichte kaum gepflegt worden. Bei anderen wurde diese schon sehr lange auf eine Formel gebracht („Es waren schwierige Zeiten.“) und nur in dieser „Kurzfassung“ an die Nachfahren weitergegeben. Parallel dazu betrieben wir die faktische Recherche über Bibliotheken, Stadt- und Kirchenarchive sowie Internetquellen. Im Netz stießen wir auf Onlineplattformen, die durch von Nutzern angelegte Stammbäume Zugang zu Informationen aus der ganzen Welt ermöglichen. Zusätzlich zu der über ein Jahr hinweg betriebenen Recherche war geplant, die Migrationsbewegungen unserer Vorfahren anhand einer Reise zu den Ursprüngen unserer Familien in Europa und Brasilien nachzuvollziehen. Die Expedition sollte mit einem Tagebuch, Diafotografien und einer Super8-Kamera dokumentiert werden. Aufgrund der fehlenden Mittel ließ sich dieses Vorhaben leider nicht verwirklichen. Um diesen Verlust zu kompensieren, unternahmen die Performer aus eigenen Mitteln individuelle Kurzreisen zu Verwandten, Archiven und Museen in Deutschland und dessen Nachbarländern. Die Nachforschungen in Brasilien organisierte ich über meine Eltern und Geschwister. Außerdem ließen wir mittels DNA-Tests unseren urgeschichtlichen Migrationshintergrund herausfinden, um so an uns selbst nachzuweisen, dass Migration seit der Urzeit fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte ist. Ausgestattet mit den in dieser intensiven Recherchephase gesammelten Belegen für unsere migrantischen Identitäten begannen wir im Juli 2010 mit den Proben.
Z UM V ERHÄLTNIS
VON
P UBLIKUM
UND
P ERFORMER
Das Experimentieren mit den Beziehungen zwischen Performern, Regie, Zuschauern und Raum spielt für die Fräulein Wunder AG schon seit den ersten gemeinsamen Arbeiten eine wichtige Rolle. Gerade in der theatralen Verhandlung von kulturellen Identitäten und Differenzen kommt der tradierten Hierarchie zwischen Regisseuren, Akteuren und Zuschauern eine zentrale Bedeutung zu. So wurde bei „Auf den Spuren von…“ schon früh klar, dass unsere kollektive Arbeitsweise über den Entwicklungsprozess hinausgehen und das Publikum, als Teil des Kollektivs, das sich in der Auffüh-
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rungssituation formiert, mit einschließen musste. Denn in der Auseinandersetzung mit interkulturellen Thematiken existiert „– gerade auch vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte – ein besonderes Verhältnis zwischen Blickregimen, Theater, Macht, Voyeurismus, Exotismus, Rassismus und Unterdrückung […]. Wir haben es immer mit einem prekären Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt zu tun, weil der Blick auf einen Anderen transformierende Kraft hat.“ (Regus 2009: 105)
Die Schwierigkeit, mit diesem komplexen Verhältnis im Theater umzugehen, zeigt sich bei vielen der in den letzten Jahren stetig zunehmenden künstlerischen Projekte, die sich den Themen Migration und Interkulturalität widmen. Häufig ist ein professionelles Leitungsteam federführend, das „typische Migranten“, meistens Nicht-Schauspieler, dem vorrangig „deutschen“ Publikum von authentischen migrantischen Erfahrungen erzählen lässt. Auch wenn hier den Akteuren in der Subjektrolle eine eigene Stimme gegeben wird, muss hinterfragt werden, inwieweit bei Projekten mit Personen aus „Randgruppen“, die ausschließlich wegen ihrer Zuwanderungserfahrungen auf die Bühne gebeten werden, nicht trotzdem eine exotistische Zurschaustellung stattfindet (vgl. Regus 2009: 12,113). Entgegen dieser Tendenz machten wir uns selbst – sechs weiße Akademiker – zum Gegenstand der Untersuchung. Unsere persönlichen Familiengeschichten sollten als Vexierglas deutscher und zugleich gesamteuropäischer Migrationsgeschichte fungieren. Unser Anliegen erschöpfte sich nicht darin, einen Erzählabend mit Migrationsgeschichten zu machen. Wir wollten dem Publikum darüber hinaus Impulse geben über die eigene Familiengeschichte nachzudenken, sich selbst in die Rolle des Wandernden zu versetzen und auf diesem Weg der für uns wesentlichen Fragestellung an den Aufführungsprozess nachzugehen: Was macht der Blick in die Vergangenheit mit mir selbst? Inwiefern ist er zukunftsweisend? Verändert sich durch die Erkenntnis, dass die eigenen Urgroßeltern Migranten waren, auch meine Haltung gegenüber meinem libanesischen Nachbarn? Ziel war es, den Zuschauern systematisch die Möglichkeit der passiven oder „fremdelnden“ Haltung des bloßen Beobachtens zu verweigern und ihnen stattdessen zu ermöglichen (und manchmal auch von ihnen zu fordern), die Aufführung selbst mitzugestalten und sich mit uns in die Position der Suchenden zu begeben. Aus diesem Grund entschieden wir uns dazu, das Publikum bei „Auf den Spuren von…“ in einem interaktiven Raum in die Inszenierung einzubinden. Außerdem bedienen wir uns dafür der Motive und Rituale eines Familienfestes.
P RODUKTIVE Z WISCHENRÄUME
ERZEUGEN
Die Anforderungen an den Raum standen weitgehend zu Beginn der Proben fest: Keine konventionelle Bühne, keine Tribüne oder Stuhlreihen, sondern
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ein flexibler, vollständig begehbarer Raum und statt eines „fertigen“ Bühnenbildes bewegliche szenografische Module, die in unterschiedlichen Kombinationen immer wieder neue Räume und Situationen entstehen lassen. Zu Beginn der Vorstellung treten die Zuschauer in einen karg ausgestatteten Raum, der eher wie eine Lagerhalle als ein Theatersaal wirkt. Zwischen fünf großen, in einer geraden Linie quer durch den Raum ausgerichteten Holzkisten, die an Schiffscontainer erinnern, sowie einem alten, in Folie eingeschweißten und von grellen Neonröhren beleuchteten Fahrradergometer bewegen sich drei festlich gekleidete Performerinnen. Schon diese erste Situation verweigert sich den Erwartungen des Publikums an einen Theaterabend und lockt sie aus ihrer gewohnten, passiven Rolle: Sie können sich nicht hinsetzen, befinden sich sofort mitten im Geschehen, quasi auf der „Bühne“, die durchquert werden muss, um an einer aus Holzpalletten improvisierten Bar, welche an diesem Abend das Foyer ersetzt, ein Getränk zu bekommen. Die anfangs geschlossenen Kisten werden im Verlauf der Aufführung nach und nach geöffnet und geben miniaturartige, wie zum Mitnehmen auf die Reise konstruierte Innenräume preis. Ein biederes Wohnzimmer wird gegen Ende der Vorstellung nur durch einige kleine Veränderungen in eine Schiffskombüse transformiert. Aus in einer der Kisten verstauten Kartons werden Sitzhocker, die sich in der richtigen Anordnung aufeinander gestellt als Puzzleteile einer Ahnengalerie erweisen. Hinter der so errichteten Wand aus Kartons ergibt sich wie zufällig das Zwischendeck eines Passagierschiffes. Durch die sukzessive Umgestaltung der Spielsituationen entsteht ein Transitraum, in dem alles in Bewegung bleibt, ein „Dazwischensein“, das auch dem Migranten inne ist, der weder vollkommen dem Herkunftsort entzogen ist noch gänzlich in der neuen Heimat sein kann. Während des Aufführungsprozesses lässt sich beobachten, wie das Publikum unter anderem durch Anlehnen an die Wände oder Kreisbildung mit den Sitzhockern versucht, gewohnte Anordnungen von Außen und Innen, Peripherie und Zentrum zu (re-)konstruieren. Aber immer wieder wird dieser intuitive Versuch, sich in einen nicht vorhandenen Zuschauerraum außerhalb des Geschehens zurückzuziehen sabotiert, indem der Zuschauer gezwungen wird, seine gerade eingenommene Position und damit seine Möglichkeit zur Selbstverortung wieder aufzugeben. Die Rezipienten bewegen sich mit dem Raum. Von Anfang an müssen sie dem Umräumen der Performer ausweichen, eine neue Stelle zum Stehen oder Sitzen finden. Sie werden aufgefordert, selbst anzupacken, Dinge zur Seite zu schieben oder wegzuräumen. Um die Performer sehen oder besser hören zu können, müssen sie sich stets neu positionieren. Fortwährend werden den Zuschauern neue Perspektiven eröffnet und häufig müssen sie sich entscheiden, wohin sie den Blick richten sollen: Zu der Spielerin vor ihnen, dem Spieler nebenan, einem Fotoalbum oder doch einer gerade geöffneten Kiste. Dieses permanent vollzogene Wechseln zwischen unterschiedlichen Blickrichtungen und Positionen im Raum lässt das Publikum je nach Per-
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spektive unterschiedliche Aufführungen erleben und immer wieder von neuem eigenständig eine Kontinuität zwischen dem Gesehenen herstellen.
I NTEGRATION
UND I NTERAKTION
Die Partizipation des Publikums beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Herausforderung der dezentrierten Perzeption und der stetigen Neuverortung, sie schließt auch die aktive Teilnahme an der Aufführung mit ein. Schon bevor die eigentliche Vorstellung beginnt, wird die Interaktion mit dem Publikum vorbereitet. Von der Kasse aus gelangen die Zuschauer nicht ins Foyer, sondern treten nach und nach in den Theaterraum ein, wo sie von den Performerinnen freundlich aber kurz angebunden begrüßt werden, wie Verwandte die zu früh zur Feier gekommen und die Gastgeber in der Schürze erwischt haben. Die Performerinnen sind mit mehr oder weniger ersichtlichen Aufgaben beschäftigt: Eine radelt auf dem Fahrradergometer, eine andere sitzt auf einer der Kisten und schaut sich alte Schwarzweißfotografien an. Einige der Hereinkommenden werden von einer dritten wie alte Bekannte angesprochen und gebeten, bei unvollständigen Sütterlin-Übersetzungen zu helfen. Angezogen von der Aussicht auf eine Sitzgelegenheit gesellen sich einige trotz ihrer Scheu zu der Performerin auf der Kiste und werden davon überrascht, dass diese wie selbstverständlich ausschließlich in einer fremden Sprache mit ihnen redet. Je nach Aufführung entsteht aus dieser verunsichernden Situation, in der die Rezipienten sich selbst überlassen werden, eine mehr oder weniger entspannte Foyer-Atmosphäre. Während einige sich an die Bar flüchten oder verunsichert, manche sogar verärgert darüber sind, in einer Fremdsprache angesprochen zu werden und sich von dem Geschehen distanzieren, versuchen andere unter Zuhilfenahme von Schullatein oder Russischkenntnissen eine Unterhaltung mit der fremdsprachigen Performerin zu führen. Schnaps aus allen Teilen der Welt wird herumgereicht, während im Hintergrund Chansons und Schlager aus den zwanziger Jahren klimpern. Die karge Atmosphäre einer abgefertigten Lagerhalle wandelt sich allmählich zu der eines Familienfestes. Es ist nicht ganz die Stimmung satter Zufriedenheit nach dem Festmahl, eher die der Wiedersehensfreude, getrübt durch die Angst, die Namen der vielen entfernten Verwandten vergessen zu haben. Die mit dem Einlass beginnende Zuweisung einer aktiven Rolle an das Publikum wird über den Rollentausch zwischen Akteurin bzw. Akteur und Zuschauerin bzw. Zuschauer weiterbetrieben. Manchmal wird dieser Tausch ausgestellt: Mehrmals kommt ein ferngesteuertes „Postauto“ in den Raum gefahren und beliefert einen Zuschauer oder eine Zuschauerin. Diese Person wird dazu aufgefordert in einer der Kisten – dem Wohnzimmer – am Mikrofon Platz zu nehmen und den Brief vorzulesen. So groß die Überraschung bei der ersten Aufforderung auch sein kann, die nächsten begeben sich stets wie selbstverständlich in die als Vorlesekabine etablierte Kiste. In den Briefen schreiben reale und fiktive Vorfahren aus allen Teilen der Welt und
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Zeitepochen über Ihre Reise-, Flucht- und Fremdheitserfahrungen und liefern neue Spuren zur Migrationsgeschichte der Performer. In einigen Szenen wird das Publikum als Teil des Ensembles behandelt und fungiert als personelle Verstärkung: Wie in jeder Großfamilie müssen alle mit anpacken, Kaffee muss gemahlen werden, Kisten geschoben, Sitzgelegenheiten gebastelt. Indem die Spieler die Zuschauer als Teil des Geschehens behandeln, wird dem Publikum mit großer Selbstverständlichkeit vermittelt, nicht nur Teil sondern Erzeuger des Prozesses zu sein (vgl. Fischer Lichte 2004: 269). Überwiegend vollzieht sich die Auflösung der Trennung zwischen Performance und Zuschauen jedoch durch die Herstellung eines gemeinschaftlichen Gefühls. Dafür bedient sich die Inszenierung der bekanntesten Rituale des Festes: Trinken und Tanzen. Neben ihrer Anwendung als gemeinschaftsbildende Handlungen thematisieren diese Motive darüber hinaus, wie Gemeinschaften ihre kulturelle Identität über das Migrieren von Alltagspraxen fortschreiben. Das gemeinsame Trinken wird gleich zu Anfang mit dem Ausschenken von Schnaps etabliert. Im Verlauf der Aufführung folgen Trinksprüche auf das Zusammenkommen, auf das Zuhausegefühl und auf das Bekenntnis zu den eigenen Vorurteilen und Komplexen gegenüber dem „Fremden“. Zwischendurch wird auch Kaffee aus Istanbul und Matetee aus Brasilien angeboten. Der Kreistanz, der mit dem Publikum zu indischem Pop eingeübt und später zu Folkfusion-Musik wiederholt wird, verbindet kulturelle Praxen „jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur“ (Welsch 1997: 67). Tradition wird hier von spaltender Differenz zu transkulturellem Identifikationspotenzial umgedeutet. Darüber hinaus potenziert das gemeinsame Tanzen das interaktive Moment der Aufführung, indem es eine Gemeinschaft ermöglicht, die über die Ko-Präsenz von Akteuren und Publikum hinausgeht. Hier werden die Zuschauer in ein reales Geschehen integriert. Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, sich gemeinsam mit anderen, ihnen völlig fremden Menschen sinnlichen Eindrücken hinzugeben und reale körperliche Erfahrungen zu machen. Gleichzeitig werden sie selbst Teil des fiktiven Ereignisses, das seine eigenen fiktiven Regeln aufstellt und ihnen eine Zeit lang von den Einschränkungen ihres Alltagslebens, ihrer individuellen sozialen Milieus befreit. Diese Aufhebung üblicher Anordnungen von Publikum und Akteuren bildet durch die tatsächliche Möglichkeit einer Gemeinschaftserfahrung zwischen „Fremden“ den Kern der Aufführung. Um Migrationserfahrungen wie das Oszillieren zwischen dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ oder den Drang nach der Herstellung einer Kontinuität zwischen Lebensabschnitten, die sich in unterschiedlichen Kulturen zugetragen haben, bis zur Konstruktion einer hybriden Identität sinnlich erfahrbar zu machen, setzt die Inszenierung synästhetische Strategien in Kombination mit der Überlagerung von Elementen unterschiedlicher Kulturen ein. Zu sephardischer Musik wird frisch gemahlener Kaffee gebrüht und ausgeschenkt, dessen Geruch sich im ganzen Raum verbreitet. In Einmach-
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gläsern konservierte Duftbäume wecken Erinnerungen an reife Kokosnüsse aus tropischen Gärten, Wiesen in Sibjel und zerstörte Städte in Schlesien. Maisspuren auf dem Boden werden zu einer Landkarte, auf der sich die vielen grenzüberschreitenden Wanderungen einer sephardischen Familie nachvollziehen lassen. Die Zubereitung südbrasilianischen Matetees während des Tagebuchberichts einer bessarabischen Bauernfamilie suggeriert eine Verbindung zwischen tausende Kilometer voneinander entfernten Orten und völlig unterschiedlichen Kulturen. Vor dem letzten Tanz des Abends muss das Publikum auf wenigen Quadratmetern zusammenrutschen. Während es vor sich verschiedene Dias eines Himmelsausschnitts sieht, wird der Bericht eines heutigen BoatpeopleFlüchtlings mit der einer Überseefahrt aus dem 19. Jahrhundert verknüpft. Auf dem Boden hockend, eng aneinander gepresst, beim Summen und Klacken des Diaprojektors und neben unruhig pendelnden Baulampen, die an das Schwanken eines Schiffes erinnern, kann sich nach einiger Zeit das Gefühl von Seekrankheit einstellen und die Luft eines stickigen Zwischendecks körperlichen spürbar werden. Die Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen den Erfahrungen von Boatpeople auf dem Weg in die „Festung Europa“ und denen der deutschen Großmutter im Auswandererschiff nach Südamerika werden durch die in beiden Erzählungen vorhandenen Motive von Hunger, Enge und Ungewissheit unterstrichen. Die Überlagerung und Verknüpfung von geschichtlichen und biografischen Erzählungen unterschiedlicher Jahrhunderte stellen den sich wiederholenden Kreislauf der Geschichte aus. „Auf den Spuren von…“ beschränkt sich nicht auf das Erzählen von Migrationsgeschichte(n), sondern versucht vielmehr einen Raum zu kreieren, in dem Kultur im Sinne Wittgensteins, also als Lebenspraxis geteilt werden kann. Dazu bedarf es eines Zwischenraums außerhalb dualistischer Denkmodelle – eines hybriden Raums, der zugleich als Nicht-Ort oder Homi Bhabhas „Dritter Raum“ verstanden werden kann. Dieser „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstituiert. […] Die Bewegung und der Übergang in der Zeit […] verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen und unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie gibt.“ (Bhabha 2000: 5)
In diesem Sinne versteht sich die Aufführung als Überschreitung eines hermeneutischen Verstehensprozesses hin zu einer Interaktion mit dem Anderen, der Fremdheit und auch dem scheinbar Gewohnten (vgl. Welsch 1997: 77). Die Inszenierung zielt darauf, dichotomische Begriffspaare zum Oszillieren zu bringen und eine mögliche Auflösung herbeizuführen. Dafür macht sie sich Strategien wie das fragmentarische Erzählen, kontingente Überlage-
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rungen, Wiederholungen und Variationen verschiedenster Kulturelemente und das Spiel mit Brüchen und Diskontinuität zu nutze. Und vielleicht kann dieser Abend den einen oder anderen dazu ermuntern, sich selber auf die Suche nach den Spuren der eigenen Migrationsgeschichte zu begeben, die letztlich jede Biografie in sich birgt.
L ITERATUR Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: StauffenburgVerlag. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Regus, Christine (2009): Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik –Politik – Postkolonialismus, Bieleeld: Transcript. Welsch, Wolfgang (1997): „Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen“, in: Irmela Schneider/Christian Thomsen (Hg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln: Wienand, S. 67-90. Wippermann, Carsten/Flaig, Berthold Bodo (2009): „Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 5/2009, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 3-10. Ich bedanke mich bei allen Förderern und Kooperationspartnern, ohne die die Realisation des Projektes nicht möglich gewesen wäre, und bei allen Beteiligten für die gemeinsame Arbeit am Projekt „Auf den Spuren von…“ (Anne Bonfert, Tatjana Kautsch, Verena Lobert, Christian Meinke), bei Malte Pfeiffer und Dominik Steinmann sowie bei Georg Florian für seine Anmerkungen zu diesem Artikel.
Theater als Ort gesellschaftlicher Partizipation
Interkulturelles Audience Development? Barrieren der Nutzung öffentlicher Kulturangebote und Strategien für kulturelle Teilhabe und kulturelle Vielfalt1 B IRGIT M ANDEL Ich möchte damit starten, wie die türkische Journalistin Mely Kiyak an einem Abend ihren Vater ins Theater in Leipzig einlud, wo sie Theaterwissenschaften studierte: „Wir sahen Büchners Leonce und Lena und auf einmal sah ich es: Wir waren an einem Ort gelandet, der so dermaßen anders war als wir, der so sehr auf die Bedürfnisse von anderen zugeschnitten war, dass ich beschloss, mein Studium aufzugeben. Denn der Theaterort war eine Stelle, die so hermetisch abgeriegelt war gegen das Milieu aus dem ich kam, dass ich es erst bemerkte, als mein Vater sich neben mir langweilte. Nicht dass wir noch niemals gemeinsam Theater gesehen hatten und nicht dass wir niemals Bücher gelesen hätten. Es war etwas anderes: Das Stück thematisierte den Lebensüberdruss und die Unentschlossenheit von Leonce und das alles in einer romantischen Kulisse. Mein Vater war aber mit hunderten anderen Kollegen davon betroffen, dass seine Fabrik schloss, dass er keine Arbeit mehr finden würde und dass er mich nicht angemessen bei meinem Studium unterstützen konnte. Und wir saßen also im Theaterraum und sahen jungen, sorglosen Menschen beim SichLangweilen zu. Und überhaupt: Wozu an einen Ort gehen, wo immer nur ‚Leonce und Lena‘ gespielt wird, rauf und runter, landauf, landab. […] Die immer gleichen Stücke, die gleichen Regisseure und die gleichen Namen der Intendanten, die zwischen den Theatern hin und her ziehen und das immer gleiche Publikum. Meinen Vater findet man dort nicht. Nicht weil ihn Theater nicht interessiert, sondern weil ihn dieses Theater nicht interessiert.“ (Kiyak 2009: 1)
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Dieser Text wurde als Vortrag im Rahmen des 3. Bundesfachkongresses Interkultur, initiiert vom „Bundesweiten Ratschlag Interkultur“ und von Interkultur Pro/NRW, am 28.10.2010 in Bochum gehalten und ist in der Publikation zum Kongress erstveröffentlicht.
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Dieses Theater scheint nicht nur für Menschen mit türkischer Ursprungsherkunft uninteressant, sondern auch für die große Mehrheit der Herkunftsdeutschen.
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Ganz offensichtlich hat sich auch im Kultursektor ein Bewusstsein entwickelt, dass mit dem wachsenden Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund der Kulturbetrieb in Deutschland vor Veränderungen steht. Dabei drehen sich die Diskussionen des Kulturbetriebs in Deutschland meiner Beobachtung nach vor allem um das Problem, dass angesichts des demografischen Wandels das Publikum für die traditionellen Kultureinrichtungen zunehmend schrumpft und diese dadurch möglicherweise in ihrem Bestand bedroht sind. Aus meiner Sicht kann es jedoch keineswegs vorrangig um eine Marketing-Frage gehen, wie bekommen wir mehr Menschen mit Migrationshintergrund als Besucher in unsere öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen und wie erhalten wir diese dabei in ihrer jetzigen Form. Unter einer interkulturellen Perspektive stellt sich für den deutschen Kulturbetrieb viel mehr die substanzielle Frage, wie der kulturelle Reichtum, den die Mitbürger migrantischer Herkunft in unsere Kultur einbringen, erschlossen werden kann. Welche neuen Kulturformen könnten dadurch entstehen und wie kann der kulturelle Kanon unserer Kulturinstitutionen so erweitert werden, dass dieser nicht nur für die kleine Gruppe deutscher (und migrantischer) Bildungsbürger von Interesse ist. Öffentliche Kulturinstitutionen haben in besonderer Weise die Aufgabe, wenn nicht für alle, so doch im Leben möglichst vieler und vielfältiger Gruppen der Gesellschaft Bedeutung zu haben. Wenn ihnen dies nicht mehr gelingt, steht ihre Legitimität zur Disposition. Positiv formuliert: Der öffentliche Kultursektor könnte mit den neuen Herausforderungen zugleich auch mehr gesellschaftliche Relevanz erlangen, indem er mit dem Medium Kunst und Kultur Brückenfunktion übernimmt für die interkulturelle Verständigung. Kunst hat das Potential, Dialoge in besonderer Weise zu eröffnen. Kunst kann über Sprachgrenzen hinweg verbinden, Kunst ist per se mehrdeutig und ergebnisoffen. In der Kunst lassen sich verschiedene Stile verschiedener Kulturkreise zusammenbringen, Kunst ist offen für die unterschiedlichsten Perspektiven auf die Welt. Kunst und Kultur können auch deswegen besonders geeignet sein, um das Zusammenleben verschiedener Kulturen zu fördern, weil sie einen zweckfreien, geschützten und zugleich utopischen Raum schaffen können, weil in künstlerischen Gestaltungsprozessen kulturelle Differenzen und Gemeinsamkeiten deutlich werden, weil auch Widersprüche darin spielerisch verarbeitet werden können. Kunst kann Gemeinschaft stiften. Diese Dialogfunktion von Kunst könnte sich positiv auch auf
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andere gesellschaftliche Bereiche auswirken, jedoch nur dann, wenn relativ breite Bevölkerungsanteile, über eine Kunstelite hinaus, damit in Berührung kommen. Kunst und Kultur können einerseits diese Brückenfunktion haben, andererseits sind sie jedoch auch ein perfektes Medium der Abgrenzung, Ausgrenzung, Distinktion. Und damit komme ich zu den Barrieren der Kulturnutzung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
K ULTURNUTZUNG VON M ENSCHEN MIT M IGRATIONSHINTERGRUND – E RGEBNISSE DER B ESUCHERFORSCHUNG Wenn man Strategien für kulturelle Beteiligung entwickeln möchte, bedarf es in einem ersten Schritt der Generierung von Wissen über die kulturellen Interessen und möglichen Barrieren der Menschen, die neu erreicht werden sollen. Was weiß man über Kulturnutzungsverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund? Was weiß man über ihre kulturellen Interessen? Und was weiß man über Nicht-Kulturnutzer insgesamt? Trotz diverser Studien zur Migration und Integration in Deutschland, häufig mit Fokus auf wirtschaftliche Lage, Bildung und Religion, gibt es bislang keine auf ganz Deutschland bezogene repräsentative empirische Studie zum Thema Kunst/Kultur und Migration. Es liegen jedoch einige erste Ergebnisse aus regionalen und qualitativen Studien vor (vgl. Keuchel/Wiesand 2006; Sinus Sociovision 2007; Interkultur Pro/Kulturabteilung des Ministerpräsidenten NRW 2008; Haberkorn 2009; Zentrum für Kulturforschung 2010). Aus diesen begrenzten empirischen Erkenntnissen lassen sich folgende Hypothesen entwickeln: 1. Kulturelle Nutzung hängt nicht vorwiegend von der ethnischen Herkunft ab, sondern von Bildung, sozialer Lage, Einstellungen und Herkunftsraum Menschen mit Migrationshintergrund sind keine soziokulturell homogene Population. Von Sinus Sociovision wurden acht Migrantenmilieus mit sehr unterschiedlichen Lebensweisen und Lebensauffassungen identifiziert (vgl. Sinus Sociovision 2007). Es kann also nicht unbedingt von der Herkunft der Migranten auf das Milieu geschlossen werden. Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte beeinflussen die Alltagskultur, sind jedoch nur bedingt milieuprägend und identitätsstiftend. Kulturelle Nutzung hängt nicht vorwiegend von der Herkunft ab, sondern von Bildung, Einstellungen, sozialer Lage und Herkunftsraum (Großstadt vs. ländliche Region). Es geht also in der Regel gar nicht um ethnische, sondern eher um soziale Differenzen. Bestimmte Migrantengruppen gehören zu
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den niedrig gebildeten sozial prekären Milieus und von denen ist meistens die Rede. 2. Bei ähnlicher sozialer Lage haben Menschen mit Migrationshintergrund ein ähnliches Kulturinteresse wie diejenigen ohne Migrationshintergrund Auch hier sind Bildung und Bildung der Eltern die wichtigsten Parameter für kulturelles Interesse, so zeigte es das Jugendkulturbarometer. Ein deutlicher Zusammenhang zwischen Kulturinteresse und Herkunftsland wurde nur an einer Stelle im Jugendkulturbarometer sichtbar: Junge Menschen mit osteuropäischem Migrationshintergrund zeigten sich signifikant häufiger interessiert an klassischer Kultur als deutschstämmige Jugendliche (vgl. Keuchel/Wiesand 2006). 3. Migranten sind aufgrund ihrer Erfahrungen zwischen den Kulturen besonders sensibel für die Wahrnehmung von Kunst und Kultur In einer qualitativen Pilotstudie zum Thema „Kulturelle Identitäten in Deutschland“ (Zentrum für Kulturforschung 2010) empfanden die befragten Migranten, allen voran natürlich die befragten Künstler, ihre Migration mehrheitlich als Bereicherung ihrer Persönlichkeit und als Motor für eine differenziertere ästhetische Wahrnehmung. Auch die im Jugendkulturbarometer befragten Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind künstlerischkreativ tendenziell aktiver als die deutschstämmigen Jugendlichen. Migration kann kulturelles Interesse also befördern. 4. Migranten wünschen sich stärkeres Interesse des Gastlandes an ihrer Herkunftskultur Die Befragten in mehreren Studien wünschen sich eine stärkere Anerkennung und ein stärkeres Interesse für ihre Herkunftskultur bei der deutschen Bevölkerung, und sie wünschen sich mehr Austausch zwischen den LänderKulturen. Deutschstämmige haben sehr wenig Kontakt mit den Kulturen der Herkunftsländer der Migranten, auch das zeigte eine Befragung des Zentrums für Kulturforschung, da diese in Deutschland wenig präsent sind.
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5. Obwohl Menschen mit Migrationshintergrund ein ähnliches Interesse an kulturellen Angeboten haben, nutzen sie die öffentlichen Kultureinrichtungen signifikant weniger und sehen darin wenig Bezug zu ihrem Leben Stattdessen sind sie häufig in kulturelle Angebote von Migrantenvereinen aus ihren Herkunftsländern involviert. Das öffentliche Kulturangebot wird tendenziell als elitär empfunden. Offensichtlich fühlen sich migrantisch geprägte Bevölkerungsgruppen noch weniger von den Programmen angesprochen als die deutsche Bevölkerung insgesamt, von der jedoch auch nur ein sehr kleiner Anteil der Gesamtbevölkerung die öffentlich finanzierten Kultur-Angebote regelmäßig nutzt, man geht von ca. acht Prozent Kernkulturnutzer in Deutschland aus. „Kultur ist wichtig, hat aber nichts mit meinem persönlichen Leben zu tun“, so eines der zentralen Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung im Ruhrgebiet, die wir 2009 durchgeführt haben, wobei unter Kultur bei der deutschstämmigen Bevölkerung überwiegend die traditionelle Hochkultur-Kunst verstanden wird (vgl. Mandel/Timmerberg 2008). Diese hat zwar ein durchaus positives Image bei allen Gruppen in der Bevölkerung, wie auch andere Studien zeigen, ihr wird jedoch für das eigene, persönliche Leben keine Bedeutung beigemessen. Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist tendenziell ein weiterer Kulturbegriff erkennbar, der auch Lebensweise und Alltagskultur umfasst, anders als die typisch deutsche Engführung auf die so genannten schönen Künste der Hochkultur. Darauf weisen Ergebnisse des Jugendkulturbarometers (vgl. Keuchel/Wiesand 2006) sowie eine qualitative Befragung des Instituts für Kulturpolitik von Studierenden aus verschiedenen Ländern hin (vgl. Mandel/Institut für Kulturpolitik 2005). Wenn Menschen mit Migrationshintergrund also nicht per se uninteressierter sind an Kunst und Kultur und auch bei ihnen Kulturinteresse eine Frage von Milieu und Bildung ist, sind die Unterschiede zwischen deutschstämmigen Nicht-Kulturnutzern und migrantischen Nicht-Kulturnutzern möglicherweise gar nicht so groß. Es lohnt also ein Blick auf Erkenntnisse zu den Barrieren von Kulturnutzung insgesamt: Bei allen quantitativen Studien werden als Gründe für den Nicht-Besuch kultureller Einrichtungen Angebote an erster Stelle immer genannt „zu wenig Geld“ und „zu wenig Zeit“. Erste qualitative Erhebungen dazu (vgl. Mandel/Renz 2010) zeigen, dass es darüber hinaus vor allem die Barriere Bildung sowie soziale und subjektive Barrieren sind: • • •
Die Annahme, dass Kunst anstrengend ist und die Angst, sie nicht zu verstehen; Die Annahme, dass Kunstrezeption langweilig ist und man dabei keinen Spaß hat; Die Annahme, dass andere Freizeit-Angebote attraktiver sind;
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Die Annahme, dass Kunst nicht zum eigenen Leben und Lebensstil passt und die Angst, nicht über die richtigen Formen im Umgang mit kulturellen Angeboten zu verfügen; Das Problem, dass keiner der Freunde und Bekannten mitgeht; Schlechte Erfahrung mit kulturellen Angeboten vor allem im Rahmen von Schulbesuchen: Die Erwartungen an Kunst als etwas Schönes und Interessantes wurden nicht eingelöst; Die mangelnde Relevanz für das eigene Leben, es gibt keinen Anlass und keinen Grund, kulturelle Angebote zu besuchen.
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Aus diesen Ergebnissen der Nicht-Kulturnutzerforschung lässt sich schließen, dass zum einen die soziale und kommunikative Dimension von kulturellen Angeboten mehr Raum einnehmen müsste, dass es vor allem aber darum geht, die Relevanz für die jeweils avisierte Zielgruppe herauszufinden und zu verdeutlichen oder aber überhaupt erst zu schaffen, was sicherlich genauso für die Nicht-Kulturnutzer mit Migrationshintergrund gilt. Der typisch deutsche Hochkulturbegriff, orientiert an der deutschen Klassik, der Kunst als das Gute, Wahre, Schöne und über alles Erhabene der Alltagsphäre entrückt, der Kunst und Leben deutlich trennt, der oftmals auch Kunstrezeption zu einem feierlichen kontemplativen, individuell und still erfahrenen Akt erhebt, ist möglicherweise dem Kunst- und Kulturzugang vieler Menschen nicht zuträglich und vermutlich auch für viele Menschen aus anderen Kulturen irritierend.
V OM KLASSISCHEN ZUM INTERKULTURELLEN AUDIENCE D EVELOPMENT : S TRATEGIEN UND M ASSNAHMEN Eine aktuelle Erhebung des Zentrums für Audience Development (2009) zeigt, dass sich immerhin 50 Prozent der befragten Kulturinstitutionen mit dem Thema Migration befassen. Eine Studie des Zentrums für Kulturforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), in der 400 öffentliche Kultureinrichtungen zu Bildungsangeboten und Zielgruppenausrichtungen befragt wurden (Zentrum für Kulturforschung 2010), verdeutlicht, dass nur 15 Prozent der Kultureinrichtungen bislang Bildungsangebote haben, die sich auch, wenngleich nicht ausschließlich, bewusst an die Zielgruppe Migranten richten. Dabei konzentriert sich die Zielgruppenansprache für Migranten zurzeit auf junge, bildungsferne Gruppen vor allem über Kooperationen mit Schulen. In einer Befragung unter den 226 Mitgliederverbänden des Deutschen Kulturrates 2009 zum Thema „Integration und interkulturelle Bildung“ wurde deutlich, dass es nicht die traditionellen, hoch geförderten Kultureinrich-
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tungen sind, sondern vorwiegend die Mitglieder der Sektion Soziokultur, die sich aktiv mit dem Thema zu befassen (vgl. Bäßler 2010). Die Studien zeigen, dass das Thema Migration und Kulturnutzung in den deutschen Kultureinrichtungen angekommen ist, aber sagen noch relativ wenig zum „Wie“. Welche Veränderungen müssten auf den verschiedenen Ebenen stattfinden, um eine Einrichtung interkultureller und vielfältiger zu gestalten? Wie kann ein „interkulturelles Audience Development” aussehen? Die Funktion des Audience Development, wie es in England und den USA Mitte der 90er Jahre entwickelt wurde, ist die systematische Generierung und Bindung neuen Publikums beziehungsweise neuer Nutzer für kulturelle Angebote. Audience Development zeichnet sich dadurch aus, dass Instrumente des Absatzmarketings und der Kulturnutzerforschung mit Instrumenten der Kulturvermittlung und Kulturellen Bildung strategisch verbunden werden, häufig unter einer kulturpolitischen Zielsetzung (vgl. Mandel 2008). Bezeichnenderweise haben wir in Deutschland keinen eigenen Begriff für diese Funktion, weil das Bemühen um neues Publikum bei uns erst seit sehr kurzer Zeit in den Fokus gerückt ist. In einem traditionellen Einwanderungsland wie Großbritannien gibt es bereits seit den 90er Jahren kulturpolitisch gesteuerte Pogramme, um Menschen mit Migrationshintergrund als Künstler und Kulturschaffende wie als Publikum am kulturellen Leben zu beteiligen. Die verschiedenen Arts Councils in Großbritannien haben dafür eine gemeinsame „Agenda for Cultural Diversity” erstellt, die unter anderem in den „Cultural Diversity Action Plan“ mündete. In einem Land mit einer zentralistischen Kulturpolitik ist es natürlich sehr viel einfacher, solche Programme flächendeckend umzusetzen. Ziel ist es, den Kulturbereich repräsentativer für das soziale und kulturelle Leben in Großbritannien zu gestalten, also die Vielfalt der Gesellschaft auch im Kulturbetrieb widerzuspiegeln. Dabei wird der Begriff der kulturellen Vielfalt, „Cultural Diversity”, bewusst sehr weit definiert und beschränkt sich nicht auf ethnische Vielfalt, sondern auch auf regionale Vielfalt, Geschlecht, Alter, Generation etc. (vgl. Arts Council England 2006: 144). Zusammenfassend wurden und werden in Großbritannien folgende Maßnahmen durchgeführt: •
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Politische Lobbyarbeit bei verschiedenen Kulturpolitikern, Verbänden, bei Medien etc. um das Verständnis für die positive Bedeutung kultureller Vielfalt im Kulturbereich zu fördern; Gezielte Förderung von Künstlern, Ausbildung von Künstlern und Förderung künstlerischer Programme von Kulturschaffenden mit Migrationshintergrund; Bevorzugte Einstellung von Kulturschaffenden mit Migrationshintergrund in Teams von öffentlich geförderten Kultureinrichtungen;
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Weiterbildung und Coaching von Mitarbeitern in Kultureinrichtungen im Bereich „Managing Cultural Diversity”; Förderprogramme für Kooperationsprojekte zwischen Kultureinrichtungen und Migranten-Kulturprojekten sowie sonstigen Migrantenorganisationen; Förderung von Kulturprojekten und Marketingaktivitäten, die sich spezifisch um ein neues Publikum aus den Reihen der Migranten bemühen.
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Was sind zentrale Erfahrungen in England, was lässt sich daraus lernen für ein interkulturelles Audience Development? Kultureinrichtungen müssen bereit sein, ihre eigene Unternehmenskultur in Frage zu stellen und gegebenenfalls zu verändern, so zeigten die Evaluationen aus den verschiedenen Programmen. „The only really effective way to change the make-up of your audience is to first change yourselves.” (Morton 2006: 131). Aus den verschiedenen Auswertungsberichten der britischen Kultureinrichtungen sowie den bisherigen Auswertungen von Erfahrungsberichten in Deutschland lassen sich zusammenfassend folgende Elemente eines interkulturellen Audience Development ableiten: Es kann nicht an Marketing und Vermittlungsabteilungen delegiert werden, sondern muss in der Leitungsebene und der gesamten Unternehmenskultur verankert und von allen als interessante neue Herausforderung empfunden werden. Vielfalt muss sich auch in der Personalstruktur widerspiegeln; so zeigte die BMBF-Studie etwa, dass Einrichtungen mit Mitarbeitern mit Migrationshintergrund in leitenden Funktionen auch signifikant mehr Publikum bzw. Nutzer mit Migrationshintergrund haben. Notwendig ist es, Wissen über Nutzer zu haben, die neu erreicht werden sollen durch Kooperation mit vielfältigen Institutionen, Vereinen, Nachbarschaften, am besten indem man sie direkt fragt und herausfindet, wo gemeinsame Interessen liegen. Das braucht sehr viel mehr Zeit, als die übliche Arbeit, diesen Aspekt nannten alle, die bereits interkulturelle Projekte gemacht haben, es erfordert Mut, sich selbst in neue, fremde Kontexte zu begeben, auch physisch eigene Räumlichkeiten zu verlassen, jenseits der vertrauten kulturellen Milieus und der Arbeits-Routinen. Wie für jedes Audience Development geht es um den Aufbau langfristiger Beziehungen zu neuen Nutzern, die über ein einzelnes Projekt hinausgehen. Am wichtigsten scheint mir, neue Zielgruppen sowohl auf Künstlerwie auf Publikumsebene aktiv in die eigene Arbeit einzubeziehen und mit ihnen gemeinsam neue Inhalte zu entwickeln. „Neue gemeinsame Geschichten entwickeln statt Klassiker abspielen“, so benannten es die Leiter der Neuköllner Oper in einer Veranstaltung des Berliner Kultursenat über Ansätze für die interkulturelle Öffnung von Kultureinrichtungen im April 2010. Das setzt Neugierde und Interesse an und Wertschätzung von anderen kulturellen Einflüssen voraus. Dabei weniger nach ethnischen Unterschieden, als viel mehr nach gemeinsamen Erfahrungen, Wünschen und Verbindendem
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zu schauen, sowohl auf der inhaltlichen wie auf der künstlerischen Ebene, dafür plädiert der Direktor des Museums Neukölln. Traditionelles Audience Development konzentriert sich auf die Generierung von neuem Publikum, indem es nach einem ersten Schritt der Besucherforschung versucht, die potenziellen neuen Zielgruppen mit adäquateren Maßnahmen der Kommunikation, Werbung, Distribution, Service, Preisgestaltung und Vermittlung zu erreichen. Interkulturelles Audience Development würde darüber hinaus beinhalten, dass Kultureinrichtungen, auch ihre Programme, die künstlerischen Inhalte und Ästhetiken und die gesamte Unternehmenskultur im Dialog mit neuem Publikum, neuen Künstlern, neuen Teammitgliedern verändern, kulturell vielfältiger gestalten und damit etwas Neues, Gemeinsames schaffen.
