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German Pages 320 Year 2014
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater entwickeln und planen
Theater | Band 61
Wolfgang Schneider (Hg.)
Theater entwickeln und planen Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste
Gefördert von der Stiftung Niedersachsen und dem Herder Kolleg
Medienpartnerschaft mit nachtkritik.de
Basierend auf einer Ringvorlesung des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim im Wintersemester 2012/13
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Theater. Entwickeln. Planen. Vorwort
Wolfgang Schneider | 9
THEATER REFORMIEREN Under Construction. Reformbedarf auf der Baustelle Theater
Wolfgang Schneider | 21 Zeitgenössische darstellende Kunst als Institutionskritik. Über das Verhältnis zum Zuschauer, zu den Arbeits- und Produktionsverhältnissen
Heiner Goebbels | 27 Theater als Kulturindustrie. Globale Perspektiven in einer reflexiven Moderne
Christopher Balme | 33 Theater zwischen Kulturkonsum und Subvention. Ein historischer Querblick
Peter W. Marx | 57 Ein Theater neuen Typs. Kulturpolitische Wege der Infarktbekämpfung
Thomas Oberender | 69 Un/doing differences. Ein Auftrag für zeitgenössische Theaterinstitutionen
Friedemann Kreuder | 91 Laboratorien der Gegenwart. Welches Theater braucht Europa?
Ingrid Hentschel | 101
VERMITTLUNG ENTWICKELN Theater muss – „gut“ sein. Wider falsche Selbstgewissheiten
Armin Klein | 123 Interkulturelles Audience Development. Eine Strategie der Reformierung öffentlicher Theater?
Birgit Mandel | 137 Zwischen Lektion und Labor. Perspektiven der Vermittlung am Theater
Geesche Wartemann | 153 Theater und sein Publikum. Kinder- und Jugendtheater als Modell
Birte Werner | 163 Der Schrecken des Neuen. Fünf Skizzen zur Krise
Esther Slevogt und Nikolaus Merck | 177
STRUKTUREN PLANEN Auf der Suche nach der zukünftigen Struktur. Für eine Transformation des deutschen Theatersystems
Thomas Schmidt | 191 Mythos Stadttheater. Vom Weh und Werden einer deutschen Institution
Jens Roselt | 215 Die AufLösung des Stadttheaters. Die Zukunft des Stadttheaters liegt in einer transkulturellen Theaterlandschaft
Günther Heeg | 229
Freies Theater und das Primat der Stadt. Zum notwendigen Perspektivwechsel in der Theaterdebatte
Alexander Pinto | 243 Das „Freie Theater“ gibt es nicht. Formen des Produzierens im gegenwärtigen Theater
Annemarie Matzke | 259 Die „deutsche Teilung“. „Roadmaps“ zum Strukturwandel in der Theaterlandschaft
Henning Fülle | 273 Musiktheater. Spielräume schaffen!
Matthias Rebstock | 299
Autoren | 315
Theater. Entwickeln. Planen Vorwort W OLFGANG S CHNEIDER
Deutschlands Theaterlandschaft ist einmalig. Entstanden durch Fürstenstaat und Bürgergesellschaft, institutionell mitten in der Stadt konstituiert und infrastrukturell mit Ensemble und Repertoire organisiert, als Stadt- und Staatstheater oder als Landesbühne. Vom Gegenspieler zum Kooperationspartner entwickelt sich eine freie Theaterszene, die mittlerweile ebenfalls die Etablierung sucht – in Tanz- und Theaterhäusern sowie Kunst- und Kulturzentren. Das alles lassen sich vor allem Kommunen und Länder jährlich fast drei Milliarden Euro kosten. Doch immer wieder ist kein Geld vorhanden, um die Preis- und Tarifsteigerungen der personalintensiven Apparate zu finanzieren. In den darstellenden Künsten wird fusioniert, Insolvenz angemeldet, im schlimmsten Fall werden Sparten abgewickelt und Theater geschlossen. Die freien Gruppen hangeln sich von Projekt zu Projekt, allen gemein ist die prekäre wirtschaftliche und soziale Lage der Tanz- und Theaterschaffenden und die drohende Altersarmut der Künstler. Welche Reformen sind überfällig, welche Produktionsformen braucht Theater, welche Neuorientierungen sind notwendig, um die Not zu wenden? Die Debatte um das deutsche Bühnenwesen ist zu konkretisieren. Überlegungen zu einer zukünftigen Theaterlandschaft müssen auf die Agenda der Kulturpolitik. Das sehen u.a. auch so die Theaterkritiker, die in Heft 8 der Deutschen Bühne in ihrer „Saisonbilanz“ der Spielzeit 2011/2012 von den politisch Verantwortlichen mehr als enttäuscht sind: „Wie wäre es mit einer kleinen Portion Empörung, was die Kulturpolitik betrifft?“ Der Ärger wird aufge-
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listet; dass Theater bei vielen Kommunalpolitikern immer erstrangig eine Kostenfrage sei; dass absurde Sparszenarien von Städten in Zeiten der Finanzkrisen immer nur einzig und allein Schließungs- und Zusammenlegungsfantasien zur Folge haben; dass Ignoranz und Hinhaltekritik kulturpolitische Erosionen und die Entwertung der Kunst wider spiegeln. Auch Selbstkritik scheint angebracht, indem „das Fehlen einer Debattenkultur in den Feuilletons“ moniert wird. In der Tat macht die Theaterkritik in den Printmedien, Hörfunk und Fernsehen munter weiter: Es gilt nach wie vor, Inszenierungen zu rezensieren, es dominiert wie einst und immerdar die klassische Theaterkritik, es fehlt die Theaterpolitikkritik. Berlin, Salzburg, Bayreuth sind die Stationen; Kammerspiele, Thalia, Schaubühne die Gegenstände; und immer wieder die üblichen Verdächtigen, das gleiche Personal an unterschiedlichen Orten, die Champions League als „closed shop“. Das System bleibt meist unhinterfragt. Impulse zur Reform der Strukturen sind im Feuilleton nicht zu erwarten. Ganz im Gegensatz zum World Wide Web. „impulse.de“ setzt dezidiert auf analytische Beiträge zur Theaterlandschaft, „theaterpolitik.de“ trägt den Anspruch schon im Titel und ganz vorne dran was kulturpolitische Akzentsetzungen und Aktualität betrifft: „nachtkritik.de“. Die Theater selbst diskutieren schon mal Perspektiven, wie sich Theater organisatorisch und politisch zukünftig positionieren könnten, von konzeptionellen Überlegungen ist das aber weit entfernt. Und das, was sich bewegt, ist additiv, als Appendix zusätzliches Surplus, dient aber eher selten der innerbetrieblichen Veränderung. Bestes Beispiel und gleichermaßen trauriges ist die Entwicklung des Wuppertaler Schauspielhauses, wo weltweites Renommee Dank Pina Bausch von Theatermachern und Kommunalpolitiker verspielt wird. Die Bühne ist aus baupolizeilichen Gründen seit Jahren geschlossen, mit Sondergenehmigung durfte nur noch im Foyer gespielt werden. Am Sonntag, dem 30. Juni 2013 ist die Geschichte des traditionsreichen Hauses endgültig zu Ende gegangen. Dort, wo 1966 zur Eröffnung der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll einst seine berühmte Rede zur Freiheit der Kunst gehalten hat. Die deutschen Stadt- und Staatstheater haben protestiert. Der Intendant des Deutschen Theaters in Berlin hat einen offenen Brief an die Stadt Wuppertal verfasst, mit dem er sich gegen die Einsparungen beim Schauspiel wendet. Der Dramatiker Martin Baucks hat diesen Brief öffentlich kommentiert. Er schreibt:
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„Da wird also ein Theater an den Rand der Bedeutungslosigkeit getrieben? An den Rand? Ist es nicht schon längst bedeutungslos? Könnte einem bedeutenden Theater eine solche Schmach widerfahren? Ist es wirklich eine Katastrophe, wenn ein Theater schließt? Ihre Sprache verrät Sie. Entsetzen. Man. Bedeutungslosigkeit. Getrieben. Am Rand. Katastrophal. Verheerend. Beschämend. Verteidigen. Sie kommen aus den Superlativen des Leidens gar nicht mehr heraus. Und ich sage Ihnen, dies ist genau der falsche Weg, Kultur, und ich würde ja lieber sagen Kunst, zu vertreten. So vertreten Kleingärtner ihre Interessen.“ (Baucks 2013)
Der scheidende Wuppertaler Intendant beschreibt mit seiner „Abschiedsrede“ die ganze Tragik des Vorgangs: „Leider wurde in der Stadt viel zu viel über Schließung und Verfall eines Hauses diskutiert, und viel zu wenig über die Theaterkunst […] Viele Zuschauer scheuten den Gang in ein Haus, […] zu schmerzlich die Gedanken an den vermeintlichen Niedergang ihrer Stadt, der mit dem Zustand des Hauses assoziiert wurde […] Viel zu oft blieben hier im Saal viele Plätze leer“. (Von Treskow 2013)
Etwa zur gleichen Zeit beraten die Intendanten der städtischen Bühnen zusammen mit ihren Trägern, den Bürgermeistern und Kulturministern über die Zukunft des deutschen Theaters. Im Rahmen der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins 2013 in Kiel wird eine Initiative postuliert, mit einem Vorstoß bei der UNESCO, die Theater und Orchester als immaterielles Weltkulturerbe anerkennen zu lassen. Der Präsident wird bei dpa dahingehend zitiert, dass es zunächst einmal vor allem darum gehe, die Theaterlandschaft zu schützen, „dass sie nicht in zehn oder 15 Jahren total anders aussieht“ (Deutsche Presse-Agentur 2013). Aber muss es nicht genau darum gehen? Gilt es nicht Theater zu reformieren, Vermittlung zu entwickeln, Strukturen zu planen, um die darstellenden Künste zukunftsfähig zu machen? Und dazu braucht es konzeptionelle Ansätze, Impulse aus der Theorie für die Praxis, Erkenntnisse aus der Geschichte, Erfahrungen aus der Gegenwart, Modelle für die Zukunft. Ganz im Sinne des kulturpolitischen Instrumentariums einer Kulturentwicklungsplanung, mit einer Stärken- und Schwächenanalyse, mit einem Diskurs aller Beteiligten, mit Zielbeschreibungen und Umsetzungsstrategien. Und vor allem braucht es Mut, die Reform anzugehen. Experten der Kultur- und Theaterwissenschaften wollen dazu beitragen. Damit das Theater nicht auf dem Spiel steht, in den kommunal- und landespolitischen Mühen der Ebenen verspielt wird.
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T HEATER
REFORMIEREN
Heiner Goebbels versteht die zeitgenössischen darstellenden Künste immer auch als Institutionskritik. Er konstatiert aber auch, dass sich die Darstellenden Künste im Gegensatz zu den bildenden Künsten nur schwer von ästhetischen Konventionen trennen können und die Theater-, Oper- und Konzerthäuser mit ihrer architektonischen Struktur strengen Hierarchien unterliegen. Die Ausbildungsstätten wiederum folgen einer ideologischen Tradition und sind keine Forschungslabore, wie es Goebbels gerne sehen würde, sondern bedienen den Markt. Deshalb fordert er unter anderem freie Häuser ohne Effektivitäts-, Auslastungs-, Repertoirevorgaben, ohne festes Orchester, Chor, Schauspiel- oder Tanzensemble, aber finanziell ausgestattet wie Opernhäuser, Stadt- oder Staatstheater. Christopher Balme fragt, wie das Theater, das alles repräsentiert, was nicht Kulturindustrie und Globalisierung bedeutet, heute seinen Platz in der Gesellschaft finden kann. Nach Annäherungen an die beiden Begriffe geht er auf die Verflechtung des deutschen Theaters mit der Kulturindustrie und die Transformation in einen Bestandteil der sozialstaatlichen Verwaltung ein. Theater wird einerseits verstanden als öffentliche Verpflichtung, andererseits als kommerzieller Sektor. Am Beispiel des National Theatre London macht sich Balme auf die Suche nach einem dritten Weg, der die beiden Bereiche zu verbinden vermag. Die Trennung von Kunst und Kommerz beobachtet Peter Marx aus historischer Sicht entlang der Diskursfiguren und beschreibt diese Separierung als genealogisches Muster: von der Gewerbefreiheit im Dritten Reich, die die Theatergründung von der ökonomischen Machbarkeit abhängig macht, über die Denkfigur bei Adorno und Habermas, nach der Kunst nur mittels bedingungsloser Subvention möglich ist, bis hin zum Konsum als soziale Praxis als Möglichkeit zu Kommunikation und Teilhabe. Die Erreichbarkeit von Kunst, also die Teilhabemöglichkeit wird für Marx zum bestimmenden Faktor, während er nach dem Sinn von Subventionen in einer demokratischen Gesellschaft fragt. Thomas Oberender setzt Theater in Beziehung zur alles in der Gesellschaft durchziehenden Deregulierung. So passt sich auch die öffentliche Förderpraxis den marktwirtschaftlichen Kriterien der Gegenwart an und Kunst und Kultur wird nur noch gefördert, wenn sie evaluierbar und messbar ist. Oberender sieht demnach einerseits einen großen Machtzuwachs der
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Politik, die mittels Fonds und Stiftungen auf die Produktionsprozesse Einfluss nimmt. Andererseits muss der Künstler zum Projektmanager werden, was wiederum die künstlerischen Produktionsformen beeinflusst. Dieser neue Geist in der Welt des Kulturbetriebs führt zur Entstehung einer „Institution neuen Typs“. Zugespitzt stellt er die Frage, was wir in Zukunft fördern wollen: Fest oder Feier, Projekt oder Institution. Friedemann Kreuder versteht Theater als Ort der Aushandlung sinnhafter Unterscheidungen von Menschen untereinander. Der Theaterrahmen bietet die Möglichkeit zur intellektuellen Reflexionssteigerung. Er hebt die Einzigartigkeit des Theaters durch die Gleichzeitigkeit von Spiel und Wahrnehmung hervor und geht dann auf die Ausstellung der Identitätsbildung durch die Körperlichkeit der Schauspieler ein. Geschlecht und Ethnie wird zu einer Kategorie des Schauspielers und des Schauspielens und eröffnet eine Reihe von Fragen an die Theaterinstitutionen, ob Theater als Möglichkeit zur Unterbrechung von Differenzen wahrgenommen und dementsprechend umgesetzt wird. Ingrid Hentschel betont die Wichtigkeit in der aktuellen Debatte, um Theater in unserer Gesellschaft die europäische Integration und Europas Identität zu integrieren. Differenz und Diversität sind die Stichworte. Sie plädiert für eine stärkere Fokussierung auf qualitative, nicht auf quantitative Größen in der Theaterförderung. So geht es ihr um das Verhältnis von Lokalität und Universalität, von künstlerischer Autonomie und kulturpolitischer Steuerung. Außerdem stellt Hentschel die Frage, ob Theater das europäische Bewusstsein befördern kann? Historisch betrachtet war Theater das Medium von Etablierung und Kritik bürgerlicher Identität. Heute braucht es neue Theaterlaboratorien, die eine Auseinandersetzung mit europäischer Identität ermöglichen.
V ERMITTLUNG
ENTWICKELN
Dass Theater ohne Publikum nicht geht, konstatiert Armin Klein. Seit den Anfängen in der Antike bedingen und konstituieren sich Theater und Publikum gegenseitig. Aktuell muss sich Theater vor allem qualitativ entwickeln, um Zuschauer zu überzeugen, denn die Legitimation von Theater hängt mit inhaltlicher Akzeptanz zusammen. Er geht des Weiteren auf die möglicherweise durch eine Veränderung der Öffentlichkeit vorhandene Entfremdung des Publikums vom (öffentlichen) Theater ein. Die demogra-
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fische Entwicklung, unter anderem durch Migration, sowie die Digitalisierung sind die Fliehkräfte dieser gesellschaftlichen Veränderung. Konsequenterweise muss traditionelles Theater seine Strukturen und Produktionsformen erneuern, um überleben zu können, so Klein. Birgit Mandel stellt ebenfalls die schwierige Beziehung zwischen dem Theater und seinem Publikum fest. Der aktuelle Zustand ist, dass insbesondere junges Publikum die klassischen Kulturveranstaltungen nicht wahrnimmt. Dabei nennt sie Bildung als wichtigen Einflussfaktor für Kulturnutzung. Wie können öffentlich geförderte Kultureinrichtungen ein Ort werden, der für verschiedene gesellschaftliche Gruppen relevant und attraktiv ist? Wie können sie Orte der Zusammenkunft verschiedener Gruppen sein? Mandel betont das Potenzial von Interkulturellem Audience Development, als Antwort auf diese Fragen. Anhand des Modellprojekts der Zukunftsakademie in Theatern in Nordrhein-Westfalen beschreibt sie, welche Veränderungen die Institutionen durchlaufen haben und dass Kulturelle Bildung bzw. Theaterpädagogik Schlüssel für die interkulturelle Öffnung der Häuser und das Gewinnen neuer Zielgruppen sein kann. Geesche Wartemann fragt nach den speziellen Bedingungen von Vermittlung im Theater für junges Publikum und forscht nach Perspektiven. Eine ihrer Thesen lautet, dass Kinder- und Jugendtheater eine Vorreiterrolle bezüglich der Entwicklung von Vermittlungsmodellen einnimmt. Dabei werden immer wieder geltende Theaterbegriffe selbst hinterfragt. Das geht einher mit dem experimentellen Charakter von Vermittlung, der dadurch geprägt ist, dass das, was Theater ist bzw. sein kann, mit den Teilnehmern eines Vermittlungsprogramms erst erfunden werden muss. Die Fähigkeit zur Reflexion theoretischer Implikationen und historischer Bedingungen von Theaterkonzepten ist Voraussetzung für Vermittlung, so Wartemann. Kinder- und Jugendtheater kann Birte Werner zufolge auch eine Vorbildrolle für die strukturelle Entwicklung des Theaters, insbesondere in Bezug auf sein Publikum einnehmen. Die Beziehung zwischen den Kinderund Jugendtheaterschaffenden und ihren Zuschauern unterscheidet sich von der Beziehung im sogenannten Erwachsenentheater. Sowohl die theatralen Formen als auch die der Vermittlung sind von Experimentierfreude geprägt und entwickeln sich nicht zuletzt durch die Nähe zum Publikum schnell weiter. Audience Development gab es so beispielsweise im Theater für junges Publikum lange vor der Etablierung des Begriffs selbst, so Werner.
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Esther Slevogt und Nikolaus Merck beschreiben, wie der Wandel der Öffentlichkeit die Theaterkritik beeinflusst. Die Kritik über Nacht ist kein neues Phänomen, sondern das Aufgreifen einer traditionsreichen Form der Vermittlung, die mittels Internet wieder Relevanz gewinnt. Das führt zu neuen Debatten, die nicht mehr nur die Experten, sondern von allen geführt werden können, so die Autoren. Auf die veränderten Bedingungen einzugehen, muss also Ziel von Vermittlung und im Speziellen von Theaterkritik sein.
S TRUKTUREN
PLANEN
Thomas Schmidt beginnt mit einer Beschreibung der aktuellen Theaterlandschaft. Sie ist zerklüftet, produktiv, innovativ und diskursiv. Gleichzeitig steckt das öffentlich finanzierte Stadt- und Staatstheatersystem in der größten Umbruchssituation seit dem Zweiten Weltkrieg. Er nennt Indikatoren für diesen Umbruch und formuliert Fragestellungen, vor deren Beantwortung alle Theater stehen. Reformvorschläge werden aus diesen Fragen entwickelt, Möglichkeiten des Krisenmanagements aufgezeigt. Dabei spielt eine Rolle, was als Erfolg im Theater definiert wird. Als eine Lösung sieht Schmidt die Zusammenarbeit von der Institution Theater mit dem Freien Theater, eine gerechte Aufteilung von Ressourcen und damit eine Umgestaltung der Förderstruktur. Es dominieren zwei Theatersysteme: das Stadttheater und das Freie Theater, so Jens Roselt. Und beide stehen sie unter großem Legitimationsdruck. Dabei fallen unfreiwillige Gemeinsamkeiten auf, nämlich der finanzielle Rahmen sowie die ästhetischen Formen und Inhalte. Das bietet Möglichkeiten zu Begegnungen, Zusammenstößen und Kollaborationen. Roselt setzt dann den Fokus auf das Stadttheater und fragt, wie es zu dessen Mythos als Errungenschaft des deutschen Föderalismus gekommen ist. Er beschreibt Stadttheater als widersprüchliche Institution, betont aber, dass die Szene in Bewegung ist, wenn sich auch Fehlentwicklungen abzeichnen. So vernachlässigt das Stadttheater oft seinen Innovationsauftrag, wäre aber neu zu erfinden. Günther Heeg bescheinigt dem Stadttheater seine Existenz aufgrund des Phantasmas der Nationalkultur. Der symbolische Raum des Nationaltheaters stellt nach Heeg einen ersatzreligiösen Kultraum dar, der nach Ausschluss des Anderen verlangt. Das zeigt sich unter anderem im Stücke-
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kanon. Durch die kulturelle Hybridisierung der Stadtgesellschaft stehen die Stadttheater in einer Sackgasse. Sich an das Phantasma des Stadttheaters zu klammern ist eine verständliche Konsequenz, aber Fundamentalismus, so Heeg. Das Fremde ist allgegenwärtig und verlangt nach einem transkulturellen Theater entgegen der Exotisierung des Fremden. Das Stadttheater muss demnach nicht abgeschafft werden, sondern Teil einer transkulturellen Theaterlandschaft werden. Alexander Pinto leitet den Perspektivwechsel ein, indem er das Freie Theater als Bereiter des künstlerischen Nährbodens beschreibt. Dass sich das Freie Theater auf Nischensuche begeben hat, ist Folge des QuasiMonopols der Stadt- und Staatstheater. Zwar gibt es im Freien Theater kaum ein „Normalarbeitsverhältnis“ und es herrscht eine soziale Ungleichheit zwischen den beiden Systemen, das bietet aber wiederum für Freie Theater die Möglichkeit Mittel verstärkt in die künstlerische Entwicklung zu investieren, während die Stadttheater unter dem Finanzdruck ächzen. Die eigenen Institutionalisierungstendenzen sieht das Freie Theater kritisch, damit behält es die Entwicklung des Theaters an sich im Blick. Das Potenzial zur Kreierung eines Möglichkeitsraums für die Entwicklung steckt Pinto zufolge in der Eigenlogik der Stadt, wobei das Freie Theater als Impulsgeber fungieren kann. Provokant stellt Annemarie Matzke die These in den Raum, dass es das Freie Theater nicht gibt. Dabei geht sie dem Begriff auf den Grund, weist auf Problematiken und Potenziale hin und leitet ihn historisch über die Entstehung neuer Theaterformen her. Demnach definieren nicht die Ästhetik oder politische Ziele den Rahmen des Begriffs, sondern die anderen, neuen Produktionsweisen, die sich von den traditionellen Produktionsformen des Stadttheaters unter anderem in der Arbeitspraxis unterscheiden. Dabei sind eine Vielfalt der neuen Produktionsweisen und damit keine Einheitlichkeit des „Freien Theaters“ zu konstatieren. Matzke betont, dass es um die Infragestellung des Begriffs geht, ohne die ästhetische und gesellschaftliche Relevanz anzuzweifeln. Sie beschreibt die gegenwärtige Tendenz, die einerseits durch Flexibilisierung und andererseits neue Formen kollektiven Produzierens als Abbild gesellschaftlicher Pluralität bestimmt ist. Das Forschen am Theater ist auch für Matzke das Potenzial kollektiver Theaterformen. Henning Fülle erkennt eine Ambiguität in der Beziehung von Freiem Theater und Stadt-, Staatstheater. Einerseits agieren sie getrennt voneinan-
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der, andererseits konkurrieren sie um Geldmittel und Publikum. Nach einem historischen Abriss geht Fülle auf die niedersächsische Theaterstruktur anhand der Beispiele Hildesheim und Oldenburg ein: das „Hildesheimer Modell“ als Kooperation von Stadttheater, freier Theaterszene und der Universität, samt dem Rückfall in eine Zeit vor dem „Hildesheimer Modell“; Oldenburg mit dem Masterplan Kultur, der das Staatstheater als zentralen Ort und die fünf Freien Theater in die Gestaltung einbindet. Das Paradigma der Einbindung aller Akteure der Theaterlandschaft in die strukturelle und inhaltliche Entwicklung wird zum Vorbild. Matthias Rebstock stellt die unterschiedlichen Entwicklungen der freien Theater- und der freien Musiktheater-Szene heraus. Er konstatiert einen Mangel an kulturpolitischen und ästhetischen Diskussion über die freie Musiktheater-Szene. Wenn es um Musiktheater geht, dann geht es meistens um Oper, vor allem auch finanziell. Im Gegensatz zum Freien Theater hat sich das Freie Musiktheater bislang nicht in den Diskussionen etablieren können. Rebstock plädiert für einen weiten Musiktheaterbegriff, denn ähnlich dem Freien Theater ist auch die freie Musiktheater-Szene in Unterszenen aufgeteilt, die teilweise kaum etwas miteinander gemein haben. Der Darstellung dieser Zersplitterung der Musiktheaterlandschaft aus historischen Gründen folgen zehn Forderungen, die die Veränderung von Opernhäusern und Ausbildungsgängen im Bereich Musiktheater betreffen sowie eine Stärkung des Freien Musiktheaters und des Diskurses über Musiktheater an sich vorsehen. In den Beiträgen ist mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
L ITERATUR Baucks, Martin (2013): „Superlative des Leidens“, http://www.nachtkri tik.de/index.php?option=com_content&id=7436:offener-brief-von-ulric h-khuon-an-die-stadt-wuppertal [14.08.2013]. Deutsche Presse-Agentur (2013): http://www.rundschau-online.de/kultur/b uehnenverein-theater-sollen-weltkulturerbe-werden,15184894,2285602 2.html [14.08.2013]. Von Treskow, Christian (2013): „Das allertraurigste Gewerbe“, http:// www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&id=8330:abschied
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srede-des-wuppertaler-intendanten-christian-von-treskow&Itemid =84 [14.08.2013].
Theater reformieren
Under Construction Reformbedarf auf der Baustelle Theater1 W OLFGANG S CHNEIDER
Die Krise des Kulturstaates ist die Krise der Kulturfinanzierung in den Kommunen ist die Krise der Kulturpolitik! Kommunale Kulturförderung hat es versäumt, eine Verständigung darüber herzustellen, welche Rolle
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Die Hildesheimer Thesen von Wolfgang Schneider basieren auf drei grundlegenden Abhandlungen zur Theaterpolitik und waren Ausgangspunkt der Ringvorlesung „Theater. Entwickeln. Planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste“ im Wintersemester 2012/2013 am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim: Schneider, Wolfgang (2004): „Umsturz? Umbruch? Umgestaltung! Überlegungen zur Neustrukturierung der deutschen Theaterlandschaft“, in: Bernd Wagner (Hg.), hrsg. für das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.: Jahrbuch für Kulturpolitik 2004. Thema: Theaterdebatte, Essen, S. 237-248; Schneider, Wolfgang (2007): „Von Projekt zu Projekt – am Katzentisch der Kulturpolitik? Die Rolle des Freien Theaters in einer zukünftigen Theaterlandschaft“, in: Günter Jeschonnek (Hg.), hrsg. für den Fonds Darstellende Künste e.V.: Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Essen, S. 82-90; Schneider, Wolfgang (2013): „Wuppertal ist überall! Die kulturpolitische Krise der Dramatischen Künste offenbart Reformbedarfe in der deutschen Theaterlandschaft“, in: Eckhard Mittelstädt/Alexander Pinto (Hg.), hrsg. für den Bundesverband Freier Theater e.V.: Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland. Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven, Bielefeld, S. 21-31.
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Theater zukünftig in der Gesellschaft spielen soll, welche Strukturen hierfür nachhaltig Wirkung erzielen und welche Maßnahmen zu ergreifen wären, um eine breite Partizipation der Bevölkerung zu ermöglichen. Die Hildesheimer Thesen:
E RSTENS Die künstlerischen und politischen Träger der deutschen Stadt- und Staatstheater sind mitschuldig an der Misere, weil sie allzu gerne nur auf die Perpetuierung ihres Systems beharren. Die Situation, in der wir uns im Moment befinden, ist nicht nur eine Folge des Versagens der Kulturpolitik, sondern auch der Theater. Wenn sie sich selbst für neue Formen geöffnet haben, dann nur in einigen wenigen Projekten. Wenn sich etwas geändert hat, dann eigentlich nur durch einzelne künstlerische Persönlichkeiten, die hier und da die Zeichen der Zeit erkannt haben. Aber es ist nichts Strukturelles passiert, bei dem man sagen könnte, dass es eine Perspektive für das Überleben wäre. „Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.“ (Benjamin 1963: 36)
Z WEITENS „Ich gehe sehr ungern ins Theater“, schreibt der 17-jährige Mourad R. dem Forum Freies Theater Düsseldorf. Warum er nicht gerne ins Theater geht, kann man im dritten Band einer Brief-Edition unter dem Titel „Absagen ans Theater“ (April 2012) lesen: „… ich habe Besseres und vor allem Wichtigeres zu tun“. Theater ist für ihn wie für viele andere Schüler „eine nervende Pflichtveranstaltung“. Anscheinend hat unsere viel gerühmte Theaterlandschaft nicht angemessen auf Zuwanderung reagiert und kulturelle Vielfalt nicht entsprechend auf der Agenda. Dabei bezeichnen sich doch insbesondere die Stadt- und Staatstheater gerne als Spiegel der Gesellschaft. In unserem Kulturstaat ist das Schauspiel aber ziemlich deutsch geblieben. Nicht nur das Publikum entspricht nicht der bunten Republik, auch im Personal und in den Produktionen ist das Theater wenig multiethnisch.
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„Migration könnte sich als ein produktiver Innovationsimpuls für die Theaterinstitutionen erweisen. Angesichts der Herausforderungen, welche die demografischen und sozialen Entwicklungen in Deutschland stellen, scheint sich […] bei vielen Theaterschaffenden im Zuge des Social Turn ein neues Selbstverständnis herauszubilden. Dieses könnte sich nicht zuletzt zu einer neuen Funktionsbestimmung von Theater in der Gesellschaft, ohne dabei einem einseitig instrumentellen Kunstbegriff anheim zu fallen, und einer neuen kulturpolitischen Legitimation entwickeln.“ (Michaels 2011: 132)
D RITTENS Die Enquete-Kommission spricht von einer Theaterlandschaft und nimmt damit die darstellenden Künste in der Breite wahr. Es gibt zum Beispiel mehr als 2500 Vereine des Amateurtheaters in Deutschland, die regelmäßig über das Jahr verteilt Aufführungen anbieten, manchmal auf der großen Freilichtbühne den ganzen Sommer lang mit vielen Mitwirkenden. Manchmal ist es aber eben auch eine kleine Gruppe, hochartifiziell, politisch, im kleinen Raum, in der Provinz. Dies ist ein Bereich, den ich für ebenso anerkennungswürdig halte und den auch ein Freies Theater oder ein Stadttheater nicht einfach nur als „Laiensclub“ abtun kann. Theater ist mehr als das, was feuilletonistisch verhandelt wird. „Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern und Kommunen, regionale Theaterentwicklungsplanungen zu erstellen, mittelfristig umzusetzen und langfristig die Förderung auch darauf auszurichten, inwiefern die Theater […] und Opern auch Kulturvermittlung betreiben, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung zu erreichen“. (Deutscher Bundestag 2007: 117)
V IERTENS Immer wieder behaupten Intendanten, Theater sei per se kulturelle Bildung und plappern damit den Sonntagsreden der Politik hinterher. In der Breite fehlen klare Konzepte. Und in Anbetracht von Spielplänen, die sich an den Pflichtlektüren orientieren, drängt sich die Frage auf, ob Theater nicht kurz vor der Instrumentalisierung, man könnte auch Funktionalisierung sagen, steht. Kulturelle Bildung muss also immer wieder neu definiert werden, als
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eine Bildung für und um das Theater, als eine Wahrnehmungsschulung, eine Schule des Sehens und ein Programm der ästhetischen Bildung. „Grundlage aller kulturpolitischen Veränderungen ist ein Fundament umfassender kultureller Bildung. Denn wenn es der Gesellschaft nicht gelingt, durch die Schulpflicht das außerschulische Kulturleben mitzugestalten, dann werden auch weiterhin große Bevölkerungskreise vom Kulturangebot ausgeschlossen bleiben und neue kulturelle Ausdrucksformen – im besten Falle – nur jenseits der öffentlichen Kulturpolitik vegetieren können. Das Plädoyer muss gerade auch nach der Kenntnis des jüngsten Bildungsberichts der Bundesregierung und aller Bemühungen der Länder, kulturelle Bildung in Sonntagsreden als gesellschaftliche Aufgabe zu beschreiben, nach wie vor für eine Implementierung in die Curricula gelten – nachzulesen im Schlussbericht der Kultur-Enquête als Sondervotum. Es braucht dringendst ein Schulfach Kulturelle Bildung, einen Lernbereich vom Kindergarten bis zur Volkshochschule, einen bildungspolitischen Schwerpunkt auf Kultur im lebenslangen Lernen.“ (Schneider 2013)
F ÜNFTENS Theaterförderung ist auch Risikoprämie. Wer öffentliche Mittel erhält, erhält auch die Lizenz zum Scheitern. Das unterscheidet auch die Begrifflichkeiten: Investitionen einer Kulturpolitik in Theater müssen nicht die Marktfähigkeit der darstellenden Kunst erzeugen – wie etwa Subventionen einer Wirtschaftspolitik! Aber auch Investitionen bedürfen der Konzeptionen. Standortsensibilität sollte Theater vor Ort an allen Orten entwickeln, spielen und spielen lassen als theatrale Grundversorgung verstehen, mobile „Szenische Einsatzkommandos“ (SEK) sollten über kurz oder lang als dramatische Interventionstruppen die Landesbühnen in ihrem gesellschaftlichen Auftrag ablösen. „Wie es auch immer mit der Philosophie begonnen haben mag, denkbar wäre, dass diejenige Person, die als erste Philosophin oder erster Philosoph gelten könnte, den Fuß an einen Stein stieß und dass dieser Unfall zu folgenden Fragen motivierte: Warum liegt der Stein hier herum oder warum ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts? Warum ist der Stein so hart und was ist das Wesen dieses Steins? Warum bin ich davor gelaufen bzw. wie sollte ich eigentlich handeln? Stimmt was mit meinen Augen nicht oder was ist Hinsehen überhaupt? Wir wissen nicht, wie diese Frage damals philosophisch beantwortet wurde, doch sicher ist auch, dass nicht jeder,
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der hinsieht, auch etwas sieht. Denn sehen ist wahrscheinlich auch immer Übersehen, Versehen und Absehen. Hinsehen, so könnte man unterstellen, ist als solches der Versuch, so wahrzunehmen, dass der transparente Sehraum das intransparente Geschehene deutlich werden lässt. Was natürlich die Frage aufwirft, wie man sehen muss, um sehen zu können. In Zeiten der Zeichen, die massenhaft auf uns einstürzen, macht es Sinn, das Sehen zu schulen. Und die beste Methode scheint noch immer die zu sein, Interesse für das zu Sehende zu wecken. Das Theater bietet die Möglichkeit, das Sehen einzubinden in einen Kommunikationsprozess, der zwischen Schau-Spielern und Zu-Schau-Spielern die Zeichen der Zeit kodiert und dekodiert. Voraussetzung ist allerdings, dass das Theater interessant genug ist, vielleicht sogar neugierig macht, vor allem aber etwas Bedeutsames zu bieten hat. Es braucht ein Motiv, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, die nicht oberflächlich bleibt, sondern den Zuschauer bewegt, an- und umtreibt. Es braucht Motivation, ein ‚Sich-gegenseitigBedingen‘ wie es die Psychologie definiert. Es braucht Substanz, Brisanz und Relevanz, um sich angesprochen zu fühlen, um sehen zu können, sich Gedanken zu machen. Das alles könnte Theater sein. Wenn die Reform der Theater kulturpolitisch endlich angegangen wird.“ (Schneider 2012: 417)
Kann man diese Überlegungen nun kulturpolitisch konturieren? Wichtig wäre in dem Zusammenhang, dass es die Theaterleute selbst in die Hand nehmen müssen, aber die Kulturpolitik den Auftrag hat, das mindestens zu moderieren und den Mut aufzubringen, die Möglichkeit hierfür zu schaffen. Das Ziel einer Theaterentwicklungsplanung könnte also sein: Mehr Theater für mehr Publikum. Das Prinzip dabei muss sein, kulturelle Vielfalt zu gewährleisten, nämlich verschiedene Formen und auch verschiedene Strukturen von Theater. Ein kulturpolitisches Kriterium einer solchen Theaterentwicklungsplanung wäre Interdisziplinarität. Das jetzige System ist diesbezüglich völlig überholt. Wo gibt es das noch, dass wir vom Sprechtheater reden, dass das Musiktheater ein eigener hermetischer Komplex ist genauso wie das Ballett, das Tanztheater und irgendwo auch das Kinder- und Jugendtheater sowie das Figurentheater. Gerade die Avantgarde arbeitet von jeher interdisziplinär und selbstverständlich auch am Stadt- und Staatstheater. Mehr davon!
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L ITERATUR Benjamin, Walter (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main. Deutscher Bundestag (2007): Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Drucksache 16/7000, Berlin. Michaels, Bianca (2011): „Da kann ja jeder kommen!? Anmerkungen zu Theater und Migration im Social Turn“, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld, S. 123-133. Schneider, Wolfgang (2013): „Migrantenstadl als Modell“, http://www.festi valimpulse.de/de/news/308/migrantenstadl-als-modell [15.08.2013]. Schneider, Wolfgang (2012): Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zu Theorie und Praxis, zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage, Hildesheim.
Zeitgenössische darstellende Kunst als Institutionskritik Über das Verhältnis zum Zuschauer, zu den Arbeits- und Produktionsverhältnissen1 H EINER G OEBBELS
Wenn wir über die Zukunft der Kultur nachdenken und die Geschichte der Künste im vergangenen Jahrhundert im Blick haben, fällt auf, wie schnell sich die bildenden Künste entwickeln, wie stark sie sich von Darstellung und Repräsentation entfernt haben – und auch, wie ihre Entwicklung gesellschaftlich angenommen wird. Es fällt aber auch auf, wie schwer sich dagegen die darstellenden Künste von ihren ästhetischen Konventionen trennen; allen voran – oder sollte man besser sagen hinterher: die Oper. Damit meine ich die Entwicklung der Oper, also der Frage, wie es mit ihr im 21. Jahrhundert weitergehen mag.
S CHWERKRÄFTE
DER I NSTITUTIONEN
Für die beharrenden Kräfte in den darstellenden Künsten mag es viele Gründe geben, die auch mit unseren Wünschen und Bedürfnissen, mit den
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Bei diesem Text handelt es sich um eine von Heiner Goebbels in der Neuen Staatsgalerie Stuttgart im Rahmen der Veranstaltung „Zukunft der Kultur – Perspektiven für Politik und Gesellschaft“ am 19. April 2013 gehaltene, leicht bearbeitete Rede.
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Implikationen unserer Sinne und Wahrnehmung zu tun haben. Vor allem aber hat es meines Erachtens mit den Schwerkräften zu tun, die diese ästhetischen Konventionen zu einem großen Teil institutionell bestimmen. Unsere Kunst- und Kulturinstitutionen sind allesamt das Ergebnis einer künstlerischen Praxis vergangener Jahrhunderte; und unsere Theater-, Opern-, Konzert-Häuser sind in Stein gehauene Strukturen, die auf einem Kunstbegriff basieren, der mehr als hundert Jahre alt ist. Selbst neu gebaute Konzerthäuser werden für ein Klangideal der Orchestermusik des 19. Jahrhunderts entworfen. Diese in Stein gehauene Manifestation bürgerlichen Kunstwillens gilt zwar auch für die Museen, aber sie stellen Resultate aus, d.h. Kunstwerke, die an anderer Stelle, in den Ateliers und Werkstätten oder im Kopf der Künstler und unter in der Regel selbst gewählten, freien Bedingungen entstehen. Wenn der schottische Videokünstler Douglas Gordon mit einem Elefanten drehen möchte, lädt er ihn in eine New Yorker Garage ein – kein Opernhaus hätte einen Elefanten im Ensemble. Aber wenn wir über Musik, Theater und Tanz sprechen, sind es die Häuser selbst, in denen eine Oper, ein Schauspiel, eine Choreographie erarbeitet wird. Diese Häuser sind strukturiert durch Architektur, mit Arbeitsteilungen und strengen Hierarchien, mit „wenig Luft zum Atmen“, wie Ministerpräsident Kretschmann es formuliert hat, mit Haltungen, Technik, gewerkschaftlichen Verträgen und Arbeitszeiten, mit einem konditionierten Ensemble aus Musikern und Schauspielern. Und täuschen wir uns nicht: Nichts von alledem – nicht einmal die Technik – ist neutral. Und vor diesem Hintergrund ist „künstlerische Freiheit“ relativ. Was Adolphe Appia 1921 für die ästhetische Selbstständigkeit des Lichts formulierte, musste warten, bis Bob Wilson es ein halbes Jahrhundert später durchzusetzen in der Lage war. Brechts Idee von der Trennung der Elemente – heute ein entscheidender Code für zeitgenössische Wahrnehmung im Theater – scheiterte letztlich an der hierarchischen Praxis in den Theatern. Auch die Ideen der Futuristen, die mit vielem von dem, was das postdramatische Theater inzwischen eingelöst hat, schon experimentierten, konnten sich nicht dagegen durchsetzen‚ wie Theater „eben so gemacht wird“. Und wenn man überlegt, dass Luigi Russolo vor genau hundert Jahren – im März 1913 – sein Manifest zur Geräuschkunst (L’arte rumori / the art of noises) formuliert hat, wundert man sich doch, wie lange es gedauert
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hat, bis die Musik von Helmut Lachenmann endlich einmal von den Berliner Philharmonikern gespielt werden konnte. Auch die Techniken, mit denen auf den Bühnen gesprochen und gesungen und getanzt wird, wie sie in Schauspielschulen und Tanz- und Opernklassen gelehrt werden, entspringen – wie alles in diesen Genres – einer spezifischen Tradition und sind letzten Endes ideologisch: Eine unhinterfragbare Voraussetzung künstlerischer Arbeit an den Institutionen, die aber den Anschein des Natürlichen vorspiegelt. Natürlich, auf jeden Fall „macht man das halt so“. Die Institute, die Schauspieler, Tänzer, Instrumentalisten, Sänger und Regisseure ausbilden, tun nämlich das, wozu sie gegründet wurden: Sie versorgen diesen in Deutschland noch sehr großen, auf alten Kunstbegriffen beruhenden institutionellen „Markt“ mit Nachwuchs. Im Unterschied zu den Kunsthochschulen sind sie keine Forschungsstätten für Kunst.
B EWEGUNGEN
ENTGEGEN DER
S CHWERKRAFT
Natürlich gibt es Gegenbewegungen: Bühnen, die keine Schauspieler mehr engagieren, die von den Schauspielschulen kommen, weil sie ihnen zu standardisiert erscheinen; oder Regisseure bzw. Kollektive abseits der Institutionen wie „Rimini Protokoll“, die mit Laien oder „Experten“ arbeiten, Choreographen wie Forsythe, die die Tänzer sprechen lassen, oder Leute wie ich, bei denen die Instrumentalisten singen und tanzen müssen. Oder Chöre wie „graindelavoix“, die auf die individuelle Eigenart jedes einzelnen Sängers setzen und nicht auf die makellose Neutralität eines idealen Gesamtklangs. Das sind alles Maßnahmen, um einer klassischen, mitunter klischierten Standardisierung der Körper und Stimmen und Gesten zu entkommen. Den Tanz sollte man dringlich ausnehmen, denn die Randstellung, die er an den Bühnen einnimmt, hat ihm bereits eine doppelte Freiheit beschert: die Freiheit, die ihn bedroht und permanent an die Grenzen seiner Existenz treibt; aber auch die Freiheit sich ohne Rücksicht weiterzuentwickeln, seine Grundannahmen in Frage zu stellen, zu einem sichtbaren Nachdenken über Bewegung zu werden. Und die elektronische Musik, die Laptop-Konzerte junger Musiker (die oft nicht einmal Noten lesen können, die auf kaum einer Musikhochschule aufgenommen würden) ist oft der zeitgenössischen, akademischen Musik
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um Längen voraus, wenn es um die Entdeckung des Klangraums, die Grenzen der Wahrnehmung geht; um die Ausdifferenzierung pulsierender Rhythmen und um einen zeitgenössischen Kunstbegriff, der auf eine starke ästhetische Erfahrung setzt und nicht nur auf eine neue Seite in der Geschichte komplexer Partituren der E-Musik seit den Fünfziger Jahren. Aber ein Komponist, der nicht die Orchester bedient, der nicht für die institutionellen Klangkörper schreibt (die heftig mit Aufträgen winken, um ihre Existenz im 21. Jahrhundert zu legitimieren), hat hier wenige Chancen. Woher also wird die Zukunft der Künste kommen, wenn wir nicht nur die Texte im Theater, die Klänge in der Oper und die Schrittfolgen beim Tanz austauschen und renovieren wollen? Ich glaube, wir müssen strukturell darüber nachdenken. Wie verhindern wir, dass diese absolut schützenswerten und für die Präsentation des Repertoires einzigartigen Institutionen, über die wir zur Zeit noch verfügen, nicht die beherrschenden, beharrenden Schwerkräfte sind, denen gegenüber mehr und mehr und ganz zurecht die Kritik laut wird, sie seien nicht für die Kunst und die Künstler da, sondern verlangten im Gegenteil von den Künstlern, „was gut für das Haus ist“: für das Abo, für den Spielplan, für die Besetzung, für das Budget, die zur Verfügung stehende Probenzeit etc.? Aber der Kompromiss ist ein schlechter Regisseur.
F REIE H ÄUSER
UND
A USBILDUNGSLABORE
Was uns fehlt sind Häuser, die frei sind – aber nicht im doppelten Sinne, sondern genauso ausgestattet wie ein Opernhaus, wie ein Stadt- oder Staatstheater –, Produktionsmöglichkeiten, wie ich sie zum Beispiel glücklicherweise zurzeit bei der Ruhrtriennale vorfinde. Ich schlage vor, in jedem Bundesland erstmal ein Theater umzuwandeln. Wir haben ja 150 Theater und 80 Opernhäuser. Man muss das nur politisch wollen. Nichts muss so bleiben wie es ist. Ein „freies Haus“ heißt: ohne feste Vorgaben von Effektivität, Auslastung, Repertoire – mit kleiner Stammbesetzung aus Technik, Verwaltung und Leitung – denn je mehr definiert und geregelt ist, desto untauglicher ist es als Produktionsstätte für die Erfindung dessen, was wir noch nicht kennen. Also ohne festes Orchester, ohne Chor, ohne Schauspiel- oder Tanzensemble – aber ausreichend mit Mitteln dafür ausgestattet, sich von Projekt zu Projekt neu zu definieren und zu erfinden – und zu erarbeiten, was gut
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für die Kunst ist. Ich benutze zur Beschreibung dessen, was ich meine, gerne das Bild vom Labor. Ein neues Auto wird auch nicht am Fließband entwickelt. Aber die Repertoiretheater sind in gewisser Weise Fließbänder. Was uns auch fehlt, sind Ausbildungsinstitutionen für Theater und Musiktheater, die ebenso frei sind; die Anderes als den bestehenden „Markt“ im Blick haben, sondern selbst schon Labore sind, in denen die jungen Studierenden den Spielraum haben, eine eigene Ästhetik zu entwickeln – für die Zukunft der Künste jenseits bekannter Disziplinen. Ausbildungen, bei denen die Studierenden von den Lehrenden nicht auf den Kanon der Klassiker eingeschworen werden, wo sie nicht das Käthchen von Heilbronn als Vorsprechrolle lernen; sondern darüber nachdenken können (und ausprobieren), was Kunst heute alles sein kann. Wo Lehrende bereit und fähig sind, für eine Ästhetik auszubilden, von der sie selbst noch nicht wissen, wie sie einst aussehen wird. Wir müssen dabei neue Produktionsweisen modellhaft entwickeln. Wenn wir am Verhältnis zum Zuschauer, an den Arbeits-Verhältnissen untereinander und an den Produktionsverhältnissen nichts ändern, können wir auch gleich die Inhalte so lassen wie sie sind. „Das utopische Moment“, sagt Heiner Müller, „liegt in der Form“. Deswegen ist zeitgenössische darstellende Kunst immer auch Institutionskritik.
Theater als Kulturindustrie Globale Perspektiven in einer reflexiven Moderne C HRISTOPHER B ALME
Theater als Kulturindustrie zu betrachten, grenzt an eine contradictio in adjecto, Theater wird in Bezug gesetzt zu zwei Phänomenen, zu denen es im diametralen Gegensatz steht: der Kulturindustrie einerseits und Globalisierung andererseits. Das deutsche Theatersystem wurde ja eingerichtet, damit es, frei von den marktwirtschaftlichen Mechanismen der Kulturindustrie, Kunst und keine Waren produzieren konnte. Des Weiteren sei Theater, als die Kunst des Hier und Jetzt, eigentlich der Inbegriff des Lokalen und nicht des Globalen. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist daher, diese scheinbare Unvereinbarkeit der Elemente zu hinterfragen und zu untersuchen, inwieweit Theater heute in einem neu definierten global operierenden kulturindustriellen Komplex vielleicht seinen Platz haben kann. Mein Argument gliedert sich in drei Hauptschritte: zunächst werde ich die Begriffe „Globalisierung“ und „Kulturindustrie“ einigen begriffsgeschichtlichen Erkundungen unterziehen. Im zweiten Teil geht es darum, die frühere Verflechtung des deutschen Theaters mit der Kulturindustrie und dessen Transformation in einen Bestandteil der sozialstaatlichen Verwaltung aufzuzeigen: Ein Prozess, der unter sozialdemokratischen Vorzeichen beginnt und mit nationalsozialistischer Gründlichkeit vervollständigt wurde. Seit der Nachkriegszeit verlaufen dann zwei Schienen parallel zueinander, ohne sich zu berühren: einerseits ein Modell, das Theater als öffentliche Dienstleitung und Teil der lokalen sozialen Infrastruktur wie Gas und Strom betrachtet, und ein kommerzieller Sektor andererseits, der kapitalistisch-marktwirtschaftlich operiert. Im dritten Teil möchte ich fragen, ob es – frei nach Anthony Giddens und New Labour – einen dritten Weg gibt, der
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Verbindungen zwischen diesen Bereichen herstellt. Diskutiert wird das National Theatre (NT) in London als Beispiel eines staatlich subventionierten, dem deutschen Modell nachempfundenen Repertoiretheaters, das auch marktwirtschaftlich agiert.
T HEATER
UND
G LOBALISIERUNG
Zunächst die unvermeidliche Frage: was ist Globalisierung? Hier gibt es keine klare Übereinkunft. Historiker verstehen den Begriff anders als Ökonomen, die wiederum im Clinch liegen mit den Soziologen. Alle Ansätze haben jedoch gemein, dass sie sich in zwei Lager, Globalisierungsoptimisten und -pessimisten, unterteilen lassen. Die Optimisten sehen in der sich unübersehbar abzeichnenden Verflechtung von Wirtschaftsprozessen sowie in der medialen und informationellen Verknüpfung aller Völker den Weg in eine bessere Zukunft. Hinzu kommt dank kultureller Hybridisierung und Migration eine Vervielfältigung des kulinarischen Angebots, das von Döner bis zum vietnamesischen Restaurant reicht. Die Pessimisten identifizieren die gleichen Kriterien und Indikatoren, messen ihnen aber ein dystopisches Potenzial bei: eine so verstandene Globalisierung führe zwangsläufig zur kulturellen Homogenisierung, zur ungerechten Verteilung von Ressourcen und einer unübersehbaren Dominanz der Welt entweder durch die USA (die Linkspessimisten) oder China (die Rechtspessimisten). Pessimistisch werden aber alle angesichts einer Weltrisikogesellschaft (Ulrich Beck), was bedeutet, dass auch die vormals individuellen bzw. nationalstaatlichen Risiken gesundheitlicher, wirtschaftlicher oder klimatischer Art sich so weit globalisiert haben – durch (Flug-)Verkehr beförderte Epidemien, Finanzkrisen, Klimawandel –, dass sie mit nationalstaatlichen Maßnahmen und Kategorien nicht mehr beherrschbar sind. Vor allem wegen solcher Risiken werden wir gezwungen global zu denken. Historiker betrachten Globalisierung in weit größeren Zeiträumen. Das neue Forschungsfeld der Globalgeschichte teilt das oben genannte Phänomen (informationelle Verflechtung, Zirkulation von Waren im Zeichen eines entfesselten Kapitalismus und Migration) in verschiedene Phasen ein. Die meisten bezeichnen die Blütezeit des Kolonialismus und Imperialismus, circa 1860 bis 1914, als die erste Phase der Globalisierung, weil in dieser Zeit weite Teile der Welt unter der Herrschaft einiger weniger Kolonialreiche standen und nationalstaatliche Grenzen eine untergeordnete Rol-
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le spielten. In einem großen und gut vernetzten Kolonialreich wie etwa dem britischen Empire konnten sich Kommerz und Handel – analog zur heutigen Situation – ungehindert entwickeln und entfalten. Und das Theater? Manche möchten glauben, dass das Theater das einzige Medium geblieben ist, das sich als globalisierungsresistent erwiesen hat. Daher klingt die Frage, ob es so etwas wie eine globale Theaterästhetik gibt oder geben könnte, aus theaterwissenschaftlicher Sicht fast wie ein Widerspruch in sich. Das Theater gehöre doch zu denjenigen Künsten, die sich ausschließlich im Hier und Jetzt, gleichsam im Lokalen ereignen, so die herrschende Lehrmeinung. Aufgrund dieser Privilegierung der raumzeitlichen Koordinaten der Gegenwart scheint jede Form der Mobilität und Rezeption außerhalb dieser Koordinaten zumindest problematisch zu sein. Diese Sicht wird bestärkt, wenn man den Blick auch noch auf die deutsche Situation mit ihrem historisch gewachsenen Netz an Staats- und Stadttheatern fokussiert, die allesamt von lokalen Bezugsgrößen bestimmt werden: nicht nur werden Intendanten entweder von Stadträten oder Kultusministern einer Stadt bzw. eines Landes berufen, sondern kaum ein Intendant würde heutzutage wagen zu behaupten, er produziere Theater vornehmlich im Hinblick auf überregionale Anerkennung (auch wenn dies insgeheim durchaus der Wunsch ist). Offiziell macht man Theater für die Stadt, vielleicht für ein regional geprägtes Bundesland. Aber für ganz Deutschland? Oder gar die Welt? Deutschsprachiges Theater wird, so scheint es, in einer Stadt für eine Stadt, oder gelegentlich im Falle der umherziehenden Landesbühnen für eine Region produziert, aber nie für die Welt. Mit Ausnahme einiger international bekannter Theatergruppen wie etwa das Wuppertaler Tanztheater von Pina Bausch oder die Berliner Schaubühne wird deutschsprachiges Theater auch nur selten außerhalb der Stadtgrenze rezipiert.1 Das heißt, wenn wir uns mit der Frage nach Theater und Globalisierung beschäftigen wollen, ist das Theater im deutschsprachigen Raum, trotz oder vielleicht wegen der ungeheuer großzügigen Subventionen, kein Maßstab. Theaterhistoriker betrachten Globalisierung entweder als Norm oder als Sonderfall. Im ersten Fall müsste man bereits das dichte Netz an antiken Theatern, die von Spanien bis nach Kleinasien reichten, und erst recht die
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Dieser Befund gilt weniger für das postdramatische Theater, das sich vornehmlich in losen Gruppen organisiert. Manche Gruppen wie etwa Rimini Protokoll sind auch weltweit tätig.
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sprachliche Grenzen überwindenden Bewegungen der Commedia dell’arteTruppen als Frühform der globalisierten Theaterproduktion betrachten. Eine groß angelegte Mobilität von Personen und Kunstrichtungen setzte aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Hier sind drei Phänomene zu nennen: das verflochtene Netz von Theatern, das sich im Zuge der Kolonialreiche herausbildete. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten entstanden zahlreiche Theaterbauten und theaterinteressierte Öffentlichkeiten, die von einem unablässigen Strom an Tourneetheatern aus den europäischen Metropolen bespielt wurden. Dank dieses Netzes konnte beispielsweise die ganze englischsprachige Welt von London bis Auckland mit den Operetten von Gilbert & Sullivan in den von der D’Oyly Carte Opera Company streng kontrollierten und normierten Inszenierungen beglückt werden. Auch manche Inszenierungen von Max Reinhardt, die er in ganz Europa, Großbritannien und den USA zeigte, profitierten von diesem neuen, durch Migration geschaffenen Theatermarkt. Aus der umgekehrten Richtung kamen Darsteller, zum Teil im Rahmen von Völkerschauen, die einem westlichen Publikum vollkommen neue Darstellungsformen und Ästhetiken beibrachten. Das wohl bekannteste Beispiel dieser Form von Globalisierung ist die 1931 in Paris veranstaltete Kolonialausstellung, wo der französische Schauspieler und Regisseur Antonin Artaud vom Auftritt einer balinesischen Tanzgruppe so beeindruckt war, dass der daraufhin entstandene Aufsatz die Grundlage eines der berühmtesten Theatermanifeste des 20. Jahrhunderts, Das Theater und sein Double (1936) bildete. Wenn wir Globalisierung als Verbreitung und Rezeption von Theaterformen betrachten, so müssen wir auch traditionelle europäische Theatergattungen wie das Drama, die Oper und das klassische Ballett einbeziehen, da diese Darstellungsformen im Zeichen des Kolonialismus, aber auch unabhängig von ihm, auf der ganzen Welt im Zuge des 20. Jahrhunderts aufgenommen und praktiziert werden. 146 Wagner-Gesellschaften mit 26.000 Mitgliedern verbinden die Welt von Shanghai bis Puerto Rico fast so flächendeckend wie das Glasfaser-Kabelnetz. Zu dieser Liste müssten wir auch den Modern Dance Martha Grahams hinzufügen, da die dort entwickelten Prinzipien fast überall auf der Welt Nachahmer gefunden und weitere Entwicklungen erfahren haben. Schließlich dürften wir die sogenannte Avantgarde nicht vergessen. Diese sehr europäische Praxis eines immer währenden Bruchs mit Traditionen, basierend auf einer nie abschließbaren Dialektik von Innovation und Ablehnung, etablierte sich in den meisten
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Ländern der Welt ab den 1960er Jahren, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Intensität und Wirkung.