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DER K ULTURINSTITUTIONEN UNTER INTERKULTURELLER P ERSPEKTIVE Mark Terkessidis stellt in seiner Publikation „Interkultur“ die These auf, dass die Idee der Integration überholt sei und wir uns viel mehr auf ein neues Konzept von Interkulturalität einlassen müssten, in dem es um die Interaktion zwischen den Kulturen geht und dem, was daraus an Neuem entsteht. Terkessidis spricht von „Interkultureller Alphabetisierung als Erlernen einer neuen Sprache“ (Terkessidis 2010: 10) mit der „Perspektive einer gemeinsamen Veränderung“ (Ebd.: 119). Auf der institutionellen Ebene der Kulturinstitutionen gehe es um die Frage, wie sich eine neue Unternehmenskultur etablieren lässt jenseits der alten Hierarchien und Distinktionen einer Kulturelite. Der Kultursektor ist in besonderer Weise auf Einflüsse unterschiedlicher Kulturen angewiesen, um vital und relevant zu bleiben und seiner Musealisierung vorzubeugen. Menschen mit Migrationshintergrund ebenso wie Menschen mit deutschem Hintergrund jenseits der bildungsbürgerlichen Kernkulturnutzermilieus können neue Perspektiven in den Kulturbetrieb einbringen. Sie haben einen anderen Kulturbegriff, andere Produktions- und andere Rezeptionsweisen, einen anderen Erfahrungshintergrund. Unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen, von der Popkultur über Volkskultur und Soziokultur bis zur klassischen Kultur als verschieden, aber gleichwertig anzuerkennen, wäre der erste Schritt für Kulturinstitutionen. Sich mit der Realität außerhalb der Kunstwelt auseinandersetzen und sich für den Dialog zwischen verschiedenen Kulturformen zu öffnen und neugierig darauf zu sein, was daraus an Neuem, Gemeinsamen entsteht, wäre der nächste Schritt. „Die immer gleiche Gruppe von Kulturschaffenden liegt unter einer Wolldecke, flauschig warm und sicher geborgen. Dass es jenseits des gewohnten Publikums potentielle Zuschauer mit anderen Visionen und Sehnsüchten gibt, kann man nur erfahren, wenn man die Decke hin und wieder lüftet.“ (Kiyak 2009: 1)
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Raus aus den Kunst-Welten, rein in die vielfältige kulturelle Realität – eine nicht einfache Herausforderung, die von vielen Kulturschaffenden in und außerhalb der Kultureinrichtungen meiner Beobachtung jedoch derzeit in Angriff genommen wird. Bremsklotz ist wie immer in Deutschland unser Bürokratismus in Verwaltung und politischem Überbau. Das heißt, auch von Seiten der Kulturpolitik müssen neue Anreize kommen, neue Prioritäten gesetzt werden und Ziele in diese Richtung verbindlich und mit klaren Zeitvorgaben und Budgets formuliert werden. Nicht zuletzt braucht es auch von der Bildungspolitik deutliche Unterstützung, denn Bildung und Kultur sind aufs engste miteinander verknüpft, wie alle Studien zur Kulturnutzerforschung zeigen, und Kulturelle Bildung ist die wesentliche Voraussetzung um die Teilhabe am kulturellen Leben potenziell allen Menschen zu ermöglichen. Es braucht also neben einem interkulturellen Audience Development auch eine interkulturelle Kultur- und Bildungspolitik. Die aktuelle Diskussion zum Thema „kulturelle Vielfalt“, die zur Zeit meistens an der Bevölkerungsgruppe der Migranten festgemacht wird, bietet die Chance für eine grundlegende Umgestaltung unserer öffentlichen Kulturlandschaft und unserer Kulturinstitutionen in Richtung stärkere Relevanz für die verschiedenen Gruppen unserer Gesellschaft.
L ITERATUR Allmanritter, Vera/Siebenhaar, Klaus (2010): Kultur mit allen! Wie deutsche Kultureinrichtungen Migranten als Publikum gewinnen, Berlin/Kassel: B & S Siebenhaar Verlag. ARD/ZDF Medienkommission (Hg.) (2007): Migranten und Medien. Ergebnisse einer repräsentativen Studie, Mainz. Arts Council England (Hg.) (2006): Navigating Difference. Cultural diversity and audience development, London: Arts Council England. Bäßler, Kristin (2010): „‚Closed Shop‘ oder interkulturelle Öffnung?“, in: Politik und Kultur Mai/Juni 2010, S. 5-6. Deutscher Bühnenverein (Hg.) (2003): Auswertung und Analyse der repräsentativen Befragung von Nichtbesuchern deutscher Theater. Eine Studie im Auftrag des Deutschen Bühnenvereins, Köln. Haberkorn, Sina (2009): Neues Publikum für Kunst und Kultur gewinnen? Eine empirische Untersuchung zum Audience Development am Beispiel des Festivals der Kulturen MELEZ, Diplomarbeit an der Universität Hildesheim. Interkultur Pro/Kulturabteilung des Ministerpräsidenten NRW (Hg.) (2008): Kulturelle Vielfalt in Dortmund. Pilotstudie zu kulturellen Interessen und Gewohnheiten von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Dortmund, Düsseldorf: LDS NRW. Johnson, Gill (2003): New audiences for the arts. The new audiences programme 1998-2003, London: Arts Council England.
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Keuchel, Susanne/Weil, Benjamin (Hg.) (2010): Lernorte oder Kulturtempel. Infrastrukturerhebung: Bildungsangebote in klassischen Kultureinrichtungen, Köln: ARCult Media. Keuchel, Susanne/Wiesand, Andreas (Hg.) (2006): Das 1. Jugendkulturbarometer. „Zwischen Eminem und Picasso …“, Bonn: ARCult. Kiyak, Mely (2009): „Kultur, eingewickelt in Wolldecken, flauschig warm. Warum sich in der Kulturszene nicht bemerkbar macht, was sonst noch los ist“, in: Deutscher Kulturrat (Hg.), Politik und Kultur Nr. 05/09, Beilage Interkultur, Regensburg: ConBrio Verlag, S. 1-2. Kirchberg, Volker (1996): „Besucher und Nichtbesucher von Museen in Deutschland“, in: Museumskunde, H. 61, S. 151-162, Berlin: G+H Verlag. Morton, Maddy (2006): Managing for success”, in: Navigating Difference. Cultural diversity and audience development, London: Arts Council England, S. 131-137. Maitland, Heather (2000): A guide to audience development. London: Arts Council England. Mandel, Birgit (Hg.) (2008): Audience Development, Kulturmanagement, Kulturelle Bildung. Konzeptionen und Handlungsfelder der Kulturvermittlung, München: Kopaed. Mandel, Birgit/Institut für Kulturpolitik (Hg.) (2005): Einstellungen zu Kunst und Kultur, Kulturimage und Kulturbegriff. Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage in Hildesheim, durchgeführt von Studierenden des Studiengangs Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis der Universität Hildesheim, http://kulturvermittlung-online.de/pdf/knf_-_mandel__2005_-_kulturnutzerbefragung_uni_hi.pdf [21.03.2011]. Mandel, Birgit/Renz, Thomas (2010): Barrieren der Nutzung kultureller Einrichtungen. Eine qualitative Annäherung an Nicht-Besucher, Institut für Kulturpolitik, Universität Hildesheim, http://kulturvermittlungonline.de/pdf/onlinetext_nicht-besucher__renz-mandel_neueste_version 10-04-26.pdf [21.03.2011]. Mandel, Birgit/Timmerberg, Vera (2008): Kulturelle Partizipation im Ruhrgebiet in Zeiten des Strukturwandels, Institut für Kulturpolitik, Universität Hildesheim, in Kooperation mit Ruhr 2010, http://kulturvermittlungonline.de/pdf/knf_-_mandel_timmerberg_studie_ruhr2010_2008_abschl ussbericht.pdf [21.03.2011]. Sinus Sociovision (Hg.) (2007): Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Eine qualitative Untersuchung von Sinus Sociovision, Heidelberg: Sinus Sociovision. Terkessidis, Mark (2010): Interkultur, Berlin: Suhrkamp. Zentrum für Audience Development (Hg.) (2009): Migranten als Publika in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen. Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite, Berlin: ZAD, http://www.geisteswissenschaft en.fu-berlin.de/v/zad/media/zad_migranten_als_publika_angebotsseite.p df [23.03.2011].
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Da kann ja jeder kommen!? Anmerkungen zu Theater und Migration im Social Turn B IANCA M ICHAELS Ob in Stuttgart, Essen, Köln, Hamburg oder Berlin: das Thema Migration ist präsent – mittlerweile auch und gerade auf der Theaterbühne. Besonders prominent setzten die Münchner Kammerspiele unter der Leitung von Frank Baumbauer in der Spielzeit 2007/08 das Thema auf ihre Agenda. Das Theater begnügte sich hier nicht mit Einzelprojekten zum Thema Flucht, Migration und Integration, sondern stellte die gesamte Spielzeit unter das Motto „Da kann ja jeder kommen!“ und beschäftigte sich intensiv mit dem Phänomen der Migration in verschiedenen Variationen. Während der Spielzeit wurden entsprechende Stücke auf die Bühne gebracht und zusätzlich mit dem begleitenden Stadtprojekt „Doing Identity – Bastard München“ sechs Wochen neben dem Spielzeitprogramm weitere Veranstaltungen mit aktuellem Bezug zum Thema Migration in München realisiert. Darüber hinaus organisierten die Kammerspiele kulturwissenschaftliche Gespräche zu Fragen der Migration und Integration in Europa und thematisierten im Rahmen ihres Beitrags zu den 850-Jahr-Feiern der Stadt München das zumeist unsichtbare Leben illegalisierter Menschen in München. Vor dem Hintergrund dieses und anderer Projekte möchte ich im Folgenden zunächst die gegenwärtige theatrale Beschäftigung mit dem Thema Migration in eine allgemein an vielen bundesdeutschen Theatern zu beobachtende Entwicklung, sich mit gegenwärtigen sozialen Fragen auseinanderzusetzen, einordnen.1 In einem zweiten Schritt werde ich einige institutionelle Aspekte dieser Entwicklung näher beleuchten. These des Beitrags ist, dass die Beschäftigung der Theater mit dem Thema Migration offen legt,
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Vergleiche hierzu u. a. den Themenschwerpunkt in der „Deutschen Bühne“ im März 2006. In der gleichen Zeitschrift fasst Detlef Brandenburg die Saison 2010 mit folgenden Begriffen zusammen: „Vielfalt der Formen, Themen der gesellschaftlichen Gegenwart, Öffnung zu unterschiedlichen Publikumsgruppen“ (Brandenburg 2010: 28).
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dass insbesondere die öffentlich geförderten Theater sich in einem institutionellen Wandel befinden, in welchem das Selbstverständnis der Institutionen und letztlich die Frage nach der Legitimität der bestehenden Strukturen neu verhandelt wird.
P ARTIZIPATIVE P ROJEKTE DER E RFAHRUNG
UND EIN
T HEATER
Der Begriff des Social Turn bezeichnet in der Kunstwissenschaft die Einbeziehung von sozialen Prozessen in und ihre Veränderung durch künstlerische Aktivitäten (vgl. Bishop 2006). Im Theater zeigt sich der Social Turn in den Bemühungen, sich zunehmend in partizipativen Projekten mit Laien sozialkritisch mit der gesellschaftlichen Realität im allgemeinen und den spezifischen lokalen Gegebenheiten im Besonderen auseinanderzusetzen. Angesichts der aktuellen Entwicklungen an zahlreichen Häusern eignet sich dieser Begriff als fruchtbarer Überbegriff, welcher das weite Spektrum der Projekte mit Themen wie Globalisierung, Arbeitslosigkeit, neue Armut, Migration und vieles mehr zusammenfasst. Die zunehmend zu beobachtenden neuen Theaterformen, welche sich hinter so verschiedenen Bezeichnungen wie beispielsweise „Theater der sozialen Intervention“, „Theater der Wirklichkeit“, „Dokumentartheater“‚ „Theater der Erfahrung“ oder auch die mittlerweile schon fast allgegenwärtigen „Experten des Alltags“ verbergen, weisen trotz aller thematischen und auch qualitativen Unterschiede der einzelnen Produktionen auf eine kaum zu übersehende Gemeinsamkeit hin: Die öffentlich geförderten Theater in Deutschland wenden sich in ihrer Spielplangestaltung vermehrt Themen der sozialen Realität und den Fragen zu, wie das Theater auf die gegenwärtigen sozialen, demografischen und politischen Veränderungen reagieren und welche Rolle es vor dem Hintergrund einer Fragmentierung ihrer Adressaten in eine Vielfalt kulturell und sozial unterschiedlich orientierter Gruppen spielen soll (vgl. u. a. Mundel/Mackert 2010: 38). Mit „Theater unter den Bedingungen des Social Turn“ sind in diesem Zusammenhang sowohl partizipative Projekte wie beispielsweise die Bürgerbühne Dresden als auch Theaterprojekte gemeint, die sich mit dem eigenen Ensemble nach einer intensiven Recherchephase bezüglich der jeweils lokal relevanten Themen mit den aktuellen Herausforderungen der Gesellschaft auseinandersetzen.2 Im Zuge dieser Entwicklung etablieren sich jenseits der behandelten Themen auch neue Arbeitsweisen, in welchen sowohl die Theaterschaffenden wie auch die jeweiligen „Experten des Alltags“
2
Zu nennen ist hier beispielsweise Lars-Ole Walburgs 2008 entstandene Inszenierung „Schnee“ an den Münchner Kammerspielen nach dem gleichnamigen Roman von Orhan Pamuk.
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KANN JA JEDER KOMMEN !?
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Neues voneinander über ihre jeweiligen Lebenswirklichkeiten erfahren. Was vielfach als Neuerung der heutigen theatralen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität im Unterschied zum sozialkritischen Theater beispielsweise der 1970er Jahre aufgefasst wird, ist die Tatsache, dass die Theater ihre Häuser heute nicht nur verlassen, um zu senden, sondern auch um zuzuhören und Neues zu erfahren (vgl. Laue/Reich/Weber 2010: 45). Das Theater öffnet sich in derartigen Produktionen nicht mehr nur bei der Aufführung seinem Publikum, sondern bereits im Vorfeld des Produktionsprozesses dem öffentlichen Raum außerhalb der Theaterwelt. Damit verbunden ist eine verstärkte Hinwendung zu einer Öffentlichkeit außerhalb des ästhetischen Raums des Theaters, die nicht begrenzt ist auf das individuelle und kollektive ästhetische Subjekt, welches bei der Aufführung selbst zugegen ist (vgl. Balme 2010: 58ff.). Theaterarbeit erscheint in diesen Projekten zunehmend nicht nur als gesellschaftlich relevant, sondern als Partizipation an Gesellschaft.
T EILHABE
VOR UND HINTER DER
B ÜHNE
Mit dem Projekt „Bunnyhill“, das Björn Bicker, Peter Kastenmüller und Michael Graessner im Jahr 2004 an den Münchner Kammerspielen initiiert haben, entstand eine neue Form der Theaterarbeit, die heute – knapp sieben Jahre später – in mehrfacher Hinsicht als Initialzündung betrachtet werden kann (vgl. Mundel/Mackert 2010: 38). Ausgangspunkt von „Bunnyhill“ waren Recherchen für ein Theaterstück über einen türkischen Jungen namens Mehmet, der 1998 als Vierzehnjähriger ganz München mit über 60 Straftaten in Atem gehalten hatte. Dieses Stück sollte gemeinsam mit Jugendlichen aus dem Münchner Randbezirk Hasenbergl und Schauspielern der Kammerspiele produziert werden, doch entwickelte sich daraus die Staatsgründung „Bunnyhill“ mit über 80 Veranstaltungen zum Thema „Zentrum – Peripherie / Hasenbergl – Stadtzentrum“. Björn Bicker charakterisiert die Veranstaltungen im Rückblick vor allem als künstlerische und soziale Gratwanderungen: „Man wusste nicht, was man da gerade erlebt. Ist das jetzt Sozialarbeit? Entertainment? Therapie? Theater? Party? Diskurs? Politik? Kunst? Wie können wir den abgesteckten Bezirk von sich selbst bespiegelnder Kunst verlassen und Grenzen auflösen zwischen sozialer, politischer und künstlerischer Praxis, um somit eine andere, neue Relevanz unseres eigenen Tuns zu erfahren. Kann man nicht soziale Praxis als künstlerische und künstlerische als soziale Praxis definieren? Wertet das nicht beide Bereiche enorm auf? Aus diesen Experimenten ergibt sich auch ein neuer Blick auf das Theater als Stadttheater. Was bedeutet es, Theater für eine Stadt zu machen? Bunnyhill ist eine mögliche Antwort.“ (Bicker 2005: 45)
Seit diesem ersten Stadtprojekt der Münchener Kammerspiele ist viel passiert: Zunächst an den Kammerspielen selbst, welche zwei Jahre später den
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Staat „Bunnyhill“ wieder zum Leben erweckt haben und sich mittlerweile jedes Jahr in einem so genannten Stadtprojekt auf die Suche nach den sozialen Wirklichkeiten der Stadt München machen. Darüber hinaus hat insbesondere das Projekt „Bunnyhill“ die Bundeskulturstiftung im Jahr 2006 veranlasst, mit dem Heimspielfonds eine neue Projektförderung für Theaterprojekte aufzulegen, „die sich mit der urbanen und sozialen Realität der Stadt auseinandersetzen und ein neues Publikum für das (Stadt-)Theater gewinnen wollen.“ (Kulturstiftung des Bundes 2011) Seit Beginn dieser Fördermaßnahme wurden über 50 Projekte in 13 Bundesländern gefördert. Darüber hinaus lancieren viele Theater wie beispielsweise das Theater Freiburg mittlerweile ähnliche Projekte außerhalb des Heimspielfonds, darunter zahlreiche Produktionen, welche sich mit dem Thema Migration beschäftigen. Hier wären beispielsweise die Produktionen „Nathan schweigt“ und „Cabinet“ der aktuellen Spielzeit am Theater Freiburg zu nennen. Letztere wurde vom Fonds Wanderlust der Bundeskulturstiftung gefördert. Darüber hinaus stellt sich das Theater auf seiner Homepage explizit dem Thema Migration und der Suche nach „Möglichkeiten einer zeitgemäßen Interaktion zwischen Theater und Stadt. Die Funktion des Theaters in der Migrationsgesellschaft und die sich daran anschließenden Fragen nach Beteiligung und gleichberechtigter Teilnahme wird dabei ein Schwerpunktthema werden. Es verlangt auch eine Untersuchung der wechselseitigen Bedingungsverhältnisse von Kunst, Kultur, Bildung und kultureller Bildung.“ (Theater Freiburg 2011)
Während das Thema Migration in einer Zeit erhöhter Aufmerksamkeit für aktuelle soziale Fragen auf zahlreichen Bühnen angekommen ist, sind hiervon die Zusammensetzung des Publikums (vgl. Zentrum für Audience Development 2009) und die Strukturen der Institutionen selbst meist noch unberührt. Folglich besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen Theater der sozialen Intervention und einer vielfach sich gerade erst anbahnenden Intervention in die (soziale) Struktur der Theater in ihrem regulären Betrieb. Was die Theater und ihre personelle Struktur betrifft, so bilden insbesondere die Sprechtheater bislang vor allem bezüglich der Herkunft der Ensemblemitglieder und der künstlerischen Leitung keineswegs die demografische Struktur der betreffenden Städte ab, in welchen sich der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund zum Teil auf bis zu 40 Prozent beläuft.3 Mitarbeiter mit Migrationshintergrund sind insbesondere an den programmatisch einflussreichen Positionen wie beispielsweise bei der Dramaturgie noch keineswegs selbstverständlich.
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Diese Feststellung bezieht sich an dieser Stelle vornehmlich auf das Sprechtheater; insbesondere im Musik- und Tanztheater ist der Anteil nicht-autochthoner deutscher Darsteller deutlich höher.
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L AIENSCHUB
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P ERIPHERIE
Gegenwärtig sind neben der wachsenden künstlerischen Auseinandersetzung vornehmlich zwei Modelle der institutionellen Inklusion von Menschen mit Migrationshintergrund am Theater zu beobachten: zum einen engagieren einige Stadttheater derzeit zunehmend Regisseure und Autoren mit Migrationshintergrund wie beispielsweise Nurkan Erpulat, Neco Çelik und Nuran David Çalıú. Zum anderen entwickelten sich in den vergangenen Jahren beispielsweise mit dem Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin Kreuzberg und dem theater peripherie in Frankfurt öffentlich geförderte Institutionen, welche sich schwerpunktmäßig und programmatisch mit den Themenbereichen Migration und Interkultur beschäftigen. Hier spiegeln sich die inhaltlichen Anliegen auch in der personellen Struktur der Mitarbeiter und Darsteller des Theaters wider. An dieser Stelle lohnt ein Blick auf das in der Öffentlichkeit weniger bekannte theater peripherie in Frankfurt: Ausgehend von der Produktion „Ehrensache“, führte die Arbeit an dem Stoff dazu, dass Alexander Brill, ehemaliger Leiter des Laiensclubs Frankfurt, 2008 in Frankfurt das theater peripherie gründete. In den Produktionen der ersten drei Jahre, „Blutsbande“, „Ehrensache“, „Illegal“ und „Maria Magdalena“, reflektiert das Theater mit seinen Darstellern künstlerisch jeweils über, mit und für Menschen mit Migrationshintergrund. Das theater peripherie arbeitet in Kooperation mit dem Schauspiel Frankfurt und finanziert sich mit einem bislang sehr überschaubaren Budget vornehmlich aus Mitteln des Kulturreferats der Stadt Frankfurt und diversen Sponsoren. Eine interne Zuschauerbefragung von Oktober bis Dezember 2009 ergab, dass 42 Prozent der Zuschauer einen Migrationshintergrund haben und 62 Prozent der Besucher Schüler und Studenten sind. Derzeit arbeiten Darsteller aus 18 Ländern am Haus, das für seine Arbeit 2010 unter anderem mit dem Hessischen Integrationspreis ausgezeichnet wurde.4 Der Arbeit von Alexander Brill und seinen Mitstreitern am theater peripherie und den genannten Projekten der Münchner Kammerspiele ist gemeinsam, dass sie Peripherie und Zentrum verbinden. Es geht um die Einbeziehung der Ausgeschlossenen: „Am Rande der Stadt werden die Probleme des Zusammenlebens ausgetragen, die unsere globalisierte Wirklichkeit bestimmen. Wir haben auf unterschiedlichste Weise versucht, den ungeliebten Rand der Stadt im Zentrum sichtbar zu machen und das am Rande mit Skepsis betrachtete Zentrum an die Peripherie zu bringen.“ (Bicker 2005: 44)
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Die hier und im weiteren Verlauf aufgeführten Informationen zum theater peripherie stammen von der Homepage des Theaters (Theater Peripherie 2011) sowie Gesprächen mit dem Gründer und künstlerischen Leiter Alexander Brill.
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Indem Theater in den genannten Projekten durch das explizite Einbeziehen von Menschen mit Migrationshintergrund die Verbindung zwischen Peripherie und Zentrum herstellen, wirken sie der Exklusion entgegen, welche über weite Strecken das Verhältnis der deutschen Theaterlandschaft zu Menschen mit Migrationshintergrund geprägt hat. Wenn der Soziologe Heinz Bude feststellt, dass eine andere Welt in unserer Welt entstanden sei, die einen Riss im Gemeinschaftsempfinden mit sich bringe, der weder zu leugnen noch aufzuheben sei, scheint es fast, als nähmen seine Worte direkt Bezug auf das bisherige Verhältnis einer Vielzahl öffentlicher deutscher Theater zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund: „Institutionelle Unerreichbarkeit, soziale Abgeschlossenheit und kulturelle Selbstausschließung ergänzen sich zu einem unaufhaltsamen Prozess der Entkoppelung vom Ganzen“ (Bude 2008: 248). Bude betont, dass es unter dem Blickwinkel der Mehrheitsklasse keinen Unterschied mache, welche Gründe für diese fundamentale Differenz im Lebensgefühl geltend gemacht werden, immer sei der Abstand so groß, dass der Eindruck eines Unterschieds von Drinnen und Draußen entstehe: „Es gibt eine Mehrheit, die sich in der differenzierten Welt der Moderne zu Hause fühlt und die Institutionen des Wohlfahrtsstaats zu ihrem Sozialeigentum zählt, und ein weggedrängtes und ausgeschlossenes Fünftel der Gesellschaft, das sich von der Welt, in die es sich geworfen findet, nichts mehr erhofft.“ (Ebd.: 248)
Während Bude Exklusion nicht nur auf Migranten in Deutschland bezieht, betont Mark Terkessidis in seiner Publikation „Interkultur“, dass für viele Personen mit Migrationshintergrund das Theater weiterhin ein Raum ist, „der auf ihrer cognitive map der Stadt gar nicht auftaucht“ (Terkessidis 2010: 185). Dies gilt sowohl für Theater als Veranstaltungsort wie auch als mögliches Arbeitsfeld.
R ELEVANZ UND L EGITIMITÄT UND M IGRATION
VON
T HEATER
Kunst gilt als öffentliches Gut. Öffentliche Güter unterscheiden sich von privaten nicht nur durch ihre Förderung durch die öffentliche Hand, sondern vor allem auch darin, dass sie allen Bürgern zugänglich sein sollen. Sind öffentliche Einrichtungen wie beispielsweise Stadttheater einem großen Teil der Bevölkerung aus unterschiedlichen Gründen nicht zugänglich, entsteht insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen finanziellen Engpässe ein gesteigertes Bedürfnis nach Begründung der gegenwärtigen Praxis. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist der Spezialfall Migration im Rahmen des Social Turn ein derzeit besonders beachtetes Feld, in welchem sich angesichts knapper werdender finanzieller Mittel die Frage nach der Legitimität von Theater, das heißt nach der Rechtmäßigkeit der bestehenden Strukturen neu stellt. Diesen Punkt der in Deutschland bislang nur zurück-
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haltend diskutierten Frage streift auch Terkessidis, wenn er anmerkt, dass es angesichts knapper Kassen erlaubt und notwendig sei, über eine neue Legitimation von Kultur nachzudenken: „Die Personen mit Migrationshintergrund sind ebenso Bestandteil der Bevölkerung wie jene ohne, und daher haben sie ein Anrecht darauf, dass die staatliche Förderung von Kultur […] auch bei ihnen ankommt. Das ist in einer Demokratie eine Frage der Gerechtigkeit.“ (Ebd.: 182) Diese Feststellung ist nicht nur auf Migration zu beziehen. Bekanntermaßen besucht ein Großteil der Bevölkerung keine Theater – und dies verhältnismäßig unabhängig davon, ob es sich um autochthone Deutsche oder Menschen mit Migrationshintergrund handelt. Der Anteil der Nicht-Nutzer in der deutschen Bevölkerung, die nie oder selten kulturelle Angebote wahrnehmen, liegt bei über 50 Prozent der Bevölkerung (vgl. Zentrum für Audience Development 2009: 2). Folglich findet sich das Theater auch bei sehr vielen Deutschen ohne Migrationshintergrund nicht auf der „cognitive map“ und die seit den 1970er Jahren diskutierte Forderung einer „Kultur für alle“ betrifft auch sehr viel mehr Deutsche als nur diejenigen mit Migrationshintergrund. Wie nicht zuletzt auch so genannte „integrierte“ Autoren wie Feridun Zaimo÷lu betonen, besteht durchaus eine Gefahr darin, soziale Unterschiede mit kulturellen Unterschieden zu verwechseln: „Man darf nicht versuchen, mit den Begriffen aus dem Soziologie-Seminar und den Redaktionsstuben Phänomene der so genannten Unterschicht begreifen zu wollen.“ (Asumang/Çelik/Güvercin/Zaimo÷lu 2010: 4) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die neue konzeptionelle Ausrichtung des theater peripherie für die kommende Spielzeit: „Politiker und Medien sind im Moment dabei, Deutschland in ein wir und Muslime [Herv. i. O.] zu zerlegen. Diese Spaltung führt in eine Sackgasse. Denn sie geht von einer homogenen Gesellschaft aus und erhebt einen längst überholten Nationalbegriff zum Maßstab für Integration. Auf diese Weise repetiert sie immer nur dieselben defizitären Schubladen, in denen Migranten seit Jahrzehnten stecken. Sie will nicht zur Kenntnis nehmen, dass die – real vorhandenen – Probleme nicht Ausdruck von Herkunft, Kultur oder Religion sind, sondern von Schichten und Milieus, zu denen ‚Deutsche‘ und ‚Ausländer‘ gleichermaßen gehören.“ (Theater Peripherie 2011)
Für die Arbeit von theater peripherie bedeutet dies, dass es aufhören wird, migrantisches Leben zu problematisieren: „Wir ersetzen ab 2011/12 den Begriff Integration durch Teilhabe [Herv. i. O.]. Wer an den Prozessen unserer Gesellschaft teilhat, wird sich mit ihr identifizieren und sich in ihr beheimatet fühlen. Wer ohne Teilhabe ist, wird sich nicht gewollt, gebraucht und ausgeschlossen fühlen. Das gilt für alle Bürger unseres Landes, egal ob sie der deutschen Aufnahmegesellschaft angehören oder aus anderen Ländern gekommen sind. […] Uns interessieren die Fragen ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Teilhabe […]. Wir geben der gesellschaftlichen Peripherie die Bühne, um von sich zu erzählen.“ (Ebd.)
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Vor diesem Hintergrund erscheint Theater unter den Bedingungen des Social Turn sehr nah an seiner eigenen Geschichte zu sein, denn soziale Unterschiede anzusprechen, ist von jeher Metier des Theaters. Die Auseinandersetzung mit dem Themenbereich Migration ist auf der Bühne somit keineswegs ein Spezialfall, sondern eine selbstverständliche Perspektive auf soziale Themen. Inwiefern es darüber hinaus jedoch der Einbeziehung von Menschen mit Migrationshintergrund in die Institutionen selbst bedarf, ist eine Frage, welche jenseits der künstlerischen Impulse von „anderskulturellen“ Arbeitsweisen auch Aspekte der Legitimität der bestehenden Theaterstrukturen berührt. Somit stellt die selbstverständliche Teilhabe von Personen mit Migrationshintergrund sowohl bei der Produktion wie auch der Rezeption von Theater Herausforderungen an die Institutionen, die sowohl die innerbetrieblichen Personal- und Betriebsstrukturen als auch ihre Verortung in der Öffentlichkeit – und nicht zuletzt in die (kultur-)politischen Gefüge der jeweiligen Stadt – betreffen.
I NTERKULTURELLE P ERSPEKTIVEN PRODUKTIVER I MPULS
ALS
Warum die Frage nach der Funktion der Theater und der Rechtmäßigkeit der Verteilung der öffentlichen Gelder im Kultursektor angesichts knapper finanzieller Mittel im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel in neuer Weise virulent wird, könnte nicht zuletzt darin liegen, dass Menschen mit Migrationshintergrund für Statistiken im Gegensatz zu den vielen anderen Nicht-Nutzern von öffentlich geförderten Kultureinrichtungen verhältnismäßig leicht zu identifizieren sind. Als identifizierbare, bislang kaum erreichte und zunehmend wichtige Zielgruppe provozieren sie geradezu die Frage, welche Rolle die Theater vor dem Hintergrund des Zersplitterns ihrer „einst homogenen bildungsbürgerlichen Adressatenschicht in eine Vielfalt kulturell und sozial unterschiedlich orientierter Gruppen“ (Brandenburg 2010: 30) spielen. Gleichzeitig sehen sich Kultureinrichtungen wie Theater auch hier der Herausforderung gegenübergestellt, dass Menschen mit Migrationshintergrund keineswegs eine homogene Gruppe darstellen. Obgleich die Bemühungen um Migranten vor, hinter und auf der Bühne wichtig und sicherlich notwendig sind, haben die Theater nicht primär mit der Herausforderung von „Theater in der interkulturellen Gesellschaft“ – wie der Untertitel der diesjährigen Tagung der dramaturgischen Gesellschaft in Freiburg lautete – umzugehen, sondern mit der Suche nach der eigenen Identität und dem eigenen Selbstverständnis. Was hierbei als legitim aufgefasst wird und auf breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit stößt, ist historisch durchaus kontingent. Die Förderung der Theater durch die öffentliche Hand bedarf der politischen Legitimierung und dem Bewusstsein, dass sich Legitimitätsideen im Zeitverlauf wandeln:
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„Legitimität muss sich gegenüber Alternativen behaupten. Zumal in der liberalen Demokratie verbindet sich mit ihr kein universaler, sondern ein partikulär bleibender Wahrheitsanspruch. Legitimität in der modernen offenen Gesellschaft erfordert daher die ständige Erneuerung durch kommunikative Vermittlung ihrer Geltungsgründe.“ (Scarcinelli 2002: 254)
Dies ist nicht nur Barbara Mundel und Josef Mackert vom Theater Freiburg bewusst, die in ihrem Aufsatz „Das Prinzip für die ganze Gesellschaft“ insbesondere den Aspekt der Relevanz für die öffentlich geförderten Stadttheater ansprechen, wenn sie fordern: „Wir müssen uns […] in allen Konsequenzen bewusst machen, dass den Theatern der Rückweg zum Musentempel eines auf Eigenrepräsentation bedachten Bildungsbürgertums definitiv verschlossen ist.“ (Mundel/Mackert 2010: 43) Auch Intendant und Dramaturgie des Schauspielhauses Bochum stellen die Frage nach der aktuellen Bedeutung der Stadttheater: „Heute […] fragt das Stadttheater besorgt nach seiner Bedeutung in einer nicht mehr homogenen bürgerlichen Gesellschaft. Es betrauert plötzlich den Verlust eben jener bürgerlicher Tugenden, die es einst bekämpfte und denen es zugleich als Institution seine Existenz verdankt, und sucht nun nach seiner Funktion in der Stadtgesellschaft jenseits eines für alle verbindlichen Bildungskanons. Die Erosion bürgerlicher Verhältnisse, einst Ziel unzähliger ästhetischer und theatraler Programme, hinterlässt nicht Freiheit und Selbstgewissheit, sondern Unsicherheit und offene Fragen.“ (Laue/Reich/Weber 2010: 45)
Theater benötigen in Zeiten knapper finanzieller Mittel die breite Akzeptanz der Bevölkerung. Dass sich Theater heute verstärkt mit Fragen zum eigenen Selbstverständnis auseinandersetzen, ist nicht zuletzt Folge eines tief greifenden Wandels der Gesellschaft: Nachdem frühere Legitimationsfiguren aufgrund der veränderten sozialen, politischen, medialen und demografischen Bedingungen immer weniger greifen, sind insbesondere die Theaterschaffenden der Stadttheater gefragt, wie die Rolle des Theaters einer Stadt in Abhängigkeit von den jeweiligen lokalen Gegebenheiten auszufüllen ist. Im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel betrifft dieser Punkt jedoch zunehmend auch die Betriebs- und Personalstruktur der Theater selbst und die Frage, inwiefern sich Theater vor dem Hintergrund des nicht zuletzt durch die Finanzkrise zunehmend auf sie ausgeübten Legitimationsdrucks erheblichen Umstrukturierungsmaßnahmen stellen müssen. Vor dem Hintergrund des ohnehin bereits erfolgten Social Turn könnte sich Migration bzw. die Sensibilisierung für die notwendige Öffnung bezüglich interkultureller Perspektiven als produktiver Impuls erweisen. Vielversprechend war in dieser Hinsicht die Tagung der dramaturgischen Gesellschaft Anfang des Jahres zum Thema „Wer ist Wir? Theater in der der interkulturellen Gesellschaft“, in welcher nicht nur über Problemstellungen, sondern auch intensiv über strukturelle Lösungsansätze debattiert wurde.
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Wie die kürzlich stattgefundene Auszeichnung der Leiterin des Ballhaus Naunynstraße ùermin Langhoff mit dem Kairos-Preis nahe legt, befinden wir uns derzeit offensichtlich in einem günstigen Moment für interkulturelle Teilhabe: Möglicherweise haben Kunstinstitutionen und Kulturpolitiker zum gegenwärtigen Zeitpunkt mindestens so viel Interesse an einer intensivierten Zusammenarbeit wie die Menschen mit Migrationshintergrund selbst. Denn während jene nichts zu verlieren haben, steht für Theater, die sich dauerhaft einer interkulturellen Öffnung verschließen, das Risiko im Raum, selbst zur Peripherie zu werden – marginalisiert durch mangelnde gesellschaftliche Relevanz und infolgedessen in Zukunft auch zunehmend bedroht von mangelndem politischen Rückhalt. Migration könnte sich als ein produktiver Innovationsimpuls für die Theaterinstitutionen erweisen. Angesichts der Herausforderungen, welche die demografischen und sozialen Entwicklungen in Deutschland stellen, scheint sich – dies wird in ausführlicheren Untersuchungen zu zeigen sein – bei vielen Theaterschaffenden im Zuge des Social Turn ein neues Selbstverständnis herauszubilden. Dieses könnte sich nicht zuletzt zu einer neuen Funktionsbestimmung von Theater in der Gesellschaft, ohne dabei einem einseitig instrumentellen Kunstbegriff anheim zu fallen, und einer neuen kulturpolitischen Legitimation entwickeln.
L ITERATUR Asumang, Mo/Çelik, Neco/Güvercin, Eren/Zaimo÷lu, Feridun (2010): „Ein Teil Deutschlands, mit etwas mehr Farbe“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 46/47 2010, S. 3-9. Balme, Christopher (2010): „Gefährliche Bilder: Theater und Öffentlichkeit in einer multireligiösen Gesellschaft“, in: Wolfgang Sting et al. (Hg.), Irritation und Vermittlung. Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft, Berlin: LIT-Verlag, S. 57-70. Bicker, Björn (2005): „Bunnyhill. Eine Staatsgründung“, in: Dramaturgie 2/2005, S. 44-45. Bishop, Claire (2006): The Social Turn. Collaboration and its Discontents, Artforum, February 2006, S. 179-185. Brandenburg, Detlef (2010): „Die große Diversifizierung“, in: Deutsche Bühne 8/2010, S. 28-37. Bude, Heinz (2008): „Das Phänomen der Exklusion“, in: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hg.): Exklusion. Die Debatte über die ‚Überflüssigen‘, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 246-260. Düffel, John von (2006): „Neues sozialkritisches Theater? Der Wandel der Wohlstandsrepublik zur Angstgesellschaft wirft seine Schatten auf die Theaterbühnen“, in: Deutsche Bühne 3/2006, S. 16-20. Kulturstiftung des Bundes (2011): Heimspiel. Der Fond zur Förderung von Theaterprojekten im Überblick, http://kulturstiftung-des-bundes.de/cms/ de/programme/kunst_der_vermittlung/heimspiel_1056_91.html [23.03. 2011].
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Laue, Thomas/Reich, Sabine/Weber, Anselm (2010): „Lotte Kotte lebt hier nicht mehr. Das Theater muss wieder ankommen in einer Gesellschaft, die bestimmt ist von vielfältigen Biografien, Kulturen, Lebensentwürfen.“, in: Theater heute 8/9 2010, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 4546. Mundel, Barbara/Mackert, Josef (2010): „Das Prinzip für die ganze Gesellschaft“, in: Theater heute 8/9 2010, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 38-43. Scarcinelli, Ulrich (2002): „Demokratietheoretische Bezugsgrößen. Legitimität“, in: Jarren, Otfried/Sarcinelli, Ulrich/Saxer, Ulrich (Hg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, 1. Aufl., Nachdruck, Opladen u. a.: Westdt. Verlag, S. 253-267. Terkessidis, Mark (2010): Interkultur, Berlin: Suhrkamp. Theater Freiburg (2011): Heart of the City. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft, http://www.theater.freiburg.de/index/TheaterFreiburg/Videos.h tml [23.03.2011]. Theater Peripherie (2011): http://www.theaterperipherie.de [09.03.2011]. Zentrum für Audience Development (Hg.) (2009): Migranten als Publika in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen. Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite, Berlin: ZAD, http://www.geisteswissenschaft en.fu-berlin.de/v/zad/media/zad_migranten_als_publika_angebotsseite.p df [23.03.2011].
Von der Nachhaltigkeit partizipativer Tanzprojekte Wie die Caritas Wien Toleranz choreografiert C AROLIN B ERENDTS „Derzeit wird im Bereich der Hochkultur viel ausprobiert, aber die systematische interkulturelle Öffnung der Kulturinstitutionen wird wohl noch einige Zeit auf sich warten lassen. Bis dahin ist die Unterstützung von Heterotopien weiter notwendig.“ (Terkessidis 2010: 202)
In der Beschreibung von Ansätzen, Kultureinrichtungen allen Mitgliedern der interkulturellen Gesellschaft gegenüber zu öffnen, hebt Terkessidis besonders partizipative Kunstprojekte hervor, die an einer Inklusion der Teilnehmenden aller Gesellschaftsschichten interessiert sind. Er problematisiert Ansätze, die Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Zusammenhang auf stereotype Darstellungen beschränken, und zollt Akteuren, die in diesem Feld auf der Suche nach neuen Ansätzen sind, Respekt. Doch seine Analyse ist klar: Selbst die besten Projekte haben oft keine strukturelle Einbindung, Finanzierung und Unterstützung und verlaufen im Sande, anstatt nachhaltig weitergeführt zu werden. Nun sind „Migranten“ in den Förderrichtlinien partizipativer Kunstprojekte mittlerweile eine oft genannte Zielgruppe und viele Projekte versuchen mehr oder weniger erfolgreich, diese neue Zielgruppe einzubeziehen. Die Gefahr der Instrumentalisierung von Personengruppen für institutionelle Interessen wird bei Terkessidis anschaulich beschrieben und soll hier nicht im Fokus der Ausführungen stehen. Die Frage ist: Wie können partizipative Kunstprojekte erfolgreich verschiedene Zielgruppen mit und ohne Migrationshintergrund erreichen und wie kann diese erfolgreiche Arbeit dann nachhaltig und dauerhaft weitergeführt werden? Am Beispiel „Tanz die Toleranz“ sollen einige dieser Strategien eines erfolgreichen Community Dance Projektes in Wien als beispielhafte Heterotopie, als anderer Ort zwischen Utopie und Alltag, vorgestellt werden. Am 11. Mai 2007 tanzten zur Eröffnung der Wiener Festwochen auf dem Wiener Rathausplatz 220 junge Menschen aus 26 verschiedenen Nationen gemeinsam zu Gustav Holsts „Die Planeten“. Der Auftritt unter der Lei-
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tung des spätestens seit dem Film „Rhythm is it“ bekannten Choreografen Royston Maldoom war der Startschuss zu einer neuen Initiative für Community Dance in Österreich: „Tanz die Toleranz“. Initiiert wurde dieses Projekt weder von den Wiener Festwochen noch von den Wiener Symphonikern, welche die Choreografie live begleiteten, sondern von Dr. Werner Binnenstein-Bachstein, dem Leiter des damaligen Bereichs „Soziale Arbeit – In- und AusländerInnenhilfe“ der Caritas der Erzdiözese Wien. Die Tänzer stammten nicht nur aus verschiedenen Schulen und Kindergärten Wiens, dem Jugendcenter „Back on Stage“, dem Konservatorium der Privatuniversität Wien und der Institution Interface, sondern auch aus verschiedenen Einrichtungen der Caritas Wien. „‚Tanz die Toleranz‘ war und ist ein Traum von mir: Nachdem ich den Film ‚Rhythm is it‘ gesehen hatte, wusste ich sofort, dass ich genau so ein Projekt in Wien verwirklichen will. […] Also fuhr ich nach Berlin, um Royston Maldoom für Tanz die Toleranz und die Eröffnung der Wiener Festwochen zu gewinnen.“ (BinnensteinBachstein 2007: 1)
Von dieser Reise kehrte Binnenstein-Bachstein mit vielen Ideen im Kopf und dem ausdrücklichen Wunsch von Maldoom zurück, nicht ausschließlich eine weitere spektakuläre Aufführung zu schaffen, sondern ein nachhaltiges Projekt zur Förderung des Community Dance in Österreich zu initiieren.
I ST T OLERANZ
TANZEND ERLERNBAR ?
Nun liegt das Aufgabengebiet der Caritas nicht traditionell in der Kulturförderung. In Wien ist die Caritas als katholisches Hilfswerk heute der größte private Anbieter sozialer Dienstleitungen in der Stadt und außerdem stark in der Nothilfe engagiert. Sie führt mit circa 3700 festangestellten Mitarbeitern Senioren- und Pflegehäuser, Stützpunkte für die Mobilen Dienste alter und kranker Menschen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, Beratungsstellen für Menschen in Notsituationen, Obdachlosenhäuser, Arbeitsprojekte für Langzeitarbeitslose, eine youngCaritas für Projekte mit Jugendlichen sowie seit 2007 eine Vielzahl an integrationsfördernden Maßnahmen. Insgesamt betreut die Caritas Wien rund hundert Einrichtungen. Wozu braucht eine so etablierte Institution dann ein Tanzprojekt? „Der erste Gedanke war: Das ist ein wunderbares Integrationsprojekt, das über die körperlich herausfordernde Kunstform Tanz funktioniert.“ (Ebd.) Also handelt es sich um ein Integrationsprojekt, das sich der Kunstform Tanz nur bedient?
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Von Anfang an wurde dem Projekt mit Skepsis begegnet. Und dies nicht nur wegen des Begriffs „Integrationsprojekt“.1 Die etablierten Wiener Kultureinrichtungen waren skeptisch, ob ein katholisches Hilfswerk nun auch Kunstprojekte durchführen sollte. Konnte man das nicht weiter Sozialarbeit nennen? Kritik kam aber auch aus den Reihen der Caritas, die in Tanzprojekten nicht den ursprünglichen Sinn der eigenen Arbeit als sozialer Dienstleister sahen. Warum sollten statt Sozialarbeiter nun Künstler bezahlt werden? Trotz aller Einwände hielt Werner Binnenstein-Bachstein an dem Projekt fest und entwickelte zusammen mit seinem Team ein Konzept, das über spektakuläre Einzelauftritte hinausging. Für „Tanz die Toleranz“ stand nie in Frage, dass Kunst und Soziales miteinander in Verbindung stehen und sich gegenseitig nicht ausschließen. „Tanz die Toleranz“ hatte von Anfang an den Anspruch, auf hohem künstlerischem Niveau integrative Arbeit zu leisten. Und das Projekt hatte im Community Dance eine etablierte Kunstform gefunden, die eben diese Verbindung zu ihrem Arbeitsschwerpunkt machte.
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Die Community Arts Bewegung entstand in den siebziger Jahren in England als eine Gegenbewegung zu den etablierten Künsten. Ausgehend von der Überlegung, dass man über künstlerische Praxis mehr Menschen für die Rezeption von Hochkultur begeistern könne, wurden in verschiedenen künstlerischen Sparten Projekte mit Künstlern und Laien aller Gesellschaftsschichten initiiert. Tamara McLorg berichtete auf dem Laboratorium Candocandance 2006 von dem Beginn der tänzerischen Arbeit mit Laien in England, die aus der Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes heraus entstand. Die Tänzer wollten die Teilnehmer für diese neue Kunstform begeistern. Auch daher hebt McLorg neben der Sensibilität für die Gruppe besonders den hohen künstlerischen Anspruch der Arbeit hervor: „Wenn wir mit den Leuten aus der Nachbarschaft arbeiten, dann müssen wir von ihnen das Beste verlangen, nicht das Zweitbeste. Wenn wir choreographieren, dann muss es die beste Choreographie sein.“ (McLorg zit. n. Terkessidis 2010: 175) Das Konzept ging auf, wenn auch nicht ganz wie erwartet. Die Communities nahmen die Angebote gerne an, doch anstatt nach den Workshops zahlreich in die Aufführungen von zeitgenössischem Tanz zu strömen, forderten sie selbst mehr Praxis für sich. Die positiven Erfahrungen gepaart mit
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Die Kritik des eingangs zitierten Mark Terkessidis am Begriff der Integration soll hier nicht weiter ausgeführt werden, auch weil die Ziele des Projekts „Tanz die Toleranz“ in vielen Bereichen mit denen einer interkulturellen Gesellschaft, wie sie Terkessidis entwirft, übereinstimmen.
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speziellen Förderrichtlinien des Arts Council England führten dazu, dass gezielt so genannte ‚benachteiligte‘ Bevölkerungsgruppen Zielgruppen dieser Programme wurden. Mit großem Erfolg. Seit dieser Zeit entwickelte sich in England und den USA der Community Dance als eigenständige künstlerische Arbeitsform mit eigenen Förderungen, Ausbildungen, Institutionen und Traditionen. Das Selbstverständnis ist dabei klar: Community Dance ist eine Kunst.2 Spätestens seit dem großen Medienecho auf die Tanzprojekte der Berliner Philharmoniker und insbesondere auf den Film ‚Rhythm is it‘ im Jahr 2004 wurden auch in Deutschland gezielt neue Projekte im Sinne des Community Dance initiiert. Als Argumente für ihre Förderung wurden immer wieder die positiven sozialen Auswirkungen des Community Dance und insbesondere auch das besondere Potential für Integrationsförderung und interkulturelles Lernen ins Feld geführt. Die positiven Auswirkungen sind auch im deutschsprachigen Bereich inzwischen beschrieben und untersucht (vgl. u. a. Foik 2010; Meier 2007; Grüner/Haselbach/Salmon 2007). Festzuhalten ist, dass es sich nicht um Sozialarbeit mit künstlerischen Mitteln handelt, sondern dass für diese besondere Kunstform eine Verbindung von hohem künstlerischem Anspruch mit der Sensibilität für soziale Prozesse notwendig ist. „Both are important. They are so interlocked, they are not seperate. Of course, it is an art form, but it is also a cultural form, a cultural activity. If you see it only as social pedagogic work, you lose the point of it. On the other hand, if you think of it only as an art form, you can miss the social impact of what you are doing.” (Maldoom in Foik 2008: 21)
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Dass das Selbstbild nicht gleich dem Fremdbild von Community Dance ist, thematisiert McLorg ebenfalls in ihrem Vortrag: „I don’t know what it is like here, but we tend to look at dance in a linear way [indicates vertical, top-to bottom positions]: Here is the ballet, the élite, the best, the wonderful and where the funding goes; then we sort of seem to have the middle venues, middle-scale dance companies; then we have the smaller companies; and then, somewhere here at the bottom, we have Community Dance. And I think if we think of it in that way, we will always be in this place! So I think it would be quite good if we started thinking of it in this way [indicates horizontal positions]: Here we have ballet and here we have middle scale, here we have Community Dance we are all on the same line! We are all doing work, we are all doing dance, we are all in the dance community but just maybe decided to do it in a slightly different way. It would be lovely if we can get rid of the elitism.“ (Vgl. McLorg 2006)
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A BGRENZUNG
Das positive und integrative Potential des Community Dance war also – zumindest in Expertenkreisen – bekannt, als sich in Wien das neue Projekt „Tanz die Toleranz“ gründete. Das Team nutzte dieses Wissen und griff von Anfang an auf die Erfahrungen anderer Community Dance Projekte und Choreografen zurück: Man ließ sich nicht nur von Royston Maldoom beraten, der das Projekt seitdem wohlwollend begleitet und nach der Festspielwocheneröffnung auch eine weitere Produktion in Wien realisierte (2009 // EXIL), sondern suchte auch den Kontakt mit Organisationen in Deutschland und darüber hinaus, die ähnliche Ziele verfolgen (Making a Move // Grone Netzwerk Hamburg GmbH, ResiDance // Peter Gläsel Stiftung Detmold, Dance United Northern Ireland u. a.), um die Problemfelder der Arbeit möglichst gut zu kennen und Anfängerfehler zu vermeiden. So entstand eine Gemeinschaft von Institutionen, die sich nicht nur regelmäßig inhaltlich austauschen sondern auch Choreografen und Tänzer in den verschiedenen Ländern aktiv vernetzen. Darüber hinaus wurde das Projekt in den Jahren 2008 und 2009 von der erfahrenen Community Dance Choreografin und Dozentin Tamara McLorg in seiner Entwicklung begleitet und beraten. Gerade in dieser Phase wurde das Profil der Arbeit nochmals geschärft und auf die Bedürfnisse von „Tanz die Toleranz“ und seinen Kooperationspartner zugeschnitten. Durch die beständige Reflexion der Arbeit von innen und außen schaffte es „Tanz die Toleranz“ nicht nur, von Anfang an inhaltlich hochwertige Workshops anbieten zu können, sondern es wurde auch seinem zweiten Ziel gerecht: „Es ging und geht aber vor allem um die Etablierung einer Bewegung und um die Nachhaltigkeit des Projekts.“ (Binnenstein-Bachstein 2007: 2) „Tanz gibt den Menschen ein Gesicht, die sonst aufgrund von politischen Abstraktionen und Statistiken vernebelt werden und er gibt Menschen, die sonst nicht gehört werden, eine Stimme“ (Levri 2011)
Ulrike Levri baute von 2007 bis 2010 „Tanz die Toleranz“ als Projektleitung mit auf. Den Integrationscharakter des Projektes sieht sie darin, Menschen eine Möglichkeit zur Teilhabe zu geben, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Aufenthaltsstatus oder ihrer Sprachkenntnisse. Es ist ein Anliegen des Projektes, Menschen durch den Auftritt auf einer Bühne vor Publikum einen Platz zu geben sich zu zeigen. Ein Anliegen, das ihnen im Alltag oftmals verweigert wird. „Tanz die Toleranz“ richtet sich dabei explizit an Interessierte unterschiedlicher Herkunft: In- und Ausländer, Kindergartenkinder und Erwachsene, Arbeiter und Gymnasiasten. Das Projekt wendet sich an eine interkulturelle Gesellschaft und hat den Anspruch sowohl Begegnung zu ermöglichen als auch, wenn nötig, geschützte Räume zum Ausprobieren zu bieten.
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Das Programm lässt sich in unterschiedliche Teilbereiche gliedern: Pro Jahr realisiert Tanz die Toleranz ein großes Bühnenprojekt: im Jahr 2007 die Festspielwocheneröffnung, 2008 das Projekt „Quertanzen“, in dem Bildungseinrichtungen gemeinsam mit Sozialeinrichtungen aus ihrer Nachbarschaft an einer großen Aufführung teilnahmen, 2009 war es „Exil“ mit einem besonderen Fokus auf Asylbewerber und im Jahr 2010 ein ‚mixedability‘ Projekt für Menschen mit und ohne Behinderung. In diesen großen Projekten kooperiert „Tanz die Toleranz“ immer wieder mit Gruppen aus Sozial- und Bildungseinrichtungen und erreicht so beispielsweise über den Klassenverband neue Personenkreise. Zusätzlich zu den Großprojekten werden während der Ferien Intensivworkshops angeboten. Über das ganze Jahr hinweg gibt es offene fortlaufende Trainings, in denen die Teilnehmer in zehn Wochen gemeinsam eine Abschlusspräsentation erarbeiten. Dieses Angebot steht allen Personen, insbesondere aber auch den ehemaligen Teilnehmern der Großprojekte offen und ermöglicht es allen Interessierten auch nach der Teilnahme an einem Großprojekt bei Wunsch regelmäßig in gemischten Gruppen weiter zu tanzen. Um für all diese Angebote auch geeignete Choreografen auszubilden, bietet „Tanz die Toleranz“ Professional Workshops für Tänzer und Choreografen an, in denen diese die Grundprinzipien der Arbeit im Community Dance kennen lernen. Dies ist das einzige Angebot, für das ein geringer Teilnahmebetrag erhoben wird. Wie in dieser Arbeit konkret die Besuchergruppen angesprochen werden, soll hier anhand von drei Projekten veranschaulicht werden, unter anderem das älteste Angebot, das seit der Gründung von „Tanz die Toleranz“ existiert.
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ODER AUCH NICHT ?
Seit 2007 findet in der Brunnenpassage, dem „KunstSozialRaum“ der Caritas Wien, der sich neben „Tanz die Toleranz“ auf partizipative Kunstprojekte anderer Sparten spezialisiert hat, die Reihe Saturdance statt. Die Idee ist so einfach wie seit vier Jahren erfolgreich: Jeden Samstag treffen sich Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft, um gemeinsam eine neue Tanzrichtung kennen zu lernen. Das Spektrum ist breit und reicht von österreichischen Volkstänzen über Hip Hop, zeitgenössischem Tanz bis hin zu verschiedenen indischen und afrikanischen Tanzstilen. Vorkenntnisse sind genauso wenig nötig wie eine Teilnahmegebühr oder eine Anmeldung. Während draußen vor der Tür der Samstagsmarkt stattfindet, zieht drinnen nicht nur der Tanz, sondern oft auch die live dargebotene musikalische Begleitung das Interesse auf sich. Ein regelmäßiges, gut angenommenes und niedrigschwelliges Angebot, dessen Erfolg in der Vielfalt des Programms und der regelmäßigen Durchführung liegt. Doch trotz der bunten Mischung der Anleitenden und des Publikums werden hier natürlich nicht alle Menschen erreicht.
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Nicht nur bei Saturdance, sondern auch an den Proben für ein Sommerprojekt merkte das Projektteam, dass einige, vornehmlich muslimische Frauen zwar gerne in der Brunnenpassage vorbeikamen, sich allerdings nie dazu bewegen ließen, vor Ort mitzutanzen. Der Grund dafür war in persönlichen Gesprächen bald gefunden: der vom Markt leicht einsehbare Raum. So entstand 2009 das Projekt „WOMAN“: Ein achtwöchiger Workshop unter Leitung von Tamara McLorg, der nicht in der Brunnenpassage stattfand, sondern in einem einigen Frauen bereits bekannten Raum, einer Turnhalle, in der auch eine Frauenvolleyballgruppe spielte. Eine weitere Voraussetzung für die erfolgreiche Teilnahme der Zielgruppe Frauen war eine beständige Kinderbetreuung während der Proben, die in einem benachbarten Raum stattfand. Erst dadurch wurden die Teilnehmerinnen überzeugt, an drei wöchentlichen Terminen teilzunehmen. Die Kommunikation und Werbung fand auf Deutsch und Türkisch statt. Die Gruppe war wiederum gemischt und bestand aus muslimischen und nicht-muslimischen Frauen. Die abschließende Aufführung wurde ausschließlich auf Freunde der beteiligten Frauen begrenzt. Gleichzeitig wurde eine andere ungewöhnliche Zielgruppe identifiziert: Neben den muslimischen Frauen waren auch jugendliche Männer bei Saturdance und anderen Programmen unterrepräsentiert. So wurde mit der Förderung durch das Jahr des interkulturellen Dialogs der Choreograf Leroy Dias dos Santos für einen Intensivworkshop engagiert, die Teilnehmer tanzten auf der Wiener Abschlussveranstaltung des europäischen Jahrs des Interkulturellen Dialogs. Nachdem einige der Teilnehmer ebenfalls lieber in rein männlichen Gruppen trainierten, wurden in der Folge separat ausgeschriebene Wochenendworkshops mit verschiedenen ausschließlich männlichen Choreografen unterschiedlicher Tanzrichtungen veranstaltet. Auch diese wurden, wie alle Angebote außer Saturdance, von so genannten ‚sharings’, kurzen Abschlusspräsentationen abgeschlossen. Der Erfolg des Projektes liegt unter anderem an der beständigen Orientierung an den Bedürfnissen der Zielgruppe. Tatsache ist, dass die Projekte von „Tanz die Toleranz“ fast immer – auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel – von den anvisierten Zielgruppen angenommen werden. Dies ist in partizipativen Kunstprojekten, die von Hochkultureinrichtungen initiiert werden, nicht immer der Fall. Dies kann auch daran liegen, dass die Projekte von „Tanz die Toleranz“ immer auf die gewünschte Zielgruppe zugeschnitten werden und nicht für eine Projektidee nachträglich eine mehr oder weniger passende Gruppe gesucht wird. Die tatsächliche Vielfalt der Teilnehmergruppen spiegelt sich in den Publika der Projektpräsentationen von „Tanz die Toleranz“ wieder. Dabei bietet das Programm über verschiedene Abstufungen hinweg einmalige Projekte bis hin zu Kursen an, die neue Personen für „Tanz die Toleranz“ begeistern und ihnen die Möglichkeit geben weiter zu tanzen, beziehungsweise sich darüber hinausgehend in dem Projekt zu engagieren. Diese Möglichkeit zum langfristigen Engagement ist oft in einem von Pro-
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jektförderung geprägten Feld nicht realisierbar und ein wichtiger Punkt, um dauerhaft mit neuen Zielgruppen arbeiten zu können.
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Verschiedene Faktoren unterstützen die Vielheit der realisierten Projekte und damit den nachhaltigen Erfolg von „Tanz die Toleranz“: 1. Das Personal Der Erfolg eines Community-Projektes hängt immer auch davon ab, ob die Teilnehmer das Interesse an ihnen als authentisch einschätzen. Stellvertretend für die Institution ist es daher eine wichtige Aufgabe der Projektmitarbeiter, Kontaktpflege mit Multiplikatoren und Teilnehmenden zu betreiben. Neben einer kontinuierlichen Projektleitung von „Tanz die Toleranz“ arbeiten in den verschiedenen Projektteams Mitarbeiter mit unterschiedlichen Profilen, je nach Projektrahmen und dessen Anforderungen. Im Falle des oben erwähnten Frauenprojektes war das eine junge muslimische Frau, die vorher noch nicht mit der Caritas zusammengearbeitet hatte, aber die Projekte von „Tanz die Toleranz“ schätzte und gerne daran mitwirken wollte. Im Falle des Jungenprojektes war es ein ehemaliger Teilnehmer des ersten Workshops. Die Projektmitarbeiter sind auch Botschafter des Programms in den Communities, mit deren Hilfe es einfacher ist, die Kommunikation für die Projekte mehrsprachig zu führen. 2. Die Choreografen Gleichzeitig hat das Projekt bis jetzt immer mit erfahrenen Community Dance Choreografen gearbeitet. Deren Sensibilität im Umgang mit den Tänzern ist ein Schlüsselmoment für den Erfolg der Projekte und den Wunsch der Teilnehmer wiederzukommen. „Mit der richtigen Choreographin oder dem richtigen Choreographen steht und fällt ein Projekt. Innerhalb der ersten Minuten fällt die Entscheidung, ob er oder sie mit der Gruppe arbeiten kann oder nicht. Und damit auch, ob die Teilnehmer und Teilnehmerinnen wieder kommen.“ (Levri 2011)
Auch aus der Kenntnis heraus, wie wichtig die Rolle gut ausgebildeter Choreografen ist, die für die Arbeit mit Laien vorbereitet sind, bietet „Tanz die Toleranz“ Professional Workshops für Community Dance an, die von Tänzern und Choreografen Wiens wahrgenommen werden. So bemüht sich die Organisation um eine Professionalisierung des Feldes und um eine Verbreiterung des Angebots im Bereich Community Dance in der Stadt Wien und in Österreich.
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3. Die Vernetzung Die Vernetzung findet nicht nur mit ähnlich arbeitenden Institutionen im Inund Ausland, sondern vor allem auch mit verschiedenen Kultur-, Bildungsund Sozialeinrichtungen auf lokaler und nationaler Ebene statt. „Tanz die Toleranz“ plant Projekte in anderen Bundesländern Österreichs und unterstützt sie in Planung und Durchführung. Ebenso wie Tanz die Toleranz selbst am Anfang von der Expertise der anderen Institutionen gelernt hat, gibt es heute seine Erfahrungen an Dritte weiter. 4. Die institutionelle Verankerung Das Projekt hat sich von Anfang an mit den Anforderungen der Teilnehmer, aber auch durch externe professionelle Beratung weiterentwickelt. Der Wunsch und Wille dazuzulernen war stets vorhanden und wurde von der Leitung unterstützt. Diese institutionelle Verankerung ist nicht zu unterschätzen: Engagierte Mitarbeiter alleine können keinen nachhaltigen Erfolg sichern, wenn die Führungsetage die Ansprache von neuen Gruppen nicht zu ihrem Anliegen macht. Werner Binnenstein-Bachstein ist seit 2008 einer der beiden Geschäftsführer der Caritas und hat an dem Projekt seit seiner Gründung festgehalten. 5. Mut zu Innovation Nun mag man sagen, für die Caritas als große soziale Organisation biete es sich an, solche Projekte mit Innovationscharakter anzuschieben. Der Sozialbereich beschäftigt sich schon sehr viel länger als der Kulturbereich mit der interkulturellen Gesellschaft und ihren Herausforderungen und muss sich selbst auch immer wieder neu in diesem Aufgabengebiet definieren. Doch nach wie vor tun sich alle Institutionen mit dem Wandel liebgewordener Strukturen schwer. Auch und gerade im Sozialbereich gehört Mut zur Innovation und zum radikalen Umdenken dazu. Die Kultureinrichtungen tun gut daran, sich davon inspirieren zu lassen. Vielleicht stellt „Tanz die Toleranz“ nicht die vollständige und systematische interkulturelle Öffnung einer Institution dar. Aber es zeigt viele Schritte in die richtige Richtung. Eine Heterotopie, die nicht nur unterstützenssondern auch nachahmenswert ist.
L ITERATUR Binnenstein-Bachstein, Werner (2007): Idee Tanz die Toleranz, Wien (unveröffentlicht). Foik, Jovana (2008): Tanz zwischen Kunst und Vermittlung, München: Kopaed.
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Grüner, Micaela/Haselbach, Barbara/Salmon, Shirley (Hg.) (2007): Im Dialog: Elementare Musik- und Tanzpädagogik im Interdisziplinären Kontext, Mainz: Schott. Levri, Ulrike (2011): Interview mit Carolin Berendts am 18.02.2011. McLorg, Tamara (2006): The History of Community Dance in the UK, Vortrag beim Laboratorium CAN DO CAN DANCE am 28. August 2006, http://www.candocandance.de/history.html [20.02.2011]. Meier, Marion (2007): Zeitsprung – Vier Generationen tanzen vier Jahreszeiten: Ein Projekt vom Tanztheater Bielefeld, Bielefeld: Kamphausen. Terkessidis, Mark (2010): Interkultur, Berlin: Suhrkamp.
H OMEPAGES http://www.brunnenpassage.at http://www.candocandance.de http://www.caritas-wien.at http://www.communitydance.org.uk/metadot/index.pl http://www.danceunitedni.com http://www.makingamove.de http://www.pg-stiftung.net/residance.html http://www.tanzdietoleranz.at
Theater als Angebot interkultureller Spielpläne
„Jeder macht das mal auf seine Art und Weise“ Ansätze und Herausforderungen einer interkulturellen Spielplangestaltung C HRISTINA H OLTHAUS Ob internationale Koproduktionen, multikulturelle Ensembles, Inszenierungen ausländischer Regisseure oder Projekte, die das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft zum Thema haben – Ansätze an deutschen Theatern, sich auf die eine oder andere Weise mit interkulturellen Fragestellungen auseinanderzusetzen, sind derzeit vielfältig. Vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren zu beobachtenden Zunahme entsprechender kulturpolitischer Förderprogramme, der durch diverse Studien begünstigten Entdeckung der „Zielgruppe Migranten“ und der enormen politischen Brisanz, die Stichworten wie Multikulturalität und Integration nicht erst seit Ende August letzten Jahres zugestanden werden muss, drängt sich dabei mitunter das Gefühl einer Modeerscheinung auf. Ein Teil des Problems liegt in der großen Unklarheit darüber, was es eigentlich heißt, interkulturelles Theater zu machen beziehungsweise ein Haus nachhaltig interkulturell zu öffnen. Gefordert wird eine „konsequente, konzeptuelle Veränderung in Bezug auf das Ensemble, das Publikum und auch die inhaltliche Agenda“ (Terkessidis 2010: 185), wie diese Veränderungen jedoch praktisch aussehen können, wird selten ausgeführt. Mit welchen Ideen und Konzepten reagieren Theater also etwa inhaltlich auf den maßgeblich durch Migration geprägten demografischen Wandel? Wann ist ein Stück interkulturell und was zeichnet einen interkulturellen Spielplan aus? Welche Herausforderungen stellen sich in einem Prozess, in dem Vertrautes in Frage gestellt, Routinen aufgebrochen und Menschen und Kunst mit unterschiedlichsten kulturellen Bezügen zusammengebracht werden sollen? Antworten hierauf können am besten diejenigen geben, die einen solchen Prozess direkt mitgestalten. Daher wurden im Herbst 2010 acht Gespräche mit Dramaturgen und künstlerischen Leitern verschiedener Theater in Nordrhein-Westfalen geführt.
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I NTERKULTURELLE A USRICHTUNG Am Beginn eines jeden Nachdenkens über Möglichkeiten einer interkulturellen Spielplangestaltung steht, so ein zentrales Ergebnis aus diesen Gesprächen, die Bewusstwerdung über das eigene Leitbild und die Funktionen, die ein Haus im Kern erfüllen will. Die Frage „Womit beschäftigst du dich eigentlich, Theater?“ (Laue 2010) ist jedoch keine leicht beantwortbare: Debatten rund um „Die Zukunft des deutschen Theaters“ (vgl. Burmeister 2005) waren in der Vergangenheit zwar „hochdramatisch“ (ebd.: 7), brachten jedoch selten klare Ergebnisse, an denen sich Theater in ihrer Weiterentwicklung orientieren könnten. Kulturpolitik kann und sollte daher ein Bewusstsein für unsere „bunter“ werdende Gesellschaft schaffen und Instrumente bereithalten, welche die Weichen für notwendige Veränderungen stellen – wobei nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch fundierte Forschung, bessere Kommunikationsforen und weniger Druck hinsichtlich quantitativer Erträge von den Gesprächspartnern als wünschenswerte kulturpolitische Beiträge genannt wurden. Die Bestimmung eines klaren Profils muss jedoch von den Theatern selbst ausgehen. Dabei ist die Beschäftigung mit Themen wie Globalisierung, Migration und Individualisierungsprozessen und deren Bedeutung für die eigene Arbeit kaum zu umgehen, wie folgende Beispiele illustrieren: Das Theater als Ort der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart, „an dem individuelle, gesellschaftliche und politische Konflikte und Entwicklungen, Missbräuche und Niedergänge öffentlich thematisiert werden“ (Arbeitsgruppe „Zukunft von Theater und Oper in Deutschland“ 2004: 344), als kulturelles Zentrum einer Stadt oder Region, welches das Leben dort selbst zum Thema macht, wird nicht umhinkommen anzuerkennen, dass Multikulturalität ein grundlegendes Wesensmerkmal unserer Gesellschaft beschreibt, interkulturelle Begegnungen täglich und unwillkürlich stattfinden und Kultur kein in sich homogenes, starres Gebilde ist, sondern sich durch ständige Entwicklung und fließende Übergänge und Überlagerungen auszeichnet. Das Theater als Ort, „an dem nach dem Sinn des Lebens, nach Werten und Orientierungen für das Zusammenleben gefragt und gesucht wird“ (ebd.), greift die Spannungen, die solche Entwicklungsprozesse bergen, auf und dient so als Raum für Integration im ursprünglichen Sinne des Wortes – der (Wieder-)Herstellung eines Ganzen – indem es „das Zusammenspiel der Elemente dieses Ganzen“ (Beyersdörfer 2004: 244) reflektiert. Und auch das Theater als Ort, an dem frei von jeglicher Zweckorientierung darstellende Kunst produziert, präsentiert und am Leben erhalten wird, profitiert von neuen Impulsen, der Konfrontation mit dem Unbekannten, der Verbindung von bislang Getrenntem. Statt mit dem Verweis auf ästhetische Maßstäbe fremdkulturelle Einflüsse auszugrenzen (vgl. Balme 2007: 20) erscheint es daher weit sinnvoller, die Vielfalt, die hier vorgefunden werden kann, als Potenzial zu nutzen und aktiv den Austausch mit
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Kunstschaffenden zu suchen, die schon qua ihrer Biografie einen anderen Blick auf die Welt haben und so neue Perspektiven aufzeigen können. Kulturelle Vielfalt erweist sich somit als grundlegendes Moment einer jeden Zukunftsperspektive für Theater. Was verstehen die Verantwortlichen aber unter dem so viel genutzten Begriff Interkulturalität im Kontext ihrer Arbeit? Interkulturelles Theater als Auseinandersetzung mit und Übernahme von aus anderen kulturellen Kontexten stammenden Theaterformen, Elementen und Stilrichtungen ist historisch gesehen schließlich kein neues Phänomen (vgl. Regus 2009: 9), der grenzüberschreitende Charakter von Kunst selbstverständlich. Ein entscheidender Grundsatz derzeitiger Ansätze liegt jedoch in dem Versuch, tatsächlich einen Dialog zu führen, und zwar möglichst auf Augenhöhe: Sei es in der internationalen Zusammenarbeit, in der es darum geht, „sich mit dem anderen auseinanderzusetzen, zu verstehen, wo er herkommt, gleichzeitig auch mit fremden Augen auf das zu schauen, was einen selber ausmacht“, und so letztlich „Sehweisen zu verändern“ (Hemke 2010), oder aber in der Auseinandersetzung mit der Einwanderungsgesellschaft, einen „paternalistische[n] Umgang mit dem Thema Migration und Migrantenkulturen“ (Thiele 2010) vermeidend als „vielstimmige, vielsprachige und vielschichtige Verständigung einer Gesellschaft über sich selbst“ (Laue/Reich/Weber 2010: 46). Nicht nur zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Hintergründe, auch zwischen unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen und Ausdrucksformen sollen Verbindungen hergestellt, Zwischenräume erforscht und neue Perspektiven ermöglicht werden. In der konkreten Ausgestaltung des Spielplans zeigen sich trotz ähnlicher theoretischer Verständnisse von Interkulturalität im Theater große Unterschiede – lediglich die Relevanz des Themas wurde von allen Befragten einstimmig unterstrichen. Von vielen Theatern werden interkulturelle Fragestellungen zunächst einmal thematisch in einzelnen Inszenierungen aufgegriffen: Konzepte von Heimat, der Umgang mit dem Fremden, Prozesse von Aus- und Abgrenzung, die Bedeutung der Einwanderung für eine bestimmte Region sind nur einige Beispiele für die Vielfalt an Themen, die dem Feld Interkultur im weitesten Sinne zugeordnet werden und derzeit eine zentrale Stellung in zahlreichen Spielplänen einnehmen, wenn sie nicht sogar direkt im Spielzeitmotto aufgegriffen werden. Einige Theater gehen etwa mit internationalen Koproduktionen oder partizipativen Projekten – die unterschiedlichen Ansätze werden nachfolgend im Einzelnen betrachtet – einen Schritt weiter: Interkulturelle Begegnungen werden hier nicht nur thematisiert, sondern die Erarbeitung der Inszenierungen erfolgt selbst in einem Diskurs, „der etwas mit unterschiedlichen Herkünften und unterschiedlichen kulturellen Einflüssen zu tun hat […]. Was Sie dann als Premiere sehen, ist eigentlich schon ein Ergebnis eines […] interkulturellen Diskurses.“ (Laue 2010) In den wenigsten Fällen ist Interkulturalität jedoch bereits Grundlage des künstlerischen Gesamtkonzepts, sodass die eben genannten Produktionen nicht nur für sich stehend innerhalb einer Bandbreite von Themen die
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Interessen einer bestimmten Zielgruppe zu bedienen versuchen, sondern vor dem Hintergrund der je spezifischen Sichtweise auf Dinge, die in ihnen offenbar wird, untereinander und mit einem Publikum, das im besten Falle ebenfalls die in der Region vorzufindende Vielfalt kultureller und sozialer Zugehörigkeiten abbildet, in einen interkulturellen Dialog treten.
I NTERNATIONALER A USTAUSCH Ein möglicher Weg dorthin führt über den Austausch mit Theatern außerhalb Deutschlands in Form von Gastspielen. Doch werden diese nicht selten als Instrument des Audience Development missverstanden: Warum nicht eine polnische, türkische oder russische Theatergruppe einladen, um eine entsprechend nach ethnischen Gesichtspunkten definierte Zielgruppe zu erreichen? Legitim sind solche Überlegungen allemal, wenn auch der Erfolg einer Zielgruppenansprache zweifelhaft scheint, bei der ein genuines Interesse an einer Theatergruppe allein aufgrund des Merkmals der gleichen Herkunft – und sei diese auch nur durch die Herkunft der Eltern oder Großeltern „übertragen“ – vorausgesetzt wird. Ein interkulturelles Moment ist in dieser Vorgehensweise jedoch kaum erkennbar. Das wäre anders, wenn der Ansatzpunkt in der Kunst liegt, die Motivation für den Austausch also auf die künstlerische Wertschätzung beider Seiten für den jeweils anderen zurückzuführen ist und eine tatsächliche inhaltliche Auseinandersetzung mit der jeweiligen Inszenierung stattfindet – im Zusammenspiel mit eigenen Produktionen und unter Einbezug des Publikums. Einen Dialog auf Augenhöhe zu führen stellt dennoch eine Herausforderung dar: Die Zugänge zum globalen Theatermarkt werden weitgehend durch westliche Institutionen reguliert (vgl. Regus 2009: 69) und der künstlerische Austausch kann nie völlig unabhängig von politischen Machtverhältnissen betrachtet werden, denn „Auslassungen, Hervorhebungen, Stereotypisierungen, De- und Rekontextualisierungen, Exotisierungen, Ethnisierungen und Differenzierungen sind Repräsentationsweisen, die die Wahrnehmung der Anderen prägen und auf das Engste mit gesellschaftlichen Dominanzstrukturen zusammenhängen.“ (Ebd.: 74)
Es gilt also zusätzlich, den interkulturellen Austausch in seinen Bedingungen und Wirkungen zu reflektieren. Das Theater an der Ruhr, als Reisetheater gegründet und nicht zuletzt durch die seit 1985 jährlich stattfindende Reihe „Theaterlandschaften“ überregional bekannt, bietet hierfür einige Anregungen: Zum einen erfolgen Gastspieleinladungen stets in dem Bewusstsein, dass die Isolierung eines Stückes aus seinem ursprünglichen politischen, kulturellen und sozialen Zusammenhang und seine Übertragung in einen gänzlich anderen zu nicht immer berechenbaren Missverständnissen in der Rezeption führen kann. Die Frage „Wie kann das hier rezipiert werden?“ (Hemke 2010) ist daher von Anfang an immer eine zentrale. Matinee-Veranstaltungen sowie Einführun-
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gen vor und Publikumsdiskussionen nach jeder Vorstellung stellen ein gewisses Maß an Kontextwahrung und Diskussionsmöglichkeiten für das Publikum sicher. Zum anderen ist der Idee der „Theaterlandschaften“ die Präsentation einer Bandbreite verschiedener Produktionen aus einem Land oder Kulturkreis immanent, sodass die vorhandene Heterogenität zumindest erahnt werden kann. Der von Regus beobachteten Tendenz zu Folklorisierung, die sie in dem Versuch begründet sieht, „die Phantasien des multikulturalistisch gestimmten Mainstream [zu] bedienen“ (Regus 2009: 74), wird aktiv entgegengewirkt: „Generell gesehen versuchen wir Blickrichtungen […] zu ändern, das heißt wir versuchen gerade nicht die Dinge einzuladen, die die Leute erwarten. […] Wir versuchen immer das einzuladen, was verblüfft.“ (Hemke 2010) Dennoch spiegeln sich auch hier Machtverhältnisse, die den Wunsch eines gleichberechtigten Austausches allein dem Interesse der Kunst unterstehend als Utopie entlarven. Finanzielle und infrastrukturelle Hürden stehen bisher etwa einer Realisierung eigener Inszenierungen im subsaharischen Afrika im Wege, Förderungen durch Institutionen wie das Goethe-Institut können die durch den enormen logistischen Aufwand entstehenden Kosten nur begrenzt auffangen. Mit wem letztlich ein tatsächlicher Dialog durch den gegenseitigen Austausch von Gastspielen geführt werden kann, hängt somit häufig von finanziellen Ressourcen oder der Unterstützung durch Dritte ab – wie er geführt wird, liegt jedoch in der Verantwortung der Theater. Eine andere Art des interkulturellen Dialogs ergibt sich aus der Verpflichtung ausländischer Regisseure, die einen neuen Blick auf altbekannte literarische Stoffe werfen, zusammen mit den hiesigen Ensembles ungewohnte Formen des Theaterspielens erproben, ihre durch andere kulturelle Kontexte geprägte Sicht auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges offenlegen oder Darsteller unterschiedlicher Herkunft zusammenbringen, um die daraus entstehende Dynamik für eine künstlerische Improvisation zu nutzen. Neben den in den Interviews geschilderten positiven Erfahrungen hinsichtlich spannender, inspirierender und allgemein bereichernder Erarbeitungsprozesse und Ergebnisse steht eine Reihe ebenfalls nicht unerwähnt gebliebener Hürden, die einmal mehr Zeugnis ablegen davon, dass der Großteil deutscher Theater noch ganz am Anfang einer interkulturellen Öffnung steht und die neuen Wege, die sie einschlagen, die Bereitschaft voraussetzen, eigene Konventionen zu hinterfragen und Kompromisse einzugehen. Die Schwierigkeiten liegen vor allem in der Kommunikation und in den unterschiedlichen Verständnissen davon, welche ästhetischen und praktischen Grundlagen der Theaterarbeit zugrunde liegen. So können zwar Übersetzer engagiert oder die in der Regel gemeinsame Fremdsprache Englisch genutzt werden, beides birgt jedoch – wie mehrere der Befragten angaben – eine sehr viel höhere Anzahl potenzieller Missverständnisse als die direkte Kommunikation in der Muttersprache. Auch auf einer nichtsprachlichen
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Ebene erschweren Differenzen in den Kommunikationsstilen die Verständigung. Im Hinblick auf die inhaltliche Arbeit spiegeln sich die unterschiedlichen Theatertraditionen etwa in den bei den Beteiligten erkennbaren Implikationen „guten“ Theaterspielens. Und auch die starren Strukturen insbesondere der großen Stadttheater behindern die Bestrebungen, neue Formen der Theaterarbeit kennen zu lernen. Das Ensemble- und Repertoireprinzip mit seiner üblichen Probenzeit von sechs bis acht Wochen und der gleichzeitigen Beschäftigung der Darsteller in mehreren Produktionen muss dann etwa – so im Schauspielhaus Bochum – mit den üblicherweise sechs Monate andauernden Improvisationsphasen eines Fadhel Jaibi oder den Erwartungen Mahir Günsirays, der die Anwesenheit aller Beteiligten bei jeder Probe gewöhnt ist, in Einklang gebracht werden. In der Auseinandersetzung mit dem Standpunkt des jeweils anderen, der gegenseitigen Annäherung und der Anstrengung, aktiv neue Wege des Zusammenspiels auszuloten, öffnet sich das Theater dann in einem ersten Schritt selbst interkulturellen Begegnungen und Integrationsprozessen, die längst Thema vieler Spielpläne sind. Patentrezepte für den Umgang mit den beschriebenen Herausforderungen gibt es nicht, vielmehr müssen Erfahrungen gesammelt und für die künftige Arbeit genutzt werden, wie Thomas Laue dies beispielhaft für das Schauspielhaus Bochum beschreibt: „Wir haben gelernt, dass wir in manchen Produktionen mehr Zeit zur Verfügung stellen müssen. […] Wir haben gemerkt, dass wir möglicherweise zu viel produzieren. […] Wir fangen an, Systeme zu entwickeln, wie wir die Kommunikation verbessern können. […] Und gleichzeitig versuchen wir, Kontinuitäten herzustellen.“ (Laue 2010)
P ARTIZIPATIVE P RODUKTIONEN Doch nicht nur der Austausch mit Theatern und Künstlern aus anderen nationalen und kulturellen Kontexten verspricht neue künstlerische Impulse, eine interkulturelle Öffnung und die Weiterentwicklung des Theaters. Auch die Partizipation der Bevölkerung oder bestimmter Bevölkerungsgruppen an künstlerischen Prozessen birgt ein solches Potenzial. Von Interviews, die authentisches Material als Basis für die künstlerische Auseinandersetzung mit politisch brisanten Themen generieren, bis hin zu Produktionen, in denen außerhalb des Theaters stehende Personen nicht nur das Stück selbst mitentwickeln, sondern letztlich auch als Darsteller auf der Bühne stehen, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Beteiligung. Im Gegensatz zu den in kultureller Hinsicht häufig noch sehr einseitig besetzten Ensembles bilden die Gruppen der an diesen Projekten Beteiligten die Multikulturalität unserer Gesellschaft in der Regel sehr viel selbstverständlicher ab. Gleiches gilt für das Publikum solcher Inszenierungen, das sich in seiner Zusammensetzung deutlich von dem unterscheidet, welches an
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den übrigen Abenden im Theater vorzufinden ist und vorwiegend bildungsbürgerlichen Kreisen entstammt. Und auch thematisch ist das Interkulturelle in der Regel präsent, werden meist zumindest Bezüge zur Lebenswelt der Beteiligten hergestellt, wenn diese nicht im Zentrum der Inszenierung stehen. Vorbehalte gegenüber Produktionen solcher Art stehen in der Regel in Zusammenhang mit dem Verdacht einer Indienstnahme hochkultureller Institutionen für soziale Zielsetzungen. Diese stehe ihrem künstlerischen Anspruch entgegen und müsse selbst in sozialer Hinsicht letztlich scheitern, da „das Theater als Hilfstruppe der Sozialpädagogik auf einem Feld dilettiert, auf dem es weder genuin zuständig noch […] substantiell befähigt ist“ (Tscholl 2010: 20). Der Einwand ist berechtigt, verliert jedoch in dem Moment seine Argumentationsgrundlage, in dem Motivation und Ausgangspunkt der Produktionen nicht in der sozialen Arbeit oder Pädagogik liegen, sondern in der Kunst, in der Suche nach innovativen Ästhetiken und neuen Blickrichtungen. Der Anspruch an die Produktion entspricht dann dem nicht-partizipativer Inszenierungen: „Immer auf der Suche nach relevanten Themen und interessanten Formensprachen, immer mit den besten Künstlern auf diesem Gebiet, immer mit den professionellen Arbeitsbedingungen, die ein Theater zu bieten hat, und immer auch mit der Gefahr des Scheiterns und in Erwartung einer öffentlichen Kritik, die nicht den distanzierten ‚Gut-gemeint-Blick‘ auf die Ergebnisse wirft, sondern sich ernsthaft mit neuen Themen und Formsprachen auseinander setzt.“ (Ebd.: 22)
Die Gefahr des Scheiterns und das Potenzial der Innovation bilden zwei Seiten derselben Medaille, die sich aus dem Charakteristikum der Ergebnisoffenheit ableiten und eine hohe Flexibilität von den Verantwortlichen einfordern. Als ebenso essenziell erscheint jedoch ein gewisses Maß an Sozialkompetenz – denn wenn die Wirkungen des kreativen Prozesses auf die Teilnehmenden auch nicht Leitmotiv sind, sondern zu Begleiterscheinungen werden, kann dies die Theater dennoch nicht von einer grundlegenden Verantwortung gegenüber denjenigen entbinden, die sich selbst und ihre Geschichten dem Theater anvertrauen. So müssen ebendiese Wirkungen reflektiert und mögliche Konsequenzen jenseits künstlerischer Fragestellungen mitbedacht werden. Die Perspektiven, die partizipative Produktionen eröffnen, legen jedoch nahe, dass es sich diesen Herausforderungen zu stellen lohnt. Das gilt einerseits hinsichtlich der beschriebenen ästhetischen Weiterentwicklung und andererseits, „weil man auch etwas wieder zurückbringt ins Theater, was man in der Stadt vorgefunden hat und dadurch das Theater in jedem Sinne öffnet, auf der Bühne, durch Beteiligung an kreativen Prozessen [… und da man] Zuschauer anders hinzugewinnt, weil plötzlich andere Geschichten auf der Bühne erzählt werden.“ (Laue 2010)
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In welcher Form der Umgang mit unterschiedlichen Herkünften und Kulturkreisen auch erfolgt, die Frage, wie eine Kunst wie die des Theaters, für die Sprache so zentral ist, Fremdsprachigkeit handhabt, wird früher oder später in den Fokus rücken. Wenn eine mehrstündige Oper in italienischer Sprache auch selbstverständlich ist und etwa Kinos immer mehr dazu übergehen, Filme in ihrer Originalsprache mit deutschen Untertiteln zu zeigen, so herrscht bei den interviewten Theatermachern längst noch kein Konsens hinsichtlich der Abkehr vom „Primat der reinen deutschen (Bühnen-)Sprache“ (Bicker 2009: 30). Zum einen gibt es Bedenken, inwieweit das bestehende Publikum fremdsprachige Inszenierungen akzeptieren würde – wenn doch zugleich nicht von der Erschließung neuer Besuchergruppen durch entsprechende Entwicklungen ausgegangen werden könne. Zum anderen baue man durch eine fremde Sprache eine Distanz zwischen Darstellern und Zuschauern auf, die es gerade abzubauen gelte. So wird Mehrsprachigkeit von einem Großteil der Theater höchstens als bewusstes Stilmittel in einzelnen, inhaltlich dazu passenden Produktionen eingesetzt, wenn etwa Verständigungsprobleme auf sprachlicher Ebene selbst thematisiert werden. Doch ist dem derzeitigen Theaterpublikum tatsächlich nicht genügend Weltoffenheit zuzutrauen, sich nicht nur auf neue Theatersprachen, sondern auch auf Fremdsprachen im Theater einzulassen? „Man braucht eine gewisse Offenheit dafür, aber man braucht generell, wenn man ins Theater geht, eine gewisse Offenheit. Dann funktioniert das schon.“ (Hemke 2010) Nicht zuletzt der Erfolg internationaler Theaterfestivals scheint diese Ansicht zu bekräftigen. Und auch das Potenzial des Theaters, das schon in den 1970er Jahren Regisseure wie Peter Brook oder Tadashi Suzuki mit der Idee einer theatralen Universalsprache zu erforschen und nutzen versuchten (vgl. Regus 2009: 22) und das heute hinsichtlich der alltäglich gewordenen Notwendigkeit der Verständigung über nationale Grenzen hinweg bedeutsamer denn je scheint, nämlich sich der Barriere der Sprache zu stellen und sie gleichzeitig zu überwinden, spricht gegen eine kategorische Ablehnung multilingualer Spielpläne. In den Worten Roberto Ciullis: „Theater hat die Möglichkeit, die Begrenztheit der Sprache zu transzendieren. Der Schmerz, die Freue, die Lust, der Kummer, die Hoffnung, die Trauer, egal welche Affekte oder Emotionen sind nie an Sprache gebunden. Wenn wir einen wirklichen Schauspieler sehen, erleben wir, daß wir mit ihm kommunizieren, ohne unbedingt zu verstehen, was er sagt.“ (Ciulli zit. n. Hiß 2002: 31)
Dennoch stellt auch das Theater an der Ruhr Instrumente zur Verfügung, die „den Drang des Menschen zu verstehen“ (Hemke 2010) auf der gewohnten sprachlichen Ebene stillen. Solche Übersetzungsleistungen und das technische Equipment, sei es für die Einblendung von Übertiteln oder den Einsatz von Simultanübersetzern, bedürfen selbstverständlich personeller und finan-
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zieller Ressourcen, die nicht von allen Häusern ohne Weiteres getragen werden können. Letztlich ergibt sich die Frage, inwiefern ein Spielplan mehrsprachig gestaltet wird, wiederum aus dessen Gesamtkonzeption: Zwar ist nicht von einer grundsätzlichen Abkehr des Publikums auszugehen, wenn im Rahmen eines internationalen Austauschs von Produktionen oder bei Inszenierungen mit ausländischen Ensembles diese in der jeweiligen Muttersprache oder bilingual gezeigt werden. Gleichzeitig muss aber auch hier der Ausgangspunkt in der Kunst liegen, scheint es doch wenig sinnvoll, rein aus Überlegungen des Marketings heraus fremdsprachige Angebote für ein potenzielles Publikum mit dem entsprechenden muttersprachlichen Hintergrund zu konzipieren und so tatsächlich eher trennend als verbindend zu agieren.