K ULTURINDUSTRIE Das Stichwort Avantgarde führt uns geradlinig zum zweiten Begriff: der Kulturindustrie. Denn die Avantgarde gehört zu den wenigen künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, die sich nach Adorno und Horkheimer dem „Massenbetrug“ und dem „Warencharakter“ der Kulturindustrie entziehen können. Der von Horkheimer und Adorno in den 1947 veröffentlichten Philosophischen Fragmenten (Dialektik der Aufklärung) geprägte Begriff gehört sicherlich zu den einfluss- und folgenreichsten der Kritischen Theorie. Die Kernargumente lauten: Die Kulturindustrie sei im Kontext des Liberalismus, im domestizierten Naturalismus wie in der Operette und den Revuen entstanden. Die Kulturindustrie stand daher im ursächlichen Zusammenhang mit dem Spätkapitalismus und der Marktwirtschaft. Es handelte sich um ein Phänomen, das sich in allen industrialisierten Ländern abspielte. Obwohl sich die Kulturindustrie am deutlichsten in der populären Musik, in Film und Fernsehen manifestiere, gelten die Mechanismen auch für die darstellenden Künste, sofern sich diese den gleichen Normierungsund Verflachungsanforderungen industrieller Produktion unterwerfen. Unterhaltung sei die Verlängerung der Arbeit unter Spätkapitalismus. Deshalb verlangen die Produkte der Kulturindustrie keine Anstrengung in der Rezeption, sondern bewegen sich in „den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen“ (Horkheimer/Adorno 1971: 123). In den 1960er Jahren fanden die Thesen große Verbreitung, ja sie erlangten den Status einer gewissen Orthodoxie. Genuine Kunst definiere sich daher in Abgrenzung von den Mechanismen der Kulturindustrie. Umso erstaunlicher ist es, dass im Jahr 1982 die UNESCO eine zweihundertseitige Publikation mit dem Titel Cultural Industries. A Challenge for the Future of Culture vorlegt. Das Dokument, Ergebnis eines internationalen Forschungsprogramms, beginnt mit einem Zitat aus dem Horkheimer/AdornoText: „The stronger the positions of the culture industry, the more summarily it can deal with consumers’ needs, producing them, controlling them,
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disciplining them, and even withdrawing amusement: no limits are set to cultural progress of this kind.“ (UNESCO 1982: 9)2 Der von Horkheimer und Adorno verwendete Begriff des „kulturellen Fortschritts“ und vor allem der globalen Verbreitung der Kulturindustrie dient den Autoren des Berichts als Steilvorlage, nicht um sie zu kritisieren, sondern um sie als Wachstumsmöglichkeit zu nutzen. Für die Autoren geht es darum, die Kulturindustrie zu analysieren und im Hinblick auf kulturelle Entwicklung als Potenzial und nicht als Risiko umzufunktionieren: „Where certain favourable economic and political conditions exist, cultural industries can radically transform the exercise of artistic professions and creativity in general, enhance the contacts between creative artists and the population and, above all, give fresh impetus to educational action, whether in or out of school, and considerably strengthen effective participation by the people at large in the expression of their culture.“ (Ebd.: 10f.)
Das Dokument der UNESCO kann vielleicht als Neubegründung und Resemantisierung des Begriffs der Kulturindustrie betrachtet werden. Obwohl die darin enthaltenen Empfehlungen auf lokale und nationale kulturelle Ressourcen hinweisen, bedeutet die kollektive Autorschaft eine signifikante Internationalisierung, aber vielleicht noch mehr eine Transnationalisierung des Begriffs. Spätestens in den 1990er Jahren erfährt der Begriff eine Rehabilitierung und positive Umdeutung. Im neoliberalen Klima nach 1989 findet eine Umwertung statt. Aus einem Fleckenteppich von einzelnen Künsten, medialen Produkten und diversifizierten Wirtschaftsformen entstehen die Kultur- und Kreativindustrien bzw. die Kreativ- oder Kulturwirtschaft, die vor wirtschaftlicher Potenz kaum gehen können. In Deutschland rangiert die Kulturwirtschaft hinsichtlich Bruttowertschöpfung nach dieser terminologischen Flurbereinigung knapp hinter der Automobil- und vor der chemischen Industrie. (Vgl. Fesel/Södermann 2007: 10)
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Im Original heißt es: „Je fester die Positionen der Kulturindustrie werden, um so summarischer kann sie mit dem Bedürfnis der Konsumenten verfahren, es produzieren, steuern, disziplinieren, selbst das Amusement einbeziehen: dem kulturellen Fortschritt sind da keine Schranken gesetzt.“ (Horkheimer/Adorno 1971: 129)
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Unterschieden wird je nach Quelle auch zwischen Kultur- und Kreativindustrien. Grob gesprochen umfassen Kulturindustrien diejenigen Sektoren, die zumindest dem Anschein nach hauptsächlich marktwirtschaftlich organisiert sind. Zu den Kulturindustrien zählen neben Mode, Software und Computerspielen auch die Filmindustrie sowie Privattheater und Kleinkunst. Der große subventionierte Bereich wird nicht dazu gezählt. Streng genommen handelt es sich beim letzteren auch nicht um eine Industrie, sondern aufgrund der ursprünglich und heute noch vielfach praktizierten kameralistischen Wirtschaftsform um eine Erscheinungsform der öffentlichen Verwaltung. Jedoch wird der subventionierte Bereich normalerweise den Kreativindustrien zugerechnet und damit statistisch erfasst. Wenn man heute Theater als Kultur- bzw. Kreativindustrie betrachtet, zumal aus einer deutsch-globalen Perspektive, ist das doppelte Erbe eines privaten und öffentlichen Anteils immer mitzudenken. Deutsch-global deshalb, weil in der Dialektik der Aufklärung mit der Kulturindustrie bereits ein globales Phänomen beschrieben wurde, auch wenn ihr Bezugsfeld stark US-amerikanisch geprägt war. Signifikant ist aber, dass die Autoren Deutschland teilweise aus dieser globalen Entwicklung herausnehmen. Nur in Deutschland, aufgrund des unvollständigen demokratischen Prozesses, seien einige Bereiche vor den Mechanismen des Marktes geschützt gewesen: das Bildungssystem, die künstlerisch maßgebenden Theater, Orchester und Museen, die noch unter höfischem Einfluss standen. „Das stärkte der späteren Kunst den Rücken gegen das Verdikt von Angebot und Nachfrage und steigerte ihre Resistenz weit über die tatsächliche Protektion hinaus.“ (Horkheimer/Adorno 1971: 119) Es gilt deshalb in einem nächsten Schritt, das deutsche Theater als Kulturindustrie in früheren Iterationen zu beleuchten. Es geht darum, dem Mythos eines seit zweihundert Jahren staatlich subventionierten Theatersystems, den Horkheimer und Adorno tendenziell fortschreiben, entgegen zu treten und die Anfänge des deutschen Theaters im freien Markt der Kulturindustrie herauszuarbeiten. Theater als Gewerbe „Es gibt meines Wissens überhaupt nur zwei Erwerbsarten, bei denen mit Ausdauer selbst der größte Trottel reich wird. Diese beiden Berufsarten sind: Terrainspekulation und die Theaterdirektion.“ (Epstein 1918: 100)
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Seit etwa Ende des 19. Jahrhunderts und in enger Tuchfühlung mit der Nationaltheaterdebatte tobte eine kulturpolitische Diskussion in Europa um den Status des Theaters als öffentliche Dienstleistung. Die großen Liberalisierungstendenzen des 19. Jahrhunderts hatten dazu geführt, dass in England, Frankreich, Italien, Deutschland und anderswo das Theater aus dem Patronatssystem herausgelöst und zum Gewerbe erklärt worden war. In Frankreich und Deutschland war das Ergebnis die Koexistenz staatlich geschützter und marktwirtwirtschaftlich organisierter Bereiche. In Frankreich handelte es sich um die alten königlichen Theater in Paris, in Deutschland um die Hoftheater. In England und den USA war das Theater ausschließlich marktwirtschaftlich und gewinnorientiert organisiert. In England schaute der renommierte Regisseur und Propagandist eines Nationaltheaters, Harley Granville Barker, nach Deutschland, das als Vorbild für ein öffentlich finanziertes und in England noch zu errichtendes Repertoiretheater dienen sollte. In seinem Aufsatz Two German Theatres plädierte Granville Barker für „public recognition of the theatre as a social service“ (Granville Barker 1911: 60). Um seiner Forderung nach Anerkennung des Theaters als öffentliche Dienstleistung Nachdruck zu verleihen, beschrieb er erstaunlicherweise zwei Privattheater: Max Reinhardts Deutsches Theater in Berlin und Louise Dumonts Düsseldorfer Schauspielhaus. Beide standen für ein künstlerisch anspruchsvolles Repertoiretheater, die entweder gar keine (im Falle Reinhardts) oder nur in geringem Maße Zuschüsse aus der öffentlichen Hand bekamen. Reinhardts Stellung ist bemerkenswert vor dem Hintergrund der Engführung von künstlerisch anspruchsvollem Theater und öffentlicher Unterstützung durch Horkheimer und Adorno. Obwohl emphatisch der Kunst gewidmet, war Reinhardts Theaterimperium rein kapitalistisch organisiert und seine wichtigste unternehmerische Tat sicherlich der Kauf des Deutschen Theaters im Jahr 1905. In diesem Zusammenhang vermerkt Heinrich Huesmann zurecht, dass es erstaunlich war, dass ein junger Schauspieler, der sich zehn Jahre zuvor nicht einmal die Zugfahrt von Salzburg nach Berlin leisten konnte, nun in wenigen Wochen den Kaufpreis von 2.450.000 Mark (nach heutigem Geldwert zwischen 15 und 20 Millionen Euro) aufbringen konnte. Huesmann erklärt diese Leistung dadurch, dass mit dem Namen Reinhardt die Finanzwelt allerdings bereits 1905 „ein investitionssicheres Wirtschaftsunternehmen“ (Huesmann 1983: 16) verband. Reinhardt kaufte nicht nur das Deutsche Theater, sondern den ganzen dazu ge-
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hörigen Gebäudekomplex in der Schumannstraße, woraus er bald danach zwei Theater machte.3 Das Betriebskapital von einer Million Mark wurde durch sogenannte Konsortialbeteiligungen aufgebracht. Zu den Investoren gehörten die Brauerei Königstadt, der Zeitungsverleger August Huck sowie Emil Rathenau, Direktor der AEG. Rathenaus Interesse an Reinhardts Theaterunternehmen war nicht durch reine Lust an der Theaterkunst motiviert, sondern Rathenaus Firma hatte bereits mehrere Patente von Reinhardt und seinen Mitarbeitern für Bühnen- und Beleuchtungstechnik erworben. Schließlich hatte der Sensationserfolg von Reinhardts SommernachtstraumInszenierung vom Januar 1905 mit dem Einsatz von Drehbühne und neuer Beleuchtungstechnik gerade dieses Innovationspotenzial demonstriert. Mit diesem Kauf erwarb Reinhardt eine Sonderstellung unter den privat betriebenen Theatern in Berlin. Nach wenigen Jahren war er der einzige Bühnenleiter in Berlin, der gleichzeitig Eigentümer seines Theaters war.4 Aus dieser Autonomie wusste er sowohl finanzielles als auch künstlerisches Kapital zu schlagen. (Vgl. Epstein 1918: 98) Der spätere Niedergang des Reinhardtschen Theaterimperiums hängt mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen der Weimarer Republik zusammen. Die wirtschaftlichen Probleme beginnen bereits 1920 mit der Einführung einer 15-prozentigen Lustbarkeitssteuer auf alle Bruttoeinnahmen zuzüglich zwei Prozent Umsatzsteuer. Damit wurden die Privattheater steuerlich wie Bars und Nachtklubs behandelt. Staatliche und städtische Theater wurden davon ausgenommen. Der Niedergang der großen Berliner Privatbühnen war unaufhaltsam. Zerrieben zwischen Steuerlast, der Auflösung des traditionellen Bildungsbürgertums und Konkurrenz durch das Filmgeschäft sorgen diese Theater (und weniger die staatlich subventionierten) dennoch für den heute noch nostalgisch-sehnsuchtsvoll beschworenen Glanz der Weimarer Zeit. Verschiedene Rettungsversuche wurden vom Bruder Edmund Reinhardt eingefädelt, der es verstand, alle rechtlichen und fiskalischen Register des
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Er übernahm die vorhandene Hypothek in Höhe von 675.000 Mark und zahlte 450.000 an L’Arronge in bar und ließ 1.350.000 Mark hypothekarisch für ihn eintragen.
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Nach Epstein war es nur dem Erbauer und Direktor der Komischen Oper, Hans Gregor, gelungen, beide Funktionen zu vereinigen. Als dieser als Hofintendant nach Wien ging, blieb Reinhardt der einzige unabhängige Theaterdirektor.
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kapitalistischen Wirtschaftssystems zu ziehen. 1926 gelang es ihm gegen erbitterten Widerstand des Berliner Stadtmagistrats, aber mit Unterstützung des preußischen Staats, den Theaterkonzern in eine gemeinnützige GmbH umzuwandeln und damit eine Befreiung von der Lustbarkeitssteuer zu erwirken. Drei Jahre instabiler Konsolidierung folgen, die wesentlich durch die Bildung des finanzkräftigen, nach den führenden Berliner Direktoren Reinhardt, Barnowsky und Robert genannten Reibaro-Trusts gestützt wird, der den Kartenverkauf verbilligt und die Schauspielergagen reduziert. Mit Edmunds Tod 1929 verliert Max Reinhardt nicht nur einen Bruder, sondern den Kopf einer geschäftlich gesehen glänzend geführten, aber letztlich unabwendbaren Rückzugsaktion. 1930 leuchtet der Reinhardt-Stern noch einmal auf, als er mit dem Gedanken spielt, seinen Theaterkonzern mit den Preußischen Staatstheatern zu fusionieren, aber die ökonomische Lage verschärft sich dramatisch durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise. Kurz nachdem Reinhardt erneut die Direktion des Deutschen Theaters aufgibt und seinem Sohn Wolfgang überlässt, kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Reinhardt verlässt Deutschland für immer. Um legal in den Besitz des Theaterkonzerns mit den dazugehörigen Immobilien zu gelangen, verabschieden die Nationalsozialisten ein Gesetz, das die Lustbarkeitsteuer rückwirkend geltend macht. Die damit entstehenden, bis 1926 zurückreichenden Steuerschulden treiben den Konzern endgültig in den Konkurs und alle festen Werte gehen in Staatsbesitz über. Im Jahr 1933 geht eine theatergeschichtliche Ära zu Ende. Unter den Nationalsozialisten wurde der bereits während der Weltwirtschaftskrise begonnene Prozess der Verstaatlichung der privatwirtschaftlich betriebenen Theater vorangetrieben. Alle bedeutenden Stadt- und Staatstheater werden nun in Regiebetriebe verwandelt und durch die öffentliche Hand subventioniert. Die beispiellose deutsche Theaterlandschaft, die heute führende Politiker als Teil des Weltkulturerbes vor weiteren Sparmaßnahmen beschützen wollen, findet eigentlich erst nach 1933 ihre volle Entfaltung. Mit der Zerschlagung und Enteignung des Reinhardtschen Imperiums endet auch die Geschichte des privaten Theaters in Deutschland von internationaler Bedeutung. Die Verstaatlichung der Reinhardt-Bühnen steht stellvertretend für einen Trend, der sich nach 1933 überall in Deutschland durchsetzte. Einstige Privattheater wurden verstaatlicht bzw. kommunalisiert, ein Trend, der bereits in der Weimarer Republik unter den Sozialdemokraten einsetzte und
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von den Nazis vervollständigt wurde. Unter den Nazis wurde das Theater endgültig zum „öffentlichen Gut“ und den Klauen der Kulturindustrie entrissen. Theater als Daseinsvorsorge Vor einem Jahrhundert war Deutschland jedoch weit davon entfernt, seine Theater als öffentliche Güter zu betrachten. Das kommunale Jahrbuch von 1913/14 zählte 196 Stadttheater – 118 davon in städtischem Besitz, 78 in Privateigentum. Allerdings waren nur die allerwenigsten, auch die in städtischem Besitz, Regiebetriebe, das heißt durch die Kommunen bezuschusste Einrichtungen im heutigen Sinn. Fast alle diese Theater waren überwiegend durch private Gelder finanziert worden, die Gebäude wurden an privatwirtschaftlich agierende Theaterunternehmer verpachtet. Zählt man die 176 Privatbühnen hinzu, so wird deutlich, dass das deutsche Theatersystem vor dem Ersten Weltkrieg vor allem ein kommerzielles, kulturindustrielles Unterfangen war, das allerdings zum Teil durch die Länder und Kommunen bezuschusst wurde. Die 39 Hoftheater bildeten eine gut finanzierte und viel beneidete Ausnahme. Deren Angestellte waren zum Teil verbeamtet und sogar pensionsberechtigt. Die Jahre zwischen 1914 und 1938 bilden den Zeitraum, in dem das privatwirtschaftlich organisierte und mal mit, mal ohne Kunstanspruch betriebene System beinahe vollständig kommunalisiert wurde. Im Zuge dessen wurde die Theater- und Orchesterlandschaft zum größten Subventionsbzw. Förderungsempfänger in der deutschen Kultur. Die Genese und letztendliche Verfestigung dieses Systems resultierte aus der Konvergenz dreier Faktoren, die wiederum auf drei unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln sind. Auf der diskursiven Ebene münden aufklärerische kunstphilosophische Diskurse in Ideen zu einem Kultur- statt eines Geschäftstheaters. Architektonisch entsteht im Zuge der rapiden Urbanisierung der deutschen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Konkurrenz zwischen den Kommunen, aber auch eine gemeinsame Übereinkunft über die öffentliche Funktion einer Stadt und deren „Bringschuld“ gegenüber den Bürgern. Das Ergebnis ist eine rege Bautätigkeit, die die meisten heute noch existierenden öffentlichen Kultureinrichtungen wie Theater, Museen und Tiergärten hervorbringt. Auf der politischen Ebene legt eine intensiv sozialdemokratisch geführte Debatte über die soziale Funktion des Theaters
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und vor allem die Lage der dort Beschäftigten die Grundlage für Kunst als Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Auf diesen dritten Faktor möchte ich jetzt näher eingehen. In den Theaterreformdebatten um 1900 stößt man häufig auf den Begriff des Regietheaters. Damit meinte man allerdings nicht die Auswüchse interpretierfreudiger Regiestars, sondern schlicht eine Betriebsform: den Regiebetrieb. Ein Regiebetrieb ist Teil der kommunalen Verwaltung ohne betriebswirtschaftliche Eigenberechtigung wie etwa der Friedhof oder der Botanische Garten. Die wiederholte Forderung zumeist sozialdemokratisch gesinnter Theaterreformer nach dem „Regietheater“ spiegelt eine Reaktion auf eine zunehmende finanzielle Krise der Stadttheater wider. Wie bereits gezeigt, waren um 1900 die allermeisten Stadttheater Pachtbetriebe, das heißt, das Gebäude befand sich entweder im Besitz der Stadt oder einer Aktiengesellschaft, an der die Stadt auch beteiligt war. Mithilfe eines Theaterausschusses, der für die Verhandlungen mit dem Pächter zuständig war, verpachtete die Stadt das Gebäude an einen gewinnorientierten Theaterunternehmer. Die Finanzmisere der Stadttheater hatte zur Folge, dass die Städte zunehmend direkt die Theater subventionieren mussten. Obwohl es schon immer Formen der indirekten Bezuschussung gegeben hatte – wie zum Beispiel Pachterlass, Übernahme von Heiz- und Stromkosten –, reichten diese bald auch nicht mehr aus, und die Kommunen mussten direkte Zuschüsse gewähren. Vor diesem Hintergrund entsteht eine Debatte über zwei TheaterAuffassungen: Kulturtheater oder Geschäftstheater (vgl. Leonhardt 2007: 122f.). Die zentralen Argumente der Kulturtheaterfraktion finden sich in einer von Ludwig Seelig im Jahre 1915 verfassten Denkschrift mit dem Titel „Geschäftstheater oder Kulturtheater?“ Als Syndikus des Kartells der Verbände der deutsch-österreichischen Bühnen- und Orchestermitglieder entwarf der Sozialdemokrat Seelig eine Vorstellung für die Zukunft der Stadttheater. 1918 schrieb er im sozialdemokratischen Parteiorgan Vorwärts: „Es gibt nur ein Mittel, um das Theater seiner Kulturbestimmung zuzuführen: das ist seine Sozialisierung!“ (Zit. n. Bullinger 1997: 141) Was er im Einzelnen darunter verstand, führte er in der bereits genannten Denkschrift aus: Kernstück seiner Reformidee war die Kommunalisierung der Stadttheater und deren Verwandlung in Regiebetriebe. Sein Modell ähnelt im Grunde dem gegenwärtigen System, nach dem die Theater in die kommunale Verwaltungsstruktur integriert sind.
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Obwohl sich die Kommunen nicht gerade beeilten Seeligs Reformvorschläge umzusetzen, war der von ihm vorgezeichnete Weg unausweichlich. Die Tatsache, dass er nach dem Ersten Weltkrieg Theaterreferent im preußischen Kultusministerium wurde, hat sicherlich bei der Kommunalisierung der Stadttheater nach 1918 eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Allerdings ging dieser Prozess keinesfalls schnell „über die Bühne“. Eine Statistik des Deutschen Bühnenjahrbuchs aus dem Jahr 1930 zeichnet ein durchaus gemischtes Bild, was die Besitz- und Betriebsverhältnisse angeht. Von den 239 erfassten Theatern im Reichsgebiet waren ca. 30 Prozent als rein staatliche bzw. städtische Regiebetriebe geführt (vgl. Balme 2010: 75). Von einer vollständigen „Sozialisierung“ des Theaters, wie von Seelig propagiert, konnte 1930 noch nicht die Rede sein. Allerdings war der Trend unumkehrbar. Der Traum von Seelig, der Jude war und 1940 im Pariser Exil starb, ging erst unter den Nationalsozialisten in Erfüllung, die sehr schnell die Bühnen nicht nur politisch, sondern auch betriebswirtschaftlich gleichschalteten. Unter den Nazis wurde die vollständige Kommunalisierung der Stadttheater erreicht. Ein Regiebetrieb kostet aber Geld, wie jeder Stadtkämmerer weiß. Die wirtschaftliche Grundlage für die Kommunalisierung wurde 1936 durch die von den Nazis verabschiedete Realsteuerreform geschaffen, die die Erhebung der Grund- und vor allem Gewerbesteuer durch die Kommunen einführte. (Zu den Auswirkungen der Realsteuerreform auf die Länder und Kommunen vgl. Voigt 1975: 105f.)5 Damit erhielten die Kommunen und Gemeinden eine relativ belastbare Einnahmequelle, um diese neuen Aufgaben finanzieren zu können. Aus Seeligs „Sozialisierung“ des Theaters wurde eine Nationalsozialisierung, und später in der DDR eine Realsozialisierung: die Systeme glichen sich aber. Beiden politischen Systemen war gemein, dass die Unterhaltung von Theatern und Orchestern neben der Bereitstellung von Gas, Wasser und Strom zur „Daseinsvorsorge“6 gehörte (vgl.
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Die Gemeinden erhielten erhebliche Mehreinnahmen, im Jahr 1936 etwa 34,4 Prozent. Eine weitere Reform erfolgte 1969 unter der großen Koalition mit dem Ergebnis, dass die Gemeinden an der Einkommensteuer beteiligt wurden und so beträchtliche Mehreinnahmen hielten. (Vgl. Voigt 1975: 183)
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Der Begriff der „Daseinsvorsorge“ als Aufgabe der öffentlichen Verwaltung wurde vom Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff während der NS-Zeit eingeführt.
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Meinel 2007). Damit konnten zumindest in Deutschland, aber auch in Frankreich große Teile des Theaters aus dem kulturindustriellen System herausgelöst und als Aufgabe der öffentlichen Grundversorgung umdefiniert werden. Die Kommunalisierung des Theaters hatte logischerweise zur Folge, dass es weitestgehend lokal und örtlich wahrgenommen wurde. War das kulturindustrielle Theater zumindest potenziell global agierend – die transnationalen Aktivitäten von Max Reinhardt vor und nach dem Ersten Weltkrieg machen dies deutlich –, blieb dem Staats- und Stadttheatersystem diese Möglichkeit verwehrt beziehungsweise nur im Rahmen staatlich geförderter und organisierter Gastspiele möglich.
V ON M C T HEATRE
ZUM
D RITTEN W EG
Da wir nun bekanntlich in einem postindustriellen beziehungsweise postfordistischen Zeitalter leben, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese Umstellung auf das Theater hat. Wie sieht das Theater im postindustriellen Zeitalter aus? Eine Möglichkeit scheint in der neuen Fusion der beiden Systeme zu liegen. Da das Theater in Deutschland noch stark sozialstaatlich konzipiert und finanziert ist, sind die Dimensionen für Theater im globalen Post-Zeitalter nur in Ansätzen sichtbar. Wenn wir unter Globalisierung, wie die meisten Globalisierungskritiker behaupten, den untragbaren Zustand vergegenwärtigen müssen, dass Teenager in Japan Levi-Jeans tragen, Ureinwohner im Amazonas inzwischen über Handys verfügen und die junge Generation insgesamt sich über Facebook und nicht mehr per handgeschriebenen Brief verständigt, so lässt sich dieser Negativbefund nur teilweise auf Theater übertragen. Wo man ohne Zweifel theatrale Globalisierung als Verlängerung eines bösen, den Dynamiken der Verwertungsketten und Produktentwicklung verschriebenen Großkapitals feststellen kann, ist im Bereich der Musical-Produktion. Ob von Andrew Lloyd Webber oder aus der Produktkette der Disney-Studios, die dort entwickelten Musicals werden mehr oder weniger in identischer Gestaltung in Sydney, Hamburg oder New York gezeigt. Dieses von Dan Rebellato „McTheatre“ genannte Phänomen ist einerseits gar nicht so neu (siehe Gilbert & Sullivan), andererseits aber durch Verwertungsketten und Produktlinien von Postkarten bis Kaffeetassen so erweitert worden, dass letztere mehr Profit abwerfen als die Aufführungen selbst. Ja, die Rentabili-
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tät der „Nebenprodukte“ garantiert, so Rebellato, dass die Live-Aufführungen erst ermöglicht werden. (Vgl. Rebellato 2009) Diese Phänomene entsprechen allen Kriterien der Kulturindustrie im Sinne von Horkheimer und Adorno. Es handelt sich um private Konzerne, die sich in ihrer Handlungsweise nicht wesentlich von ihren Vorbildern um 1900 unterscheiden. Wir haben es immer noch mit einer klaren Dichotomie zwischen einem sozialstaatlich definierten Theater einerseits und einem kapitalistisch operierenden McTheatre andererseits zu tun. Gibt es vielleicht einen dritten Weg? Was passiert, wenn das sozialstaatliche Theater selbst seine Funktion als kultureller Grundversorger verlässt und anfängt, kulturindustriell zu verfahren, aber anders? Die Frage müsste dann lauten: kann es künstlerisch ambitioniertes Theater außerhalb des sozialstaatlichen Systems geben? Gibt es frei nach Anthony Giddons einen dritten Weg und wie könnte er aussehen? Der englische Soziologe veröffentlichte Ende der 1990er Jahre und rechtzeitig zur Machtübernahme von Tony Blair und New Labour eine Denkschrift mit dem Titel The Third Way: The Renewal of Social Democracy (vgl. Giddens 1998). Rückblickend resümierte Giddens sein Kernargument: „I argued that social democrats had to move beyond two failed, or compromised, philosophies of the past, one being neo-liberalism, the other being ‚old-style social democracy‘, characterised by a topdown state ownership.“ (Giddens 2010) Im Buch werden die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts skizziert und eine Reihe von Maßnahmen beschrieben, um mit den globalen Herausforderungen dieses Jahrhunderts fertig zu werden: Globalisierung, zunehmender Individualismus, eine Zunahme an Reflexivität und die Verbreitung ökologischer Risiken. Von Kunst und Kultur ist in dem Buch nicht die Rede, aber die Faktoren lassen sich auf den Kulturbereich übertragen: • •
Globalisierung als Risiko und Chance zugleich, insbesondere durch die Kommunikationstechnologien. Ein globales Publikum entsteht. Individualismus bedeutet für das Theater einen wählerischen, durch keine Traditionen gebundenen Zuschauer. Hinzu kommt ein enkulturativer Bruch mit der vergangenen Generation. Wie beim unentschiedenen Wähler gibt es keine oder nur schwache Bindungen der heutigen jüngeren Zuschauergeneration an das Theater.
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Das Phänomen der Reflexivität steht mit dem Individualismus in ursächlicher Verbindung: Individuen und Gruppen müssen sich angesichts eines schnell wachsenden Informationsstromes ständig neu orientieren. Auch hier geraten feste Bindungen und Institutionen in Fluss. Ein Nebeneffekt ist der Zuwachs an unorthodoxer politischer Aktivität wie Aktivismus. Reflexivität bedeutet aber auch zunehmende Selbstbeobachtung, nicht nur des Individuums im Sinne der Selbstbespiegelung, sondern auch der Institutionen selbst. Evaluationen, Begutachtungen sind alle Symptome der institutionellen Selbstbeobachtung. Für öffentliche Theater bedeutet die Zunahme an Reflexivität eine erzwungene Flexibilisierung und ein geschärftes Bewusstsein für das eigene institutionelle Tun.
Wie könnte der dritte Weg im Theater aussehen? Als Vor- oder Schreckbild können wir nach Großbritannien schauen, wo der Prozess der DeSozialisierung des Theaters weiter fortgeschritten ist als in Deutschland. Wenn es überhaupt eine vergleichbare Größe für deutsche Verhältnisse dort gibt, dann ist es das Nationaltheater, das 1962 als Ensemble und Repertoire-Theater nach deutschem Vorbild gegründet wurde und von der Höhe der Zuschüsse mit den großen deutschen Bühnen vergleichbar wäre. Die englischen subventionierten Bühnen gerieten bereits in den 1980er Jahren durch die neoliberalen Reformen der Premierministerin Margaret Thatcher unter Druck. Hier kam es relativ schnell zu einer Verflechtung des sozialstaatlichen und des kommerziellen Sektors. Aufgrund des besonderen Standorts London gab es immer wieder Produktionen, die unter den Schutzbedingungen der öffentlichen Zuschüsse am National Theatre oder an der Royal Shakespeare Company erarbeitet, aber ans Westend transferiert wurden. Das bekannteste Beispiel ist wohl das Erfolgsmusical Les Misérables, das zunächst an der RSC im Barbican Theatre herausgebracht wurde. Damit erwuchs eine Konkurrenz für den echten, rein privat wirtschaftlich arbeitenden Sektor. Obwohl es immer wieder zu Protesten kam, hat sich an dieser Praxis nichts geändert. Sie hat sich im Gegenteil immer weiter verfestigt. Die meisten Beispiele sind Musicals, aber es gibt immer wieder Sprechtheater-Inszenierungen, die diesem Modell folgen. Anhand der Inszenierung Warhorse des Nationaltheaters möchte ich die neuen Prozesse nachzeichnen, die den dritten Weg zwischen Subvention und kommerziellem Theater darstellen. Bei Warhorse handelt es sich um
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die wahrscheinlich erfolgreichste Sprechtheater-Inszenierung des letzten Jahrzehnts mit weit über 2,5 Millionen Zuschauern. Das Stück geht zurück auf den 1982 veröffentlichten Roman für Kinder von Michael Mulpurgo in einer Bearbeitung von Nick Stafford. Die Geschichte erzählt, knapp zusammengefasst, von einem Pferd, das im Ersten Weltkrieg auf beiden Seiten der Front Dienst tut. Die Vorlage, in der die Ereignisse aus der Sicht des Pferdes erzählt werden, galt als nicht theatertauglich, basiert sie ja auf zwei Kernelementen, die das Theater längst an die audiovisuellen Medien abgegeben hatte: Tieren und Kriegsdarstellungen. Wie dem auch sei, Warhorse ist seit seiner Premiere 2007 im Olivier-Theater nicht nur ein bemerkenswerter kommerzieller, sondern auch (nach anglo-amerikanischen Kriterien zumindest) künstlerischer Erfolg. Die ursprüngliche Inszenierung erhielt mehrere Auszeichnungen: einen Olivier Award, den Evening Standard Theatre Award sowie den London Critics’ Circle Theatre Award. Für die New York-Produktion erhielt Warhorse sechs Tony Awards einschließlich einer Sonderauszeichnung für Adrian Kohler und Basil Jones von der Handspring Puppet Company. Am 12. Oktober 2009 stattete sogar die Königin in Begleitung ihres Gatten der Inszenierung einen Besuch ab, das erste Mal seit vier Jahren, dass sie ein Privattheater besucht hatte. Nach zwei Spielzeiten am Nationaltheater bekam die Inszenierung einen WestendTransfer. Seit 2009 läuft die Produktion dort vor ausverkauften Häusern. Inzwischen laufen auch Produktionen in New York, Toronto und Melbourne. Geplant sind Tourneen-Inszenierungen in den USA und Großbritannien. 2013 soll sogar in Berlin am Theater des Westens die Inszenierung in der ersten nicht englischsprachigen Produktion starten. 2011 wurde der Stoff schließlich von Steven Spielberg unter Verwendung echter Pferde musikund tränenreich verfilmt. Obwohl die Theaterinszenierung etwas weniger sentimental ist als die Verfilmung, handelt es sich nur um graduelle Unterschiede. Die Grundtendenz bleibt dieselbe. Zuschauer bekommen, wenn sie so aufgelegt sind, eine ordentliche Dosis affektiver Entladung verabreicht. Trotz Überlänge und Gemeinschaftspathos einschließlich einer Idealisierung des südenglischen Landlebens verdient die Inszenierung unsere Aufmerksamkeit. Ästhetische Innovationen sind sicherlich festzustellen: Ein Schlüssel zum Erfolg sind die lebensgroßen, von der südafrikanischen Handspring Puppet Company (HPC) entwickelten und nach dem Bunraku-Prinzip bewegten Puppen. Die HPC, bislang eher ein Geheimtipp auf dem Festival Circuit und vor allem
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durch Kooperationen mit dem bildenden Künstler und Regisseur William Kentridge assoziiert, stand für etwas surreal anmutende Inszenierungen literarischer Vorlagen wie Woyzeck on the Highveld oder Faustus in Africa. Der These der Kritischen Theorie folgend ist es bei der Zusammenarbeit mit der HPC zu einem typischen kulturindustriellen Entwicklungsprozess gekommen, wonach die formalästhetisch innovativen Ideen der Avantgarde von der Kulturindustrie entwendet, ihres kritischen Potenzials beraubt und der Warenzirkulation zugeführt werden. Obwohl seit König der Löwen Puppen und Tiere in Personalunion im kommerziellen Theater gesellschafts- und bühnenfähig geworden sind, gelten sie dort als kongeniale Übersetzung einer Zeichentrick-Ästhetik. Bei Warhorse dagegen dringt nun das Sprechtheater in einen Darstellungsbereich vor, der bislang vom Realismusdiktat des Films uneinnehmbar okkupiert war. Darüber hinaus erreicht die Inszenierung eine Verschmelzung von Mensch und Tier, die eine eigene ästhetische Qualität erhält. Der viel diskutierte „animal turn“, die ethische und physische Schleifung der bislang verfestigten Grenzen zwischen Mensch und Tier erhält mit Warhorse eine szenische Umsetzung. Die Bunraku-Technik garantiert, dass menschliche Gestalt und tierische Form gleichzeitig wahrgenommen werden. Allerdings handelt es sich nicht um eine einfache Anthropomorphisierung. Im Vergleich zur Romanvorlage erhält das Pferd Joey zwar einen Namen, aber keine eigene Stimme, er wird nie zum Subjekt, aber sicherlich zu einem gleichberechtigten und respektierten Partner im Kriegsgeschehen. Die Sympathielenkung privilegiert das Tier und weniger die Menschen in den von Menschen entfesselten Schlachten in den Schützengräben. Das, was heute Jan Fabre und Alvis Hermanis mit echten Tieren auf der Bühne zu thematisieren versuchen, gelingt hier mit den alten Mitteln der Andeutungsund Ergänzungsästhetik des frühen 20. Jahrhunderts. Letztlich erweist sich das theaterästhetische Mittel – Andeutung oder Authentizität – als zweitrangig. Auf der ethischen Ebene kommen sich Mensch und Tier näher. Einer offensichtlichen Sentimentalisierung auf der diegetischen Ebene steht ein komplexerer, nur neurologisch zu erklärender Empathisierungsvorgang gegenüber. Das Geschäftsmodell: Handelt es sich bei Warhorse um ein Beispiel von McTheatre? In der kommerziellen Version folgt die Produktion dem üblichen Distributionsprozess. Die ursprüngliche, mit öffentlichen Geldern erarbeitete Inszenierung wird geklont und vervielfältigt. Der Konsument
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bzw. Zuschauer in Toronto oder Melbourne soll ja das „Original“ sehen, und keine Eigenerfindung eines künstlerisch autonom handelnden Regisseurs. Allerdings handelt es sich immer noch um eine Produktion des National Theatre of Great Britain. Zurzeit laufen drei solcher NT-Inszenierungen in kommerziellen Theatern: neben Warhorse auch One Man, Two Guvnors (eine Bearbeitung von Diener zweier Herren) sowie The Curious Incident of the Dog in the Night-Time nach dem Bestseller von Mark Haddon, der von einem autistischen Jugendlichen handelt. Die Erlöse, und sie sind beachtlich, fließen zurück ins National Theatre und nicht in die Hände von Privatinvestoren. In der Saison 2011/12 erzielte das NT Einnahmen in Höhe von 80,5 Millionen Pfund. Inzwischen machen diese drei Inszenierungen 29 Prozent der Gesamteinnahmen des National Theatre aus. Warhorse allein steuert davon 22 Prozent bei. (Vgl. National Theatre 2012: 43) Diese finanziellen Statistiken geben Aufschluss über die ökonomischen Auswirkungen des dritten Wegs. Der öffentliche Zuschuss beträgt derzeit nur noch 23 Prozent der Gesamteinnahmen aus, in Deutschland kommt die öffentliche Hand nach wie vor im Durchschnitt für ca. 85 Prozent auf. Der Zuschuss ist jedoch im Rahmen der allgemeinen Kürzungen von 19,7 auf 18,3 Millionen Pfund gegenüber dem vorigen Jahr gesunken. Das National Theatre hat ca. 300.000 Pfund „Gewinn“ generiert. Für eine Betrachtung des dritten Wegs erweist sich jedoch die andere Seite der Bilanzen als noch aufschlussreicher. Posten wie „NT Learning and Public Engagement“, „Research“, „Fundraising“ und „NT Future“ zeigen den investiven Teil dieses beachtlichen Geldflusses. Unter „Learning and Public Engagement“ wird das NTLive-Programm subsumiert, das Live-Übertragungen in Kinos in 22 Länder organisiert, das zwar noch nicht gewinnbringend operiert und auf Sponsoren angewiesen ist, aber langfristig kostendeckend arbeiten soll. Das Ziel ist, zweihundert Kinos in Großbritannien zu haben, die NT-Inszenierungen ausstrahlen.7
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Die Live-Übertragung einer Aufführung von One Man, Two Guvnors im September 2011 mit 54.000 Zuschauern weltweit war die bisher erfolgreichste Ausstrahlung dieser Reihe.
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D IE Ö FFNUNG DES T HEATERS IM S INNE DER R EFLEXIVITÄT Angesichts der sinkenden öffentlichen Zuschüsse ist es klar, dass aus einem Kriegspferd ein Goldesel, aus einem warhorse eine cash cow, geworden ist, deren Erzeugnisse nicht nur die staatlichen Kürzungen auffangen, sondern auch in die investiven Aktivitäten einfließen. Dazu gehört ein ambitionierter, 70 Millionen Pfund kostender Umbau des ganzen Komplexes einschließlich digitaler Studios und eines Lernzentrums sowie vieler anderer Erweiterungen am Südufer der Themse. Davon steuert die öffentliche Hand 17,5 Millionen bei. Der Rest muss aus Spenden, eigenen Einnahmen und anderer Formen des Fundraising generiert werden. Elf Millionen fehlen noch. Letztlich wird ohne ein Engagement der Öffentlichkeit und weniger der öffentlichen Hand dieses Projekt nicht zu realisieren sein. Vielleicht lässt sich anhand dieser Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und öffentlicher Hand der Begriff des dritten Wegs am besten erläutern. Mit Live-Ausstrahlungen in 22 Länder und Produktionen auf Welttourneen profitiert anscheinend das NT mehr von der Globalisierung, als es darunter leidet. Was die Reflexivität des dritten Wegs betrifft: genauso wenig wie es den Wähler gibt, gibt es den Zuschauer bzw. das Publikum. Vielmehr haben Theater heute mit Konsumenten, Kunden, Spendern, Gönnern, Lernenden, auch Kunstrezipienten zu tun; sie besuchen das Theater unter anderem, um ihren reflexiven Selbstentwurf als eine ästhetische Erfahrung neben anderen Erfahrungsmodi zu realisieren. Dazu bedarf es aber auch reflexiver, unternehmerischer Institutionen, wie es das NT eins geworden ist. Eine Publikation wie der Jahresbericht dokumentiert eindrücklich diesen reflexiven Prozess. Abschließend lohnt es sich, die Szenarien des UNESCO-Berichts 1982 noch einmal zu betrachten: „The past fifteen years have seen the emergence of three concomitant phenomena: (a) a two-, five- or ten-fold increase, according to the country, of public spending on culture; (b) despite the increased spending, stagnation in the use made by the public of cultural institutions; and (c) a twenty-, hundred- or thousand-fold increase in public contact with artistic works as a result of industrial cultural products.“ (Girard 1982: 24)
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Vierzig Jahre später können wir am Beispiel des NT feststellen: • bestenfalls stagnierende, eher fallende öffentliche Ausgaben für Kultur; • trotz stagnierender Ausgaben eine Zunahme am Gebrauch: NT weist eine Platzausnutzung von 90 Prozent im Haupthaus und 98 Prozent im kommerziellen Bereich auf; • eine Zunahme an Berührung mit Theater, aber in verschiedenen Erscheinungsformen – live und mediatisiert, vor Ort und global. Der dritte Weg für öffentliche Theater beinhaltet, wenn nicht Globalisierung in dem Ausmaß wie hier beschrieben, so doch eine stärkere Öffnung über das Lokale hinaus. Aber noch wichtiger ist eine Zunahme der Reflexivität über das eigene Tun, auch im ganz banalen Sinne von Jahresberichten. Das Beispiel des NT zeigt aber vor allem, dass öffentliche Gelder auch im Sinne von Investitionen und nicht nur als Verlustausgleich verwendet werden können. Es ist auch klar, dass die Positionierung in einer Weltstadt dem NT besondere strategische Vorteile bietet und deshalb nicht als Vorbild für jedes deutsche Stadttheater herangezogen werden kann. Vor allem geht es aber darum, die Beziehung zwischen Theater und Kulturindustrie ganz im Sinne des UNESCO-Berichts diskursiv neu aufzustellen. Es geht darum, tatsächlich Entwicklungs- und nicht nur Kürzungspotenziale aufzuzeigen. Es geht auch darum, dem gegenwärtigen öffentlichen Diskurs entgegenzuwirken, der Kulturinstitutionen als Subventionsempfänger zunehmend diskreditiert. Am Samstag, 5. Januar 2013 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein ganzseitiger Artikel über die Höhe der städtischen Zuschüsse für Kultureinrichtungen unter dem Stichwort „Am Tropf“. Vom Tropf über den Kulturinfarkt bis zur Palliativmedizin sind es nur kurze Schritte. Wenn 85 Prozent der Einnahmen öffentliche Zuschüsse ausmachen, dann ist es einfach, den Hahn abzudrehen, den Off-Switch zu betätigen. Kulturindustrie dagegen, zumindest im Sinne des dritten Wegs, bedeutet eine komplexere Verflechtung von öffentlichen Zuschüssen, kommerziellen Einnahmen, Spenden, Sponsoring, Fundraising usw. Es bedeutet aber auch eine stärkere Öffnung der Institutionen im Sinne der Reflexivität. Kulturindustrielle Verflechtung könnte aber auch eine Änderung der Produktionsform, z.B. des von Granville Barker so bewunderten Repertoire- und Ensemblegedankens, mit sich bringen.
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Theater zwischen Kulturkonsum und Subvention Ein historischer Querblick P ETER W. M ARX
Die gegenwärtige Diskussion um die Finanzierung der deutschen Theaterlandschaft fokussiert sich – angesichts der wirtschaftlichen Umstände und des Zustands der öffentlichen Kassen verständlicherweise – auf die Frage der ökonomischen und sozialen Gerechtigkeit. Ausgaben für Kunst und Kultur geraten in der hitzigen Debatte um öffentliche Haushalte allzu leicht in einen Antagonismus, der von der impliziten Annahme genährt wird, dass Verzicht und Rücknahme auf der einen Seite Handlungsspielräume auf der anderen Seite eröffnete. Dabei rollt so manche Krokodilsträne und so manches Ressentiment darf noch einmal ungestraft ins Feld geführt werden. Gleichwohl sind diese Diskussionen im Einzelnen zu kompliziert und zu sehr in den jeweiligen Kontext verwoben, um sie hier pauschal einschätzen zu können. Daher möchte ich im Folgenden den Versuch unternehmen, mich der Diskussion von einem anderen Blickwinkel her zu nähern, nämlich durch eine Rekonstruktion der Diskursfiguren, die der Debatte unterliegen. Dabei geht es mir vor allem um die Trennung von Kunst und Kommerz als genealogisches Muster und als „Urszene“ der weiteren Debatte.
D IE K UNST
SOLL NICHT NACH
B ROT
GEHEN
…
Ausgerechnet Lessing, einer der Vorväter der modernen Dramaturgie (als Form der Dramatik und als Berufsbild), lässt in seiner Emilia Galotti den
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Prinzen – dessen zweifelhafte moralische und sittliche Eignung einer der Motoren des Stücks ist – jene Position artikulieren, die für den deutschen Kontext so prägend sein wird: „Der Prinz. Guten Morgen, Conti. Wie leben Sie? Was macht die Kunst? Conti. Prinz, die Kunst geht nach Brot. Der Prinz. Das muß sie nicht; das soll sie nicht – in meinem kleinen Gebiete gewiß nicht. – Aber der Künstler muß auch arbeiten wollen.“ (Lessing 1978: I.2)
Der Prinz, der sich als Mäzen den Künsten gegenüber gebärdet, steht für die Vorstellung eines Freiraums der Künste, dem das Unwohlsein gegen alle Form des Gewerbsmäßigen eingeschrieben ist. Man mag hier leicht einen Reflex Lessings auf die eigenen Erfahrungen mit den fahrenden Schauspielern seiner Zeit sehen, es trägt aber auch zu einer diskursiven Formierung von Kunst bei, die gerade das Theater durch die Entfernung von allem Handwerklich-Kommerziellen in die bürgerliche Gesellschaft integrieren und damit in den Augen der Zeitgenossen nobilitieren will. Auffällig ist hierbei ein historisches Paradox: Denn während diese Form der Nobilitierung von bürgerlichen Protagonisten getragen wird, kann die erstrebte „Zweckfreiheit“ der Kunst nur von dritter Seite – und dies ist für das 18. Jahrhundert eben der Hof – gewährt bzw. gewährleistet werden. Diesen Widerspruch einer als nicht-bürgerlich konzipierten Gegen-Welt hat Theodor W. Adorno noch in seiner postum erschienenen Ästhetischen Theorie als konstitutiv beschrieben: „Kunst als getrennter Bereich war von je nur als bürgerliche möglich. Selbst ihre Freiheit bleibt als Negation der gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit, wie sie über den Markt sich durchsetzt, wesentlich an die Voraussetzung der Warenwirtschaft gebunden. […] Das Prinzip der idealistischen Ästhetik, Zweckmäßigkeit ohne Zweck, ist die Umkehrung des Schemas, dem gesellschaftlich die bürgerliche Kunst gehorcht: der Zwecklosigkeit für Zwecke, die der Markt deklariert.“ (Adorno 1993: 9)
So ist die Freiheit der Kunst eben immer schon eine, die auf Großzügigkeit von Mächtigen angewiesen ist – und damit aber auch nur eine sehr eingeschränkte Freiheit. Wie wirkmächtig aber diese Gedankenkonstruktion ist, kann man dem Umstand entnehmen, dass Jürgen Habermas in seinem frühen Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) sein gesellschaftliches Ideal des Freien Räsonnements in Abhängigkeit zu jenen neuen Sphären
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der Öffentlichkeit beschreibt, die eben für das Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft prototypisch stehen: Café, Salon und Theaterkultur. Realiter übrigens ist die Geschichte der bürgerlichen Nobilitierung des Theaters keineswegs eine einhellige Erfolgsgeschichte, eher im Gegenteil: Während die legendäre Hamburger Entreprise (1767-69) an der mangelnden Akzeptanz durch das Publikum ebenso scheitert wie an inneren Zwistigkeiten, ist auch Goethes Weimarer Intendanz kein Glanzstück der Nobilitierung der Kunst: Goethes Demission 1817 erfolgte gerade weil die fürstliche Einflussnahme eben überdeutlich war.
D ER V ERFALL DER Ö FFENTLICHKEIT – D IE Ö KONOMISIERUNG DES 19. J AHRHUNDERTS Das vermutlich wichtigste Ereignis der deutschen Theatergeschichte im 19. Jahrhundert fand nicht auf einer Bühne statt, auch nicht auf dem Papier eines genialen Dramatikers oder in der visionären Fantasie eines Regisseurs. Symptomatisch ist, dass es sich um einen Verwaltungsakt handelt, nämlich die Gewährung der Allgemeinen Gewerbefreiheit 1869 – zunächst im Norddeutschen Bund, ab 1871 dann im gesamten Deutschen Reich. Damit war die Gründung bzw. Eröffnung eines Theaters nicht mehr abhängig von einem fürstlichen Patent, sondern eine Frage der ökonomischen Machbarkeit. Diese Entwicklung darf nicht unabhängig von den gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozessen gelesen werden, denn über einen Zeitraum von etwas mehr als hundert Jahren machte Die verspätete Nation (Plessner 1934) einen Modernisierungssprung: Von einer agrarisch geprägten Gesellschaft zu einer Industrienation, von einer Gesellschaft, deren Lebenshorizont sich primär im ländlichen Bereich abspielte zu einer modernen urbanen Gesellschaft. Eine Entwicklung, die man sich aber nicht als ungebrochene Erfolgsgeschichte vorstellen kann und darf, sondern die vielmehr von Verlustängsten und Traumata begleitet ist. Liest man vor diesem Hintergrund Ferdinand Tönnies’ immer wieder als Urschrift der Soziologie gedeutetes Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) so entdeckt sich schon hinter der sprachlichen Wucht, mit der Tönnies die Gesellschaft als stillgestellten bellum omnium contra omnes beschreibt, das tiefe Unbehagen gegen diese Veränderungsprozesse.
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Für Habermas schließlich wird das Wachsen der öffentlichen Sphäre unter dem Signum des Kommerziellen zu einem Ende ihrer utopischen Möglichkeiten: „[A]nstelle der literarischen Öffentlichkeit tritt der pseudo-öffentliche oder scheinprivate Bereich des Kulturkonsums. […] Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich das Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Rezeption.“ (Habermas 1990: 248f.)
Habermas spitzt das später bei Adorno artikulierte Argument zu, indem er das Moment des Kommerziellen als Gefahr der Kontamination identifiziert: Wo Kommerz ist, kann keine Kunst sein. Damit aber ist eine Denkfigur etabliert, die Mäzenatentum oder Subvention als schlichtweg einzige Seinsform der „reinen“ Kunst möglich macht.
„B ERLIN
HAT KEIN
T HEATERPUBLIKUM …“
Der zeitgenössische Diskurs scheint einer solchen Engführung zuzustimmen, denn bemerkenswerterweise folgt dem bis anhin völlig undenkbaren Wachstum der Theaterlandschaft das regelrechte Entstehen einer neuen Gattung, dem Theaterlamento: Die Klage über das neue Theater – sowie vor allem über sein Publikum entwickelt sich in kürzester Zeit zu einem eigenständigen Genre. So klagt beispielsweise Maximilian Harden 1888: „In unseren Schauspielhäusern aber fehlt gerade der beste Theil unseres Volkes, Gelehrte, Beamte, geistige Arbeiter jeglicher Art haben längst auf den Besuch der Theater verzichtet, den sie ebenso wie die schöngeistige Literatur als einen ernsthafter Männer unwürdigen Zeitvertreib betrachten. […] Im Allgemeinen herrscht in unseren Theatern die Plutokratie, jene gefürchteten Premierentiger, in deren Händen oft das Schicksal eines ernsten Kunstwerkes liegt, sind fast ausnahmslos in den Koulissen der Börse mehr noch und besser bewandert, als in denen der Bühne.“ (Harden 1888: 6)
Mehr als ein Jahrzehnt später verfestigt Siegfried Jacobsohn Hardens Invektiven zur historischen „Wahrheit“, wenn er in seiner Schrift Das Thea-
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ter der Reichshauptstadt (1904), die als eine erste Bestandsaufnahme der Berliner Theatergeschichte gilt, 1871 resümiert: „Auch in den teureren Theatern saß jetzt ein Publikum, dessen Aufnahmefähigkeit nicht über eine Reihe bunter Bilder, ein leichtes Ballet, eine prickelnde Musik hinausreichte. Die neue Unrast des ganzen täglichen Daseins mit ihren gehäuften Ansprüchen an das moderne Nervensystem half Feerien erzeugen, in denen der Verstand keinen Sinn entdeckte, die aber erschlaffte Nerven für einen Abend angenehm zu beleben vermochten. Diese Nerven gehörten Leuten, die […], so tüchtig sie im übrigen sein mochten, doch ohne die nötige Erziehung waren, um ein wahrhaft künstlerisches Verlangen hegen zu können.“ (Jacobsohn 2005: 15f.)