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Erstens: Es gibt nicht den einen, richtigen Weg, den Theater einschlagen müssen, um mit dem Attribut „interkulturell“ ausgezeichnet werden zu können. „Das interkulturelle Handlungskonzept [kann] immer nur vom Zentrum her kommen“ (Laue 2010) und dieses Zentrum definiert sich durch das spezifische Selbstverständnis eines Theaters, seine Geschichte, seinen Bezug zur der Region, in der es sich befindet, und nicht zuletzt durch die Menschen, die das Theater auf und hinter der Bühne durch ihre tägliche Arbeit prägen. So ist der Ausgangspunkt für jedes Theater ein anderer, ebenso wie die Zielvorstellungen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen variieren. Ein Blick auf bislang verwirklichte Ansätze unterschiedlicher Theater kann zwar wertvolle Impulse liefern und womöglich die ein oder andere Hürde überwinden helfen, letztlich gilt es jedoch, sich einem Prozess zu öffnen, bei dem eigene Erfahrungen gesammelt, Herausforderungen wie die beschriebenen angenommen und Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden. Zweitens: Die allermeisten Theater stehen – nach einer langen Periode der „eurozentristischen Selbstbespiegelungshaltung“ (Balme 2007: 23) – ganz am Anfang dieses Prozesses, sie „probieren jetzt mal die verschiedensten Rezepte aus. Jeder macht das mal auf seine Art und Weise.“ (Hemke 2010) Einzelne Projekte, die das Potenzial interkultureller Begegnungen zu nutzen versuchen, können durchaus ein Einstieg sein, liegt die Motivation eines Theaters aber allein darin, damit allgemeinen Trends nachzukommen, wird dieses schnell an seine Grenzen stoßen: Die aufzubringenden Ressourcen – allen voran Geld und Zeit – übersteigen schnell den offenkundigen Gewinn, wird dieser nicht auch in der Möglichkeit gesehen, „sich in der Begegnung selbst in Frage zu stellen“ (Bicker 2009: 30) und langfristig Strukturen und Inhalte zu überdenken und weiterzuentwickeln. Ist das Ziel hingegen eine konsequente interkulturelle Ausrichtung, stellt Interkulturalität wiederum keinen separat zu finanzierenden Sonderbereich mehr dar, son-
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dern muss zu einem selbstverständlichen Moment im Zentrum der Theaterarbeit werden. Und drittens: Ein Haus interkulturell zu öffnen bedeutet nicht nur, entsprechende Kunst zu präsentieren. Als Querschnittsaufgabe verstanden muss auch über den Abbau von Barrieren nachgedacht werden, die den derzeitigen Mangel kultureller Vielfalt in den meisten Ensembles sowie im Publikum zu erklären vermögen. Sich endgültig von Besetzungsklischees zu verabschieden ist dabei für das Ziel, in der Zusammenstellung des Ensembles gesellschaftliche Realitäten zu reflektieren, ebenso essenziell, wie es für die Orientierung an einem kulturell diversen Publikum etwa die Weiterentwicklung von Distributionswegen, von Instrumenten zur Ansprache von NichtBesuchern und von Werbung und Öffentlichkeitsarbeit in Richtung einer größeren Varietät in Inhalt und Verbreitungsmedien sind. Ist ein Theater in diesem Sinne inhaltlich, personell, konzeptuell und in der Kommunikation nach außen interkulturell, kann es mehr als nur neue Besucher gewinnen: Es kann eine ganz neue Form gesellschaftlicher Relevanz erlangen.
L ITERATUR Arbeitsgruppe „Zukunft von Theater und Oper in Deutschland“ (2004): „Zwischenbericht (11. Dezember 2002)“, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2004. Thema: Theaterdebatte, Essen: Klartext, S. 343-352. Balme, Christopher (2007): „Deutsches Welttheater?“, in: Die Deutsche Bühne, Jg. 78, H. 5, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 20-23. Beyersdörfer, Frank (2004): Multikulturelle Gesellschaft. Begriffe, Phänomene, Verhaltensregeln, Münster: LIT-Verlag. Bicker, Björn (2009): „Theater als Parallelgesellschaft? Über das Verhältnis von Theater und Migration“, in: Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hg.), No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld: Transcript, S. 27-34. Burmeister, Hans-Peter (2005): „Die Zukunft des deutschen Theaters. 48. Loccumer Kulturpolitisches Kolloqium“, in: Ders. (Hg.): ‚Und jedermann erwartet sich ein Fest.‘ Die Zukunft des deutschen Theaters. 48. Loccumer Kulturpolitisches Kolloquium, Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum, S. 7-10. Hemke, Rolf (2010): Verwaltungsleiter und Dramaturg für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing am Theater an der Ruhr in einem Gespräch mit Christine Holthaus am 19.10.2010 in Mülheim. Hiß, Guido (2002): „Aspekte der Mülheimer Dramaturgie“, in: Theater an der Ruhr (Hg.), Zwanzig Jahre Theater an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr: Theater, S. 27-31. Laue, Thomas (2010): Chefdramaturg am Schauspielhaus Bochum in einem Gespräch mit Christine Holthaus am 05.11.2010 in Bochum.
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Laue, Thomas/Reich, Sabine/Weber, Anselm (2010): „Lotte Kotte lebt hier nicht mehr. Das Theater muss wieder ankommen in einer Gesellschaft, die bestimmt ist von vielfältigen Biografien, Kulturen, Lebensentwürfen.“, in: Theater heute 8/9 2010, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 4546. Regus, Christine (2009): Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik – Politik – Postkolonialismus, Bielefeld: Transcript. Terkessidis, Mark (2010): Interkultur, Berlin: Suhrkamp. Thiele, Rita (2010): Chefdramaturgin und stellvertretende Intendantin am Schauspiel Köln in einem Gespräch mit Christine Holthaus am 03.11.2010 in Köln. Tscholl, Miriam (2010): „Sozial-ästhetische Grenzgänge“, in: Die Deutsche Bühne, Jg. 81, H. 10, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 20-23.
„Mir ist egal, woher Du kommst, denn wir spielen ohnehin andere Rollen“ Interkultureller Dialog am Dschungel Wien K EVIN L EPPEK Das Theater mit seiner Geschichte, Kulturtradition und Ästhetik kann den interkulturellen Prozess auf dem Weg zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung entscheidend beflügeln. Sowohl Theaterstücke als auch eigenes Spiel vermitteln neue Perspektiven, die eigenes Empfinden und Handeln überdenken und reflektieren lassen und in einen neuen Bezug stellen. In diesem Sinne versteht sich das österreichische „Theaterhaus für junges Publikum – Dschungel Wien“ als offenes Zentrum für Kinder, Jugendliche, Familien und junge Erwachsene. Als Drehscheibe für Kunst und Kultur sowie als Ort der interkulturellen Begegnung stellt es sich seit Beginn der künstlerisch-ästhetischen wie pädagogischen Aufgabe, interkulturelles Denken zu entfalten.1
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Die Menschen der Stadt Wien hatten eine Vision – den Wunsch nach einem eigenen freien Theaterhaus für junges Publikum. Nach einer langjährigen Forderung der Interessensgemeinschaft Freie Theaterarbeit ging dieser Traum in Erfüllung und so entstand am 1. Oktober 2004 das Theaterhaus für Kinder und Jugendliche – Dschungel Wien. Dieses Haus befindet sich nunmehr im MuseumsQuartier in Wien (MQ) auf dem Areal des ehemaligen Residenzkinos. Auf einer Gesamtfläche von ca. 1000 Quadratmetern finden sich zwei Bühnen mit gesamt 290 Sitzplätzen, ein Café, sowie ein Foyer, welches sich als sozialer Treffpunkt im MQ etabliert hat. Der Direktor und künstlerische Leiter ist seit der Eröffnung Stephan Rabl. Das gesellschaftli-
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Der folgende Text basiert auf meiner Forschungsarbeit „Theater als interkultureller Dialog. Dschungel Wien – Theaterhaus für junges Publikum“ (Leppek 2010).
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che und kulturelle Treiben im Areal des MQ – hier mischen sich Menschen unterschiedlichster Nationen und Kulturen – bedingen eine besondere Aufgeschlossenheit, die sich der Dschungel Wien in der Vermittlung des interkulturellen Dialogs zunutze macht und so als Drehscheibe für Kunst und Kultur agiert. Als interkulturellen Dialog bezeichnet man einen Austausch zwischen Kulturen, zu welchem das Medium Theater bzw. die Theatralität einen wesentlichen Anteil, insbesondere auch bei der Bewältigung von derzeit auftretenden gesellschaftlichen Problemen und Konflikten im Bereich Migration und Integration, leistet. Dabei können mehrere Kulturen parallel mit einbezogen werden – meistens findet er aber zwischen zwei Kulturen statt. Die Bedeutung dieser Thematik zeigt sich auch in folgenden Zahlen: In Österreich leben derzeit 1,5 Millionen Personen mit Migrationshintergrund. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung von Österreich entspricht dies einem Anteil von ca. 18 Prozent. In Wien besitzt derzeit jeder dritte, umgerechnet ca. 500.000 Menschen, einen Migrationshintergrund. Knapp sieben Jahre nach der Eröffnung ist der Dschungel Wien ein einzigartiges national und international renommiertes Vorzeigemodell eines Theaterhauses für junges Publikum und ein besonderer Ort der interkulturellen Begegnung junger Menschen. Die Zahl von derzeit 50 000 Besuchern pro Saison steigt von Jahr zu Jahr stetig an. Für die allgemeine Publikumszielgruppe von 18 Monaten bis 25 Jahren wird einerseits ein offenes Zentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene geboten, andererseits bekennt sich das Theaterhaus zu seinem Bildungsauftrag, die kulturelle und künstlerische Vielfalt zu fördern, indem das junge Publikum an verschiedene Kunstrichtungen herangeführt wird und so neue Sichtweisen und Handlungskonzepte erschließen kann. Ein solches Arbeitsfeld bedingt das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen mit dem gemeinsamen Ziel, soziale, individuelle und kulturelle Unterschiede in einem Arbeitsprozess zu vereinen und diese im gemeinsamen Spiel auch auszudrücken und eben durch den Austausch etwas Neues, Kreatives entstehen zu lassen. Das Theaterhaus will bewusst vermeiden, dass Zuschauer Stücke nur passiv betrachten. Theater soll nicht durch abwartendes Zusehen, sondern vom aktiven Mitdenken dominiert werden. Um Kinder, Jugendliche und Erwachsene für Kunst zu begeistern und zu sensibilisieren sowie ihr aktives Mitgestaltungspotenzial zu fördern, bedient sich der Dschungel Wien verschiedener dramaturgischer Strategien und bietet seine Produktionen in den Formen Schauspiel, Erzähltheater, Tanztheater, Musiktheater, Figuren- und Objekttheater, Multimediale Performance, Comics, Visuals, Oper und Konzert an.
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1. Theaterpädagogische Vermittlungsarbeit Dschungel Wien versteht sich als qualitätsführende Institution für anspruchs- und verantwortungsvolles Theater. In seiner Sparte strebt es an, die Wichtigkeit und die Vielfalt im Bildungsangebot sowie die (inter-)kulturelle und künstlerische Vielfalt zu fördern. Daher ist es dem Theaterhaus ein großes Anliegen, Kinder und Jugendliche schon früh an die unterschiedlichsten Kunstrichtungen heranzuführen, damit ein Kennenlernen mit diesen stattfinden kann und Kunst im Alltag eines jedes Kindes integriert wird (vgl. Forstner-Widter 2009). Dies bedarf einer frühzeitigen theaterpädagogischen Vermittlungsarbeit, welche die Basis für die künstlerische Arbeit im Dschungel Wien ist. „Ein Hauptaugenmerk legt DSCHUNGEL WIEN auf die theaterpädagogischen Vermittlungsangebote sowohl für ein öffentliches Publikum als auch im Speziellen für pädagogische Einrichtungen. Letzteres setzt sich u. a. aus folgenden Angeboten zusammen: Stück-Vor- bzw. Nachbereitungen und Begleitmaterial zur jeweiligen Produktion – wie Stück-CD mit Bildmaterial und Mitschnitten, Auszüge vom Stücktext, theaterpraktische Übungen, weiterführende Sekundärliteratur oder auch Biografien der AkteurInnen. Außerdem finden KünstlerInnengespräche sowie Backstageführungen durch das Theaterhaus und spezielle Workshops für SchülerInnen statt. Präsentiert wird die vielfältige Palette der theaterpädagogischen Vermittlung gemeinsam mit den aktuellen Produktionen der Saison in der dreimal jährlich stattfindenden Teachers Lounge für PädagogInnen.“ (Breitwieser 2008: 65)
2. Schnittstelle zwischen Schule und Theater Neben dem oben angeführten Qualitätsmerkmal gibt es aber auch noch weitere Ansprüche, die der Dschungel Wien an das junge Publikum weiterzugeben vermag. Deshalb möchte das Theaterhaus vor allem auch eine Schnittstelle von Schule und Theater sein und so die Theateranfänger allmählich an das Medium heranführen. Dabei sollen die Kinder und Jugendlichen die verschiedenen Genres aus der Vielzahl der Programmformen des Hauses kennen lernen. Darüber hinaus soll das junge Publikum in die Lage versetzt werden, kritisch und selbstbewusst aus den konkreten Angeboten auszuwählen. „Klares Ziel der Vermittlungsarbeit ist es, die Schnittstelle von Schule und Theater gemeinsam mit den PädagogInnen zu verbessern bzw. zu intensivieren, zudem auch stets neue Wege zu finden und neue Impulse aufzunehmen. Schlagworte wie „Schule und Theater im Kontakt“, „Theater erleben“, „Gemeinsam entdecken“, „Räume öffnen“, „Einblicke gewinnen“, „Projekte entwickeln“, „Theater erfahren“ treten dabei in den Vordergrund.
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Die theaterpädagogische Nachbereitung in Form von Workshops zum Beispiel ermöglicht dem jungen Publikum eine neue Sicht der Dinge. So geben erfahrene TheaterpädagogInnen nicht nur Fragen wie „Was hat euch gefallen?“ oder „Was nicht?“ genügend Raum bzw. den entsprechenden Rahmen, um besprochen zu werden, sondern auch den Blick auf unterschiedlichste Betrachtungen der Inszenierung − z. B. Sprache, Licht, Ton, Musik, Kostüme – frei. Insbesondere in den Sommer- wie auch Semesterferien verstärkt DSCHUNGEL WIEN sein Workshopprogramm für Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters. Im Februar 2008 startete z. B. erstmalig die Winterakademie, eine Kooperation mit dem Theater an der Parkaue (Berlin) sowie Tiyatrotem (Istanbul) unter dem Motto „Sagen wir, wir setzen über“. Kinder und Jugendliche von acht bis zwanzig Jahren arbeiteten eine Woche lang in unterschiedlichsten Laboren mit KünstlerInnen aus den Genres Tanz, Musik, Neue Medien, Video und Theater zusammen. […] Das Spezielle an der Winterakademie ist weiters, dass ein internationaler Austausch ermöglicht wird, so werden interessierte Jugendliche aus Österreich auch zu den jeweiligen Laboren in Berlin wie auch in Istanbul entsandt. Aber nicht nur für junges Publikum bietet DSCHUNGEL WIEN ein spezielles Workshop-Angebot. Zusätzlich finden sich Workshops und Seminare für PädagogInnen auf dem Spielplan wieder, die dem Theater als unmittelbares, gegenwärtiges Erlebnis, das im Moment des Erlebens stattfindet, nachgehen. Denn Theater passiert immer im Augenblick, Theater packt uns, entführt uns in eine andere Welt und lässt uns an einem Abenteuer teilhaben.“ (Ebd.: 65)
3. „Winterakademie“ Durch den Workshop „Winterakademie“ zeigt sich, dass Theater und Schule Ort für ein interkulturelles Zueinanderfinden von Jugendlichen sein kann. Der dort stattfindende Dialog ist – wie schon erwähnt – eines der wichtigen Ziele des Theaterhauses. Bei dieser Form der Zusammenarbeit gibt es vor allem auch die Möglichkeit, frühzeitig Talente und Vorlieben der Kinder und Jugendlichen zu erkennen und diese so zusätzlich zu fördern. 4. „Dschungel Akademie“ und „Kinder und Jugendliche on stage“ Im Bereich der Förderung der Theaterkompetenz ist der Dschungel Wien in Form der „Dschungel Akademie“ und auch „Kinder und Jugendliche on stage“ aktiv. In der Akademie bekommen interessierte Personen die Möglichkeit, einen intensiven Einblick in die darstellende Kunst für junges Publikum zu erhalten. Dabei werden in Vorträgen, Ringvorlesungen, Podiumsdiskussionen, Proben und natürlich auch in Theatervorstellungen verschiedene Genres, Zugänge, Arbeits- und Sichtweisen im Theater dargeboten, diskutiert und praktisch erlebbar gemacht. Im Trainingscenter „Kinder und Jugendliche on stage“ stehen Kinder und Jugendliche in Koproduktionen des Dschungel Wien mit heimischen und internationalen Künstlern auf der Bühne.
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5. Länderschwerpunkte Bekannt ist der Dschungel Wien durch seine regelmäßig stattfindende Länderschwerpunktreihe. Das Theaterhaus inszeniert dabei in Form von Gastspielen herausragende Produktionen aus unterschiedlichen Kulturen, zeigt andere Kunstansätze, bringt internationale Künstler, die für Kinder und Jugendliche arbeiten, nach Wien und versucht damit Sichtweisen aus anderen Ländern im Bereich Kinderkultur zu betrachten. Beispielsweise gastierten Gruppen und Produktionen aus Flandern, der Schweiz, Liechtenstein, Rumänien, Tschechien, Polen, Schweden, Israel etc. in diesem Rahmen. Der Länderschwerpunkt „Israel – Tage der Kunst für junges Publikum“ war ein Projekt von Dschungel Wien und der Botschaft des Staates Israel in Wien in Kooperation mit dem Buchclub der Jugend, Büchereien Wien und der Österreichischen Bibelgesellschaft. Neben Ausstellungen, Workshops, Lesungen, Diskussionen und Führungen durch die Wiener Synagoge wurden zwei Theaterstücke – ein Objekttheaterstück „Der Lichtstrahl“ und ein musikalisch-visuelles Spektakel namens „Virga“ – aufgeführt. In „Virga“ erhielt die Zuschauerin bzw. der Zuschauer Kostproben mittelalterlicher Gesänge, die in französischer, italienischer (sizilianischer Dialekt), lateinischer und hebräischer Sprache vorgetragen wurden; wohingegen im Stück „Der Lichtstrahl“ Louis Brailles Erfindung der Blindenschrift facettenreich und vielschichtig mit einfachsten Mitteln (Tinte, Bleistift, Papier und Licht) aufbereitet wurde. Dieses Theaterstück wurde in englischer Sprache (deutsch eingesprochen) aufgeführt. 6. Projekte mit Partnern Weitere Formen der Zusammenarbeit gibt es mit der „brunnen.passage“2, in deren Rahmen einerseits Workshops mit IYASA3 für Kinder mit Migrationshintergrund veranstaltet werden und andererseits sich von März bis Juni eine Gruppe von Kindern im Alter von acht bis zwölf Jahren jeden Freitag trifft, um Geschichten zu erfinden, Theaterstücke im Dschungel anzusehen,
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Das Projekt „brunnen.passage“, ein ungewöhnlich transparenter und zugänglicher Theaterraum im 16. Wiener Gemeindebezirk, strebt einen integrativen Theateransatz unter Berücksichtigung der spezifischen soziokulturellen Situation vor Ort an. „Seit 2000 besteht IYASA (Inkululeko Yabatsha School of Arts) als Darstellende Kunstschule, die ohne öffentliche Unterstützung an die 80 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren in Gesang, Tanz und Theater ausbildet. Hier wird sowohl der Grundstein für eine künstlerische Laufbahn gelegt, als auch eine finanzielle Unterstützung für ihre Familie ermöglicht. Seit 2001 kommen sie jedes Jahr für mehrere Monate nach Österreich und sind auf Festivals, wie auch in stehenden Theaterhäusern zu sehen.“ (Frank 2007: 4)
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mit Schauspielern zu reden und selbst in kleinen Szenen mitzuspielen. Auch gab es eine Kooperation mit der Theatergruppe „daskunst“, einem multinationalen Ensemble, sowie mit der „KinderKulturKarawane“/„Kulturen in Bewegung“, welche die Produktion „Fragments of Palestine“ des „Freedom Theatre“4 2009 aufführte. Des Weiteren gibt es Projekte mit Schulen, Kindergärten und Jugendorganisationen, welche interkulturelle Themen behandeln und ausarbeiten. Diese bisher aufgezeigten Aufgaben und Angebote sowie die enorme Vielfalt des Programmangebotes des Theaterhauses stellen den besonderen Mehrwert, welches es seinem Publikum bietet, dar. Der Dschungel Wien kann als Orientierungstheaterhaus Nummer eins bei den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen viel Positives leisten, indem er Hilfestellung und Denkanstöße gibt, motiviert, inspiriert, neue Welten der Kunst und Kultur aufzeigt und vor allem einen Beitrag zur interkulturellen Bildung vermittelt. 7. Eigen- und Koproduktionen Im weiteren Verlauf sollen nun einige Beispiele zu den Produktionen des Hauses, die besonders den interkulturellen Mehrwert widerspiegeln, gezeigt werden. „Macht | Schule | Theater“ – diese bundesweite Theaterinitiative wird vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur gemeinsam mit KulturKontakt Austria und Dschungel Wien durchgeführt. Ziel ist die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt und Gewaltprävention durch die an den Produktionen beteiligten Schüler sowie des anwesenden jugendlichen Publikums. Mit dem Schuljahr 2010/2011 knüpft die Theaterinitiative zum Thema „Partizipation und Zivilcourage“ mit der Durchführung von Dialogveranstaltungen sowohl an die Initiative „Weiße Feder – Gemeinsam für Fairness und gegen Gewalt“ als auch an die „Aktionstage Politische Bildung“ an. In Kooperation mit dem Palais Kabelwerk, ein kulturelles Stadtlabor, inszeniert der Dschungel Wien ein für Vierzehn- bis Zwanzigjährige konzipiertes Stationentheater mit dem Titel „Wenn (m)ein Herz lauter schreit als mein Mund brüllt“. Das Stück beschäftigt sich insbesondere mit den Fragen: Was bedeutet es für einen Jugendlichen heutzutage in einer multinationalen Gesellschaft zu einem jungen Mann oder zu einer jungen Frau heranzuwachsen? Welche Rollenbilder werden ihnen angebo-
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„Das Freedom Theatre […] hat sich zum Ziel gesetzt, mit den Mitteln der Kunst für Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingslagern eine Veränderung zu erreichen. Man will Bedingungen herstellen, in denen sich Jungen und Mädchen in gleicher Weise und ohne Scheu einbringen, ausprobieren und Fähigkeiten entwickeln können, den kulturell, sozial und politisch gegebenen Barrieren selbstbewusst zu begegnen, um diese zu verändern.“ (Dschungel Wien 2009: 38)
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ten? Gerade in Zeiten, in denen Gendermainstreaming ein bedeutendes Thema ist, werden vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund, bei welchen die Rollenverteilung, die Familie, die Tradition und die Religionszugehörigkeit an andere Erwartungen gebunden ist, verunsichert. Aber auch österreichische Jugendliche werden diesbezüglich mit widersprüchlichen Erwartungshaltungen konfrontiert. Wie wirkt sich dieses Spannungsverhältnis auf deren Eigenbild, welches sie selbst von sich haben, aus, und welche äußeren Konflikte gehen damit einher? (Vgl. Dschungel Wien 2011b: 22) In der Dschungel Wien-Eigenproduktion „Sand“, einem Musiktheater mit Tanz für ein Publikum ab zwei Jahren, stehen ein Österreicher und ein Afrikaner aus Simbabwe vierzig Minuten lang mit Sand und Kübeln auf der Bühne. Ein Kübel voll, der andere leer, des Einen Freude am Material Sand, ist des Anderen Spaß an der Bewegung zur Musik. Inhaltliche interkulturelle Thematisierung auf der Bühne erfolgt in „Afrikanische Märchen“, einer Eigenproduktion in Kooperation mit dem aus Simbabwe stammenden afrikanischen Ensemble IYASA. Die Aufführung ist in der Kategorie Musikund Tanztheater angesiedelt und für ein Publikum ab sechs Jahren konzipiert. Bei diesem Stück gibt es keine textliche Vorlage. Die Schauspieler haben ihre eigenen Geschichten und Erinnerungen zusammengefasst und daraus entstand die textliche Vorlage für das Stück. Mit der Darstellung der fiktiven Reise einer Gruppe von Afrikanern werden dem Publikum durch monologartige Vorträge, traditionelle Lieder, Tänze und Musik die Kultur und die Lebensumstände in Afrika näher gebracht. Dabei werden bei der Betrachterin bzw. dem Betrachter emotionale Reaktionen und Neugier hervorgerufen, welche ein positives Gesellschaftsverständnis bewirken. 8. Tanz und Theater Ein fixer Bestandteil des Hauses war und ist der Tanz (vgl. Dschungel Wien 2011a: 13). Gerade in Verbindung mit Musik sind es jene Ausdrucksformen, die den interkulturellen Austausch, die gegenseitige Beeinflussung und nicht selten die Verschmelzung unterschiedlicher Traditionen am deutlichsten auf der Bühne widerspiegeln. Seit Bestehen des Theaterhauses werden in der Ferienzeit von Juli bis September die „Sommerworkshops“ veranstaltet, wobei unter anderem das „ImPulsTanz Festival“ ein besonderes Highlight darstellt. Im Zuge dieser Darbietungen werden gemeinsam Angebote für Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Auch lädt das Theaterhaus mit dem Tanzfestival für junges Publikum „Szene Bunte Wähne“ internationale Gastspiele in den Dschungel Wien ein, zum Beispiel aus Deutschland, der Schweiz, Italien, Frankreich, Liechtenstein, Tschechien, Polen, Schweden, Dänemark, Kroatien, Belgien, den Niederlanden und Simbabwe. Das Tanztheaterstück „Patchwork 2+2=1“, welchem derzeit in unserer Gesellschaft ein hoher Aktualitätswert zukommt, ist für Zuschauer ab dreizehn Jahren gedacht. Zwei Generationen aus unterschiedlichen Kulturen treffen aufeinander und versuchen einen gemeinsamen interkulturellen Dia-
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log zu schaffen. Herausragend in diesem Stück ist die Schauspielerin Yap Sun Sun aus Singapur. Die Künstlerin spielte bisher in drei Stücken („Patchwork 2+2=1“, „Hamlet“ und „Spiegelland“) auf der Bühne des Dschungel Wien. Hat man bei der Aufführung von Shakespeares „Hamlet“ vor fünf Jahren noch erstaunt bemerkt, dass eine Asiatin aus Singapur mitwirkt, ist dies heutzutage bereits normal und zeigt die Offenheit und Toleranz gegenüber nicht akzentfrei deutsch sprechenden Schauspielern, die in unterschiedliche kulturelle Rollen schlüpfen. Generell ist es für das Haus selbstverständlich, dass Schauspieler und Tänzer mit Migrationshintergrund auf der Bühne spielen. So wirken beispielsweise in den Stücken „Überraschung“ und „Geheim Welten“ Tänzer aus Kolumbien und Portugal, in „Ein Wort ist ein Wort“ ein persischer Künstler und in „Fieberträume“ Künstler aus sechs verschiedenen Nationen mit.
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Der Dschungel Wien sieht große Chancen des interkulturellen Prozesses auf dem Weg zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Vor allem beim Publikum manifestieren sich die Effekte und Chancen durch Veränderung von Wahrnehmung, Sensibilisierung für andere Menschen und Kulturen, veränderter Umgang, mehr Toleranz sowie das Hinterfragen von Konditionierungen. Im Theaterhaus für junges Publikum gibt es keine speziellen Theaterpädagogen für interkulturelle Themen und Stücke. Produktionen werden auch nicht ausschließlich nach diesem Gesichtspunkt analysiert bzw. entsprechend für den Dschungel Wien konzipiert. Die Aufnahme dieser Inhalte ergibt sich eher deshalb, weil es für das Haus selbstverständlich dazugehört. Grenzen beim interkulturellen Prozess im Theater, zum Beispiel bezüglich Unausführbarkeit, Schwellen oder dramaturgischer Bearbeitung, sieht die Direktion nicht. In einem Interview auf die Frage in welchem Ausmaß der Dschungel Wien als Medium interkultureller Arbeit einen Beitrag zur Entwicklung des interkulturellen Dialogs zwischen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen leistet, meint die Dramaturgin des Hauses Marianne Artmann: „Wir halten unseren Beitrag im Rahmen der Darstellenden Kunst für das junge Publikum nicht für gering, da wir neben Einzelprojekten und punktuellen Veranstaltungen wie ‚Multikids‘ einen kontinuierlichen Beitrag leisten.“ (zit. n. Leppek 2010: 205) Bezüglich der aufgeführten Theaterstücke schätzt Artmann, dass von den Wiener Produktionen etwa 25 Prozent und von den Eigen- und Koproduktionen sowie Gastspielen etwa 60 Prozent einen interkulturellen Dialog enthalten. Wie man sieht, bietet der Dschungel Wien ein dichtes und buntes Programm. Vor allem im Bereich der interkulturellen Themen agiert das Theaterhaus entsprechend und orientiert sich an den aktuellen Diskussionen und Ereignissen der Gesellschaft. Auch fühlt man sich verpflichtet, sich einer-
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seits mit den Themen anderer Kulturen wie Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Migration, Integration, (interkulturelle) Bildung etc. auseinanderzusetzen, greift aber andererseits auch Themen wie Homosexualität, Straßenkinder, Gewalt, Umgang mit Sexualität und Tod, Selbstmord, Toleranz, Älterwerden, Probleme mit erwachsenen Bezugspersonen und Gleichaltrigen, Thema Angst etc. auf. Für all diese wichtigen Fragen, welche die Gesellschaft und vor allem das junge Publikum bewegen, steht der Dschungel Wien ein.
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Seit Gründung des Theaterhauses im Oktober 2004 ist der Dschungel Wien ein offenes Zentrum für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Familien und Drehscheibe für Kunst und Kultur. Er sieht sich als Ort des Dialogs und Stätte zum Wohlfühlen. Als überaus wichtig betrachtet Dschungel Wien dabei seine große Verantwortung im Bereich der Vermittlung von multikulturellen Angeboten und des interkulturellen Dialogs. Diese findet mit verschiedenen Genres, Zugängen, Lebensentwürfen, Themen und Richtungen statt. Dazu gehören unter anderem • •
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die immer wieder stattfindenden Länderschwerpunktereihen, Kooperationen und Projekte mit unterschiedlichen Theaterhäusern, Vereinen, Institutionen, Schulen, Kindergärten, Jugendorganisationen etc. wie beispielsweise mit der „brunnen.passage“, „daskunst“, „KinderKulturKarawane“/„Kulturen in Bewegung“, dem aus Simbabwe stammenden Ensemble IYASA usw., Theaterarbeiten mit Kindern und Jugendlichen aus anderen Kulturen, viele internationale Gastspiele, inhaltlich interkulturell thematisierte Inszenierungen auf der Bühne (Eigenproduktionen und Kooperationen).
Anhand dieser Auflistung kann man erkennen, dass sich das Theaterhaus tatsächlich und bewusst im Spielraum des interkulturellen Handelns und Dialogs bewegt und sich nicht nur zufällig einer Programmgestaltung unterwirft. Durch Sensibilisierung der Besucher für andere Menschen und Kulturen versucht es, mehr Toleranz und einen veränderten Umgang mit dem Fremden zu erzeugen. All dies spiegelt sich auch in den inhaltlich interkulturell thematisierten Theaterinszenierungen der Eigenproduktionen und Kooperationen wider.
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L ITERATUR Breitwieser, Gerhard (2008): „Theater erfahren“, in: gift – zeitschrift für freies theater. Thema: Darstellende Kunst für junges Publikum, Februar/ März 2008, Wien, S. 65-66. Dschungel Wien (Hg.) (2009): „Programmheft“, Ausgabe: Oktober/November/Dezember 2009, Wien. Dschungel Wien (Hg.) (2011a): „dschungel blatt“, Programmzeitung, Ausgabe 4, März-April 2011, Wien. Dschungel Wien (Hg.) (2011b): „dschungel blatt“, Programmzeitung für Kindergarten & Kindergruppe, Volksschule & Hort, Unter- & Oberschule, Ausgabe Frühjahr/Sommer 2011, Wien. Forstner-Widter, Sabine (2009): Dschungel Wien. Ausblick Spielplan Jänner - Juni 2009, Wien. Frank, Sabine (2007): „Afrikanische Märchen. Material, Spiele und Informationen für den Unterricht“, Pädagogische Einrichtung des Dschungel Wien (Hg.), http://www.dschungelwien.at/media/uploads/dschungel_sei ten/padagogik/begleitmaterial/begleitmaterial_afrikanische_m%C3%A4 rchen.pdf [04.04.2011]. Leppek, Kevin (2010): „Theater als interkultureller Dialog. Dschungel Wien – Theaterhaus für junges Publikum“, Marburg: Tectum Verlag.
Die Umkehrung des eigenen Blickes Beobachtungen und Bekundungen aus dem Blickwinkel Berliner Theater N INA P ETERS Warum ist es sinnvoll, über „Theater und Migration“ zu schreiben? Nimmt man dieses Buch in einigen Jahren zur Hand, wird man das Thema und die Diskussion darüber womöglich als Ausdruck einer Suche wahrnehmen. Dahinter steht ein gesellschaftlicher Diskurs, der vordergründig um Schlagworte wie Sarrazin-, Integrations- oder Islamdebatte kreist. Diese sind Symptome einer Gesellschaft in der Krise, in der beispielsweise Menschen, die in Deutschland geboren sind und den deutschen Pass haben, unter dem Generalverdacht stehen, nicht „integriert“ zu sein. Unter dem Titel „Deutschland schafft mich ab“, einer Replik auf Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“, schreibt die Publizistin Hilal Sezgin in einem Essay: „Obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin, bin ich muslimische Migrantin. Ich frage mich, ab wann da etwas schief gegangen ist – und wie man es wieder hinbiegen kann.“ (Sezgin 2011: 52) Im Berliner Maxim Gorki Theater wurde im März 2011 das Buch „Manifest der vielen. Deutschland erfindet sich neu“ vorgestellt. Die Präsentation fand unter Polizeischutz statt, das Theater war besser besucht als bei jeder Theaterpremiere. Hilal Sezgin, Herausgeberin des Buches, deren oben zitierter Text in der Sammlung enthalten ist, hatte profilierte Autoren dazu eingeladen, über Heimat und Fremde, über ihr Muslim- oder Nicht-MuslimSein zu schreiben. Als Begleitlektüre zum Themenfeld „Theater und Migration“ ist das Buch nicht nur deshalb aufschlussreich, weil sich das Theater als Gastgeber dieser Buchpremiere auf der Höhe einer differenziert geführten Diskussion befindet und Schriftsteller wie Feridun Zaimoğlu oder Regisseure wie Neco Çelik darin Stellung beziehen. Es zeigt auch, welchen immensen Schaden die von Sarrazin angeheizte muslim- und fremdenfeindliche Debatte bereits angerichtet hat: „Für Musliminnen und Muslime ist derzeit nicht einmal der Gang zum Zeitungshändler leicht, weil sie nie wissen, welche Schlagzeile, welches stereotype Bild sie dort erwartet. Auch in der Schule, bei der Arbeit und am Ausbildungsplatz kann es sein, dass
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einem Feindseligkeit entgegenschlägt“ (Akın et al. 2010), so die deutschen Muslime des offenen Briefes „Wir sind auch Deutschland“ an den Bundespräsidenten Christian Wulff im September 2010. Versteht man unter migrantischem Theater ein Theater, in dem die Stoffe und Inhalte, das Personal oder auch das Publikum einen Migrationshintergrund haben, dann gab es im Berliner Theater in den vergangenen Jahren entscheidende Entwicklungsschritte und Ausdifferenzierungen in diese Richtung. Das hat mit der Lebendigkeit der künstlerischen Praxis zu tun und mit der Suche nach neuen Publikumsschichten. Tatsächlich wurden innerhalb weniger Jahre wichtige programmatische und künstlerische Akzente gesetzt: Angefangen mit dem Berliner HAU, der Ausgründung des Ballhaus Naunynstraße, der Positionierung der Neuköllner Oper oder der Gründung des Heimathafen Neukölln. Matthias Lilienthal trat 2003 als Intendant des HAU an und hatte es unter anderem auf ein bisher theaterfernes potenzielles Publikum abgesehen. Diese Programmatik war in Berlin so medienwirksam noch nicht umgesetzt worden. Durch eine Künstlerin und Choreografin wie Constanza Macras mit ihrem internationalen und migrantischem Ensemble erhielt sie schnell künstlerische Triebkraft. Macras hatte vorher an den Sophiensaelen gearbeitet, sollte dies bald auch an der Berliner Schaubühne tun und ihren Akzent in der Stadt setzen. Im Übrigen arbeitet der Tanz in Berlin in der Regel ohne vordergründige Labels international und selbstverständlich mit migrantischem Personal und Themen.
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Lilienthals Grundidee, für einzelne Themen und Programme seines Theaters jeweils externe Experten ans Haus zu holen, ging auf: Sie garantierte ihm eine Flexibilität und Offenheit, die bis heute zu entscheidenden Theatererfahrungen führten. Künstler mit Migrationshintergrund haben im HAU Projekte realisiert, migrantische Geschichten wurden – mehr oder weniger explizit gelabelt – erzählt: im Format „X-Wohnungen“, dem Gang durch Kreuzberg und durch Privatwohnungen mit migrantischem Personal, Stoffen und Publikum, das später auf andere Bezirke übertragen wurde; im sozialpädagogisch umformatierten Konzept „X-Schulen“, einer Kooperation mit einer Kreuzberger Schule, in der die Schüler zu fast hundert Prozent Migrationshintergrund haben; in den Projekten von Rimini-Protokoll, Stefan Kaegis „Radio Muezzin“, der das Lebens- und Arbeitskonzept von vier Gebetsrufern und vier Laien aus Kairo auf die Bühne stellt, oder „100 Prozent Berlin“, in dem die soziale Segmentierung der Stadt im Minimodell mit hundert Berlinern nachgestellt wurde; in der Zusammenarbeit mit zahlreichen Künstlern mit Migrationshintergrund usw. Überhaupt erwies sich die Arbeitsweise in der Berliner freien Szene, das heißt Arbeit mit Laien, Projektarbeit ohne festes Ensemble, dokumentarisches Theater, als durchlässige und flexible Arbeitsform, um den Zugang für Künstler mit Migrationshintergrund und Migrationsgeschichten zu ermöglichen.
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Das HAU-Konzept erinnerte an das Profil britischer Community Theatres, die es darauf anlegen, die direkte Nachbarschaft und die Summe unterschiedlicher Kulturen ins Theater zu holen. Beim HAU waren das zunächst die Berliner bzw. Kreuzberger mit türkischem oder arabischem Hintergrund. Die Berufung von ùermin Langhoff durch Lilienthal als Kuratorin an sein Haus, ist inzwischen Legende: Langhoff arbeitete mit Künstlern wie Fatih Akın, Neco Çelik, Tamer Yi÷it oder Feridun Zaimo÷lu. Langhoffs Theaterneugründung, das Ballhaus Naunynstraße, im Herbst 2008, markierte einen für das Gesamtkonzept des HAU schmerzhaften Einschnitt. Lilienthals Idee eines migrantischen Theaters hatte sich selbständig gemacht. Das Publikum, das für das HAU gewonnen werden konnte, ging nun auch in die Naunynstraße. Denn hier entwickelte sich in einem Haus konzentriert ein Theater mit starkem Identifikationspotenzial für Bildungsbürger mit Migrationshintergrund und mit überregionaler Strahlkraft, das sich das Label „postmigrantisches Theater“ gab. Kulturpolitisch interessant ist diese Neugründung deshalb, weil das Segment „postmigrantisches Theater“ aus dem großen Kunst- und Gastspielhauskomplex HAU auszog, um eine eigenständige Dependance zu gründen. Unter der vitalen und hervorragend vernetzten ùermin Langhoff bildeten sich ein freies Ensemble, ein Stamm von Künstlern und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Die Stadt förderte eine Programmatik, die sich explizit auf die Abarbeitung migrantischer Geschichten konzentrierte. Es sind vor allem die Geschichten der ersten, zweiten und dritten Einwanderergeneration, die hier erzählt werden, und die man nicht unbedingt kennt, wie die der Türken diesseits und jenseits der Berliner Mauer. Beispielsweise im Fall von „Die Schwäne vom Schlachthof“ von Regisseur, Autor und Filmemacher Hakan Savaú Mican besitzt das zudem Unterhaltungscharakter. Bleibt die Frage, wie lange wir das Label „postmigrantisches Theater“ noch brauchen. Denn in Berlin und deutschlandweit spielt das migrantische Theater in den großen Sprechtheatern im Gegensatz zu den bereits genannten freien Theatern bisher keine maßgebliche Rolle. Die großen Bühnen sind kein zuverlässiger Spiegel unserer Einwanderergesellschaft. Natürlich gibt es Ausnahmen wie etwa das Projekt „Die dritte Generation“ der israelischen Autorin und Regisseurin Yael Ronen an der Berliner Schaubühne, das deutsche, israelische, palästinensische Geschichte und Gewissheiten durcheinander wirbelte, oder auch das migrantische Personal in Castorfs Volksbühne. Natürlich spiegelt neue Literatur auf den Spielplänen der Häuser immer auch die heterogene Migrationsgesellschaft, aber die Produzenten und das Publikum der großen Berliner Bühnen sind vorwiegend deutschdeutsch. Allerdings könnte sich das bald ändern. An der Themenwahl der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft, einem Think-Tank des deutschsprachigen Theaters, lassen sich verlässlich zukünftige Debatten ablesen:
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„Wer ist Wir? Theater in der interkulturellen Gesellschaft“, fragte die Tagung im Januar 2011 in Freiburg. Christian Holtzhauer vom Staatstheater Stuttgart und Vorsitzender der Dramaturgischen Gesellschaft, spricht davon, dass die deutschen Stadt- und Staatstheater bald aus einem Mangel heraus Künstler mit Migrationshintergrund aus der freien Szene abwerben könnten (vgl. Holtzhauer 2010). Denn in der freien Szene Berlins etwa entspricht die künstlerische Praxis bzw. das Personal dem Aufbau unseres Einwandererlands genauer als dies in den Stadt- und Staatstheatern der Fall ist. „Je größer die Institutionen sind, desto weißer sind sie“, sagt Christiane Zieseke (2011) von der Kulturverwaltung des Berliner Senats. Der Senat führt für alle Förderprogramme der Stadt, Jury Tanz und Theater des Berliner Senats, Hauptstadtkulturfonds usw., seit 2008 statistische Erhebungen zur Herkunft der antragstellenden Künstler durch. Das statistische Ergebnis spiegelt die kulturelle Vielfalt: Der Anteil von Künstlern mit migrantischem oder ausländischem Anteil ist sehr hoch. Im Bereich Tanz liegt er mit rund zwanzig Prozent am höchsten. Der Begriff „mit Migrationshintergrund“ ist bei der Untersuchung allerdings irreführend, weil er suggeriert, dass die Künstler auch in Berlin bleiben wollen. Die Regisseure Tamer Yi÷it und Branka Prliü wurden mit der HAUProduktion „Ein Warngedicht“ 2009 mit dem Berliner Brüder-Grimm-Preis ausgezeichnet. Das Stück hat denen, die in der medialen Öffentlichkeit als Störenfriede abgestempelt sind und ihre Perspektivlosigkeit verinnerlicht haben, eine Stimme gegeben. 2011 legt Tamer Yi÷it in einem provozierenden Artikel zum strukturellen Rassismus im Kulturbetrieb nach: „Warum soll sich denn immer nur eine bestimmte Gruppe integrieren? Es könnten sich doch auch mal die Intendanten integrieren, die leben doch in einer absoluten Parallelgesellschaft“, schreibt Yi÷it. „Wir merken das daran, dass sie zu uns überhaupt keinen Kontakt haben. Und wenn doch, dann gucken sie uns an, als wären wir Aliens, weil sie nichts über uns wissen. Sie machen nur Theater für ihresgleichen. Das ganze Theaterbusiness ist ein Zoo, und wir sind eine exotische Tierart darin. Ich bin hier einfach nicht der Mensch Tamer Yigit, sondern der Migrant Tamer Yigit. Dabei bin ich höchstens mal von Kreuzberg nach Tempelhof ‚migriert‘.“ (Yi÷it 2011: 15)
Dass die Intendanten und die deutschen Stadttheater in einer „weißen Parallelgesellschaft“ leben, hat auch strukturelle Gründe: In den staatlichen Ausbildungsstätten für Schauspiel, Regie und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste und an der Hochschule für Schauspiel Ernst Busch gibt es wenige Absolventen mit migrantischem Hintergrund.1 Dementsprechend holte ùermin Langhoff wichtige Künstler aus dem Filmbereich an ihr Haus.
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Nurkan Erpulat war vor wenigen Jahren der erste Regieabgänger mit türkischen Wurzeln an der Hochschule Ernst Busch.
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Die Berliner Kunsthochschulen erheben, im Gegensatz zum Senat, keine Statistik über die Herkunft ihrer Bewerber.
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ÜBER
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Es gibt zunehmend Initiativen, die aus einem künstlerischen und inhaltlichen Interesse Autoren mit Migrationshintergrund an die Theater binden. An der Neuköllner Oper wurden zum Beispiel in dem Workshop „Schreiben über Differenz“ sechs Autoren mit Migrationshintergrund ausgewählt. Unter der Leitung von Feridun Zaimo÷lu entstanden Texte für ein zeitgenössisches Musiktheaterprojekt. Beworben hatten sich über hundert junge Autoren. Mit ähnlichen Initiativen hatte das Royal Court Theatre in London seit den 90er Jahren konsequent und über Jahre Autoren mit Migrationshintergrund entdeckt und befördert. Bernhard Glocksin, Künstlerischer Leiter der Neuköllner Oper, macht in seinem Haus deutsch-türkisches Musiktheater. Er spricht damit überwiegend ein Publikum aus dem Berliner Westen an. Dieses wird konfrontiert mit Themen und Geschichten, mit denen es sich bisher selten beschäftigt hat. „TangoTürk“ etwa behandelt den türkischen Militärputsch im Jahr 1980 und erzählt eine Geschichte der ersten Einwanderergeneration. Ein nächstes Projekt soll den Aleviten gewidmet sein, die ein Viertel aller Türken in Deutschland ausmachen. Allerdings fragt er sich nun, ob er betonen müsse, dass er einen alevitischen Sohn und damit die entsprechende interkulturelle Kompetenz habe. Glocksin unterstreicht, dass es um die Umkehrung des eigenen Blickes gehen müsse: „Die Mehrzahl der Theatermacher hat sich vermutlich keine einzige Sekunde gefragt, was das eigene – grundlegende, langfristige – Anliegen ist bei der Beschäftigung mit Migration.“ (Glocksin 2011) Für das Theater sei es eine interessante Zeit, um Geschichten zu erzählen und zwar neue Geschichten, „die jenseits des politischen Tagesgeschäfts liefen“ (ebd.). Es müsse auf der Bühne nicht das reproduziert werden, was unter dem Stichwort Kriminalisierung, Ghettoisierung, Zwangsheirat usw. ohnehin omnipräsent sei. Schließlich gehe es auch darum, den Begriff der Hochkultur neu zu diskutieren. „Wir haben in den vergangenen Jahren Leute auf die Bühne gestellt, die etwas anderes mitbringen“ (ebd.) als das, was im Diskurs der Hochkultur verlangt werde. Die Qualitätsdebatte, die angesichts der Arbeit mit Laien in der freien Szene allgemein schon seit Jahren geführt wird, entfacht sich hier neu. Auch hier werden Leitbilder neu verhandelt. Schließlich sieht Glocksin mit Blick auf Publikumsförderung die Herausforderung für alle Theater in einer gemeinsamen Zusammenarbeit in der Zukunft: „Es gibt schweigende Ressourcen, die wir gar nicht nutzen“ (ebd.). Die Theater müssten gemeinsame Anstrengungen unternehmen, das Publikum der Zukunft zu gewinnen. Er nennt als ein mögliches Beispiel das Junge Deutsche Theater in Berlin, an dem Nurkan Erpulats „Clash“, ein interkulturelles Projekt mit Laien, im Februar 2011 Premiere hatte.
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D AS P UBLIKUM
VON MORGEN
Im Grips Theater – wie auch im Theater an der Parkaue oder im Theater Strahl – sitzt das Publikum der Zukunft. Es ist nicht freiwillig hier, aber mit viel Lust, soviel wird deutlich. Es ist eine Schülervorstellung von „Ohne Moos nix los“ von Jörg Isermeyer in der Fassung des Grips Theaters. Jene, die hier sitzen, sind etwa neun Jahre alt, die überwiegende Mehrzahl hat einen Migrationshintergrund. Das Stück erzählt die Geschichte einer Berliner Familie, alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, am Rand von Hartz IV. Die Diskussion um die Integrationsdebatte, so sagt Bernhard Glocksin treffend, verschleiere die Tatsache, dass es in Deutschland zunehmend ein soziales Probleme gebe. Die Schere zwischen arm und reich gehe auseinander und nicht nur bei Migranten gebe es Schichten, die Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung und zur Entfaltung von Selbstentwürfen hätten (vgl. Theater heute 2011: 13). Diskutiert man „Theater und Migration“, so ist das ein zentraler Aspekt. An diesem Donnerstagvormittag im März 2011 ist das Theater ein Fest. Die Kinder sind aufmerksam, denn hier wird etwas erzählt, das sie vielleicht selbst kennen oder zumindest nachvollziehen können. Regie geführt hat Yüksel Yolcu, Schauspieler und Regisseur mit Migrationshintergrund, der gerne Vaclav Havel zitiert: „Das Theater sollte kein Ort sein für die Geheimnisse des Lebens, nicht über die Differenzen.“ (Yolcu 2011) Yolcu hat an der damaligen Universität der Künste Schauspiel studiert, er spielte im Fernsehen jahrelang „den Türken“, bis er keine Lust mehr hatte. Als er für das Grips Theater „Haram. Eine marokkanische Familiengeschichte“ von Ad de Bont inszenieren sollte, gab die Dramaturgie zu bedenken, dass man einen Araber besetzen müsste, der Schauspieler müsse repräsentativ sein. Yolcu lacht heute darüber, der Araber wurde nicht besetzt, und es ging auch so: Kinder und Jugendliche schauen mehr auf die allgemein menschlichen Dinge. Im Publikumsgespräch zu „Haram“ zielten die Erwachsenen eher auf Zuschreibungen, die Kinder und Jugendlichen agierten viel globaler. „Heutzutage könnten viele Dinge viel selbstverständlicher sein“, sagt Yolcu (ebd.). Man könne ruhig auf die Fantasie des Publikums vertrauen. Yüksel Yolcu sitzt in der gleichen Vormittagsvorstellung von „Verrücktes Blut“ in der Regie von Nurkan Erpulat wie die Autorin dieses Textes. Es ist eine Schülervorstellung, möglicherweise haben fast alle Schüler türkischen oder arabischen Hintergrund. Es ist eine Vorstellung, wie man sie selten erlebt. Die Luft brennt, teilweise ist es ganz still, dann wird wieder aufgeregt geflüstert, das Thema geht die Jugendlichen direkt an. „Jugendliche sind noch in der Lage, mit dem Bauch zuzugucken“, sagt Yolcu (ebd.) später und erzählt von dem Moment, in dem im Stück ein türkisches Mädchen gezwungen wird, sein Kopftuch abzunehmen. Es ist still im Publikum und plötzlich ruft ein Mädchen: „Nonnen tragen auch ein Kopftuch!“ In „Verrücktes Blut“ nach dem französischen Film „La journée de la jupe“ findet eine Lehrerin eine Waffe in der Tasche eines ihrer Schüler, damit zwingt sie
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ihre kleine Schulklasse zum Theaterspiel. Schiller sollen sie spielen, sprechen, richtig aussprechen, erleben! Die Lehrerin glaubt an Schillers Programm von der ästhetischen Erziehung des Menschen. Dieses Programm will sie durchsetzen, auch mit Waffengewalt. Die Schüler im Theaterstück glauben, dass ihre Lehrerin Frau Sonia Kelich Deutsche sei, sie ist die Andere. Allerdings ist diese, wie ihre Schüler auch, eine Deutschtürkin mit deutschem Ehemann und Nachnamen. Und die Schüler im Publikum glauben an diesem Vormittag, dass diese Schauspielerin eine Deutsche ist. Man merkt es an dem Raunen, das durch die Reihen des vollbesetzten 100Plätze-Saales im Ballhaus Naunynstraße geht, als Sesede Terziyan ihre Perücke abzieht und anfängt, ihre Schüler und gleichzeitig das Publikum auf türkisch zu beschimpfen. Das hätten sie nicht gedacht, dass das Theater so perfide oder raffiniert mit Identitäten, Klischees und ihren Umkehrungen spielen kann. Es ist ein Theatermoment, der mit Identifikation spielt und damit den eigenen Blick umkehrt. Wenn das Stück in einer Abendvorstellung läuft und ein vorwiegend aus Berlin Wilmersdorf oder Charlottenburg stammendes Publikum im Zuschauerraum sitzt, wird an der Stelle, an der das Mädchen sein Kopftuch ausziehen muss, übrigens geklatscht.
K LISCHEE
ODER SOZIALE
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Der Heimathafen Neukölln spielt, was migrantisches Theater angeht, eine wichtige Rolle in Berlin. 2008 gegründet, hat dieses von zehn Frauen organisierte freie Theater in kurzer Zeit eine kleine Erfolgsgeschichte geschrieben. Das Haus macht zeitgenössisches Volkstheater, es bezieht seine direkte Nachbarschaft thematisch mit ein und geht mit dem studentischen Umfeld ebenso um wie mit dem migrantischen Umfeld oder dem, was allgemein unter dem Label „Altberlin“ läuft. Das Theater ist angetreten, sich mit der „Stadt und dem Städtischen“ zu beschäftigen, so Gründungsmitglied Nicole Oder und migrantische Geschichten seien unbestreitbar ein Teil dessen (vgl. Oder 2011). „Araboy“ in der Regie von Nicole Oder war ein überraschender Medien- und Publikumserfolg. Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Roman der Berliner Journalistin und früheren Sozialarbeiterin Güner Balcı. Der Protagonist Rashid A. ist ein Mega-Checker im Berliner Rollberg-Kiez, der mediale Geschichten über Kriminalität, Drogenhandel, Vergewaltigung und Ghettobildung reproduziert. Diese Produktion schlägt deshalb ein, weil unverstellt, aber mit spielerischer Distanz ein soziales Problem aufgegriffen wird, vor dem viele gerne die Augen verschließen. Mit der daran anknüpfenden Produktion „Arabqueen. Oder das andere Leben“ wurde der Heimathafen Neukölln zur Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft nach Freiburg eingeladen. Bei der Abschlussdiskussion entzündete sich ein Streit darüber, wie repräsentativ oder klischeehaft das Bild einer Jugendlichen sei, die in Berlin aufwächst und der eine Zwangsheirat droht. Während die einen den klaren Zugriff auf einen sozial relevanten Stoff begrüßten, fühlten sich andere durch die Art der Reproduktion medialer Problemreportagen ange-
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griffen. Das ist das Spannungsfeld, in dem sich die aktuelle Rezeption bewegt und das wichtige Diskussionen befördert. Migrantisches Theater ist derzeit ein umstrittenes Thema. Man ahnt, es geht um Deutungshoheit über migrantische Geschichten, die manche für sich in Anspruch nehmen und die anderen abgesprochen wird. Es geht um öffentliche Aufmerksamkeit und die Verteilung von Geldern in der Zukunft. „Verrücktes Blut“ ist zum Berliner Theatertreffen 2011 und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen, das postmigrantische Theater von ùermin Langhoff praktiziert den Schulterschluss mit der so genannten Hochkultur. Die Einladung zum Kinder- und Jugendtheatertreffen „Augenblick mal!“ wurde dagegen abgelehnt mit der Begründung, dass das Zielpublikum kein jugendliches sei. Eine Einladung abzulehnen ist eine große Geste. Ob die Produktion nun für Erwachsene gedacht ist oder für Jugendliche, scheint dabei irrelevant zu sein. Es geht wohl eher darum, dass man sich nicht gerne eingeschränkt sieht auf das Segment „Kinder- und Jugendtheater“. Es sind genau diese Kategorisierungen, die man gerne aufweichen würde. In Deutschland bestehen sie viel stärker als in anderen europäischen Ländern. Und wann brauchen wir das Label „postmigrantisch“ nicht mehr? Tatsächlich sollte sich die Kulturpolitik genau überlegen, wie die Fördergelder in Zukunft für welches Theater verteilt werden. „Multikulti“ ist nicht gescheitert, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel meint, sondern befindet sich an einem heiß diskutierten Entwicklungspunkt. Das Theater ist Bestandteil dessen.
L ITERATUR Akın, Fatih et al. (2011): Wir sind auch Deutschland. Offener Brief prominenter Muslime an den Bundespräsident Christian Wulff, http://islam.de/ 16363.php [24.03.2011]. Glocksin, Bernhard (2011): in einem Gespräch mit Nina Peters am 07.03.2011. Holtzhauer, Christian (2010): in einem Gespräch mit Nina Peters Anfang Dezember 2010. Oder, Nicole (2011): in einem Gespräch mit Nina Peters am 24.02.2011. Sezgin, Hilal (2011): „Deutschland schafft mich ab“, in: Dies. (Hg.), Manifest der vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin: BlumenbarVerlag, S. 45-52. Theater heute (Hg.) (2011): „Im Feld der Verhandlung. Im Gespräch mit Bernhard Glocksin, Shermin Langhoff und Jens Hillje“, in: Theater heute 1/2 2011, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 12-17. Yi÷it, Tamer (2011): „Intendanten, integriert euch!“, in: Theater heute 1/2 2011, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 14-15. Yolcu, Yüksel (2011): in einem Telefongespräch mit Nina Peters am 09.03.2011. Zieseke, Christiane (2011): in einer Mail vom 09.03.2011 an Nina Peters.
„Aber ich wollte es nicht einfach“1 Migration als Fragestellung im Spielplan des Schauspiel Hannover T HOMAS L ANG Die „Migrationsdebatte“ ist im bundesdeutschen Theaterbetrieb angekommen – immerhin die Debatte. Nachzulesen ist das in „Theater heute“ unter dem Titel „Das Prinzip für die ganze Gesellschaft“. Die Freiburger Intendantin Barbara Mundel, die in ihrem Haus die Diskussion zur Zukunft des Stadttheaters und einer Theaterlandschaft immer wieder reflektierend zum Thema macht, plädiert darin für „eine Neujustierung unserer Wahrnehmung dieser Vielfalt.“ (Mundel/Mackert 2010: 43) Die meisten Theaterverantwortlichen allerdings bleiben zumeist ratlos oder ringen sich trotzig gegenüber den sich verstärkenden kulturpolitischen Forderungen und Diskussionen des Feuilletons, jenseits jeder „cultural correctness“, mutige Gegenpositionen ab. „Das Zentrum des Theaters ist der differenzierte, verdichtete Text, der zum theatralen Ereignis wird“ (Kreuzhage 2010: 44), so Katharina Kreuzhage, Intendantin am Theater der Stadt Aalen. Einen Schritt weiter konnte da das Kinder- und Jugendtheater gehen, nicht ohne Anlass. Schaut man in den Zuschauerräumen der Kinder- und Jugendtheater um sich herum, so bildet das Kopftuch eher Normalität als Ausnahme. Und man muss sich dann fragen, wie ein Dialog mit dem Bühnengeschehen stattfinden kann.2 Der deutsche Theaterbetrieb, literarisch-intellektuell geprägt, tut sich schwer, sich dieser Debatte, dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit zu stellen. So ist es nicht üblich und geradezu tabuisiert so genannte „Themen“ zu bearbeiten. Aktualisierungen seien tunlichst zu vermeiden, vordergründige
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Lars-Ole Walburg in einem Gespräch mit Björn Achenbach (Walburg 2010: 2). Eine Fachtagung zum Thema, unlängst in Köln am dortigen Kinder- und Jugendtheater Comedia in Kooperation mit der ASSITEJ angeboten, gab einen Impuls zu diesem Band.
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Themenbehandlungen als unkünstlerisch zu betrachten. Theater hätte schließlich einzig und allein die Aufgabe, den Kanon der klassischen tradierten wie zeitgenössischen Theaterliteratur zu präsentieren, deren Qualität wäre einziger Maßstab. Die Missverständnisse und Irrtümer bei Antworten auf kulturpolitische Herausforderungen sind vielfältig und verblüffend, wie der Migrationsforscher und Journalist Mark Terkessidis konstatiert, der diese Thesen auch auf der Tagung „Wer ist Wir? Theater in der Interkulturellen Gesellschaft“ der Dramaturgischen Gesellschaft3 am oben bereits erwähnten Theater in Freiburg zum Thema vortragen konnte: „Es wird diskutiert, ob man die ‚da draußen‘ nun in den Status von ‚Bildungsbürgern‘ hieven müsse oder ob der Betrieb sich auf eine neu zusammengesetzte Bevölkerung einstellen müsse. […] Über eine Veränderung, eine Erneuerung, eine neue Legitimation des ‚Betriebes‘ Theater wird nicht mehr gesprochen.“ (Terkessidis 2010: 5)
Terkessidis fordert nicht etwa nur vordergründige „Quotierungen“ in Literatur und Personal, in Diskursen und Fragen, sondern Diskussionen im Theater über die eigenen Entwicklungen sowie strukturelle Veränderungen, die nicht nur von Bedrohungen von Kürzungen legitimiert und angetrieben sein sollten, sondern auch von neuen Aufgaben in „bunteren“ Gesellschaften. Und er warnt: „Die städtische Gesellschaft, also der Resonanzraum des Theaters, befindet sich in einem dramatischen Prozess der demografischen Veränderung. Unter den Sechsjährigen in den großen Städten sind die Kinder mit Migrationshintergrund bereits in der Mehrheit. In dieser Zahl steckt eine ‚Vielheit‘, die sich permanent entzieht. In Deutschland stellt man sich die Stadt weiterhin gerne als geschlossenen, wohlgeordneten Raum vor, in dem alles seinen Platz hat, und die Verwaltung alles im Griff. Doch die Ära des Neoliberalismus hat aus der Stadt (wieder) ein äußerst vages Gebilde gemacht, das nicht mehr von Sesshaftigkeit geprägt wird, sondern von Mobilität.“ (Ebd.: 6)
Doch die Beharrlichkeit dieser Stadttheaterbetriebe ist hinlänglich bekannt. Strukturelle Veränderungen zu sehen und zukunftsfähige Entwicklungen voranzutreiben, fällt schwer. „Noch immer wird unter Integration vielfach entweder das Eingliedern in eine Bevölkerungsmehrheit oder das naive Feiern von Verschiedenheit begriffen, gerade auch am Theater. Was Kultur und Bildungskanon etwa für die Spielpläne und Strukturen von Stadttheatern überhaupt bedeuten, ist vollkommen ungeklärt.“ (Pilz 2011)
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Weitergehende Informationen zur Tagung sind unter www.dramaturgischegesellschaft.de einsehbar.
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Umso aufmerksamer wären demzufolge Theaterhäuser wahrzunehmen, die tradierte Ziele der Theaterkunst, nämlich Wirklichkeit abzubilden, zu fokussieren, künstlerisch zu bearbeiten oder wie die Beschwörungsformeln auch lauten mögen, ernst nehmen. Damit sind die Theater gemeint, welche diese heutige Gesellschaft – jene, die sie abzubilden gedenken, mit der sie sich auseinandersetzen und deren Ansprüchen, Diskursen und Fragen sie sich in ihrer Theaterkunst annehmen wollen – ansehen, als das was sie ist: eine Einwanderungsgesellschaft, in der Migranten, Menschen mit Wanderungsgeschichten, einen repräsentativen Anteil haben. Diesen Menschen Angebote zur Ausübung und Wahrnehmung von Kunst und künstlerischem Gestaltungswillen zu machen, ohne in überkommene Formate des Zielgruppentheaters zurückzufallen, stellt eine Aufgabe und die Herausforderung an Kulturinstitutionen in Zukunft dar.
M IGRATION
ALS
S ELBSTVERSTÄNDLICHKEIT
Eines dieser Theater ist das Schauspiel Hannover, seit 2010 in der Intendanz des Regisseurs Lars Ole Walburg. Nach einer flirrend farbigen, intellektuell anspruchsvollen wie unterhaltsam attraktiven, stets zeitgenössischen und überaus erfolgreichen Ära unter Wilfried Schulz (vgl. Kurzenberger 2009) positionierte sich die neue Leitung betont ernsthaft, politisch engagiert(er), kodiert durch viel Schwarz-Weiß im Layout. Nach anfänglichen Beirrungen in der Kulturszene der Stadt, die unter manch belehrendem und politisch scharf agitierendem Gestus litt, wurde doch mehr und mehr die engagierte Ernsthaftigkeit der Spielplanpolitik akzeptiert. Hannover sah bald theatrales Handwerk auf hohem Niveau und eine anspruchsvolle Inszenierungskunst der Hausregisseure, vor allem die des auch Regie führenden Intendanten und die Unverwechselbarkeit der zentralen Regiehandschriften, auffallend in einer Theaterlandschaft der Metropolen, die auswechselbarer denn je zu sein scheint. Auf die Konflikte zwischen politischem Anspruch und künstlerischem Handeln angesprochen, positionierte sich Walburg in einem Interview eines Stadtmagazins provozierend klar: „Ich betrachte uns hier am Theater als Gemeinschaft von gesellschaftspolitisch denkenden Wesen. Also gibt es […] Bezüge, die wir aufnehmen, gesellschaftliche Fragen, die wir uns stellen, politische Diskussionen, die wir verfolgen. […] Es geht einfach darum, auch mal einen Anstoß zu geben, etwas kritisch zu hinterfragen. […] Unsere Aufgabe im Theater ist es, die verschiedenen Meinungen hörbar zu machen.“ (Walburg 2011)
Deutlich wird dabei, dass Walburg und das Schauspiel Hannover die gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit annehmen und ihr Haus nicht als Tempel mit musealen Attitüden verstehen, nicht (nur) als Ort der Schönen Künste und anspruchsvollen Unterhaltung. Vielmehr, so Walburg weiter,
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„sollte das Theater ein Ort sein, wo Menschen sich treffen, wo sie von Angesicht zu Angesicht über Themen sprechen und streiten. Solche Orte gibt es gegenwärtig kaum noch. Letztlich hat sich das Bürgertum aus genau diesem Grund diese großen Häuser in die Städte gebaut, also Orte der Begegnung und Kommunikation, im künstlerischen, aber eben auch im gesellschaftlichen Rahmen.“ (Ebd.)
Zu den strukturellen Veränderungen, wie Terkessidis sie einfordert, wäre also die Neubestimmung des „Stadttheaters“ als Ort gesellschaftlicher Diskurse zu begreifen, an dem ein Theater von der Stadt aus gesehen wird und nicht die Stadt von der Bühne aus. Ein erweiterter Theaterbegriff wird verlangt, der sich zwar auf die Aufführung von Theaterstücken konzentriert, aber auch erweiterte Formate anbietet, wie Interaktionen im öffentlichen Raum, Spielweisen der aktiven und diskursiven Beteiligung der Öffentlichkeit in Form von Diskussionen, Verhandlungen, thematischen Reihen, Vorträgen, lecture performances, Forschungsvorgängen und anderen interaktiven Veranstaltungsvarianten. Das Schauspiel präsentiert dieses variantenreich und opulent. Hannover nimmt das Angebot an. Ebenso verhält es sich mit der Einbeziehung anderer, neuerer Künste und medialer Ausdrucksformen auf der Bühne wie Film und Roman als Stückvorlage, das projizierte Bild und populäre Musik als Abbild, als Zeichen und Zitat gesellschaftlicher Wirklichkeit. Besonders provozierend greifen neuere Theaterformate da, wo die vertraute Welt der klassischen wie zeitgenössischen Theaterliteratur verlassen wird und dokumentarisches Material „starting point“ theatraler Inszenierungen wird. Nicht mehr das literarisch Geformte, fiktional Erdachte bildet einzig und allein den Spielplan, sondern ebenso szenisch montiertes Faktenmaterial, Dokumentarisches und Spuren des Alltäglichen. Aktuell sind diese „Spielarten semi-dokumentarischer Inszenierungspraxis“ (Tiedemann 2010: 10) bereits Bestandteil des Berliner Theatertreffens 2011 und dokumentieren sich entfaltendes gesellschaftliches wie künstlerisches Interesse am Faktischen. Mahnende Hinweise fehlen nicht, wie die von Frank Raddatz, der, wie Kathrin Tiedemann es beschreibt, „das Theater der Authentizität einer grundsätzlichen Kritik unterzieht und ihm vorhält, dass es, um der Falle der Repräsentation zu entkommen, seinen Anspruch auf ästhetische Widerständigkeit aufgegeben hat und sich mit poetischer Harmlosigkeit zufrieden gibt.“ (Ebd.: 10) An anderer Stelle begründet Raddatz das genauer so: „Die Grenze […] bildet das Verdrängte und Verfemte. Das, was die Differenz zum wie auch immer definierten Zulässigen übersteigt, kann, um überhaupt fassbar und bildhaft zu werden, gar nicht anders repräsentiert werden.“ (Raddatz 2011: 25) „Kunst ist keine Ableitungsform gesellschaftlicher Zustände“ (Quiñones/Mustroph 2010: 2) wird stets angemerkt, aber diese Hinweise auf strukturelle Darstellungsstrategien eines Theaterbetriebs wie der des Schauspiel Hannover machen es deutlich, dass Migration und seine Folgen unter diesen Prämissen nicht nur „Thema“ ist. Vielmehr handelt es sich um ein Gesellschaftsbild, das die Theater behaupten können, die sich nicht in bourgeoisen Kunstbehauptungsmaschinerien einigeln, sondern Gesellschaft und Stadt of-
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fen auf sich einprasseln lassen. Der Spielplan das Schauspiel Hannover zeichnet ein Gesellschaftsbild nach, das geprägt ist vom Betrachten der Konfliktlinien, von Brüchen und Aufbrüchen, von Spannungsfeldern bis hin zu Infragestellungen des Gesellschaftssystems überhaupt. Das geschieht nicht nur in den thematischen Diskussionen durch die literarischen Vorlagen, sondern auch immer wieder in den ästhetischen Konzeptionen bis hin zu neueren sich verändernden Darstellungsstrategien, so wie es folgende Produktionen unter weiteren belegen mögen.
E IN B EISPIEL : „S CHWARZE J UNGFRAUEN “ F ERIDUN Z AIMOöLU
VON
Interkulturelle Auseinandersetzungen entzünden sich zumeist an der unterstellten nicht vorhandenen Trennung von Staat und Kirche im Islam, festgemacht an der Scharia, den Gesetzen des Korans, angewandt auf weltliches Recht, am Frauenbild, aber auch an einem Desinteresse an Bildung bei vornehmlich männlichen Jugendlichen mit Neigungen zu aggressivem Verhalten und Kriminalität. Das wird zum Beispiel thematisiert in „Schwarze Jungfrauen“. „Feridun Zaimo÷lu hat junge deutsche Muslima interviewt und diese [Interviews; d. Verf.] anschließend mit seinem Ko-Autor Günter Senkel zu zehn Monologen verdichtet. Alltagserfahrungen, innere Glaubenskriege und Garderobenfragen fügen sich zu einem vielfach gebrochenen Bild muslimischen Lebens in unseren Breiten. Zwischen bauchfrei und vollverschleiert, zwischen traditioneller Frauenrolle und westlichem Lebensstil, zwischen Glaubensgewissheit und Identitätssuche versagen alle gesicherten Zuordnungen, mit denen man gemeinhin zwischen ‚Islam‘ und ‚Daheim‘ unterscheiden zu können glaubt. Das ist beunruhigend und provokant. Es ist aber auch befreiend. Das Schweigen ist gebrochen, es kommt ein Selbstbewusstsein zum Ausdruck, das zuweilen nicht frei ist von Dummheit, Borniertheit und Stolz auf die falschen Dinge – das aber auch Reaktionen hervorruft, die im besten Fall der Beginn eines Dialoges sein könnten.“ (Niedersächsisches Staatstheater Hannover 2010b)
Walburgs Inszenierung, die nicht dem Gestus des authentisch-dokumentarischen verhaftet bleibt, bindet Zaimo÷lus Monologe ein in eine „poetische Versuchsanordnung“ (Mumot 2010) und lässt diese sich präsentieren von einer Gruppe junger Wohlstandsbürger, die sich, modisch absolut hip gekleidet, munter in einem wohlhabenden Loft am gemeinsamen Kochen vergnügen, das Publikum durchaus an den wohlriechenden orientalischen Gerüchen eines gelungenen Gemüseeintopfes teilhaben lassend. Immer wieder treten die Darsteller zu den einzelnen Dialogen und Dialogfragmenten mit brutalen bis verstörenden Texten heraus und verhelfen so zu einer notwendigen Distanz, die nicht zum eiligen Bewerten verleitet, sondern zum Betrachten, zum Zuhören, bis hin zum schmerzhaften Mitfühlen, das sich im Kopf des Betrachters abspielt und nicht auf der Bühne. Ein junger Mann mit
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fraulicher Langhaarperücke und eine japanische Schauspielerin mit „japanischem“ Deutsch deklinieren die Migrationsfrage mehrfach. Choreografische Elemente mit rudimentären Videoüberblendungen dokumentarischen Geschehens zum Thema vexieren das Geschehen, bieten gleichermaßen eine attraktive Oberfläche und fordern den Zuschauer. So gelingt dieses Stück aus Monologen. Es „zielt auf Provokation, spielt mit Klischees und zersetzt sie. Es fehlt dabei jede Ausgewogenheit, jedes didaktisch durchdachte Buhlen um ‚Verständnis‘, und es schützt sich nicht vor Missverständnissen […]. Das Stück will den Wohlmeinenden auf den Nerv gehen […]. Es lässt sich als ein konfrontativ angelegter Appell verstehen, sich einmal für das wirkliche Denken der jungen Muslime zu interessieren […].“ (Baader 2010)
Nichts wird erklärt, kaum etwas klärt sich. Nach so einem Vorstellungsbesuch kommt einem die Welt weitaus komplizierter vor, als sie ohnehin schon ist. Eine der ernst zu nehmenden Wirkungen von Kunst. Stets gilt es, den Zustand zu jeder Zeit genau und in all seinen Widersprüchen zu beschreiben, sich ihm auszusetzen, „Momentaufnahmen“ festzuhalten, Fragen an andere und an sich zu stellen und für andere aufzuwerfen, Unmögliches und Unlösbares auszuhalten und für einen Moment zu ertragen. Der Anspruch ist, das Klischee gleichermaßen zu suchen, zu beschreiben sowie zu bekämpfen, sich von Details des Fremden und doch Gleichen stets faszinieren zu lassen und so die Lust zu leben sowie Gesellschaft mitzugestalten in einem zu wecken. Auch hier hat als ein Merkmal zeitgenössischer Theaterpositionen eine frühe Forderung des Theaterautoren Peter Handke Gültigkeit: „Das Betrachten so lange aushalten, das Meinen so lange aufschieben, bis sich die Schwerkraft eines Lebensgefühls ergibt.“ (Handke 1977: 282)
N OCH EIN B EISPIEL : „ MOSCHEE . DE “ VON R OBERT T HALHEIM UND K OLJA M ENSING In ihrem Stück „moschee.de“ „rekonstruieren Robert Thalheim und Kolja Mensing den erbitterten Streit um den Neubau einer Moschee in BerlinHeinersdorf. Dafür haben sie Gespräche mit den Beteiligten geführt, diese verdichtet und szenisch verschnitten, ohne das Geschehen zu werten.“ (Gerstenberg 2010: 2) Die Dramaturgin des Schauspiel Hannover Judith Gerstenberg nennt diesen Vorgang Feldforschung und beschreibt damit eine Spielplanlinie des Hauses, die Stoffe nicht aus vorhandener Theaterliteratur sucht, sondern „auf der Straße suchen und finden. Aus dem gesammelten Material ist ein Stück für die Bühne entstanden – eine szenische Rekonstruktion der Geschehnisse, vor allem aber der Reden, die darüber geführt wurden. In ihrer Argumentationsstruktur sind diese sich zuweilen erstaunlich ähnlich. […] Bewusst haben sich die Autoren für das
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ihnen fernere Medium Theater entschieden. Theater verstehend als Ort und Mittel der intensiveren, öffentlichen Anschauung, als Observatorium, in dem die Fundstücke des Alltags ausgestellt und der gezielten Beobachtung preisgegeben werden […].“ (Ebd.: 2)
Diese Vorgehensweisen sind für einen Theaterbetrieb nicht ohne Konsequenzen. Gerstenberg beschreibt die Folgen so: „Seine Grundfesten ‚die Bühne‘, ‚der Autor‘, ‚der Schauspieler‘ sind durch diese Theaterformen jenseits des traditionellen Dramas zumindest erschüttert. Das Theaterhaus wird verlassen, um Schauplätze in der Stadt aufzusuchen […]. Der Autor beliefert das Theater nicht mehr mit einem fertigen literarischen Entwurf, sondern wird Bestandteil eines kollektiven Rechercheprozesses und muss sich in ein Verhältnis setzen zum vorgefundenen Sprachmaterial. Dieses wird nachgeahmt, rekonstruiert, verdichtet oder übermalt. Und der Schauspieler, – der sieht sich zuweilen ersetzt durch unprofessionelle, doch im wahren Leben dem Thema verbundene Darsteller. […] Dennoch sind es gerade diese Projekte, die dem Theater seine ursprüngliche Aufgabe und Kraft attestieren. […] Ob sich bei diesen Unternehmungen die Sehnsucht nach einem Realitätsbezug des Theaters ausdrückt, den es zurückzuerobern gilt oder vielmehr die Sehnsucht nach der Rückgewinnung der subversiven Kraft des Theatralischen für die Wirklichkeit, beantworten diese Theaterprojekte auf unterschiedliche Weise.“ (Ebd.: 2)
Dieser Forschungs- und Rechercheansatz zur „Materialgenerierung“ von Theatervorlagen findet sich immer häufiger als „performativer“ Vorgang auch im Stadttheaterbetrieb, auch wenn Theaterkooperativen wie She She Pop oder Rimini Protokoll als Protagonisten dieses Theaterstils nach wie die Richtung weisen. Die Aufführung „moschee.de“ überzeugt durch ihre intelligente Zusammenstellung der Positionsbestimmungen der am Streit Beteiligten, die in ihrer Verzweiflung darüber, sich zu finden in dieser komplizierten Welt, immer wieder sympathisch entlarvend daherkommt und so komisch und eben menschlich wird. Doch anders als bei ähnlichen Produktionen, bei denen das Dokumentarische eine Rolle spielt, sind es in diesem Fall die Darsteller, nicht also etwa die Beteiligten selber, sondern Schauspieler aus dem Ensemble des Hauses, die es vermögen, dem Alltagsgeschehen distanzierende Schärfe und durch ihre Darstellungskunst symbolisches Gewicht und gesellschaftliche Kraftfelder zu verleihen. Hier erlangt das Alltagsgeschehen dadurch Bedeutung, dass es „ein klein wenig über die Gewöhnlichkeit hinausgezeichnet“ (Seidel 2011) wird. Den Bezug zur Stadt aufnehmend und den öffentlichen Raum aufmerksam betrachtend, traute sich das Theater zudem den Coup zu, eine von massiven Bauzäunen umstellte Großbaustelle inmitten der Stadt mittels aufgestellter Hinweistafeln kurzerhand zur Baustelle einer neuen Moschee zu deklarieren. Das Theater nutzte die ihm zur Verfügung stehenden theatralen Mittel beim Einholen der Meinungen von Passanten, um Wirklichkeit spielerisch zu verdrehen und diese so zu hinterfragen sowie Theaterinteresse zu
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wecken. Eine Verwirrung in Presse und Öffentlichkeit war durchaus eine Zeit lang vorhanden. Diese urbane Interaktion, mit allerdings allzu didaktischem Sound, konnte die evangelische Landeskirche nicht davon abhalten, dieser Aufführung ihren renommierten Kulturpreis zu verleihen, ein Kompliment für thematischen Mut und künstlerisches Können.