Die diskursive Verfestigung spiegelt sich auch in den im Diskurs vorfindlichen Metaphern, die entweder aus dem semantischen Feld der Naturkatastrophen stammen, wenn sich etwa Menschenmassen über die Stadt ergießen, oder sie beschreiben den kulturellen Wandel mit der Unabänderlichkeit evolutionärer Prozesse, so hier wenn Jacobsohn nachgerade eine Veränderung der Nerven konstatiert. Tatsächlich wird das Bild der modernen Gesellschaft und der Großstadt als Inbegriff ihrer Lebenswelt in entscheidender Weise durch die Amalgamierung von sozialen Prozessen, technischen und kulturellen Dynamisierungsprozessen und einem medizinischen Diskurs geprägt, der etwa die Nervosität als Chiffre der Zeit begreift. Für den Kulturwissenschaftler kann eine solche Diagnose aber nicht völlig befriedigend sein, denn die Konstruktion des diskursiven Bildes ist zu eindeutig: Es erscheint nur schwer vorstellbar, dass eine so tief greifende soziale Veränderung tatsächlich nur negative Folgen der Erosion und Auflösung erzeugt. Ein Blick in die soziologische Literatur jenseits des deutschsprachigen Raumes lässt ähnliche Prozesse erkennen, allerdings werden sie weitaus weniger melancholisch beschrieben. So entwickelt etwa der US-amerikanische Soziologe Thorstein Veblen in seiner Theory of the Leisure Class (1899) einen völlig anderen Blick auf die Frage des Konsums: „But when the differentiation [of society] has gone farther and it becomes necessary to reach a wider human environment, consumption begins to hold over leisure as an ordinary means of decency. . . . The means of communication and the mobility of the population now expose the individual to the observation of many persons who have no other means of judging his reputability than the display of goods (and
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perhaps of breeding) which he is able to make while he is under their direct observation.“ (Veblen 2001: 65)
Veblen entwirft hier sein Konzept der conspicuous consumption, des ostentativen Konsums, bei dem es nicht allein auf Erwerb oder Nutzung/Verzehr einer bestimmten Ware ankommt, sondern auf den öffentlichen Charakter dieses Konsums. Erst durch diese Sichtbarkeit erfolgt eine soziale Identifikation – durch den Nutzer und, komplementär, durch die Zuschauer. Diese theatrale Logik modernen Konsums lässt sich auch auf den deutschsprachigen Kontext übertragen: Bedenkt man beispielsweise, dass einer Statistik aus dem Jahr 1907 nach weniger als 50 Prozent aller Stadtbewohner ortsgebürtig waren, so wird leicht erkennbar, dass der soziale Zusammenhang hier nur durch identifikatorische Praktiken herzustellen war. In jüngerer Zeit hat Arjun Appadurai darauf hingewiesen, dass Konsum immer schon eine soziale Praxis darstellt, die eben nicht allein auf Waren(aus)tausch zielt, sondern auch eine wichtige kommunikative Dimension hat: „I suggest that consumption is eminently social, relational, and active rather than private, atomic, or passive. […] It means looking at consumption (and the demand that makes it possible) as a focus not only for sending social messages […], but for receiving them as well. Demand thus conceals two different relationships between consumption and production: 1. On the one hand, demand is determined by social and economic forces; 2. on the other, it can manipulate, within limits, these social and economic forces.“ (Appadurai 1986: 31)
In einer solchen Perspektive ist der Einzelne aber nicht länger das wehrlose Objekt übergeordneter Strukturen, sondern ein durchaus handlungsfähiges und bedingt handlungsmächtiges Subjekt. Konsum wird verstanden als eine Strategie der Selbstartikulation und auch des Handelns. Nicht im Sinne des so gängigen Modeworts des „Prosumenten“, der in vielen Fällen ja nur eine Lücke im Produktionsablauf zu füllen hat, sondern im Sinne einer aktiven Teilhabe, die nicht nur versprochen wird. Für die wilhelminische Gesellschaft entfalten solche Überlegungen eine besondere Aktualität, denn hier lässt sich eine symptomatische Spannung entdecken zwischen einer aristokratischen Offizialkultur, die allerdings längst den Anschluss an die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Veränderungen verpasst hat, und eine dynamische, bürgerliche Gesellschaft,
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die sich von den Leitungspositionen in Verwaltung, Militär und Politik weitgehend ausgeschlossen findet. Fritz Stern hat gerade in der Haltung gegenüber den wirtschaftlichen Bedingungen ein Kennzeichen für diese verhängnisvolle Spannung gesehen: „Imperial Germany […] affords the extraordinary picture of a triumphant capitalism spiritually devalued. The psychological premises of capitalism were obviously incompatible with the pretensions of German idealism and nationalism: The German ideal of self-cultivation was hardly consonant with an insistence on material selfaggrandizement, and the glorification of state authority in German nationalism can be seen as a rebuke of economic selfishness. […] The notion of devalued capitalism may also help us to understand the prevalent hypocrisy of Imperial society. The new system was a special spur to dissemblance. It condemned everyone to hide or deny his true role: the Bürger sought the trappings of nobility, and the nobleman, so contemptuous of any system that assigned rank by wealth, needed to modernize or lose his ancestral seat.“ (Stern 1999: 285)
Während Teile des Bürgertums die Nicht-Anerkennung nur zu immer eigentümlicheren Versuchen der Angleichung anstachelte, haben andere Gruppen erkannt, dass gerade die kommerzielle Seite der Kultur auch eine Freiheit bereit hält; man denke hier nur an Zeitschriftenprojekte wie die Zukunft von Harden, die Schaubühne von Jacobsohn oder auch an Reinhardts Deutsches Theater, dessen Finanzierung nicht einfach nur als ein mäzenatischer Akt individueller Großzügigkeit zu deuten ist, sondern im Sinne Appadurais auch als ein politisches Statement. (Vgl. Marx 2006a) August Scherl hat in seiner kleinen Streitschrift Berlin hat kein Theaterpublikum (1898), die im Plädoyer für eine bessere Anbindung des Theaters an die Pferdebahn mündet, eben diese Verknüpfung von Warenkonsum und Kunstverständnis selbst hergestellt: „Trotz der Werthschätzung der Varieté=Vorführungen und dergl., die im Allgemeinen noch besteht, sind doch auch Anzeichen vorhanden, daß der Geschmack des modernen Menschen bereits begonnen hat, sich besseren Kunstgenüssen wieder zuzuwenden. Wir befinden uns gegenwärtig in einem Stadium des Ueberganges zu einer neuen Kunstepoche. Selbst die große Menge empfindet das mehr oder weniger klar, denn der Uebergang äußert sich bereits auf solchen Gebieten, mit denen auch die breite Masse tagtäglich in Berührung kommt: in der Herstellung und Ausstattung
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der Wohnräume, Möbel, Gebrauchsgegenstände, in den Erzeugnissen des Buchdrucks, der Textil=, der Kunstindustrie u.s.w.“ (Scherl 1898: 6)
Bedenkt man, dass viele sozial- und kulturreformatorische Projekte, wie die englische Arts&Crafts-Bewegung, die Wiener Werkstätten oder auch das Bauhaus gerade auch bei den Lebensbedingungen der industrialisierten Gesellschaft ansetzten, dann wird erkennbar, dass ein eindimensionaler Begriff von Konsum, der jegliche Verbindung zu kommerziellen Strukturen und Kontexten als Kontamination begreift, die Vielstimmigkeit und Komplexität der westlichen Gesellschaften um 1900 verkennt.
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DIE Z EIT , DERARTIGE I NSTITUTIONEN PRIVAT DURCHZUFÜHREN , IST VORBEI .“
In seinem berühmten Brief von 1933 an die nationalsozialistische Reichsregierung, in dem er offiziell Abschied von Deutschland nimmt, kommt Reinhardt – was auf den ersten Blick erstaunen mag – auch auf die Frage der Finanzierung seiner Theater zu sprechen: „Aber die Zeit, derartige Institutionen privat durchzuführen, ist vorbei. Es wird in Zukunft nicht mehr möglich sein, ohne staatliche Sicherstellung ein künstlerisches Unternehmen zu führen. Immerhin kann ich darauf verweisen, daß ich in allen früheren Jahren, solange das Deutsche Theater und die mit ihm verbundenen Bühnen unter meiner Leitung standen, sie zu erhalten und die großen, immer mehr wachsenden Steuerlasten zu tragen vermocht habe ohne irgendeine Subvention und ohne die reichen Möglichkeiten, die dem Staate als Unternehmer ohne weiteres zur Verfügung stehen.“ (in Marx 2006b: 167)
Die Tatsache, die Reinhardt hier benennt, ist aber mehr als eine ökonomische; vielmehr beschreibt er hier im Bewusstsein des Verlusts die Verknüpfung von Handlungsmöglichkeiten aus dem Kontext kommerzieller Strukturen heraus. Die Möglichkeit des Konsums war es, die das Theater der Kaiserzeit (und in Teilen auch noch in der Weimarer Republik) zu einem besonderen Freiraum hatte werden lassen, wie Emily Bilsky formuliert hat: „Despite the many opportunities available to Jews during this period, there were still important areas of German public life from which they were excluded, such as the court, the military, the state bureaucracy, and, to a large degree, the universities. […]
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Denied access to the official public spheres, they turned to the less organized alternative public spheres that characterize urban life, such as the newspaper, the journal, the art gallery, the café, the theater, and the political group.“ (Bilsky 1999: 5)
Bedenkt man die hasserfüllten Kampagnen gegen Leopold Jessner, der als Intendant des Preußischen Staatstheaters auf der einen Seite die Liberalität der Weimarer Republik verkörperte, der auf der anderen Seite aber als Jude und Sozialdemokrat zur Zielscheibe der völkisch-nationalen Kräfte wurde (vgl. Heilmann 2006), wird erkennbar, dass die subventionierten Theater der Weimarer Republik zwar nicht unmittelbar „nach Brot gehen mußten“, dass sie und ihre Leiter aber einem sehr unmittelbaren öffentlichen und politischen Anspruch unterworfen waren. Man mag Reinhardt und seinem Theater einen Mangel an politischer Deutlichkeit vorwerfen, er selbst aber – und diese Position gilt es durchaus zu bedenken – artikuliert in seinem Schreiben das Bewusstsein um eine Freiheit, die sich eben gerade in der auch ökonomischen Zuwendung eines aktiven und lebendigen Publikums ausdrückt und sich jenseits öffentlicher Kassen bildet.
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Max Reinhardts Erfahrung, die er 1933 als unwiederbringlich verloren beschreibt, ist uns in Zeiten einer nahezu vollsubventionierten Theaterlandschaft so fremd, dass die Aufforderung „Theater muss sein!“, die der Deutsche Bühnenverein als Reaktion auf die Schließung des Schillertheaters 1993 ausgab, als ein Imperativ im kulturpolitischen Forderungskatalog steht. Jedoch nimmt sich diese Formel zunehmend aus wie das Pfeifen im Walde: Ständig werden nicht nur Theater geschlossen – auch die Krokodilstränen werden kleiner und zunehmend lässt sich beobachten, dass Politiker offensiv Kulturausgaben a priori unter Verdacht stellen. So etwa geschehen in Bonn, wo sich eine Facebook-Plattform „Zukunft statt Oper“ (u.a. von den „Piraten“ initiiert) offen für die Abschaffung der Oper einsetzt. Dort heißt es: „22 Mio Eur kostet nur die Bonner Oper jedes Jahr an kommunalen Steuern und Abgaben. Auf die ca 72.400 Besucher umgelegt bedeutet das eine Subvention von 300 Euro pro Eintrittskarte. Ist das gerechtfertigt für eine heilige Kuh ‚Kultur‘ die
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nur eine kleine Minderheit ergötzt und zudem keine lebendige Kulturform im Sinne einer Neuschaffung sondern blosses Re-Enactment der Kultur längst vergangener Epochen darstellt?“ (Zukunft statt Oper 2013)
In der Argumentation der „Piraten“ wird die Subventionierung von Kultur gegen andere öffentliche Ausgaben, vor allem gegen die Förderung von Schwimmbädern und Sportanlagen aufgerechnet – Zielpunkt des Arguments ist hierbei vor allem der quantitative Vergleich: Absolute Zahlen von Theater- und Operngängern werden den Nutzen von anderen Einrichtungen entgegengehalten, auch um die Insinuation zu wecken, die Förderung von Kunst und Kultur sei letztlich undemokratisch, weil sie „nur eine kleine Minderheit ergötzt“. Politisch betrachtet erscheint eine solche Argumentationsform ausgesprochen kurzsichtig, denn – ohne hier in eine Wertedebatte einsteigen zu wollen – sie verkennt, dass in vielen Fällen nicht die absoluten Zahlen eine öffentliche Ausgabe legitimieren, sondern eine politische Zielsetzung. Fragt man nun – ausgehend von den vorher getroffenen Feststellungen – nach der politischen Zielsetzung von Kultursubventionen, so wird schnell deutlich, dass sie einen zutiefst sozialen Kern haben: Sie sichern vor allem die Zugänglichkeit zu Kultur, unabhängig vom individuellen Einkommen. Hierin liegt die Lichtseite der diskursiv verfestigten und historisch gewachsenen Trennung von Kunst und Kommerz: Die Lessing’sche Forderung, die Kunst solle nicht nach Brot gehen, lässt sich eben im Kontext der Bundesrepublik auch in dem Sinne lesen, dass es für den Zuschauer auch nicht die Entscheidung zwischen Kunst und Brot geben solle. Die Subventionierung von Kunst, Museen etc. zielt auf die Erreichbarkeit von Kunst, nicht auf die polemisch adressierte „kleine Minderheit“, die sich im Zweifelsfall auch weite Reisen für den Kunstgenuss leisten kann und nicht auf das Theater vor Ort angewiesen ist. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Frage nach Subventionen per se unstatthaft sei – im Gegenteil, in einer demokratischen Gesellschaft sind solche Anwürfe wichtig, weil sie nach der Richtung und Legitimität von politischen Willenssetzungen fragen. Auch das Fehlen einer Kultur der Philanthropie, wie man sie etwa in den USA kennt, lässt sich in der historischen Blickachse als nachgerade logische Schlussfolgerung dieser Konstellation begreifen, es enthebt uns aber nicht der Notwendigkeit, nach dem
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„Sitz im Leben“ zu fragen bzw. diesen stets aufs Neue bestimmen zu wollen.
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1993): Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main. Appadurai, Arjun (1986): „Introduction: Commodities and the Politics of Value“, in: Ders. (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge, S. 3-63. Bilsky, Emily D. (1999): „Introduction“, in: Ders. (Hg.): Berlin Metropolis. Jews and the New Culture, 1890-1918, Berkeley/Los Angeles, S. 2-13. Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, (1962. stw. 891.) Frankfurt am Main. Harden, Maximilian (1888): Berlin als Theaterhauptstadt, Berlin. Heilmann, Matthias (2006): Leopold Jessner – Intendant der Republik. Der Weg eines deutsch-jüdischen Regisseurs aus Ostpreußen (= Theatron,), Tübingen. Jacobsohn, Siegfried (2005): „Das Theater der Reichshauptstadt“, in: Nickel/Weigel (Hg.): Siegfried Jacobsohn. Gesammelte Schriften 19001926 (= Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, Band 85), Band 1, Göttingen, S. 11-104. Lessing, Gotthold Ephraim (1978): Emilia Galotti. Ein Trauerspiel (1772), München. Marx, Peter W. (2006a): „Consuming the Canon. Theatre, Commodification, and Social Mobility in Late Nineteenth-Century German Theatre“, in: Theatre Research International 31.2.2006, S. 129-144. Marx, Peter W. (2006b): Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur, Tübingen. Scherl, August (1898): Berlin hat kein Theaterpublikum! Vorschläge zur Beseitigung der Mißstände unseres Theaterwesens, Berlin. Stern, Fritz (1999): Dreams and Delusions. The Drama of German History (1987. 2 ed.), New Haven/London. Veblen, Thorstein (2001): The Theory of the Leisure Class, New York. Zukunft statt Oper (2013): https://www.facebook.com/zukunftstattoper/info [29.06.2013].
Ein Theater neuen Typs Kulturpolitische Wege der Infarktbekämpfung T HOMAS O BERENDER
Die Kanzlerjahre Gerhard Schröders haben durch die Agenda 2010 und das Hartz-Konzept den Umbau des Sozialsystems der Bundesrepublik an Kriterien wie Transparenz, Effizienz und Innovation orientiert. Es wurden die Jahre von Ich-AG und Deregulierung. Die Schaffung des Postens eines Kulturstaatsministers, korrekt benannt – des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Jahr 1998 – läuft dieser Deregulierung scheinbar entgegen, erweist sich aber, bei genauerer Betrachtung, als unumgänglich, wenn man neben der konventionellen Förderung klassischer Institutionen nun ganz neue, ebenfalls an Kriterien wie Innovation und Evaluierbarkeit orientierte Kulturförderungsstrukturen aufbauen möchte. So folgten auf dem Feld der Kulturpolitik die Gründungen des Hauptstadtkulturfonds im Jahr 1999 und der Kulturstiftung des Bundes im Jahr 2002. Ihre Fonds und Programme fördern kaum mehr Institutionen, sondern vor allem Projekte, und dies mit ähnlichen Zielsetzungen wie in der deregulierenden Wirtschafts- und Sozialpolitik: Transparenz, Innovation, Wirtschaftlichkeit. Die Förderung durch diese Projektsteuerungsgremien erfolgt auf Zeit und geht direkt an Produzenten statt in Häuser oder klassische Infrastrukturen. Die Einführung eines für diese Einrichtungen verantwortlichen und dem Kanzleramt direkt zugeordneten Staatsministers für Kultur und Medien bedeutet somit den Beginn einer neuen Förderpolitik, die, neben der altvertrauten Förderung von Institutionen mit nationaler Bedeutung, ein neues System von Steuer- und Belohnungsinstrumenten schuf, das zunächst vor allem nur Entwicklungsimpulse setzen wollte. Diese Förderinstrumente
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wurden zugleich Förderungsinstrumente, denn ihre Leistungen sind streng gebunden an evaluierbare Kriterien. Gelder müssen für jedes Projekt einzeln beantragt, begutachtet und bewilligt werden. Ein Theater wie das Deutsche Theater in Berlin bekommt hingegen ein pauschales Budget über mehrere Jahre zugesprochen und kann somit spielzeitübergreifende Themen bearbeiten und langfristige Entwicklungsverabredungen treffen. An kleineren, entsicherten Häusern wie den Sophiensälen in Berlin oder einem Ausstellungshaus wie dem Martin Gropius Bau werden die Mittel nun seit Jahrzehnten nur von Fall zu Fall zugesprochen. Projekte bilden unter diesen Umständen Inselreiche autonomer Ideen, deren Produktion durch diverse Gremien zuvor bewertet werden muss. Dies ist nicht nur Ausdruck eines neuen Typs von Kulturpolitik, sondern auch einer neuen Form von Kulturproduktion, die ihre Vor- und Nachteile hat. Die „Patchworkinstitutionen“, die vom Zufluss der Mittel verschiedener Stifter und Förderer erhalten werden, produzieren kaum mehr selbst, sondern laden mehrheitlich fertige Produktionen ein – seien dies Ausstellungen oder Konzerte oder Aufführungen, bestenfalls sind sie koproduziert, entstehen müssen sie meist andernorts. Sie sind gastgebende Einrichtungen. Wo sie partiell selbst produzieren, sind sie dabei oftmals flexibler in ihrer Reaktion auf die Arbeitsbedürfnisse der Künstler und also stärker am Werk orientiert als an den Produktionsroutinen klassischer Institutionen. Zugleich ist die Mehrfachbelastung und Selbstausbeutung von Künstlern in diesem System häufig exponentiell höher, da sie die Infrastruktur oft selber mitschaffen müssen. Und im Hinblick auf das Zustandekommen dieser Projektkultur an immer mehr Häusern muss man sagen: Nie war Politik mächtiger. Fast in Echtzeit steuert und bestimmt sie mittels der Förderungsgremien von Fonds und Stiftungen die Produktionsprozesse der Kreativen. So wie im Hartz-Konzept die pauschale Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt und in einem transparenten Verfahren evaluierbar wurde, geschah dies auf höchster Ebene im Bereich der Kulturförderung ebenfalls. Die Etats klassischer Institutionen, allen voran die Hochschulen und Museen, wurden eingefroren bzw. umstrukturiert, wodurch „Synergieeffekte“ angestrebt wurden, die Spareffekte sein mussten. Die von diesen Deregulierungsprozessen stimulierte Mobilisierung durchzog die Gesellschaft insgesamt, von der Ich-AG und den Minijobs bis zur Hochschulreform und sich herausbildenden Projektkultur. Da kaum mehr als der Ausgleich der Tariferhöhung im Personalbereich, und auch dies oft nur sporadisch, gewährt
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wurde, führt dies zur Prekarisierung der Arbeitsbedingungen vieler klassischer Institutionen. Der Deutsche Bühnenverein hat ermittelt, dass die Spareffekte der öffentlichen Hand allein im Bereich der Bühnen und Orchester im Jahr 2012 360 Millionen Euro betrug. Die von der öffentlichen Hand unterhaltenen kulturellen Einrichtungen stehen also inmitten eines Veränderungsprozesses, der oberflächlich betrachtet durch die tief greifende Umstrukturierung unserer kulturpolitischen Förderinstrumente geprägt ist, die zunehmend Belohnungsinstrumente für Antragstexte werden. Diese Projektanträge erfüllen allesamt vorauseilend gehorsam die Ausschreibungskriterien der Fonds und Stiftungen, sind also innovativ, nachhaltig oder integrationsfördernd und machen Kultur und Kunst förderbar, weil sie evaluierbar wird und also zweckgebunden und messbar. Dies ist ein Philosophiewechsel in der Förderpraxis, der fundamentaler nicht sein könnte. Der zunehmend projektwirtschaftliche Modus der Kulturförderung ist dabei wahrscheinlich nur das Detail einer größeren gesellschaftspolitischen Entwicklung.
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Die Entsicherungen, und dies ist keineswegs in einem pejorativen Sinne gemeint, der Schröder-Jahre führten nicht nur zu einem Systemwechsel in der Kulturförderung, sondern reagierten im kulturellen Feld auf einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, der sich zum Beispiel im Boom des Kunstmarktes niederschlug und auch im Selbstverständnis der Künstler selbst. Dieser Unternehmerkünstler, der in den Boomjahren des ausklingenden Zwanzigsten Jahrhunderts entstand, steht für eine neue Form von Kultur, die über weite Teile dem „neuen Geist des Kapitalismus“ entspricht, wie ihn Luc Blotanski und Eve Chiapello in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben haben. Die „Unstillbarkeit des kapitalistischen Prozesses“ entspricht einem Prozess permanenter Umwandlung. Vom Charakter her gleichen sich in den Augen der Autoren die Figur des modernen Managers und die des Künstlers dabei erstaunlich. Beide realisieren „Projekte“. (Vgl. Blotanski/Chiapello 2006) Der Manager, oder Neomanager, so die Autoren, ist in dieser Welt eine andere Art von Künstler, ein
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„kreativer, intuitiv handelnder, erfindungsreicher Mensch mit Visionen, Kontakten, zufälligen Bekanntschaften. Ist er nicht ständig in Bewegung, von einem Projekt zum anderen, von einer Welt in die andere wechselnd? Hat er nicht ebenso wie der Künstler die Last des Besitzens, die Zwänge einer Hierarchiezugehörigkeit, die Zeichen der Macht – Büro oder Krawatte – und damit auch die Scheinheiligkeit der bürgerlichen Moral abgeschüttelt? Und ist umgekehrt der Künstler, ja sogar der Intellektuelle oder der Forscher heute nicht auch ein Netzmensch auf der Suche nach Produzenten?“ (Ebd.: 358f.)
Dieser Projektkapitalismus verändert nicht nur die Ansprüche an unser Sozialsystem und die Form des Wirtschaftens in der Industrie. Ähnlich wandelt sich auch die Form der Produktion im Bereich der Kunst und Kultur. Produzenten waren (und sind in weiten Teilen) hier bislang die klassischen Institutionen. Sie kaufen an, stellen ein und her und bringen heraus – Ausstellungen, Konzerte, Aufführungen, Wettbewerbe. Sie bilden, wo sie mit überregionalen Ambitionen von Seiten der Förderer erhalten werden, die Upperclass des Kulturschaffens und sind nach wie vor, ob Burgtheater, Scala oder Berliner Philharmoniker, das Mekka vieler Künstlerbiografien. Zugleich wird dieses Segment immer heftiger umkämpft und kleiner. Einerseits ist es noch immer das Ziel vieler Künstlerkarrieren, eine offene Stelle in einer dieser oder ähnlicher Institutionen zu ergattern. Mehrheitlich aber geht es im Projektkapitalismus darum, an möglichst vielen und vielgestaltigen Projekten teil zu haben. Wie die Musiker der Popkultur sind auch klassische Musiker heute Mitglieder einer ganzen Reihe von Orchestern oder Formationen. Es ist schwer zu entscheiden, ob dieser neue Typus vom multiplen Künstler dem von multiplen Produktionsformen vorausging oder ob diese, aus der Not geboren, auch andere Künstlerbiografien prägten. Auf jeden Fall bildet der Wandlungsprozess der Institutionen dies deutlich ab und die Prekarisierung vieler unserer klassischen Institutionen sowie das Entstehen einer neuen Form von Institution bzw. einer Institution neuen Typs sind eindeutige Indizien eines neuen Geistes in der Welt des Kulturbetriebs. Viele der traditionellen Einrichtungen, allen voran die Museen, aber bald auch schon die Theater und Orchester, arbeiten seit den 1990er Jahren mit rezessiven Budgets, die Ensembles der Theater haben sich drastisch verkleinert, produzieren aber wesentlich mehr Premieren als früher. Wer sich über diesen prekären Zustand beschwert, gehört in die Fraktion der
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Jammernden, niemand will ihm zuhören oder helfen, es sei denn, dies führt zu schlechter Presse. Das Gebot der Verschlankung unserer Institutionen, das auf bemerkenswerte Weise mit der intellektuellen Kritik der Institution als Machtform einherging, galt lange als Königsweg der Verjüngung und Flexibilisierung unserer Gesellschaft. Auch dies kann, dem Geist des Kapitalismus zufolge, nie erledigt oder erfüllt sein – auch dieser Trieb zur Umwandlung und Optimierung ist „unstillbar“. Ich bin aufgewachsen mit dieser Kritik der Institutionen, inzwischen aber dämmert vielen, dass diese Institutionen, und das trifft genauso etwa für die Schulen und Hochschulen zu, inmitten des Projektkapitalismus letzte Orte sinnproduzierender und herzensbildender Arbeitsformen geworden sind, die sich später und anders „rentieren“. Dessen ungeachtet lebt die Evaluierungspraxis, dieses nie Nie-GenugSparen-Können weiter als unstillbares Optimierungsgebot und dies führt seit Jahren zur Prekarisierung der klassischen Institutionen wie Theater, Philharmonieorchester, Opern- und Ausstellungshäuser. Sie bewerben sich notgedrungen um „Drittmittel“, also von Fonds und Stiftungen projektweise gewährten Gelder, die ihre abschmelzenden künstlerischen Budgets aufbessern sollen. Es sind aber die gleichen Mittel, auf die auch der ganz neue Typus von Institutionen angewiesen ist, der selbst im Grunde keine eigenen Produktionsgelder erhält und trotzdem ein kommerzielles Programm realisieren soll. Eine Institution neuen Typs, die auf die Dynamisierung und Internationalisierung der Produktionsbedingungen von Künstlern besser reagiert und von der öffentlichen Hand längst kein Budget im Sinne eines Vertrauensvorschusses mehr erhält, also über mehrere Jahre hinweg, weil sie sich neben den jährlichen Basisbudgets, die in der Regel die Betriebskosten abdecken, ausschließlich durch Projektmittel ein Programm erarbeiten. Was diese Häuser neuen Typs, wie das HAU, Kampnagel oder das Haus der Kulturen der Welt selber produzieren, musste zuvor eingeworben werden. Für jedes dieser Projekte, die zu einer Ausstellung, Aufführung oder einem Symposium führen, wird ein Juryantrag geschrieben, begründet und im günstigsten Falle bewilligt – bewilligt von öffentlich oder privat finanzierten Stiftungen und Fonds, die seit der Jahrtausendwende zu den prägenden Akteuren der neuen kulturpolitischen Landschaft wurden. Denn ohne sie gäbe es die Institutionen neuen Typs nicht. Von den Entscheidungen dieser Gremien hängt die Arbeit der Institutionen neuen Typs ab und auch die Premiumprojekte der inzwischen prekarisierten Institutionen alter
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Art leben von diesen Infusionen. Es gäbe in Berlin keinen Robert Wilson, keine Autorentheatertage am DT, kein F.I.N.D-Festival an der Schaubühne, kein Müller/Vingar-Projekt an der Volksbühne, kein Gob-Squod in der Komischen Oper: alles Projekte, auch an klassischen Institutionen. Die sich entsichernde Gesellschaft der Nach-Schröder-Jahre hat eine liberalisierte Kulturpolitik hervorgebracht, die Leistungen, wie im Falle der Sozialleistungen, auch im Kulturbereich kurzfristiger evaluiert und dem Bund dabei eine ganz neue Rolle zumaß, die die Schaffung eines „Kulturministeriums“ auf Bundesebene nahe legt. Durch den Einsatz seiner staatlichen Budgets sollte das Bundeskulturstaatsministerium zum Wegweiser neuer Entwicklungen werden, zum Retter auch. Doch was passierte, ist die Umwandlung dieser ehemals lediglich impulsgebenden Fördergremien in Einrichtungen, die unsere kulturelle Vielfalt plötzlich erhalten und sichern, also tragen. Für einen Besucher ist es in Berlin egal, ob er ein Sammlungshaus klassischer Art besucht oder eine Sammlung in einem Ausstellungshaus, nur dass die Dignität dieser Häuser auf völlig unterschiedlichen Fundamenten steht. Dass dies nicht einfach nur der Effekt einer Willkürpolitik von Haushältern ist, sondern einer mentalen Klimaverschiebung entspricht, die sich durch alle sozialen Schichten zieht, mag sich darin zeigen, dass sich auch unser Kulturbegriff, unser Werkbegriff, unsere Auffassung vom Individuum oder des Publikums radikal verändert haben. Diese Veränderungen haben eine Demokratisierung unseres Kunstbegriffs bewirkt – weg vom Geniekult um die Schöpfer der Werke, hin zur Souveränität der Rezipienten, der Bedeutung der Netzwerke der Produktion, der Baumeister des Klangs, der Bewegung, der Form im Kollektiv der Aufführenden. Diese Entwicklung erschöpft sich nicht in Begriffen wie Demokratisierung, Transparenz oder Partizipation, aber deren historisches Eingreifen ist irreversibel.
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Die Popkultur oder industrielle Volkskultur, wie Marshall McLuhan sie nannte, ist die Leitkultur der späten, jedenfalls jetzt erlebbaren Moderne und ich denke, dass die Demokratisierung des Kunstbegriffs, die durch sie erfolgte, in überraschender Weise synchron läuft zur Kritik der Institutionen, der Erweiterung des Material- und Werkbegriffs, wie ihn die historischen Avantgarden betrieben, seit Duchamp, Laban, Artaud oder Cage. In-
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stitutionell sind dies Orte wie der Berliner Club „Berghain“ oder das „Kraftwerk“ mit seinem Club „Tresor“, die einerseits, ähnlich wie das Berliner HAU oder Club Transmediale, auf einer Szenekultur beruhen, die ihre Clubs als geschützte, distinktive Sozialwelten betreiben und begreifen, und an diesen Orten dennoch den Umschlag einer hochspezifischen Milieukultur als Beitrag und experimentelle Forschung an der Begriffserweiterung dessen begreifen, was Kunst, Musik, Tanz ist. Die Arbeiten des belgischen Choreografen Jérôme Bel wurden daher statt am Staatsballett nicht zufällig am HAU koproduziert, denn das „Disabled Theater“, das behinderte Theater, also das sich selber behindernde Theater, das mit Behinderten arbeitet, hat einen völlig anderen Begriff vom Tänzer als er in klassischen Ensembles tradiert wird. Hier ist der Tänzer nicht mehr Angehöriger einer Ausbildungselite, sondern Jérôme Bel arbeitet wie Beuys – er ist Konzeptkünstler, für den alles zum Material seiner Kunst werden kann und insbesondere das, was wir gemeinhin als Nichtkunst betrachten, zum Beispiel der Tanz von Behinderten. Wenn ein Choreograf etwas von ihm nicht Choreografiertes als Kunst zeigt und hinterfragt, umgeht er die Definition traditioneller Eliten, Institutionen und Hierarchien. Diese Arbeit zu ermöglichen gilt aller Ehrgeiz und Ehrbemühung der Häuser und Strukturen, die sich solchen Projekten verschrieben haben. Natürlich wird beim „Disabled Theatre“ nach Popmusik getanzt. Und nebenbei entsteht eine vitale Konzeptkunst der Reife und Raffinesse von Josef Beuys oder Martin Kippenberger. Neben der Volkskultur gab es eine andere, nicht höher stehende, aber doch mächtige Kultur, die von Mäzenaten, der Kirche, Fürsten, Bürgervereinen und ganz zuletzt dem Staat getragen wurde. Sie war in einem gewissen Rahmen der Finanzierung am freien Markt enthoben und ist das bis heute. Die nationale und europäische Filmförderung zum Beispiel bewirkt, dass Autoren, auch Regisseure als Autoren, in ihrer subjektiven Artikulation von Geschichte und Geschichten einen höheren Schutz genießen als unter renditeorientierten Bedingungen, die letztlich auf ein global abrufbares Mythenreservoire der Stoffe und ein Markensystem der Stars und Stile hinauslaufen. Dennoch ist natürlich die Filmförderung ein typisches Beispiel von millionenschwerer Projektförderung, während hingegen die klassischen Institutionen des Films, von Festivals, Archiven und Akademien bis hin zu den Programmkinos, unter prekären Bedingungen arbeiten. Entscheidend am Verweis auf eine institutionelle Form von Kulturförderung ist an dieser Stelle vor allem, dass diese mäzenatisch, bürgergesellschaftlich oder auch
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merkantil geprägte Arbeitslandschaft der Künstler bis in die Zeit des Dritten Reichs keineswegs so gesamtverstaatlicht war wie heute, wo über die Erhaltung dieses in der Welt einmaligen Systems kultureller Einrichtungen diskutiert wird. Es gab also bis in die späten 1930er Jahre eine Mischkultur der Trägerschaften, die erst durch die Gleichschaltung in den Jahren des Nationalsozialismus ihr heutiges Gepräge erhielt, und von der sich heute vielleicht wieder vieles lernen ließe. Andererseits hat sich mit dem neuen Geist des Kapitalismus auch das gesellschaftliche Umfeld vehement verändert, ideologische Blöcke haben sich verflüssigt und die Systemgrenzen unterspült. Es entstand ein Start-up-Organisationsprinzip von Kreativität und Unternehmertum, das keinen langen Marsch durch die Institutionen mehr plante. Und die begleitende Demokratisierung des Kulturbegriffs schuf einen neuen Werkbegriff und ein neues Profil des Publikums. An die Seite der Fixabonnenten traten schon in den 1960er Jahren die Wahlabonnenten und schließlich die heutigen Besuchernomaden. Sie folgen den Künstlernomaden und Gelegenheitsproduktionen. Und im Kontext dieser – auch von der staatlichen Kulturpolitik reflektierten – Veränderung sind die vergleichsweise hoch geförderten Stabilitätsbetriebe extrem herausgefordert. Plötzlich rivalisiert die Arbeit der traditionellen Stadttheater mit eigenem Opern- und Ballettensemble, die Arbeit der Orchesterhäuser an der medialen Aufmerksamkeitsmacht von Festivals und internationalen Im- und Exporttempeln einer extrem zeitgenössisch orientierten Kunstszene. Kein Theater veranstaltet heute nur noch Theater, kein renommiertes Konzerthaus nur Konzerte, sie arbeiten an der Pluralisierung der angebotenen Werk- und Erlebnisformen, die sich diversifizieren und selbst bei den Berliner Philharmonikern mit Angeboten im Bereich Jazz, Literatur und Film oder durch die online gestellten Veranstaltungsstreams ein neues Publikum in der Häuser locken. An diesen Stabilitätsbetrieben sind Festivals wie in den Institutionen neuen Typs keine Unterbrechung der Jahreskalender mehr, sondern permanent lancierte und von fein sequenzierten Besucherkreisen besuchte Veranstaltungsformen. Die projektorientierte Arbeit klassischer Institutionen geht einher mit der Projekthaftigkeit der Kulturpolitik: „Doppelpass“, „Heimspiel“, „Tanzfonds Erbe“ – plötzlich klingt und denkt eine staatlich gelenkte Förderpolitik wie der Teilbereich eines neuen Marshallplans. All das sind Indizien dafür, dass die Produktion kultureller Angebote heute von neuen Ausgangsbedingungen geprägt ist. Der Werk-
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begriff verändert sich dergestalt, dass neben die klassische Interpretation gleichberechtigt das Phänomen der Kreation tritt und zwar auch an jenen Institutionen, die traditionell der Vergegenwärtigung und Interpretation notierter Werke verpflichtet sind. Nicht mehr nur die literarische Vorlage und ihre Interpretation gelten als Werk, dem die Institution verpflichtet ist, sondern auch die originale Kreation oder das soziale Kunstwerk, das sich als Interaktion oder Intervention begreift. Die künstlerische Wahlkampfintervention Chance 2000 von Christoph Schlingensief stand gleichberechtigt neben Luc Bondys Aufführung von Genets Die Zofen oder einer nicht mehr nachspielbaren Arbeit der belgischen needcompany. Zum „Werk“, das unsere zeitgenössischen Institutionen hervorbringen, gehört in gleichem Maße wie das Bühnengeschehen der sie begleitende Diskurs, die Kooperation mit anderen Institutionen, die Reflexion und Konturierung der Institution als sozialer Ort, also die Partys in den Foyers, Kellern, Lagern, Klubs. All das ist, man kann sagen seit vielen Jahren, der „Spielplan“.
Z UR V ERÄNDERUNG
DES
P UBLIKUMS
War das Publikum traditioneller Institutionen aufgeschlossen und treu für alles, was die Institution anbietet, verhält sich das jüngere Publikum eher gemäß den Institutionen neueren Typs – es ist loyal gegenüber seinem eigenem Geschmack und reist dem Angebot hinterher, egal wo es sich institutionell andockt. Dieses Publikum betrachtet seinen Geschmack selber als Projekt. Es festigt nicht seine Gewohnheiten, sucht nicht Bildungs- und Erlebnisanker im Fluss des Vergehens, sondern verlangt, in hübsch paradoxer Weise, die Innovation, die es schon kennt. So wie der Besucher der Berliner Philharmoniker im Grunde noch den alten Klang der romantischen Klassiker sucht, auch wenn Bartok gespielt wird, weshalb das Publikum in einer so traditionellen Institution prompt belohnt, wenn das Neue eines Rihm oder Haas klassisch klingt. Das jüngere Publikum ist der Sache treu, nicht dem Ort. Es folgt seiner Sache an viele Orte, klappert ein ums andere Festival oder eben Theater ab, wenn es dort einen Anlass zum Fest und zur Teilhabe findet. Heute wählt das Publikum nicht mehr zwischen einzelnen Produktionen eines Hauses, sondern den Produktionen verschiedener Häuser oder Festivals und verhält sich dabei so nomadisch wie die Produzenten der sich flexibilisierenden Betriebe selbst.
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Die Unterscheidung zwischen „traditioneller“ und „freier Szene“ macht kulturpolitisch keinen Sinn mehr, denn beide produzieren „Hochkultur“, wenngleich dann doch noch gravierende Budgetunterschiede in den Spielräumen zwischen den klassischen Institutionen und denen neuen Typs bestehen. Der Geist des „Projekts“ aber hat beide erfasst, ob aus Not oder Überzeugung. Hinter dem „Projekt“ steht der Gedanke einer forschenden Eroberung. Das Projekt, und mit ihm verbunden die Idee des Festes und der Kreation, ist die Kulturform einer deregulierten Gesellschaft. Projekte versprechen Pioniergeist. Das Projekt will Erschließungsarbeit im Feld des Neuen leisten. Das Projekt ist Idee, die Tat wird. Das Projekt beruht auf der Verwirklichung des freien Individuums. Es beruht auf seiner Innovationskraft. Es beruht darauf, dass dieses Individuum souverän ist, sich selber die Form zu geben und seine Rolle selbst zu definieren bzw. mit ihr zu spielen. Was zum Gegenstand, zum Material der Kunst wird, folgt dabei in der Logik des Projekts nicht mehr den Kriterien, die in den traditionellen Institutionen unseren Begriff vom Werk, vom Politischen, von Können und Qualität prägten. Obgleich diese traditionellen Institutionen im Grunde nach wie vor die Interpretation präexistenter Werke leisten, öffnen sie sich den neuen Werkformen und damit verbundenen Produktionsbedürfnissen. Die großen Theater und Opernhäuser kooperieren längst mit freien Ensembles, ziehen in Industriehallen, arbeiten konstant mit Gästen, öffnen sich der Kreation und anderen ästhetischen Disziplinen. Das Projekt folgt dem Geist des neuen Kapitalismus und merkantilisiert bislang geschützte Bereiche des menschlichen Lebens wie den der Freundschaft, der Kommunikation, der Biologie. All dies wird „Ressource“ und integriert in die zweite Landschaft des Netzes, einer Landschaft, die wir inzwischen genauso real bewohnen wie die terrestrische Welt und in der die gleichen Verteilungskämpfe, Kolonialisierungs- und Monopolisierungsbewegungen stattfinden. Die großen Projekte unserer Zeit, von der Entzifferung des menschlichen Genoms bis zur Totalkartografierung der Erde, der Bestände unserer Bibliotheken und Museen oder der privaten Familienalben, all das hat „uns“ als Ressource im Blick, uns als „Projekt“. Zum Projekt gehört der Glaube an die Individualität und ihren Wert, der Innovation, der Originalität, eben weil das „Projekt“ schaffen muss, was es an Vorlagen entbehrt und neuer Klassik erst schafft. Originalität ist so das Wort für den neuen Gehorsam. Michael Stallknecht zitierte unlängst in der Süddeutschen Zeitung den Soziologen Joachim Fischer mit der Bemerkung,
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die „Avantgardekunst“ fungiert als „Anschauungsschule für die Individualisierung der Lebensverhältnisse und Lebensstile“, d.h. das Bürgertum hält sich durch „systematischen Nonkonformismus“ fit. Indem die Regisseure noch im kleinsten Stadttheater sich als originell verstehen, heißt das, sie bilden gerade das Rollenmodell der theaterbesuchenden Schicht. Die sogenannte freie Szene bildet erst recht keine Opposition, weil sie sich unmittelbar bei den Kommunen um Gelder bewirbt, die das Innovationskriterium als einziges messbares in sämtlichen Förderrichtlinien vorschreiben.
Z UR V ERÄNDERUNG
DER I NSTITUTION
Eine solche auf das unstillbare Ziel der Innovation abgestimmte Gesellschaft modifiziert also ihre klassischen Institutionen in der projektbezogenen Weise bzw. bringt einen neuen Typus von Institution hervor. Diese Institutionen neuen Typs haben in der Regel flache Hierarchien und kurze Entscheidungswege. Sie sind, verglichen mit den klassischen Institutionen, transparenter im Gefüge und oftmals geradezu angewiesen auf Partizipation. Transparenz und Partizipation – das sind die Leitworte des letzten, vielleicht noch aktuellen Kulturwandels. Ihr Leitmedium ist das Internet und eine neue Form von Wirtschaften, die in einem Moment, da es kaum noch ein Realwachstum gibt, unsere menschlichen Beziehungen ökonomisiert – nie ging die Gesellschaft tiefer unter die Haut und wurde der Mensch neben seiner Physis auch psychisch derart zur Ressource. Für den in China unter Hausarrest gestellten und vom Staat ausspionierten Künstler Ai Wei Wei ist „Transparenz“ jener emanzipatorische Begriff, der an die Stelle von „Freiheit“ getreten ist. Ich bin mir da nicht mehr sicher. Partizipation und Transparenz sind Begriffe, die unter dem Vorzeichen der Befreiung neben emanzipativen Effekten auch eine forcierte Form der Kontrolle menschlichen Lebens befördern. Und das schlägt sich in den Veränderungen unserer Institutionen nieder. Soziale Netzwerke kommerzialisieren das Feld der Privatsphäre, die Psychokontur von Kindern wird medikamentös optimiert und die der Erwachsenen durch Coachings modelliert. Das weiße Rauschen unserer Datenspur im Netz ist der Rohstoff der nächsten technologischen Revolution und sie wird uns zum Gegenstand haben. Transparenz ist ein anderes Wort für komfortversüßte Kontrolle. Und Partizipation heißt auch: Wir müssen mehr tun und mit uns wird mehr getan. In diesem Sinne werden Institutionen umgebaut. Sie werden, wie die
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gesamte Gesellschaft, entsichert. Sie werden geprägt durch neue „Zuwendungsformen“, neue Arbeitsverträge und -stile. „Zuwendung“ – man kann dieses Teekesselchenwort in diesem Zusammenhang nicht ohne Schauder verwenden. Statt eines Vertrauensvorschusses, den man traditionellen Institutionen wie den großen Opernhäusern, Museen oder Sprechtheatern traditionell durch pauschale Budgets gewährt, entstehen fast nur noch flexibilisierte Institutionen und Produktionsformen. Die kontinuierliche Förderung fixer Strukturen wird ersetzt durch die Gewährung von „Zuwendungen“ von Fall zu Fall, die nun allerdings keine exotischen Ausnahmeprojekte fördern, sondern eine Facette des kulturellen Mainstreams. Dabei will jede „Zuwendung“ immer wieder verdient und bedankt sein. Hinter jeder „Zuwendung“, die moderne Institutionen oder Produzenten empfangen, stecken ein Juryantrag und eine Juryentscheidung bei einer Stiftung oder einem Fonds. Nie hat Politik so permanent und mächtig in den aktuellen Prozess des Kunst- und Kulturschaffens hineingewirkt wie im Augenblick. Bei den „Institutionen neuen Typs“ gilt: Projektförderung gibt es auf Antrag, auf Zeit, für konkrete Zwecke. Projektmittel sind nicht für Institutionen bestimmt, sondern für Produzenten und ein Werk. Die Umstellung dieses von staatlicher und privater Seite deregulierten Fördergebarens bewirkt zugleich, dass die Institutionen, die klassischen wie auch die neuen Typs, vor ganz neuen Herausforderungen stehen. Nach Jahren der Verschlankung drohen die Institutionen, bei wesentlich reduzierten Produktionsmöglichkeiten, zu bloßen Gefäßen der durch sie hindurch gelenkten Mittel zu werden, für deren Akquise und administrative Verwaltung sie zudem nicht ausgelegt sind. So entsteht eine permanente Grauzone des Rechts, wenn Projektmittel verwendet werden, um Institutionen zu erhalten bzw. Arbeitsplätze zu finanzieren, die dauerhaft erforderlich sind. Dies ist insbesondere ein Problem der Institutionen neuen Typs. Hinzu kommt, dass Institutionen, die auf Projektförderung abgestimmt sind, nur relativ kurzfristig planen können. In Berlin bekommt das Haus der Kulturen der Welt zwei Millionen Euro operative Mittel im Jahr und macht durch diverse Anträge daraus sechs, mit denen es die gewaltige Kongresshalle ein Jahr lang bespielt. Institutionen gleicher Art sind die Kunstwerke, C/O Berlin, das HAU und die Sophiensäle, Kampnagel in Hamburg oder das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main. Es handelt sich um Produktionsorte, die darauf beruhen, dass externe Produzenten eigenes Geld mitbringen und die Häuser selbst nur sehr eingeschränkt Ereignisse herstellen. Es sind Ein-
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richtungen von äußerst schmaler Statur, in deren Arbeitsprozesse die Politik jederzeit ein- und aussteigen kann. Das kann sie am Deutschen Theater nicht. Die kulturpolitische Landschaft hat sich genauso drastisch dereguliert wie die Wirtschaftswelt. Die bei weitem noch nicht in ihrer wahren Bedeutung anerkannte Umlenkung der Mittel in neue, flexible Förder- und Einrichtungsformen, blieb in der politischen Debatte seltsam fern von grundsätzlichen Betrachtungen. Wir diskutieren über ästhetische Prozesse, die zum Teil auch Strukturdebatten sind, das Beispiel des postmigrantischen Theaters ist eine der wenigen Ausnahmen, aber die Liberalisierungen im Gefüge unserer Institutionen sind kaum diskutiert worden und entwickeln sich weiter geführt von unsichtbarer Hand. Von außen betrachtet sehen Institutionen wie das Haus der Berliner Festspiele oder HAU oder Haus der Kulturen der Welt aus wie immer. Ihre innere Funktionsweise hat sich aber völlig verändert – an die Stelle einstiger Hausensembles und Werkstätten trat die Gastgeberrolle für Kuratoren und Fremdvergaben, die Saison ist von Festivals geprägt statt vom Repertoire, einem Spielplan eingeladener oder koproduzierter Vorstellungen und Ausstellungen. Arbeitsverträge werden grundsätzlich befristet, die Produktionszusammenhänge internationalisiert und auch ästhetisch grenzüberschreitend. In der Regel führt das zur Verjüngung und Aktualisierung der Angebote, was oft wohltuend ist. Gleichzeitig ist die parallel existierende Interpretenkultur der musikalischen oder dramatischen Literatur an den klassischen Orchesterhäusern, Sprechtheatern und Opern in diesem Fördermodell nicht zu bewerkstelligen und kämpft mit der Abschmelzung ihrer Budgets unter jene Voraussetzungsschwelle, welche allein schon durch die Größe ihrer Bühnen, die Anzahl der Plätze und Quadratmeterzahl ihrer Ausstellungsflächen definiert ist. Wie viel von diesen exklusiv bespielten Räumen will und muss sich unsere Gesellschaft leisten?
V OM S INN
DER INSTITUTIONELLEN
F ÖRDERUNG
Für jeden Politiker oder Stifter ist es weitaus interessanter, eine Institution zu eröffnen, als sie im Stillen betriebsfähig zu erhalten. Die Verstetigung institutioneller Zuwendungen droht tatsächlich irgendwann im „Infarkt“ zu münden – die Pflicht übernommener Lasten schnürt das Budget für die Häuser ein und ab. Die Schaffung und Stärkung von Institutionen neuen
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Typs ist deshalb ein probates Mittel, auf die Veränderungen sowohl der Publikumsstruktur wie auch der Werk- und Produktionsformen der letzten vierzig, fünfzig Jahre zu reagieren. Institutionen neuen Typs schützen vor Erstarrungen, ja. Aber dieser Typus von Einrichtung beugt sich dem Zwang zur ständigen Neukreation – ein Repertoire wird sich durch Anträge nie bilden können. Die großen Interpretenwerke sind keine Projektarbeiten, sondern brauchen in ihrem Zusammenspiel möglichst stabile Apparate wie Orchester oder Ensembles oder eben Sammlungen. Der Kanon entsteht und überlebt hier. Man muss sich also fragen: Um welche Aufgaben geht es wirklich? Man könnte, wie Brecht dies einst für das epische versus dem dramatischen Theater schied, eine schöne Dichotomie zwischen Projekt- und institutioneller Förderung bilden: Projektförderung ist die Förderung von Kreationen. Institutionelle Förderung lässt sich, zugespitzt, verstehen als Förderung von Interpretationen. Kreationen sind Aufführungen, die sich personell an die Hervorbringenden binden, also nicht nachspielbar sind, weil das Werk in der Regel durch seine Schöpfer selbst dargestellt wird. Interpretationen leben hingegen davon, dass jemand anderes das Gleiche anders machen könnte. Der Berliner Anwalt Peter Raue hat in seinem Besucherleben wahrscheinlich 30 Inszenierungen von La Traviata gesehen und dieses vergleichende Betrachten des Gleichen in immer neuen Lesarten macht einen Großteil des Vergnügens aus. Wenn wir einen Abend von Christoph Schlingensief gesehen haben, haben wir einen Abend von Christoph Schlingensief gesehen. Vergleichen lässt sich das nur mit einem anderen Abend von Christoph Schlingensief. Die Kirche der Angst gab es nur einmal. Es hat zugleich noch immer Sinn, Institutionen zu fördern. Institutionen sind Dispositive, in ihnen tradiert sich ein spezifisches Wissen, das heimatlos wird und verloren geht, wenn man sie auflöst – zumindest an den Orten, wo es bislang wirkte. Institutionen funktionieren, überspitzt gesagt, als Museen oder Archive. Sie fördern und gewährleisten ein forschendes Erinnern, machen die Fülle der Ereignisse und Objekte vergleichbar, indem sie diese Sammlungen, ob nun Buchbestände, der dynamische Kanon eines Schauspiel-, Konzert-, oder Opernrepertoires oder ein Bestand an Gemälden und Objekten, stets neu ordnen, evaluieren, als fruchtbare Fremdkörper einer anderen Zeit der unseren vorstellen, diese also an ihnen begreifen und reflektieren helfen und somit eine Art von orientierender Inszenierungsleis-
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tung vollbringen. Das sind wahrscheinlich, grob gesagt, die wesentlichen Leistungen und Aufgaben von Institutionen. In den deutschsprachigen Ländern wurden traditionell Institutionen gefördert – Bibliotheken, Museen, Konzerthäuser, Theater. Sie sind, man könnte es mit Helmut Plessner sagen, Produkte einer verspäteten Nation, die eher Bürger einer Kultur hervorgebracht hat als Bürger eines Staates. Daher übernimmt der Staat hier so bereitwillig kulturelle Aufgaben. In Ländern mit bürgerlichen Revolutionen hingegen sind Kulturinstitutionen oft stärker durch private Trägerschaften oder schlicht den Markt finanziert. Doch ist Subventionierung auch auf andere Art möglich. Statt der Institutionen wurden, bis dort die große Kahlschlagpolitik begann, in den Beneluxländern die Produzenten gefördert. Produzentenförderung ist Innovationsbelohnung. Hier werden Truppen gefördert, die in einem „Artcenter“, also einer Art Präsentationshaus ohne eigenes Ensemble, ihre Arbeiten zeigen – on tour. Diese Kompanien, die Förderanträge nur für neue Produktionen stellen können, bilden recht selten und sehr eingeschränkt ein Repertoire ihrer eigenen Arbeiten. Ihr Verhältnis zum Publikum einer bestimmten Stadt ist flüchtig, da sie es nur als Durchreisende kennen und prägen können. Zugleich ist Produzentenförderung eine sehr wirksame Form der Ensembleförderung – sie belohnt die Gruppenarbeit und führt oft zu stabilen künstlerischen Konstellationen, die zudem interdisziplinär und hoch reflektiert sind, meist auch lange Recherche- und Probenphasen erlauben, was innerhalb der Ensembles an kontinuierlich geförderten Institutionen, die inzwischen einem hochfrequenten Produktionsstress unterworfen sind, nur sehr selten gegeben ist. Die Förderpolitik des Bundes und der Länder zerfällt genau in diese beiden Kategorien: institutionelle Förderung und die Projektförderung. Die meisten Stiftungen, übrigens auch Firmenstiftungen, fördern Projekte, kurz oder mittelfristig angelegte Vorhaben, die sich keinesfalls institutionalisieren sollen. Projektförderung ist Innovationsförderung, impulsgebend, zeichensetzend, temporär. Produktiv und im Stillen arbeitet bislang die „Kulturstiftung des Bundes“ an Strategien und Impulsen für die Umgestaltung und neue Aufgabenbestimmung unserer traditionellen Institutionen im Zusammenspiel mit neuen. Die institutionelle Förderung hingegen zielt auf eine Bespielung von Häusern durch fix und langfristig angestellte Produzenten, die, ob Ausstellungsmacher, Konzertplaner oder Theaterdirektoren, über große Zeiträume hinweg an diesem Ort und möglichst nur in ihm die
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Aufgabe einer intelligenten Vergegenwärtigung des Repertoires, aber auch die Erweiterung des Repertoires, die ständige Reform des sogenannten Kanons zur Aufgabe haben. Man könnte auch sagen: Institutionelle Förderung fördert Lektüre, Projektförderung das Schreiben. Grundsätzlich betrachtet folgen Projekt- und Institutionenförderung zwei einander ergänzenden oder komplementären Prinzipien: Die Förderung von Institutionen bewirkt eine merkwürdige Begegnung und gegenseitige Durchdringung von Gegenwart und etwas Vergangenem, das vergegenwärtigt wird und so der eigenen Aktualität eine Deutung schenkt. Die Produzentenförderung hingegen deutet die Gegenwart und spielt nach vorn. Sie bringt Arbeitsformen und Strukturen hervor, die sich zukünftig ausbreiten und verstetigen werden, etwa, indem sie, wie die Arbeiten von Cage oder Cunningham, klassisch werden und langsam in die Repertoires eindringen. Wobei auch die Produzentenförderung, man denke an Ariane Mnouchkine oder Pina Bausch, gelegentlich zu neuen Institutionen führt. Das Projekt mancher privater Sammlung führt, Berlin diskutiert das gerade intensiv, zu neuen städtischen Galerien. Aber ungeachtet dieser sich institutionell verstetigenden Projekte ist die Projektförderung flexibler in der Steuerung der Prozesse und erlaubt einen einfacheren Einund Ausstieg aus der Förderung.
V OM U NSINN
DES
Z WEIKLASSENSYSTEMS
Obwohl das System der Kulturförderung durchaus im Umbruch ist, gibt es, trotz der Hinwendung zur Projektförderung, durchaus Lücken im sich herausbildenden System neuen Typs. Ein wirkliches Produktionszentrum wie das Theatre de Vidy in Lausanne oder das Theatre de la Ville in Paris, ja selbst wie de Singel in Antwerpen, fehlt im deutschsprachigen Raum. Auch ein echtes Großfestival, wie es das Edinburgh-Festival, das von Avignon oder Salzburg sind, fehlt, insofern man von der neu gegründeten Ruhrtriennale absieht. Diese Festivals zeichnen sich, wie Upperclass der großen Stabilitätsbetriebe, durch ihre exklusiv produzierten Renommierproduktionen oder mit Premierenrecht koproduzieren Aufführungen aus. Unterhalb dieses international führenden Levels agiert die Workingclass des Kulturbetriebs. Zu ihnen zählt der internationale Tourneebetrieb der deutschen Stadttheater von der Berliner Schaubühne bis zu den Münchner Kammerspielen, die das strukturell kaum verkraften. Und jene Institutionen neuen Typs ohne eigene
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Ensembles und Orchester, die auf dem Tourprinzip der Produzenten, dem Kreisverkehr im Netzwerk der Artcenter beruhen. Nur das Netzwerk insgesamt kann jene Menge an Mitteln aufbringen, die nötig ist, um bestimmten Produzenten die Erarbeitung neuer Aufführungen zu ermöglichen. Diese internationale Workingclass der Produzenten, vom Hollandfestival über die Donaueschinger Musiktage können nur in sehr bescheidenem Umfang selber Projektmittel zur Verfügung stellen und ein Großteil ihrer Produktionen beruht eben auf nationalen und internationalen Projektförderungsmechanismen, die inzwischen keine abseitigen Spezialinteressen unterstützen, sondern die kulturelle Grundversorgung in der Breite sichern. Mit einem institutionellem Renommee, das oft in keinem Verhältnis zu den dahinter verborgenen Arbeitsverhältnissen entsicherter Beschaffungs- und Beschäftigungsverhältnissen steht. Ein Festival wie das Berliner Theatertreffen lädt zu achtzig Prozent ein, was die deutschen Stadt- und Staatstheater produziert haben. Auch das Berliner HAU zeigt Produktionen der Münchner Kammerspiele, eines Hauses, das geradezu programmatisch den Kurzschluss zwischen fixer Ensemblearbeit und der Integration tourfähiger Projekte sucht. Die Berliner Schaubühne wiederum, ein traditionelles Stadttheater par excellence, lässt die Bühnenbilder seiner Produktionen inzwischen doppelt bauen, weil eine Dekoration immer irgendwo auf der Welt in einem Containerschiff unterwegs ist. Die traditionellen Häuser „beliefern“ inzwischen also auch den projektmittelabhängigen Austauschmarkt, weil sie, in Zeiten sinkender Nettobudgets, durch diese „Nebeneinkünfte“ ihre finanzielle Situation verbessern können. Sie haben, gemessen an den frei produzierenden Kompanien, einen enormen infrastrukturellen Wettbewerbsvorteil. Wie in der freien Wirtschaft ist die kulturelle Landschaft hier und europaweit längst in eine zwei Klassengesellschaft zerfallen: Zwischen der Upperclass und Workingclass gibt es so gut wie keinen Austausch. Die großen Stadt- und Staatstheater, die Opernhäuser, die Ruhrfestspiele, die Salzburger Festspiele oder Festivals von Edinburgh oder Avignon, das ist Upperclass. Da werden Wagen gebaut, die passen in keine kleinen Garagen. Wohin das führt? In Frankreich gibt es nur noch ein traditionelles Ensembletheater im Land und das natürlich in der Hauptstadt. Wir sind davon noch weit entfernt. Aber was würde mit den Bädern, Bibliotheken, Kindergärten, Konzerthäusern, Museen oder Theatern in vielen Städten Deutschlands passieren, wenn die öffentliche Hand, das meint sowohl die Bundes-
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länder als auch den Bund selbst, keine Kredite mehr aufnehmen kann, um in bewährter Weise zu finanzieren, was bislang zu unseren sozialstaatlichen oder kulturstaatlichen Errungenschaften zählt? Ein Gutteil dieser Leistungen wurde bislang auf Pump erbracht. Im Frühjahr 2009 hat die Föderalismuskommission beschlossen, die Neuverschuldung schrittweise auf Null zu bringen. Diese verfassungsrechtliche Regelung wird als Schuldenbremse bezeichnet und ihr zufolge ist für die Kreditaufnahme des Bundes die Einhaltung der 0,35 Prozent Grenze vom Bruttoinlandsprodukt ab 2016 gesetzlich vorgeschrieben, ab 2020 gilt ein striktes Verbot jeglicher Nettokreditaufnahme für die Länder.
D IE
KULTURPOLITISCHE
A UFGABE
DES
B UNDES
Eine Übergangsregel, die dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts auf Bundesebene ab 2016 und der Länder ab 2020 zuarbeitet, trat mit der Anwendung der ersten Neuregelungen im Haushaltsjahr 2011 in Kraft. Sie hat übrigens nicht den Schuldenabbau zum Ziel, sondern nur das Ende der Neuverschuldung. Dennoch führt dies zu drastischen Einschnitten in der Haushaltspolitik. Die Konsequenzen der Schuldenbremse sind absehbar und werden, spätestens wenn der Kreditaufnahmestopp gilt, drastisch sein, drastischer, als alle Einschnitte und Veränderungen, die durch ordnungspolitische Eingriffe in den letzten Jahrzehnten geschahen. Die Debatte um den „Kulturinfarkt“ hat scheinbar nur Verletzte und Empörte hinterlassen. Doch es läuft, seit die Schuldenbremse Gesetz geworden ist, ein realer Countdown auf dem Spielfeld der deutschen Kulturpolitik und ich habe den Eindruck, von den Betroffenen zählt kaum jemand mit. Der Bund wird sich in den nächsten Jahren fragen, was seine Aufgaben sind, wo es um nationale oder internationale Relevanz geht oder um die Förderung von Innovationen, die eine übergeordnete, gesamtstaatliche Bedeutung besitzen. Ein Anteil von 0,4 Prozent für die Kulturpolitik am Gesamthaushalt des Bundes wird der neuen Rolle, die er in Anbetracht der institutionellen Verschiebungen zwischen klassischer und neuer Projektförderung spielt, nicht mehr ausreichen, vier Prozent sind weitaus realistischer. Das Gesetz der Schuldenbremse wird die Helfer- oder Verantwortungsrolle des Bundes sehr bald ganz neu definieren und zu einer mehr oder minder offen geführten Föderalismusdebatte führen. Und ist es nicht gefährlich, die neue Förderung durch den Bund an nationales Interesse zu koppeln? Aber
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was ist daran gefährlich? Eine neue Art von Kulturnationalismus? Helmut Plessner hat einmal gesagt, die Deutschen seien eher die Bürger einer Kultur als eines Rechtes oder Staates. Sicher, das verändert sich, glücklicherweise, aber die Üppigkeit unserer staatlich unterhaltenen kulturellen Landschaft ist nur so zu erklären. Es gibt ein Goethe-Institut, das sich darum kümmert, die deutsche Kultur und Sprache in die Welt zu tragen. Man kann die Erhaltung von nationalen Gütern wie des Schlosses Sanssouci oder eines Literaturarchivs befürworten, ohne dass man ein Chauvinist sein müsste. Der Bund jedenfalls wird kulturpolitisch in eine neue Leitverantwortung treten, die gesamtstaatlich konturieren muss, was sich wild und frei an Entwicklungen eigendynamisch vollzieht. Die Herausbildung des „Projektkapitalismus“ ist dafür nur eine sehr grobe Metapher. Sie umschließt Entwicklungen der Deregulierung und des Übergangs zwischen dem alten Modell der gesellschaftlichen Selbstfeier zu einer neuen Kultur des Festes, die damit eng verbunden sind. Michaela Pfadenhauer schreibt über „Ereignis – Erlebnis – Event“ auf Wilfried Gebhardts Aufsatz „Feste, Feiern und Events. Zur Soziologie des Außergewöhnlichen“ (Gebhardt 2000): „Die Festkultur moderner Gesellschaften unterliegt Prozessen der Deinstitutionalisierung, Entstrukturierung, Profanisierung, Multiplizierung und Kommerzialisierung. Zusammengenommen befördern diese eine Veralltäglichung des Festlichen, in deren Zuge die sinnstiftende und die gemeinschaftsstabilisierende Funktion des Fests, so Gebhardts Diagnose, sukzessive abhanden kommt. Damit stellt er allerdings keineswegs in Abrede, dass Events eine vergemeinschaftende Wirkung haben. Impliziert ist darin vielmehr die Umkehrung des Konstitutionsverhältnisses von (eventförmigem) Fest und Gemeinschaft: ‚Es ist eben nicht (mehr) die Gemeinschaft, die ein Fest ‚feiert‘, sondern das Fest konstituiert – für den Moment – eine Gemeinschaft‘ (Gebhardt 2000: 28).“ (Pfadenhauer 2012: 223)
Dies ist, denke ich, der Hintergrund und die Ursache für die grassierende „Festivalitis“ – sie ist nicht der Ausdruck problemvergessener Vergnügungsgier, sondern im Gegenteil ein seelisches und intellektuelles Selbstheilungsbemühen einer extrem gestressten Gesellschaft. Sie kommt nur noch in Momenten situativer Gemeinschaftlichkeit zu sich. Die Kultur des Projekts ist dafür ein Indiz.
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F EST
ODER
F EIER ?
Angesichts des Spar-Countdowns, der läuft, geht es um einen neuen Verteilungsschlüssel, der die Fragen stellt: Fördern wir das Fest oder die Feier? Und welches Verhältnis zwischen Fest und Feier wünschen wir uns an welchem Ort? Die Feier erzeugt in der Begegnung mit den Philharmonikern das Imago einer sich in ihnen offenbarenden Gesamtstabilität. Die Feier feiert das Ganze und zwar als das Wiederkehrende. Die Feier ist Weihnachten. Das Fest die Loveparade. Die Feier feiert kein Wahlabo, sondern den treuen Besucherkreis, letztlich auch nicht anders als der FC Bayern München. Wer ist „Bayern München“ unter den Institutionen, die diesen institutionellen Nimbus beanspruchen dürfen? Die Berliner Philharmoniker sind Bayern München. Sie kaufen die Besten. Sie erfinden das Klassische erfolgreich neu. Deshalb werden sie subventioniert. Es ist der Verein der Spitzenverdiener. Wie paradox. Und wo fördern wir das Fest? Das Projekt? Wo also feiert eine Kommune oder Community sich selbst, indem sie in bestimmten Rhythmen große Sammelbecken verstreuter Interessen herstellt? Eine intensive Geselligkeit auf Zeit? Statt Weihnachten feiert die Subkultur die Feuerwehrparty. Oder Heilsmessen der Neuen Musik. Oder des Punk, der Mode oder der Netzkulturen. Tom Holert und Mark Terkessidis sprachen schon vor Jahren vom Mainstream der Minderheiten. Er wurde: Art Week, Fashion Week, Popkonzerte auf dem Tempelhofer Feld. Das ist schon da. Eine Großstadt wie Berlin wird in den nächsten Jahren all ihre Akteure, ob Bund, Stadt oder privat, auf eine Struktur von 20 Eventwochen einschwören. Daraus resultiert ein völlig neues Verhältnis zwischen Kommune und Land, Land und Bund. Wer trägt die Institutionen? Wer bezahlt die Projekte? Welche Institution passt zu welcher Kommune? Was ist die Aufgabe des Bundes, des Staates, und wo liegt die Verantwortung vor Ort? Es ist letztlich die Frage, wo Provinz beginnt, was ihr zusteht und wie es finanziert wird – also eine neue Föderalismusdebatte. Hier wird es die meisten Kämpfe geben und Zugeständnisse, die in gesamtstaatlichem Zusammenhang stehen. Ein föderales Nachgeben in der Steuerpolitik etwa wird den Bund bewegen, nachgiebiger für das Überleben bestimmter Projekt- oder institutioneller Strukturen zu sorgen. Die These lautet, dass die Projektförderung langfristig populärer werden wird als die institutionelle Förderung. Diese bereits offensichtliche
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Tendenz wird sich durch das Gesetz der Schuldenbremse beschleunigen und zu einer der gravierenden Paradigmenwechsel und Einschnitte innerhalb der bundesdeutschen Kulturlandschaft der letzten vierzig, fünfzig Jahre führen. Nur noch wenige „Premiumbetriebe“ können sich zukünftig der prestigeträchtigen Grundgetragenheit auskömmlicher institutioneller Förderung erfreuen. Die „Drittmittelbeschaffung“ wird somit zur Voraussetzung des institutionellen Überlebens selbst renommierter Einrichtungen. Mehrheitlich wird der Markt der Meinungen und Quoten die Grundlage bilden für die Form der Gemeinschaftserlebnisse, die unsere öffentliche Hand dem einzelnen Bürger zukünftig gewährleisten will – im Rahmen einer dynamischen Förderstruktur, mit einem ständigen Ein- und Ausstieg aus Formaten, Akteuren und Themen. Temporäre Großereignisse wie Festivals fördern eine andere Auffassung von „Gemeinschaft“, als sie bislang für unsere Gesellschaft typisch war – und vielleicht wird die Kulturpolitik somit realistischer? Unsere nächste wichtige Aufgabe ist die Kollektiv-Bildung. Wie können sich die Einzelkämpfer der Kreativwirtschaft eine Lobby schaffen, wie ist das abbildbar? Es ist angemessen, auf die hier geschilderten Entwicklungen zunächst mit einer Frage zu reagieren. Mit einer Vielzahl von Fragen. Aber auch mit der Aufforderung, diesen Count Down nicht nur die Haushalte zählen zu lassen.
L ITERATUR Blotanski, Luc/Chiapello, Eve (2006): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz. Gebhardt, Winfried (2000): „Feste, Feiern und Events. Zur Soziologie des Außergewöhnlichen“, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen, S. 17-23. Pfadenhauer, Michaela (2012): „Ereignis – Erlebnis – Event“, in: Hildegard Bockhorst/Vanessa-Isabelle Reinwand/Wolfgang Zacharias (Hg.): Handbuch Kulturelle Bildung, München, S. 220-225.
Un/doing differences Ein Auftrag für zeitgenössische Theaterinstitutionen F RIEDEMANN K REUDER
Die folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der Auffassung, dass Theater eine Institution zum exemplarischen Studium kontingenter sinnhafter Unterscheidungen (zu diesem Begriff vgl. Reckwitz 2008) ist, die Menschen gemäß solchen Kategorisierungen wie Nationalität, Ethnie, religiöser Ausrichtung, Geschlecht, Leistungs-/Klasse etc. untereinander treffen. Mittels darauf bezogener Diskurse und Praktiken der Differenzierung bringen Einzelne in einem permanenten Prozess der Subjektivation ihre Individualität mit sich selbst zur Deckung bzw. Identität, ausgehend vom sogenannten „Subjekt“ als sprachlicher Gelegenheit dazu. Die Aushandlung besagter sinnhafter Unterscheidungen war genuiner Gegenstand der Geisteswissenschaften von jeher und erscheint umso dringlicher herausgefordert durch die Gefahr ihrer zunehmenden Stereotypisierung in der sich nur zögerlich als Migrationsgesellschaft begreifenden gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland. Für das hier in Rede stehende Darstellen als zentrale Praxis sinnhafter Unterscheidungen zwischen Menschen können ohne Zweifel Schauspieler als Experten gelten, da die Schulung ihrer Körper und ihr professionelles Tun auf den gleichen Praktiken und Diskursen basiert, mit Hilfe derer Menschen sich voneinander unterscheiden. Sie verfügen auf diesem wichtigen Gebiet von Kulturalisierung über ein „stummes“ Praktikerwissen. Zudem lässt sich ihre künstlerische Praxis der Humandifferenzierung besonders gut im Gegenwartstheater vom Zuschauer beobachten, weil das Darstellen des Darstellens im Sinne einer Reflexion von Theater
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auf den eigenen Rahmen und die Tauglichkeit des eigenen Materials zur Repräsentation ein Merkmal zeitgenössischen Theaters schlechthin ist.
G ESPIELTE I DENTITÄTEN IN DER K UNST
VON
S CHAUSPIELERN
Es kann als spezifische Eigenart des Theaterschauspielers gelten, dass er im Material seiner eigenen Körperlichkeit eine vom Autor vorentworfene Figur wie etwa Hamlet darstellt und dabei auch auf der Ebene seiner Wahrnehmung durch die Zuschauer zwischen sich und der Existenzform eines Anderen vermittelt. Von daher überschreitet schauspielerische Praxis regelmäßig durch gesellschaftliche Klassifikationen hervorgebrachte Grenzen. Dies betrifft zum einen die Grenzen zwischen Nationalitäten, Religionen und sozialen Schichten, beispielsweise in einschlägigen komischparodistischen Figuren wie des Osmin in Inszenierungen der Sprechpassagen von Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail oder auch in Produktionen von Molières Bürger als Edelmann. Theatrale Praktiken problematisieren aber auch die durch starre Askriptionen festgefahrenen Grenzziehungen zwischen „Whiteness und Blackness“, wie sie im Zuge schauspielerischer Besetzungs- und Darstellungsfragen jeder Aufführung von Shakespeares Othello thematisch werden.
G ESPIELTE I DENTITÄTEN IM L EBEN
VON
S CHAUSPIELERN
In vergleichbarer Weise sieht der Soziologe Erving Goffman die Auslegung von alltäglichen Situationen zwischenmenschlicher Interaktion durch soziale Akteure und ihre Praktiken bestimmt, deren dominantes Merkmal oder/und diskursiv zugeschriebenes Attribut die Selbstdarstellung ist (vgl. Goffman 1969). Goffmans zu heuristischen Zwecken angewandte Theatermetaphorik (Darsteller, Zuschauer, Schauspiel, Rolle, Maske) bezeichnet über das Spiel sozialer Rollen hinaus die menschliche Fähigkeit, in face-toface-Kommunikation die eigene Selbstdarstellung mit der künstlerischen Praxis des Theaters zu verbinden: Produkt dieser „Alltagskunst“ ist die kommunikative Ausstellung von allseitigen Bewegungen und Äußerungen des Körpers bzw. seines Umgangs mit Dingen, die als symbolische Aktio-
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nen andere „Sachverhalte“ bedeuten als diese sinnlich-manifesten Tätigkeiten selbst sind (vgl. hierzu den Theaterbegriff in Fiebach 2002).
L EBENSTHEATER WIRD IM THEMATISCH
K UNSTTHEATER
Theater ist ebenso wie der Film gekennzeichnet durch den Rahmen (vgl. den Begriff bei Goffman 1977) der Fiktionalität. Ungeachtet der Frage nach dokumentarischen oder historischen Bezügen sind ihre Darstellungen schon durch den Akt der Re-Präsentation von dem gelöst, was sie vermeintlich darstellen. Sie erlauben es nicht nur, erfundene Handlungen und Figuren auf Bühne bzw. Leinwand zu bringen, sondern z.B. auch, historische Ereignisse in ihrer Dramatisierung zu idealisieren. Entscheidend ist hierbei, dass es in Film und Theater zu je spezifischen Realitätsbehauptungen und Illusionserzeugungen im Sinne einer Entdifferenzierung von Schauspieler und Figur bzw. Bild und „Wirklichkeit“ kommt. Aufgrund der spezifischen Medialität und Materialität von Theater ergeben sich jedoch erhebliche Unterschiede zu anderen fiktionalen Medien hinsichtlich der performativen Praktiken von gespielten Identitäten: Im Theater wird die Entdifferenzierung von Ego und Alter in Gestalt der Darstellung einer Figur wie beispielsweise Hamlet unter der für dieses Medium unabdingbaren Voraussetzung der räumlichen und zeitlichen Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern vollzogen. Theatrale Fiktion unterscheidet sich daher von der filmischen durch die von beiden Gruppen geteilte Zeitlichkeit der Aufführung: Während die Körper der darstellenden Akteure dem Zuschauer im Kino in Form der vorteilhaften Montage von Bildern präsentiert werden, denen eine perfektische Zeitlichkeit des Da-GewesenSeins eignet (vgl. Beilenhoff 1991), machen Akteure in Theateraufführungen die von einem Autor entworfene Identität eines Alter auf der Basis ihrer eigenen Körperlichkeit im Hier und Jetzt der zwischenleiblich teilhabenden Zuschauer präsent. Bezüglich der phänomenologischen Eigenheit von Theater kommt bei solchen szenischen Vorgängen die entscheidende Rolle den Zuschauern zu, deren räumliche und zeitliche Kopräsenz mit den Akteuren sie – wie bei der Zauberkunst – zu Zeugen einer Illusionserzeugung macht. Damit eröffnet der Theaterrahmen prinzipiell die Möglichkeit einer intellektuellen Reflexionssteigerung.
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Die Körper der Akteure vermögen im künstlerischen Prozess der Aufführung allerdings nur im Zusammenspiel mit denen anderer Akteure sowie Bühnenmitteln und -objekten des Raums (Raumkonzeption, Dekoration, Licht, Akustik), der äußeren Erscheinung (Maske, Frisur, Kostüm) in ihren allseitigen Bewegungen und ihres Umgangs mit Dingen (Requisiten) als Figuren in Erscheinung zu treten. Sie werden hierbei im institutionellen Rahmen von einem Netzwerk koagierender Personen, bestehend aus Intendant, Autor, Regisseur, Dramaturg, anderen Mitgliedern des Schauspielensembles, Masken-, Kostüm-, Bühnenbildnern, Beleuchtern, Requisiteuren, Tontechnikern u.a. unterstützt. Der Arbeitsprozess der Entstehung einer Aufführung gliedert sich in der Regel in drei Phasen: 1. Casting, 2. Proben, 3. Aufführung(sserie). Jede einmalige und unwiederholbare Theateraufführung im letzten Abschnitt dieses dreigliedrigen Prozesses existiert dann allein als Produkt der „autopoietischen Feedbackschleife“ (Fischer-Lichte 2004) zwischen Schauspielern und Zuschauern. Denn in jeder einzelnen Aufführung der Serie spielt immer auch die vorgängig differenzierende Wahrnehmung der jeweils anwesenden individuellen Zuschauer eine entscheidende Rolle.
I NSTÄNDIGKEIT UND A BSTÄNDIGKEIT SCHAUSPIELERISCHER P RAKTIKEN Bei einer Skalierung der eingesetzten schauspielerischen Techniken finden sich am einen Rand des Spektrums performative Praktiken, die den Prozess der Verkörperung im Theater möglichst sorgfältig kaschieren, wie im psychologisch-realistischen Darstellungsstil der meisten Filme. Am anderen Rand markieren sie die prozessuale Transgression sinnhafter Unterscheidungen, indem sie deren Produziertheit und Gemachtheit durch schauspielerische Verfahren wie etwa offen ausgestelltes Spiel mit Masken in der Commedia dell’Arte oder auch selbstreferentielle/s Sprechen, Gesten und Bewegungen im Brecht-Theater „sichtig“ machen. Hierbei stellen die Akteure ihre Figur auf der Bühne nicht im eigentlichen Sinne dar, mit dem künstlerischen Ideal, mit ihrer Figur möglichst identisch zu sein und den Zuschauern auf diese Weise eine optimale Identifikation mit den von ihnen ausagierten fremden Identitäten zu ermöglichen, wie es das bürgerliche Ideal illusionistischen Schauspiels oder Stanislawskis psychologisches Theater fordert. Vielmehr führen sie ihre Figuren dem Publikum vor, an-
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statt sie lediglich aufzuführen (zu diesen Varietäten von theatralen Darstellungsstilen vgl. Baumbach 2012, Kotte 2005, Kreuder 2010, Münz 1979).
P ERFORMATIVE R EFLEXION CROSS - ETHNIC ACTING
VON CROSS - GENDER UND
Es geht hierbei also um eine intellektuelle Leistung des körperlichen Tuns, die die mit dem Theaterrahmen prinzipiell gegebene Möglichkeit der Reflexionssteigerung beim Zuschauer potenziert. So vermögen Darsteller im „cross-gender-acting“ auf der Basis ein und derselben Körperlichkeit männliche wie weibliche Geschlechtsidentität in performance vorzuführen und mittels der sichtbaren Abständigkeit ihrer schauspielerischen Praktiken zu den von den Zuschauern nach dem gängigen binären Muster vorgenommenen Geschlechtskategorisierungen ihrer Körper den Konstruktions- und Aufführungscharakter von Geschlecht offen auszustellen. Auf diese Weise wird die diskursive Naturalisierung von Geschlecht in actu ad absurdum geführt. Judith Butler hat einen solchen Begriff der Aufführbarkeit von Geschlechtsidentität auf die Praktiken jeder Subjektivation schlechthin ausgedehnt, die vorgängige diskursive Rahmungen wie das sprachliche Dispositiv des „Subjekts“ und das westeuropäische Phantasma des „Individuums“ in vergleichbarer Weise durch körperbasierte, performative Prozesse allererst erfüllen (vgl. Butler 1990, Butler 1997). Aus dieser theoretischen Perspektive sind schauspielende Akteure besonders scharf als Spezialisten einer Form von kultureller Kommunikation abgrenzbar, die auf der Basis ihrer Körperlichkeit Praktiken der Identitätsbildung grundsätzlich als solche ausstellen. Hierbei wird der Grad der Exponiertheit und Transparenz dieser Praktiken von dem ihrer Abständigkeit von der Korporalität des darstellenden Akteurs bestimmt. Dies ist am extremen Rand des Spektrums insbesondere bei denjenigen schauspielerischen Praktiken gegeben, bei denen die wesensmäßige Transgression von Humandifferenzierungen eine Potenzierung erfährt, wenn nämlich selbst als biologisch gerahmte Kategorisierungen als Fiktionen sichtbar werden. Bei beiden schauspielerischen Verfahren, dem „cross-gender-“ wie auch dem „cross-ethnic-acting“, besteht die besondere intellektuelle Leistung körperlichen Tuns, sein Potenzial zu performativer Reflexion darin, dass sie imstande sind selbst als biologisch gerahmte Kategorisierungen als Fiktionen sichtbar werden zu lassen. In dieser Hinsicht beruhen beide dar-
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stellerischen Varianten auf den gleichen Voraussetzungen hinsichtlich der künstlerisch hergestellten Marker der äußeren Erscheinung (Frisur, Maske/Schminke, Kleidung, Statur) und ihrer Klanglichkeit (Stimmtimbre und -rhythmus, Artikulation). Sie konvergieren ferner bezüglich derjenigen Logiken, die an solche äußeren Marker geknüpfte Geschlechtskategorien unterbrechen bzw. zum Verschwinden bringen können, wie beispielsweise die zeitweise Überlagerung der Kategorisierungen von Geschlecht durch stärker individualisierende Perspektiven. Beide darstellerischen Verfahren entfalten sich als performative Reflexion auf der rezeptiven Ebene ihrer Wahrnehmung und Deutung durch die Zuschauer und der damit einhergehenden produktiven Irritationen, Ambivalenzen, Verflüssigungen von Grenzziehungen. Solche Konvergenzen der beiden Gegenstände tragen zur Entlarvung der treibenden Mechanismen sowie der prinzipiellen Konstruiertheit und prozesshaft-fluiden Performativität sinnhafter Unterscheidungen in Alltagskultur und Fiktion bei. Sie laufen in der utopischen Behauptung der offenen Potenzialität des Humanen in der zukunftsträchtigen reichen, bizarren Alltagswelt seiner Erscheinungen zusammen, die uns umgibt.
F ORSCHUNGSSTAND
IN DER
T HEATERWISSENSCHAFT
Bisherige theaterwissenschaftliche Forschung richtete den Blick auf die unterschiedlichen Arbeitsweisen und Darstellungspraktiken, die die je eigenen Stile bekannter Schauspieler des Gegenwartstheaters prägen. Sie wurden bislang aus phänomenologischer Perspektive untersucht (vgl. Roselt/Weiler 2011). Auch die zu den exemplarischen Darstellungspraktiken führenden Probenprozesse sind ebenfalls unter den Vorzeichen einer Phänomenologie des Theaters Thema, um die Theaterprobe als ein Modell zu verstehen, das kreative, mithin kollektive Entstehungsprozesse auch jenseits des Theaters in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Sphären beschreibbar und analysierbar macht (vgl. Hinz/Roselt 2011). Wie sieht es aber mit der Erforschung des am Spartentheater ja eigentlich dreigliedrigen künstlerischen Entstehungsprozesses von Aufführungen, bestehend aus Casting, Probenpraxis und Aufführung(sserie) aus? Die bestehende Forschung bezüglich der Institution Theater als Rahmen von Humandifferenzierung beschränkt sich auf eine kulturpolitische Perspektive, deren Objekt der Zuschauer bzw. der „Zuschauer mit Migrationshintergrund“ ist. Differenzierungskriterien sind hier zum einen die Ethnizität, zum anderen die Zugehörigkeit zu
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bestimmen sozialen Schichten und die gesellschaftliche Teilhabe (vgl. Schneider 2011). Hinsichtlich geschlechterdifferenzierender oder auch -neutralisierender Aspekte untersucht bislang nur eine von Schößler und Haunschild durchgeführte empirische Studie, basierend auf 15 qualitativen Interviews mit Theaterpraktikern, die institutionellen Arbeitsbedingungen am Theater. Die Autoren kommen darin zum Schluss, dass Schauspielerinnen nicht allein durch das für Frauen geringere Rollenangebot an „klassischen Figuren“ benachteiligt sind, sondern die spezifische Situation flexiblen Arbeitens mit den weiterhin eher Frauen vorbehaltenen Fürsorgepflichten negativ korreliert. Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen offenbart die Institution Theater damit geschlechterdifferenzierende Anteile (vgl. Schößler/Haunschild 2011). Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang die derzeitig gegenteilige, abnehmende Tendenz männlicher Bewerber an deutschsprachigen Schauspielschulen (vgl. Zimmermann 2007). Das daraus resultierende Problem des Geschlechterproporzes auch über die Ausbildung hinaus verleitet Künzel zu der These, dass in Zukunft „crossgender-acting“ auf deutschsprachigen Bühnen zur dominierenden Darstellungspraxis avancieren könnte (vgl. Künzel 2011). Daraus resultierende Fragen an die Theater sind u.a. die folgenden: 1.) Welche Rolle spielt die spezifische Körperlichkeit der Akteure für eine Besetzungsentscheidung? 2.) Welche Zusammenhänge zwischen den Unterscheidungskategorien Geschlecht, Alter, Sexualität, Körper und gegebenenfalls anderen gesellschaftlichen Kategorisierungen wie Ethnizität oder Leistungsklasse fallen hierbei ins Gewicht? 3.) Auf der Basis welcher Kriterien werden cross-ethnic-Besetzungsentscheidungen getroffen – gibt es hier beispielsweise eine starke Ausrichtung an den (vermuteten) Erwartungen des Publikums? Welche Personen stehen zur Besetzung im Rahmen des institutionellen Theaters in Deutschland überhaupt zur Verfügung und inwieweit gibt es hier auf der gesamten Ebene der Produktion grundsätzliche, ethnisch differenzierende Eintrittsbeschränkungen? Inwiefern findet ethnische Differenzierung bereits in den Ausbildungsbetrieben statt?
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4.) Inwieweit wird die Problematik der mit der Ethnisierung von Figuren oftmals einhergehenden Stereotypisierung in der Probenarbeit reflektiert? Wie verlaufen die künstlerischen Dynamiken, wenn man einerseits ein „gleich-ethnisches“ und andererseits ein „ungleich-ethnisches“ Produktionsteam hat? Ist es Ziel des Probenprozesses, die Differenz zwischen Schauspieler und Rolle möglichst zu kaschieren oder wird daran gearbeitet, sie der Aufführung im Sinne einer Entdifferenzierung produktiv zu Nutze zu machen? 5.) Inwiefern reproduzieren und verfestigen die inszenatorischen und schauspielerischen Praktiken des deutschen Gegenwartstheaters diese Identitätskonstruktionen in Form von Stereotypen allabendlich? Mit Hilfe welcher konkreten Praktiken wird die dem Theater eigene performative Reflexion offen als solche ausgestellt und somit eine Unterbrechung, ein ZumVerschwinden-Bringen (zum kontextuellen Vergessen von Geschlechtskategorisierungen vgl. Hirschauer 2001) von Differenzen angestrebt?
L ITERATUR Baumbach, Gerda (2012): Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Bd. 1: Schauspielstile, Leipzig. Beilenhoff, Wolfgang (1991): „Licht – Bild – Gedächtnis“, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt am Main, S. 444-473. Butler, Judith (1990): Gender Trouble, Routledge [u. a.]. Butler, Judith (1997): The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Stanford (Calif.). Fiebach, Joachim (2002): „Theatricality. From Oral Traditions to Televised ‚Realities‘“, in: SubStance 31, No. 2/3, S. 17-40. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main. Goffman, Erving (1969): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München. Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main. Haunschild, Axel (2003): „Managing Employment Relations in Flexible Labour Markets. The Case of German Repertory Theatres“, in: Human Relations 56, S. 899-929.
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Hinz, Melanie/Roselt, Jens (Hg.) (2011): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, Köln. Hirschauer, Stefan (2001): „Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41, S. 208-235. Kotte, Andreas (2005): Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln, Weimar, Wien. Kreuder, Friedemann. (2010): Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts, Tübingen. Künzel, Christine (2011): „‚Die Kunst der Schauspielerin ist sublimierte Geschlechtlichkeit‘. Anmerkungen zum Geschlecht der Schauspielkunst“, in: Pailer/Schößler (Hg.): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam, New York, S. 241-254. Münz, Rudolf (1979): Das „andere“ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit, Berlin. Reckwitz, Andreas (2008): Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld. Roselt, Jens (2008): Phänomenologie des Theaters, Paderborn. Roselt, Jens/Weiler, Christel (Hg.) (2011): Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld. Schneider, Wolfgang (2011): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld. Schößler, Franziska/Haunschild, Axel (2011): „Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater. Eine empirische Studie“, in: Pailer/Schößler (Hg.): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam, New York, S. 255-270. Zimmermann, Hans-Christoph (2007): „Unter Reformdruck. Ein Blick auf die Folkwang Hochschule Essen und die Schule des Theater der Keller in Köln mit einem Streiflicht aus Zürich“, in: Theater der Zeit 53:3, S. 19-22.
Laboratorien der Gegenwart Welches Theater braucht Europa? I NGRID H ENTSCHEL
Der Sozialkontrakt, der ausgesprochene und unausgesprochene Konsens, über den Theater sich ihrer öffentlichen gesellschaftlichen Relevanz und in Bezug auf ihr Publikum sicher sein konnten, ist in Frage gestellt. Die Expansion der Neuen Medien, aber auch Ökonomisierung und Kommerzialisierung von Kultur, die dazu beitragen, dass Kultur sich als Wirtschaftsfaktor rechtfertigen muss, sowie die Markorientierung der Kulturpolitik sind Ausdruck dieses Bruchs und treiben ihn voran. Aber auch die Einwanderungsgesellschaft, in der wir faktisch leben, stellt Theater und Theaterfinanzierung in einen veränderten Kontext. Kultur- und Theaterförderung wird zunehmend mit „Aufträgen“ an die Künstler verbunden, ihre kulturelle und gesellschaftliche Nützlichkeit unter bestimmten Zielsetzungen zu erbringen. Dies nicht nur in lokaler, kultur- und bildungspolitischer, sondern auch in europäischer Hinsicht. Wenn über Theaterentwicklungsplanung gesprochen wird, wenn die Bundesrepublik und konkreter die Länder und Städte im Fokus der Debatte stehen, wenn das Verhältnis Freier Theater zu den Stadttheatern, das Verhältnis von Partizipation und Migration einer Neugestaltung unterzogen werden soll, dann schadet es nicht, den Blick zu erweitern und die Fragen der europäischen Integration und Identität Europas anzuschneiden und die Rolle des Theaters und der Theaterförderung dabei in den Blick zu nehmen. Was sich im Großen abzeichnet an Fragen und Problemen im Umgang mit kultureller Differenz und Diversität, mit Integration und Vergesellschaftung, und vor allem was über die Rolle des Theaters dabei zu sagen ist,
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kann ein Schlaglicht werfen auf die gegenwärtigen Debatten um Kulturund insbesondere Theaterförderung, die sich meines Erachtens mittlerweile zu stark mit quantitativen anstelle von qualitativen Größen befassen. Schließlich können es nicht Zuschauerzahlen und demografisch oder auch demokratisch verteilte Zugangsweisen sein, ebenso wenig wie ökonomische Faktoren, die Qualitätskriterien für Theaterstrukturen und Förderprogramme liefern. Ein Blick auf die historische Rolle der Theaterkunst unter dem Gesichtspunkt der europäischen Einigung und Identität – immerhin ist die EU im Jahre 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden – mag als Einspruch gegen allzu pragmatische Konzepte von Seiten der Kulturpolitik und des Kulturmanagements gelten.
T HEATERKUNST
UND EUROPÄISCHE I DENTITÄT
„Can Theatre save Europe?“ (Herzberg 2012) fragte Nathanael Herzberg im Guardian, als er die europäische Theaterkooperation „Prospero“, ein Programm zur Zusammenarbeit von Theatern in Europa, vorstellte. Etwas weniger pathetisch formuliert: Kann Theater das europäische Bewusstsein befördern, wie es die vielfältigen Förderprogramme der Europäischen Union vorsehen? Betrachtet man die Zielsetzungen der Kulturförderungsprogramme der EU, von Bund und Ländern – vom Programm der Kulturhauptstädte Europas bis zu den zahlreichen Festivals und Kooperationsprogrammen für Künstler – so kann man durchaus zu der Überzeugung gelangen, dass die Künste Wesentliches beizutragen haben zur Herausbildung eines so schwierigen Konstrukts wie der europäischen Identität. Setzt die EU zwar schwerpunktmäßig auf die Massenmedien wie den Film, der als Wirtschaftfaktor besondere und herausgehobene Förderung genießt1, so wird aber auch dem Theater eine nicht zu vernachlässigende Rolle im Prozess der europäischen Einigung zugesprochen.
1
Das Förderprogramm Kreatives Europa zielt auf Europas Kultur- und Kreativsektor mit dem dezidierten Ziel der Stärkung der Kreativwirtschaft und ist von daher vor allem auf audiovisuelle, also Film und Medienproduktionen ausgerichtet. (Vgl. Europäische Kommission 2012a)
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Ich zitiere beispielhaft aus zwei Programmen. „Prospero“, ein fünfjähriges europäisches Kulturabkommen sieht vor, dass sechs große Theater – in Deutschland ist die Schaubühne dabei – über fünf Jahre einen Austausch über Produktion, Ausbildung und Reflexion entwickeln. Prospero verfolgt das Ziel der „Schaffung eines lebendigen und kreativen europaweiten Theaternetzwerks, das aus der Verschiedenheit der Kulturen und dem Reichtum der Sprachenvielfalt schöpft.“ (Schaubühne am Lehniner Platz 2012) Weiter heißt es von Seiten der beteiligten Theater: „Kultur ist eine treibende Kraft der Gesellschaft. Die kulturelle Dimension sollte ein zentraler Bestandteil der europäischen Entwicklung sein und ein Antrieb der europäischen Einigung, die nicht nur notwendig, sondern auch wünschbar ist. Wie schon die Renaissance bewiesen hat, sind Künstler Botschafter der Menschheit. Sie können eine Reihe von Tabus aufgreifen und daran teilhaben, ein Europa der Kunst und Kultur aufzubauen, das demokratisch, sozial und weltoffen ist.“ (Ebd.)
Ziel von „Platform 11+“, einem Programm, das sich an Kinder zwischen elf und fünfzehn Jahren richtetet, „ist es, einen Beitrag zur Entwicklung europäischer Kompetenzen und eines europäischen Identitätsgefühls bei Künstlern und jungen Menschen zu leisten.“ (Europäische Kommission 2012b) Dreizehn Theater aus zwölf Ländern wirken unter dem Thema „Entdeckungen auf den Schulhöfen Europas“ (Ebd.) mit. Diese großen Zielsetzungen können sich auf eine Tradition berufen, hat doch Theatralität in der Geschichte eine nicht zu vernachlässigende Rolle für die Herausbildung europäischer Identität gespielt, wie jüngst ein Forschungsseminar am Teatro Real Madrid in Kooperation mit der Universität Salzburg unter Leitung von Michael Fischer untersuchte.2 Auch Erika Fischer-Lichte formuliert im Abschlussbericht des Forschungsverbunds „Theater und Fest in Europa. Zur Inszenierung von Identität und Gemeinschaft“ den Zusammenhang zwischen Theaterkunst und europäischer Identität (vgl. Fischer-Lichte 2012). Und nicht zuletzt kann Gudrun Quenzel in ihrer verdienstvollen Studie „Konstruktionen von Europa. Die Europäische Identität und die Kulturpolitik der EU“ die enge Verzahnung von Politik und Kultur zeigen (vgl. Quenzel 2005). Insgesamt wol-
2
Toledo-Vision. Kunst, Kulturalität und Toleranz als Einheit, Symposion mit Forschungsseminar, 19. bis 21.06. 2012, Teatro Real Madrid.
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len die Programme zur Kultur- und diesbezüglichen Forschungsförderung dazu beitragen, ein zentrales Manko der Europäischen Einigung auszugleichen. Sie fußen auf der Einschätzung „that the tragedy of Europe is that it built itself starting with the common market. If only we had started with culture.“ (Herzberg 2012) Wenn wir nur mit der Kultur begonnen hätten und nicht mit dem gemeinsamen Markt! Und paradoxerweise sind es gerade die kulturellen Festivals, die sich als eminent wirtschaftsförderlich im europäischen Raum auswirken – man denke nur an die Kulturhauptstädte, wie jüngst Istanbul. Ich will aber nicht den ökonomischen, nicht den quantitativen Aspekt, der uns heute in Zeiten der Ökonomisierung von öffentlichen Aufgaben, von Bildung, Sozialem und Kunst so vertraut ist, in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen, sondern auf das Verhältnis von Lokalität und Transkulturalität und Globalität abheben. Wie viel Theater braucht Europa? Dieser Titel ist natürlich polemisch gemeint, er will absichtlich pointieren: Wenn wir den kulturellen Einfluss künstlerischer Praxen in der Geschichte betrachten, so wird dieser Einfluss eben nicht durch Quantitäten, Zuschauerzahlen und berechenbare Partizipationsakten hergestellt. Denken wir beispielsweise nur an die Theaterkonzeption Antonin Artauds. Seine wenigen Aufführungen, eigentlich Performances im modernen Sinne, waren ein Desaster, kaum jemand hat sie zu sehen bekommen, dennoch zeitigen gerade die entgrenzten Theaterkonzeptionen dieses Visionärs bis heute nachhaltige Wirkungen. So die Uraufführung von Kleists Zerbrochenem Krug am Weimarer Hoftheater 1802, ökonomisch gesehen waren Stück und Inszenierung ein vollständiger Flop. Auch einige der berühmtesten Stücke Bertolt Brechts wurden zunächst von seiner Frau Helene Weigel mit einer Studentenbühne in Zürich aufgeführt. Auch im dänischen Exil waren es Studierende, die Brecht vor einer Handvoll Zuschauern auf die Bühne brachten, und seine Konzeptionen wirken bis heute weltweit fort.
E UROPÄISCHES T HEATER ZWISCHEN L OKALITÄT UND G LOBALITÄT Die europäischen Kulturkreise vereint durch das Theater, insbesondere die Tragödie, hatte Bernhard Zimmermann in seiner Studie „Europa und die griechische Tragödie“ formuliert (vgl. Zimmermann 2000). Heute sind es die Theaterfestivals in Avignon, Edinburgh, Recklinghausen, Athen, aber
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auch global ausgerichtete Festivalkonzeptionen wie jüngst „Foreign Affairs“ in Berlin, die Künstler aus unterschiedlichen Nationen und Kulturen mit einem sowohl lokalen wie internationalen Publikum zusammenbringen. Die großen europäischen Co-Produktionen gehören mehr und mehr auch zur heimischen Theaterlandschaft. Beim Berliner Theatertreffen, wo doch die „Best of“ der Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum gezeigt werden sollen, sind zunehmend englischsprachige Produktionen mit Partnern aus England, Belgien, Kopenhagen zu sehen. Diese Entwicklung wirft eine Reihe von Fragen auf: Bricht das Theater gegenwärtig mit dem ungeschriebenen Gesetz der Einheit von Lokalität und Universalität der Theaterkunst, das von der attischen Polis bis zum deutschen Stadttheatersystem galt? Beziehen sich solche Inszenierungen noch auf ein lokal gegenwärtiges Publikum oder schon auf den europäischen Bürger, den die Kulturförderung der EU anstrebt, wenn nicht gar den Bürger der Weltgesellschaft in Zeiten der Globalisierung? Sollte Europa überhaupt Bezugspunkt und Ziel von Theaterförderung und Theaterpolitik sein? Was ist das überhaupt – Europa? Wer, wo ist Europa? Wer gehört dazu? Was macht Europa aus? Bei näherer Betrachtung entzieht sich Europa wie die vom Stier entführte Europa, die der sozial-politisch-kulturellen-territorialen Konstruktion ihren Namen geben musste. Meint „Europa“ das geografische Territorium, die politischen Grenzen (EU-Erweiterung), die kulturellen Grenzen? Gehört Israel dazu, kulturell eindeutig ja, und wie steht es mit Georgien? Bei der Konzeption der Theater Biennale „Neue Stücke aus Europa“ 2012 in Wiesbaden entschied man sich dafür, die beiden letztgenannten Nationen unberücksichtigt zu lassen, wie die Juroren Tankred Dorst und Ursula Ehler erklärten. Die Entscheidung zwischen der Orientierung an den politischen oder an den kulturellen Grenzen bleibt schwierig, zumal wir ja auch einen europäischen Teil Russlands mit 100 Millionen Einwohnern haben. Europa, das ist – um eine Formulierung von Wolfgang Schluchter zu gebrauchen – „ein fluides Gebilde“ (Schluchter 2005: 240). Es ist eben keine historische Größe über die wir reden. „Europa, ist eine“, wie er ausführt, „von Teilnehmern und Beobachtern immer wieder von neuem ersonnene und ins Werk gesetzte Konstruktion.“ (Ebd.: 241) Europa ist eine, wie es Poncet formuliert „politisch-kulturelle Konstruktion, abhängig von den Interessen der Konstrukteure.“ (in Schluchter 2005: 240) In diesem Sinne wäre auch Identität als eine fluides bewegliches Gebilde zu beschreiben, das sich aus politischen, kulturellen, historischen Erfahrungen und Erzählun-
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gen3 zusammensetzt, und doch durch die wechselvolle Geschichte hindurch kohärente Merkmale aufweist, die sich Veränderungen gegenüber als äußerst resistent erweisen.
T HEATER
UND
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Seit der Antike sind theatrale Darstellungsformen Bestandteil der Politik. An der Wiege der europäischen Kultur steht nicht das europäische Theater, wie wir es heute verstehen. Am Beginn stand eine – zwar zeitlich begrenzte – Verschmelzung von Okzident und Orient, die einen Prozess der Aufklärung bis hin zum gegenwärtigen Europa ermöglichte, wurden die antiken Schriften und das antike Wissen doch durch die Araber und teilweise durch die Juden gerettet. In einem Konglomerat aus Orient und Okzident war es dann das antike griechische Theater, das mit seiner Abstraktion nicht nur westliches Denken, sondern auch extremes Fühlen in Szene setzte. Auf der Bühne erschien nicht das gesellschaftlich Botmäßige, nicht das Gezähmte, sondern das Ungeheure, und dabei ist die Tragödie nicht die Tragödie eines einzelnen, sondern sie wird – im Geschehen der Aufführung – zur Tragödie der Gemeinschaft. Der Chor ist es, der diese Erfahrung der gemeinsamen Betroffenheit ausdrückt. Seit der Antike wird das Theater als anthropologisches Medium entwickelt, das zugleich ein politisches Medium ist. Im Theater erfahren sich Schauspieler wie Zuschauer als zoon politikon, als gesellschaftliche Wesen, und zugleich behaupten sie ihre Individualität (wie an den antiken Helden bzw. Antihelden Ödipus und Antigone zu erfahren ist, vgl. Menke 2005). Theater, das ist im wörtlichen Sinne geteilte Erfahrung. Ich würde allerdings nicht so weit gehen wie Erika Fischer-Lichte, die bereits im Zusammenkommen zur Theateraufführung selbst einen politischen Akt er-
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„Identität [...] wird ‚erzählt‘, wobei die ‚Erzählung‘ selbst aus dem Diskurs der Gesellschaft hervorgeht und in Symbolen manifestiert wird, die dann wiederum die Ausrichtung der Erzählung bestimmen. Symbole einen; sie sind Mittel der Erkenntnis und des Bekennens, Mittel zur Beschwörung einer Gemeinschaft, repräsentieren sie doch eine gedanklich geschaffene Identität.“ (Zowislo 2000: 23)
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kennt und damit den Begriff des Politischen überaus weit aufspannt, sodass die Gefahr besteht, dass er seine Substanz einbüsst (vgl. Fischer-Lichte 2012). Aus der politischen Potenz der Theaterkunst erklärt sich die starke Zensur, die bis heute in bestimmten Staaten die Theaterkunst betrifft. Es ist die Form der öffentlichen Versammlung und die prinzipielle Deutungsoffenheit theatraler Zeichensysteme, die das Theater so gefährlich erscheinen lässt. Neben der formal fixierten Theaterkunst ist es Theatralität im weiteren Sinne und in verschiedenen Formen, die seit der Antike als ein fixer Bestandteil der „Politik“, als res publica zu beobachten ist. Das Zusammenwirken von Theater und Fest spielt in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften eine wichtige Rolle. Als öffentliche, performativ-theatrale Veranstaltungen waren beide an der Konstruktion, aber auch an der Reflexion und Infragestellung kultureller Identitäten Europas beteiligt. Es mag heute verwundern, aber historisch gesehen gab es Zeiten, in denen „Europäische Identität“ als Selbstverständlichkeit galt.4 Seit dem 15. Jahrhundert haben sich zwei aufeinander folgende Identitätskonzepte entwickelt: Europa als christliche Republik (in der Frühen Neuzeit) und Europa als Kultur (seit der Aufklärung). In beiden Fällen spielt die Konstruktion und Definition des Fremden und Anderen, des Nicht-Zugehörigen eine entscheidende Rolle, wie Wolfgang Schmale zeigen konnte (vgl. Schmale 2007). Getragen wurden diese Identitätsvorstellungen zu Anfang von einer kleinen alphabetisierten Bevölkerung, die quer durch Europa auf vielfältige Weise miteinander verflochten war und eine Art von „europäischem Demos“ darstellte.5
4
Das zeigt sich beispielsweise an der Kartografie. (Vgl. Schmale 2007)
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Auch Kritiker des Demos-Konzepts und des Begriffs der „europäischen Identität“ kommen nicht umhin, sich auf die Diskussion positiv zu beziehen. So beschließt beispielsweise Georg Datler seine kritischen Ausführungen mit der Feststellung: „Das Konzept europäische Identität hat Vorteile: Es führt mit, dass Visionen geteilt werden müssen, um Wirkung zu zeigen. Damit verweist europäische Identität auf das demokratische Verhältnis von Eliten zu Bürgerinnen und Bürgern. Schließlich gibt es ein pragmatisches Argument: Ein Diskurs über europäische Identität wird geführt. Es wäre fatal, sich in diesem Diskurs nicht zu äußern, weil Identität einen essentialistischen Beigeschmack hat, und damit je-
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Die höfischen, städtischen und kirchlichen Feierlichkeiten, die eng verknüpft waren mit theatralen Darbietungsformen, lieferten emotional erlebbare Bilder und Symbole. Diese betrafen sowohl die Stellung des Menschen in der Gesellschaft, die Geschlechterbeziehungen sowie die Beziehungen zum Transzendenten. „Der europäische Raum bildete sich – nicht zuletzt dynamisiert durch diese miteinander interagierenden Theater- und Festformen – als eine Art Netzwerk kultureller und ästhetischer Gemeinschaften heraus, das die kulturelle Identität des Kontinents entscheidend mitformte und -bestimmte“ , heißt es im Abschlussbericht des Forschungsprojekts „Staging Europe“6.
Kulturelle Symbolisierungen können als Deutungsangebote für die Grundfragen des Lebens, der Gesellschaft und Kultur an die Zeitgenossen verstanden werden (vgl. Hentschel 2011). Theater funktionierte bis zur Entwicklung der audiovisuellen Medien im 20. Jahrhundert als Medium der sinnlichen Vergegenwärtigung entfernter Welten. In den Formen, Stoffen und Inszenierungen wurden fremde Körper-, Denk- und Bildkulturen einem jeweils lokalen Publikum übermittelt, Geschichten und Traditionen neu interpretiert und dem jeweiligen Zeithorizont verbunden.
D IE O PER ALS M EDIUM DER „ SYMBOLISCHEN E RZEUGUNG DES POLITISCHEN R AUMS “ IN E UROPA Seit dem 16. Jahrhundert ist es vor allem die italienische Oper, die mit ihren fahrenden Ensembles, die quer durch Europa reisten, zum Austausch und zur Verbreitung neuer kultureller Deutungsmuster beitrug. Die Oper, einst ins Leben gerufen zur emotional intensivierten musikalischen Vergegenwärtigung antiker Tragödienkonzeptionen, war auch durch ihre musika-
nen die öffentliche Arena zu überlassen, denen dieser Beigeschmack gar nicht auffallen will.“ (Datler 2012: 61) 6
Weiterhin heißt es: „In ähnlichem Sinne strahlen die ästhetischen Festkonzepte von beispielsweise Richard Wagner und Max Reinhardt europaweit und bestimmen bis heute noch massiv und flächendeckend die vielgestaltige Festivallandschaft.“ (http://www.geschkult.fuberlin.de/e/khi/forschung/vortraege/arc hiv_vortraege_khi/ss_09/theater_und_fest_jahrestagung [01.01. 2012])
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lische Sprache dazu angetan, in den verschiedenen Ländern verstanden und genossen zu werden. Dabei konnte inzwischen in einzelnen Fallstudien gezeigt werden, dass die soziale Reichweite der Oper über die kulturellen Eliten hinausging und Elemente einer Popularkultur, die bisweilen bis zur Landbevölkerung reichte, annahm (vgl. Ther 2006). Dass sich hier bestimmte Frauenbilder ebenso etablierten wie ästhetische Pattern und Bilder des Dramatischen mag an dieser Stelle als Hinweis für die kulturelle Deutungsrelevanz dienen. Die Oper als eine eigene Form der Vergegenwärtigung der antiken Tragödie übernimmt die Aufgabe der „symbolischen Erzeugung des politischen Raums“ (Kleiner 2008: 141) in Europa, um eine Formulierung von Stefanie Kleiner zu benutzen. So formulierte beispielsweise Monteverdis Oper „L’incoronazione de Poppea“ 1642, die erste für ein öffentliches Haus geschriebene Oper, eine neue und individuelle Freiheit, die zum zukunftsweisenden Thema wird und Europa in der Folge prägt. Ein vierjähriges Projekt der „European Science Foundation“ konnte zeigen, dass die Oper bereits kurz nach ihrer Entstehung um 1600 eine ganz besondere Rolle als Angelpunkt europäischer Identität spielte. Sie transportierte Ansichten und Ideen und spiegelte eine ethisch-moralische Wertanschauung, die sich durch die Reisen von Künstlern und Förderern in ganz Europa verbreitete. Die Oper war der Faden, aus dem ein europäisches Netzwerk gesponnen wurde, wie es in der entsprechenden Verlautbarung heißt (vgl. Dubowy u.a. 2007). Michael Walter verdeutlicht in seiner Studie zur Oper als europäischer Gattung im 17. und 18. Jahrhundert wie vor allem mit der Ausbreitung der italienischen Oper ein „europäisches Bewusstsein der Höfe“ (Walter 2009: 17) entstand, wodurch ein gemeinsamer kultureller Raum geschaffen wurde. Nicht allein die Aufführung von Opern – unter Einsatz bestimmter musikalischer Mittel –, sondern auch der Diskurs über sie transportierte jenes europäische Bewusstsein, an das die Förderkonzepte der EU aktuell anschließen. Im Zusammenhang mit der Oper bildeten sich aber auch musikalische Metaphern für das „Nicht-Europäische“ (ebd.: 23) heraus wie beispielsweise die „Türkenopern“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. So gehört zum Selbstverständnis des weißen Mannes auch die Ausgrenzung anderer Hautfarben und Kulturen. Die gemeinsame Identität gründete auf dem Ausschluss des Fremden. „Die imperialistische Tradition des ‚Weißen Mannes‘ und sein Bestreben zum Ausschluß von Menschen mit anderer Hautfarbe erschuf einen Sinn für Ausschließ-
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lichkeit, f ür europäische Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt, auf dem sich europäische Identität (mit-)begründete und somit Einheit – zumindest teilweise – auf Vorurteilen basiert wurde. Diese negative Machtentfaltung gedieh auf einem AntiBild gemeinsamer Werte gegenüber von Europa auszuschließenden Charakteristika.“ (Zowislo 2000: 263)
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An dieser Stelle ist es nötig, einige Bemerkungen zu dem zu machen, was hier unter Identität in einem kulturellen, politischen und sozialen Sinn zu verstehen ist. Wenn von Identität im Horizont europäischen Denkens die Rede ist, so sind es im Wesentlichen drei zentrale Merkmale, die prägend geworden sind: Die monotheistischen Religionen, allen voran das Christentum, das den Weg zu Abstraktion und damit zu Wissenschaft und Technik befördert hat, sowie eine bestimmte Vorstellung von Freiheit und Individualität, die nicht zuletzt durch die antike Tragödie, das attische Theater mitgeprägt worden ist (vgl. Menke 2005). Gerhard Stamer wies darauf hin, dass Identität nicht etwas nur Positives ist, nichts was man sich programmatisch aussucht (vgl. Stamer 2005). Eine Identität bildet sich durch die Geschichte, geht hervor aus dem lebendigen Ganzen der Entwicklung, sie besteht aus Selbst- und Fremdwahrnehmung. Von daher drehen sich die Förderziele der EU um sich selbst, wenn sie sich nur an europäische Partner wenden, nicht aber die außereuropäische Fremdwahrnehmung einbeziehen wollen. Diese Kritik an der Kulturförderung formuliert auch Quenzel in ihrer detaillierten Studie (vgl. Quenzel 2005). Betrachten wir Europa nicht allein aus der innereuropäischen Perspektive, sondern in seinem Einfluss auf die gesamte Welt, dann bildet „Europa“ heute die Matrix einer wissenschaftlich, technisch, ökonomisch bestimmten Gegenwart. Lokal verankerte Bedeutungen von Religion, Ethik und Ästhetik werden zunehmend an den Rand gedrängt durch die historisch von Europa ausgehende Etablierung eines Weltmarkts mit der Verbindung von Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Naturbeherrschung. Europas Identität gründet auf wirtschaftlicher Expansion und Exklusion des Fremden. Aber Europa war von Anfang an – und wir müssen um die Ursprünge der Moderne zu begreifen, wie Whitehead sagte, nach Griechenland schauen – auch gekennzeichnet durch Gegenströmungen und Kritik an dieser
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Entwicklung (vgl. Stamer 2005). Die Kritik an der europäisch patriarchalen Kultur, am Christentum, am Kapitalismus, an Entfremdung und Naturbeherrschung, an der wissenschaftlichen Rationalität und Abstraktion, an der ökonomischen Expansion nahm von Europa aus ihren Ausgang. Man denke an die zentralen Schriften von Marx, Nietzsche, Freud, allesamt Konzepte der Selbstkritik europäischer Kultur. So gehört Kritik ebenso zum Selbstbild Europas wie die historische und gegenwärtige politische und kulturelle Hegemonie. In Europa entwickelt wurden aber auch Vorstellungen einer Autonomie der Kunst gegenüber religiösen, politischen kulturellen und wirtschaftlichen Bindungen. Die Freiheit der Kunst, ihr subversives und experimentelles Potenzial, bildet ein stetes Spannungsfeld mit den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Funktionen von Kunstinstitutionen und der Kulturpolitik.