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So lautet eine Textzeile als Werbung auf Straßenbahnen in Hannover und weist auf das Projekt „Weltausstellung Prinzenstraße“ hin. Das Projekt versammelt Stücke und Regisseure der europäischen Nachbarländer, flankiert diese mit wissenschaftlichen wie journalistischen Vorträgen, unter anderem von Autoren der Zeitschrift Lettre, und Diskussionsveranstaltungen und sucht damit eine „pankontinentale und andere gedankliche Auseinandersetzung“ (Niedersächsisches Staatstheater Hannover 2010a: 16) sucht. Erzählt werden „Geschichten von Menschen, die selbst oder deren Vorfahren in die Fremde gegangen sind. Sie dokumentieren den ethnischen Clash, […] lange bevor die Globalisierung erfunden wurde. Die Projekte und Stücke erzählen von verlorener Heimat und vom Schwelgen im Exotischen, von Gewalteskapaden und von Aufbrüchen im Neuen.“ (Ebd.: 2)
Deutlich wird, dass die oben erwähnten Stücke wie „Schwarze Jungfrauen“ oder „moschee.de“, die Konflikte zur Migration formulieren, kein Einzelfall sind. Komplex fokussiert der Spielplan des Schauspiel Hannover eine Welt, die geprägt ist von ethnischen Wanderungen, kulturellen Konflikten und ökonomischen Wandlungen. „Der goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig, das Stück zur Globalisierung oder „Invasion“ des Dänen Jonas Hassen Khemiri erweitern diese Perspektiven und natürlich ebenso Projekte und Aufführungen des Jungen Schauspiel, unter anderem mit der mehrfach ausgezeichneten Aufführung „Trollmanns Kampf“ von Björn Bicker und Mark Prätsch. Diese zeichnet die Geschichte eines jüdischen Hannoveraner Boxers und seine Deportation nach und verleiht damit jungen Sinti und Roma Stimme und Gehör. Blickt man weiter auf die Premieren der Spielzeit 2010/2011 und das Repertoire des Schauspiel Hannover, wird man feststellen, dass die Fragen der Migration stets verknüpft werden mit den anderen wesentlichen gesellschaftlichen Fragen der Zeit, mit den Fragen nach demokratischer Verfasstheit, sozialen und ökonomischen Balancen sowie mit dem ökologischen Zustand dieser Welt. Das Schauspiel Hannover will Theater neu begreifen als eine politische und moralische Institution, die von sich und anderen fordert, sich mit dieser Welt auseinander zu setzen, es sich nicht einfach und leicht dabei zu machen. Stetes Fragen muss Gestaltungsmerkmal politisch denkender künstlerischer Arbeit bleiben. Die Unerreichbarkeit eines Idealzu-
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ICH WOLLTE ES NICHT EINFACH “
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stands darf nicht dazu führen, Fragen zur Migration auszuweichen, sich auf die „old school“ zu reduzieren, nur Allgemeingültiges jenseits der Selbstverständlichkeit zu formulieren und die Kraft der Poesie lediglich zu beschwören anstatt zu behaupten. Das Schauspiel Hannover geht die Aufgaben dieser Instanz der Kultur zukunftsfähig an.
L ITERATUR Baader, Karl-Ludwig (2010): „‚Schwarze Jungfrauen‘ im Ballhof 2 in Hannover“, in: Hannoversche Allgemeine vom 28.03.2010, http://www.haz .de/Nachrichten/Kultur/Uebersicht/Schwarze-Jungfrauen-im-Ballhof-2in-Hannover [19.03.2011]. Gerstenberg, Judith (2010): „Feldforschung“, in: Theaterzeitung des Schauspiel Hannover, Heft #3/2010, Hannover. Handke, Peter (1977): Das Gewicht der Welt, Berlin: Deutsche BuchGemeinschaft, Cop. Kreuzhage, Katharina (2010): „Gut gemeint. Kunst braucht Distanz und den Widerstand gegen die Anpassung an den gesellschaftlichen Zweck. Partizipation ist das Gegenteil“, in: Theater heute 8/9 2010, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 44. Kurzenberger, Hajo (2009): „Lob des Stadttheaters? Über die Herstellung sozialer und ästhetischer Energie“, in: Ders. (Hg.), Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität, Bielefeld: Transcript, S. 171-181. Mumot, André (2010): „Das perfekte Multi-Kulti-Dinner“, in: nachtkritik.de vom 27.03.2010, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_cont ent&task=view&id=4165&Itemid=40 [19.03.2011]. Mundel, Barbara/Mackert, Josef (2010): „Das Prinzip für die ganze Gesellschaft“, in: Theater heute 8/9 2010, Berlin: Friedrich Berlin Verlag, S. 38-43. Niedersächsisches Staatstheater Hannover (Hg.) (2010a): Cumberland. Reisepass. Schauspiel Hannover, Spielzeit 2010/2011, Hannover. Niedersächsisches Staatstheater Hannover (Hg.) (2010b): Schwarze Jungfrauen, http://www.staatstheater-hannover.de/schauspiel/index.php?m=3 9&f=03_werkdetail&ID_Vorstellungsart=10&ID_Stueck=25 [19.03.2011]. Pilz, Dirk (2011): „Das fremde Wir. Postmigrantisches Theater – z. B. in Berlin“, in: Neue Züricher Zeitung vom 29.01.2011, http://www.nzz.ch/ nachrichten/kultur/aktuell/das_fremde_wir_1.9263860.html [19.03.2011]. Quiñones, Aenne/Mustroph, Tom (2010): „Editorial”, in: Dies. (Hg.), Neue Spieler, alte Städte. Programmheft des Theaterfestivals Favoriten 2010, Beilage in Theater der Zeit 10/2010, Berlin: Theater der Zeit, S. 2.
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Raddatz, Frank (2011): „Das Doppelgesicht des Echten. Tabubruch und Authentizität im politischen Theater“, in: Theater der Zeit 2/2011, Berlin: Theater der Zeit, S. 23-25. Seidel, Jörn (2011): „New Yorker Improvisationen“, in: Zeit Online vom 25.02.2011. Terkessidis, Mark (2010): „Die Heimsuchung der Migration. Die Frage der interkulturellen Öffnung des Theaters“, in: Aenne Quiñones/Tom Mustroph (Hg.), Neue Spieler, alte Städte. Programmheft des Theaterfestivals Favoriten 2010, Beilage in Theater der Zeit 10/2010, Berlin: Theater der Zeit, S. 5-10. Tiedemann, Kathrin (2010): „Vorwort“, in: Kathrin Tiedemann/Frank Raddatz (Hg.), reality strikes back II. Tod der Repräsentation. Die Zukunft der Vorstellungskraft in einer globalisierten Welt, Berlin: Theater der Zeit, S. 7-11. Walburg, Lars-Ole (2010): „Wir meinen es ernst“, Interview: Björn Achenbach, in: Theaterzeitung des Schauspiel Hannover, Heft #1/2010, Hannover, S. 2-3. Walburg, Lars-Ole (2011): „Lars-Ole Walburg: Intendant am Schauspiel Hannover“, Interview: Lars Kompa, in: Stadtkind hannovermagazin vom 01.01.2011, http://www.stadtkind-hannover.de/?s=walburg&x=0&y=0& =Go [21.03.2011].
„Bühne der Kulturen“ Das Arkadas Theater Köln als Modellversuch L ALE K ONUK Im Herbst 2005 wurde ich vom Leiter des Arkadas Theaters und Gebäudemieter Necati Sahin angefragt, die Geschäftsführung der im Kölner Westen liegenden Ehrenfelder Spielstätte zu übernehmen und eine neue Konzeption, die „Bühne der Kulturen“, zu entwickeln. Die traditionsreiche, einst als Modellprojekt gepriesene Spielstätte war in einen mühseligen und ausweglosen Abrechnungsstreit mit dem Kulturamt verwickelt und erhielt keine Konzeptionsförderung mehr. Ich ließ mich trotz Bedenken auf dieses Abenteuer ein, übernahm zum 1. Januar 2006 offiziell die Leitung und begann ein spartenübergreifendes Programm zu entwickeln. Das Misstrauen in der Szene gegenüber dem Haus war groß, da das Image wegen der schlechten technischen Ausstattung und der unzureichenden personellen Betreuung der Künstlergruppen erheblichen Schaden genommen hatte. Doch genauso groß war der Mangel an Auftrittsmöglichkeiten, denn die Kapazitäten der freien Kölner Bühnen waren mit hauseigenen Produktionen und Proben meist ausgeschöpft. Zudem gehörte das Theater zu den attraktivsten Spielorten Kölns: Es verfügt über einen mittelgroßen Zuschauerraum mit 120 bis 150 Sitzplätzen und beherbergt eine Bühne von rund 100 m² Holzdielenboden, die umrahmt sind von alten Backsteinmauern und eine warme Atmosphäre ausstrahlen. Als sich eine positive Veränderung im Programm abzeichnete, willigte das Kulturamt ein, die Spielstätte zumindest in Ansätzen zu fördern. Ab Beginn der Spielzeit 2006/2007 sagte es die Zahlung der monatlichen Kaltmiete des Gebäudes zu. Mit einer großzügigen Geldspende der Kreissparkasse konnten wir die Büroräume mit neuen Computern ausstatten und die an den Bühnentraversen hängenden ausgedienten Scheinwerfer erneuern. Zeitgleich 1 konnten wir mit der Bewilligung mehrerer Personalstellen durch die ARGE
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Arbeitsgemeinschaft nach dem Sozialgesetzbuch II zuständig für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosengeld II.
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ein nahezu professionelles und motiviertes Team aufstellen. Da die Personalförderung auf elf Monate befristet war, begannen wir unverzüglich Gespräche mit Kommunalpolitikern aller Fraktionen. Die einjährige Zitterpartie endete rechtzeitig im Sommer 2007 mit der Zusage zur institutionellen Förderung der Spielstätte. In der Zwischenzeit arbeiteten wir unter Hochdruck an der Umsetzung der neuen Konzeption „Bühne der Kulturen“, die eine an die professionelle Szene angebundene Gastspielstätte mit interkulturellem Schwerpunkt werden sollte. Dabei konnte ich aus dem großen Potential der zugewanderten Künstler schöpfen, die Köln aufgrund seiner Stadtgeschichte und Stellung als rheinische Kulturmetropole anzieht. Auch Gastspielanfragen von einzelnen genuinen deutschen Künstlern beantwortete ich positiv. Mit einer Mischung aus experimentellen und zeitgenössischen Inszenierungen und Kulturprogrammen von Community-Künstlern konnte ich ein vielseitiges und wirtschaftlich ausgewogenes Programm gestalten, was mittelfristig die Existenz der subventionierten Spielstätte absicherte.
I NTERKULTURELLE P ROGRAMMGESTALTUNG Nachdem das Theater lange mit Schlagzeilen der drohenden Schließung in der Presse gestanden hatte, musste nun auch die Kölner Öffentlichkeit über die konzeptionelle Neugestaltung informiert werden. Zur Spielzeiteröffnung führte ich einen Tag der offenen Tür unter dem Motto „Du bist Ehrenfeld“ ein, an dem aktuelle Künstlerproduktionen dem Publikum, den Politikern und der Presse vorgestellt wurden. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die Wichtigkeit des Erhalts der Spielstätte verdeutlicht. Wichtiger Bestandteil des Hauses blieb das Ensemble des Arkadas Theaters, das regelmäßig das Putzfrauen-Kabarett von Rainer Hannemann aufführte. Mit durchgängigem Erfolg spielte es auch „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ von Eric Emmanuel Schmitt mit Vedat Erincin und Aydin Isik, der wiederum den Rosenverkäufer Sad in Robert Schneiders „Dreck“ spielte. Der Schauspieler orientalisierte zudem in eigener Regie „Shakespeares sämtliche Werke – leicht gekürzt“, in dem er beispielsweise Hamlet in „Hümlet“ umtaufte und die Rollen mit einem Türken, einem kurdisch-stämmigen Deutschen und einem Halb-Pakistaner besetzte. Mit dieser frei finanzierten Produktion eröffneten wir die Kölner Theaternacht 2006. Als neue Kölner Gastspielgruppe nahmen wir „anthro TM“ auf, die eine „anthropophagische“ Ästhetik verfolgt, welche Fremdes assimiliert und verwandelt. Doch die Kooperation mit dem brasilianischen Schauspieler Sergio Carnevale und dem Komponisten Augusto Valente war nur von kurzer Dauer. Sie scheiterte unter anderem an dem hohen technischen Aufwand und der schlechten Zuschauerresonanz, die auch auf die mangelnde Anbindung der Bühne an das relevante Publikum zurückzuführen war. Erfolgreicher war dagegen die Kooperation mit der Theatergruppe „Pridvornij“, die
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überglücklich war, auf einer professionellen Bühne für ihre russische Community zu spielen, anstatt wie früher in kleinen Hinterhoftheatern. „Pridvornij“ spielte jährlich sechsmal russische Klassiker oder französische Komödien in russischer Sprache. Das autark arbeitende Ensemble erhielt nun auch die Aufmerksamkeit der deutschen Presse. Fester Bestandteil des Programms blieb weiterhin das traditionsreiche Iranische Theaterfestival vom Deutsch-Iranischen Theaterforum. Das Ehepaar Hosseinbabai/Fallahzadeh zeigt Eigenproduktionen und lädt Gastspiele von iranischen Regisseuren oder Schauspielern ein, die im deutschen Exil leben. Ihr künstlerisches Profil war nach anfänglichen erfolgreichen Jahren mittlerweile reformierungsbedürftig: Eine nachwachsende junge Generation der Deutsch-Iraner hatte ihre eigenen Ausdrucksformen und Foren gefunden. Doch da das Festival eng mit ehrenamtlichem Engagement und politischem Bekenntnis verknüpft war, konnte eine Umstrukturierung nur äußerst sachte vor sich gehen.
Z EITGENÖSSISCHE K OOPERATIONEN Ein deutliches Zeichen der Öffnung und Professionalisierung der Spielstätte war die Anbindung von regional bedeutenden Events und namhaften Ensembles. Dazu gehörte eindeutig das städtische Ensemble „pretty ugly tanz köln“ unter der Leitung von Amanda Miller. Da seine Auflösung aufgrund eines Ratsbeschlusses entschieden war, suchte ein Teil des Teams einen neuen Spielort in der Freien Szene. Uns war diese internationale Gruppe, bestehend aus Tänzern mit Wurzeln in Belgien, England, Italien, Ungarn und Kanada höchst willkommen. Aufgrund der hohen Auslastung des Theaters entwickelten wir das neue Format „one week stand“, das mit wenigen Probezeiten auskam. Dabei kreierten die Choreografen innerhalb einer Woche mittels Improvisation, Projektion und Komposition mehrere multimediale Stücke. Dies war der Grundstein für weitere Kooperationen mit freien professionellen Tanzensembles. Über die Jahre konnten wir unser Profil als Bühne für zeitgenössischen Tanz schärfen, der schließlich fester und regelmäßiger Bestandteil des Spielplans wurde. Dabei förderten wir bevorzugt Choreografen mit Migrationshintergrund, wie zum Beispiel den Ungarn Kristóf Szabó, den Mexikaner Miguel Zermeno, die Rumänin Nathalia Murariu, den Brasilianer Paulo Franco oder die Afro-Amerikanerin Karen Savage. Ein weiterer Baustein der konzeptionellen Neugestaltung war die Zusammenarbeit mit dem renommierten Literaturfestival LitCologne, dem Sommerblut Kulturfestival und dem Köln Comedy Festival. Über diese Festivals konnten wir uns in der Stadtgesellschaft und in der Künstlerszene weiter etablieren. Zudem bildeten die meist ausverkauften Vorstellungen eine lukrative und wichtige Einnahmequelle. Einer der bekanntesten türkischstämmigen Comedians ist Fatih Cevikkollu, der regelmäßig bei uns gastierte und die Premiere „Doppelte Spaßbürgerschaft“ sowie das türkischsprachige Programm „Yapma degil Avrupa“ erfolgreich feierte. Er moderierte zudem
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jährlich zum Comedy-Festival ein kommerzielles und vielseitiges Programm; 2009 u. a. mit Dave Davis als sächselnden Kloputzer „Motombo Umbokko“ oder Sanjay Shihoras „Inderwahnsinn“. Hier wurden wunderbare Einblicke in kulturübergreifenden Humor auf höchstem Niveau geboten. In Kooperation mit heimisch gewordenen internationalen Künstlern konnten auch eigene Formate kreiert werden: Mit der Regisseurin Svetlana Fourer entwickelten wir 2009 das erste russisch-deutsche Kindertheaterfestival und mit dem Musiker Alessandro Palmitessa 2008 das Festival All’italiana, das Theater, Kabarett und Musik präsentierte. Eine enge Kooperation bildeten wir auch mit der deutsch-britischen Multimedia-Künstlerin Tanya Ury, die im Programm der Jüdischen Impressionen und im Rahmen der Interkulturellen Woche auftrat. Im Programmbereich Musik gab es ebenso eine innovative Entwicklung. Mit dem Kurator Martin Sutoris von „smart kultur“ und der Unterstützung von Birgit Ellinghaus von „alba kultur“ konnten wir wichtige Kooperationspartner gewinnen. Zweimal monatlich präsentierten sich unter dem Label „Arkadas World Grooves“ Musikgruppen zwischen Jazz und globaler Musik auf einer Bühne mit bester Akustik im stimmungsvollen Ambiente. Insbesondere Mehmet Akbas und Hakan Akay mit seiner Gruppe Per Sound fanden hier eine neue Heimat für ihre Musik, die fern von kurdischer Parteipropaganda und hochzeitlicher Unterhaltungskultur war. Mittlerweile bespielen sie größere und zentralere Orte für ihre interkulturellen Projekte. Innerhalb weniger Jahre ist es gelungen, ein vielfältiges interkulturelles Programm auf die Beine zu stellen, das mit kleinem aber motiviertem Personal und dünner, aber tragfähiger Finanzdecke Kritiker, Publikum und Kulturschaffende überzeugte. Gleichzeitig stieß diese Neugestaltung und Professionalisierung der Spielstätte leider auf immer mehr Widerstand im Betrieb und im Trägerverein, denn sie bedeutete teilweise schmerzhafte Veränderungen. Im Frühjahr 2010 verließ ich daher die „Bühne der Kulturen“, als ein neuer und in integrationspolitischer Hinsicht stark exponierter Vorstand die Geschicke des Hauses übernahm. Meine Erfahrungen aus diesen viereinhalb Jahren zeigen, dass zugewanderten Künstlern bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Projekte häufig Kenntnisse der regional gegebenen Bühnenräume, Geldgeber, Publikumsgruppen und PR-Möglichkeiten fehlen. Eine professionelle Beratungs- und Vermittlungsarbeit ermöglicht es ihnen, ihr künstlerisches Potenzial in der Stadtgesellschaft zu verankern und sichtbar zu machen.
„Wir sind alle Wien!“ Integriertes Sprech- und Tanztheater der Gruppe „daskunst“ H EINZ W AGNER Witzigste Sozialsatire, tiefgründige, stark berührende theatrale Auseinandersetzung mit brisanten Themen wie Krieg, Manipulation und Ausgrenzung, gelungene Integration vielfältigster Theaterformen – Sprech- und Tanztheater, Musik, Performance, Videos und Animationen – dieser doch recht breite Bogen zeichnet die Vielfalt der Produktionen der in Wien beheimateten Gruppe „daskunst“ aus. Bei so viel Vielfalt – auch was die Herkünfte der Beteiligten betrifft – erscheint es seltsam, Menschen nach ihrer nationalen Herkunft zu kategorisieren. Haben doch wahrscheinlich Jugendliche in Wien, Berlin und Istanbul mehr miteinander gemeinsam als Jugendliche mit älteren Menschen, als Gleichaltrige aus einer Großstadt und einem kleinen Bergdorf im selben Land, mehr als Opern-Fans mit Techno-Nerds, Ballettanhänger mit Breakdancern. Auch „daskunst“ hat seine Geschichte. Im Jahr 1993 wurde in Wien ein Verein namens „Echo“ gegründet. Rund um eine Zeitschrift, in der vor allem Jugendliche der „zweiten Generation“, das heißt deren Eltern hierher geflüchtet oder zugewandert waren, dem „Rest“ der Stadt ihre Sichtweisen in dieser Publikation darlegen wollten, entstanden weitere Aktivitäten. Unter anderem gründete Aslı Kıúlal eine Theatergruppe. Die bis zu ihrem 19. Lebensjahr in Istanbul Aufgewachsene war zum Studium nach Wien übergesiedelt. Obwohl sie nunmehr gut die Hälfte ihres Lebens in Österreich und Deutschland verbrachte, ist die türkische Herkunft immer noch so etwas wie ein unausweichliches Adjektiv zu ihrem Namen. Die Vielfalt der Themen, der Theaterformen spielt bei der Beschreibung der Gruppe und ihrer Aktivitäten fast immer weniger eine Rolle als jene der Herkünfte ihrer Mitglieder (Österreich, Deutschland, Türkei, Kroatien, Slowenien, Serbien, Rumänien, Kongo, Großbritannien, Niederlande, Schweiz, Griechenland, Slowakei, Finnland usw.). Selbst „aufgeschlossen“ linksliberale Blätter wie die Stadtzeitung Falter verstiegen sich immer wieder zu Formulierungen wie „engagiertes multikulturelles Laientheater“. In diese
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Ecke gedrängt zu werden, löste bei der Gruppe etliche Diskussionen aus, als das Kulturamt der Stadt eine mehrjährige Subvention zusagte – mit der interkulturellen Zuschreibung. Für ihre multimediale Theaterarbeit sollte es die finanzielle Unterstützung geben, nicht für versteckte Sozialarbeit. Dabei handelt es sich um einen Diskurs, der auch die 2007 erstellte Publikation „fields of Transfer. MigrantInnen in der Kulturarbeit“ durchzieht. So schreibt Radostin Kaloinanov unter anderem: „Das Diversitätsmanagement für Migrant will diese als kulturelle Ressource verwerten ohne sich darum zu kümmern, wie es ihnen sonst als Mitglieder dieser Gesellschaft geht, die nachweislich von Ausgrenzung und Benachteiligung betroffen sind.“ (Kaloinanov 2007: 121f.) Wobei anzumerken ist, dass sich – zumindest in den Bekenntnissen der seit Herbst 2010 amtierenden neuen rot-grünen Stadtund Landesregierung – die grundlegende Orientierung verändert hat: „Die migrantische Realität unserer Gesellschaft muss sich jenseits der Nischen widerspiegeln. Daher sehen wir Migrant Mainstreaming und Interkulturalität im Sinne einer aktiven Einbeziehung aller kulturellen Identitäten in das kulturelle Leben in Wien als eine der wichtigsten Aufgaben der Kulturpolitik. Wir verfolgen eine aktivierende Kulturpolitik. Kulturpolitik muss die gesellschaftlichen Konflikte und Bruchlinien thematisieren. Wir verstehen diese Schwerpunktsetzung auch als Einladung an die Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen dieser Stadt, sich im Feld des kulturellen Brückenbaus verstärkt zu engagieren. […] Die bessere Repräsentation von Migrantinnen und Migranten in allen Bereichen der Kultur und der kulturellen Institutionen, auch in Leitungsfunktionen, ist ein zentrales Ziel. Interkulturalität und Migrant Mainstreaming sind künftig integraler Bestandteil aller künstlerischen Konzepte. Interkulturalität und Migrant Mainstreaming werden als Kriterien für besondere Förderungswürdigkeit in die Förderrichtlinien aufgenommen. Es wird ein Konzept für die Einrichtung eines ‚postmigrantischen Kulturraumes‘ (Vorbild ‚Ballhaus Naunynstrasse‘ Berlin) entwickelt. Für die Aufgabe des ‚kulturellen Brückenbaus‘ wird ein/e eigene/r Beauftragte/r eingesetzt. Ausschreibung eines Preises sowie koordinierte Calls der Wiener Kulturinstitutionen zum Thema Interkulturalität.“ (SPÖ Wien/GRÜNE Wien 2010: 48f.)
Neben der teils kongenialen Integration verschiedenster Theaterformen zählt eine ganz andere pionierhafte Aktivität, wie sie nur in ganz wenigen anderen Gruppen auch gelingt, zu den Spezifitäten von „daskunst“: Jugendliche, die sich zunächst nur irgendwie für Theater interessierten, gingen über Produktionen der Gruppe den Weg zur professionellen Schauspiel-, Tanz-, Performance- und Multimedia-Kunst. Einige brachte es mittlerweile an größere, bekanntere Theater oder ins Fernsehen. Derzeit wird eine Verbreiterung dieser Aus- zu einer Weiterbildungsstätte, einer Art Akademie, diskutiert, sodass andere Theaterhäuser, TV-Anstalten und Filmfirmen diese Gruppe eventuell als Anlaufadresse betrachten könnten. „Vielleicht fragen sie ja einmal uns nach einem dunkelhäutigen Schauspieler, statt selber einen weißen schwarz anzumalen!“, brachten es zwei Vertreterinnen von „daskunst“ in einem Gespräch mit dem Autor auf den Punkt.
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Seit 2004 tourt „daskunst“ mit seinen Produktionen durch Österreich, nach Belgrad und in die Türkei. Neben den gesellschaftskritischen Aspekten geht es stets auch um die heterogene Einwanderungsgesellschaft in Österreich, die ihre Repräsentation findet in Figuren und Inhalten, aber auch einem heterogenen Publikum. „Denn nicht, woher jemand kommt, ist für uns interessant, das verflüchtigt sich, sondern die mit den Wegen verbundenen Geschichten.“ (Theater- und Kulturverein daskunst 2011a) Weiterhin heißt es in den von der Gruppe selbst formulierten Grundsätzen ihrer Motivation: „44% der Wiener und Wienerinnen haben inzwischen einen so genannten Migrationshintergrund – wenn Menschen weiter in einer Wir-Sie-Trennung denken, verbauen wir uns die Gestaltung unser aller Zukunft. Das Theaterensemble daskunst ist ausschließlich zukunftsorientiert und findet es selbstverständlich, dass sich die österreichische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten hybridisiert hat, und nützt diese kreativen Chancen. Diesen Gedankenvirus der realistischeren Wirklichkeitswahrnehmung tragen wir mit unserer Kunst- und Kulturarbeit zu möglichst vielen Menschen, nicht aus einem christlichen Toleranzgedanken heraus, sondern weil wir einfach so heterogen zusammengesetzt sind – genauso wie unser Publikum […].“ (Theater- und Kulturverein daskunst 2011b)
P RODUKTIONEN . E IN M IX
DER
H ERKUNFTSKULTUREN
Um einen Einblick in die Arbeit von „daskunst“ zu bekommen, sollen einige ihrer Produktionen näher beschrieben werden. Die ethnische Herkunft soll dabei nicht das einzige und schon gar nicht das zentrale Kriterium der Beschreibung sein.1 1. Dirty Dishes. Jugendliche aus 18 Ländern spielen Sozialkomödie „Sylvesternacht, erstmals viele Gäste in der Pizzeria einer Großstadt. Der Chef hat die legal beschäftigte Schicht gekündigt. ‚Zu teuer.‘ Nun soll Küchen- und Bedienungspersonal ohne Arbeitsbewilligung eine zweite Schicht schieben. Authentisch und rasant spielen zwei Dutzend Jugendliche aus 18 Nationen, die auf Wien angepasste schwarze Sozialkomödie Dirty Dishes von Nick Whitby. Das Schauspiel wird durch Tanz-, Breakdance-, Rap-, und Jonglage-Auftritte der jungen Artisten bereichert.“ (Wagner 2004)
Der erste große Auftritt der Gruppe fand im Kinder- und Jugendtheaterhaus Dschungel Wien im MuseumsQuartier mit einem Stück statt, das auf sehr
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Weitergehende Informationen zu den hier beschriebenen und anderen Produktionen sind unter www.daskunst.at zu finden.
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witzige, ironische, bissige Art die Ausbeutung in einem Gastronomiebetrieb aufs Korn nimmt. Diese beruht oft nicht zuletzt darauf, Migranten zu engagieren, die am untersten Ende der sozialen Leiter stehen. Indem „daskunst“ diese Seite aufgreift und darstellt, knüpft sie auch durchaus bei Erfahrungen so mancher ihrer Mitglieder an. Mit dieser Produktion im Kulturbezirk gelang außerdem ein wichtiger Schritt aus dem Ghetto der Migrations-Szene hin zu neuen Publikumsschichten. Etliche der jugendlichen Schauspieler „leckten Blut“, das sie dazu bewog, in diesem Metier bleiben zu wollen und sich dafür zu professionalisieren. 2. Kultur mich doch am Arsch. Theater-Witz mit viel Tiefgang „Achtung, Angriff auf Lachmuskeln gepaart mit Attacken auf kleine graue Zellen. Der Besuch dieses Theaterabends kann Folgen hinterlassen. Fragezeichen. Was ist schon normal? ‚daskunst‘ unter der genialen Dramaturgie von Aslı Kışlal präsentiert dieses Mal einen Mix aus Szenen in und rund um zwei aus der Psychiatrie entlassene Patienten. Eingebaut sind Breakdance-Einlagen, Videos und nicht zuletzt der Auftritt der Funk-Rocker ‚Hobbygott‘. Themen: Klimaschutz, Macho-Gehabe, überkommene Theatervorstellungen, Vorurteile, Ignoranz gegenüber anderen Kulturen – woraus sich auch der freche Titel ‚Kultur mich doch am Arsch‘ ableitet.“ (Wagner 2007)
Mit diesem Stück beschritt „daskunst“ – ähnlich wie mit „Politik mich doch am Arsch“ – einen Weg, sich thematisch vom Sozialsatire-Milieu Zugewanderter zu entfernen. Wenngleich natürlich die in der Grundgeschichte auf „Elling“ basierende Produktion mit der Kernfrage, wer die „Normalen“ und wer die „Aliens“ sind, auf durchaus verwandte strukturelle Fragen eingeht, das „wir“ und „die“ aufgreift, damit spielt und dieses Auseinanderdividieren durch Zuschreibung – selbstverständlich immer aus der Sicht der Herrschenden bzw. „Ansässigen“ – in Frage stellt. 3. Experiment Mensch. Macht auskosten/erleiden „‚Glauben Sie selbst, eine gute Freundin/ein guter Freund zu sein?‘ Diese und noch gut zwei Dutzend andere Fragen findest du als BesucherIn der Theaterperformance ‚Das Experiment Mensch‘ auf einem Testbogen. Ihn sollst du ausfüllen, so bittet dich vor der Vorstellung eine Assistentin des Sozialpsychologen. Vor dem ‚Experiment‘ werde ein Psychogramm gebraucht. Um abzutesten […] wer sich als Gefangener und wer als Wärter eigne. Denn darum geht es schließlich im neuen Stück von ‚daskunst‘. Der vor fast 40 Jahren tatsächlich in den USA durchgeführte sozialpsychologische Versuch diente der multikulturellen, genialen, jungen Crew um Regisseurin Aslı Kışlal als Anstoß und Ausgangsmaterial für die jetzige Performance. Wie weit sind Menschen bereit, zu gehen, wenn sie Macht ausüben dürfen/können/sollen/müssen. All zu viel sei hier gar nicht verraten, vor allem keine Details. Die Aufführungen mögen auf das Publikum wirken: Selbst mit dem Erstaunen da sitzen und erleben,
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welche Veränderungen und Mechanismen die Eigendynamik eines solchen offensichtlichen Machtgefälles auslösen und bewirken. […] Manche Details erinnern an um die Welt gegangene Fotos aus Abu Ghraib. Und davon einige wiederum an das schon erwähnte bekannte Stanford-Experiment aus dem Jahr 1971. Die eher karge Bühne mit einer Gitterzellenwand auf der einen Seite und einem angedeuteten Aufenthaltsraum der Wärter auf der anderen Seite sowie einer Art Kanzel für den psychologischen Projektleiter und die Auftraggeberin vom Europakomitee für Gewaltprävention konzentriert das Geschehen auf die hervorragenden, überzeugenden Leistungen der SchauspielerInnen (Oktay Günes, Erdogan Yildiz, Bernhard Mrak, Orcun Cubukcu, Susanne Rietz, Jürgen Kapaun, Michael Kristof, Hannes Bickel, Ramazan Ünver, Patrick Bongola). Eingestreut finden sich Videos, die Phasen der Entwicklung des Experiments illustrieren bzw. Widersprüche zwischen Anspruch und Verhalten bloß legen.“ (Wagner 2008)
Mit diesem Stück betrat „daskunst“ wieder Neuland für die Gruppe. Ob satirisch oder ernst, in den vorangegangenen – oben beschriebenen Produktionen – spielte immer Humor eine große Rolle. Hier wurde – völlig beabsichtigt – Beklemmung erzeugt. „Eigentlich müsste man jetzt etwas sagen, Stopp schreien!“, geistert es durch die Köpfe so mancher Zuschauer. „Aber stört das dann nicht die Aufführung? Oder wäre ein Eingreifen sogar beabsichtigt?“ Wie lang kann solchen „Experimenten“ zugesehen werden? Wann ist der Zeitpunkt des eigentlichen Eingreifen-Müssens? Es wird derart ausgereift, auf den Punkt exakt gespielt, dass sich diese Fragen unweigerlich stellen. Wieder wird eine andere Variante des „wir“ und „die“ aufgegriffen und angestoßen. Es wurde deswegen zum Stück, weil die Regisseurin bei einer aktionistisch-politischen Aktion in Wien gegen Isolationshaft politischer Gefangener in der Türkei miterleben musste, wie Mitwirkende die Grenze von gespielter zu echter Gewalt überschritten. Da war für sie klar, dies müsse in einem ihrer nächsten Stücke thematisiert werden. 4. Warum das Kind in der Polenta kocht. Wie frei ist zwangsweises Reisen? „‚Hier sind die Hunde wichtiger als die Menschen!‘, resümiert eines Tages die Mutter des Kindes. Jenes Kindes, das die Geschichte der Zirkusfamilie erzählt, die vor der Diktatur in Rumänien geflüchtet ist. Kreuz und quer durch die Welt reist. Und dann mit ihrer Schwester in einem Schweizer Klosterinternat abgegeben wird. Viele Elemente im Buch ‚Warum das Kind in der Polenta kocht‘ von Aglaja Veteranyi dürften autobiografische Züge haben. Die Theatergruppe ‚daskunst‘ hat daraus ein knapp mehr als zweistündiges, dichtes Stück gleichnamiges Stück gemacht. Und weil sich alles rund um einen Zirkus dreht treten neben den internationalen in Wien lebenden Schauspielerinnen und Schauspielern auch jugendliche Artisten und eine Artistin auf. Eine geniale Kombination. Die verstreuten Episoden der Flucht und weiteren eher von Heimatlosigkeit und vor allem Sehnsucht gekennzeichneten Reise ziehen sich als gut erkennbarer roter Faden durch die Inszenierung von Aslı Kıúlal. Wunder-
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bar eingebettet sind die das Buch durchziehenden teils hochphilosophischen Kinderfragen wie jene im oben vorangestellten Zitat oder die witzige These, wie Kinder im Bauch der Mutter entstehen, ob das Essen im Ausland anders schmeckt? ‚Nein auch im Ausland essen wir mit dem Mund.‘ Oder jene, die die kleine Schwester ihrer größeren stellt, als sie die erste Zigarette zu rauchen versuchen: ‚Sind wir jetzt erwachsen?… Und müssen wir jetzt heiraten?‘ Das stets namenlose Hauptkind wird von zwei Darstellerinnen verkörpert. In der ersten, jüngeren Phase ist dies Ivana Nikolíc, deren Eltern aus jenem Gebiet Serbiens stammen, das an Rumänien grenzt. Gemeinsam mit ihrer großen Halbschwester (dargestellt von Ulrike Hübl) meistert sie eine der emotional schwierigsten Szenen meisterhaft. Die eben vom Vater wieder einmal missbrauchte Tochter ist voll fertig als die Kleine verspielt und lachend antanzt. Extreme Spannung liegt in der Luft. Und wird keinen Bruchteil einer Sekunde zu früh oder zu spät, sonder exakt richtig aufgelöst. Das ältere, von der Mutter nach deren Unfall, der ihr die weitere akrobatische Höchstleistung verunmöglicht als GogoTänzerin angepriesene Kind spielt Gamze Seber höchst beweglich und kokett. Trotz ausgezeichneter Ensembleleistung sei ihre und – ein bisschen ungerecht (?) – doch ein Akteur noch hervorgehoben: Oktay Günes agiert in mehr als einem halben Dutzend unterschiedlicher Rollen, von denen er einige sogar innerhalb weniger Sekunden wechselt. Für besonders viele Lacher sorgt sein Auftritt in der Nonnentracht von Klosterschulenleiterin Frau Hitz – in perfektem Schwyzerdütsch.“ (Wagner 2009a)
Flucht – nicht nur räumliche und örtliche – durchzieht die vielen eher mosaiksteinartig hingeworfenen Episoden des Buches von Aglaja Veteranyi. „daskunst“-Leiterin Kıúlal hatte selbst einmal als Schauspielerin in Deutschland in einer „Polenta“-Inszenierung gespielt und diese für nicht befriedigend gehalten. Ihre eigene vermittelt einerseits die Stimmung der VeteranyiStationen/Episoden, baut die teils skurrilen Erlebnisse, die Flucht mitunter kennzeichnen, zu einem dramaturgischen Bogen, durchzieht sie mit einem roten Faden und bettet sie in eine Gesamtgeschichte ein. 5. Melde mich morgen. Klassenzimmertheater und geniale Satire auf Sprachlosigkeit „‚du ausl…ändafreund. oda auslända. samma eh - fast - überall auf da welt.‘ - So hab ich auf Facebook unmittelbar nach der Premiere dieses genialen Stücks dieses beworben. Hier ist natürlich ein bissl mehr Platz. Und ein paar Stunden liegen auch schon zwischen Aufführung und dem Verfassen dieses Textes hier. Alsdann: In sehr, sehr witziger Form werden gängige Klischees hergenommen, gedreht, gewendet und zerlegt. Nicht nur jene gegenüber Migrantinnen und Migranten. Das Thema des Stücks ist breiter angelegt: Kommunikation bzw. Sprachlosigkeit auch mit ganz erklecklich viel Worten wird in Form von Kurztelefonaten mit den jeweiligen Müttern und in längeren Chat- bzw. Facebook-Sequenzen zwischen Männern und Frauen dargestellt, meisterhaft gespielt. – Ob zwischen Oktay (Wiener Türke) und Misel (Slowakin), wo sich eine Romanze anbahnt oder zwischen Erika (nach Österreich zugewanderte Griechin) und Michael aus Kärnten. Und ‚Millionclickbaby‘ weiß schon
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gar nicht mehr, wie sie sich im World Wide Web präsentieren und zur Schau stellen soll, um ja nur Beachtung zu finden. Vom transzendenten Lachteppich-Gebrabbel über die Ankündigung von Flash-Mobs bis zur Selbstfesselung samt holprigem Terroristinnenvideo reichen ihre Versuche. […] Mit auf der ‚Abschussliste‘ der Satire: Facebook und der Hang zu Rekord-Freundezählen […] Das Ensemble: Eri Bakali, Oktay Günes, Michaela Hrbackova, Michael Kristof, Susanne Rietz. Für die Regie zeichnet Aslı Kıúlal verantwortlich.“ (Wagner 2009b)
Wie schon in anderen Produktionen so gelingt es dem Ensemble – erweitert um Gastschauspieler – den Vorzug des Theaters, live am selben Ort, an dem sich das Publikum aufhält, zu spielen, mit der multimedialen Welt der neuen Medien und Kommunikationsmittel zu verknüpfen. Das geschieht echt und authentisch, nicht krampfhaft oder aufgesetzt. 6. Wiener Blut. Oper-rette sich wer kann „Die Sprache zu können ist ja vielen noch immer zu wenig, ‚sie müssen sich auch unserer Kultur anpassen‘ verlangt die ‚Volksseele‘, namentlich jene, die verlangen, das ‚Wiener Blut‘ müsse ‚rein‘ bleiben, dürfe sich ja nicht vermischen. […] Im 3Raumtheater von Hubsi Kramar und Alexandra Reisinger spielt ein Teil des Kernteams, das um diesen schrägen Theaterkosmos zirkuliert gemeinsam mit einem Team, das in einem anderen Theaterkosmos beheimatet ist – Aslı Kıúlals ‚daskunst‘. Ausgehend und immer wieder stark angelehnt an die Strauß’sche Operette, die ja erst nach dem Tod des Walzerkönigs sozusagen aus einem Potpourri seiner Melodien entstanden ist, spielt diese bunte Truppe mit dem Stoff, nicht zuletzt dem Text des titelgebenden Liedes (‚voller Kraft, voller Saft…‘). Die Rahmenhandlung: Die ‚WienerBlut‘-Wahlplakat-Sloganisten haben die Macht übernommen, feiern sich und ihr erstes Regierungsjubiläum. Wer nunmehr als Zuwanderer_in anerkannt werden will, muss die Beherrschung der Operette oder wahlweise des Schuhplattelns nachweisen (beispielsweise Blair Darby in Lederhose und Trachtenhemd, weiß geschminkt im ‚Völkerschau‘-Käfig… Hin und wieder bricht bei manchen der Darsteller_innen auch andere, heute vielleicht noch zu hiesiger Kultur Gewordenes durch wie Rappen. Aber in dieser fiktiven grauslichen Zukunft meldet sich lautstark die Big Sister via Monitor, weist die ‚Fremdartigen‘ zurecht und die Uhr im Hintergrund mit den drei Begriffen ‚Arbeitslos – Subvention – Abschiebung‘ kriegt einen fetten roten Rand. ‚So habt’s es ka Chance, da zu bleibn‘. Nur beim operettenhaften Getue – ‚und a des muaß überzeugend und echt sei!‘ gibt’s die Chance auf grünes Licht. Oder wenn Umut Akar, Hasan Öksüz und Münnür Tunc mit Hirtenflöte und Saz Fendrichs ‚Bergwerk‘ intonieren. Oder der Chor das champagnerselige ‚Grüß dich Gott…‘ anstimmt. Nach etlichen Jahren verlangt die jedwede kulturelle Unterschiede einebnende Regierung allerdings angesichts des selbst sie fadisierenden Einerlei einige der Zugewanderten auf, wieder etwas aus ihrer Herkunftskultur zur Unterhaltung zum Besten zu geben. […]“ (Wagner 2011)
Diese Koproduktion mit Hubsi Kramars 3-Raum-Theater könnte als Art programmatisches Statement vom Umgang multikulturellen Theaters mit
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süßlich-verlogener, „autochthoner“, klischeehafter „Eingeborenenkultur“ verstanden werden. Sie zeichnet sich durch Leichtigkeit, Ironie und teils Sarkasmus aus, der aber nie mit erhobenem Zeigefinger daherkommt.
A LLTAGSKULTUREN . E INE Ä STHETIK
DER
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Wie in den Stückbeschreibungen deutlich wird, ist die Hinwendung zu den Themen Interkulturalität und Migration ein Anliegen von „daskunst“, aber eben nur eines unter anderen, das sich wie selbstverständlich aus der gesellschaftlichen Realität ergibt. „Für daskunst ist es wichtig, politisches Theater zu präsentieren, das an Menschen und ihren Erlebnissen interessiert ist und starke Identifikationsfiguren sehen lässt. Die Arbeiten von daskunst bestehen nicht aus sprachfixiertem Texttheater – wir freuen uns, wenn Menschen, die der deutschen Sprache nicht so mächtig sind, unsere Produktionen trotzdem zu einem großen Teil verstehen. Wir arbeiten mit Videos, Humor, Tempo und Unterhaltung zwischen Leichtigkeit und Message. Die Gratwanderung, dass wir Publikum aller Schichten und verschiedenen Communities ansprechen, beschäftigt uns bei jeder neuen Produktion […]. Die Wirklichkeit in Österreich hat sich in den letzten Jahren rapide verändert – aber an der offiziellen Repräsentation Österreichs hat sich wenig verändert außer dass der Rassismus präsenter ist. Hier ist der Platz von daskunst und allen, die bei daskunst ausgebildet werden oder die Philosophie teilen – vor allem solange die Menschen jung sind und nicht die Wiener Gemütlichkeit des „passt scho“ übernommen haben. Es gilt wegzukommen von Missionierung, Toleranz und Mitleid – hin zu Chancengleichheit – dafür müssen aber Rahmenbedingungen geschaffen werden, um als KünstlerInnen und nicht (mehr) als ausländische KünstlerInnen und Laien wahrgenommen zu werden. Das ist auch ganz klar eine politische Kampfansage gegen Kräfte des Bewahrens, des HerrenrasseDenkens und der Selbstüberschätzung. Denn die Geschichte lehrt uns, dass, wo verschiedene Menschen gemeinsam an ihrer Zukunft arbeiten, Fruchtbares hervortritt.“ (Theater- und Kulturverein daskunst 2011b)
Der Mix verschiedener Herkunftskulturen ergänzt die gelungene Mischung unterschiedlicher Theaterformen und macht nicht zuletzt den Reiz der Produktionen von „daskunst“ aus, einer Gruppe mit immer wieder wechselnder Zusammensetzung. Dennoch wird Integration erst gelungen sein, wenn die Multi-, bzw. Interkulturalität unserer Gesellschaft so weit in den meisten Köpfen angekommen ist, dass Ensembles wie diese einfach als „ganz normale Theatertruppe“ wahrgenommen und die Herkunftskulturen ihrer Mitwirkenden bestenfalls am Rande, noch besser gar nicht angemerkt werden. Oder käme jemand auf die Idee bei „Romeo und Julia“ oder anderen seiner Werke stets anzumerken, dass William Shakespeare aus England stammt? Oder der Autor von „Schuld und Sühne“, Fjodor Dostojewski, aus Russland? Und vielleicht kommen wir auch einmal dahin, in unseren Theater-
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häusern Stücke von Dramatikern aus der Türkei zu spielen – ohne dabei auf deren (ehemalige) Wohnorte hinzuweisen.
L ITERATUR Kaloinanov, Radostin (2007): „Politiken der Differenz“, in: IG Kultur Österreich (Hg.), fields of Transfer. MigrantInnen in der Kulturarbeit, Wien, S. 121-124. SPÖ Wien/GRÜNE Wien (Hg.) (2010): Gemeinsame Wege für Wien. Das rot-grüne Regierungsübereinkommen, Wien, http://wien.gruene.at/uplo ads/regierungsuebereinkommen_gruenrot.pdf [12.04.2011]. Theater- und Kulturverein daskunst (2011a): „Diversity Pride“, http:// www.daskunst.at/diversity%20pride.html [12.04.2011]. Theater- und Kulturverein daskunst (2011b): „Motivation“, http://www.das kunst.at/daskunst motivation.html [12.04.2011]. Wagner, Heinz (2004): „Dirty Dishes“, in: Kurier vom 31.10.2004, im Chronikteil der Tageszeitung, Wien: Kurier Zeitungsverlag. Wagner, Heinz (2007): „Kultur mich doch am Arsch“, in: Kurier vom 03.11.2007, im Chronikteil der Tageszeitung, Wien: Kurier Zeitungsverlag. Wagner, Heinz (2008): „Das Experiment Mensch“, in: Online-Kurier, http://www.kurier.at [04.05.2008]. Wagner, Heinz (2009a): „Warum das Kind in der Polenta kocht“, in: Kurier vom 26.02.2009, im Chronikteil der Tageszeitung, Wien: Kurier Zeitungsverlag. Wagner, Heinz (2009b): „Melde mich morgen“, in: Online-Kinder-Kurier, http://www.kiku.at [02.10.2009]. Wagner, Heinz (2011): „Oper-rette sich wer kann“, in: Online-Kurier vom 23.01.2011, http://kurier.at/kultur/2067281.php?mobil [12.04.2011].
Theater und Migration als Auftrag einer Kultur- und Bildungspolitik
Transkulturelle Bildung Eine Herausforderung für Theater und Schule V ANESSA -I SABELLE R EINWAND Das Bundesministerium des Inneren geht davon aus, dass jede fünfte in Deutschland lebende Person einen Migrationshintergrund1 hat. Grund genug, sich Gedanken darüber zu machen, was diese Tatsache für das Angebot der staatlichen Kultureinrichtungen und der Kulturellen Bildung in Deutschland bedeutet. Sind diese auf ein heterogenes Publikum vorbereitet und wie müssen Kulturelle Bildungsprozesse in und mit den Künsten gestaltet werden, um transkulturellen Herausforderungen unserer Gesellschaftsstruktur zu begegnen? Im Folgenden soll vor allem in Hinblick auf Bildungsinstitutionen wie Kindergarten und Schule, aber auch Hochschulen knapp skizziert werden, worin die Herausforderungen sowie Chancen gesellschaftlicher Transkulturalität bestehen und inwiefern Kultur- und Bildungseinrichtungen aktuell fähig sind, darauf zu reagieren. Da das Theater aufgrund seiner künstlerischen Interdisziplinarität und sprachlichen sowie performativen Vermitteltheit besonders geeignet scheint, transkulturelle Prozesse anzustoßen, steht es im Mittelpunkt dieser Analyse.
K ULTURELLE B ILDUNG IST IMMER AUCH TRANSKULTURELLE B ILDUNG Der Begriff der Transkulturalität, im kulturhistorischen Kontext von dem Philosophen Wolfgang Welsch geprägt, verabschiedet sich von einem Kon-
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„Bei den Personen mit Migrationshintergrund handelt es sich um solche, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.“ (Statistisches Bundesamt 2010: 5)
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zept nationalstaatlich geprägter Identitäten, die Kulturen entspringen, die wie „homogene und wohlabgegrenzte Kugeln oder Inseln“ (Welsch 1994: 1) voneinander getrennt sind. Er postuliert im Gegensatz dazu – und wendet sich somit ab von Konzepten der Multi- und Interkulturalität – eine grenzüberschreitende Form der Pluralisierung von Identitäten. Das heißt, es geht ihm nicht um eine Vielfalt und ein Nebeneinander in sich abgegrenzter Kulturen (Multikulturalität) oder um eine Förderung des Dialoges zwischen diesen Kugel-Kulturen, sondern er ist vielmehr der Ansicht, dass in jedem Menschen transkulturelle Elemente stecken, die sich nicht einfach in Gruppen untergliedern lassen. Interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist nicht die „Makroebene“ (Welsch 2010: 10) der Theorie von Welsch, die Verflechtungen verschiedener Kulturen z. B. in der Ernährungsauswahl beschreibt, sondern die „Mikroebene“ (ebd.), welche die „innere Transkulturalität“ (ebd.) der Menschen im 21. Jahrhundert meint, die verschiedenartige kulturelle Einflüsse auf individuelle Art und Weise in ihrer eigenen Identität verbinden bzw. zu verbinden suchen. Die These und daran anknüpfende Theorie von Wolfgang Welsch wird unterstrichen durch Ergebnisse aktueller Studien. So kommt beispielsweise die Sinus-Studie zu „Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund“ aus dem Jahr 2007 zu dem Schluss, dass kein Zusammenhang zwischen der Kulturnutzung, und das heißt auch zwischen Normen und Werten, einer Gruppe von Menschen bestimmter kultureller Herkunft besteht, sondern dass die Kulturnutzung wesentlich durch das gesellschaftliche Milieu bestimmt wird, dem die Befragten zuzuordnen sind (vgl. Sinus Sociovision 2007). Diese Milieus weisen keine Verbindung zur kulturellen Herkunft auf. Menschen mit Migrationshintergrund lassen sich aufgrund ihrer nationalen Herkunft im Bezug auf ihre Kulturnutzung also nicht als homogene Masse betrachten. Nimmt man dieses Ergebnis, das andere Studien (vgl. z. B. Deutscher Bundestag 2007) bestätigen, ernst, führt dies alle Versuche, ein spezielles Kulturangebot für die so genannte Gruppe der Migranten zu entwickeln, ad absurdum. Vielmehr müssen erfolgreiche Kultur- und Bildungsprogramme sich dem Konzept der Transkulturalität stellen und damit umgehen, dass in jedem Menschen Einflüsse verschiedener Kulturen repräsentiert sind, die in unterschiedlicher Ausprägung zu Tage treten und integriert werden müssen. Die Künste und hier vor allem Prozesse Kultureller Bildung sind hervorragend geeignet, Integrations- und Transformationsprozesse, die notwendigerweise jedes Individuum in seiner Entwicklung bewältigen muss, anzustoßen und zu moderieren. Die Künste und allen voran das Theater bringen uns in Kontakt mit dem Anderen und dem Fremden (Alterität). Im Probenprozess und auf der Bühne in eine andere Rolle zu schlüpfen, die Gedanken und Taten einer Figur nachzuvollziehen und wiederzugeben, stellt eine Integrationsleistung und Auseinandersetzung mit „dem Anderen“ dar, wie sie sonst kaum im Alltag gefordert wird. Theater als Spiel mit Möglichkeiten und Fiktionen eignet sich in besonderem Maße vorwegzunehmen, was sich
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biografisch noch entwickeln kann oder muss (vgl. Reinwand 2008). Sich in einer anderen (Kunst-)Sprache auszudrücken, erfordert Übung, verlangt eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem zunächst Fremden und wirft uns zurück auf das Eigene und stellt dieses in Frage. In dem Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ist unter dem Kapitel Migrantenkulturen/Interkultur (Deutscher Bundestag 2007: 210ff.) zu lesen: „Der selbstbewusste Umgang mit dem Fremden setzt den selbstbewussten Umgang mit dem Eigenen voraus.“ (ebd.: 211) Es geht also nicht nur um eine Dialogbereitschaft und Offenheit gegenüber etwas Neuem und Unbekanntem, sondern um eine existentielle Auseinandersetzung mit dem eigenen „In-der-Welt-Sein und Handeln“. Kulturelle Bildung, betrachtet als Allgemeinbildung durch künstlerischkulturelle Zeichensysteme, zielt in einem breiten, modernen Verständnis auf kulturelle Teilhabe an der Gesellschaft und auf Lebenskunst (vgl. Fuchs 2005). Indem durch die leibliche Auseinandersetzung mit den Künsten, die Schulung der Wahrnehmung von unterschiedlichsten Symbolsprachen und die Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturell-biografischen Hintergrund jeder Mensch individuell angesprochen wird, ist Kulturelle Bildung mit ihren künstlerischen Arbeitsformen geeignet, Selbstreflexions- und Selbstbildungsprozesse anzuregen. Ungeahnte Möglichkeitsräume werden er- und geöffnet und bislang Gültiges zur Disposition gestellt. Diese künstlerische Irritation, wie sie z.B. für das Brechtsche Theater wohlbekannt ist, kann zunächst abstoßend und beängstigend wirken. Diese (natürliche) Angst und gleichzeitige Neugierde, Unbekanntem zu begegnen, ist geradezu typisch für interkulturelle Prozesse. Wolfgang Welsch spricht von einem „Steinzeit-Gen“ (Welsch 2010: 9), das uns wohl auch heute noch bestimmt und eine Gruppe nach außen hin zusammenschweißt. Er verwendet hier den Begriff „Tribalismus“ (ebd.). Wege der Kontaktaufnahme und gegenseitigen Verständigung müssen erst gefunden und vorsichtig ausprobiert werden, sodass die Erfahrung gemacht wird: Fremdheit ist überwindbar. Denkt man jedoch das Konzept der Transkulturalität zu Ende, ist in jedem einzelnen Individuum sowohl Bekanntes als auch Fremdes zu finden. Im Austausch mit anderen entsteht etwas Drittes, das beispielsweise im Theater zu neuen Ausdrucksformen führen kann. Wolfgang Sting formuliert es folgendermaßen: „Interkulturelles Theater bewegt sich also zwischen Exotismus (Bestaunen des Fremden), Internationalität (multikulturelles, nichtdialogisches Nebeneinander), Transkulturalität (universell Verbindendes), Hybridkulturalität (kulturelle Mischformen). Während Exotismus und Internationalität keinen Perspektivwechsel und Dialog intendieren, beschäftigen sich Transkulturalität und Hybridkulturalität mit der Vielsprachigkeit der Kulturen und entwickeln neue Ausdrucksformen.“ (Sting 2008: 105)
Die These, die diesem Abschnitt zugrunde liegt, geht aber noch einen Schritt weiter. Demnach kann Kulturelle Bildung im Kern als transkulturelle
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Bildung bezeichnet werden, wenn sie sich an den Prinzipien der Partizipation, Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit orientiert und damit auffordert, zu einer bildenden Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und der es umgebenden sozialen Umwelt. Transkulturelle Bildung, umgesetzt über das Medium der Künste, trägt zur Reflexion über die eigenen historischkulturellen Wurzeln bei, indem sie irritiert und bewegt und somit den Anstoß zu kulturellen Bildungsprozessen gibt, die aus einer Differenzerfahrung zwischen Vertrautem und Fremdem resultieren. Ein biografischer Bildungsprozess hin zu einer transkulturellen Orientierung kann so vollzogen werden, der in einer globalisierten Welt – fast kann man sagen – überlebensnotwendig geworden ist, um Identität zu konstruieren.
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Was können nun Kultur- und Bildungseinrichtungen tun, um Kulturelle Bildung als transkulturelle Bildung zu befördern und damit angemessen und zeitgemäß auf die Chancen, aber auch Herausforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft zu reagieren? Die frühe Sprachförderung bzw. Sprachbildung ist in den letzten Jahren zu einem Schwerpunkt in den Bildungsplänen der Kindertageseinrichtungen aller Bundesländer avanciert. Die Möglichkeit, Kinder schon sehr früh über die Sprache in Kontakt mit anderen Kulturen zu bringen, zu einem Zeitpunkt an dem die kulturellen Hemmschwellen noch niedrig sind, sollte in der Tat nicht ungenutzt gelassen werden. Diese Förderung funktioniert jedoch nur über pädagogische Konzepte, welche die Grundbedürfnisse aller Kleinkinder nach Kommunikation, Interaktion und Bindung als zentrale und nicht zu unterschätzende Lernfaktoren begreifen. Es ist nicht allein damit getan, Kinder in mehrsprachigen Kindertageseinrichtungen durch fremdsprachige Erzieher zu betreuen. Vielmehr muss dem Leitbild der Einrichtung eine Idee von früher transkultureller Bildung zu Grunde liegen, welche die Heterogenität und Individualität der Kinder als Stärke begreift und damit umzugehen weiß. Auch hier bieten die Künste wieder reichlich Potenzial, kleinen Kindern zu versinnbildlichen, wie vielfältig kommuniziert werden kann. Eine Begrüßung kann auf Französisch, Arabisch oder Chinesisch erfolgen und wird von entsprechender Gestik und Mimik begleitet. Auch nonverbal kann man sich hervorragend verständigen. Jeder hat eine andere Art und Weise sich zu bewegen und sich zu artikulieren – und genau das ist bereichernd. Aktuell untersucht das Institut für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim das Sprachbildungsprojekt „Zeig mal – lass hören! Mit allen Sinnen sprechen“ am Übergang von Kindergarten zu Grundschule in Springe bei Hannover. Kinder mit unterschiedlichsten biografischen Hintergründen werden von Künstlern in den Sparten Musik, Tanz, Theater und Bildende Kunst am Übergang von Kindergarten zu Grundschule in Bezug auf ihre Sprach- und Kommunikationsfähigkeit begleitet. Ein wesentliches Zwischenergebnis nach einer ersten Projektlaufzeit von einem Jahr ist, dass die
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proaktive Kommunikation der Kinder untereinander sich wesentlich verbessert hat. Ein sechsjähriges Mädchen beispielsweise kam selbstständig auf die Idee, das Kopftuch der türkischen Klassenkameradin einfach einmal einen Tag lang selbst auszuprobieren, um zu spüren, „wie sich das anfühlt“ – eine Annäherung und Auseinandersetzung mit einer fremden Identität par excellence. Auch das in Deutschland im Aufwind befindliche Theater mit und für die Allerkleinsten leistet im Sinne einer frühen transkulturellen Orientierung Großartiges. Durch das funktionierende europäische Netzwerk „small size“ von Theatermachern, die sich dem Experiment, Theater für die Allerkleinsten zu machen, verschrieben haben, entstehen internationale Theaterfestivals, die nicht nur das transkulturelle Bewusstsein der Erwachsenen fördert. Wie unterschiedlich und dennoch für Zuschauer jeden Alters reizvoll und verständlich kulturelle Symbol- und Formsprachen auf der Bühne umgesetzt werden können, wird hier besonders deutlich.
T RANSKULTURELLE S CHULENTWICKLUNG Kultur und Schule ist zu einem Begriffspaar geworden, das sich schwer tut in einer dauerhaften strukturellen Verbindung. Doch gerade im Umgang mit unterschiedlichen ethnischen Kulturen – ein Thema, das längst nicht mehr nur so genannte „Brennpunkt-Schulen“ betrifft, sondern zu einer Herausforderung in fast jedem Schulalltag geworden ist – täte die Schule gut daran, das Potenzial der Kulturellen Bildung, das außerhalb der Schule breit verfügbar ist, zu nutzen. Ohne Barrieren und Ängsten bewusst zu begegnen, wird es schwer, Multikulturalität im Sinne einer Transkulturalität als Chance zu begreifen und im schulischen Alltag nutzbar zu machen. Insofern ist es nicht mit einmaligen Aktionen getan, bei denen als „kulturelles Highlight“ ein interkulturelles Theaterstück aufgeführt wird. Schule muss sich im Kern verändern. Die Impulse hierfür können, wie die Erfahrung vieler KulturSchule-Kooperationen zeigt, nicht von innen kommen. Lehrer sind im Alltag meist zu belastet, um eine (trans-)kulturelle Schulentwicklung voranzutreiben und neue Ideen, Ansätze und Visionen zu entwickeln. Den Veränderungswillen der Mehrheit des Kollegiums vorausgesetzt, kann es an dieser Stelle hilfreich sein, außerschulische Kultureinrichtungen oder freie Künstler hinzuzuziehen. Der Blick von außen kann dazu führen, dass interne Konflikte, die auch durch kulturelle Heterogenität entstehen, nicht mehr länger als Brandherde, sondern als Entwicklungspotenziale begriffen werden. Ein Theatermacher, der kontinuierlich auf der Bühne Themen und Alltag der Schule thematisiert, wird schnell über dieses Angebot hinaus Wirkungen erzielen und Denkprozesse bei Lehrern und Schülern anregen. Das können alle Schulen bestätigen, die sich bislang auf diesen Dialog eingelassen haben. Insbesondere die Schulleiter sind in ihrem eigenen Interesse gefordert, eine kulturelle Schulentwicklung und die Vernetzung mit außerschulischen Partnern voranzutreiben und eine Entwicklung „von unten“ zu initiieren, Frei-
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räume mutig auszuweiten, auch wenn strukturelle Vorgaben und explizite Genehmigungen „von oben“ fehlen. Aber nicht nur die Schulen, sondern auch die Kultureinrichtungen müssen sich bewegen und in Hinblick auf die Bildung und Erziehung eines offenen Publikums von morgen Angebote machen, die für verschiedene Altersgruppen attraktiv sind. Durch Konzepte, die sich in den Schulalltag und -ablauf einpassen, ist es möglich, eine große Anzahl an Schülern zu erreichen. Kultureinrichtungen sollten diese Netzwerke als Entwicklungschance begreifen, indem sie eine unmittelbare Rückmeldung auf ihre künstlerische Arbeit bekommen – von einem Publikum, das die Zukunft der etablierten Kultureinrichtungen in den nächsten Jahren maßgeblich mitbestimmen wird.
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ALS
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Transkulturelle Orientierungen werden jedoch von konkreten Personen, transkulturellen Kulturvermittlern, angestoßen, und nicht durch Institutionen. Eine „interkulturellere Qualifikation von Erziehern, Lehrern und Pädagogen“ (Deutscher Kulturrat 2010: 2) sowie Kunstschaffenden ist also unabdingbar. Hierzu empfiehlt der Deutsche Kulturrat (2010: 4) eine „Interkulturelle Öffnung der Bildungsstrukturen“ und eine „verstärkte Einstellung von Erziehern, Pädagogen und Lehrern mit Zuwanderungsgeschichte, um ihre Sichtbarmachung und Teilhabe an Bildungsstrukturen zu erhöhen, Kinder und Jugendliche zur Identifikation zu ermutigen und Zugänge zu Eltern und Communities zu erleichtern.“ Dass hierin noch Nachholbedarf besteht, zeigt die erste deutsche bundesweite Bestandsaufnahme zur „Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (Ahrens 2008). Im Jahr 2007 haben sich über eine computergestützte schriftliche Umfrage Verantwortliche von 696 Theaterprojekten mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der Untersuchung beteiligt. Ein wesentliches Ergebnis der Studie ist, dass die Mehrheit der Projektleiter deutscher Herkunft ist und nur 36 Prozent dieser Gruppe „die eigene Herkunftskultur als Einflussfaktor in der eigenen praktischen Arbeit“ (Ahrens 2008: 17) überhaupt wahrnimmt. Es ist also überwiegend noch kein transkulturelles Bewusstsein vor allem bei Akteuren ohne Migrationshintergrund in diesem Feld vorhanden. 25 Prozent der Verantwortlichen verfügt jedoch über einen Migrationshintergrund und geht dagegen von einem „starken bis sehr starken Einfluss auf die eigene Theaterarbeit“ (ebd.) aus. Eine andere Untersuchung zur „transkulturellen Identitätsbildung von Studierenden in pädagogischen Studiengängen“ (Hauenschild 2005) kommt zu dem positiven Ergebnis, „dass Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund transkulturelle Orientie-
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rungen2 entwickeln können. Offenheit bedeutet hier, die Kulturgebundenheit des eigenen Wahrnehmens, Denkens und Handelns zu reflektieren.“ (ebd.: 6) Dies wurde untersucht und zeigt sich beispielsweise in den Begriffen von „Heimat“ und „Fremde“. Multiplikatoren mit transkulturellen Orientierungen fühlten sich mehreren Heimaten zugehörig, verbanden Fremde mit Neugier, das Verständnis von Kultur ging über Nationen als spezifische Kulturräume hinaus oder es wurden im Hinblick auf Traditionen und Rollenbilder „neue Werte zugelassen und konfliktarm integriert.“ (ebd.: 5). Um eine transkulturelle Bildung in Kindergärten, Schulen und Hochschulen voranzutreiben genügt es also nicht, Menschen mit Migrationshintergrund verstärkt als Vermittler in den verschiedenen Ausbildungsfeldern zu positionieren. Dies kann ein erster Schritt zur Auseinandersetzung mit transkultureller Identitätsbildung sein, führt aber im schlechtesten Fall dazu, dass nationale Unterschiede betont und zementiert werden und Kinder als „Repräsentanten einer Nationalkultur“ (Radtke 1994) fungieren. Dagegen steht ein Bildungskonzept, das auf die kulturelle Selbstreflexivität jedes Einzelnen, Pädagogen wie Schüler, setzt. Wie gezeigt werden konnte, sind die Künste, insbesondere das Theater, geeignet, die Auseinandersetzung mit anderen Denkweisen und Lebenswelten zu fördern und darüber kulturelle Selbstinterpretationen aufzubrechen.
T RANSKULTURELLE B ILDUNG ALS KULTURPOLITISCHE F ORDERUNG Verschiedenste Anstrengungen in diesem Feld müssen bildungs- und kulturpolitisch unternommen werden, um eine nachhaltige transkulturelle Bildung voranzutreiben: Bildungspolitisch sind zunächst die Freiräume im Schulalltag für eine rezeptive und produktive Beschäftigung mit den Künsten auszuweiten und die Pädagogen zu entlasten, sodass es möglich wird, die Individualität jedes Kindes angemessen zu berücksichtigen. Neue Wege, das kulturelle Umfeld der Kinder- und Jugendlichen mit einzubeziehen und somit an die Lebenswelten der Schüler näher heranzukommen, müssen notwendigerweise entwickelt werden. Das beinhaltet eine transparente und kreative Elternarbeit. Außerschulische Kulturvertreter können hilfreich sein, mit methodischkünstlerischem Wissen und entsprechenden Arbeitsformen diese Entwicklungen voranzutreiben. Nicht zuletzt empfiehlt der Deutsche Kulturrat
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„Unter transkulturellen Orientierungen verstehen wir die relativ konfliktarme Integration unterschiedlicher kultureller Referenzen, die sich vor allem in Offenheit in verschiedenen Bereichen ausdrückt. Wir können allgemein festhalten, dass Menschen, die mit mindestens zwei Kulturen konfrontiert sind, nicht per se transkulturell orientiert sein müssen.“ (Hauenschild 2005: 5)
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(2010: 4) zu Recht eine „Wertschätzung und gleichberechtigte Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Kulturen, Traditionen und künstlerischen Einflüsse der Zuwanderer, die sich auch in den Bildungscurricula widerspiegeln sollen.“ Kulturpolitisch geht es ganz im Sinne des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (UNESCO-Kommission 2005) darum, die Künste als nationenübergreifende Verständigungsmöglichkeit zu begreifen und künstlerische Heterogenität und Individualität zu fördern. Dies heißt auch, dass kommunale transkulturelle Kulturkonzepte entwickelt werden müssen, welche die Bevölkerung vor Ort mit einbezieht und anspricht, da beispielsweise der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund unter den Bundesländern stark variiert (vgl. Deutscher Bundestag 2007). Das Theater als generationenübergreifendes Medium der Kommunikation und Ort der diskursiven Annäherung an Alteritätsfragen ist in der Entwicklung transkultureller Orientierungen wohl eines der wirksamsten Bildungsmittel, die wir haben.
L ITERATUR Ahrens, Petra Angela (2008): Bestandsaufnahme. Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, in: Klaus Hoffmann/Rainer Klose (Hg.), Theater interkulturell. Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen, Milow u. a.: Schibri-Verlag, S. 16-76. Deutscher Bundestag (Hg.) (2007): Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Drucksache 16/7000, Berlin: Dt. Bundestag. Deutscher Kulturrat (Hg.) (2010): Lernorte interkultureller Bildung im vorschulischen und schulischen Kontext, Berlin, 08.10.2010, http://www.ku lturrat.de/detail.php?detail=1881 [17.02.2011]. Fuchs, Max (2005): Kulturelle Bildung. München: Kopaed. Haberkorn, Sina (2010): „Ein neues Publikum für Kunst und Kultur? Zum Kulturverständnis und zur Kulturnutzung von Menschen mit Migrationshintergrund“, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik. Hilmar Hoffmanns „Kultur für alle“ reloaded, Hildesheim: Univ.-Verlag, S. 221-230. Hoffmann, Klaus/Klose, Rainer (Hg.) (2008): Theater interkulturell. Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen, Berlin: Milow u. a.: SchibriVerlag. Hauenschild, Katrin (2005): „Transkulturalität – eine Herausforderung für Schule und Lehrerbildung“, in: www.widerstreit-sachunterricht.de, Ausgabe Nr. 5/2005, http://www2.hu-berlin.de/wsu/ebeneI/didaktiker/hau en/transkult.pdf [16.02.2011]. Radtke, Frank-Olaf (1994): „Fremd geboren wird keiner, fremd wird man gemacht“, in: Die Grundschulzeitschrift, H. 71, Seelze: Friedrich Verlag, S. 21-37.
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Theater und Migration in der internationalen Kulturarbeit Komplexe Realitäten brauchen Kulturelle Bildung U TE H ANDWERG Das Interesse an Bildung und insbesondere an Kultureller Bildung ist in den vergangenen Jahren national und international stark gewachsen. UNO und UNESCO haben auf der internationalen Ebene das Thema Bildung zu einem zentralen Arbeitsfeld entwickelt und mit aktuellen Initiativen wie beispielsweise der Weltdekade (2005-2014) „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ oder der „UNESCO Road Map für Kulturelle Bildung“ einen notwendigen Perspektivenwechsel eingeleitet. Bildung gilt als ein Schlüssel für die zu lösenden Aufgaben, mit denen die Weltgemeinschaft vor dem Hintergrund einer sich rasant verändernden Welt konfrontiert ist. Weltweite Armutsbekämpfung, die Durchsetzung von Menschenrechten, das Recht auf Bildung sowie der Schutz und die Förderung kultureller Vielfalt stehen hier stellvertretend für eine ganze Fülle von globalen Aufgaben und Herausforderungen. Die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse Ende 2001 führte auf nationaler Ebene zu heftigen Diskussionen um das schlechte Abschneiden der Schüler in Deutschland und zu einer überfälligen und durchaus wechselhaften Fokussierung auf das Thema Bildung. Die PISA-Resultate attestierten dem Bildungssystem der Bundesrepublik gravierende Defizite mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit und Schulstruktur, was Bund und Länder zu umfassenden finanziellen Investitionen in die Neustrukturierung von Schule veranlasst hat, zum Beispiel mit dem milliardenschweren Bundesprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung (2003-2007)“ zum Ausbau von Ganztagsschulen und mit zahlreichen Modellversuchen zur Schulentwicklung. Fast zeitgleich entwickelte sich mit Blick auf die Ausländerpolitik ein Paradigmenwechsel in Deutschland. Mit der Regierungsübernahme von Rot-Grün im Jahre 1998 setzte sich die Anerkennung der Bundesrepublik als Einwanderungsland in der Politik durch. Damit folgte sie dem Weg, den zivilgesellschaftliche Akteure mit vielfältigen Initiativen und Projekten für das Zusammenleben aller Menschen in Deutschland schon lange gehen. Der Prozess dieser Anerkennung durchläuft in der gesellschaftspolitischen Dis-
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kussion bis dato wechselhafte Phasen, die vor allem im politischen Lager, insbesondere vor Wahlen, gekennzeichnet sind von gegenseitigen Schuldzuweisungen mit Blick auf gescheiterte Integrationsmodelle, immer wiederkehrenden Debatten um eine deutsche Leitkultur, der Forderung von Integrationstests, entgleisenden Stigmatisierungen ethnischer Gruppen und vielem mehr. Die Darstellung dieser beiden gesellschaftspolitischen Entwicklungslinien, des Bildungsdiskurses nach PISA und der Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland, ist deshalb sinnvoll, weil beide sich zunächst scheinbar unabhängig voneinander herausgebildet haben, dann aber zu einer Verzahnung gekommen sind, die für das Thema Bildung nicht ohne Folgen geblieben ist. Teile der Politik und Gesellschaft führten beispielsweise die ernüchternden PISA-Ergebnisse primär nicht etwa auf Versäumnisse in der Bildungspolitik zurück, sondern reduzierten sie auf die hohe Anzahl von lernschwachen und mit der deutschen Sprache überwiegend nicht ausreichend vertrauten Schülern mit Migrationshintergrund. Eine These, die auf Grundlage der Fakten schnell widerlegt werden konnte. Es etablierte sich eine Unkultur in der Auseinandersetzung, die nahezu ausschließlich auf Defizite bei der Gruppe der Einwanderer zielte und die bis heute nicht überwunden ist. Der Sachlogik der Debatte folgend, wurde das Thema Bildung zunehmend angesiedelt zwischen PISA und Interkultur und die Kulturelle Bildung erfährt im Rahmen dieser Entwicklung eine bis heute wachsende Bedeutung in Politik und Gesellschaft. Bei aller Kritik lässt sich in der Zusammenfassung festhalten: Bildung und speziell Kulturelle Bildung hat national wie international Konjunktur. Die Themen Einwanderung und Integration haben in Deutschland in den vergangenen Jahren im Grundsatz eine positive Wandlung erfahren. Hinweise für ein Umdenken in der Politik auf Bundesebene sind zum Beispiel der Nationale Integrationsplan, die Integrationsgipfel unter Federführung des Kanzleramtes und die Islam-Konferenz, einberufen vom damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble. Von einem Paradigmenwechsel im Umgang mit Multiethnizität zu sprechen, ist verfrüht, insbesondere unter Berücksichtigung der in Deutschland immer noch sehr stark auf die Defizite der Einwanderer ausgerichteten Diskussionen.
M IGRATION IM T HEATER UND IN DER T HEATERPÄDAGOGIK – I NNENANSICHTEN Das Theater in Deutschland spiegelt die gesellschaftliche Vielfalt der unterschiedlichen im Land lebenden Ethnien nicht wider. Der Publizist Mark Terkessidis fasst diese unbestrittene Tatsache folgendermaßen zusammen: „Für viele Personen mit Migrationshintergrund ist das Theater weiterhin ein Raum, der auf ihrer cognitive map der Stadt gar nicht auftaucht. Es scheint per se den ‚Deutschen‘ zu gehören. Ein Besuch würde die meisten in den […] Zustand zwischen
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Angst und Aggression katapultieren, denn viele wüssten wohl nicht, was anziehen, wie sich benehmen, was sagen.“ (Terkessidis 2010: 185)
Migranten sind als Publikumsgruppe nicht selbstverständlich in Deutschlands Theatern, was mit Blick auf Teilhabegerechtigkeit turnusmäßig zu Kontroversen über die Einführung einer Quotenregelung für öffentliche Kultureinrichtungen führt, bislang mit offenem Ausgang. Neben der Gruppe der Migranten, die keineswegs als homogen gesehen werden kann, zählen auch viele Menschen der so genannten Mehrheitsgesellschaft nicht zu den regelmäßigen Besuchern öffentlicher Kultureinrichtungen. Studien über die Zusammensetzung des Publikums gibt es bislang allerdings nur wenige. Im Jahr 2009 veröffentlichte das Zentrum für Audience Development am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin die Ergebnisse der Studie „Migranten als Publikum in öffentlichen Kultureinrichtungen“. Gefragt wurden Vertreter von Kultureinrichtungen, ob und in welcher Form eine Auseinandersetzung mit dem Thema in der Einrichtung stattfindet, nach dem Stellenwert der Migranten als Zielgruppe und nach dem Vorhandensein spezieller Marketinginstrumente für eben diese. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass sich in vielen Kultureinrichtungen mit Blick auf die Publikumsgruppe der Migranten einiges bewegt, jedoch „vielerorts noch ein genereller Entwicklungsbedarf besteht“ (Zentrum für Audience Development 2009: 48). In die Diskussion um notwendige Veränderungen an Theatern gehören neben der Zusammensetzung des Publikums auch die Frage nach inhaltlichen Konzeptionen und der Struktur der Ensembles. Auf neue Wege haben sich in den vergangenen Jahren zum Beispiel das Ballhaus Naunynstraße unter Leitung von ùermin Langhoff und das Kölner Schauspielhaus unter Leitung von Karin Beier gemacht. Produktionen mit Jugendlichen, wie „Heimat im Kopf“ oder „Familiengeschichten“ von Nurkan Erpulat sowie „Frühlingserwachen“ von Wedekind in einer Neubearbeitung von Nuran David Çalıú am Schauspiel Hannover, zeigen neue Ansätze von Staats- und Stadttheatern bei der Auseinandersetzung mit den Veränderungen in einer multiethnischen Gesellschaft auf. Nach Terkessidis stehen wir in Deutschland vor der großen Herausforderung einer interkulturellen Alphabetisierung. Am Ende des Prozesses werden wir eine neue und, so bleibt zu hoffen, gemeinsame Sprache erlernt haben (vgl. Terkessidis 2010). Im theaterpädagogischen Bereich und Amateurtheater beschäftigen sich verschiedene Organisationen und Verbände in unterschiedlichen Projekten mit den Themen Einwanderung und Integration. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel & Theater veröffentlichte zum Beispiel eine bundesweite Bestandsaufnahme zur interkulturellen Theaterarbeit (Hoffmann/Klose 2008). Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme basieren auf den Erfahrungen von 471 Projektleitern. Insgesamt wird darin über 696 Theaterprojekte Auskunft gegeben, an denen Kinder und Jugendliche teilgenommen haben. Die Zielsetzungen der Bestandsaufnahme waren auf zwei Ebenen angesiedelt. Die erste Ebene umfasste eine Übersichterstellung, an welchen Orten und in
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welcher Weise junge Migranten an interkulturellen theaterpädagogischen Angeboten teilhaben. Künstlerische Zielsetzungen, Prozesse bei der Themenauswahl, theaterpädagogische Methoden, Kooperationsmodelle, allgemeine und besondere Rahmenbedingungen der Theaterarbeit wurden unter anderem abgefragt. Auf der zweiten Ebene sollen die Ergebnisse der Erhebung die Szene der beteiligten Theaterverbände, Institutionen und Initiativen zu einer verstärkten und selbstverständlichen Arbeit mit jungen Migranten anregen. Parallel verlaufende Strukturen im Feld sollen für das Thema weiter geöffnet, bisher nicht erreichte Strukturen in die Arbeit eingebunden, die Kommunikation untereinander verbessert, neue Formen der Kooperation erprobt und weitere Projekte entwickelt werden. Grundlage für diesen Prozess sind die von Experten auf Basis der Befragungsergebnisse formulierten Handlungsempfehlungen, die mit der aus dem Projekt hervorgegangenen Dokumentation zur Diskussion gestellt werden. Eine Verklammerung der Ergebnisse mit den internationalen Initiativen und Projekten des Verbandes, insbesondere mit Partnern in Ländern wie der Türkei, Russland und Israel, soll den Erfahrungstransfer nach dem Prinzip der Zweibahnstraße möglich machen.