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E TABLIERUNG
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K RITIK
Die Theater haben in Europa beide Funktionen angenommen: Theater half (und hilft) die jeweiligen Werte zu etablieren, Menschenbilder darzustellen und es ist Medium der Kritik an Herrschaft und Gewalt. Es artikuliert die gesellschaftlich opportunen ebenso wie die ausgegrenzten und unterdrückten Elemente der Kultur. Dabei ziehen sich – im Groben betrachtet – zwei Stränge durch. Theater wird auf der einen Seite in der Tradition von Vernunft und Aufklärung zur moralischen Anstalt, zur Bildungsstätte. Auf der anderen Seite bringt es im Gefolge des dionysischen Erbes die dunkle Seite der Kultur, das Irrationale zum Ausdruck, das was sich gesellschaftlich nicht einverleiben lässt. Dazu gehört radikale Herrschaftskritik, anarchische Komik ebenso wie Ekstase, Ritual, Experiment und Grenzüberschreitung. Ein Theater des Rausches, der Visionen, des Traums. Dieser Strang der Theaterentwicklung droht meines Erachtens zurzeit im Boom der Kulturellen Bildung und der Diskussion um den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Auftrag des Theaters unterrepräsentiert zu werden. Der Künstler fungiert zunehmend nicht als Verstörer und Aufstörer, sondern als der angestellte Agent in Sachen Bildung und Integration. Symptomatisch für diese Entwicklung scheint mir folgende Beobachtung zu sein: Nachdem Signa Köstler von der Performance Gruppe „SIGNA“ auf dem Künstlergipfel während des Theatertreffens in Berlin 2012 ein lei-
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denschaftliches Künstlermanifest (im Stil der klassischen Moderne) vorgetragen hatte, das die radikale Verausgabung bis hin zur Verschwendung künstlerischer Ressourcen von sich selbst und anderen Künstlern verlangte, formulierten junge Schauspieler im Schlussgespräch der Veranstaltung als wichtiges Anliegen und Resümee des Tages vor allem ihr Bedürfnis nach Kinderbetreuung im Theater – kaum aber radikales Kunstwollen.
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IM ZEITGENÖSSISCHEN
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In Zeiten von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder war es Peter Weiss’ Dokumentarstück Die Ermittlung: Oratorium in 11 Gesängen, das am 19. Oktober 1965 an 14 deutschen Bühnen und der Royal Shakespeare Company in London zeitgleich zur Uraufführung kam und im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden ist. Ein einmaliger Akt nationaler und europäischer Vergegenwärtigung von Gräueltaten und Verbrechen, die fortan als offizieller Bestandteil deutscher Identität akzeptiert werden müssen. Die Tragödie der Einzelnen, der Opfer und Zeugen, die in den aus den Auschwitzprotokollen komprimierten „Gesängen“ nach und nach enthüllt wird, ist in den einzelnen Aufführungen der „Ermittlung“ erfahrbar als die Tragödie der Gemeinschaft. Hier nahmen die Theateraufführungen gleichsam rituellen Charakter an. Im selbstzufriedenen Österreich, mit dem Theaterautoren wie Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard auf erklärtem Kriegsfuß standen und stehen, ist es Peter Handkes Stück „Immer noch Sturm“ – uraufgeführt 2011 während der für die kulturelle Identität Österreichs so bedeutsamen Salzburger Festspiele. Man denke an den Gründungsmythos der Festspiele von Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt, die im Ersten Weltkrieg verfeindeten Völker durch die Kunst zu versöhnen.7 Das Stück bringt die Thematik der Ausgrenzung der slowenischen Minderheit in den nationalen Diskurs ein, eine Ausgrenzung und Diskriminierung, die symptomatisch ist für die Verdrängung des negativen Erbes Europas, aber auch für die bis heute be-
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Angesichts des Ersten Weltkriegs stehen im „ersten Aufruf zum Salzburger Festspielplan“ (1919), formuliert von Hugo von Hofmannsthal, der Friede und der Glaube an Europa im Mittelpunkt. Es wird an den Europäismus in der Zeit von 1750 bis 1850 gemahnt.
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stehende Ausgrenzung des Ostens aus dem Gesamtgebilde Europa. Die innereuropäischen Exklusionen, die im 19. Jahrhundert bereits in Richtung Osten und dem Balkan stattgefunden haben, setzen sich bis heute fort (vgl. Schmale 2007). „Immer noch Sturm“ thematisiert in Form der Erzählung aus einer Familiengeschichte, was aus dem Identitätsdiskurs Europas ausgegrenzt worden ist und wird. Am Beispiel seiner slowenischen Vorfahren zeigt Peter Handke wie die slowenischen Partisanen aus Kärnten, die als einzige Gruppe im heutigen Österreich am aktiven Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligt waren, nach der Selbstständigkeit Österreichs unterdrückt und diskriminiert wurden, ja als Banditen und Terroristen verfolgt worden sind. Auch der Beitrag der Resistance zur Befreiung vom Hitlerfaschismus ist bis heute in der offiziellen Geschichtsschreibung unterrepräsentiert und fast ausschließlich in Form von Literatur, Theater (man denke an Sartres Stück „Tote ohne Begräbnis“ 1946) und Film thematisiert. Es war aber der Widerstand in den verschiedenen Ländern Europas, der praktisch zu einer Vernetzung Europas beigetragen hat und einen Europäismus propagierte.8 In „Immer noch Sturm“ wird in der kurzen zehntägigen Zeitspanne eines befreiten Europas ein andere Vision Europas entworfen, die bis heute Desiderat geblieben ist. „Dann ist der gute Frieden in einen bösen umgeschlagen […].“ (Handke 2012: 140). Der kalte Krieg hat neue Besatzer und neue Amtssprachen verfügt und im sogenannten Ortstafelstreit erst 2011 – nicht zuletzt unterstützt durch die öffentliche Resonanz auf Handkes Stück – zur Platzierung zweisprachiger Ortsschilder in Kärnten geführt. Ein Bild des Zusammenlebens der Völker formiert sich auch in Sidi Larbi Cherkaouis Tanztheateraufführung „Babel (words)“ (Uraufführung am 27. April 2010 in Brüssel). Im genialen Bühnenbild des bildenden Künstlers Anthony Gormey verbunden mit den Klängen des Musikethnologen Damien Jalet ist es die Vielfalt der Menschheit, sind es die vielen verschiedenen Darsteller unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft, die im beeindruckendem Bühnenbild das Auf und Ab der Menschheitsgeschichte symbolisieren. Dreizehn Performer und fünf Musiker aus dreizehn Ländern führen den Willen zur Verständigung, das Nebeneinander von Gemeinsam-
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Auf die Vernetzungsleistung des Widerstands macht Schmale 2007 unter Bezug auf die von Walter Lipgens veröffentlichten „Documents on the History of European Integration, Berlin-New York 1985“ aufmerksam.
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keit und Distinktion, von Nähe und Fremdheit vor. Im vielstimmigen Chaos der Sprachen stellen sie sich gegenseitig auf die Füße, holen sich herbei, halten sich an Händen, kommen sie immer wieder zueinander, es entsteht ein Tanz des Miteinander, der Gegenseitigkeit, der Bilder der Einheit des Verschiedenen und vor allem der Verbundenheit der Menschen untereinander, der existentiellen Angewiesenheit auf den Anderen. Die Einheit des Verschiedenen ist aber nicht nur Ziel europäischer Kulturpolitik, sie ist der Theaterkunst geradezu inhärent, wo sie diesen Namen verdient, weshalb ich Cherkaouis Tanztheaterinszenierung hier anführe, obwohl sie gerade nicht dezidiert auf Europa bezogen ist. Da Theater vor der Erfindung des Buchdrucks und der Bildmedien ein Medium der Vergegenwärtigung zeitlich und räumlich entfernter Erfahrungen war, ist das Fremde ihm eigen. Das internationale Forschungszentrum „Interweaving Performance Cultures“ an der Freien Universität Berlin hat begonnen, die Verflechtung der Theaterkulturen über die Kontinente hinweg in zahlreichen Projekten nachzuzeichnen (vgl. Freie Universität Berlin 2012). Theateraufführungen richten sich unvermeidlich an ein bestimmtes, jeweils hier und jetzt anwesendes Publikum, und gehen zugleich nicht nur in ihrem eigenen Traditionsbestand, sondern auch in ihrem Anspruch über diese Lokalität hinaus. Die Individualität und Besonderheit einer Figur auf der Bühne wird zum Zeichen. Auch dann wenn ein Nichtschauspieler, ein „Experte des Alltags“ auf der Bühne inszeniert wird, wie es jetzt so häufig in Dokumentarformaten nach dem Modell der Gruppe „Rimini Protokoll“ geschieht, greift die metaphorische Funktion der Bühne (über den Spielverlust in den Doku-Formaten des Gegenwartstheaters vgl. Hentschel 2010). Lokalität und Universalität beziehungsweise Transkulturalität sind zwei Seiten derselben Medaille.
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V ERLUST
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Der gesellschaftliche Konsens, der den Theatern bisher ihre Förderung und Finanzierung sicherte, steht gegenwärtig zur Debatte. Die kulturelle und ethnische Diversität in einer zunehmend durch Einwanderung und Migration geprägten Bevölkerung lässt das Thema Partizipation virulent werden. Gefragt wird: Wer, wie viele, wo und auf welche Weise partizipieren Menschen an den Produktionen des Kunst- und Kulturbetriebs, respektive des Theaters, von dem hier die Rede ist? Geantwortet wird auf die veränderten
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kultur- und gesellschaftspolitischen Gegebenheiten mit der Forderung nach Flexibilität, künstlerischer Innovation und gesellschaftlicher Vielfalt – die Auflösung etablierter Theaterstrukturen wird von beiden Seiten von Kulturpolitik und Künstlern diskutiert. Theater sollen sich flexibilisieren: ökonomisch und ästhetisch, auf immer neue Situationen und Anforderungen beweglich reagieren können und vor allem effektiv! Feste Häuser stören da. Freie Gruppen sollen keine eigenen kleinen Spielstätten mehr betreiben, sondern Ressourcen in Produktionszentren miteinander teilen. Zum flexiblen Menschen, wie ihn der Soziologe Richard Sennett beschrieben hat, gehört das MSEK, das Mobile Schauspielereinsatzkommando: für immer neue Aufträge der Kultur- und Bildungspolitik bereit (vgl. Sennett 1998). Der derzeit stark expandierende Bereich der Kreativwirtschaft, zu dem auch das Erfolgskonzept der Kulturhauptstädte Europas gehört, treibt die Vergesellschaftung einer Eventkultur voran, zu der immer neue Ortlose Produktionsteams gehören, Theaterteams, die allzu oft direktiv top-down zusammengestellt werden, in denen der einzelne Künstler seine Marktfähigkeit sicher stellen muss und vielfach jeder Chance auf Mitbestimmung beraubt ist. Zu fragen ist, ob diese neue vagabundierende (und was Europa betrifft, grenzüberschreitende) Kulturförderung, die analog zu den Wirtschaftsmodellen funktioniert, und effiziente innovative Produktionen mit beweglichen Ressourcen hervorbringt, wirklich die Alternative ist zum mittlerweile viel geschmähten Stadttheatersystem. Die Argumente sind bekannt: Flexibilität, künstlerische Innovation und Vielfalt werden zur Begründung der Produktionszentren angeführt. Auf der anderen Seite ist eine Angleichung von Ästhetiken und Theatersprachen zu beobachten, in der kulturelle Individualität auf der Strecke zu bleiben droht. Im Gespräch über die europäische Theaterbiennale, das ich im Vorfeld dieses Beitrags mit Ursula Ehler und Tankred Dorst geführt habe, beschrieben mir die beiden, die seit Jahren durch das immer größer werdende Europa reisen, wie viele der Inszenierungen und Stücke schon im Hinblick auf die europäischen Festivals und Förderprogramme produziert werden und deshalb auf ihre Heimatsprachen zugunsten des Englischen verzichten und (vor allem in Osteuropa) nicht mehr für ein lokales Publikum produzieren, sondern für einen westeuropäisch dominierten Markt mit Aussicht auf einen westlich dominierten globalen Markt.
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Mit Blick auf die europäische Integration und Identität, und weiter mit Blick auf die Weltgesellschaft mag die Annäherung der Theatersprachen und Ästhetiken positiv zu bewerten sein. Es sind aber auch Verluste zu bilanzieren: Verloren geht möglicherweise das Unverwechselbare, verloren geht Singularität, verloren gehen Verhältnisse, die geprägt sein können von Wechselseitigkeit, gemeinsamen Lernprozessen, von Akzeptanz und Verantwortung, von Lokalität und Kontinuität. Anstelle von Modulsystemen wäre Entwicklung zu fördern, anstelle von Projektförderungen Grundförderungen, anstelle von Effizienzmessungen (beschönigt als Evaluation) Vertrauen und die Akzeptanz des Scheiterns. Ohne Fehler, Irrwege (sie gehören zum Experiment, das ist aus der Bildungsforschung bekannt) können sich keine lebendigen Entwicklungsprozesse vollziehen. Ästhetische Qualität ist nicht von oben und vom grünen Tisch aus operationalisierbar und planbar.
T HEATERLABORATORIEN ALS O RTE DES A USTAUSCHS UND DER W ECHSELSEITIGKEIT – OHNE A UFTRAG In diesem Zusammenhang wäre an ein Modell zu erinnern, das beides vereint: Kontinuität an einem Ort und Transkulturalität, multikulturelle Ensembles (im „Ensemble“ steckt das Wort zusammen, gemeinsam!) und feste Orte: die Theaterlaboratorien, die wir in verschiedenen Ausprägungen aus dem 20. Jahrhundert kennen. Theaterlaboratorien – ich denke an das Moskauer Künstlertheater mit Stanislawski, Meyerhold, Wachtangow, an die Studiotheater der Perestroika, an Ariane Mnouchkines Theatre du Soleil, an Jerzy Grotowskis Theaterlaboratorium in Wrozlaw und später Pontedera, an das Odin Teatret, das bis heute mit seiner International School of Theatre Anthropology weltweit ausstrahlt, an Peter Brooks Bouffes du Nord (Centre de Recherches Theatrales – CIRT) in einem Vorort von Paris, oder das Staniewski Centre for Theatre Practices Gardzienice in einem kleinen Ort in Polen mit internationaler Ausstrahlung (vgl. Hodge 1999), aber auch an die Societas Raffaello Sanzio mit Roberto Castellucci, die ihren Ausgang als Familienunternehmen in einem kleinen italienischen Dorf in der Nähe Cesenas genommen hat, abseits und unbeachtet und ungestört vom vagabundierenden Kulturbetrieb. Theaterlaboratorien sind Orte der Innovation, Orte der Beharrung, des Austauschs, der Kommunikation und der
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Identität. Hier sind Ensembles länger zusammen als für die jeweilige Produktion. Hier entwickeln sich im besten Sinne Theater als Anthropologische Orte wie Marc Augé sie im Kontrast zu den Nicht-Orten der Einkaufszentren und sinnentleerten urbanen Transitzonen beschrieben hat (vgl. Augé 2010). Eben nicht multinationale Produktionszentren mit konkurrierenden Probenzeiten und wechselnden Teams. Wenn also in Städten die Häuser freier Gruppen zugunsten von Produktionszentren aufgelöst werden sollen, dann wäre zu bedenken, ob nicht gerade lokal verankerte Theaterensembles etwas beitragen können zur Erweiterung unserer Identität, nicht als Lokalpatrioten, nicht als Europäer, sondern als Weltbürger, die hier und heute Theater für ein bestimmtes Publikum machen, dem sie sich verbunden fühlen können und mit dem sie die Erfahrung von Fremdheit, die Differenzerfahrung, die essenziell zu ästhetischen Erfahrungsprozessen gehört, teilen können. Das müssen nicht nur Ensembles mit internationaler Ausstrahlung sein, ich habe nicht nur Festivalmagneten im Blick, sondern auch kleine Bühnen im ländlichen Raum, die an einem festen Ort für diejenigen und mit denjenigen Theater machen, die in ihrer Umgebung leben. Theater, die nicht gezwungen sind, sich mit vielen anderen Theatern zu vernetzen, um Produktionsgelder zu bekommen, Theater, die Nahbeziehungen zu ihrem Publikum unterhalten. Warum sollten nicht auch gerade sie, die vor Ort tätig sind, beitragen zu dem was als europäische Identität, als die Einheit der Vielheit in der Kulturförderung, beschworen wird? Welches Modell auch immer: Internationale Theaterlaboratorien, lokale Zentren oder vagabundierende Performancetruppen oder Stadttheater: Die kulturpolitische Rhetorik des „Auftrags“, die sich jetzt viele Künstler zu Eigen machen, mit der inflationären Verwendung der Vokabeln „man“, „müssen“, „sollen“, „überprüfen“, „erfüllen“ ist als kunstfremd zu hinterfragen. Eine geordnete und gezähmte Kunstlandschaft, die im Zuge der Ökonomisierung öffentlicher Aufgaben zu entstehen droht, ist ein Widerspruch in sich. Künste, die aus Intuition und Spontaneität leben, brauchen Chaos. Förderrichtlinien benötigen Augenmaß für die Widerständigkeit und Freiheit der Künste. Die Qualität von Theater bemisst sich nicht danach wie viele Zuschauer aus welchem Stadtteil und welcher Bevölkerungsschicht und Herkunftskultur erreicht werden – auch wenn diese Gesichtspunkte nicht zu verachten sind. Theater dient nicht in erster Linie der Erfüllung von Zielvereinbarungen, sondern der Erforschung des menschlichen Zu-
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sammenlebens und der miteinander geteilten Erfahrung. Weil Theater ohne Publikum gar nicht geht, ist für Resonanz gesorgt (auch ohne amtlich bestellte Evaluatoren, die zunehmend als Kontrollinstanz fungieren). Uns selbst erkennen können wir nur durch das Andere, dem Eigenen werden wir durch das Fremde gewahr. Theater ist ein geeignetes Medium dafür – die Konfrontation mit dem Fremden gibt es nicht erst seit Brechts Verfremdungseffekt. Europa kann sich nicht finden, wenn es – wie Förderprogramme der EU nahe legen – um und in sich selbst kreist. Die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist unerlässlich. Die „Fremden“ finden sich bereits im Innern unserer Gesellschaft. Sie wohnen schon im Hause. Lassen wir sie ins Theater!
L ITERATUR Augé, Marc (2010): Nicht-Orte, Neuauflage mit einem Vorwort, München. Baumgärtner, Ester (2009): Lokalität und kulturelle Heterogenität. Selbstverortung und Identität in der multi-ethnischen Stadt, Bielefeld. Brauneck, Manfred (2012): Europas Theater. 2500 Jahre Geschichte – eine Einführung, Frankfurt am Main. Datler, Georg (2012): „Das Konzept der Europäischen Identität jenseits der Demos-Fiktion“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2012, Bonn, S. 57-61. Dubowy/Herr/Zórawska-Witkowska (Hg.) (2007): Italian Opera in Central Europe. 1614-1780, Vol 3: Opera Subjects and European Relationships (= Musical Life in Europe 1600-1900, Mahling u.a. (Hg,), Vol. 6), Berlin. Europäische Kommission (Hg.) (2012a): „Kreatives Europa: Förderprogramm für Europas Kultur- und Kreativsektor ab 2014“, http://ec.euro pa.eu/culture/creative-europe/index_de.htm [01.12.2012]. Europäische Kommission (Hg.) (2012b): „Plattform 11+“, http://www.plat form11plus.eu [01.12.2012]. Fischer-Lichte, Erika (2012): „Interweaving Cultures in Performance: Different States of Being In-Between“, http://www.textures-platform.com/ ?p=961 [01.12.2012]. Freie Universität Berlin (Hg.) (2012): „International Research Center ‚Interweaving Performance Cultures‘“, http://www.geisteswissenschaften.f u-berlin.de/v/verflechtungen/index.html [12.10.2012].
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Vermittlung entwickeln
Theater muss – „gut“ sein Wider falsche Selbstgewissheiten A RMIN K LEIN
Theater und Publikum konstituieren sich gegenseitig: Was soll eine Aufführung, die niemand sieht, ein Angebot, das keiner nachfragt? Als vor rund zwanzig Jahren eine Werbeagentur für den Deutschen Bühnenverein den grobkörnigen Slogan „Theater muss sein“ kreierte, reagierte der seinerzeitige Intendant der Münchner Kammerspiele, Dieter Dorn, auf ironische Weise: In Form einer einfügenden Korrektur ergänzte er das Wort „gut“. Dies berichtet der damalige Referent für Öffentlichkeitsarbeit und verantwortliche Redakteur der Zeitschrift „Die Deutsche Bühne“ Wolfgang J. Ruf. Dieses kleine Wörtchen ist indes der Unterschied ums Ganze. Denn der bis heute propagierte lapidare Spruch richtet sich nach außen: an die Gesellschaft, den Staat, den oder die Träger (und provoziert unnötigerweise die logische Gegenfrage: „Warum eigentlich“?). Der Appell „muss gut sein“ geht dagegen nach innen, an die Theater selbst: Lasst uns so gut wie möglich sein, um unser Publikum zu finden, zu begeistern und dauerhaft an uns zu binden. Der Slogan „Theater muss sein“ (und der damit implizit verbundene permanente Appell an den „Kulturstaat Deutschland“) erinnern fatal an jene Überlegungen des großen Münchner Komikers Karl Valentin: „Woher diese leeren Theater? Nur durch das Ausbleiben des Publikums. Schuld daran – nur der Staat. Warum wird kein Theaterzwang eingeführt? Wenn jeder Mensch in das Theater gehen muss, wird die Sache gleich anders. Warum ist der Schulzwang eingeführt? Kein Schüler würde die Schule besuchen, wenn er nicht müsste. Beim
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Theater, wenn es auch nicht leicht ist, würde sich das unschwer ebenfalls doch vielleicht einführen lassen. Der gute Wille und die Pflicht bringen alles zustande.“ (Valentin 1969: 47)
Bezeichnenderweise tragen diese Überlegungen den ironischen Titel „Zwangsvorstellungen“. Theater kann nur existieren mit und für das Publikum, es allein entscheidet letztlich über seine Existenz und seinen Fortbestand – im direkten Sinn (als Besucher) ebenso wie im indirekten (als Steuer- und damit Subventionszahler). Und die Besuchszahlen sinken: Zählten die öffentlich getragenen Theater in der Spielzeit 1991/92 noch 22.044.216 Besuche, so waren es 2010/11 nur noch 20.957.551, also ein Rückgang um 1.089.665, d.h. fast fünf Prozent. Noch schwieriger ist die Situation, betrachtet man nur das Schauspiel. Waren es hier in der Spielzeit 1991/92 noch 6.114.293 Besuche, so wurden 2010/11 nur noch 5.310.407, also 803.386 bzw. 13 Prozent Besuche weniger gezählt (vgl. Deutscher Bühnenverein 1993 bzw. 2012). Ohne Zweifel: Seit zwei Jahrzehnten haben es die öffentlichen Theater in Deutschland schwer, werden zunehmend Legitimationsfragen gestellt. Es häufen sich seit Mitte der 1990er Jahre einschlägige Publikationen, kritisch und selbstkritisch (ver)zweifelnde Veröffentlichungen mit Titeln, die fragen „Wozu das Theater?“ (Fest 1981), „Was soll das Theater?“ (Kulturpolitische Mitteilungen 1995), „Warum wir das Theater brauchen“ (Iden 1995), „Wohin treibt das Theater?“ (Stadelmaier 2004) und „Wer liebt schon das Theater!“ (Beil 1997) und schließlich wird resigniert festgestellt „Mephisto ist müde“ (Schöne 1996). Und selbst der Deutsche Bühnenverein sah sich vor einiger Zeit genötigt, in einer kleinformatigen Schrift seinen Slogan umzukehren und zu fragen: „Muss Theater sein?“ (Deutscher Bühnenverein 2003). Es ist etwas passiert mit dem über 250 Jahre gewachsenen Theatersystem in Deutschland, auf das dieses Land so stolz ist, dass es mancher gar unter Denkmalschutz stellen will. „Eigentlich ein Fall für das immaterielle UNESCO-Welterbe“ (Neumann 2012), so Staatsminister Neumann wörtlich zur Eröffnung des Theatertreffens in Berlin im Jahr 2012. Doch was ist das für ein verqueres, bürokratisches Verständnis von lebendigem Theater? Wird doch unter Denkmalschutz immer dann etwas gestellt, wenn es vom Aussterben bedroht ist, wenn es aus sich heraus keine Kraft zum Bestand mehr hat. Doch ist Denkmalschutz die Rettung eines lebendigen, insbeson-
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dere entwicklungsbereiten und -fähigen Theatersystems, in das jedes Jahr immerhin über zwei Milliarden Euro, rund 33 Prozent aller öffentlichen Kulturausgaben fließen?
D ER V ERLUST
DER GROSSEN
E RZÄHLUNG
Was ist passiert? Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2009 konstatierte der Autor Daniel Kehlmann in seiner mittlerweile berühmten Philippika gegen das sogenannte „Regietheater“: „Bei uns ist etwas Absonderliches geschehen. Irgendwie ist es in den vergangenen Jahrzehnten dahin gekommen, dass die Frage, ob man Schiller in historischen Kostümen oder besser mit den inzwischen schon altbewährten Zutaten der sogenannten Aktualisierung aufführen solle, zur am stärksten mit Ideologie befrachteten Frage überhaupt geworden ist. Eher ist es möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten, eher darf man Jörg Haider einen großen Mann oder George W. Bush intelligent nennen, als leise und schüchtern auszusprechen, dass die historisch akkurate Inszenierung eines Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen.“ (Kehlmann 2009)
Und weiter: „Spricht man mit Russen, mit Polen, mit Engländern oder Skandinaviern, die deutschsprachige Lande besuchen und hier ins Theater gehen, so sind sie oft ziemlich verwirrt. Was das denn solle, fragen sie, was denn hier los sei, warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und SpaghettiEssen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei? Ob das denn staatlich vorgeschrieben sei?“ (Ebd.)
Und mit Blick auf das Publikum schließt Kehlmann: „Und unterdessen bleibt der Großteil der interessierten Menschen, die einstmals Publikum gewesen wären, daheim, liest Romane, geht ins Kino, kauft DVD-Boxen mit den intelligentesten amerikanischen Serien und nimmt Theater nur noch als fernen Lärm wahr, als Anlass für wirre Artikel im Feuilleton, als Privatvergnügen einer
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kleinen Gruppe folgsamer Pilger, ohne Relevanz für Leben, Gesellschaft und Gegenwart.“ (Ebd.)
Kehlmann steht nicht alleine – die große Differenz zwischen dem, was einerseits auf der Bühne geschieht, und den Erwartungen des Publikums andererseits wurde und wird in nahezu allen Feuilletons seit Jahren thematisiert. Der Theaterkritiker der ZEIT, Gerhard Jörder brachte diese Entfremdung zwischen Bühne und Publikum schon vor einiger Zeit auf den Punkt: „Es ist schon eigenartig mit dem Theaterpublikum. Ist es da, interessiert sich keiner dafür. Bleibt es weg, sprechen alle von ihm. Erst wenn es sich verweigert, ist es wieder wer. Ein ‚Phänomen‘. Ein Problemfall. Jetzt ist es wieder wer. Und nicht mehr nur eine Art besseres Bühnenzubehör.“ (Jörder 2001) Man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen – „besseres Bühnenzubehör“! Selbst dem Sprechtheater durchaus wohlgesinnte Theaterkritiker der großen Tages- und Wochenzeitungen (als Beleg dieser „Wohlgesinntheit“ lese man nur das emphatische Buch von Gerhard Stadelmaier (1993) „Letzte Aufführung. Eine Führung durchs Theater“) werden nicht müde, den Theatern immer drängender Aufführungen abzufordern, die ihr Publikum tatsächlich auch erreichen. Diese Kritiker beklagen nahezu einhellig die Selbstbezüglichkeit der Regisseure und Dramaturgen. Gerhard Stadelmaier bringt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Situation auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Theaterleute tun so, als sei das Geld, das sie erhalten, eine Privatressource, dazu da, ihren privaten Neigungen und Vorlieben aufzuhelfen. Keiner realisiert, dass es das Geld der Steuerzahler, der Allgemeinheit, der Bürger ist, das sie verteilen und verbrauchen für eine Kunst, die den Bürgern etwas spielerisch, phantastisch über diese selbst zu sagen hätte, was die Bürger noch nicht über sich wussten. Man tut aber hier so, als wüssten die Bürger schon alles über sich und dürften sich im Theater zu recht langweilen“ (Stadelmaier 1996).
An anderer Stelle bringt Stadelmaier die Legitimationsfrage ins Spiel: „Das Theater zeigte in den Jahrhunderten bisher wirklich, was in Wirklichkeit nicht ist: Es tat immer noch nur so, als ob. Und machte mit dem Spiel Ernst. Und schuf daraus neues Leben, zeigte einer Welt und einer Gesellschaft das, was über Welt und Gesellschaft hinausgeht. Und das konnten und mussten Welt und Gesellschaft zu
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Recht subventionieren: als Zinsvorschuss aufs Kapital einer Gegenwelt. Jetzt aber geht das Theater vermehrt dazu über, sich mit der Wirklichkeit zu verwechseln beziehungsweise mit dem, was, so die obszöne Regisseursfloskel, ‚mich daran interessiert‘. Was aber jemanden persönlich, privat interessiert, bedürfte eigentlich keiner öffentlichen Subvention. […] Theater, die ihre Stadt und ihr Publikum so lange mit Privatmarotten und Selbstbespiegelungen provoziert und also zu Tode gelangweilt haben, dass weite Teile der Gesellschaft eben auch ins Achselzucken der Theaterleute mit eingefallen sind: Sie wenden sich vom Theater ab. Es steht bis weit in aufgeschlossene, neugierige, fortschrittliche, bürgerliche, kulturtragende Kreise hinein zur Disposition.“ (Ebd.)
Der Theaterregisseur Claus Peymann drückt es deftiger so aus: „Es ist immer das Problem, das die Autoren mit ihrer Großmutter haben oder dem Papi oder ihrem Pimmel. Der große komplexe Griff, dass Theater aus der Mitte der Gesellschaft in diese hineinschlägt, das ist völlig abhanden gekommen.“ (Peymann 2009)
In gleichem Ton schreibt der Theaterkritiker der Frankfurter Rundschau, Peter Iden, unter der Überschrift „Willkürlichkeit als Prinzip“: „Nicht um die Provokation des Zuschauers durch das Geheimnis, das den großen Werken eigen ist, geht es noch, vielmehr werden wir immer häufiger beschäftigt mit der Enträtselung von freischwebenden, an keinen Text mehr gebundenen Erfindungen der Theatermacher. Dabei ist, was sie an beliebigen Zutaten produzieren, zunehmend Ausdruck einer eitlen Selbstreferenz. Wer einer besonders krassen Seltsamkeit nachfragt, wird gelegentlich vorwurfsvoll darauf hingewiesen, das Selbstzitat aus der vorausgegangenen Aufführung des Regisseurs offenbar nicht erkannt zu haben.“ (Iden 2004: 79)
Die Folgen sind schon unmittelbar spürbar. „Trotz ihrer eindrucksvollen Präsenz werden die Theater nur von einer Minderheit angenommen, während die Mehrheit der Nichttheatergänger zunehmend murrt und immer weniger Verständnis dafür aufbringt, dass sie mitbezahlen muss, was nur einer Minderheit Spaß macht“ (Brembeck 2002), schreibt etwa die Süddeutsche Zeitung. Weiter heißt es:
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„Dass die Theatergänger nicht an Notwendigkeit und Sinn der Theater zweifeln, versteht sich von selbst. Doch mittlerweile geht es aus existenziellen Gründen vor allem darum, den Nichttheatergängern vor Augen zu führen, warum Theater notwendig ist. Zu den Nichttheatergängern muss man dabei die geistigen Eliten des Landes zählen, auch die Politiker und die Jungen. Dass es dem Theater immer weniger gelingt, diese Kreise anzusprechen, ist ein Alarmzeichen.“ (Ebd.)
Inhaltliche Akzeptanz und (kultur-)politische Legitimation stehen in einem engen Verhältnis. Peter Iden beklagt, dass „nicht leere Kassen“, sondern „die Haltlosigkeit das Problem gegenwärtiger Theaterarbeit“ ist: „Die wachsende Finanznot verschärft den Legitimationsdruck: Vielerorts machen es die Theaterleute den Politikern leicht, sich ihren Verpflichtungen zum Erhalt der Bühnen zu entziehen. Sie reproduzieren damit nur, was manche Theater ihnen an Haltlosigkeit selbst vor Augen führen.“ (Ebd.) Es geht also um eine Auseinandersetzung ums Ganze.
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P UBLIKUM
Bühnengeschehen und Publikum sind im Theater seit seiner Entstehung aufs Engste verwoben; sie konstituieren sich in der „öffentlichsten“ Kunstform seit ihren allerersten Anfängen stets gegenseitig. Für das antike Griechenland hat der Historiker Christian Meier in seiner Studie „Die politische Kunst der griechischen Tragödie“ (Meier 1988) überzeugend herausgearbeitet, welche politische Funktion die Tragödie angesichts des „raschen, reißenden Wandels“ für die „mentale Infrastruktur“ der griechischen Polisbewohner vor dem Hintergrund der Perserkriege übernahm. Er konstatiert: „In der Tragödie traf sich herkömmliches, mythisches Denken mit neuer Rationalität, Volkskultur mit Hochkultur“. Und er fragt: „Könnte sie [die Tragödie, Anm. des Autors] nicht dazu gedient haben, immer wieder am Mythos durchzuspielen, was die Bürger als Bürger beschäftigte?“ (Ebd.: 9) Meier folgert: „Die Tragödie wäre dazu da gewesen, das Neue immer wieder im Alten durchzuspielen, mit dem Alten zusammenzudenken – und damit zugleich alte Zweifel, die dunklen Aspekte der Wirklichkeit wach zu halten und in einer neuen Form in die neue Welt einzubringen, mithin für die Fortbildung jenes Wissens, auf das Men-
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schen sich zu beziehen pflegen, anders gesagt: für das mentale Unterfangen der Politik zu sorgen.“ (Ebd.: 52)
Jürgen Habermas („Strukturwandel der Öffentlichkeit“) und Peter Szondi („Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert“) haben auf überzeugende Weise dargelegt, wie sich in der neu entstehenden Darstellungsform des Bürgerlichen Trauerspiels das Bürgertum als „räsonierendes“, also als „vernünftelndes“, d.h. Argumente austauschendes Publikum, als neue Schicht gegenüber dem höfischen Adel etablierte: Gegen die „höfische Öffentlichkeit“ setzt es – vor allem mit Hilfe des Theaters – die explizit „bürgerliche Öffentlichkeit“, die nicht repräsentiert, sondern argumentiert. Diese lässt sich „als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute begreifen; diese beanspruchen die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit alsbald gegen die öffentliche Gewalt selbst, um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinander zu setzen.“ (Habermas 1976: 187)
Auch hier – wie im antiken Griechenland – ist das Theater also die quasi spielerische (Vor-)Form der eigentlichen politischen Auseinandersetzung: „Noch bevor die Öffentlichkeit der öffentlichen Gewalt durch das politische Räsonnement der Privatleute streitig gemacht und am Ende ganz entzogen wird, formiert sich unter ihrer Decke eine Öffentlichkeit in unpolitischer Gestalt – die literarische Vorform der politisch fungierenden Öffentlichkeit. Sie ist das Übungsfeld eines öffentlichen Räsonnements, das noch in sich selber kreist – ein Prozess der Selbstaufklärung der Privatleute über die genuinen Erfahrungen in ihrer neuen Privatheit.“ (Ebd.: 42; Hervorhebung durch den Autor)
Lässt sich – so wäre zu fragen – möglicherweise die eingangs skizzierte Entfremdung des Publikums vom (öffentlichen) Theater interpretieren als eine fundamentale Veränderung dessen, was wir gewohnt sind, „Öffentlichkeit“ zu nennen? Und wandelt sich unter Umständen daher auch das Publikum ebenso radikal? Und weiter: Formiert sich u.U. an anderer Stelle „eine Öffentlichkeit in unpolitischer Gestalt“, die noch nach ihrer politischen Sphäre sucht?
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F LIEHKRÄFTE DER GESELLSCHAFTLICHEN V ERÄNDERUNG : D EMOGRAFIE UND D IGITALISIERUNG Seit den letzten zwei, drei Jahrzehnten fegt ein Veränderungssturm durch die westlichen Industriegesellschaften, der mit Bezeichnungen wie „Individualisierung“, „Globalisierung“, „Risikogesellschaft“, „Multioptionsgesellschaft“, „Zweite Moderne“, „Postmoderne“ usw. versucht wird, auf den Begriff zu bringen. Dabei spielen insbesondere zwei Fliehkräfte eine besondere Rolle, die die Gesellschaften ganz grundsätzlich veränderten und weiter verändern werden: die Demografie und die Digitalisierung. Beide haben bereits Zusammensetzung und Rezeptionsverhalten des Publikums weit reichend verändert. Unter dem eingängigen Slogan „Weniger, älter, bunter“ wird versucht, den demografischen Wandel in Deutschland auf eine eingängige Formel zu bringen. Angesichts einer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stetigen Wohlstandsvermehrung und dank permanent verbesserter medizinischer Betreuung steigt die Lebensdauer und werden die Menschen in Deutschland immer älter. Bereits Ende der 1980er Jahre benannte die wissenschaftliche Demografie-Forschung eine ganze Reihe einschlägiger Faktoren für diese signifikante Veränderung, wie z.B. eine Zunahme der Lebenserwartung, ein ständig wachsender Anteil älterer Menschen, ein wachsender Anteil Hochbetagter und über 100-Jähriger (Hochaltrigkeit, alte Alte), veränderte Relationen der Altersgruppen (Veränderung der sogenannten „Bevölkerungspyramide“), Rückgang der Drei-Generationen-Haushalte und gleichzeitig eine Zunahme der Ein-Generation- und Ein-Person-Haushalte (Singles), eine Zunahme der Vier- und Fünf-Generationen-Familien usw. Ein weiterer wichtiger Aspekt des demografischen Wandels ist die Migration. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hatten im Jahr 2011 15,96 Millionen der insgesamt 81,75 Millionen Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund (Zugewanderte und ihre Nachkommen) – im Jahr 2005 lag die Zahl noch bei 14,8 Millionen. Von den 15,96 Millionen Personen mit Migrationshintergrund waren 8,77 Millionen Deutsche und 7,19 Millionen Ausländer (54,9 bzw. 45,1 Prozent). Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung lag im Jahr 2011 bei 19,5 Prozent, 2005 betrug er noch 17,9 Prozent. Dieser Anstieg speist sich aus zwei Quellen: Von 2005 bis 2011 ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund durch Zuzug und Geburten um 1,18 Millionen angewachsen
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und die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund um 1,34 Millionen zurückgegangen. Das Wachstum ist vor allem auf den Anstieg der Zahl der deutschen Staatsbürger mit Migrationshintergrund zurückzuführen. Als Menschen mit Migrationshintergrund definiert das Statistische Bundesamt die Personen, „die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländerinnen und Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem Elternteil, der zugezogen ist oder der als Ausländerin bzw. Ausländer in Deutschland geboren wurde“ (Statistisches Bundesamt 2012: 66).
Die obigen Zahlen sind allerdings der Gesamtdurchschnitt Deutschlands; in einigen Großstädten ist der Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund heute wesentlich höher. In Stuttgart sind es beispielsweise 38,9 Prozent der Einwohner, in Frankfurt/Main 37,6 Prozent, in Nürnberg 36,1 Prozent. Bei den unter 5-Jährigen liegt der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in sechs Städten über 60 Prozent, so in Nürnberg (67 Prozent), in Frankfurt/Main (64,6 Prozent), in Düsseldorf (63,9 Prozent) und in Stuttgart (63,6 Prozent). Auf Gemeindeebene gilt, dass je größer die Einwohnerzahl der Gemeinde ist, desto größer tendenziell auch der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung ist. Während der entsprechende Anteil im Jahr 2011 in den Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern durchschnittlich deutlich unter zehn Prozent lag, hatte in den Gemeinden mit mehr als 50.000 Einwohnern durchschnittlich etwa jede vierte Person einen Migrationshintergrund. Mittelfristig wird sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen. Insgesamt hatte in Deutschland 2011 gut ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund (34,9 Prozent) – in der Gruppe der 35bis unter 45-Jährigen lag der entsprechende Anteil im selben Jahr bei 22,3 Prozent und bei den 85- bis unter 95-Jährigen bei 5,8 Prozent. Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund sind also ein immer größer werdendes Zuschauerpotenzial. Neben dem demografischen Faktor, der entscheidend die ethnische Zusammensetzung (und damit die veränderten Interessen) des Publikums beeinflusst, bestimmt die Digitalisierung, d.h. die Entwicklung neuer Medien, und hier ganz entscheidend das Internet (insbesondere seine Weiterentwicklung zum Web 2.0 mit den neuen Interaktionsmöglichkeiten von Sendern
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und Empfängern), die Kommunikationsstrukturen und das Rezeptionsverhalten des Publikums. Dieser Wandel ist so grundlegend wie zuvor wahrscheinlich nur die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern; nicht umsonst ist das „Ende der Gutenberg-Galaxis“ (Norbert Bolz) längst zu einem geflügelten Wort geworden. Und interessanterweise war es ein Theaterautor, Bertolt Brecht, der diese Entwicklung und vor allem utopischen Möglichkeiten in seiner berühmten „Radiotheorie“ bereits in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts antizipiert hat: Dass aus jedem Empfänger ein potenzieller Sender werden könne.
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C HANCE ?
Um diesen Faktor der rasanten Fortentwicklung der Medien (und deren Konsequenzen) zu pointieren, spricht Hans-Thies Lehmann in seiner groß angelegten Untersuchung zum „postdramatischen Theater“ von der „Zäsur der Mediengesellschaft“ (Lehmann 2011: 22). Die sogenannten „Digital Natives“ (ein von Marc Prensky geprägter Begriff, der Menschen bezeichnet, die bereits mit digitalen Technologien wie Computern, dem Internet, Mobiltelefonen und MP3-Playern aufgewachsen sind; als Gegenbegriff bezeichnet „Digital Immigrant“ jemanden, der diese Dinge erst im Erwachsenenalter kennen gelernt hat) haben einen vor allem durch diese digitalen Medien geprägten Zugang zur Welt – und dies kann nicht ohne weit reichende Konsequenzen für das Theater sein. Das „dramatische Theater“, so Lehmann, „steht unter der Vorherrschaft des Textes“ (ebd.: 21) – mit allen damit verbundenen Implikationen für das, was Theater und seine Rezeption bedeutet. Seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts wird dagegen in neuen Produktionsformen und an neuen Orten versucht, „eine Antwort des Theaters auf die veränderte gesellschaftliche Kommunikation unter den Bedingungen der verallgemeinerten Informationstechnologie zu geben“ (ebd.: 23). Lehmann nennt einige der neuen Merkmale des postdramatischen Theaters: Ambiguität, Diskontinuität, Heterogenität, Nicht-Textualität, Pluralismus, Subversion, anti-mimetisch, ohne Diskurs, Performance als Drittes zwischen Text und Theater usw. (vgl. Lehmann 2011: 27) Was auch immer diese Merkmale nun seien und wie präzise sie bislang benannt werden können: entscheidend ist, dass sich diese Form seit den ausgehenden 1970er Jahren weitgehend außerhalb des bestehenden Thea-
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tersystems mit seinen Strukturen, Arbeitsweisen – vor allem aber auch weitgehend abseits von dessen Publikum entwickelt hat. Während das traditionelle Publikum des Staats- und Stadttheaters weitgehend immer älter wurde und wird (G.R. Koch sprach schon 2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von einer „Vergruftungsgefahr“ und konstatierte „überwiegend Grauköpfe, im Durchschnitt (weit) über fünfzig“ (Koch 2002)), etablierte sich ein neues Publikum an den neuen Spielorten mit ihren neuen Produktionsformen: beispielsweise im (ehemaligen) Theater am Turm und im Künstlerhaus Mouson-Turm in Frankfurt am Main, auf Kampnagel in Hamburg, oder im Hebbel am Ufer in Berlin usw. Allerdings ging diese „postdramatische“ Wende keineswegs spurlos an den Staats- und Stadttheatern vorüber. Übernimmt nun das traditionelle Staats- und Stadttheater die neuen Spielformen des postdramatischen Theaters (und wenn auch nur in homöopathischen Dosen) und konfrontiert es sein traditionelles Publikum damit, ohne neues Publikum quasi „von außen“ in die alten Spielstätten zu ziehen, wagt es einen (unter Umständen: lebens-)gefährlichen Spagat: die neuen Publikumsschichten kommen nicht in die alten Spielstätten und die, die traditioneller Weise kommen, verstehen die neuen Spielformen kaum (siehe oben). Wenn das traditionelle Theatersystem überhaupt Bestand haben will, muss es also sich und vor allem seine Strukturen und Produktionsformen von Grund auf erneuern. Seit vielen Jahren schon werden Kirchen säkularisiert, weil es ihnen an Gläubigen mangelt. Noch vor wenigen Jahren hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass Deutschland damit beginnen würde, seine Atomkraftwerke, jene Monumente der Industriegesellschaft, systematisch abzuwracken und seine Energiegewinnung auf erneuerbare Quellen umzustellen. Innerhalb weniger Monate wurde aus der Bürgerwehr Bundeswehr eine Freiwilligenarmee, vor zehn Jahren noch undenkbar. Wandel überall. Die Frage ist, ob das System der öffentlichen Theater mit einem bloßen trotzigen „Muss sein!“ aufrechterhalten werden kann. Zu fragen ist, ob es mit seinen Gebäuden, seinen Arbeitsmethoden und Publikumsstrukturen, seiner Bürokratie und Unflexibilität und nicht zuletzt mit seiner völlig überholten (und sehr ungut an seine und feudalistische Entstehungszeit erinnernden) Intendantenstruktur den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft noch gerecht wird. Nur was sich ändert, wird bleiben. Ansonsten wird tatsächlich nur noch der Denkmalschutz bleiben. Was sicherlich die Bürokra-
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ten befriedigen würde, für jeden engagierten Theaterfreund aber höchst bedauerlich wäre.
L ITERATUR Beil, Hermann (1997): „Wer liebt schon das Theater!“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.01.1997. Brembeck, Reinhard J. (2002): „Bleiben Sie dran! Haben die deutschen Bühnen doch noch eine Zukunft?“, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.12.2002. Bolz, Norbert (2008): Am Ende der Gutenberg-Galaxis: Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München. Deutscher Bühnenverein (1993/2012): Theaterstatistik, Köln. Deutscher Bühnenverein (2003): Muss Theater sein? Fragen, Antworten, Anstöße, Köln. Fest, Joachim C. (1981): „Wozu das Theater?“, in: Aufgehobene Vergangenheit, Stuttgart, S. 207-214. Habermas, Jürgen (1976): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied und Berlin. Iden, Peter (Hg.) (1995): Warum wir das Theater brauchen, Frankfurt. Iden, Peter (2004): „Mehr Geld. Aber wofür? Nicht leere Kassen – die Haltlosigkeit sind das Problem der gegenwärtigen Theaterarbeit“, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2004, Essen. Jörder, Gerhard (2001): „Publikumsverweigerung“, in: Die Zeit vom 15.03.2001. Kehlmann, Daniel (2009): „Die Lichtprobe. Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2009 im Wortlaut“, in: Frankfurter Rundschau vom 27.07.2009. Koch, Gerhard R. (2002): „Vergruftungsgefahr. Im etablierten Kulturbetrieb dominieren immer mehr die Alten“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.10.2002. Kulturpolitische Mitteilungen (1995): Was soll das Theater? Schwerpunktheft der Kulturpolitischen Mitteilungen 68/I, Bonn. Lehmann, Frank-Thies (2011): Postdramatisches Theater, Frankfurt.
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Meier, Christian (1988): Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München. Neumann, Bernd (2012): „Neumann zu Theatertreffen: Keine Bühne ist verzichtbar“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 04.05.2012. Peymann, Claus (2009): „Die so genannte Moderne hat abgewirtschaftet“, in: Die Welt vom 14.12.2009. Schöne, Lothar (Hg.) (1996): Mephisto ist müde. Welche Zukunft hat das Theater?, Darmstadt. Stadelmaier, Gerhard (1993): Letzte Aufführung. Eine Führung durchs Theater, Frankfurt. Stadelmaier, Gerhard (1996): „Kapitalkrise. Theaterpolitik in Frankfurt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.04.1996. Stadelmaier, Gerhard (2004): „Wohin treibt das Theater?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.1994. Statistisches Bundesamt (2012): Statistisches Jahrbuch. Deutschland und Internationales. 2012, Wiesbaden. Szondi, Peter (1973): Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister, Studienausgabe der Vorlesungen Band 1, Frankfurt. Valentin, Karl (1969): „Zwangsvorstellungen“, in: Ders. (Hg.): Sturzflüge im Zuschauerraum. Der Gesammelten Werke anderer Teil, München, S. 213.
Interkulturelles Audience Development Eine Strategie der Reformierung öffentlicher Theater? B IRGIT M ANDEL
Das Theater als Institution hat im deutschen Kulturleben einen hohen Stellenwert, kein anderes Land weltweit leistet sich eine so breite, öffentlich geförderte Theaterlandschaft mit festem Ensemble und Repertoirebetrieb. Während sich die Theater in früheren Jahren auf ihr Stammklientel, das gebildete Bürgertum, verlassen konnten, bei dem der Theaterbesuch und in der Regel sogar das Theaterabonnement zu einem gehobenen Lebensstil gehörten, schrumpft nun diese Kernnutzergruppe. Obwohl öffentlich geförderte Kultureinrichtungen grundsätzlich allen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung stehen, erreichen sie in der Regel nur eine kleine, tendenziell schrumpfende Klientel von weit überwiegend höher Gebildeten. Dies gilt in besonderer Weise für die Theater, die im Interesse der Bevölkerung die stärksten Einbußen zu verzeichnen haben: Theater und Oper liegen auf den hinteren Plätzen, Museen und Ausstellungen nehmen einen mittleren Rang ein, die vornehmlich kommerziell angebotenen Kultursparten Popmusik und Film sind in der Bevölkerung am beliebtesten; das gilt insbesondere für junge Menschen (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2012a, 2012b). Die wesentliche Barriere gegenüber klassischen Kulturveranstaltungen bestehe darin, „dass die 14-24 Jährigen diese Angebote gar nicht als relevant für ihre alltägliche Lebenswelt erachten.“ (Zentrum für Kulturforschung 2012b: 189) Das Bildungsniveau ist der zentrale Einflussfaktor für Kulturnutzung und hat über die letzten Jahrzehnte noch an Einfluss gewonnen. Auch bei den jungen Menschen ist die Bildungsschere in Bezug auf kulturelle Teil-
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habe noch weiter auseinander gegangen: „So ist der Anteil der wenig bzw. überhaupt nicht Kulturinteressierten unter den 14-24 Jährigen mit niedriger Schulbildung seit 2004 im Vergleich zu 2004 um 16 Prozentpunkte gestiegen.“ (Ebd.: 190) Die Nutzer der öffentlich geförderten Theater insgesamt sind weit überwiegend hoch gebildet, verfügen in der Regel auch über ein gehobenes Einkommen, sind eher älter und häufiger weiblich. Weniger erreicht werden also niedrig gebildete, jüngere und männliche Zielgruppen und auch Menschen mit Migrationshintergrund. Deren Kulturinteresse unterscheidet sich zwar nicht grundsätzlich von dem der Gesamtbevölkerung (vgl. Ministerpräsident des Landes NRW 2010; Zentrum für Kulturforschung 2012a), vor allem Menschen mit nicht-westlichem Migrationshintergrund besuchen allerdings noch weniger klassische Kultureinrichtungen und werden am ehesten von den privaten Kulturanbietern erreicht. Obwohl Migrationserfahrung auch ein Einflussfaktor auf kulturelles Interesse ist, verlaufen die Unterschiede weniger zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, sondern zwischen verschiedenen sozialen Milieus, wobei der Faktor Bildung sich als stärkste Einflussgröße erweist. Wie kann es öffentlich geförderten Kultureinrichtungen generell und Theatern im Besonderen gelingen, ein Ort zu werden, der für verschiedene gesellschaftliche Gruppen relevanter und attraktiver Bestandteil ihres Lebens und Treffpunkt für verschiedene gesellschaftliche Gruppen ist? Wie kann es ihnen gelingen, Menschen unterschiedlicher Bildung, unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft zu erreichen, um repräsentativer für die sich immer weiter diversifizierende Gesellschaft zu werden? Wie können Kultureinrichtungen zu partizipativen Orten werden, die dazu beitragen, Brücken zu bauen zwischen unterschiedlichen Gruppen, wie kann es ihnen gelingen, mit den spezifischen Mitteln der Theaterkunst Dialoge anzuregen, Interesse an unterschiedlichen Perspektiven zu entwickeln, Gemeinsames zu entdecken oder zu schaffen? Das sind wesentliche Fragen eines interkulturellen Audience Development.
D AS K ONZEPT I NTERKULTURELLES A UDIENCE D EVELOPMENT „Audience Development“ als ein in den angelsächsischen Ländern geprägter Begriff bezeichnet die Generierung und Bindung neuen Publikums für
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Kultureinrichtungen in der strategischen Kombination von Kulturnutzerforschung, Marketing, PR und Kulturvermittlung. Ziele können auf der Ebene der Kulturinstitutionen sowohl darin bestehen, mehr Publikum zu gewinnen und damit Auslastungszahlen und Einnahmen zu erhöhen wie auch darin, ein neues, anderes, vielfältigeres Publikum zu gewinnen, um kulturpolitischen Zielen von Teilhabe am öffentlich geförderten Kulturleben gerecht zu werden (vgl. Mandel 2008). Der Begriff des Audience Developments legt den Fokus auf die Entwicklung neuen Publikums und suggeriert, dass es darum geht, mit Hilfe geeigneter Maßnahmen, etwa in der Kommunikation, dem Vertrieb, dem Service, der Preispolitik erfolgreicher Aufmerksamkeit und nachfolgend auch Interesse neuer, potenzieller Besuchergruppen für die Programme einer Kultureinrichtung zu gewinnen. Die Evaluationen der „New Audience Development“-Programme in Großbritannien zeigten jedoch: Nur dann, wenn Kulturinstitutionen bereit waren, sich als Ganzes, einschließlich ihrer Programme, zu verändern, gelang es, neues Publikum zu gewinnen und dauerhaft zu binden (vgl. Arts Council England 2004). Ein Verständnis von Audience Development als lediglich einem Maßnahmenkatalog in Marketing, PR und Vermittlung würde vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen also zu kurz greifen für die Herausforderung, die Kultureinrichtungen in Deutschland repräsentativer für die vielfältiger werdende Bevölkerung zu machen. In einem Interkulturellen Audience Development geht es nicht nur darum, mehr und neues Publikum, z.B. aus den Reihen von Menschen mit Migrationshintergrund zu gewinnen, sondern auch um interkulturelle Veränderungsprozesse von Kultureinrichtungen. „Interkulturell“ meint dabei die Orientierung an und die Zusammenarbeit mit ethnisch-kulturell wie sozial diversen potenziellen Nutzern von Kultureinrichtungen mit dem Ziel gemeinsamer Veränderungen. „Interkulturell“ kann sich darauf beziehen, Austausch anzuregen: • zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, • zwischen Menschen unterschiedlicher Bildung und unterschiedlicher sozialer Milieus, • zwischen Menschen unterschiedlicher Generationen, oder auch zwischen „Digital Natives“ und den in der analogen Kultur Sozialisierten.
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Wie lassen sich unterschiedliche kulturelle Interessen und ästhetische Vorstellungen zu etwas Neuem verbinden, das für mehr Menschen als bisher relevant und interessant ist? So könnte die Kernfrage eines interkulturellen Audience Development lauten.
D AS M ODELLPROJEKT I NTERKULTURELLES A UDIENCE D EVELOPMENT DER Z UKUNFTSAKADEMIE IN NRW 1 Während private Kulturanbieter relativ schnell Trends und Interessen einer sich verändernden Bevölkerung aufgegriffen und daraus neue, nachgefragte Angebote geschaffen haben, fällt es den traditionellen öffentlichen Kultureinrichtungen wie den Theatern offensichtlich schwerer, sich zu verändern. Diese stehen in einer klassischen Tradition, bewahren einen bestimmten, als hochkulturell und wertvoll definierten Kulturkanon einschließlich damit verknüpfter eher kontemplativer Rezeptionsformen, sie haben einen hohen Anspruch an die künstlerische Qualität ihrer Programme. Das Vorhaben der Landesregierung NRW setzte deshalb genau bei diesen öffentlichen Einrichtungen an, um zu erkunden, unter welchen Bedingungen in einem System mit langen Traditionen und fest gefügten Strukturen neues Publikum, neue Teilnehmer und Akteure interessiert und gebunden werden können. Das Kulturministerium des Landes NRW förderte von 2010 bis 2012 interkulturell angelegte Projekte von sechs großen, renommierten, öffentlich geförderten Theater und einem Museum und die Zukunftsakademie NRW – Interkultur Kulturelle Bildung und Zukunft von Stadtgesellschaft (ZAK NRW) stellte begleitende Forschungsmittel zur Verfügung, mit denen neue Ansätze einer bewusst interkulturell angelegten Programmplanung, Kommunikation und Vermittlung erforscht wurden. Jede Institution führte ein oder mehrere beispielhafte Projekte durch, die mit neuen Zielgruppen und Kooperationspartnern gemeinsam interkulturell orientierte Kunstproduktio-
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Detaillierte Ergebnisse der Projektauswertungen, Ergebnisse von Kulturnutzerstudien sowie Strategien und Methoden Interkulturelles Audience Development in: Mandel, Birgit (2013): Interkulturelles Audience Development. Zukunftsstrategien für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen, Bielefeld. Weiterführende Literatur auf: http://www.kulturvermittlung-online.de.
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nen und Programme, neue Formate und neue Kommunikationsformen entwickelten. Das Schauspielhaus Bochum kooperiert mit der Street Art Compagnie Renegade und entwickelt dabei nicht nur verschiedene neue Programme für ein neues Publikum, sondern auch neue ästhetische Formen und Formate, neue Themen und neue interne Arbeitsweisen in Auseinandersetzung mit einem völlig anders organisierten Kunstkollektiv. „Die entscheidende Frage für unser Theater ist: In welcher Stadt leben wir, mit welchen Menschen und in welcher Stadt würden wir gerne leben. Es geht nicht um Audience Development, sondern um Cultural Development. […] Wie kann man als Theater dazu beitragen, dass eine Gesellschaft neue, vielschichtigere Bilder von sich entwickelt?“ (Dramaturgie Schauspiel Bochum)2
Das Junge Schauspielhaus Düsseldorf erprobte verschiedene Formate partizipativer Theaterarbeit durch Outreach-Projekte im Stadtteil, die Öffnung ihres Foyers unter dem Namen „Treibhaus“ als Begegnungsort für Kinder und Jugendliche mit Künstlern des Theaters sowie die Entwicklung von Stücken gemeinsam mit Jugendlichen. „Welche Aufgaben hat ein Stadttheater, wenn die Stadt sich verändert hat? Wie kann ein Theater für alle Bevölkerungsgruppen in einer Stadt da sein?“ (Junges Schauspiel Düsseldorf) Das Theater Oberhausen erstellte mit der „Kleinen Hexe“ in Kooperation mit Lehramtsstudierenden, Kindergärten und Grundschulen ein interaktives, den Spracherwerb förderndes Stück für Kinder ab fünf Jahren und integrierte beim Außenprojekt „Frühlings Erwachen“ in einem Oberhausener Jugendzentrum Lebensrealitäten und Sichtweisen von Jugendlichen in die Aufführung. „Sich Oberhausen immer neu erfinden, nicht nur den realen Ort bedienen. Das ist die Aufgabe unseres Theaters in einer Stadt, die ökonomisch und sozial in der Abwärtsspirale ist.“ (Theater Oberhausen) Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen gestaltete mit Schülern unterschiedlicher Schultypen ein Tanz- und Musiktheaterstück „Vision of God“, das sich mit persönlichen Vorstellungen von Religion befasste. „Wir wollen Visionen für das Zusammenleben entwickeln sowohl in Bezug auf
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Sämtliche den Theaterhäusern zugeordnete Zitate stammen aus Experteninterviews mit der Autorin im Februar 2012.
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das Publikum, wie auf die Kunst und die Gesellschaft unter der Frage, wie wir zukünftig leben wollen.“ (Musiktheater im Revier Gelsenkirchen) Das Westfälische Landestheater Castrop Rauxel (WLT) lud neun Autoren aus verschiedenen Herkunftsländern ein, eigene Stücke für das Theater zu schreiben, und ließ diesen Prozess in regelmäßigen Workshops durch eine Theaterautorin begleiten. Das von einer Jury als bestes ausgewählte Stück wurde zur Uraufführung gebracht. „Interkultur ist, wenn Achmed den Helmuth spielt und alle finden das normal. Aber so weit sind wir noch nicht. Unser Auftrag ist die kulturelle Grundversorgung der Region mit qualitätsvollem Theater, wozu gehört, dass sich auch die gesellschaftliche Realität ganz selbstverständlich im Theater widerspiegelt.“ (Westfälisches Landestheater Castrop-Rauxel)
Das Schauspiel Dortmund entwickelte mit „Crash Test Nordstadt“ ein interaktives Stadtspiel, das verschiedene Milieus in der Nordstadt als Akteure und Kenner ihres Stadtteils einbezog und zusammenbrachte mit „Kulturpublikum“ aus anderen Stadtteilen. „Wir suchen nach Gründen für die Notwendigkeit, 2012 Theater zu machen. Wie geht Theater heute, wie bleibt es in der Gegenwart? […] Wir sind im Herzen der Stadt und wir wollen ein Programm machen, das ins Herz trifft und das auch das Leben ändert in dieser Stadt.“ (Schauspiel Dortmund)
Ziel der Begleitforschung, die von der Autorin verantwortlich durchgeführt wurde, war es, anhand der sehr unterschiedlichen Projekte in den ausgewählten öffentlichen Kulturinstitutionen die vielfältigen Kriterien und Wirkmechanismen zu analysieren, mit denen neue Zielgruppen in die kulturelle Arbeit der Institutionen als Akteure und Publikum eingebunden werden. Dabei sollte differenziert erfragt und beobachtet werden, wie interkulturelle Kooperationsbeziehungen funktionieren, welche Barrieren es gibt, wer welche Interessen hat, unter welchen Umständen es gelingt, Menschen unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft einzubinden, wann wechselseitige Lernprozesse fruchtbar werden können. Neben Erfolgsbedingungen eines interkulturellen Audience Developments als nutzerorientiertes Managementkonzept in den Bereichen Programmpolitik, Marketing/PR, Vermittlung/Kulturelle Bildung, Arbeit mit Multiplikatoren/Kooperationspartnern ging es auch um die Frage, wie sich
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Institutionen in ihrer gesamten Organisationskultur verändern können, um für mehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen relevant zu werden. Alle beteiligten Theater definieren sich explizit als Stadttheater, die dementsprechend für die Stadtbevölkerung in ihrer Vielfalt da sein und diese in ihren Programmen widerspiegeln wollen. Insofern fühlen sich alle einem interkulturellen Audience Development verpflichtet. Im Einzelnen liegen der Prozessbegleitung und Evaluation folgende Befragungen und Analysen zugrunde: Schriftliche Befragung von 780 Besuchern der Projektpräsentationen, 85 qualitative Interviews mit ausgewählten Besuchern der Projekt-Präsentationen, 52 mündliche Interviews mit allen Projektbeteiligten zu Beginn der Projekte, 22 mündliche Interviews mit Multiplikatoren und Projektbeteiligten, schriftliche Befragungen der neun beteiligten Autoren des Schreibworkshops des Westfälischen Landestheaters, schriftliche Befragungen von sieben Vorsitzenden bzw. Mitgliedern der Freundeskreise, teilnehmende Beobachtung bei den Projektpräsentationen, Analyse der Auslastungszahlen der Projektpräsentationen, Analyse der Medienberichterstattung für die beteiligten Häuser, Analyse der Spielpläne und Programme der Häuser auf Basis ihrer Spielzeithefte, schriftliche Abschlussbefragung der Projektbeteiligten mit einem Rücklauf von 47 Fragebögen.
Z ENTRALE E RGEBNISSE DER WISSENSCHAFTLICHEN B EGLEITUNG DER INTERKULTURELL AUSGERICHTETEN P ROJEKTE IN DEN T HEATERN Wie erfolgreich waren die Projekte in Bezug auf die Einbindung und möglicherweise auch Bindung neuer Zielgruppen an die Theater? Größte Erfolge aus Sicht der Beteiligten In der Abschlussbefragung aller Projektbeteiligten an den Theatern wurden mehrheitlich als größter Erfolg der Projekte interkulturelle Austauschprozesse Horizonterweiterung und interkulturelle Bildungsprozesse genannt, an zweiter Stelle die Sensibilisierung der allgemeinen Öffentlichkeit sowie des angestammten Publikums für interkulturelle Themen und Sichtweisen, an dritter Stelle die Qualität der interkulturellen künstlerischen Produktionen. Kaum genannt wurde die Gewinnung und Bindung neuen Publikums.
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Die Befragten erhielten nach eigenen Aussagen vor allem Anregungen in Bezug auf neue Formen von PR für neue Zielgruppen, neue OutreachFormate an Alltagsorten im öffentlichen Raum sowie ästhetisch-künstlerische Anregungen durch die Zusammenarbeit sowohl mit den neuen professionellen Künstlern anderer Bereiche wie auch durch die gemeinsame künstlerische Arbeit mit Laien in den Projekten. Explizit wird dabei auch mehrfach von den Theaterschaffenden genannt, dass sie sich dadurch auch mit eigenen ästhetischen Wertvorstellungen kritisch auseinander gesetzt hätten. Künstlerischer Erfolg Das Zusammenbringen verschiedener Kunstformen und verschiedener ästhetischer Ausdrucksformen sowie die künstlerische Auseinandersetzung mit neuen Räumlichkeiten werden nicht nur von den Theaterschaffenden selbst als künstlerischer Mehrwert begriffen. Tatsächlich überzeugten die Ergebnisse der interkulturellen Projekte künstlerisch in der Fachöffentlichkeit und erhielten fast ausschließlich positive, wenngleich wenig überregionale Rezensionen. Hohe künstlerische Qualität wird von allen Beteiligten aus den Theatern als notwendig für die Akzeptanz interkultureller Projekte begriffen, damit diese als gleichwertiger Bestandteil von Theaterarbeit und nicht als Sozialarbeit gewertet werden. Damit Projekte innerhalb der Häuser und in der Kulturszene Akzeptanz finden, müssen sie künstlerische Kernbereiche berühren. Interkulturelle Bildungsprozesse bei allen Beteiligten Die persönliche Bereicherung durch Einblicke in Perspektiven von Menschen anderer Lebenswelten wird nicht nur von den Theaterschaffenden als besonders positiver Effekt des Projekts hervorgehoben, sondern auch von den befragten professionellen neuen Akteuren wie von den Laien-Teilnehmern der Projekte immer wieder genannt als nachhaltiger Mehrwert für das eigene Leben. Bislang nicht kunstaffine Teilnehmer der Projekte zeigten sich dabei am stärksten beeindruckt von den persönlichen menschlichen Kontakten zu
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Künstlern und Kulturschaffenden, die für sie Voraussetzung ist, um sich auf die gemeinsame künstlerische Arbeit einzulassen. Interkulturelle Veränderungsprozesse in den Institutionen Die Potenziale für interkulturelle Öffnungsprozesse im eigenen Haus werden von den befragten Mitarbeitern optimistisch als groß bis sehr groß eingeschätzt. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass in einigen Häusern nur wenige Mitarbeiter mit den Projekten in Berührung kamen und somit das Ziel einer interkulturellen Veränderung der Organisationskultur nur in Ansätzen erreicht wurde. Je mehr die Projekte an einzelne Abteilungen delegiert werden, um so geringer ist die Wirkung auf die gesamte Institution. Größte Probleme aus Sicht der Beteiligten Als Antworten auf die offene Frage nach den größten Problemen wurden technisch-logistische Herausforderungen und mangelndes Personal für den erheblichen Mehraufwand an erster Stelle genannt, gefolgt von mangelnder finanzieller Unterstützung sowie unzureichendem Verständnis und Unterstützung bei den nicht am Projekt Beteiligten im Haus. Wünsche der Beteiligten in den Theatern an Kulturpolitik und Kulturverwaltung Die befragten Theaterschaffenden wünschen sich von Kulturpolitik und Kulturverwaltung vor allem stärkere Aufmerksamkeit und öffentliche Anerkennung ihrer interkulturellen Arbeit. Sie wünschen sich Vertrauen in die langfristigen Erfolge und Auswirkungen solcher Projektarbeit, selbst wenn diese kurzfristig nicht quantitativ zu messen seien, ebenso wie die stärkere Entlastung vom Repertoirebetrieb. Publikumsinteresse für die interkulturellen Projektpräsentationen Konnte für die Aufführungen der Projekte ein großes und auch ein neues, diverses Publikum gewonnen werden? Sämtliche Projektpräsentationen konnten hohe Auslastungszahlen verzeichnen, keine Institution erreichte damit weniger Publikum als bei den Standardveranstaltungen. Die weit
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überwiegende Mehrheit der befragten Theaterschaffenden ist überzeugt, dass interkulturelle Projektpräsentationen sowohl bei neuem wie auch beim Stammpublikum populär sind, wenn sich herumgesprochen habe, dass diese gut gemacht, spannend und unterhaltsam seien. Zu beobachten ist, dass interkulturelle Projektpräsentationen vor allem dann „Publikumsrenner“ sind, wenn sie niedrigschwellig sind, an Bekanntes anknüpfen, an außergewöhnlichen Orten stattfinden, als außergewöhnlich und als unterhaltsam (und humorvoll) wahrgenommen werden, sie von populären Multiplikatoren präsentiert werden, es genug Zeit gibt, damit sich Mundpropaganda entfalten kann und Aufführungen für die gesamte Familie geeignet sind. Erreichen neuen, vielfältigen Publikums Zur Frage, ob nicht nur viel, sondern auch ein neues, anderes Publikum, jenseits des traditionellen Theaterpublikums gewonnen werden konnte, zeigen die quantitativen Besucherbefragungen, dass dies zumindest in Ansätzen gelungen ist: Zwar haben – entsprechend dem üblichen Stammpublikum – 75 Prozent höhere Bildung (Abitur bzw. einen Hochschulabschluss), es waren mehr Frauen als Männer im Publikum (66 Prozent zu 34 Prozent) und es handelt sich um ein vielfältig kulturell interessiertes Publikum, durchschnittlich fünf verschiedene Kulturformen wurden in den letzten zwölf Monaten besucht. Immerhin aber sind ein Drittel Erstbesucher der Einrichtung, 13 Prozent haben einen Migrationshintergrund und das Publikum ist durchschnittlich jünger und stammt eher aus der näheren Umgebung. Präferierte Formate des neuen Publikums Während die im Rahmen der Studie befragten Häufignutzer von Theatern traditionelle Rezeptionsformate präferieren, bevorzugen neue, vor allem jüngere und bildungsferne Nutzer sowie auch jüngere Besucher mit Migrationshintergrund Events, bei denen es auch um Kommunikation, eigene Beteiligung, soziales Miteinander in einer lockeren Atmosphäre geht. Die persönliche Ansprache und der direkte Kontakt zu den Akteuren des Theaters werden von den befragten Erstbesuchern der Theater im Rahmen der Projektpräsentationen als besonders eindrucksvoll genannt.
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Wichtigste Informationsquelle über die Veranstaltung waren Freunde oder Bekannte. Programmhefte, Zeitungen oder elektronische Medien spielten dagegen eine deutlich geringere Rolle. Auch dies bestätigen Ergebnisse vieler vorangegangener Besucherbefragungen. Die persönliche Empfehlung ist noch wichtiger für Besucher mit Migrationhintergrund sowie jüngere Besucher unter 30 Jahren sowie die Nicht- und Seltenbesucher. Befragt nach bevorzugten Informationsweisen über Kunst und Kultur wünschten sich die befragten jüngeren Besuche mehr Information an Alltagsorten wie auf dem Schulhof, im Jugendzentrum, bei H&M. Imageveränderung der Institution Theater Interessant ist, dass sowohl bei den beteiligten Laien-Akteuren der partizipativen Projekte wie auch beim Publikum, das im Rahmen der Projektpräsentationen erstmalig das Theater besuchte, das Projekt und die jeweilige Aufführung sehr positiv eingeschätzt wurden und es hohe Wertschätzung für die Menschen am Theater gab, dies jedoch kaum Veränderung des Bildes von Theater generell als tendenziell langweiliger, elitärer und für das eigene Leben nicht relevanter Ort auslöste. Die Projektpräsentationen wurden mehrheitlich nicht zusammen gebracht mit dem „normalen“ Theater. Nur wenige der Befragten geben an, dass sie planen, weitere Aufführungen des Theaters besuchen. Das Image von Theater ist bei den Nicht-Besuchern deutlich konservativer als das tatsächliche Programm, das in allen beteiligten Theatern sehr vielfältig aufgestellt ist. Das zeigt, dass die herkömmlichen Kommunikationsformen des Theaterprogramms in der breiteren Öffentlichkeit nicht hinreichend wahrgenommen werden. Durch differenzierte Berichterstattung über solche interkulturelle Projekte in lokalen Medien und durch OutreachAktionen an öffentlichen Orten, die auch eine Zufallsöffentlichkeit erreichen, könnte sich das Bild des jeweiligen Theaters erweitern.
W AS LÄSST SICH AUS DIESEN E RGEBNISSEN LERNEN ÜBER A UDIENCE D EVELOPMENT IM S INNE DER G EWINNUNG UND B INDUNG NEUEN P UBLIKUMS ? 1.) Es ist nicht möglich, neues, anderes Publikum für „alte“ Programme zu bekommen.
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2.) Mit neuen Programmen erreicht man ansatzweise auch ein neues Publikum, vor allem dann, wenn es sich um partizipative Projekte mit neuen Akteuren handelt, weil dann auch Angehörige dieser Gruppen kommen, jedoch nicht grundsätzlich Menschen anderer sozialer Milieus. 3.) Auch wenn mit partizipativen Projekten kaum neues Publikum gewonnen werden kann, sind diese Projekte von großer Bedeutung für ein Theater, weil damit Menschen anderer sozialer oder ethnischer Herkunft eingebunden werden und in der gemeinsamen künstlerischen Arbeit interkulturelle Bildungsprozesse für die neuen Akteure wie für die Mitarbeiter der Kultureinrichtungen ermöglicht werden. Ein interkulturelles Audience Development beinhaltet also: • Besucher- und Nutzerorientierung als gleichwertigen und integrierten Bestandteil der künstlerischen Arbeit einer Institution zu begreifen, • den eigenen Kulturbegriff zu hinterfragen und sich öffnen für kulturelle und künstlerische Präferenzen anderer Bevölkerungsgruppen, • interkulturelle Programme gemeinsam mit neuen Akteuren und neuen Nutzern zu entwickeln. Ein für neue Zielgruppen attraktives Programm ist der wesentliche Einflussfaktor, um diese als Publikum zu gewinnen. Man muss also auch die Programme in Auseinandersetzung mit neuen Akteuren und Nutzern verändern, um relevant zu werden für ein breiteres, vielfältigeres Publikum. „Interkulturell“ orientierte Programme im Theater können beinhalten: Programmvielfalt des Spielplans für ein vielfältiges Publikum (einschließlich populärer, unterhaltungsorientierter Programme), • Programme, die sich mit Migration im weitesten Sinne auseinandersetzen, • Programme, die von neuen Künstlern, nicht deutscher Herkunft entwickelt werden, • Programme, die hochkulturelle mit subkulturellen Akteuren zusammenbringen und unterschiedliche künstlerisch-ästhetische Ausdrucksweisen zusammen bringen, • Programme, die in partizipativen Projekten gemeinsam mit neuen Zielgruppen interkulturell entwickelt werden. •
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Wenn interkulturelle Programme auch künstlerisch von hoher Qualität sind und vor allem auch dann, wenn sie verschiedene kulturelle und ästhetische Ausdrucksformen zusammenbringen und neue Formate ausprobieren, erreichen sie besonders hohe Auslastungszahlen und sind beim Stammpublikum wie bei neuem Publikum populär, die sich hier im besten Falle begegnen und austauschen können, – wenn solche Dialoge gezielt angelegt werden. Damit aus Zuschauern von Programmpräsentationen, die aus partizipativen Projekten hervorgegangen sind, Stammpublikum werden kann, muss man ihnen explizit Folgeangebote machen, die Anknüpfungspunkte zu ihrem Leben bieten. Kooperationen mit vielen verschiedenen Partnern und Multiplikatoren jenseits des Kultursektors können wesentlich dazu beitragen, Menschen aus bislang nicht kunstaffinen Milieus zu erreichen und in partizipativen Projekten zu involvieren. Partizipative interkulturelle Projekte sind vor allem deswegen von Bedeutung für eine Kultureinrichtung, weil in der gemeinsamen künstlerischen Arbeit mit Menschen anderer Milieus, Bildung, Herkunft oder Alters interkulturelle Bildungsprozesse sowohl für die neuen Teilnehmer und Akteure wie für die Mitarbeiter der Kultureinrichtungen ermöglicht werden. Die Arbeit in den Bereichen Kulturelle Bildung/Theaterpädagogik erweist sich aktuell als Schlüssel für die interkulturelle Öffnung der Häuser und das Gewinnen neuer Zielgruppen, v.a. weil die Theaterpädagogik über Kooperationen mit Bildungseinrichtungen ein breites Spektrum an jungen Menschen verschiedener Bildung, Herkunft und sozialer Milieus erreicht. Die Abteilungen können ihr Potenzial aber erst dann in interkulturelle Veränderungsprozesse der Institution einbringen, wenn sie in das künstlerische Kernteam integriert sind und in der internen Hierarchie, auch was das Budget betrifft, als gleichwertig anerkannt werden.
V ERÄNDERUNG DER T HEATER A UDIENCE D EVELOPMENT ?
DURCH
„If you want to change your audience, you first have to change yourself.” (Smith 2004)
Inwiefern ist interkulturelles Audience Development eine Möglichkeit der Reformierung öffentlicher Theater? Für öffentliche Theater sind interkulturelle Veränderungsprozesse aufgrund ihrer langen Tradition besonders
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schwierig und darum nicht kurzfristig zu gestalten. Die größten Probleme bestehen in den klassischen Repertoirestrukturen, dem traditionellen Kanon, den traditionellen Produktions- und Rezeptionsformen, den Erwartungshaltungen an Theater und dem damit verbundenen Image sowie in unflexiblen internen Arbeitsstrukturen und Hierarchien. Deutlich wurde, dass interkulturelle Projekte in Kombination mit einem strategischen Interkulturellen Audience Development das Potenzial haben, nachhaltige Veränderungsprozesse in den Institutionen auszulösen, weil damit Routinen verändert und „Komfortzonen“ verlassen werden, weil in der Auseinandersetzung mit anderen Milieus und Kulturen eigene künstlerische und inhaltliche Standpunkte in Frage gestellt und neue Perspektiven angeregt werden. Dies geht aber nur dann über die individuelle Bereicherung einzelner Mitarbeiter hinaus und löst institutionelle Veränderungsprozesse aus, wenn viele Abteilungen und Mitarbeiter davon berührt werden, wenn es kontinuierlich Folgeprojekte gibt und vor allem wenn es ein von der Leitung ausgehendes, mit allen gemeinsam entwickeltes Mission Statement für solche Veränderungsprozesse gibt. Die Kooperation mit neuen Akteuren und neuen Teilnehmern partizipativer Projekte, etwa aus dem subkulturellen Bereich, aus bestimmten Jugendszenen oder mit Menschen anderer Herkunftsländer, kann also Theater programmatisch und strukturell verändern und dazu beitragen, dass diese mehr Relevanz im Leben breiterer Bevölkerungsgruppen hat. Dies gelingt am ehesten dann, wenn: • •
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das Ziel interkultureller Öffnung mit allen Mitarbeitern reflektiert, präzisiert und strategisch in den Leitlinien verankert wird; alle überzeugt sind, dass sie auch persönlich von den inhaltlichen und ästhetischen Anregungen durch Menschen anderer Milieus, anderer Herkunft, anderen Alters profitieren können; die Abteilungen, die vor allem mit neuen Nutzergruppen zu tun haben (v.a. die Bereiche Theaterpädagogik/Museumspädagogik/Vermittlung) als gleichwertig in das künstlerische Team integriert sind und auch entsprechend gleichwertig mit Personal und Budget ausgestattet sind; auch im Haus Interkultur gelebt wird durch flache Hierarchien; es den Mut der Leitung und die Unterstützung durch Politik und Verwaltung gibt, neue Programme und Formate auszuprobieren, statt am „Repertoire“ festhalten zu müssen, damit interkulturell ausgerichtete
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Projekte nicht mehr die Ausnahme sind, sondern Kontinuität in der interkulturellen Arbeit mit neuen, vielfältigen Akteuren erzielt werden kann. „Das Theater der Zukunft muss sozialer werden, ein Ort für Kontakt und Austausch. […] Kunst ist nicht ein Abend in einem Kasten, sondern Kunst ist ein Netzwerk. […] Die Theaterlandschaft genießt in Deutschland so viel Freiheit durch die öffentliche Förderung, darin liegt aber auch eine Verantwortung. Es ist ein lohnenswertes Ziel einer interkulturellen Arbeit, eine gleichberechtigte Kulturlandschaft für alle zu bauen.“ (Regisseur Schauspiel Dortmund)
Die große Freiheit der im internationalen Vergleich sehr hohen öffentlichen Förderung nutzen, um Theater zum sozialen Treffpunkt in einer Stadt und zum produktiven, spielerischen Raum für Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Perspektiven zu machen, wäre ein zentrales Ziel interkulturellen Audience Developments. Damit könnten die Theater nicht nur sich selbst reformieren, um auch zukünftig noch Bestand zu haben, sondern eine Brückenfunktion bei der Gestaltung einer interkulturellen Gesellschaft einnehmen.
L ITERATUR Arts council England/Johnson, Gill (2004): New audiences for the arts: The new audiences programme 1998 – 2003, London. Ministerpräsident des Landes NRW (Hg): Von Kult bis Kultur. Von Lebenswelt bis Lebensart. Ergebnisse der Repräsentativuntersuchung Lebenswelt und Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland und NRW, Düsseldorf 2010. Mandel, Birgit (Hg.) (2008): Audience Development, Kulturmanagement, Kulturelle Bildung. Konzeptionen und Handlungsfelder der Kulturvermittlung, München. Mandel, Birgit (2013): Interkulturelles Audience Development. Zukunftsstrategien für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen, Bielefeld. Smith, Morton (2004): Not for the Likes of you. How to reach a broader audience, Arts Council England (Hg.), www.artscouncil.org.uk [21. 05.2013].
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Zentrum für Kulturforschung/Keuchel, Susanne (Hg.) (2011): 9. Kulturbarometer, Bonn. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel, Susanne (Hg.) (2012a): Das 1. InterKulturBarometer, Köln. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel, Susanne (Hg.) (2012b): 2. Jugendkulturbarometer, Köln.
Zwischen Lektion und Labor Perspektiven der Vermittlung am Theater G EESCHE W ARTEMANN
These 1: Alle Formen der Vermittlung am Theater unterstreichen die konstitutive Bedeutung des Zuschauers für das Theater. Besondere Aktualität gewinnt Theatervermittlung, wenn die Beteiligung des Zuschauers als co-creator (vgl. Kattwinkel 2003) problematisch wird. Der „Kleine Theaterknigge“ des Theaters an der Parkaue in Berlin macht anschaulich, wie wenig selbstverständlich Spielregeln im Theater heute als bekannt voraus gesetzt werden können: „Es ist nicht gestattet, während der Vorstellung zu essen und zu trinken, Musik zu hören und Gespräche zu führen. Mobilfunktelefone und mp3-Player müssen vollständig ausgeschaltet sein. Während der Vorstellung darf weder telefoniert noch gesimst oder fotografiert werden.“ (Theater an der Parkaue 2013)
Insbesondere junges Publikum bedarf nach Erfahrungen der Theater besonderer Hinweise. Doch auch die sie begleitenden Erwachsenen sind längst nicht immer sicher, was die Theater von ihnen und ihren Schülern erwarten. Auf der anderen Seite ist die Regelvermittlung konstitutiv für ein Theater, das sich als dynamisches Wechselspiel zwischen Darstellern und Publikum versteht. Dieser Aspekt steht seit rund zehn Jahren im Zentrum zahlreicher theoretischer Beschreibungen des Theaters. Jens Roselt spricht in seiner Phänomenologie des Theaters vom Theater als „Zwischengeschehen“ (vgl. Roselt 2008). Erika Fischer-Lichte prägt in ihrer Ästhetik des Performativen
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den Begriff der „autopoetischen feedback-Schleife“ (vgl. Fischer-Lichte 2004). Und schon 2000 beschreibt Willmar Sauter in The theatrical event die Aufführung im Theater als „Ereignis“ (vgl. Sauter 2000): „Als theoretischer Begriff ersetzt Ereignis ältere Auffassungen der Theateraufführung als Werk oder als Produkt, das einem Publikum angeboten wird. Im Gegensatz zu Werk und Produkt ist Ereignis eine dynamische Kategorie, die von einem gleichzeitigen und wechselseitigen Zusammenwirken von Akteuren und Zuschauern ausgeht.“ (Sauter 2005: 93)
Notwendig und aktuell ist die aufführungsbegleitende Vermittlung im Theater heute, weil mit der Vielfalt der Theaterformen und Publikumsschichten ein Verständigungsproblem einhergeht. Theatervermittlung reagiert auf gesellschaftliche und theaterästhetische Pluralisierung. Gleichzeitig besteht seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit Hilmar Hoffmans kulturpolitischem Credo einer „Kultur für alle“ (vgl. Hoffmann 1979) bis zu aktuellen Diskussionen kultureller Bildung ein Anspruch, möglichst vielen Menschen kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Die Aufgabe aufführungsbegleitender Vermittlung besteht deshalb darin, Zuschauer für den sogenannten Ereignischarakter der Aufführung und ihren Beitrag zu diesem Wechselspiel Theater zu sensibilisieren und ihre Fähigkeiten der Wahrnehmung und Sinnzuschreibung zu erweitern. Erst unter diesen Voraussetzungen kann das dynamische Ereignis Aufführung und die damit verbundene Akteursrolle der Zuschauenden lustvoll erlebt und selbstbewusst gestaltet werden. These 2: Theater für junge Zuschauer sind die Vorreiter in der Entwicklung und Reflexion von Modellen der Vermittlung, von denen alle Theater profitieren können. Theater für junge Zuschauer verfügen über eine lange pädagogische Tradition. Mit der Gründung der auf junges Publikum spezialisierten großen sowjetischen Kinder- und Jugendtheater zu Beginn des 20. Jahrhunderts war von Anbeginn die Idee verbunden sowohl zur Kunst als auch durch die Kunst zu erziehen. Der Zusammenhang von Theaterrezeption und eigenem Theaterspiel war dabei immer im Blick. Pädagogische Abteilungen gehörten als fester Bestandteil zur Konzeption dieser Häuser, nach deren Modell auch die großen Kinder- und Jugendtheater der DDR seit Mitte des 20.
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Jahrhunderts entworfen wurden. In Westdeutschland entwickelte als erstes das GRIPS Theater in den 1970er Jahren Hefte und Unterrichtsvorschläge zur Nachbereitung von Aufführungen. Heute sind eigens engagierte Theaterpädagogen an den institutionalisierten Kinder- und Jugendtheatern verantwortlich für ein sehr vielfältiges, die Aufführungen vor- und nachbereitendes Programm, das sich vor allem an Schulen richtet. Materialmappen mit Unterrichtsvorschlägen für Lehrer, Gespräche, spielpraktische Workshops oder inszenierungsbegleitende Projekte gehören zu den inzwischen gängigen Formaten der Vermittlung. Sie alle zielen darauf, die Zuschauenden für Theater zu interessieren und zu qualifizieren, wollen eine Auseinandersetzung mit den Inhalten, aber auch Darstellungsmitteln der Inszenierungen anregen. Eine Vermittlungsarbeit in diesem Sinn will Zugang zur Theaterkunst schaffen, stellt jedoch Kunstbegriffe und Produktionsweisen ihrer Institution nicht kritisch zur Diskussion. Neuere Entwicklungen gehen über diesen Vermittlungsansatz hinaus. Das Publikum wird nicht nur als Empfänger des Kunstprodukts Aufführung betrachtet, sondern schon im Produktionsprozess einbezogen. Es besteht eine Neugier und Offenheit dem Publikum gegenüber, das man nicht defizitär bestimmt, sondern mit seinen Fähigkeiten, Erwartungen und Bedürfnissen ernst nimmt. Die Idee vom Theater als Kommunikation geht also in vielen Theatern für junges Publikum über die einzelne Aufführung hinaus. Schon seit den 1970er Jahren gibt es Recherchen mit Kindern und Jugendlichen im Probenprozess vieler Theater und insbesondere des GRIPS. Auch Entwicklungen im Theater für die Allerkleinsten beim Helios Theater in Hamm und einigen anderen, also Theater für Kinder bis zu drei Jahren, haben gezeigt, dass die Begegnung von Künstlern und Publikum nicht nur und nicht zuerst der Qualifizierung des Publikums dient, sondern für die Theatermacher selbst künstlerisch anregend sein kann. Formate wie der „Theorietester“ am Theater der jungen Generation in Dresden oder die „Winterakademie“ am Berliner Theater an der Parkaue führen schließlich dazu, im Austausch mit Kindern und Jugendlichen geltende Theaterbegriffe zu prüfen und zu hinterfragen. In letzter Konsequenz löst sich hier die Trennung zwischen Vermittlung und Kunstproduktion auf bzw. diese fallen in eins. Im Rahmen eines weiten Kunst- und Theaterbegriffs zielen die Recherchen mit Kindern und Jugendlichen nicht mehr auf eine spätere Kunstproduktion der professionellen, erwachsenen Theaterma-
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cher, sondern verstehen sich selbst, wie das Beispiel der „Winterakademie“ anschaulich macht, als künstlerische Produktion. These 3: Theaterpädagogische Formate an Theatern bewegen sich zwischen Lektionen in kunsterzieherischer Tradition und Laboren zur Erforschung des Theaters. Ich möchte mit der dritten These den skizzierten Zielsetzungen und Formaten der Theatervermittlung noch einmal genauer nachgehen. Die Formate der Vermittlung, wie sie die Theater anbieten, sind grundsätzlich vielfältig. Sie reichen von der Präsentation des Hauses in sogenannten Führungen bis zu Probenbesuchen, von einmaligen Publikumsgesprächen über regelmäßigen Austausch an den sogenannten jour fixes, von niedrigschwelliger szenischer Praxis für junge und erwachsene Theaterbesucher in Workshops und Theaterclubs für jedermann bis zu semiprofessionellen Inszenierungen, denen manchmal mehrjährige Spielerfahrungen oder ein Casting der Beteiligten vorausgehen. Theatervermittlung zielt traditionell auf die Qualifikation von Zuschauern und nichtprofessionellen Spielern im Sinne einer Erziehung zur Kunst und in einer stärker praxisorientierten Variante zur Erziehung durch Kunst. Im Kinder- und Jugendtheater gehörte diese Begleitung des Publikums von Anbeginn zum konzeptionellen Bestandteil und fand seinen institutionalisierten Ausdruck in den pädagogischen Abteilungen der Theater. Seit den 1990er Jahren und im Zuge einer sogenannten Zuschauerkrise der Theater, werden Theaterpädagogen an den meisten deutschen Stadt- und Staatstheatern und verstärkt auch an den Musiktheatern engagiert. Das Berufsfeld hat sich etabliert. Seit etwa zehn Jahren lassen sich nun Formate der Theatervermittlung beobachten, die sich als Labor, Experiment und Forschung bezeichnen.1 Vorreiter sind wiederum Kinder- und Jugendtheater und Projekte mit Kindern und Jugendlichen. In diesen experimentelleren Ansätzen werden Kunst- und Theaterkonzepte untersucht und hinterfragt. Zusammen mit Kindern, Jugendlichen und theaterfernen Akteuren werden im Sinne einer „ästhetischen Forschung“ im Rahmen von Pro-
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Beispielsweise die Gründung des „Forschungstheaters“, Hamburg 2003; „‚Der Sturm‘ im Reagenzglas. Ein Theaterlabor für Menschen ab 9 Jahren“, Universität Hildesheim 2005; erste „Winterakademie“ am Theater an der Parkaue, Berlin 2006; „Theorietester“, Theater der Jungen Generation, Dresden seit 2012.
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jekten wie der „Winterakademie“ Lebenswelten und Stadtteile, aber auch das Theater und seine Mittel selbst erkundet. Dieser Wechsel zeigt eine Erweiterung theaterpädagogischer Arbeit an, die sich mit Ute Pinkert und Carmen Mörsch als eine Verschiebung bzw. eine Ergänzung der Theatervermittlung vom reproduktiven zum transformativen Diskurs beschreiben lässt (vgl. Pinkert 2011; Mörsch 2009). Damit ist gemeint, dass Programme der Theatervermittlung an den institutionalisierten Stadt- und Staatstheatern traditionell und zum überwiegenden Teil auch heute noch den Interessen und Theaterauffassungen der Häuser folgen und ihnen gegenüber zu Loyalität verpflichtet sind. Theaterpädagogen werden also nur in Ausnahmefällen kritisch über die am eigenen Haus entwickelten Inszenierungen sprechen. Unter der Überschrift von Forschung bricht diese Haltung zugunsten einer kritischeren und experimentellen Auseinandersetzung mit Theater auf. Mit dem skizzierten Wandel von einer primär reproduktiven zu einer zunehmend transformativen Theatervermittlung verändert sich auch das Verhältnis zwischen Theatervermittlern und theaterpädagogischer Klientel. Im tradierten Modell der Vermittlung treten Vermittler als Experten des Theaters auf, die weniger theaterversierte, meist jüngere Menschen zum Theater hinführen. Das Theaterlabor versteht sich hingegen selbst als Forschungsvorhaben und möchte das Theater aus den jeweiligen Bedingungen und Kontexten heraus neu entwickeln. Die Vermittler sind herausgefordert in der Auseinandersetzung mit den Teilnehmern das Theater erst zu erfinden, da die Zielgruppen keinerlei Vorkenntnisse oder Erwartungen bezüglich des Theaters mitbringen: „Anfangen ohne einen Ort des Anfangens zu haben“, wie es der Pädagoge Burkhard Müller einmal im Hinblick auf ein Theaterprojekt in einem Hildesheimer Brennpunkt formulierte: „Jedes Projekt dieser Art muss sich erstmal mit der Frage herumschlagen: Was soll hier Theater? Es gibt kein Publikum, das sich dafür interessieren könnte; es gibt auch kein denkbares Stück, das sich zum Spielen anbietet. […] das Theater muss in gewisser Weise erst erfunden werden.“ (Müller 1994: 69)
Die Theatervermittlerin dieses Typus begibt sich in einen offenen Prozess gemeinsamer Theaterexperimente. Die Hierarchie zwischen Leitung und Teilnehmer ist flacher. Die besondere Qualität dieses Vermittlungsmodells liegt in der größeren Wechselseitigkeit. Uta Plate hat hierfür den Begriff des „Tauschhandels“ geprägt.
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These 4: Vermittlung am Theater soll auch in Zukunft auf möglichst vielfältige Weise möglichst vielen den Zugang zu den hier praktizierten Theaterkünsten eröffnen. Umgekehrt kann das Theater eine Zeitgenossenschaft und künstlerische Innovation im Austausch mit jungen und allen anderen mit Theater nicht vertrauten Menschen gewinnen. Mit einer Theatervermittlung als Labor entstehen nicht nur spielerische Freiräume für die Teilnehmer, sondern auch für die institutionalisierten Theater. Mit unkonventionellen Perspektiven und Darstellungsformen nichtprofessioneller Akteure werden Produktions- und Darstellungsroutinen aufgebrochen. Nicht auf der Grundlage von Regiekonzepten, sondern ausgehend von spezifischen Darstellungsqualitäten und Interessen der Teilnehmer, werden im Probenprozess Inszenierungen im Wechselspiel von Theaterpädagogen und Spielern entwickelt. Theaterpädagogik als Labor, die sich nicht darauf beschränkt ein geltendes Theaterverständnis an Theaterinteressierte weiterzugeben, kann bestehende Kunstpraxis überschreiten, indem sie Zeitgenossenschaft und kulturelle Vielfalt auf die Theaterbühne bringt. Diesen Aspekt hebt auch die dänische Theaterwissenschaftlerin Ida Krøgholt hervor: „Ich betrachte also Theaterpädagogik als ein künstlerisches Fach, das die Tendenz hat Regeln zu überschreiten, die gewöhnlich mit der Kunst verbunden werden.“2 (Krøgholt 2001: 16) Gerade in diesem Überschreiten des Tradierten und Etablierten, kann theaterpädagogische Arbeit eine eigene Qualität und Relevanz entwickeln. Eine vergleichsweise große Freiheit von Produktionszwängen, wie sie im professionellen Theaterbetrieb herrschen, bietet Raum für ästhetische Forschung, nach der sich mancher Regisseur sehnen mag. Entsprechend lautet der Schlusssatz im „Mission Statement“ des Jungen Deutschen Theaters Berlin: „Wir wollen gemeinsam mit jungen Menschen den Freiraum, den das Theater bietet, nutzen und laden ein zum Sehen, Erfahren und Spielen.“ (Junges Deutsches Theater 2013)
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Im Original: „Jeg betragter altså dramafaget som et kunstfag, det har en tendens til å overskride de regler, der vanligvis knyttes til kunsten.“, übersetzt von der Autorin.
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These 5: Formen und Ziele in der Vermittlung von Theater sind gebunden an den jeweiligen Theaterbegriff. Eine Vermittlung von Theater setzt deshalb die Fähigkeit zur Reflexion theoretischer Implikationen und historischer Bedingungen von Theaterkonzepten voraus. Wenn heute also eine besondere Qualität in der Theaterpädagogik als Theaterlabor liegt, die sich und das Theater immer wieder neu erfindet und somit selbst künstlerisch wird – welche Kompetenzen braucht dann eine Theaterpädagogin oder ein Theaterpädagoge? Sind nicht die Experten der Kunst, die Künstler selbst am geeignetsten für diese Aufgabe? Gerade wenn die Theaterpädagogik und das zeitgenössische Theater wie im sogenannten „Theater der Experten“ näher aneinander rücken, wirft dies auch die Frage nach einer sinnvollen Abgrenzung neu auf. Verbindet sich mit dem aktuellen Boom des Theaters mit Experten oder der „Dresdner Bürgerbühne“ eine Deklassierung der Theaterpädagogik? Im Theater mit Experten und der Bürgerbühne sind es Künstler, die Regie führen. Auch in der „Winterakademie“ am Theater in der Parkaue oder im Hamburger „Forschungstheater“ als prominente Beispiele für ein forschendes Theater mit Kindern und Jugendlichen leiten Künstler (zum Teil gemeinsam mit Theaterpädagogen) die Projekte. Doch entscheidend sind hier nicht die Berufsbezeichnungen. Die Frage, ob Künstler oder Theaterpädagogen die besseren Vermittler der Theaterkunst seien, führt auf die falsche Fährte und lässt sich so gar nicht beantworten. Die Polarisierung zwischen Künstlern auf der einen und Theaterpädagogen auf der anderen Seite behauptet einen ebenso alten wie falschen Dualismus, der sich bei genauerem Nachdenken nicht sinnvoll aufrechterhalten lässt. Notwendig ist vielmehr eine größere Differenzierung der Theaterbegriffe und Vermittlungsverfahren! Künstler wie Theaterpädagogen, die in einem Vermittlungskontext arbeiten, sollten ihre Theaterpraxis einordnen können: Welcher Theaterbegriff wird zugrunde gelegt? Welche Vermittlungsformen wären – auch im Hinblick auf die jeweilige theaterpädagogische Klientel – zu erproben? Formen und Ziele in der Vermittlung von Theater sind gebunden an den jeweiligen Theaterbegriff. Eine Vermittlung von Theater setzt deshalb die Fähigkeit zur Reflexion theoretischer Implikationen und historischer Bedingungen von Theaterkonzepten voraus. Erst eine solche Reflexionsfähigkeit wird es ermöglichen, mit historischen Veränderungen der Gesellschaft und des Theaters Schritt
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zu halten bzw. selbst daran mitzuwirken. Die Fähigkeit Theaterpraxis theoretisch und historisch einordnen zu können ist eine notwendige Bedingung, um je nach Zielgruppe und Arbeitszusammenhang den theaterpädagogischen Ansatz zu hinterfragen, zu modifizieren und Theatervermittlung nicht als ein der Kunst nachgeordnetes, sondern selbst künstlerisches Tun zu bestimmen.
L ITERATUR Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main. Hoffmann, Hilmar (1979): Kultur für alle. Perspektiven und Modelle, Frankfurt am Main. Junges Deutsches Theater (Hg.) (2013): „Wir über uns. Mission Statement“, http://www.deutschestheater.de/junges_dt/ueber_uns_jdt/ [24. 07.2013]. Kattwinkel, Susan (Hg.) (2003): Audience Participation. Essays on Inclusion in Performance, Westport, Conn. [u.a.]. Krøgholt, Ida (2001): Performance og dramapædagogik – et krydsfelt. Aktuelle teaterproblemer 47, Århus. Mörsch, Carmen (2009): „Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen. Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation“, in: Carmen Mörsch/Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): Kunstvermittlung II. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschnungsprojektes, Zürich, Berlin. Müller, Burkhard (1994): „Soziale Kulturarbeit, kulturelle Sozialarbeit oder einfach Theater?“, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.): Interkulturelles Theater und Theaterpädagogik. Dokumentation der Tagung und des Festivals an der Universität Hildesheim und in der KulturFabrik Löseke, November 1993, Hildesheim. Pinkert, Ute (2011): „Theater und Vermittlung. Potentiale und Spannungsfelder einer Beziehung“, in: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik 59, S. 17-23. Roselt, Jens (2008): Phänomenologie des Theaters, München. Sauter, Willmar (2000): The theatrical event. Dynamics of performance and perception, Iowa.
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Sauter, Willmar (2005): „Ereignis“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, S. 93. Theater an der Parkaue (Hg.) (2013): „Kleiner ‚Theaterknigge‘“, http:// www.parkaue.de/index.php?topic=382 [24.07.2013].
Theater und sein Publikum Kinder- und Jugendtheater als Modell B IRTE W ERNER
„Es geschieht immer öfter, dass ich im Theater sitze und gar nicht mehr weiß, ob es sich nun um ein Stück für Jugendliche oder Erwachsene handelt. Es ist einfach Theater. Was oft gefordert und behauptet wurde, wird immer mehr Realität. Und das ist eine sehr positive Entwicklung.“ (Keim 2010: 61)
Das Verhältnis von Kinder- und Jugendtheater auf der einen und dem sogenannten „Abendspielplan“, dem Theater für Erwachsene, auf der anderen Seite ist seit einigen Jahren in einem erfreulichen Wandel begriffen: Ein von Vorurteilen, Status-, Geld- und Machtfragen dominierter Diskurs weicht zunehmend einem wechselseitigen und gleichberechtigten Inspirations- und Lernprozess, in dem mal die eine, mal die andere Seite die Vorreiter- und Vorbildrolle inne hat. Dieser Prozess hat zu vielfältigen Annäherungen geführt, so dass sich Stoffe, Arbeits- oder Spielweisen nicht mehr exklusiv nur hier oder dort beobachten lassen. Denjenigen Stimmen, die in gegenseitiger Abgrenzung und durchaus aggressiv die Rede „typisch Kindertheater – typisch Abendspielplan“ geführt und gepflegt hatten, verstummen zusehends und geben sukzessive dem Austausch, der kreativen Zusammenarbeit einen von Vorurteilen und Vorhaltungen freien Raum. Ist dem wirklich so? Wo genau stehen wir zurzeit? Verfügt das Kinder- und Jugendtheater über Potenziale, die bisher noch nicht als inspirierender Impuls Eingang in den Entwicklungsprozess gefunden haben, in dem sich die deutsche Theaterlandschaft befindet? Und wo in diesem Feld ist zum Beispiel die Kinder- und Jugendtheaterlandschaft Niedersachsens zu verorten?
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V ORURTEILE
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V ORHALTUNGEN
Kinder und Jugendliche sind nicht das Publikum von morgen, sie sind das Publikum. Junge Theaterbesuchende haben dasselbe Recht wie jeder Erwachsene, auf ein Theater zu treffen, das sich für sein Publikum und seine Lebenswirklichkeit interessiert. Denn warum sollte sich sonst ein Publikum für das Theater interessieren? „Das Kindertheater könnte eine Vorreiterrolle in der zeitgenössischen Theaterlandschaft spielen, weil es sein Publikum ernst nimmt, ihm mit Sympathie begegnet und um seinen Anteil am Aufführungsereignis weiß.“ (Wartemann 2006: 150) Die unbedingte Ausrichtung auf ihre Zielgruppe macht die Identität dieser Theater aus, was sich an ihrem Namen ablesen lässt. Kinder- und Jugendtheater sind eine der besucherstärksten Theatersparten in Deutschland (vgl. Königsdorf 2009, der sie als die besucherstärkste überhaupt beschreibt), aber eine Sparte, die nach wie vor mit Ressentiments, einem Wahrnehmungs- und Anerkennungsdefizit konfrontiert ist: „Schauspieler, auch Regisseure oder Autoren, haben aktuell weniger Ängste, dass sie durch ein Engagement bei der Kindertheatergruppe als zweite Wahl abqualifiziert werden. Da hat sich einiges geändert, auch wenn solche Vorbehalte nicht völlig verschwunden sind“ (Burkert 2010: 13), konstatierte der Kulturjournalist und Theaterkritiker Martin Burkert im Jahr 2010. Zu den (kulturpolitischen) Aufgaben, die an dieser Stelle noch ihrer Lösung harren, gehören diejenigen, die den Status der im Kinder- und Jugendtheater arbeitenden Künstler betreffen: 1.) Honorarfragen – denn die Bezahlung für eine Arbeit in diesem Bereich unterscheidet sich im Durchschnitt weiterhin erheblich von dem, was im Theater für Erwachsene gezahlt wird; 2.) Fragen der Aufmerksamkeit und Wertschätzung in der Ausbildung (von Regieführenden, Schauspieler, in der Theaterwissenschaft oder im Szenischen Schreiben) wie im Berufsalltag (z.B. innerhalb von Mehrspartenhäusern); 3.) Fragen der öffentlichen Wahrnehmung – in der überregionalen Presse wie auf den großen Festivals (Theatertreffen, Ruhrtriennale, Impulse usw.) ist das Kinder- und Jugendtheater nicht oder unterrepräsentiert.
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Einen begrüßenswerten Schritt haben 2010 die Mülheimer Theatertage mit der Einführung von KinderStücke gemacht und den Horizont des Festivals – und damit den Horizont des Fachpublikums – erweitert. Denn die Frage der öffentlichen Wahrnehmung ist auch darum eine wichtige, weil nur so selbstverständlich werden wird, dass das jeweilige Fachpublikum die Produktionen und Diskussionen der jeweils anderen Sparte zur Kenntnis nimmt. Nur so können kenntnisreiche, spartenübergreifende Fachdiskurse und eine gemeinsame, starke Position der Kulturpolitik gegenüber entstehen. Die Etablierung des Deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffens Augenblick mal!, das seit 1991 stattfindet und biennal „bemerkenswerte“ deutschsprachige und internationale Produktionen nach Berlin einlädt („bemerkenswert“ zu sein ist dasselbe Kriterium, mit dem die Jury des Berliner Theatertreffens jedes Jahr zu seiner Auswahl kommt), versammelt mit den ausgewählten Produktionen auch ein großes Fachpublikum in Berlin. Auch zur Spurensuche, dem Festival und Arbeitstreffen der Freien Kinderund Jugendtheater, treffen zahlreiche Experten alle zwei Jahre an wechselnden Orten zusammen. Aber es ist jeweils das Fachpublikum des Kinder- und Jugendtheaters, das – von wenigen Ausnahmen abgesehen – unter sich bleibt. Dabei wäre für Kollegen, die im Bereich des Theaters für Erwachsene arbeiten, hier nicht nur in ästhetischer und inhaltlicher, sondern auch in organisatorischer und kulturpolitischer Hinsicht Bemerkenswertes kennen zu lernen.
A RBEITSKREISE
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A RBEITSTREFFEN
Die großen Festivals des Kinder- und Jugendtheaters sind nicht nur Leistungsschau und Netzwerktreffen. Sie sind häufig – und das ist ein wesentlicher Unterschied zu anderen Festivals – auch Arbeitstreffen aller Beteiligten. Sie „sind Foren für Begegnungen, Diskussionen, Anregungen. Vernetzungen sorgen für Impulse und werden immer mehr auch zu Strategien, um den vielerorts drohenden Kürzungen gemeinsam zu begegnen“ (Schneider/Keim 2010: 7). Dies wird dadurch möglich, dass nicht nur die Regieteams der Produktionen, sondern auch die Ensembles, die im Festival auftreten, nach Möglichkeit während der gesamten Dauer des Festivals vor Ort sind. Die Strukturen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfahlen sind überzeugend in ihrer disziplinen- und strukturenübergreifenden Arbeitswei-
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se, in beiden Bundesländern ist die Zusammenarbeit von festen und freien Häusern und Ensembles Praxis. In Baden-Württemberg wechseln sich die Biennale Schöne Aussicht, die vom Jungen Ensemble Stuttgart (JES) ausgerichtet wird und sowohl ein internationales als auch ein Programm mit Arbeiten aus dem Bundesland präsentiert, und das Baden-Württembergische Theatertreffen ab. Der Arbeitskreis Kinder- und Jugendtheater in diesem Bundesland wirkt in vielerlei Hinsicht als Impuls gebende Kraft. Er begleitet beide Festivals mit kulturpolitischen Diskussionsforen und öffentlichen Veranstaltungen und er organisiert sie intern als Arbeitstreffen mit Auswertungsgesprächen und Workshops. Die Kinder- und Jugendtheater in NRW befinden sich gleichfalls in einem laufenden Austausch und Fachdiskurs nicht nur untereinander, sondern auch mit Theatern in den angrenzenden Ländern Belgien und den Niederlanden. Wie in Baden-Württemberg sind auch in NRW zwei Einrichtungen wesentliche Impulsgeber dafür: der Arbeitskreis Kinder- und Jugendtheater und das Kinder- und Jugendtheatertreffen des Landes NRW, Westwind. Auch bei diesem Festival ist das Arbeitstreffen mit Auswertungsgesprächen und Workshops für alle Beteiligten wesentlicher Teil des Programms. Beide, der Arbeitskreis und Westwind, wurden Mitte der 1980er Jahre ins Leben gerufen, haben einen starken Einfluss auf die Arbeit der Kinder- und Jugendtheater in NRW und unterscheiden nicht zwischen kommunalen und frei arbeitenden Theatern. Voraussetzung dafür war und ist, neben der Professionalität der Arbeit, die Mitgliedschaft in der ASSITEJ, der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche. Die gleichberechtigte Einbeziehung des freien Kinder- und Jugendtheaters auch in die zahlreichen anderen Festivals des Landes (wie Favoriten, Hellwach, Spielarten, Halbstark, KAAS & KAPPES) hat zu überregionaler Aufmerksamkeit und internationaler Anerkennung für seine Produktionen und Produktionsweisen geführt. Durch diese gewachsenen Strukturen sind Kollegen, die in den Kinderund Jugendtheatern arbeiten, im ständigen Austausch. Die Kenntnis der anderen Ensembles, der dortigen Arbeitsweisen und Themenschwerpunkte ist groß. Die Auswertungsgespräche zu allen Beiträgen im Festival mit allen Beteiligten haben über die Jahre zu einer intensiven, institutionalisierten Gesprächs- und Feedbackkultur geführt. Sie ist Grundlage für die fortlaufende, gemeinsame Reflexion der Qualität der Arbeit, für die Verständigung auf neue Zielsetzungen, für die Entwicklung von Projekten und Ko-
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operationen sowie für eine starke Position der Kinder- und Jugendtheater gegenüber der Kulturpolitik des jeweiligen Landes.