Z WISCHEN P ROJEKTKULTUR
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Die zunehmende Internationalisierung von Arbeitszusammenhängen, komplexe Transformationsprozesse, die den Erdball umspannen, eine wachsende Bedeutung des interkulturellen und -religiösen Dialoges stellen internationale Kulturarbeit vor große Herausforderungen. Reagieren Auswärtige Kultur, Bildungs-, Entwicklungs- und Jugendpolitik der Bundesrepublik darauf mit abgestimmten Konzepten? Es gibt punktuell Berührungen wie zum Beispiel im Feld Kultur und Entwicklung und parallel laufende Projekte wie internationale Freiwilligendienste, von einer koordinierten und ressortübergreifenden Neukonzeption aber scheint man weit entfernt. Welche inhaltliche Klammer verbindet die vier Bereiche miteinander? Kernanliegen der aktuellen Kulturpolitik sind der Schutz und die Förderung der kulturellen Vielfalt sowie die Förderung von Kreativität. Um diese Ziele erreichen zu können, braucht es eine offene und prozessorientierte Programmatik, deren zentraler Mittelpunkt die künstlerische Zusammenarbeit ist, und die nicht ausgerichtet ist auf eine Aufhebung der Freiheit der Künste zum Zwecke der Umsetzung politischer Interessen. Die in Goethe-Instituten häufiger anzutreffende Praxis der nahezu ausschließlich auf Repräsentation angelegten Vermittlung unterschiedlicher Kulturformate sollte mit Blick auf die Zielsetzungen der Kulturarbeit kritisch hinterfragt werden. Ich möchte exemplarisch und vor dem Hintergrund meiner praktischen Erfahrungen das Arbeitsfeld Kultur und Entwicklung als kulturelles Programm eingehender beleuchten. Mit Blick auf das vom Bundesjugendministerium geförderte Programm der jugendpolitischen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern (JPE) lässt sich festhalten, dass die Einbindung zivil-
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gesellschaftlicher Strukturen und kulturpädagogischer Ansätze gelingt und die Förderformate, Begegnungsprogramme für Jugendliche und Multiplikatoren, gut geeignet sind, eine auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und Nachhaltigkeit basierende Kooperation aufzubauen. Die Ausrichtung des Programms ermöglicht eine Kulturarbeit, die nicht auf Eliten und nicht ausschließlich auf die großen Städte ausgerichtet ist. Die Kooperation bindet Bevölkerungsgruppen in ländlichen Gebieten und städtischen Slums ein und ermöglicht eine Vernetzung unterschiedlicher Akteure. Die Zusammenarbeit mit den Ländern des Südens nimmt im Rahmen der europäischen und internationalen Jugendpolitik des Bundesjugendministeriums keine führende Position ein, was direkten Einfluss auf die inhaltliche Weiterentwicklung und die finanzielle Ausstattung des Programms hat. Obgleich in den letzten Jahren die Zahl der Förderanträge und das Antragsvolumen gestiegen sind, bleibt das Programm-Budget auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Die weltweite ökonomische und kulturelle Entwicklung führt zu einer zunehmenden Angleichung der gesellschaftlichen Probleme rund um den Globus. Probleme, die man vor Jahren nur den Ländern des Südens zugeschrieben hat, treten zunehmend auch in den Industrienationen auf: Zunahme von Armut, Teilhabeungerechtigkeit, Umgang mit Ab- und Einwanderung, soziale Ausgrenzung und Benachteiligung. Für Akteure aus Deutschland bietet eine solche Kooperation Raum und Möglichkeit für gemeinsames Lernen, auf das im nationalen Kontext zugegriffen werden kann. Das Thema Migration spielt in unserer Kooperation mit Partnern in Ghana und Marokko sowie der Türkei eine wichtige Rolle und wird in unterschiedlichen Projekten thematisiert. Ergebnisse und Erfahrungen werden ausgewertet und fließen ein in die Debatte um Migration und Theater im nationalen Kontext. In den Förderprogrammen und Einrichtungen des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung spielt die Kulturelle Bildung nur eine geringe Rolle. Es fehlt noch immer eine klare inhaltliche Positionierung zum Thema Kultur und Entwicklung seitens des Ministeriums. Kultur ist hier nach wie vor kein klar definierter Faktor der Entwicklungszusammenarbeit. Ganz anders verhält sich das beispielsweise in anderen europäischen Ländern wie Norwegen, Niederlande, Finnland und anderen (Gad 2008: 171). Kultur ist dort konzeptioneller Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschland kann hier von seinen Nachbarn lernen, „in einer neuen Sprache positiv gebrochen, die Unmöglichkeiten der unsrigen erkennen; die Systematik des Unbegreifbaren erlernen; unsere ‚Wirklichkeit‘ unter dem Einfluss anderer Einteilungen […] auflösen“ (Barthes 1981: 17).
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L ITERATUR Barthes, Roland (1981): Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gad, Daniel (2008): „Der Dialog zur Nachhaltigkeit. Auswärtige Kulturarbeit und Entwicklungspolitik“, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Auswärtige Kulturpolitik. Dialog als Auftrag – Partnerschaft als Prinzip, Essen: Klartext, S. 169-182. Hoffmann, Klaus/Klose, Rainer (Hg.) (2008): Theater interkulturell. Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen, Milow u. a.: Schibri-Verlag. Terkessidis, Mark (2010): Interkultur, Berlin: Suhrkamp. Zentrum für Audience Development (Hg.) (2009): Migranten als Publika in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen. Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite, Berlin: ZAD, http://www.geisteswissenschaft en.fu-berlin.de/v/zad/media/zad_migranten_als_publika_angebotsseite.p df [23.03.2011].
Theater und kulturelle Vielfalt in Großbritannien Eine Herausforderung für die Kulturpolitik1 G RAHAM L EY In Großbritannien ist „Cultural Diversity“ eine der vielen Begriffe, die über die Jahrzehnte in den allgemeinen Strukturen der Förderung und der Kulturplanung eingegangen sind. Hinter dem Begriff der kulturellen Vielfalt steht ein breit gefasstes Konzept, das für viele Kulturschaffende ein vager kulturpolitischer Ausdruck ist, der seine Verwendung nur in einer künstlichen Unterscheidung von „kultureller“ und „ethnischer“ Kunst findet. Die „Diversity Agenda“ ist mehr unter britischen Kulturpolitikern als britischen Kulturschaffenden bekannt, da viele Kulturschaffende der Ansicht sind, dass es ihre künstlerische Arbeit nicht direkt betrifft. Die meisten Förderstrukturen beinhalten jedoch ein geringes Budget, die in Initiativen zur theoretischen Strukturplanung von kultureller Vielfalt investiert werden. So ist die Agenda der kulturellen Vielfalt in Wahrheit mehr ein „Reden über das Reden“ innerhalb der Institutionen der Kulturförderung als ein aktuelles Programm oder eine konkrete Strategie zur Förderung der kulturellen Vielfalt. Die großen Initiativen, die vom Arts Council in der Förderung für kulturelle Vielfalt vorgenommen wurden, haben zweifellos über die Jahre die Einbindung von Kulturschaffenden mit ethnischem Hintergrund in die Kunst- und Theaterszene Großbritanniens erreicht und sind die Grundlage für die Entwicklung von Theatergruppen und Aktivitäten der kulturellen Vielfalt in Großbritannien. Zugleich gab es immer vehemente Kritik gegen eine gezielte Förderung und die Unterscheidung von britischer Kultur und kultureller Vielfalt, die meist von Kulturschaffenden mit ethnischem Hintergrund geäußert wur-
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Dieser Text wurde als Vortrag im Rahmen des Symposiums „Theater und Migration. Herausforderung und Auftrag für die Kulturgesellschaft“ am 25.06.2010 in Köln unter dem Titel „Theatre and Diversity – a challenge for arts policy?“ gehalten und bearbeitet und übersetzt von Azadeh Sharifi.
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de. Dieser Beitrag möchte die Herausforderungen der kulturellen Vielfalt in Großbritannien anhand der Geschichte von etablierten und erfolgreichen britisch-asiatischen Theatergruppen darstellen und Maßnahmen der britischen Kulturpolitik in Form des Arts Council aufzeigen.
G ESCHICHTEN DER E INWANDERER IN G ROSSBRITANNIEN Eine aktuelle Debatte, die in der britischen Gesellschaft diskutiert wird, ist das Konzept von „Multikulturalismus“ und dem politischen Äquivalent von kultureller Vielfalt. Für die konservativen Parteien in Großbritannien bedeutet „Multikulturalismus“ ein kultureller Relativismus, unter dem sie, nicht etwa einen nationalen, allgemeingültigen oder universalen Standard verstehen, sondern einen Maßstab nach den Vorstellungen der jeweiligen ethnischen Gemeinde2. Darin ist eine Angst vor einer separaten sozialen Gesellschaft mit eigenen traditionellen Werten inbegriffen, die von der nationalen Autorität toleriert wird. Im Zusammenhang mit Kunst wird Multikulturalismus als „eine Art Kunst, mit der man nicht bekannt ist, die aber mit unseren Geldern finanziert wird“ verstanden und als eine Kunst, die nicht am britischen, künstlerischen Standard gemessen werden kann. Daher steht kulturelle Vielfalt auch immer im Verdacht, sich nicht an den nationalen Standards orientieren zu können. Gegen dieses Verständnis der Kunst der kulturellen Vielfalt gibt es Kritik seitens der Künstler selbst und des Arts Council. Für die Entwicklung der kulturellen Vielfalt sind Diskussionen, welche die Grundlage der künstlerischen Arbeit immer wieder in Frage stellen, ein zu berücksichtigender Aspekt. Der Hinweis auf die politisch-aktuelle Debatte hat jedoch eine relativ kurzfristige Bedeutungsdauer und die von Politik betriebene Klientelpolitik auf die langfristige Entwicklung meist wenig Einfluss. Die Entwicklung der kulturellen Vielfalt, insbesondere beim Theater und ihrer Förderung durch die Kulturpolitik, ist dynamisch verlaufen. Asiatische3 Theatergruppen sind als Reaktion auf die einschränkende Einwanderungspolitik entstanden, die in den 1960er und 1970er nach der großen Migrationswelle aus Ostafrika und Bangladesch eingeführt wurde. Mit der zunehmend restriktiven Gesetzgebung entwickelte sich verstärkt die Selbstorganisation in den ethnischen Gemeinden und mit der Selbstorganisation
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Gemeinde wird hier als Übersetzung des englischen Wortes Community gebraucht. In Großbritannien, das wird im Laufe des Beitrages auch deutlich, gibt es eine starke örtliche Ansammlung von Einwanderergruppen und daher auch eine stärkere Vernetzung in den regionalen Siedlungen. Ehemalige Einwanderer aus dem indischen Subkontinent werden als „Asian“ und „Asian-british“ bezeichnet.
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kam die Idee einer Förderung auf, die bis hin zur Selbstrepräsentation durch künstlerischen Ausdruck ausgeweitet wurde. Die Diaspora in Großbritannien ist eine Konsequenz des britischen Imperiums. Im besonderen Fall von Ostafrika bestand bis Mitte des 20. Jahrhunderts ein vertragliches Abkommen zwischen dem British Empire und dem indischen Subkontinent, die Mitarbeiter nach Afrika als Absicherung für den Prozess der späten Kolonialisierung sandten. Diese Personengruppe aus dem indischen Subkontinent wurde in den späten 1960ern von den unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten vertrieben und ließ sich in Großbritannien der Nachkriegsjahre nieder. Die freie Einreise nach Großbritannien für Bewohner des Commonwealth, die im British Nationality Act von 1948 begründet lag, wurde mit dem Commonwealth Immgration Act von 1962 stark eingeschränkt und hatte in den 1960er Jahren erhebliche Folgen. Ab 1968 schränkte das Commonwealth Immgration Act die Einwanderung auf solche Personen ein, die eine enge, familiäre Verbindung zu Großbritannien hatten. Im Jahre 1974 wurde die Labour Party unter Harold Wilson wiedergewählt und eine Amnestie für illegale Einwanderer als Entschärfung der Strenge des im Jahr 1971 in Kraft getretenen Immigration Act eingeführt. Der steigende Erfolg der faschistischen Nationalpartei und der Nationalen Front in regionalen und nationalen Wahlen, das Verhalten der Polizei und Einheiten wie der Special Patrol Group, die mit rassistisch-motivierter Einstellung unter Verdacht standen und Konfrontationen zwischen den Demonstranten und jungen Menschen afro-karibischer und asiatischer Abstammung häuften sich. Im August 1976 explodierten die Spannungen auf dem Notting Hill Carnival. Auf einem Konzert formulierte der Rockmusiker Eric Clapton rassistische Bemerkungen, die eine umgehende Gründung des Rock Against Racism im selben Jahr anregten, gefolgt von der Gründung einer Anti Nazi League im Jahre 1977. Auch die ethnischen Gemeinden begannen auf regionaler Ebene gegen rassistisch-motivierte Gewalt und Vorurteile vorzugehen. Nach dem Mord von Gurdeep Singh Chaggar4 wurde das Southall Youth Movement, die erste indisch-britische Jugendbewegung gegründet. Nach dem Mord von Altab Ali Beg im Mai 1978 im East End von London formierte sich die bengalisch-britische Jugendliga (Bengali Youth League) und die Southall Black Sisters wurde im Jahr 1979 gegründet.
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ARTS
B RITAIN IGNORES “
Durch die politischen und gleichzeitig künstlerischen Aktivitäten der Einwanderer gab es genügend strukturelle Unterstützung und Aufmerksamkeit für „The arts Britain ignores“ von Naseem Khan. Dieser Bericht war vom
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Der junge Asiat wurde von einer Gruppe junger Neonazis erstochen.
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Arts Council, der Calouste Gulbenkian Foundation und der Community Relations Commission in Auftrag gegeben und 1976 von der Community Relations Commission5 veröffentlicht worden. Khan hatte für ihren Bericht die künstlerische Arbeit verschiedener ethnischer Gemeinden besucht und ihre Aktivitäten für den Bericht festgehalten. Hierzu gehörten die italienischen, polnischen und griechischen Gemeinden wie auch die vom indischen Subkontinent und die afro-karibischen Gemeinden. Ihre These war, dass die künstlerischen Aktivitäten in den Gemeinden zwar blühten, aber mehr einer folkloristischen Kunst zugeordnet und unter Gemeindeaktivitäten klassifiziert werden mussten. Als Folklore war die Kunst der ethnischen Gemeinden für die nationale Wahrnehmung bedeutungslos und uninteressant. Sie war zudem der Ansicht, dass künstlerische Ambitionen in den Gemeindeaktivitäten sich nicht durchsetzen würden. Ihr Bericht führte zur Gründung des Minority Arts Advisory Service, der über ethnische Kunst in den verschiedenen Regionen von Großbritannien recherchierte und Materialien zur Verfügung stellte, die nun in der University of Warwick gesammelt und archiviert sind. Viele bemerkenswerte Theatergruppen wie George Evgeniou und des Teatro Technis im Camden Town, London, oder die afro-karibischen Theatergruppen wie Talawa und Temba entstanden zu diesem Zeitpunkt. Hier soll hauptsächlich auf das Asian British Theatre (South Asian British Theatre) eingegangen werden. Die Theatergruppen in Großbritannien sind teilweise als Reaktion auf ansteigende rassistische Bedrohung und Ablehnung durch das konservative politische Lager entstanden. Der Hintergrund war nicht nur die ansteigende restriktive Gesetzgebung gegenüber Einwanderung, sondern die fehlende politische Stärke des nachkriegs-linksliberalen Konsensus während der 1970er Jahre. Sowohl Konservative wie auch die Labour Party waren nicht in der Lage, die selbstbewussten faschistischen Bewegungen, die immer wieder die ethnischen Gemeinden auch mit offener Gewalt bedrohten, aufzuhalten.
D IE H YBRIDITÄT
DER
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Tara Arts, einer der wichtigsten asiatisch-britischen Theatergruppen, wurde in Wandsworth im südwestlichen London, weit weg vom Zentrum der Ereignisse, von einer jungen Studentengruppe ins Leben gerufen. Das charakteristische an der Gründung für die Zeit war, dass diese Gruppe nichts über Theater wusste und die einzelnen Personen weder Theater- noch Schauspielstudierende waren. Aber sie waren der Ansicht, dass es an einer Selbstrepräsentation von britischen Asiaten fehlte und sie entschieden sich fürs Theater, da für die Theaterarbeit keine große Finanzierung notwendig sei.
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Später in Commission for Racial Equality umbenannt.
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Am Anfang arbeiteten sie in den Gemeindezentren und zeigten ihre Inszenierungen nur in verschiedenen Gemeindezentren. Zunächst spielten sie ausschließlich in London, später reisten sie auch in die südöstlichen Regionen Großbritanniens. Das Touren war auf die Wochenenden verlegt und selbst finanziert. Sie spielten sozial-realistische Stücke und vor den Wahlen um 1979 auch Satire-Sketche mit politischen Inhalten. Die ersten Produktionen wurden im „Echo“ besprochen, dem Magazin des Minority Arts Advisory Service, das als Reaktion auf den Bericht von Naseem Khan entstanden war.6 Zwei der Journalisten des „Echo“ waren Jatinder Verma, der Gründer von Tara Arts, und Parminder Vir, die spätere Kuturmanagerin für kulturelle Vielfalt beim Greater London Council. Das Beispiel der Gründung von Tara Arts zeigt, wie mit rudimentärer Finanzierungsstruktur Theaterarbeit funktionieren kann. Die erste Finanzierung erhielt Tara Arts von der Commission for Racial Equality7, die sehr begrenzt mit Administration ausgestattet war. Die Commission for Racial Equality musste seine Förderung 1980 jedoch wieder einstellen und viele Künstler und Kulturschaffende waren vom finanziellen Bankrott bedroht. Diese Förderung unterschied sich wesentlich von anderen Förderungsinstitutionen, denn das Arts Council gab zu diesem Zeitpunkt nur eine kleine Summe für Ausstattung (Lichtequipment für das Touren) und die Greater London Arts Association, die von den Vororten Londons finanziert wurde, unterstützte ebenfalls nur mit einer kleinen Summe für Workshops. Tara Arts überlebte durch den ausgesprochenen guten Verwaltungsdirektor und Künstler Jatinder Verma und ab 1980 auch durch Rekha Prashar. Mit der Ansiedlung der Theatergruppe in London wurde ihnen der Zugang zu verschiedenen Förderstrukturen, wie die Fördertöpfe für Kunst- und Kultur in den Vororten von London oder dem zentralen Büro des Arts Council, ermöglicht. Aber beide Fördermöglichkeiten waren daran gebunden, dass die Gelder nur für Gemeindetätigkeiten und weniger für die Administration verwendet werden, während Verma und Prashar mehr künstlerische Ambitionen hatten. Als Tara Arts sich als Theatergruppe registrieren ließ, arbeiteten bereits einige der Mitglieder hauptberuflich im Theater. Verma plante neben der Theatergruppe ein Kulturzentrum, das den Zwiespalt in der britisch-asiatischen Kultur zwischen den Generationen thematisieren sollte, denn die erste Generation bevorzugte stark traditionelle Kunst in Form von Tanz, Musik und Lyrik, während die neue in England geborene Generation mehr die in der britischen Kultur verwurzelten Kunst präferierte. Aus dieser Zwiespalt, so glaubte er, könne etwas Hybrides entstehen, das einem „British Asian“ entsprechen würde.
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Die Zeitschift Echo – Living Arts in Britain’s Ethnic Communities existierte von 1977 bis 1982. Die Comission for Racial Equality erhielt Gelder vom British Council of Churches als Zeichen der ökumenischen Haltung der Kirchen.
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V ERMISCHUNG
VON TRADITIONELLER UND MODERNER K UNST Tara Arts musste seine Arbeit zunächst durch die geringe Förderung von Arts Council und Greater London Arts Association finanzieren. Im Jahr 1982 erklärten sich Tara Arts auf dem Edinburgh Festival zu einem professionellen Theater. Zum gleichen Zeitpunkt unterliefen Förderstrukturen in London einer radikalen Veränderung mit dem Aufstieg einer linksorientierten Administration des Greater London Council unter Ken Livingstone. Um die monetaristische und militärische Regierung Margaret Thatchers zu unterwandern, schuf Livingstones Greater London Council eine Agenda, die mit der Einführung des Ethnic Arts Sub-Comittee innerhalb des Arts and Recreation Comittee der Behörde seinen höchsten Ausdruck fand. Dieses Komitee war zwischen 1982 und 1986 mit einem Budget von 300 000 Pfund ausgestattet und viele Organisationen profitierten von der Möglichkeit einer Förderung zur Entwickelung ihrer Strukturen. Für Tara Arts war das die Gelegenheit, um ein Kulturzentrum einzuführen, wie Jatinder Verma es geplant hatte. Die Renovierung des Hauses in Earlsfield, London dauerte bis 1985. Es war eine außerordentliche Chance, denn die Thatcher-Regierung entledigte sich der unliebsamen Opposition des Greater London Council durch dessen Abschaffung im Jahre 1986. Der Greater London Council ist die erste staatliche Organisation, die eine höchst sichtbare, konkrete Politik für die Kunst der kulturellen Vielfalt im kurzen Bestehen des Ethnic Arts SubCommittee zwischen 1982 und 1986 schaffte. Einer der Charakteristika der Zeit war zweifellos die Verknüpfung zwischen schwarzer und asiatischer Kunst, die zu einer neuen künstlerischen Zukunft führen würde. Als die Förderung des Greater London Council wegfiel, kam es zu einer Trennung zwischen den schwarzen (afro-karibischen bzw. britisch-afrikanischen) und den britisch-asiatischen Künstlern, die bis heute andauert. Das Black Theatre Forum, das damals entstanden war, zeigte jede Spielzeit Theaterstücke von schwarzen oder asiatischen Theatergruppen. Für das Tara-Projekt des Kulturzentrums für schwarze und asiatische Künstler stand das Roundhouse in Chalk Farm London zur Diskussion. Dieses Projekt wurde aber aufgrund der Unentschlossenheit und der Schließung des Greater London Council fallen gelassen und ist nun wieder durch die Initiative des Rich Mix im Osten Londons im Gespräch. Das Theaterhaus von Tara Arts blieb zunächst einzigartig, wie auch ihre ausgewählte theatralische Perspektive einer Vermischung von traditioneller und moderner Kunst sowie die Anbindung an die regionale Gemeinde. Projektzuschüsse und die Entscheidung mit einer kleinen Anzahl an Künstlern professionell zu werden sowie die massive und zeitliche Unterstützung des Greater London Council führten schließlich ab 1986 zur Existenzförderung
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(revenue funding8) durch das Arts Council. Existenzförderung ist die wichtigste Förderungsmöglichkeit für Theatergruppen, da sie auf eine DreiJahresperiode angelegt ist und Theatergruppen erlaubt, mittelfristig zu planen. Sie beinhaltet gleichzeitig die Möglichkeit der Fortführung der Förderung um weitere drei Jahre. Dies war für Tara Arts von 1986 bis 2008 der Fall, bis die Finanzierung gekürzt und die Theatergruppe zu einer Konzentration auf Zusammenarbeit mit der Gemeinde und den Schulen angehalten wurde. Das Ende einer Förderung kann jeder Theatergruppe nach einer solch langen Zeit passieren, aber es impliziert immer eine Gefahr, wenn eine Förderung für „ethnische“ Kunst vergeben und dann auf eine bestimmte Region oder eine Gemeinde spezifiziert wird. Neben seiner regionalen Anbindung war Tara Arts immer eine tourende Theatergruppe, meist im kleineren Umfang und verteilt auf Spielstätten in ganz England, die von vielen freien, tourenden Theatergruppen aufgesucht werden. Kulturzentren hatten immer eine besondere Rolle bei der Unterstützung von ethnischen Theatergruppen inne. Es gibt Kulturzentren, die aufgrund ihrer Lage als eine Art ethnischer Kunstverein fungieren, wie das Watermans Arts Centre in Brentford im östlichen Teil von London und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zu Southall, dem Zentrum der PunjabiGemeinde. Auf eine andere Art und Weise gilt dies für das Warwick Arts Centre, das auf dem Campus der University of Warwick liegt und durch den Zusammenschluss mit der sehr innovationsorientierten Universität seit den 1970ern als Gastspielstätte von großer Bedeutung ist. Die Erwartung an ethnische Theatergruppen und Kulturzentren stiegen, nachdem das Arts Council die Kulturzentren gezielt förderte. Manche der Kulturzentren beherbergen nun Büros der Theatergruppen wie das West Wing in Slough, das in einem Stadtbezirk mit einer großen asiatischen Gemeinde angesiedelt und zum Büro der britisch-asiatische Theatergruppe Rifco geworden ist. Beim West Wing ist die Förderung sowohl für die Gruppe als auch das Zentrum sehr durchdacht kombiniert, denn die Theatergruppe Rifco ist an das Kulturzentrum als Heimatstätte mehr denn als an eine Auftrittsstätte gebunden. Zudem sind Kulturzentren in Großbritannien für höchst qualitative Innovationen bei Performances bekannt, was zugleich zu einer größeren Reputation des jeweiligen Theaterensembles führt. Im Allgemeinen gilt dies für das Battersea Arts Centre in London, das in der Nähe der bedeutungsträchtigen Orte der 1960er Jahre wie Clapham, Battersea und Chelsea liegt. Es gilt genauso für das Midland Arts Centre in Birmingham, das ein Abkommen mit der regionalen ethnischen Gemeinde und den tourenden Gruppen geschlossen hat. Tara Arts hat zweifellos Pionierarbeit in Sachen professionelles Theater durch die finanzielle Unterstützung des Arts Council geleistet. Die Beson-
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„Revenue funding“ ist verfügbar für ehrenamtliche und gemeinnützige Organisationen zur Deckung ihrer durchlaufenden Kosten.
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derheit von Tara Arts ist der Einsatz traditioneller südasiatischer Theatertraditionen bei regulären Versionen europäischer Klassiker von Dichtern wie Shakespeare, Molière und Büchner. Der komödiantische Stil des Bhavai wurde gepaart mit dem Englischen und ergab so das so genannte Binglish. Um bei den britischen Förderstrukturen berücksichtig zu werden, ist es wichtig, sich in die korrekte „Kategorie“ einordnen zu lassen. Anfänglich hatte Tara Arts eine falsche Selbstdefinition, weil es die erste professionelle britisch-asiatische Theatergruppe war und in ganz England tourte. Aber als andere asiatische Theatergruppe zu spielen und zu touren begannen, stand vielmehr die Frage im Raum, wie viele unterstützt werden können. Zu dem Zeitpunkt hatte Tara Arts sich als bedeutende britisch-asiatische Theatergruppe mit Schwerpunkt klassischer europäischer und asiatischer Theaterkunst etablieren können. Nun legt die derzeitige Kategorie „Black and Minority Ethnic“ offen, dass Förderung nur aufgrund der Klassifikation „Minderheit“ zugestanden wird. Die Existenzförderung wurde möglicherweise deshalb beendet, weil diese Einordnung für Tara Arts nicht mehr passte. Trotzdem hat die Förderung der kulturellen Vielfalt dazu geführt, dass die ethnischen Theatergruppen in Großbritannien sich entwickeln und etablieren konnten.
D IE
DRAMATURGISCHE
M ETHODE
DER
A DAPTION
Ein weiteres Erfolgsbeispiel ist die Tamasha Theatre Company, die Ende der 1980er Jahre gegründet wurde. Tamasha wurde von zwei Frauen gegründet, die zuvor für Tara Arts arbeiteten. Kristine Landon-Smith war Regisseurin und Sudha Bhuchar war Schauspielerin. Einer der Gründe für die Etablierung einer eigenen Theatergruppe war die Selbstbestimmung als weibliche Kulturschaffende, denn Tara Arts wurde – wie auch andere bekannte Initiativen – von Anfang an durch männlichen Autoritäten geleitet. Tamashas Konzept beinhaltete konventionelles Theaterspiel auf einem hohen Niveau. Die Regisseurin Kristine Landon-Smith konnte für Tamasha die Bühnenbildnerin Sue Mayes gewinnen, die mit Landon-Smith bereits in einer Produktion eines klassischen indischen Theaterstücks am Theatre Royal in Stratford, London gearbeitet hatte. Aus ihrer Zusammenarbeit entstand die dramaturgische Methode der Adaption, die sich zu ihrem theatralischen und ästhetischen Stil entwickelte.9 Grundlage für die Arbeit von Tamasha ist das methodischen Vorgehen von Landon-Smith und Bhuchar und die bewusst ausgewählte Beschreibung ihrer Arbeit bei den Förderanträgen. Ihre erste Adaption war der Roman
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Die sehr detaillierte Darstellung der Anfänge sind nur möglich, da Tamasha ein methodisch aufgebautes Archiv besitzt, in dem Korrespondenzen und Kopien der Förderanträge dokumentiert sind.
THEATER
UND KULTURELLE
VIELFALT
IN
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„Untouchable“ von Mulk Raj Anand aus den 1930er Jahren, die LandonSmith mit der National Drama School in Dehli produzierte. Nachdem die Gruppe beschlossen hatte, das Skript in England umzusetzen, vereinbarten Bhuchar und Landon-Smith mit Jatinder Verma eine Lesung im Tara Arts. Nach einer Empfehlung eines britisch-asiatischen Schauspielers stellten sie einen Antrag auf Projektförderung beim Arts Council, änderten diesen aber auf Anraten eines Mitarbeiters des Arts Council zu einem Antrag für einen Workshop zur Drehbuchentwicklung mit Schauspielern ab. Die Förderung wurde ihnen dann auch gewährt. Währenddessen ließen sie sich zu einem gemeinnützigen Verein erklären. Das eingeladene Publikum für die Lesung bestand vorwiegend aus Theaterschaffenden und Theaterförderern, wie dem Programmleiter des einflussreichen Riverside Studios in London, mit dem Tara Arts über ein Jahrzehnt zusammenarbeitete. Landon-Smith und Bhuchar beantragten anschließend beim Arts Council eine Förderung für das Projekt und die Tour, während sie auf den Status als gemeinnützigen Verein warteten und Mitglied des Independent Theatre Council wurden. Vom Arts Council wurde ihnen eine Förderung von 40 000 Pfund zur Verfügung gestellt, mit beinahe vier Wochen Auftrittsmöglichkeiten in London und zwei Wochen in Leicester, Manchester, Derby and Bolton. Die Bühnenbildnerin Mayes erhielt die Finanzierung vom British Council sowie dem Arts Council für eine Recherche in Indien, denn die Idee war eine Art Authentizität durch Requisite, Kostüme und Bühnenbild zu erreichen. Dieses Beispiel ist exemplarisch für die Selbstbestimmung durch Förderstrukturen, wodurch es Landon-Smith und Bhuchar möglich war, genau das zu tun, was sie wollten: professionelle Theaterarbeit. Ihr Konzept zu dem Zeitpunkt war die Repräsentation des modernen indischen Subkontinents in verschiedenen Phasen seiner Existenz während des British Empire und nach der Unabhängigkeit mit einer starken Betonung auf Authentizität in ihrer visuellen Umsetzung. Dieses Programm gab ihnen ein klares Unterscheidungsmerkmal von anderen britisch-asiatischen Theaterensembles wie dem Kali Theatre, das sich entschieden hatte, britisch-asiatische Dramen von weiblichen Autoren umzusetzen. In der Retrospektive waren die 1990er Jahre eine gute Zeit für das britisch-asiatische Theater: Drei Theatergruppen – Tara Arts, Tamasha und Kali – waren an verschiedenen Orten erfolgreich tätig. Den Durchbruch schaffte Tamasha in der britischen Theaterszene mit dem durchschlagenden Erfolg von „East is East“ von Ayub Khan Din, einem Theaterstück, dass zu einem erfolgreichen Film adaptiert wurde. Von da an wurde Tamasha zu einer Institution für zeitgenössische britisch-asiatische Theaterstücke und deren Adaptionen, die von erfolgreichen Bollywood Musicals beeinflusst sind. Dieser Einfluss von Musicals war auch ein dramatisches Element der Theaterarbeit von Rifco Arts, die es dadurch vom kommerziellen Sponsoring zur Existenzförderung durch das Arts Council geschafft haben, mit dem Anspruch alle vier Generationen der britischen Südasiaten zugleich zu erreichen. Die Theater in London, die Interesse an britisch-asiatischer Theaterar-
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beit gezeigt haben und in Koproduktion mit britisch-asiatischen Theatergruppen gearbeitet haben, sind das Theatre Royal im Osten Londons, die Riverside Studios und das Lyrik Theatre im Westen Londons, das Hampstead Theatre im Norden Londons und das Croydon Warehouse im Süden Londons. Das Bristol Old Vic und das Birmingham Repertory Theatre, sind seit den 1990er mit der Entwicklung von Tamasha durch eine Serie von Produktionen verbunden. Diese Theater konnten aufgrund der Zusammenarbeit mit den britisch-asiatischen Theatergruppen „neues Publikum“ aus den ethnischen Gemeinden gewinnen.
H ERAUSFORDERUNG
ERFORDERT
Z USAMMENARBEIT
So hat die Entscheidung der Förderinstitutionen, kulturelle Vielfalt in Großbritannien zu unterstützen, einen besonderen Nutzen für die englische Theaterszene und sein Publikum, für die britisch-asiatischen Theaterschaffenden und für die Ästhetik der britischen Theaterproduktion sowie der britischen Dramaturgie gebracht. Ohne die gezielte Förderung und damit den bewussten Eingriff mittels Förder- und Kulturpolitik in die bestehenden Strukturen, hätte sich die britisch-asiatische Theaterarbeit in Großbritannien nicht so stark entwickeln können. Es gibt natürlich genügend Beweise, dass die Kreativität nicht durch politische Entscheidungen von Förderinstitutionen bestimmt werden können, sondern durch Theaterschaffende, die ihre Arbeit beständig und erfolgreich machen und bereit sind, in unterfinanzierten Arbeitsbedingungen künstlerisch und ästhetisch hochwertiges Theater zu schaffen. Aber es sind immer auch soziale, politische und kulturelle Faktoren, die einen entscheidenden Einfluss auf strukturelle Veränderungen haben. Und die Veränderungen von Institutionen durch zeitgenössische Kunstformen sind zumindest in Großbritannien ein Produkt des Zusammenspiels von Kulturpolitik und Kulturschaffenden.
Autoren
Carolin Berendts studierte Kulturwissenschaften und Médiation Culturelle an der Universität Hildesheim und der Université de Provence. Sie war als Kulturvermittlerin bei „Next Interkulturelle Projekte“ unter anderem für das Vermittlungsprogramm des Hauses der Kulturen der Welt tätig. Seit 2010 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Sandra Czerwonka, Diplom-Kulturwissenschaftlerin, studierte Westslawistik und Germanistik in Bochum und Kulturwissenschaften in Hildesheim und Warschau. Nach ihrem Studium stieg sie bei RUHR.2010 – Kulturhauptstadt Europas ein und war zunächst in der Projektarbeit, seit Ende 2010 im Bereich Kreativwirtschaft tätig. Prof. Dr. Miriam Dreysse ist Professorin für Theaterwissenschaft und Dramaturgie für Performance und Theatertext an der Universität der Künste, Berlin. Sie hat am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert und dort von 1997 bis 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Ute Handwerg, Germanistin, M. A., war langjährig tätig als Referentin in der Erwachsenenbildung. Seit 2002 ist sie Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel & Theater. Christina Holthaus studierte in Lüneburg Angewandte Kulturwissenschaften. Ihre Magisterarbeit verfasste sie zum Thema „Theater in einer bunter werdenden Gesellschaft – Möglichkeiten und Herausforderungen einer interkulturellen Ausrichtung“. Annett Israel studierte Theaterwissenschaften, arbeitete danach als Dramaturgin am Kleist-Theater Frankfurt an der Oder und ist seit 2001 Mitarbeiterin des Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland (KJTZ). Sie ist Mitherausgeberin von „Das andere Publikum. Deutsches Kinder- und Jugendtheater“ und „Theaterspielen mit Kindern und Jugendlichen. Konzepte, Methoden und Übungen“.
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Stefan Keim ist freier Kulturjournalist und Entertainer. Er beschäftigt sich häufig mit Theater, Film, Musik und Kulturpolitik für die Kultursendungen des WDR und des Deutschlandradios. Außerdem schreibt er für die Frankfurter Rundschau, die Welt und die Deutsche Bühne. Prof. Dr. Susanne Keuchel ist geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Kulturforschung, studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Soziologie an der Universität Bonn und der Technischen Universität Berlin. Sie ist zudem Honorarprofessorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim sowie Dozentin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg. Lale Konuk ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins Kulturen in Köln e.V., der die Interessen zugewanderter Künstler gegenüber der Politik, Verwaltung und Institutionen vertritt und das Thema Interkultur in der Stadtgesellschaft vorantreibt. Thomas Lang studierte Literatur-, Sozial- und Theaterwissenschaft und arbeitet als Theaterpädagoge und Regisseur; 1984 bis 1999 war er Leiter des Kinder- und Jugendtheaters am Staatstheater Braunschweig. Seit 1999 ist er Leiter des Programmbereichs Theater an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel und Lehrbeauftragter am Theaterinstitut der Universität Hildesheim. Dr. Kevin Leppek studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Vor seinem Studium absolvierte er die Ausbildung zum Medienkaufmann und arbeitete als Medien- und Kundenberater in einem Zeitungsverlag. 2010 promovierte er an der Universität Wien zum Thema „Theater als interkultureller Dialog. Dschungel Wien – Theaterhaus für junges Publikum“ und erhielt dafür den Förderpreis der Dr. Alois MockEuropa-Stiftung. Prof. Dr. Graham Ley war Professor für Theaterwissenschaften an der University of London und University of Auckland sowie University of Exeter. Er übersetzt Theaterstücke und führt ebenfalls Regie. Seine Interessen liegen in der Vergleichenden Performancetheorie, Dramaturgie, Performance des antiken griechischen Theaters sowie des British Asian Theatre. Vanessa Lutz hat Journalistik an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre, European Studies in Birmingham und Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim studiert. Als Theaterpädagogin, Dramaturgin, Performerin und Regisseurin war sie seit 1997 an verschiedenen brasilianischen und deutschen Theaterproduktionen beteiligt. Seit 2004 ist Vanessa Lutz Gründungsmitglied des PerformanceKollektivs Fräulein Wunder AG.
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Prof. Dr. Birgit Mandel ist verantwortlich für die Bereiche Kulturmanagement und Kulturvermittlung im Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim sowie Studiengangsbeauftragte für den Bachelor Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis und den Masterstudiengang Kulturvermittlung. Zudem ist sie Vorstandsvorsitzende des Fachverbandes für Kulturmanagement in Forschung und Lehre. Dr. Bianca Michaels arbeitet derzeit als akademische Rätin auf Zeit am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. Nach ihrem Studium in Erlangen, Mainz, Wien und Stanford promovierte sie an der Universiteit van Amsterdam und war mehrere Jahre im Bereich Kulturmanagement und Kulturvermittlung tätig. Azar Mortazavi studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. In ihren Theaterstücken verhandelt die deutschiranische Autorin Themen wie Migration, Heimatverlust und Suche nach kultureller Identität. Nina Peters studierte Literatur- und Theaterwissenschaften in Berlin und London. Sie war von 2003 bis 2007 Redakteurin von Theater der Zeit, zuletzt als verantwortliche Redakteurin. Sie lehrt an der FU Berlin, am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, ist freie Journalistin und Lektorin des Theaterverlags schaefersphilippen. Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand studierte in Erlangen und Bologna Pädagogik, Theater- und Medienwissenschaften, Italoromanistik und Philosophie und promovierte mit einer interdisziplinären Arbeit zur theatralen Bildung an der Universität Erlangen-Nürnberg. Anschließend forschte und lehrte sie als Projektleiterin an der Universität Fribourg (Schweiz) im Schwerpunkt frühkindliche Bildung. Seit Oktober 2009 ist sie Juniorprofessorin für Kulturelle Bildung am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Prof. Dr. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, verantwortlich für www.theaterpolitik.de und Herausgeber von „Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung“ (Transcript, Bielefeld 2009). Azadeh Sharifi studierte Germanistik, Philosophie und Jura in Heidelberg. 2011 promovierte sie am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim über „Theater für alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln“. Sie hat 2010 zusammen mit Wolfgang Schneider das Symposium „Theater und Migration“ in Köln organisiert.
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Mariam Soufi Siavash, studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Seit 2003 wirkt sie bei unterschiedlichen interkulturellen Theaterprojekten u. a. in Bosnien-Herzegowina, Togo sowie bei „Heimat im Kopf“ des Jungen Schauspiel Hannover mit. Von 2006 bis 2008 leitete sie das Türkisch-Deutsche Theater Hildesheim. 2009/2010 war sie als Theaterpädagogin am Theater Oberhausen tätig. Seit 2010 arbeitet sie als Theaterpädagogin am Schauspiel Hannover. Heinz Wagner ist Journalist in Wien. 1993 hat er in der drittgrößten österreichischen Tageszeitung „KURIER“ eine Kinderbeilage gegründet, die später um eine Jugendseite erweitert wurde und bei der Partizipation von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle spielt. Mehr und mehr sind die Beiträge auf www.kiku.at nachzulesen.
Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten September 2011, ca. 130 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1
Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche März 2011, 162 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1676-7
Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen 2010, 284 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Katharina Pewny Das Drama des Prekären Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance Februar 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1651-4
Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten April 2011, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Johanna Canaris Mythos Tragödie Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise
Eva Krivanec Kriegsbühnen Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien
November 2011, ca. 370 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1565-4
November 2011, ca. 362 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1837-2
Nicole Colin Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945 Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer
Karin Nissen-Rizvani Autorenregie Theater und Texte von Sabine Harbeke, Armin Petras/Fritz Kater, Christoph Schlingensief und René Pollesch
August 2011, ca. 768 Seiten, kart., mit CD-ROM, ca. 55,80 €, ISBN 978-3-8376-1669-9
Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6
Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater August 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4
Ralph Fischer Walking Artists Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten September 2011, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1821-1
Juli 2011, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1731-3
Artur Pelka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945 August 2011, ca. 420 Seiten, kart., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1488-6
Ljubinka Petrovic-Ziemer Mit Leib und Körper Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik Oktober 2011, ca. 460 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1886-0
Jenny Schrödl Vokale Intensitäten Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater Oktober 2011, ca. 300 Seiten, kart., mit CD-ROM, ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1851-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de