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Die Situation im Flächenland Niedersachsen ist damit nicht direkt vergleichbar, weil die räumliche Nähe nicht gegeben ist, die Förderinstrumente andere und Festivals und Arbeitskreise zum Teil jünger sind. Niedersachsen präsentiert alle Varianten des Kinder- und Jugendtheaters (und möge deshalb hier als ein weiteres Beispiel dienen): mit seinen Ensembles der kommunalen und Landesbühnen, etablierten und erfahrenen freien Gruppen sowie mit Einpersonenensembles, die als reisende Solisten mit Erzählund/oder Figurentheaterproduktionen im ländlichen Raum unterwegs sind. 1.) Die fünf kommunalen Bühnen (Göttingen, Lüneburg, Celle, Osnabrück und Hildesheim, das seit der Fusion mit der Landesbühne Hannover 2007 als „Theater für Niedersachen – TfN“ sowohl Stadttheater als auch Landesbühne ist), drei Staatstheater (Braunschweig, Hannover, Oldenburg) und das Landestheater (Wilhelmshaven) bieten jeweils Theater für junges Publikum, wobei Braunschweig und Hildesheim die strukturell divergierenden Positionen markieren: Während das Staatstheater Braunschweig – als einziges der oben genannten – über ein eigenes, siebenköpfiges Ensemble verfügt, ist das Ensemble des TfN selten in Produktionen für junges Publikum involviert. Stattdessen kooperiert das Haus regelmäßig mit etablierten freien Gruppen, Theater R.A.M., Theater Karo Acht, Theater Kormoran u.a., die dadurch am Haus Proben- und Aufführungsmöglichkeiten finden. Dieses Modell, das ein stehendes Ensemble mit Freien Theatern zu einer neuen, beweglichen Form am Haus verbindet, ist nicht vergleichbar mit der Situation in Nürnberg, wo bereits Ende der 1990er Jahre das Kinder- und Jugendtheaterangebot vom Staatstheater auf zwei Freie Theater (Mummpitz und Pfütze) überging, da beide über eigene Häuser verfügen. Das Niedersächsische Staatstheater Hannover konzentriert sein Angebot vor allem auf das Jugendtheater, sodass sich der freien Szene der Stadt vielfältig Gelegenheit böte, daneben ein anspruchsvolles Kindertheaterangebot zu entfalten. Der Wettbewerb in Oldenburg ist ungleich höher, weil das integrierte Ensemble des Staatstheaters für Kinder wie für Jugendliche spielt.
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2.) Niedersachsen hat eine lebendige Figuren- und Objekttheaterszene, die landesweit, insbesondere im ländlichen Raum, mit Produktionen für alle Altersgruppen vertreten ist. In der Landeshauptstadt verfügen drei Freie Theater mit dem Theatrio über ein gemeinsames Figurentheaterhaus. 3.) Der Einfluss der Universität Hildesheim, an der es auch eine Professur für Kinder- und Jugendtheater gibt, macht sich seit vielen Jahren durch Absolventen bemerkbar, die als freie Gruppen die niedersächsische Szene prägen. In jüngster Zeit entwachsen der Hochschule neue Gruppen, die zeitgenössische Formen für Junges Publikum erforschen und erproben, wie KassettenKind, die begehbare Hörspiele entwickeln, pulk fiktion, die u. a. Lecture-Performances für Kinder inszenieren, oder die Mitglieder des jungen Kollektivs theater_in, die musiktheatrale Reisen veranstalten. 4.) Niedersachsen hat kein landesweites Kinder- und Jugendtheaterfestival wie Westwind oder Schöne Aussicht. Hart am Wind ist länderübergreifend konzipiert und präsentiert seit 2008, von einer Fachjury ausgewählt, Theater für Junges Publikum aus Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein biennal bei wechselnden Gastgebern. Davor war das Kinder- und Jugendtheatertreffen Teil des Norddeutschen Theatertreffens. Der Arbeitskreis Nord der ASSITEJ, die sich vier Mal im Jahr trifft, befördert auch die Arbeitstreffen im Rahmen von Hart am Wind. Es ist ein relativ junges Festival, verglichen mit denjenigen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, das aber ab 2014 zu den „alten Hasen“ gehören wird: Denn der Arbeitskreis Ost der ASSITEJ wird dann ihr Kinder- und Jungendtheaterfestival Wildwechsel aus der Taufe heben; der Arbeitskreis Bayern befindet sich noch in der Planung ihres ersten landesweiten Festivals. 5.) Was Niedersachsen unter anderem fehlt, ist ein Impulse setzendes „Vorreiterhaus“, das Strahlkraft wie zum Beispiel die Parkaue in Berlin, das JES in Stuttgart oder das Junge Schauspielhaus in Düsseldorf entwickeln und überregionale Aufmerksamkeit erregen würde, das forschen und Gastgeber für internationale und interdisziplinäre (Ko-)Produktionen sein könnte. Es fehlt auch die Investition in Produktionsstätten für Junges Theater mit transdisziplinären Möglichkeiten und einer internationalen Perspektive. Mit dem Theaterhaus Hildesheim, das seit 2007 institutionalisierte Förderung des Landes erhält und „insbesondere Kinder- und Jugendtheater sowie jun-
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ge Theatermacher an der Schwelle zur Professionalität“ (Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur 2010: 87) fördert, existiert einer der wenigen Produktions- und Aufführungsorte für verschiedene freie (Hildesheimer) Gruppen. Das Residenz-Programm „Flausen“ des Theaters Wrede+ in Oldenburg ist eine spannende Neuentwicklung, die zwar nicht nur einem Theater für junges Publikum gewidmet ist, jedoch gerade in seiner Interdisziplinarität und Laboratoriumsstruktur ein – nicht nur, aber insbesondere in Niedersachsen – so einzigartiges wie dringend benötigtes Modell darstellt.
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UND DAS
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„Dekonstruktion und Dokumentartheater findet sich nun auch im Jugendbereich, viele Regisseure im Abendspielplan haben das direkte Erzählen wieder gelernt“ (Keim 2010: 61). Insbesondere im Theater für Kinder werden in den letzten Jahren neue künstlerische Freiräume betreten, weil junges Publikum offen für diese Formen ist: „Das Neue und Andere schockiert oft die Erwachsenen mehr als die Kinder.“ (Osten 2003: 77) In dem Maße, wie herausragende Künstler für ein Produktionsteam im Kinder- und Jugendtheater engagiert werden, und in dem Maße, wie Kinder- und Jugendtheater an einem Haus nicht mehr nur synonym mit dem Weihnachtsstück ist, wächst auch die Begeisterung in integrierten Ensembles für die Arbeit in dieser Sparte. Warum? Weil die Intendanz hier dem Neuen, dem Unbekannten, dem Experiment, ohne den Druck der Abonnenten im Rücken, offener gegenüber steht? Oder weil das Scheitern eines Projekts – dem mangelnden Interesse der überregionalen Berichterstattung sei Dank – in der Öffentlichkeit nur eine marginale Rolle spielen und damit zu verschmerzen sein wird? Der wesentliche Grund ist ein anderer: die offene, produktive Beziehung des Kinder- und Jugendtheaters zu seinem Publikum. Das Kinder- und Jugendtheater steht heute vor allen Herausforderungen, denen sich das Theater für Erwachsene zukünftig zu stellen haben wird. Das ist nichts Neues und liegt in der Natur der Sache. Das Schwinden der klassischen Zielgruppe (abnehmendes Bildungsbürgertum und damit „Aussterben“ der Abonnenten) und die Verpflichtung, das eigene Programm zu hinterfragen, wenn eine Stadtbevölkerung zukünftig mehrheitlich von Zuwanderungsgeschichte geprägt, auch in vielen anderen als der „deutschen“ Kultur verwurzelt sein und weiterhin heterogenen Milieus angehö-
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ren wird – beiden Aufgaben begegnen viele Kinder- und Jugendtheaterschaffende souverän, weil es für Künstler auf diesem Feld seit den 1970er Jahren selbstverständlich ist „[s]tets auf der Suche nach neuen Spielformen und nah an ihrem Publikum“ (Jahnke 2013: 163) zu sein. Nah am Publikum zu sein, das betrifft einerseits die Themen, die im Kinder- und Jugendtheater verhandelt werden: „Die Spielpläne der Kinder- und Jugendtheater sind immer noch lebendiger, aktueller und näher dran an der Gegenwart als die des Abendspielplans. Der Freiraum ist größer, denn das Publikum erwartet, dass die Theaterleute sich mit ihren Ängsten und Sehnsüchten beschäftigen, keine bestimmten Stücke oder gar Klassiker. […] Recherchen in der Realität, der Dialog mit Kindern, Jugendlichen und Erziehern ist für viele Theater Grundlage der Arbeit.“ (Keim 2010: 60)
Gleichzeitig betrifft das „Nahdransein“ die Darstellungsformen und Erzählweisen. Kleine Kinder treffen als offene Erstbesucher auf Theater, bevor sie eine Vorstellung von diesem Medium und eine konkrete Erwartung daran entwickelt haben. Die besondere Verantwortung diesem Publikum gegenüber, die Selbstverpflichtung gerade des Kindertheaters, hohen ästhetischen Anforderungen zu genügen, bringt in den letzten Jahren theatrale Formen hervor, die von Experimentierfreude, von der Verbindung von Texten mit Tanz über Musiktheater bis hin zur bildenden Kunst und performativen Formaten gekennzeichnet sind. „Das realistische Theater für Kinder gibt es nur noch selten, häufiger für Jugendliche.“ (Burkert 2010: 13) Tatsächlich verfügen viele Jugendliche, die zum ersten Mal ein Theater besuchen, über eine erstaunlich feste Vorstellung davon, wie Theater auszusehen habe. Ihr Bild manifestiert sich beispielsweise in dem Urteil, dass eine „gute“ Ausstattung eine naturalistische Ausstattung sei. Eine Forschungsarbeit dazu, wie Jugendliche ohne Theaterseherfahrungen zu ihrer dezidierten Vorstellung von Theater kommen, steht noch aus. Offenbar sind das kommerzielle Musical und das Medium Film hier stilbildend, entsprechen doch Theateraufführungen in (Spiel-)Filmen häufig einem Theaterklischee: Logentheater – roter Vorhang – Guckkastenbühne – große Kulissen – Method-Acting, das sein Publikum hinter die vierte Wand verbannt und die Darstellenden mit ihren Rollen verschmelzen lässt.
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Ä STHETISCHE E XPERIMENTE UND INTERDISZIPLINÄRE K OPRODUKTIONEN Viele Künstler sind, über die Sparten-, Genre- und Zielgruppengrenzen hinweg, auf der fortlaufenden Suche nach ästhetischen Korrespondenzen für die aktuellen Formen der Weltwahrnehmung und -aneignung ihres jeweiligen Publikums. Die „Digital Natives“, wie sie der amerikanische Pädagoge Marc Prensky Anfang der 2000er Jahre beschrieb, sind inzwischen auch als Publikum des Abendspielplans auszumachen, das Publikum des Kinder- und Jugendtheaters aber stellen sie zu hundert Prozent. Für diejenigen Künstler, die für Kinder und Jugendliche arbeiten, ist diese Suche darum womöglich noch existenzieller. Ihre Suchbewegungen führen zu spannenden Experimenten und Innovationen sowohl in der Form der Darstellung als auch in der Kooperation der am Projekt beteiligten Künste, sodass eine Verschiebung weg von pädagogischen hin zu künstlerischen Fragen zu beobachten ist: „Während vor zehn Jahren darüber diskutiert wurde, ob ein Thema wie der Tod überhaupt kindertauglich ist, interessiert die Theatermacher und -macherinnen heute, wie sie Kunstformen wie Tanz oder Videotechnik für sich nutzen können.“ (Königsdorf 2009) Marc Prensky fasste 2001 in seinem Buch „Digital game-based learning“ die Formen der Weltwahrnehmung und -aneignung der gegenwärtigen „Games Generation“ unter der Überschrift „Ten Ways the Games Generation is Different“ in Gegensatzpaaren zusammen, um deutlich zu machen, was sie darin von älteren Menschen unterscheidet. Dazu gehören: „Paralell Processing vs. Linear Processing“, „Graphics First vs. Text First“, „Active vs. Passive“, „Play vs. Work“, „Fantasy vs. Reality“ und „Technology-As-Friend vs. Technology-As-Foe“. (Vgl. Prensky 2001) Zu den allerersten Institutionen, die sich in künstlerischer wie wissenschaftlicher Hinsicht konsequent damit auseinander setzten, was für ein ästhetisches, kreatives, pädagogisches, kommunikatives und gesellschaftspolitisches Potenzial daraus erwächst, gehört das Netwerk C&T, das an der University of Worcester/England beheimatet ist. Wie können, wie müssen darstellende Künste für diese Generation aussehen? Sind Kinder und Jugendliche nicht viel eher dazu in der Lage, komplexen, mehrschichtigen, nicht-linear verlaufenden Erzählungen zu folgen, als wir Älteren das sind? Sind sie uns in dieser Hinsicht nicht überlegen – und unterschätzen wir sie also? Können, dürfen und müssen wir nicht viel „unkonventioneller“ in un-
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seren Darstellungsformen werden? Im Kinder- und Jugendtheater ist das ein fortlaufender, produktiver Diskurs, der in den anderen Sparten genauso geführt wird. Stellvertretend dafür, was aus diesen Desiderata für Förderprogramme und damit künstlerische Projekte erwachsen können, seien „Fresh Tracks Europe“ und „Take-off: Junger Tanz“ genannt. „Fresh Tracks Europe“ ist ein europaweites Netzwerk für junge Choreographen und hat zum Ziel, zeitgenössischen Tanz für junges Publikum zu fördern. Denn auffällig sei, dass der zeitgenössische Tanz in seiner Vielfalt und Komplexität, seiner intermedialen und interkulturellen Entwicklung nur langsam in den Produktionen für Kinder und Jugendliche ankomme. Im Gegenteil sei Tanz für junges Publikum in ganz Europa sogar „predominated by particularly more traditional values“ (Fresh Tracks Europe 2013). Es bestehe ein Widerspruch zwischen der Welt, in der junge Menschen heute aufwachsen – „a global, fragmented world full of technical ingenuity“ (ebd.) – und dem Dogma, dass Tanz für ein junges Publikum keinesfalls zu komplex sein dürfe. „Take-off“ ist das Förderprogramm des Landes NRW für jungen Tanz. „Mit durchschnittlich acht Produktionen und Koproduktionen pro Jahr für Kinder und Jugendliche ist Take-off zum größten Tanztheater-Produzenten und Kompetenzzentrum in Deutschland geworden“ (tanzhaus nrw 2013). Das Tanzhaus NRW in Düsseldorf, Träger des Take-off-Programms, hat 2012 unter Einbeziehung von „Fresh Tracks Europe“ die Produktion TRASHedy des jungen deutsch-argentinischen Choreographen Leandro Kees zur Premiere gebracht, das einem Publikum ab zehn Jahren den komplexen Zusammenhang zwischen industrieller Produktion, Konsum und Müll in einer multimedialen Performance aus Tanz, Lecture, Filmprojektionen und Schauspiel so sinnfällig wie selbstironisch vermittelt. TRASHedy war 2013 beim Kinder- und Jugendtheatertreffen NRW Westwind im Wettbewerb zu sehen und wurde nicht nur von der Preis-, sondern auch von der Jugendjury als herausragende Arbeit ausgezeichnet, die im Übrigen deutliche Worte für die Produktionen im Wettbewerb fand, die sie ihrer Meinung nach belehren wollten. Das Tanzhaus NRW ist eine der – bisher viel zu seltenen – Produktionsstätten in Deutschland, an denen Nachwuchsförderung in vorbildlicher Weise erfolgen kann: „Die Vernetzung auch mit anderen Künstlergruppen, die finanzielle Unterstützung, das Stellen von Proberäumen sowie die Reflexion mit Mentor und Dramaturg_innen ist für
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mich ein Inbegriff dessen, wie Nachwuchsförderung aussehen sollte.“ (Hinz 2013: 104)
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ÜBER , FÜR UND MIT JUNGEM
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Die Generation der heute Vierzigjährigen ist die erste, die mit einer sich etablierenden Kinder- und Jugendtheaterlandschaft aufgewachsen ist, wie sie in der Bundesrepublik seit Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre sukzessive entstand. Kindheit und Jugend als pädagogische wie politische Themen sind omnipräsent in dieser Generation, die inzwischen selbst Elterngeneration ist. Sie sind prägend für alle gesellschaftspolitischen Bereiche, für Bildungs-, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. Kinder- und Jugendtheater kommunizieren in der Projekt- und Programmentwicklung, in der Vor- und Nachbereitung mit ihrem Publikum und sie erforschen es fortlaufend. Sie sind Experten für die Themen Kindheit und Jugend, vollziehen Veränderungen laufend mit. Wenn Theater für junges Publikum sich mit der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen befasst, dann ist es immer auch Theater über junges Publikum – und damit auch Theater für Erwachsene. Kinder- und Jugendtheater haben von Anfang an, bevor der Begriff „Audience Development“ als Terminus technicus etabliert war, Audience Development betrieben. Es kann sich nicht auf einen fest gefügten Publikumsstamm verlassen, weil ihm sein junges Publikum fortlaufend entwächst. Es steht immer wieder einem neuen jungen Publikum gegenüber, an dem es sich orientiert, das es kennen lernt und mit dem es sich in intensivem, offenem Dialog befindet, um Kinder und Jugendliche immer wieder von neuem für das Theater zu gewinnen und zu begeistern. Kinder- und Jugendtheater muss sich fortlaufend verändern. Was das für seine Themen und Darstellungsformen bedeutet, wurde oben bereits beschrieben. Vorbildlich für das Theater für Erwachsene, den „Abendspielplan“, sind auch die vielfältigen Formen der Vermittlung, die Kinder- und Jugendtheater in den letzten vierzig Jahren entwickelt haben. Dazu gehört das Arbeiten in Netzwerken, vor allem mit den Schulen, denn nur, wenn es gelingt, Erzieher und Lehrer für Theater zu begeistern und ihre Kompetenz für dieses Medium zu schulen, finden Kindergärten und Schulen den Weg ins Theater. Die Einführung des Unterrichtsfachs Theater bzw. Darstellendes Spiel in mehreren Bundesländern ist auch darum ein großer Schritt, weil Theater Eingang in
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die Ausbildung der Lehrenden, also in die Universitäten gefunden hat und so ein neuer künstlerisch-wissenschaftlicher Diskurs in Gang gekommen ist. Zu den Formen der Kunstvermittlung, die Kinder- und Jugendtheater leisten, gehört auch die aufsuchende Bildungsarbeit. Indem sie theaterfremde Orte bespielen, sind sie in ihren Städten vernetzt und präsent, spielen im Stadtraum, in Schulen (Klassenzimmerstücke), leisten theaterpädagogische Arbeit in Kindergärten und anderen Einrichtungen. Zu einem der wesentlichen Bausteine der Vermittlungsarbeit gehört das Theaterspielen mit Kindern und Jugendlichen. Die Kinder- und Jugendclubs, die es inzwischen an fast allen Theatern gibt, die ein theaterpädagogisches Angebot machen, sind vielerorts – ungeachtet der aktuellen Entwicklungen im Schulsystem – so zahlreich geworden, dass sie die Probenund Aufführungsdisposition der Häuser vor Herausforderungen stellen. Ein großes Problem an allen Theatern ist ein (Proben-)Raumproblem, das sich seitdem verschärft stellt und in jeder Kommune dringend nach Lösungen verlangt. Der Impuls, mit den Menschen ihrer Stadt Theater zu machen, wird von vielen Theatern verstärkt aufgenommen und ist nicht nur von den Erfahrungen der Theaterpädagogik, sondern auch von Arbeiten wie denjenigen von Rimini Protokoll inspiriert, in denen nicht Schauspieler, sondern Menschen einer Stadt, „Experten des Alltags“, das inhaltliche wie auch das künstlerische Konzept der Projekte tragen. Das Entstehen der Bürgerbühnen, zum Beispiel in Dresden und Mannheim, das 2013 von mehreren Konferenzen begleitet wurde, verdankt sich diesen Impulsen und zeigt, wie Arbeitsformen und Erfahrungen des Kinder- und Jugendtheaters aufgegriffen werden, produktiv wirken und den Wandel der Theaterlandschaft mit beeinflussen.
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Der Schrecken des Neuen Fünf Skizzen zur Krise E STHER S LEVOGT UND N IKOLAUS M ERCK
I. Krise also. Krise des Kulturstaates, der sich das Theater nicht mehr leisten kann. Oder nicht mehr leisten will? Denn wer braucht das überhaupt noch: Theater? Haben wir längst nicht zu viel davon? Oder genug? Besteht das Problem am Ende nur in der fehlenden Vermittlung? Aber was will das Theater eigentlich noch vermitteln? Und vor allem: wem? Ist nicht die Leitkultur, diese einst so bedeutsame identitätspolitische Errungenschaft des Bürgertums in den deutschen Kleinstaaten des 19. Jahrhunderts, schon lange ein Ausschlussinstrument geworden? Wenden sich deshalb immer mehr Menschen von dieser Kultur einfach ab: weil sie von ihr nicht mehr angesprochen sind? Menschen, die aus anderen kulturellen oder sozialen Kontexten kommen als diejenigen, die einst als das klassische deutsche Bürgertum galten? Müssen wir deshalb die Stadttheater schließen? Weil ihr Bildungsauftrag obsolet, ihr Kanon ebenso wenig noch konsensfähig ist wie ihre Repräsentationspraxis? Und wenn wir sie nicht ganz schließen, sollten wir sie umwidmen in Theaterhäuser für freie Produktionen, weil das kreativer, ja, innovativer und vor allem billiger ist! Reformbedarf wird also ausgerufen, die darstellende Kunst zur Baustelle erklärt. Aber fallen wir damit nicht auf Kampagnen und Diskurse der Neoliberalen herein, die inzwischen so ziemlich jeden Bereich zur reformbedürftigen Baustelle erklärt haben, der noch nicht restlos durchökonomisiert ist? Kampagnen, deren Ziel eine Deregulierung der staatlichen Kulturförderung ist: um den einzelnen Menschen noch weiter aus allen Bindungen und identitätsstiftenden Bezügen zu lösen, zu denen auch die Kultur noch
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immer zählt. Kultur, die sich nicht am Markt behaupten muss, sondern dem Einzelnen einen Schutzraum vor diesem Markt bietet, weil dessen Gesetze dort keine Gültigkeit haben. Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen, dass das Theater, diese heiligste Kuh des Bürgertums, so bis auf die Knochen abgemagert ist? Dass manches Stadttheater inzwischen einem Pflegeheim gleicht, einem Heim zur Pflege einer sterbenden Kunstgattung. Hat die Politik versagt? Oder ist die Hochkultur am Ende von dem hohen Ross, auf dem sie lange saß, heruntergefallen und hat sich den Hals gebrochen?
II. Für die Kritiker unter den Gründern von nachtkritik.de war der gegenwärtige Erosionsprozess zuerst in einer schleichenden Marginalisierung der Theaterkritik im Feuilletondiskurs spürbar geworden, zu dessen Königsdisziplinen sie lange gehörte. Und zwar lange, bevor die Krise an der Oberfläche der gesellschaftlichen Debatte angekommen war und sich dort unter anderem in Spardebatten um einzelne Theater oder Sparten niederschlug, deren Existenz plötzlich nicht mehr selbstverständlich zur Grundausstattung eines städtischen Selbstverständnisses zu gehören schien. Schon lange vorher hatte es in den Feuilletons immer weniger Platz für Theaterthemen gegeben. Die vorangegangenen Spar- und Abwicklungsdebatten um Theater in der ehemaligen DDR hatte man noch unter anderen Vorzeichen gelesen. Sie nicht als Symptome einer Krise gewertet, die nun im Feuilletondiskurs manifest zu werden begann. Das wenige, was man noch unterbringen konnte, erschien mit immer größerer Verzögerung. Manchmal lag eine Woche zwischen einer Premiere und dem Erscheinen einer aktuell verfassten Theaterkritik. „Die Leser interessieren sich nicht mehr für das Theater“, wurde einer von uns einmal mit Verweis auf Leseranalysen bedeutet, die diese überregionale deutsche Tageszeitung ein paar Jahre später dennoch nicht vor dem Untergang bewahren würden. War das denn wirklich so, fragten wir uns, die von der Erfahrung des langsamen Verschwindens der Theaterkritik aus dem Feuilleton (und den damit ebenfalls verschwindenden Publikations- und Verdienstmöglichkeiten) zusammengeführt worden waren. Oder musste das Verschwinden der Theaterkritik und mit ihr auch des Theaterkritikers aus dem öffentlichen Diskurs möglicherweise als Symptom eines wesentlich grundsätzlicheren
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Erosionsprozesses gelesen werden: als Symptom der Auflösung des seit dem Beginn der Moderne geläufigen bürgerlichen Öffentlichkeitsbegriffs? Jener Öffentlichkeit also, die um 1800 das Theater zum wesentliches Organ der Selbstverständigung erkor und deren Herausbildung in den frühbürgerlichen Debattierclubs und Lesezirkeln des späten 18. Jahrhunderts bis in die massenmedial strukturierte Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts Jürgen Habermas 1962 in seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit beschrieben hat. Dort hatte Habermas Öffentlichkeit als „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ definiert, welche die „obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit“ nun selbst beanspruchen würden, „um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen“ (Habermas 1962: 86). Wesentliches Forum der von Habermas beschriebenen Auseinandersetzung ist für das Bürgertum von Anfang an nicht allein das Theater, sondern mit der Zeitung auch ein damals vollkommen neues Medium gewesen. Die ersten Texte, die in der ebenfalls neu entstehenden publizistischen Sparte „Feuilleton“ erschienen, behandelten das Theater1. Zunächst hatten sie noch Mitteilungscharakter, emanzipierten sich jedoch bald zur eigenständigen publizistischen und literarischen Gattung. Die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft hatte sich im 19. Jahrhundert als Akteur einer politischen Öffentlichkeit wesentlich am Sprechen, Schreiben und Lesen über Theater geschult. In diesem Prozess der bürgerlichen Neubestimmung von Diskurskontrolle und Öffentlichkeitsbildung hat der Theaterkritiker von Anfang an
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In der Bedeutung „article de critique théâtrale“ ist der Begriff „Feuilleton“ dem Düsseldorfer Romanisten Fritz Nies zufolge erstmals 1811 belegt, in einer Bemerkung Paul-Louis Couriers über Racine: „Vous avez le sentiment inné de ses divines beautés, et cela vaut mieux que le feuilleton“ (Nies 1976: 106). Courier bezieht sich hier, so Nies, auf die Feuilletons, die Julien-Louis Geoffroy seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Journal de l’Empire und Journal des Débats veröffentlichte, wo es das erste Feuilleton der Geschichte gab, ursprünglich eine Anzeigenbeilage (private und kommerzielle Anzeigen durften im politischen Teil nicht veröffentlicht werden), die sich dann bald mit ihren offenen, subjektiven Textformen über kulturelle Themen auch östlich des Rheins durchzusetzen begann.
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eine paradigmatische Rolle gespielt: als Inkarnation des aufgeklärten bürgerlichen Subjekts, das der feudalen Welt reflektierend gegenübertrat und nicht nur sein Glück, sondern auch das Wort selbst in die Hand nahm. Der Theaterkritiker war die Instanz, die in den Jahren des deutschen Vormärz trotz Zensur damit begann, bislang als sakrosankt geltende Produktionen der Hoftheater in den deutschen Kleinstaaten und Fürstentümern zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung zu machen und in ein Verhältnis zu Produktionen der ersten, damals entstehenden bürgerlichen Privattheater zu setzen. Der Aufstieg der Zeitung und mit ihr des Feuilletons zum zentralen Informations- und Selbstverständigungsmedium des Bürgertums verlief fast parallel zum Aufstieg des Theaters zum Leitmedium einer neuen bürgerlichen und städtischen Hochkultur. Mittler und damit wesentlicher Ermöglicher der Interaktion beider Sphären, zwischen dem alten Medium Theater und dem neuen Medium Zeitung, ist der Theaterkritiker gewesen. Erst durch die Interaktion mit dem Medium Zeitung konnte das Theater am Beginn des 19. Jahrhundert seine neue gesellschaftliche Rolle ausdifferenzieren. Diese neue Form von Öffentlichkeit trug nicht zuletzt wesentlich dazu bei, dass sich, lange bevor es einen deutschen Nationalstaat gab, im medialen (virtuellen) Raum eine relativ homogene kulturelle Identität des deutschen Bürgertums ausbilden konnte, zu dessen identitätspolitischer Folie auch der kulturelle Kanon gehörte, den das Theater im Zuge seiner Interaktion mit dem Zeitungsfeuilleton zur Leitkultur modelliert hatte. Jetzt, zweihundert Jahre später, hatte diese Leitkultur ihre identitätsstiftende Funktion ebenso verloren, wie das Zeitungs- oder Theaterabonnement. Zeitungen und Theater kämpften um ihre Existenz. Die Privat- und Einzelwesen hingegen, die Habermas in seiner Habilitationsschrift vor zweihundert Jahren noch, zum Publikum versammelt, die Sphäre des Öffentlichen definieren sah, hatten im Internet längst neue Sphären und Praktiken von Öffentlichkeit etabliert. Hatten grundsätzlich neu zu verhandeln begonnen, was Öffentlichkeit überhaupt sein könnte. Die Diskursökonomie des Netzes hatte Kommunikationsstrukturen egalisiert und Informationsstrukturen enthierarchisiert, weil sie ganz neue Zugänge möglich machte. Der Facebook-Account war möglicherweise inzwischen identitätsstiftender, als es das Zeitungs- beziehungsweise Theaterabonnement jemals war. Jeder konnte sich seine Informationen selbst zu-
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sammenstellen, nach Neigung und Interesse. Der Internetnutzer war längst emanzipiert von der vorsortierten Kompaktauswahl der Zeitungen und ebenso von der der Warenhäuser, was ein durchaus vergleichbarer Vorgang ist. War am Ende also nicht die Theaterkritik an sich, sondern nur der Kritiker mit seinem hegemonialen Diskursanspruch zum Relikt geworden?
III. Mit der Gründung von nachtkritik.de haben wir im Mai 2007 ein Format reaktiviert, das ziemlich genau hundertachtzig Jahre zuvor in den Jahren des deutschen Vormärz in Berlin erfunden worden war: in jenen Jahren also, als der Theaterkritiker zum wesentlichen Mittler der beiden entscheidenden Sphären und Foren einer sich herausbildendenden neuen bürgerlichen Öffentlichkeit geworden war. Die über Nacht geschriebene Kritik war damals das aktuellste Format der gerade entstehenden Publizistik. Eingeführt hatte sie 1827 der Journalist, Satiriker und Zeitungsherausgeber Moritz Gottlieb Saphir (1795-1853), der damit seine beiden Zeitungen Die Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit (gegründet 1826) und den Berliner Courier. Ein Morgenblatt für Theater, Mode, Eleganz Stadtleben u. Localität (gegründet 1827) schnell zu den erfolgreichsten Titeln im Berlin der 1820er Jahre machte – eine auch logistisch nicht zu unterschätzende Leistung, da die Druckfahnen vor Erscheinen noch die Zensur passieren mussten. Saphirs Kritiken waren scharf, rücksichtslos subjektiv und polemisch. Er begriff sich als Anwalt der Öffentlichkeit, für die er schrieb. Dafür hat ihn das damalige Establishment bekämpft: „Es ist eine neue Kunst erfunden worden, das Hohe herabzuziehen, das, was bisher nur für Kenner da war, im schlimmsten Sinne des Wortes populär zu machen. [...] Die Kunstkritik wird in den Bierkeller versetzt und die Obsthändlerinnen in den Stand gesetzt, darüber abzusprechen, worüber Kenner sonst zweifelhaft blieben.“ (Motte Fouqué 1828: 310).
Ähnlich skandalisiert haben Vertreter der alten analogen Medien auf die Gründung von nachtkritik.de reagiert. Denn die Nachtkritik 2.0 machte sich nicht nur die Schnelligkeit und die niedrigschwelligen Publikationsmöglichkeiten des Netzes zu Nutze, sondern auch seine interaktiven Möglich-
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keiten. Alle Texte waren kommentierbar und schnell entfalteten sich rege, oft heftige Debatten in den Kommentarspalten auf nachtkritik.de, die damit sehr bald das Verdikt derer widerlegten, die einst das Interesse am Theater für tot erklärt hatten. Doch dass sich auf nachtkritik.de plötzlich Stimmen am Gespräch über Kunst beteiligen konnten, die vorher nicht zu Wort gekommen waren, schien für den Betrieb kaum hinnehmbar. Uns wurde vorgeworfen, die Theaterkritik zu kannibalisieren, das Feld der Kunst dem Pöbel zu überlassen. So wurde nachtkritik.de als „das skandalöse Zeugnis fortschreitender Entprofessionalisierung“ bezeichnet. „Das Genre der Kritik wird hier kannibalisiert von solchen, die sich im Do-ItYourself-Gestus offenbar an den Printmedien rächen wollen, oder deren Zugangsschwellen nicht überwinden – und das nicht verwinden können.“ (Theater heute 2007: 141)
In Zeiten von Facebook und Twitter jedoch hat sich das alte Repräsentationsverhältnis, in dem Wenige für Viele sprechen, längst aufgelöst. In der Belle Etage der Hochkultur ist dieser Sachverhalt lange nicht zur Kenntnis genommen worden. „Wenn ich es dahin gebracht habe, dass die ‚Obsthändlerinnen in den Stand gesetzt sind, darüber abzusprechen, worüber sonst die Kenner zweifelhaft blieben‘“, konterte schon Moritz Gottlieb Saphir die Angriffe auf seinen Kritikbegriff, „so hab’ ich, beim Himmel! in drei Jahren mehr für die intellektuelle Bildung Berlins gethan, als die vorgegangenen Jahrhunderte! Gewiß ist es auch besser, wenn die Kritik in den Bierkeller versetzt wird, als wenn der Bierkeller in die Kritik versetzt wird.“ (Saphir 1828: 15f.) Schon ein Jahr nach ihrer Einführung wurde die unmittelbare Premierenkritik dennoch wieder verboten und die Rezension einer Inszenierung erst nach der dritten Vorstellung erlaubt. Als Moritz Gottlieb Saphir 1830 schließlich die Einführung der allgemeinen Pressefreiheit forderte, musste er Preußen verlassen.2
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In ihrer Habilitationsschrift Theater und Öffentlichkeit im Vormärz (Berlin 2013) setzt sich auch die Münchner Theaterwissenschaftlerin Meike Wagner ausführlich mit Saphir auseinander, den sie als einen zentralen Akteur im Prozess der Entstehung frühbürgerlicher Öffentlichkeit beschreibt.
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Die Nachtkritik kehrte als Format nach 1848 in die expandierende Publizistik des 19. Jahrhunderts zurück – wegen der Schnelligkeit ihres Urteils immer umstritten und trotzdem nicht mehr wegzudenken aus dem Gattungsgefüge der Kunstkritik. Ihre Hochzeit erlebte sie in den 1920er Jahren, als viele Zeitungstitel mit einer Früh- und einer Spätausgabe auf dem umkämpften Markt der Massenmedien präsent waren und die Leser auch in der Morgenausgabe ihrer Zeitung schon lesen wollten, wie es am Abend zuvor im Theater war. Das Ende der Nachtkritik kam dann im Mai 1936, als Joseph Goebbels, seit 1933 der Reichsminister für Information und Propaganda, erst die Nachtkritik, im November 1936 schließlich die Kunstkritik insgesamt verbot (vgl. Wulf 1964: 79).
IV. Die Gründung nachtkritik.de war 2007 auch der Versuch, dem sich radikal verändernden Öffentlichkeitsbegriff zu begegnen. Der hegemoniale Diskurs der Kritik schien in diesem Erosionsszenario nicht länger haltbar. Kritik, so stellten wir uns vor, konnte lediglich das Gespräch über eine künstlerische Arbeit eröffnen, aber kein finales Kunsturteil mehr sein. „Wir geben die Einbahnstraße Kritik für den Gegenverkehr frei“, haben wir damals unser Credo formuliert. Womit wir noch einmal auf den Punkt zurückkommen, der noch immer das größte Skandalon ist: die Kommentare auf nachtkritik.de. Viele davon werden anonym abgegeben, also ohne Registrierung der Email-Adresse oder gar von Klarnamen, Straße und Hausnummer. Die erste Erscheinung des Neuen ist der Schrecken, heißt es bei Heiner Müller.3 Und tatsächlich – es scheint, die anonymen Kommentare auf nachtkritik.de haben zunächst eine Art Schrecken verbreitet. Offensichtlich erleben wir derzeit eine Erweiterung des dramatischen Raums. Die Experten von Rimini Protokoll, Hartzer und Knackis bei Volker Lösch, Jugendliche in Kreuzberg mit türkischen Vorfahren, Ingenieursund-Professoren-Väter beim Performance-Kollektiv She She Pop, die Bürgerbühne in Dresden: lauter bislang „Unbefugte“, die neuerdings die Bühnen betreten. Dieser Erweiterung des dramatischen Raums steht seit einiger
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Originalzitat: „DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN DER SCHRECKEN [Großschreibung i.O.]“ (Müller 1978: 69).
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Zeit eine Erweiterung des kritischen Resonanzraums gegenüber. Mit der grundlegenden Veränderung der uns bisher geläufigen Formen von Öffentlichkeit durch das Internet erheben sich mit einem Mal Stimmen, bei denen kein Name, kein Gesicht dafür bürgt, dass der Sprecher mit Pass und Anschrift gleichsam polizeilich dingfest zu machen sei. Diese neuen Sprecher haben das Repräsentationsverhältnis des herkömmlichen Diskurses aufgekündigt. Waren wir es bislang gewohnt, dass sich die Güte eines Diskussionsbeitrages mindestens genauso stark durch den Zusammenhang erweist, in den sich der Sprecher stellt – durch die Seriosität und den Namen des Publikationsorgans, in dem einer spricht, durch den fachlichen Hintergrund, den sich einer glaubhaft zuzulegen versteht in der Öffentlichkeit, durch den Ruf, den sich einer erwarb in verwandten Diskursen – kurz eben durch den Kontext seiner Äußerungen, bedienen sich die neuen Teilnehmer der Kommunikation wahlweise eines Alias, eines angenommenen fremden Namens oder beziehen sich einfach durch ein @ auf vorangegangenen Diskussionsbeträge – die Postmoderne nennt diese Erscheinung „multiple Subjektivität“. Und wir erkennen auf welch komplexe Weise unsere Kommunikation strukturiert ist. Wessen Argument wir vertrauen, welches Sprechen wir auch nur bereit sind ernst zu nehmen, hängt von vielerlei Faktoren ab, die mit der Güte des vorgebrachten Argumentes nicht das Geringste zu tun haben. Was die Sache zusätzlich erschwert, ist, dass eine Auseinandersetzung über ästhetische Gegenstände ja nicht durch schlagende Argumente, durch „wahr“ oder „falsch“ zu entscheiden ist. Das Sprechen über das Theater ist immer der Versuch, die Begegnung eines Subjekts mit einem ästhetischen Gegenstand, das – im besten Falle – „Berührtsein“ zu beschreiben und nachvollziehbar zu machen. Weil aber dieser Diskurs ein weites Feld ist ohne richtunggebende Geländer, fühlen wir uns, um ein Argument für uns zu gewichten, umso mehr auf den Kontext der Sprecher, auf ihren fachlichen Hintergrund, ihren Ruf, ihre Stellung im Betrieb angewiesen. Dieser Kontext wird in den Auseinandersetzungen im Internet radikal verändert. In Zeiten von Facebook und Twitter verliert der hegemonial sich verstehende Expertentalk in den Dramaturgien, Intendanzen, Feuilletons und Theaterzeitschriften an Gewicht. An die Stelle des Notenwechsels unter Großmoguln tritt eine offenere Debatte unter Unbekannten. Dabei ist es nicht so, dass nachtkritik.de Geister herbeigerufen hätte, die ohne diese Plattform gar nicht erschienen wären. Der anonyme Sprecher,
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der nicht, wie es ein traditioneller Ehrbegriff fordert, einsteht mit einem Namen für das, was er Kritisches über seine Zeitgenossen äußert, regiert das Kommentarwesen auf Spiegel Online genauso wie auf süddeutsche.de oder Welt Online. Und den Theaterleuten sollte der anonyme Sprecher nun wirklich ein alter Bekannter sein. Selbst Heinrich von Kleist trat in seinen Berliner Blättern anonym als Theaterkritiker auf. Doch das Empowerment des anonymen Sprechers aus dem Publikum, ermöglicht durch die neuen umfassenden Medien, ist kein Phänomen, zu dem wir uns nach Lust und Laune verhalten können. Denn dieses Maskenspiel im Netz signalisiert, dass die Dichotomie von virtueller, von nicht materieller Realität, also von Spiel, einerseits und materieller Realität, also Ernst, andererseits genauso der Vergangenheit angehört wie die Unterscheidung zwischen dem bürgerlichen Subjekt und der „anonymen Masse“. Wie das derzeit geläufige Motiv vom ubiquitären Theater, das in allen sogenannten Subsystemen der Gesellschaft gespielt werde, kündet auch die rabiatere Diskussionskultur im Internet, dass sich die Grenzen zwischen Spiel in einem ernsten Sinne und Ernst in einem existenziellen Sinne verwischen.
V. Wohin das alles führen wird? Wir wissen es nicht. Der erste Schrecken über nachtkritik.de hat sich inzwischen gelegt. Wahrscheinlich ist er der Einsicht gewichen, dass die alten Zeiten nicht zurückkommen werden, in denen nur derjenige sprechen durfte, der auf der Bühne im Scheinwerferlicht stand. Es ist gut möglich, dass nicht nur viele Theater, sondern auch die Zeitung, wie wir sie kennen, in naher Zukunft verschwinden, dass also die Theaterkritik sowie das Gespräch über das Theater weiter ins Internet abwandern wird. Ob die Teilnehmer dieses Gespräches „anonym“ oder unter Namen agieren, wird dabei genauso zweitrangig bleiben, wie es heute schon der Fall ist. Doch das Gespräch über Theater kommt dem Theater zu gute, egal wo und wie es geführt wird: es zählt die Kritik genauso dazu wie die Kommentare, die sich einer Kritik widersetzen, die Begleitumstände ihres Entstehens erzählen oder von Erlebnissen einzelner Zuschauer am Aufführungsabend. Neben vollen Zuschauersälen ist das Interesse der Öffentlichkeit der beste Garant für den Bestand der Theaterlandschaft. Nur Thea-
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ter, über die gesprochen wird, sind einigermaßen sicher vor dem Zugriff der Ökonomisierer und Gewinnmaximierer. Und das ist es, was wir tun: das Gespräch über das Theater anfachen und moderieren, sowie darüber hinaus den Symptomen des digitalen Wandels nachzuspüren, der ja nicht nur neue Kulturtechniken hervorbringt, sondern auch die alten verändert. Und das Theater damit auch. „Aber ihr schreibt ja im Internet immer noch so wie man im Print immer schon schrieb“ wird uns gelegentlich vorgeworfen. Das stimmt und es stimmt auch nicht. Wir wollten ja weder das Sprechen über das Theater noch die Kritik neu erfinden, sondern lediglich die Bedingungen verändern. Wer allerdings sofort Gegenrede befürchten muss, wägt seine Argumente wohl, muss der Kritiker seine Expertenlegitimation doch mit jedem Text aufs Neue belegen. Denn auch wir möchten auf Kriterien im Gespräch über Kunst nicht verzichten. Nur zwingt der offene Diskurs jeden einzelnen von uns dazu, diese Kriterien mit jedem Text, den wir schreiben, offen zu legen oder zur Disposition zu stellen. Der Kritiker ist nicht mehr durch die Diskursmacht seines Publikationsorgans geschützt, sondern Teil eines sich neu organisierenden öffentlichen Gesprächs geworden. Wohin das alles führen wird? Wir haben keine Antworten. Aber vielleicht müssen erst einmal die Fragen formuliert werden.
L ITERATUR Benkler, Yochai (2006): The Wealth of Networks. How Social Production Transforms Markets and Freedom, New Haven. Motte Fouqué, Friedrich Baron de la/Grubitz, Friedrich Wilhelm/Häring, W. (W. Alexis) (1828): „M. G. Saphir in Berlin und der Journalismus“, in: Berliner Conversations-Blatt für Poesie, Literatur und Kritik, Heft 78. Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin. Kohse, Petra (2009): „Auch im Lob angreifbar. Von der Geschichte der Nachtkritik und der Theaterkritik im Internet“, http://www.nachtkritik. de/index.php?option=com_content&task=view&id=2140 [21.07.2013]. Müller, Heiner (1978): Mauser, Berlin. Nies, Fritz (1978): Genres mineurs. Texte zur Theorie und Geschichte nicht kanonisierter Literatur, München.
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Strukturen planen
Auf der Suche nach der zukünftigen Struktur Für eine Transformation des deutschen Theatersystems T HOMAS S CHMIDT
Ausgangspunkt aller Überlegungen über die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft ist zum einen ihre strukturelle Beschreibung, in erster Linie, dass sie zerklüftet ist, horizontal und vertikal: 16 Bundesländer verfügen über 16 verschiedene Theatersysteme, auf die sich mit unterschiedlicher finanzieller Ausstattung, Stabilität und künstlerischer Strahlkraft etwa 140 öffentliche Stadttheater, über 130 Orchester und mehrere renommierte Produktionsstätten (HAU, Kampnagel, Mousonturm, u.a.) sowie etwa 2000 Gruppen der freien Szene aufteilen. Zum anderen, dass es keine Krise des Theaters gibt, wie sie gerne herbeigeredet wird, sondern eine Krise der Kultur- und Finanzpolitik, der Unfähigkeit ihres Zusammenspiels und die daraus resultierende Konzept- und Ideenlosigkeit.
P RODUKTIVITÄT
UND I NNOVATION
Das deutsche Theater selbst ist produktiver und innovativer denn je, um nur einige Beispiele zu nennen: Die freie Szene entwickelt nicht nur ständig neue künstlerische Formate und überschreitet seit langem die an den Stadttheatern noch weitestgehend streng voneinander separierten Spartengrenzen, sondern auch die dazugehörigen flachen, flexiblen und schnelleren Produktionsweisen. Inzwischen haben sich erste erfolgreiche Zusammenarbeiten zwischen großen Produktionshäusern der freien Szene, Stadttheatern
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und freien Gruppen entwickelt, die von der Bundeskulturstiftung im Rahmen ihres Programms „Doppelpass“ unterstützt werden. Seit einigen Jahren ist es zu einer stärker zusammenhängenden Diskussion der Themen Kunst und Management am Theater gekommen, aus der hervorgehend auch die starke Trennung der künstlerischen von den administrativen Bereichen in Planung, Konzeption und Produktion allmählich aufgehoben wird. Während Intendanten als künstlerische Leiter immer stärker auch in die administrative Verantwortung genommen werden, sind Geschäftsführer und Kaufmännische Direktoren immer mehr auch in künstlerische Planungs- und Entscheidungsprozesse involviert. Damit verbunden ist auch eine Verschiebung der Rechts- und Betriebsformen, die vor allem in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat. Waren Regiebetriebe als „Ämter“ der Stadt bis weit in die 1990er Jahre die häufigste Rechtsform der öffentlichen Theater, sind es nun die GmbH und der Eigenbetrieb, die den Theaterleitungen mehr Autonomie auch bei finanziellen und personellen Belangen zugestehen. Diese beiden Faktoren in der Kombination haben zu neuen Ansätzen und Veränderungen der internen Produktionsprozesse geführt. Es entstehen aus den ehemals sehr schematischen Funktionen neue Berufsbilder, wie zum Beispiel Produktionsassistenten und Produktionsleiter, bei denen sich die künstlerischen und administrativen Aufgaben vereinen. Die sinkende Nachfrage der Zuschauer und die demografische Situation, vor allem in den nicht-großstädtischen Gebieten haben zu einem neuen Umgang mit den Zuschauern geführt. Auf der einen Seite ist aus dem angelsächsischen Raum das Thema des „Audience Development“ importiert worden, mit dem Besucherbetreuung und -entwicklung einen völlig neuen, erweiterten Begriff erfahren haben. Auf der anderen Seite gibt es eigenständige Entwicklungen zu verzeichnen, wie Postmigrantisches Theater oder Bürgerbühnen. Schließlich wird auch sehr intensiv diskutiert, was in den Theaterszenen Europas geschieht, welche Entwicklungsprozesse beispielsweise in den Niederlanden und Belgien stattgefunden haben, die viele Jahre mit ihrem System aus Stadttheatern, gut dotierten freien Gruppen und Theaterhäusern auch eine große Vorbildwirkung hatten, nun aber durch radikale finanzielle Einschnitte in den Kulturhaushalten beider Länder in ihrer künstlerischen Arbeit stark eingeschränkt werden.
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U MBRUCH
Das deutsche Theatersystem, insbesondere das öffentlich finanzierte Stadtund Staatstheatersystem befindet sich ungeachtet dessen am Anfang der größten Umbruchssituation seit seiner Entstehung in der Nachkriegszeit. Bezeichnend sind hierfür nicht nur personelle und finanzielle Krisen in einzelnen Städten wie beispielsweise in Hamburg, Köln, Düsseldorf und Leipzig, sondern in ganzen Regionen und Bundesländern wie MecklenburgVorpommern, wo externe Unternehmensberatungen Abwicklungs- und Fusionsszenarien einer bereits weitgehend ausgezehrten Theaterlandschaft für die ratlose Kulturpolitik entwerfen müssen. Gleichzeitig entwickelt sich mit einer großen künstlerischen Kraft eine freie Szene, die aufgrund der jahrelang eingespielten und kulturpolitisch forcierten Mittelverteilung und Bevorzugung der öffentlichen Institutionen nicht über die Ressourcen verfügt, ihre Potenziale voll zu entwickeln. Ein Dialog zwischen öffentlichen und Freien Theatern und Ensembles findet nur punktuell statt und ist dann zumeist geprägt von persönlichen Beziehungen. Die Zusammenarbeit, die gerechte Teilung und Aufteilung von Ressourcen aller Art sollte eine Selbstverständlichkeit in einer zukünftigen deutschen Theaterlandschaft sein. Die Indikatoren für den anstehenden Umbruch sind vielfältig: • die sinkende Legitimation und Rolle der Theater in der Gesellschaft, • in der Tendenz sinkende Zuschauerzahlen, • die Unkenntnis der Struktur der Besucher und Nichtbesucher und ihrer Entwicklung (Demografie) in den kulturpolitischen Schaltstellen, aber auch in den Theatern selbst, • die Tendenz zur Überproduktion in den Theatern, • eine zu hohe Personalkonzentration und Verschiebung der Gewichte innerhalb der Theater zu Ungunsten der künstlerischen Kräfte, • unflexible und wenig nachhaltige Theaterstrukturen und Produktionsbedingungen, die sich im Kern aus zu langen Planungszeiträumen, unangepassten Spielsystemen (Repertoire versus Stagione-System), einer unflexiblen Tarifbindung und der Unmöglichkeit der Abstimmung von drei verschiedenen Tarifsystemen am Theater (NV-Bühne für die künstlerischen Mitarbeiter, Tarifverträge des öffentlichen Dienstes für die nichtkünstlerischen Mitarbeiter und Orchestertarifverträge für die Musiker) ergibt,
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eine unzureichende Ausbildung in den künstlerischen Berufen, insbesondere im Sinne der Vorbereitung auf die Wirklichkeit jenseits der Kunsthochschulen sowie nicht zuletzt die chronische Unterfinanzierung der Theater im öffentlichen Bereich und in der freien Szene.
Die Zuschauerzahlen gehen trotz der sich verbreiternden Angebote tendenziell zurück: allein in den letzten drei Spielzeiten haben alle deutschen Theater insgesamt eine Million Zuschauer verloren. Auch wenn der Deutsche Bühnenverein in seiner jüngsten Statistik (vgl. Deutscher Bühnenverein 2012) erstmals wieder einen leichten Zuschaueranstieg (vor allem bei den Begleitformaten) verzeichnet, ist die Tendenz eindeutig. Das Theater hat nicht nur seine Funktion als Zentrum der Gesellschaft verloren, es muss im Ansatz auch aktiv der Situation begegnen, von anderen Kunstformen und Kulturtechniken völlig verdrängt zu werden. Vor diesem Hintergrund entwickeln sich einerseits neue künstlerische Formate und daraus wiederum völlig neue Formen der Zuschauerbindung. Die Einbeziehung der Städte und ihrer Bewohner ist – wenn auch verspätet – zu einem Thema geworden, Nichtbesucher stehen zeitweise stärker im Fokus als die zentralen Besuchergruppen, demografische und migrationsbezogene Aspekte werden immer mehr berücksichtigt. All das ändert mittelbar die Rolle des Stadttheaters und der Konzerthäuser und ihrer künstlerischen Formate, wie es auch die Betriebs- und Produktionsformen beeinflusst, und dadurch – bei richtiger Koordination – neue Wege für Kooperationen ermöglicht zwischen Stadttheatern, Festivals und den Gruppen, die sich bereits seit längerem erfolgreich mit diesen Themen befassen. Der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung muss jedoch auf künstlerischen Aspekten liegen. Zugleich muss festgestellt werden, dass der Zuschauer, das Publikum und das Nicht-Publikum, die unbekannten Größen sind, über die und deren Entwicklung wir zu wenig wissen, die besser untersucht, mit denen zukünftig forcierter und zugleich sensibler umgegangen werden muss. Das Wissen über die Veränderungen der Freizeit- und Sehgewohnheiten, die zunehmende Fragmentierung und die demografische Situation sind nur einige Aspekte, die stärker Berücksichtigung finden müssen. So sollte gründlich untersucht werden, warum die Gruppe der Theater- und Konzertbesucher – im Durchschnitt – mehr als doppelt so schnell altert wie die Gesellschaft
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und welche Wege man entwickeln muss, um dem erfolgreich und nachhaltig zu begegnen. Das Angebot vor allem der öffentlichen Theater wird immer umfangreicher, breiter und dichter, bei gleich bleibenden Ressourcen und – in der Konsequenz – Einbußen an Qualität. Jedes Jahr produzieren die deutschen Theater mit im Vergleich weniger finanziellen und personellen Ressourcen mehr Produktionen, die in immer kürzeren Zeiträumen abgespielt werden: Sind 1995/96 von ca. 42.000 Mitarbeitern öffentlicher Bühnen knapp 57.000 Veranstaltungen gezeigt worden, waren es in der Spielzeit 2010/11 bereits 67.000 mit nur 38.000 Mitarbeitern (vgl. Deutscher Bühnenverein 1998, 2012). Die Überproduktion ist eine schleichende Krankheit, die die Kreativität der Theater aushöhlt. Mit ihr geht ein Verschleiß nicht nur der Kapazitäten, sondern auch der Kreativität einher. Umsichtige Leiter und Programmmacher beginnen im Gespräch mit den Ensembles darüber nachzudenken, sowohl die Dichte der Angebote zu reduzieren, wie auch die Produktions- und Inszenierungsprozesse zu entschleunigen: weniger Neuproduktionen mit mehr Zeit, auch in der Vorbereitung, in den Werkstätten, in der Ansprache, in der Gewinnung und bei der Pflege des Publikums. Denn die Zuschauerzahl, die in einem bestimmten Zeitraum zu erreichen ist, lässt sich nicht durch mehr Quantität, durch eine höhere Zahl an Stücken, sondern nur durch bessere Qualität, begleitende Programme und kluge Werbung erhöhen. Die Zahl des fest angestellten Personals an den Theatern und in den Orchestern nimmt ab. Immer weniger Mitarbeiter in allen Bereichen übernehmen immer mehr Aufgaben. Ihr Verhältnis geht oftmals zu Lasten des künstlerischen Personals. Die Ursachen sind vielfältig, sie kulminieren – an einem Indikator festgemacht – an den fixen Personalkosten, die in der Spitze 80 bis 85 Prozent der Budgets verzehren. Sparmaßnahmen greifen nur noch im Personalbereich selbst, da die künstlerischen Budgets inzwischen so minimal ausgestattet sind, dass dort nicht mehr eingespart werden kann. Dem kann nur entgegengewirkt werden durch eine stärkere politische Lobbyarbeit, aber auch durch ein strukturelles Umdenken in den Theaterbetrieben: Einheitstarifverträge (d.h. Aufhebung der Tarifvertragsvielfalt zwischen den verschiedenen Künstler- und administrativen sowie technischen Mitarbeitergruppen), Ensembles die mit einem Stamm „fester freier“ Gäste (u.a. aus der freien Szene) kontinuierlich arbeiten, Kooperationen mit ande-
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ren Theatern und auf allen Ebenen (künstlerisch, produktionsbezogen, logistisch) mit freien Ensembles und der freien Szene. Dabei sind einzelne Berufsgruppen im Theater vom Aussterben bedroht, in den Werkstätten, aber auch im künstlerischen Bereich. Dort geht der Trend zu immer kleineren Ensembles, die mit hoch dotierten Spitzengästen oder niedrig dotierten Studierenden (Akademisten, Eleven, Substituten, Opernstudio) aufgestockt werden. Die Überlegungen, die in diesem Bereich angestellt werden, sind vielfältig: einige Intendanten halten am Ensemblebetrieb fest, andere konzentrieren sich auf Kernensembles, eine dritte Gruppe wird zukünftig verstärkt mit sich immer wieder neu zusammensetzenden Ensembles arbeiten. Im Bereich der Werkstätten werden durch ein vor allem politisch motiviertes und forciertes Outsourcing-Denken wichtiges Wissen und Erfahrungen verloren gehen, wenn die Theater hier keine alternativen Lösungen durchsetzen. Eine Werkstatt, die örtlich nicht an ein Theater angeschlossen ist, macht wirtschaftlich und vor allem künstlerisch keinen Sinn. Alte Theaterberufe im Sinne einer Manufaktur – Kascheure, Theatermaler, Modisten, Maskenbildner, Dekorateure, um nur einige zu nennen – sterben aus und können nicht ohne weiteres ersetzt werden. Ein dritter Trend umfasst das Raumgreifen neuer Berufe, vor allem in den hochtechnologischen Bereichen (Video, Licht, Ton), aber auch an den Schnittstellen zwischen Kunst und Management (Produktionsleiter, Assistenten, Planer, Kreative Produzenten). Diese Abteilungen werden wachsen müssen.
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Die Unterstützung der Politik, und damit ein wichtiger Teil der Legitimation, geht auf eine differenzierte Art und Weise weiter verloren: die Stärke der Finanzpolitiker gegenüber den Kulturpolitikern auf der einen, die partielle Konzeptlosigkeit der Kulturpolitiker auf der anderen Seite verstärken, dass viele Kulturinstitutionen, insbesondere die Theater, ihren öffentlichen (nicht inhaltlichen!) Existenzanspruch verlieren. Ein wesentliches politisches Argument hierfür ist, dass die Theater und Orchester in den meisten deutschen Städten – wie bereits eingangs erwähnt – zunehmend ihre Funktion nicht nur als gesellschaftliches, sondern auch als kulturelles Zentrum eingebüßt haben. Festivals und interdisziplinäre, raumgreifende lokale oder regionale Mischveranstaltungen mit zuweilen auch sozialen und religiösen
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Bezügen haben an Bedeutung in der Wahrnehmung der Politiker und der Zuschauer gewonnen. Hinzu kommt, dass viele kleine private Veranstalter Musik und Theater anbieten, und in unmittelbare Konkurrenz zu den öffentlich finanzierten Häusern treten, die noch viel zu oft auf einem Alleinstellungsmerkmal beharren, das es längst nicht mehr gibt. Die Theater bilden keine geschlossene Lobby. Jedes Theater kämpft um sein eigenes Areal, zu oft auf Kosten anderer Theater in der Region (Beispiele: NRW, Berlin). Dort wo Theater es geschafft haben, gemeinsam zu agieren und zu kooperieren, ohne sich in eine Fusion drängen zu lassen, sind sie nicht nur produktionsbezogen, sondern auch in der Argumentation den Theatern überlegen, die versuchen, alleine ihren Weg zu gehen. Aber die Vernetzung findet nur in wenigen Zirkeln und gut vernetzten Kooperationsverbünden statt. Wenn sie funktioniert – ein gutes Beispiel ist die Hessische Theaterakademie –, dann liegt das oft am Engagement einzelner. Vernetzung ist noch nicht Bestandteil des Systemdenkens. Es gibt nicht das deutsche Theatersystem, oder die deutsche Theaterlandschaft. Die Theaterstrukturen in Deutschland sind zerfasert und zersplittert: bis auf wenige Metropolen verzeichnen wir überall ein Gefälle und einen tendenziellen und zumeist unwiederbringlichen Abbau der Substanz. Mit den Studierenden des Frankfurter Masterstudiengangs Theater- und Orchestermanagement 2012/14 wurde eine Studie über die Theaterstrukturen in allen 16 Bundesländern vorgenommen. Die wesentliche Erkenntnis dieser Studie ist, dass wir es in Deutschland mit 16 sehr verschiedenen Theatersystemen zu tun haben, die zwar auf ähnlichen Aspekten (öffentliche Finanzierung, Repertoiresysteme, Ensembleprinzip, hohe Aktivität der freien Szene insbesondere in den urbanen Räumen) beruhen, aber bereits bei Struktur, Steuerung, Aufsicht, finanzieller Ausstattung, Produktionsprinzipien und vor allem Zukunftsoptionen stark divergieren. Gleichzeitig gerät die finanzielle Situation der Theater aus verschiedenen Gründen ins Schlingern: mit den bereits genannten bis 80 Prozent – in den Spitzen sogar 85 Prozent – Personalkosten bestehen zu wenig Spielräume für die Erleichterung der künstlerischen Prozesse und die Umsetzung und Entwicklung von Projekten, die aufgrund innovativer Formen einen höheren Ressourcenbedarf haben; Tarif- und Preiserhöhungen können oft nur auf Kosten von Einsparungen finanziert werden; die Theater bilden aus verschiedenen Gründen zu wenig Rücklagen; die Wirtschaftspläne sind oft zu knapp kalkuliert, zu stark nach den Vorgaben der lokalen Kämmerer
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oder Länderfinanzministerien strukturiert und damit nicht flexibel genug für das Theater, das immer mit unkalkulierbaren Risiken und Erfolgen arbeiten muss; bei der Umwandlung der Theater in vor allem rechtlich und wirtschaftlich „sicherere“ Rechtsformen (Eigenbetrieb, GmbH, Stiftung) werden die Spielräume zu wenig ausgenutzt, mit denen ein Theater eigenverantwortlich mit den vertraglich vereinbarten Ressourcen wirtschaften kann; es gelingt zu wenig, die Einspielquoten zu erhöhen (Besucherfrage) oder externe Finanzierungsquellen zu erschließen, und schließlich sinkt die Bereitschaft der Politik, die Finanzierung (Zuwendungen) in der über Jahre stabilisierten Höhe fortzusetzen oder neue Wege der Finanzierung (Basisfinanzierung, Exzellenzmodelle, Evaluierungen) zu gehen.
L EITFRAGEN
ZUR
T HEATERPOLITIK
Die hier aufgeführten Leitfragen sollen die wesentlichen Fragestellungen umreißen, vor denen die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft, wie auch Festivals, freie Ensembles und freie Szene momentan und insbesondere zukünftig stehen werden. Sie beziehen sich auf die oben beschriebene Ausgangssituation. Die Leitfragen stellen dabei eine Momentaufnahme dar, die der Fortschreibung bedarf: 1.) Wie schnell und mit welchen Kerninhalten muss sich die deutsche Theater- und Orchesterstruktur verändern bzw. reformieren, um für die kommenden Jahre eine Grundsubstanz zu erhalten, auf der aufbauend ein neues Theatersystem in Deutschland mit den entsprechenden Reformen entwickelt und implementiert werden kann? Wie schonend könnte ein solcher Umbau im besten, wie radikal müsste er im dringendsten Fall erfolgen? 2.) Welches sind die wesentlichen Kernaspekte der Veränderung, demzufolge: Wie kann/können neue Systeme aussehen? Welche Grundanforderungen müssen gestellt, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden? 3.) Wie gehen wir in der Diskussion und in der Lehre mit dem Begriff der Krise des Theaters um? Wie differenzieren wir zwischen künstlerischer Krise, Krise der Formate, finanzieller Krise? Ist eine Differenzierung überhaupt noch zulässig? Ist der Begriff, allein auf finanzielle Aspekte und Subventionskürzungen bezogen, überhaupt relevant?
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4.) Sollte der Begriff der Krise im Theater bzw. in der Theater- und Orchesterlandschaft weiter an Relevanz besitzen oder zunehmen, welche Instrumente der Krisensteuerung und des Krisenmanagements existieren bzw. können entwickelt und zum Einsatz gebracht werden? 5.) Was ist Erfolg im Theater und im Konzert? Ist er messbar, und wie? Müssen wir uns dabei auf Fragen des künstlerischen Erfolgs konzentrieren, inwieweit spielen Aspekte der künstlerischen Qualität hierbei eine Rolle und kann diese objektiven Einschätzungen unterliegen? Sind Aspekte des wirtschaftlichen und des Publikumserfolgs davon getrennt zu betrachten? 6.) Wie gehen wir zukünftig mit dem Publikum um? Was setzen wir der raschen Überalterung entgegen? Ist eine Verjüngung des Zuschauerdurchschnitts das Allheilmittel? In den letzten Jahren haben die Zuschauer wieder mehr Aufmerksamkeit in der Programmatik der Theater und Orchester erhalten. Allerdings sind die Ressourcen mit unterschiedlicher Gewichtung verteilt worden. Während etwa seit 2005 die Ressourcen (Zeit, Geld, Dienste) für Kinder- und Jugendprojekte überproportional gewachsen sind, stiegen diese in der Gruppe der Erwachsenen zwischen 35 und 55 Jahren kaum. Hier sind im öffentlichen Theaterbereich im Vergleich zudem wenig wirkliche Fortschritte gemacht und zu wenig grenzüberschreitende neue Formate entwickelt worden. 7.) Was bedeutet das Thema Überproduktion für Theater und Orchester, für das Ensemble und den einzelnen Künstler? Wann ist der Punkt der Kapazitätserschöpfung erreicht, ab dem sich die Ressourcen, insbesondere die personellen, nicht mehr im gegebenen Umfang regenerieren können und damit die künstlerische Qualität und Nachhaltigkeit beeinträchtigen? Ab wann wird durch die steigende Überproduktion die Premiere, die Vorstellung, das Konzert vom künstlerischen Unikat zur austauschbaren Unterhaltung? 8.) Was bedeuten Netzwerke im 21. Jahrhundert für die Theater, Ensembles und freien Gruppen? Inwieweit werden neue Formen der Netzwerkbildung entwickelt, wie sieht die Zusammenarbeit der Theater der Zukunft aus? 9.) Wie kann und muss die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen sehr heterogenen Theatern der öffentlichen und freien Szene gestaltet werden, um bei größtmöglicher Autonomie einen Wissens- und künstlerischen
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Transfer zu generieren, aber auch, um sich gegenseitig nicht nur punktuell, sondern systemisch und strukturell zu helfen? 10.) Wie muss die Förderlandschaft, einschließlich der Finanzierungsstruktur der Theater und Orchester zukünftig gestaltet werden? Welche Rolle müssen Theaterleitungen, welche Rolle die Kulturpolitik übernehmen? Wie werden die Veränderungen und das Neben- und Miteinander neuer Theaterund Orchesterformen sowie -formate gesteuert, gefördert, weiterentwickelt? 11.) Was können wir aus anderen Ländern lernen, deren Theaterlandschaften bereits einen Transformationsprozess durchlaufen haben oder die systemisch anders aufgestellt sind? Warum durchlaufen Theatersysteme, die in den letzten zwanzig Jahren große Vorbildwirkung für einen möglichen Umbau der deutschen Theaterlandschaft hatten (Niederlande), heute Krisen mit heftigem Substanzabbau? Können – und wie können – Theatersysteme vor politischen Eingriffen in die Substanz geschützt werden? Umgekehrt gefragt: Wie strukturiert und organisiert man Theatersysteme, dass sie langfristig tragfähig und unantastbar bleiben? 12.) Wie sieht das Theater der Zukunft aus? Wie sieht die deutsche bzw. europäische Theater- und Orchesterlandschaft der Zukunft aus?
K OMPLEX R EFORMEN Wie schnell und mit welchen Kerninhalten muss sich die deutsche Theaterund Orchesterstruktur verändern bzw. reformieren, um für die kommenden Jahre eine Grundsubstanz zu erhalten, auf der aufbauend ein neues Theatersystem in Deutschland mit den entsprechenden Reformen entwickelt und implementiert werden kann? Wie schonend könnte, wie radikal müsste er im dringendsten Fall erfolgen? Betrachtet man die Warnmeldungen aus nahezu allen Bundesländern, muss man befürchten, dass die Substanz der Theater, immerhin 140 öffentliche und 130 Orchester sowie eine Reihe subventionierter Einrichtungen der freien Szene, in den nächsten Jahren massiv abschmelzen werden. Die Frage ist, ob dieser Prozess überhaupt gelöst werden kann, und wenn ja, ob man diesen Prozess politisch lösen lässt oder als Kulturinstitution selbst aktiv wird, möglicherweise in einem Verbund. Aus meiner Weimarer Erfah-
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rung kann ich nur berichten, dass die Politik, insbesondere die Kulturpolitik, nicht der Ideen- und Stichwortgeber ist und sein kann, sondern dass die Reformideen, die Inhalte und letztlich die Umsetzung in den Händen der Theatermacher selbst liegen müssen. Wir müssen davon ausgehen, dass uns die Politik, die Kulturpolitik, erst nach massivem öffentlichen Druck unterstützt hat, die Fusion mit Erfurt abzuwehren und uns schließlich zum Staatstheater gemacht hat. Die Ideen für das Weimarer Modell und die damit einhergehenden und darauf folgenden Transformationsprozesse stammten nicht aus der Politik. Die Frage stellt sich: Wollen wir das System so erhalten wie es ist, oder muss es umgebaut werden? Meine Antwort lautet: Ja, es muss dringend umgebaut werden. Beginnend mit einem klaren Überdenken der vorhandenen Strukturen bis hin zu einer stärkeren Verkopplung mit der freien Szene. Ein Gedanke, den ich an verschiedenen Stellen bereits geäußert habe, ist der einer Theaterexzellenz, nicht im Sinne einer Leuchtturmförderung, sondern im Sinne einer Aufteilung der bestehenden Mittel in Grundfinanzierung und Exzellenzfinanzierung für herausragende Projekte der öffentlichen, wie der Freien Theater und Ensembles, die sich darum bewerben müssen. Eine unabhängige Jury, und kein Ministerium, vergibt die Mittel des jeweiligen Bundeslandes und erwägt auch die Evaluierung, die für mich ein zweites wichtiges Standbein einer neuen Theaterpolitik wäre. Wir kennen das aus den Niederlanden. Die Theater haben die Aufgabe, ihre Arbeit alle vier Jahre selbst einzuschätzen. Eine Aufgabe, die uns nicht bekannt ist, weil wir ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten evaluiert werden. Diese Änderung halte ich aber für notwendig.
K OMPLEX R AHMENBEDINGUNGEN Welche Grundanforderungen müssen gestellt, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden? Die Rahmenbedingungen ändern sich inhaltlich kaum, aber sie entwickeln sich weiter und sind ständig in Bewegung. Der Standort eines Theaters ist nicht austauschbar. Jeder Ort hat einen anderen Charakter, eine andere Historie, eine andere Kultur, eine andere wirtschaftliche Kraft, eine andere soziale Struktur. Auf jeden dieser Teilfaktoren kann und sollte ein Theater in seiner Arbeit eingehen. Ignoriert es diese wesentlichen Parameter, kann es passieren, dass es Theater macht, dass am Ort, an der Region, an der Bevölkerung völlig vorbei geht. Deshalb
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ist es auch kein Weg, wenn eine neue Theaterleitung versucht, ein an einem anderen Ort erfolgreiches Modell an einen neuen Ort zu verpflanzen. Ohne Reflexion der Standortbedingungen lässt sich nicht erfolgreich Theater machen. Der andere Aspekt ist die Demografie. Wie sehen die Wanderungs- und Migrationsbewegungen in Deutschland aus, welche Regionen und Städte schrumpfen, welche wachsen, wie alt ist die Bevölkerung in der Region, wie sind die sozialen Schichtungen, wie ist die Altersstruktur aufgebaut und welche Prognosen gibt es für die weitere Entwicklung? Wir müssen Angebote schaffen, die funktional organisiert sind, zum einen müssen sie speziell auf die verschiedenen Zuschauergruppen ausgerichtet sein, aber sie müssen sich auch überlappen. Man stelle sich einen Teppich an Theater- und Musikangeboten vor, der sich sanft über die Bevölkerung legt. Die Situation der Kommunen und der Länder hängt ganz stark vom oben genannten Standortfaktor ab. Er betrifft zum einen die finanzielle Potenz des Landes und der jeweiligen Kommunen, ihre Wirtschaftskraft und vor allem den politischen Willen der Abgeordneten und Stadträte, die Theater und Orchester zukünftig zu unterstützen. Selbst eine vergleichsweise ärmere Region kann bei einer entsprechenden politischen Willensbildung eine ausgewogene Theater- und Orchesterstruktur unterhalten, die Kosten hierfür halten sich im Vergleich zu anderen Budgetpositionen in den Landes- und Kommunalhaushalten in einem überschaubaren Rahmen. Hier besteht allerdings die Problematik der aus dem Föderalismus stammenden freiwilligen Leistung. Bei finanziellen Engpässen in öffentlichen Haushalten wird vor allem dort gespart, wo eine Leistung der öffentlichen Hand noch als freiwillig, also als kürzbar ausgezeichnet wird. Hier muss eine gezielte Lobbyarbeit ansetzen, den Status von Kultur, kulturellen Aufgaben und Kulturinstitutionen per Gesetz aus dem Status der „Freiwilligkeit“ zu erlösen. Der ursprüngliche Auftrag des Theaters, wie er noch in einigen Gesellschaftsverträgen formuliert wird, Schauspiel, Oper, Ballett/Tanz und Konzert anzubieten, ist insofern längst schon nicht mehr aktuell, weil er nicht die Komplexität des gewachsenen Aufgabenfeldes abbildet. Hinzugekommen ist in den letzten Jahren vor allem der Bildungsauftrag, der sich nicht ausschließlich auf Kinder und Jugendliche, sondern auf die Bevölkerung allgemein ausgeweitet hat. Einen weiteren Aspekt betrifft das Theater und dessen Rolle und Verortung in der Stadt. Hinzu kommen soziale und sogar
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wirtschaftliche Faktoren, die zwar nicht überbewertet werden sollen, aber in der politischen Argumentation einen Stellenwert erhalten sollten. Oftmals sind Theater große, wenn nicht sogar wichtigste Arbeitgeber der Region. Ein Aspekt darf jedoch niemals vergessen werden – der künstlerische Auftrag, die Entwicklung nicht nur eines neuen Repertoires im Rahmen von Uraufführungs- und Kompositionsaufträgen, sondern auch der Ensembles, neuer Formensprachen und Formate und schließlich auch einer wachsenden Performativität und Interdisziplinarität zwischen den einzelnen darstellenden Künsten. Wie weiter oben beschrieben, sind unsere Kenntnisse über unsere Besucher doch recht eingeschränkt. Zwar erheben wir sie regelmäßig, analysieren sie und ziehen daraus auch unsere Schlüsse. Aber die Untersuchungen bleiben oft an der Oberfläche haften. Oft fehlt es an den richtigen Analyseinstrumenten, oft an ausreichend Personal Besucher und vor allem Nichtbesucher zu befragen. Auch die Kenntnis der sozialen und ethnischen Schichtungen, der Fragmentierungen ist oftmals nicht ausreichend vorhanden, erst aus diesen Kenntnissen lassen sich die Angebote und Begleitprogramme entwickeln. Beobachtungen, Publikumsgespräche, Auswertung von Zuschauerbriefen und Besucherbüchern, Spontanbefragungen sind für eine schnelle Informationsgewinnung oftmals geeigneter als komplexe Fragebögen, die in der Regel eine viel zu geringe Rücklaufquote haben, um als repräsentativ zu gelten. Lange Zeit wurden die Themen Markt und Konkurrenz aus dem unmittelbaren Wirkungsumfeld von Theatern und Orchestern ausgeschlossen. Inzwischen ist jedem, der in oder mit einem Theater arbeitet, klar, dass sich das Theater in einem Markt und in unmittelbarer Konkurrenz zu anderen Marktteilnehmern (Theater, aber auch andere Freizeitangebote) bewegt. Das Theater liegt unter den beliebtesten Freizeitangeboten der Deutschen auf den hinteren Plätzen, das Internet dominiert zunehmend das Freizeitverhalten der jungen Menschen, Tendenz steigend. Für die Theater bedeutet dies, sich nicht nur mit dem Phänomen Internet als Medium für Marketing und Zugang zum Publikum, sondern als Kunstform auseinanderzusetzen.
K OMPLEX K RISE Wie gehen wir in der Diskussion mit dem Begriff der Krise des Theaters um? Wie differenzieren wir zwischen künstlerischer Krise, Krise der For-
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mate, finanzieller Krise? Ist eine Differenzierung zulässig? Ist der Begriff, allein auf finanzielle Aspekte und Subventionskürzungen bezogen, überhaupt relevant? Definitiv nein, die Krise des Theaters auf die Krise der Finanzen zu reduzieren zeugt von einer verkürzten Sicht. Die Kürzungen von finanziellen Mitteln für die Theater zeugen viel stärker von einer Krise der Legitimation, der von mir weiter oben angesprochenen schwindenden gesellschaftlichen Rolle und Relevanz des Theaters. Während zur Zeit des elisabethanischen Theaters in England zwischen 1580 und 1610 die Massen an Menschen noch um Plätze in den immerhin 2000 bis 3000 Zuschauer fassenden Theaterhäusern förmlich rangen (vgl. Stephen Greenblatt 1988), während in Deutschland zur Zeit der Gründung der ersten Nationaltheater in Hamburg und Mannheim Ende des 18. Jahrhunderts zwei bis drei verschiedene Vorstellungen verschiedener Genres am Abend vor ausverkauftem Haus gespielt werden mussten, leeren sich die Häuser heute in den meisten Städten. Die Politiker erkennen, dass das Theater – vorübergehend – an Gewicht verloren hat und stellen ihre Budgets sofort um. Wichtig ist vor allem, auch künstlerische Aspekte in die Beurteilung einer Krise einfließen zu lasen. Sind die Formate, die heute im „klassischen“ Schauspiel, in der Oper und im Konzert noch relevant und zukunftsfähig – oder befinden sie sich in einer Krise und müssen die den veränderten Sehund Hörgewohnheiten angepasst werden. Das Freie Theater und die zeitgenössische Musik machen es uns ja bereits vor. Wenn das Theater und die Musik sich nachhaltig weiter entwickeln und wieder einen festen gesellschaftlichen Platz einnehmen wollen, müssen sie neue Formen der Präsentation, neue Formate anbieten.
K OMPLEX K RISENMANAGEMENT Sollte der Begriff der Krise im Theater bzw. in der Theater- und Orchesterlandschaft weiter an Relevanz besitzen oder zunehmen, welche Instrumente der Krisensteuerung und des Krisenmanagements existieren bzw. können dann entwickelt und zum Einsatz gebracht werden? Die Frage des Krisenmanagements und der vorsorglichen Befassung mit Instrumenten einer Krisenvorbeugung und -erkennung war in deutschen Theatern bisher kein Thema. Dies hatte im Wesentlichen zwei Gründe, es besteht – vor allem bei den öffentlichen Regie- und Eigenbetrieben – das
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Phänomen der Nachschusspflicht, d.h. die Theater, die zum Jahresende nicht genügend Geld haben, erhalten oftmals stillschweigend Subventionen nachgeschossen. Das hat sich inzwischen gewandelt. Die Theater, die selbstverantwortlich mit ihrem Geld umgehen müssen, die – zwar als öffentliche Institutionen – in einer privatrechtlichen Form, wie einer GmbH arbeiten, für die besteht aufgrund ihrer dünnen Kapitaldecke Insolvenzgefahr. Wir mussten uns kürzlich mit den Beispielen Bremen, Schwerin und Gera auseinandersetzen, die jeweils aus anderen Gründen in den Strudel einer Insolvenz gerieten: Bremen, weil es überdimensionierte v.a. MusicalProjekte plante, die so hohe Kosten bereits im Vorfeld verursachten, dass die Einnahmen zur Deckung und letztlich zum Ausgleich des Defizits nicht mehr ausreichten; Gera, im Resultat einer fast zehn Jahre zurückliegenden Fusion mit der Stadt Altenburg, deren Transaktionskosten erst Jahre später in den Bilanzen sichtbar wurden; Schwerin, aufgrund einer mehrfach angesetzten, aber niemals durchgeführten Theaterstrukturreform des Landes, die frühzeitig abgebrochen wurde, und keinen Beitrag dazu leistete, die Probleme der Theater (finanzielle Unterdeckung Schwerin, Baukrise Rostock, künstlerische Krise Greifswald/Stralsund) zu lösen. Dies sind nur drei Beispiele aus einer Vielzahl weiterer, die uns täglich in den Nachrichten, den Feuilletons oder den einschlägigen Fachzeitschriften begegnen.
K OMPLEX E RFOLG Was ist Erfolg im Theater und im Konzert? Ist er messbar, und wie? Müssen wir uns dabei auf Fragen des künstlerischen Erfolgs konzentrieren, inwieweit spielen Aspekte der künstlerischen Qualität hierbei eine Rolle und kann diese objektiven Einschätzungen unterliegen? Sind Aspekte des wirtschaftlichen und des Publikumserfolgs davon abgetrennt zu betrachten? Der Erfolg am Theater, insbesondere der künstlerische Erfolg wird gegenwärtig mittels Hilfsgrößen gemessen, dazu zählen Einladungen zu Theatertreffen und Festivals, Rezensionen in überregionalen Zeitungen, Nennungen als Bühne des Jahres in den Fachjournalen, Auszeichnungen von Einzelkünstlern und Ensemblemitgliedern, vor allem die Zuschauerzahlen. Einen objektiven Eindruck über den künstlerischen Erfolg können sie uns jedoch nicht vermitteln, weil jeder dieser Indikatoren von subjektiven Einschätzungen geprägt ist. Zwar können sich 20.000 Zuschauer, die z.B. die Dreigroschenoper oder den Black Rider sehen, nicht irren, aber
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was sagt das über den tatsächlichen künstlerischen Erfolg, und wie schätzt man dann den Erfolg einer kleinen freien Produktion ein, die ohne finanzielle Zuschüsse, Abend für Abend vor 50 Zuschauern in einem Kellertheater spielt. Messbar hingegen sind Zuschauerzahlen, Einnahmen pro Veranstaltung und die so umstrittene wie manipulierbare Auslastungszahl. Die Zuschauer sind eine normative Größe, dennoch nicht vergleichbare Größe – abhängig vom Standort und seiner Größe (Klein-/Großstadt/Metropole), der Region und dem gesamten Einzugsgebiet. Die Einnahmen sind von den Zuschauerzahlen und den Preisen abhängig, die Preise wiederum reflektieren den Standort und die soziale Situation der Zuschauer. Die Auslastungszahl ist die Zahl, an der Politiker gerne den Erfolg ihrer Theater bemessen, aber die Zahl ist relativ und zwischen den Theatern nicht vergleichbar, sie ist abhängig von der Größe des Theatersaals. So kann eine Gruppe von 500 Besuchern in einem für 1000 Menschen ausgelegten Saal nur 50 Prozent Auslastung erzielen, während 350 Besucher in einem Saal für 400 Menschen eine deutlich höhere Auslastung erreichen, aber ein deutlich niedrigeres Einnahmeergebnis.
K OMPLEX P UBLIKUM Wie gehen wir zukünftig mit dem Publikum um? Was setzen wir der raschen Überalterung entgegen? Ist eine Verjüngung des Zuschauerdurchschnitts das Allheilmittel? Auf die Frage, welcher Zuschauer uns besonders interessiert, ist die Antwort der Theatermacher sehr unterschiedlich. Die Programme und Spielpläne der Theater verraten uns viel darüber, wo Schwerpunkte gesetzt, wo Aufmerksamkeit erzeugt werden soll. Oftmals sind die Theater aber nur einem Trend gefolgt und haben das Publikum als Ganzes und dessen Veränderung aus den Augen verloren. Schon innerhalb zweier Intendanzperioden, die den Zeitraum von zehn Jahren umfassen, kann sich die demografische, soziale und ethnische Struktur einer Region in der sich ein Theater befindet, völlig verändern. Dieser Wandel muss aktiv begleitet werden, und er darf nicht einseitig sein. Oftmals ist es – wie weiter oben angesprochen – leider so, dass Intendanten bei Wechseln in andere Städte die intensive Befassung mit der neuen Region und Umgebung zu Gunsten eines eingefahrenen Erfolgsmodells vernachlässigen. Die Misserfolge von Intendanten, die
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in neuen Städten ankommen und gerade in den ersten Spielzeiten mit größten Schwierigkeiten konfrontiert werden, sind ein Zeichen dafür, dass, was an einem Ort erfolgreich war, nicht auf den nächsten übertragbar sein muss. Das größte Problem, aber, stellen die Spezialisierungen dar. Die plötzliche Konzentration auf Kinder- und Jugendtheater oder bestimmte Zielgruppen, die nur Ausschnitte, Segmente der Gesamtbevölkerung sind, die die Theater erreichen müssen. Dabei werden oftmals die Menschen in der Mitte der Gesellschaft und ihres Lebensalters vergessen, denen die Theater zu wenige Angebote machen.
K OMPLEX Ü BERPRODUKTION Was bedeutet das Thema Überproduktion für das Theater und Orchester, für das Ensemble und den einzelnen Künstler? Aus meiner Erfahrung am Weimarer Nationaltheater, aber auch aus meinen Gesprächen mit vielen Kollegen, sei es in der Hessischen Theaterakademie oder in anderen Runden bin ich zu der Einschätzung gekommen, dass der Punkt der Kapazitätserschöpfung an den Theatern und in den meisten Orchestern inzwischen längst erreicht ist, ab dem sich die Ressourcen, insbesondere die personellen, nicht mehr im gegebenen Umfang regenerieren können und damit die künstlerische Qualität und Nachhaltigkeit beeinträchtigen. Schauspieler, Dramaturgen, Assistenz- und Technikteams arbeiten quasi in einem Vollstressmodus von einer Premiere zur nächsten. Der Normalfall ist, dass die Proben für die nächste Produktion meist einen oder zwei Tage nach der Premiere der vorangegangenen Produktion beginnen, oftmals überlappen sich die Produktionen sogar. Den Künstlern und den Teams bleibt keine Zeit, über die Arbeit ausreichend zu reflektieren und vor allem, sich zu erholen, was der Normalfall sein müsste, aber im Theater immer wieder ausgehebelt wird, bis alle Mitarbeiter am Ende einer Saison völlig erschöpft in die fünf oder sechs Wochen Saisonferien gehen – wenn nicht andere Aufgaben auf sie warten. Die Theater müssen saniert werden, viele Künstler nehmen Gastangebote bei Festspielen oder Sommertheaterproduktionen an, oder aber das städtische Theater wird in die Pflicht genommen, selbst eine Sommerbespielung für die Touristen auf die Beine zu stellen. Die notwendige Pause wird weiter verkürzt, der Künstler, der Mitarbeiter kann sich kaum noch erholen. Das gilt im Übrigen auch für das
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Material, das Ermüdungserscheinungen zeigt, die technische Substanz und vieles mehr. Man muss sich auch die Frage gefallen lassen, ab wann durch die steigende Überproduktion die Premiere, die Vorstellung oder das Konzert vom künstlerischen Unikat zur austauschbaren Unterhaltung wird, ab wann die Qualität der Repertoirevorstellung aufgrund des großen Produktionsdruckes nicht mehr gehalten werden kann und ob es nicht an der Zeit wäre, auf ein wesentliches Merkmal der deutschen Theaterlandschaft, den Repertoirebetrieb, als System, zu Gunsten eines Stagione-Betriebes umzustellen. Das bedeutet: Im Moment spielt ein mittleres Dreispartentheater 40 verschiedene Produktionen pro Jahr, davon 20 Premieren, zeitlich versetzt, sodass der Zuschauer an sieben Wochentagen in der Regel sieben verschiedene Produktionen sehen kann. Das ist ein unsinniger, unnötiger und unbezahlbarer Luxus. Unsinnig ist er alleine deshalb, weil durch dieses System kein Zuschauer mehr in die Theater strömt. Könnte sich der Zuschauer darauf verlassen, dass nach einer Premiere ein Schauspiel, eine Oper, ein Tanzstück zehn Mal angesetzt wird, und danach das nächste Stück auf die Bühne kommt, würde es sich auf diesen viel effizienteren Modus einstellen. Es spricht kein Argument, weder ein künstlerisches noch der Gedanke der Ensembleentwicklung dafür, das Repertoiresystem beizubehalten, im Gegenteil, die Qualität der Aufführungen würde steigen, das Spiel der Schauspieler und Sänger gewinnen, das Material nicht so schnell verschleißen, weil man nicht jeden Tag umbauen müsste. Es ist, das prognostiziere ich, eine Frage der Zeit, bis ausgehend von den großen Häusern in den Metropolen, die Theater sukzessive beginnen werden, ihre Systeme umzustellen.
K OMPLEX Z USAMMENARBEIT Eine Wichtige Frage ist die, wie die Zusammenarbeit der Theater der Zukunft aussieht. Und weitergehend, wie die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen sehr heterogenen Theatern der öffentlichen und freien Szene gestaltet werden muss, um bei einer gewissen, auch notwendigen Autonomie einen Wissens- und künstlerischen Transfer zu generieren, aber auch, um sich gegenseitig nicht nur punktuell, sondern systemisch und strukturell zu unterstützen. Die Arbeit in Netzwerken reicht hierfür nicht mehr aus, auch nicht die sehr gelungenen Kooperationen zwischen den großen Festivals, den großen
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Produktionshäusern der freien Szene (HAU, Moussonturm, Kampnagel) und einigen wenigen öffentlichen Theatern, die in einer Art Ringkooperation gemeinsame Produktionen aus der Taufe heben und dann zwischen den Häusern auf Gastspiel bzw. Tournee schicken. Ich sehe eigentlich nur eine mögliche Form: die echte Kooperation. Wie könnte diese aussehen? Zum Beispiel, dass sich öffentliche Theater für Gruppen der freien Szene öffnen, dass sich die Ensembles und die Produktionsformen durchmischen, dass sich – erst einmal – innerhalb der einzelnen Bundesländer Plattformen bilden.
K OMPLEX F ÖRDERSTRUKTUR Wie muss die Förderlandschaft, einschließlich der Finanzierungsstruktur der Theater und Orchester zukünftig gestaltet werden? Welche Rolle müssen Theaterleitungen, welche Rolle die Kulturpolitik übernehmen? Zur ersten Frage habe ich mich am Anfang bereits geäußert. Dass wir alle gemeinsam um eine Anhebung der sehr marginalen öffentlichen Kulturfinanzierung kämpfen müssen, steht außer Frage, dass wir Wege finden müssen, die Bürger stärker einzubinden, auch in die Verantwortung für den Erhalt der Theater, die kein Selbstzweck sein dürfen, ebenfalls. Dass die Mittel neu und gerechter und vor allem fantasievoller verteilt werden müssen, mit einer sicheren Grundfinanzierung für die öffentlichen wie auch die Freien Theater, aber eben auch Mittel für eine Exzellenzfinanzierung, die bestimmten Kriterien gehorchen sollte, wäre ein neues, erstrebenswertes Attribut. Hier kommt es auch wesentlich auf einen neuen kooperativen Verbund zwischen Theatern und Kulturpolitikern an. Es darf nicht passieren, dass Kulturmanager die Aufgaben der Kulturpolitik übernehmen. Bleibt die Frage, wie sieht das Theater der Zukunft aus? Wie sieht die deutsche bzw. europäische Theater- und Orchesterlandschaft der Zukunft aus? Was können wir von unseren Nachbarländern lernen, was ist übertragbar, was bleibt kulturell verwurzelt und ist deshalb nicht zu berücksichtigen? Das Theater der Zukunft muss vor allem einem Kriterium gehorchen: es muss reformiert, neu strukturiert und ausgestattet zurück in die Mitte der Gesellschaft. Der Weg dorthin ist weiter oben beschrieben worden, in den Komplexen Reformen, Legitimation und Zuschauer. Wenn sich ein Theater, im besten Falle mit Unterstützung der politischen Mandatsträger (Ge-
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sellschafter, Aufsichts- und Verwaltungsräte) auf den Weg macht, Reformen entwickelt und umsetzt, sollte es auf drei Aspekte achten: Jede Reform muss an die künstlerische Entwicklung gekoppelt sein, die Kunst, nicht das Betriebsystem, die Wirtschaftlichkeit oder die Reformfähigkeit, hat das Primat, aber mit einem modernisierten Betriebssystem, mit einer wirtschaftlichen Produktionsweise und einem hohen Reformpotenzial werden die Dienstleistungsbereiche des Theaters auch in der Lage sein, die künstlerische Entwicklung weiter zu stärken. Jedes Theaterland und jedes Theater hat seine Besonderheiten, jedes Theater und jedes Orchester muss seine Reformen vor dem Hintergrund der eigenen Ausgangssituation, der Ziele der Theaterleitung, der Rahmenbedingungen selbst definieren und umsetzen; es wird nicht ein Reformmodell geben, sondern im besten Falle 140 für die Theater und 130 für die öffentlichen Orchester; am Beispiel des sehr erfolgreichen Weimarer Modells, in dem das Nationaltheater Weimar zwischen 2003 und 2008 sechs Jahre völlig ausgekoppelt aus den Tarifsystemen ein eigenes Reformmodell entwickelt hat, um so dem Abbau der Musiksparte und der Fusion mit dem Theater Erfurt zu entgehen, haben wir in unseren Gesprächen mit anderen Theaterleitern immer wieder festgestellt, dass die Übertragung unseres Modells immer nur abgewandelt auf die spezifischen Bedingungen des jeweiligen Theaters möglich war. Heute, nach zahlreichen Gesprächen und Diskussionsrunden und einer erfolgreichen Beendigung des Weimarer Modells, das schließlich in die Umwandlung in ein Staatstheater mündete, kann ich sagen, dass in mindestens 50 weiteren deutschen Stadttheatern ein kleines Stück Weimarer Modell in seiner adaptierten Form steckt. Die Zukunft des Theaters ist die Summe aller Reformmodelle, ein heterogenes Feld verschiedenster Ansätze zur Lösung der dringlichsten Strukturprobleme, vor allem aber zum Substanzerhalt und zur Weiterentwicklung der künstlerischen Strahlkraft, sie ist jedoch ohne einen engen Schulterschluss zwischen freien und öffentlichen Theater nicht mehr denkbar. Die Dichotomie, die Zweiteilung der deutschen Theatergesellschaft muss aufgehoben werden, was finanzielle Ausstattung, politische Legitimation, Formen der Zusammenarbeit und Kommunikation betrifft. Dies ist, und damit möchte ich abschließen, die dringlichste Reformaufgabe der nächsten Jahre.
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T HESEN ZUR T RANSFORMATION DES T HEATERSYSTEMS 1.) Das deutsche Theater- und Orchestersystem steht seit seiner Wiederentstehung zum Ende der Nachkriegszeit vor der größten Umbruchssituation, weil vor allem das öffentliche Theatersystem an seinen Enden und in der „Peripherie“ massiv zu bröckeln beginnt. Die Legitimation der Theater ist gesunken, die Zahl der Zuschauer hat in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen, während die Theater mit immer weniger Ressourcen immer mehr produzieren. Die Theaterstrukturen sind ebenso unflexibel wie die Produktionsbedingungen. Hinzu kommt eine chronische finanzielle Unterausstattung die zu einem Substanzabbau führt. Verstärkt wird dies durch eine – in weiten Teilen des Landes – kulturpolitische Ideenlosigkeit, mit diesen Problemen umzugehen. 2.) Die Hauptaufgabe des Theater ist es und bleibt es, sich und seine Formate künstlerisch immer weiter zu entwickeln. Die Legitimationskrise und die temporäre Veränderung der Besucherstrukturen und ihrer Wahrnehmung des Theaters, dürfen dieses nicht daran hindern, immer wieder und weiter neue Wege zu suchen, das Theater künstlerisch zukunftsfähig zu machen. Gleichzeitig muss das Theater wieder seinen Weg dorthin zurückfinden, wo es einmal seinen Ursprung genommen hat, in die Mitte einer heterogenen und sich immer weiter diversifizierenden Gesellschaft. 3.) Die Aufgabe des Theaters ist es, das Publikum für sich zu gewinnen. Der Besucher muss neu entdeckt, analysiert und begleitet, in seiner Differenzierung und Heterogenität, in seiner Entwicklung, seinem Wissen und seinen Ansprüchen gewonnen werden. Niemals zuvor war das Publikum einer Stadt differenzierter als heute, und hat sich kulturell, sozial, ethnisch stärker voneinander unterschieden als in diesen Tagen. Die Theater müssen über die Entwicklung und Kommunikation neuer künstlerischer Formate einen Weg zu den verschiedenen Besuchergruppen und damit zurück in die Gesellschaft finden. Nicht der Weg zurück zum „Theatermuseum“ und zu althergebrachten Aufführungspraxen, sondern interdisziplinäre, performative Spielweisen, Neuentwicklungen von Texten, zeitgenössischer Musik und Tanz bringen die Kraft der Erneuerung.
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4.) Vor allem das Stadttheater und sein Betrieb müssen sich grundlegend reformieren, hinsichtlich interner Produktionsprozesse (Vereinfachung), der Tarifstruktur (Theatereinheitstarifvertrag), der Tendenz zur Überproduktion (Entschleunigung), der Komplexität der Spielplanung (Veränderung des Repertoirebetriebes), der Zusammenarbeit mit freien Gruppen (echte Kooperationen, Öffnung, finanzielle Restrukturierung der Etats) und ihrer Ausrichtung (Zukunftsfähigkeit, Nachhaltigkeit). 5.) Das Verhältnis zwischen Theatern und Politik muss neu definiert werden. Dazu gehört, dass Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft bzw. neu definiert, u.a. für neue öffentliche und gerechtere Finanzierungsformen (Grundfinanzierung für öffentliche Theater und die freie Szene, Zugriff auf zusätzliche Exzellenzmittel für alle), aber auch eine regelmäßige künstlerische Evaluierung durch externe Fachleute. Kultur muss zudem aus dem Status der „freiwilligen“, also jederzeit zur Disposition stehenden Aufgaben befreit werden. Die Aufgabe der Kulturpolitik eines Landes und seiner Kommunen ist es, eine ausgewogene, heterogene und entwicklungsfähige Theaterstruktur zu erhalten, die sowohl öffentliche Theater wie freie Ensembles fördert. 6.) Die Kluft zwischen öffentlichen und Freien Theatern muss grundlegend aufgehoben werden, durch gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen, durch gleichberechtigte politische Legitimation und durch eine enge Kommunikation und Zusammenarbeit – dies ist für mich die Grundvoraussetzung für die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft. Es wäre zu überlegen, ob die Bildung und der damit verbundene Ressourcentausch durch „Hybride“ zwischen öffentlichen und Freien Theatern, öffentlichen und freien Orchesterensembles vorangetrieben werden sollte. Dabei muss es aber darum gehen, alle Segmente der freien Szene einzubinden. 7.) Die Ausbildung in den Theaterberufen muss sich stärker mit dieser neuen Wirklichkeit auseinandersetzen. Noch immer wird vor dem Hintergrund einer „blühenden“ öffentlichen deutschen Theater- und Orchesterlandschaft ausgebildet. Die wenigsten Studierenden werden auf die veränderten Anforderungen und daraus entstehenden neuen Berufsprofile oder für die anspruchsvollen Aufgaben in der freien Szene und den freien Ensembles vorbereitet.
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8.) Wir müssen die Arbeit in realen Netzwerken verstärken, so wie sich Teile der freien Musiktheaterensembles, der Konzerthäuser, der freien Szene und im Tanz zusammengeschlossen haben. Ein Netzwerk dass sich über alle Teilnetzwerke der öffentlichen Theater und der freien Szene spannt, als Diskussions- und Kommunikationsplattform, als Austauschbörse, Denkfabrik und Motor für ein Theater der Zukunft dient, und sich als gemeinsame, politisch unabhängige Interessensgruppe artikuliert.
L ITERATUR Deutscher Bühnenverein (Hg.) (2012): Theaterstatistik 2010/11, 46. Heft, Köln. Deutscher Bühnenverein (Hg.) (1998): Theaterstatistik 1994-1998, Köln. Stephen Greenblatt (1988): Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley.
Mythos Stadttheater Vom Weh und Werden einer deutschen Institution J ENS R OSELT
Das Theater hierzulande wird von zwei Theatersystemen dominiert, die beide vor allem durch öffentliche Gelder finanziert werden: das Stadttheater und das Freie Theater. Die aktuelle Strukturdebatte, die durch die Konsolidierung öffentlicher Haushalte forciert wird, zeigt, dass beide Systeme unter hohem Legitimationsdruck stehen. Die Rhetorik der Rechtfertigung seitens der Theatermacher setzt dabei häufig auf Abgrenzung. Man betont das Trennende und die Gegensätze, um die eigene Position kenntlich zu machen. Dabei werden vor allem die unterschiedlichen Strukturen und Bedingungen von Theaterarbeit hervorgehoben. Die freie Theaterszene erscheint hier als ein äußerst prekärer Arbeitsbereich, der die Künstler zu permanenter Selbstausbeutung nötigt, ohne zumindest mittelfristig gesicherte Beschäftigungsperspektiven zu bieten (vgl. Haak 2010: 197). Die Bezahlung ist schlecht. Arbeitsverträge (wenn es sie überhaupt gibt) sind kurzfristig. Die Beteiligten arbeiten stets projektorientiert. Während sie an der Umsetzung eines Projekts arbeiten, müssen sie eigentlich schon den Entwurf für das Folgeprojekt skizzieren. Regie, Dramaturgie und Schauspiel zeigen nicht erst auf der Probe, was sie können und wollen, sondern müssen schon im Vorfeld beim Abfassen von Anträgen für Stiftungen und öffentliche Zuwendungsgeber in Szene setzen, was sie drauf haben. Die Grammatik der sogenannten Antragsprosa setzt jedes Projekt unter permanenten Innovationszwang, denn Anträge werden von sachverständigen Kuratorien dahingehend geprüft, was an ihnen neu ist. Nachhaltigkeit – ein hohes Gut in der Kulturdebatte – wird damit fast unmöglich
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gemacht, denn dass eine freie Theatertruppe ein eigenes Publikum über Jahre aufbaut, dass sie einen eigenen Stil und eine eigene Arbeitsweise kreiert, wird von Zuwendungsgebern nicht immer gewürdigt. So gibt die freie Szene jungen Theaterleuten mitunter gute Startmöglichkeiten, doch das stete Sammeln von Erfahrungen und das Altern kann im Freien Theater eine harte Sache werden. Demgegenüber erscheinen die Strukturen und Bedingungen für Theaterarbeit an den Stadt- und Staatstheatern anders organisiert zu sein. Diese institutionalisierten (also nicht freien) Theater verfügen meist über feste Häuser und fixe Haushaltsposten, die relativ stabile Arbeitsstrukturen ermöglichen und den Künstlern eine tarifvertraglich abgesicherte mittelfristige Perspektive und Sicherheit bieten. Trotzdem erscheint „das“ Stadttheater im Selbstverständnis vieler freier Theatermacher nicht als viel versprechende Alternative, sondern als jene Institution von der man sich geradezu identitätsstiftend abgrenzt. Nicht selten dient die Bezeichnung Stadttheater als Schimpfwort, so bei jenem Regisseur im Freien Theater, der die Bitte eines Schauspielers nach einer kurzen Unterbrechung der Probe mit dem Satz konterte: „Wenn du eine Pause brauchst, geh doch zum Stadttheater.“ Während die in Theaterkreisen geführte Debatte auf Abgrenzung setzt, stellt sich die Lage von Außen allerdings anders da. In einer gesellschaftlichen Situation, in der über die Subvention von Strompreisen für Sozialschwache diskutiert wird, ist auch die Subvention von Theatersesseln für Sozialstarke keine Selbstverständlichkeit mehr. Dabei erscheint es zweitrangig, ob die Zuschauer im roten Plüsch eines Stadttheaters oder auf den harten Bänken einer Performancegarage Platz nehmen. Aus dieser Perspektive sitzen Stadttheater und Freie Theater als subventionierte Einrichtungen durchaus im selben Boot – wenn auch auf unterschiedlichen Decks. Diese unfreiwillige Gemeinsamkeit gilt nicht nur für den finanziellen Rahmen, sondern auch für die ästhetischen Formen und Inhalte. Die simple Gegenüberstellung des Freien Theaters als tendenziell fortschrittlich, innovativ, experimentell, semi-professionell und arm gegenüber dem Stadttheater als tendenziell konservativ, reformunfähig, professionell und reich ist nicht zutreffend. Aufschlussreicher ist vielmehr die Beobachtung, dass beide Systeme in Bewegung geraten, wobei Begegnungen, Zusammenstöße und Kollaborationen von Freiem Theater und Stadttheater möglich werden. Für die zukünftige Entwicklung des Theaters wäre deshalb nicht nur zu diskutieren, was beide Systeme voneinander trennt, vielmehr könnte es ent-
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scheidend werden, was Stadttheater und Freies Theater voneinander lernen, abgucken und kopieren. Nachahmung ist im Theater kein Frevel. Hierzu soll im Folgenden ein Beitrag geleistet werden. Der Fokus wird dabei auf das Stadttheater gelenkt. Anhand von sieben Kriterien wird zunächst skizziert, was man überhaupt unter dem Schlagwort Stadttheater verstehen kann. Die genannten Aspekte werden sodann theaterhistorisch überprüft, um zu zeigen, ob und wie das Stadttheater überhaupt zu dem geworden ist, als was es heute gilt. Schließlich werden davon ausgehend Überlegungen über die nahe Zukunft beider Systeme anzustellen sein. Wenn nun vom Stadttheater als einem Mythos die Rede ist, macht dies die Leitthese der folgenden Ausführungen kenntlich. Es wird damit behauptet, dass die hier skizzierte Idee des Stadttheaters ein Mythos ist, der als solcher erst durch nachträgliche Erzählungen entstanden ist, und – wie jeder Mythos – seine Wirkmacht unabhängig von seiner historischen Verifizierbarkeit entfaltet.
W AS IST
EIN
S TADTTHEATER ?
1.) Das System der Stadt- und Staatstheater gilt als spezifisch deutsche Errungenschaft und kulturelle Leistung des Föderalismus in Deutschland, die – so behauptet es nicht nur der Deutsche Bühnenverein – schützenswert ist und auf die der Rest der Welt neidvoll blickt. 2.) Als Kind der Aufklärung entsteht das Stadttheater gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als sich Theater auf die Pflege der dramatischen Literatur verpflichten und als moralische Anstalten im Kanon der Künste gesellschaftlich etabliert werden. 3.) Damit einher geht ein spezifischer Bildungsauftrag, d.h. das Theater soll seine Zuschauer in erster Linie bilden und nicht unterhalten. Theater als populäre Unterhaltungsform und die Unterhaltungsfreude des Publikums werden damit ins Unrecht gesetzt. 4.) In diesem Sinne firmiert das Stadttheater als Denkmal bürgerlichen Gemeinsinns. Das gilt zum einen für die Finanzierung, denn wenn Theater einen öffentlichen Bildungsauftrag haben, müssen sie auch wie andere Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten und Akademien) öffentlich fi-
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nanziert werden. Das gilt zum anderen aber auch für die monumentale Denkmalhaftigkeit der großen Häuser, die während des Theaterbaubooms im 19. Jahrhundert flächendeckend in Deutschland entstehen. Diese nicht selten tempelartigen Gebäude an zentralen Plätzen von Städten, die den Repräsentationsanspruch nicht nur auf der Bühne, sondern auch in weitläufigen Foyers zur Anschauung bringen, sind heute noch die Heimstätten vieler Stadttheater. 5.) Eine Stadt, die etwas auf sich hält, hat ihr Stadttheater, das heißt auch, dass die Theaterleitung in Abhängigkeit zum Magistrat steht. Zum Auftrag des Stadttheaters gehört die sogenannte Grundversorgung der Bevölkerung. Dieses Schlagwort taucht bis heute in Rechtfertigungsdebatten um das Stadttheater immer wieder auf. Auch wenn der zu versorgende Grund mitunter ominös bleibt, schälen sich Merkmale wie die Klassikerpflege, die Dreispartenstruktur und der Repertoirebetrieb heraus. Theater haben demnach einen bestimmten Kanon dramatischer Literatur in adäquaten Inszenierungen zu bieten und zu vermitteln. Dies geschieht in den drei Sparten Schauspiel, Oper und Tanz, heute nicht selten ergänzt durch die vierte Sparte des Kinder- und Jugendtheaters. Diese Inszenierungen werden im Spielplan für eine Spielzeit vorgehalten, d.h. sie sind im Repertoire und tauchen monatlich immer mal wieder auf. Das bedeutet, dass die Stadttheater auch permanent die Infrastruktur vorhalten, um 20 bis 30 unterschiedliche Inszenierungen im täglichen Wechsel zu zeigen. 6.) Das Stadttheater ist ein Ensembletheater, wobei ein fester Stab von Mitarbeitern und Künstlern über einen längeren Zeitraum an unterschiedlichen Inszenierungen arbeitet. Ein Ensemble ist nicht mehr die zusammengewürfelte Truppe ästhetischer Einzelkämpfer der Wandertruppen des 18. Jahrhunderts, sondern es versteht sich selbst als eine künstlerische Gemeinschaft, die sich durch einen eigenen Inszenierungsstil oder eine bestimmte Spielweise auszeichnen kann. Zentrale Innovationen der Schauspielkunst waren und sind nicht denkbar ohne die Ensembles, in denen und mit denen neue Spielweisen erfunden, entwickelt, erprobt oder verworfen werden. Goethes Weimarer Theater ist ebenso ein Meilenstein der Ensemblekunst wie Brechts Berliner Ensemble, Steins Schaubühne oder Castorfs Volksbühne. Das viel gescholtene deutsche Stadt- und Staatstheatersystem hat für diese Entwicklung äußerst positive Voraussetzungen geschaffen. Denn zum
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Ensemblegedanken gehört auch die Praxis, dass Schauspieler über Jahre dabei bleiben können, um an sich zu arbeiten und das Ensemble so kontinuierlich mitzuentwickeln. Die damit einhergehende ökonomische und soziale Stabilität hat zur Akzeptanz des Berufsschauspielers wesentlich beigetragen. 7.) Und schließlich ist das Stadttheater ein professionelles Theater, in dem die Künstler auf und hinter der Bühne ebenso wie die übrigen Mitarbeiter in den Werkstätten, Ateliers und Garderoben oder der Verwaltung ihr Handwerk gelernt haben, hauptberuflich am Theater arbeiten und davon leben können.
V OM H OFTHEATER ZUM S TADTTHEATER ? Tatsächlich kommt es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer grundlegenden Umstrukturierung des Theaters hierzulande. Bis dato wurde das Theater von Prinzipalen geprägt, deren Wandertruppen mit städtischer Konzession oder fürstlichem Privileg für eine begrenzte Zeit vor Ort auftraten. (Vgl. Fischer-Lichte 1993: 83) Mit der Wende zum 19. Jahrhundert werden stehende Theater die dominierenden Betriebsformen, die sich in Residenzen oder größeren Städten als feste Häuser mit eigenem Ensemble institutionalisieren. Die Bezeichnung Stadttheater führen sie allerdings kaum, denn es handelt sich vor allem um Hoftheater, die zwar vom Bürgertum besucht aber von Fürsten bezahlt und kontrolliert wurden. (Hierzu: Daniel 1995: 189) Der Wechsel von den Wandertruppen zu den Hofbühnen vollzog sich fließend im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Von gewisser Bedeutung war dabei die Truppe des Prinzipals Abel Seyler, die am Weimarer Hof bis zum Brand des dortigen Schlosses 1774 auftrat und im folgenden Jahr nach Gotha wechselte, wo das erste stehende deutsche Hoftheater mit namhaften Schauspielern wie Konrad Ekhof oder Karoline Schulze-Kummerfeld und jungen Talenten wie August Wilhelm Iffland gegründet wurde. 1779 wechselte die Truppe nach Mannheim, wo der Freiherr von Dahlberg das Mannheimer Nationaltheater aufbaute. Außerdem gab es neben dem Wiener Burgtheater noch in München, Bonn und Stuttgart fürstlich alimentierte Hofbühnen; in Weimar wurde wieder ab 1783 deutsches Theater gegeben, Berlin folgte 1786. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ver-
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fügten dann nahezu alle Residenzen der deutschen Fürsten über ihr eigenes Hoftheater. (Ebd.: 115ff.) Diese Theater wiesen eine hierarchische Struktur auf, die nicht mehr der Willkür eines mehr oder weniger charismatischen Prinzipals unterworfen war, sondern verwaltungstechnischen Notwendigkeiten mit streng reglementierten Zuständigkeiten gehorchte. Spezialisierung und Arbeitsteilung kennzeichneten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Arbeitsumfeld neuer und alter Theaterberufe (ebd.: 132). Die Zahl der Mitarbeiter an den institutionalisierten Theatern stieg stetig an. In Karlsruhe beispielsweise waren 1840 bereits an die 250 Personen beschäftigt (ebd.: 301). Diese zunehmende Professionalisierung führte zu einer differenzierten Arbeitsteilung, die jene bis heute gängige Trennung zwischen einem verwaltungstechnischen sowie handwerklichen Teil und den künstlerisch tätigen Mitarbeitern (Schauspieler, Sänger, Musiker, Tänzer) vornahm. Es war bei Hoftheatern üblich, dass der Intendant selbst nicht Teil des künstlerischen Bereichs war und mithin auch über keine entsprechenden fachlichen Kompetenzen verfügte. Wegen dieses „strukturellen Autoritätsproblems, mit dem alle Hoftheaterintendanten zu kämpfen hatten“ (ebd.: 197), gewann die Funktion des Regisseurs als eine Art Manager und Mediator zunehmend an Gewicht. (Vgl. Roselt 2009: 32) Am Anfang der Entwicklung des Stadttheaters steht also das Hoftheater als eigentümlicher Zwitter bürgerlicher und höfischer Kultur. Daneben hat es namhafte Versuche gegeben, unter bürgerlicher Ägide und Finanzierung Theater zu gründen. Obwohl diese Reformbemühungen in der Praxis letztendlich scheiterten, haben sie zum Mythos des Stadttheaters wesentlich beigetragen. Ein Meilenstein dieser Entwicklung ist die sogenannte Hamburger Entreprise. (Vgl. Kindermann 1961: 524) Im Jahr 1766 taten sich in der Hansestadt zwölf Bürger zusammen, um ein Konsortium zur Finanzierung eines Theaters zu gründen, das im folgenden Jahr als erstes Deutsches Nationaltheater eröffnet wurde. Als Dramaturg hatte man Gotthold Ephraim Lessing verpflichtet, der für ein aufgeklärtes, bürgerlich emanzipiertes und literarisch anspruchsvolles Programm stand. Er begleitete die Theaterarbeit mit kritischen Texten, die unter dem Titel „Hamburgische Dramaturgie“ zusammengefasst ein Gründungtext in der Legende des Stadttheaters wurden. Dieses ambitionierte Reformprogramm fiel beim Publikum von Anfang an durch. Selbst (oder gerade) künstlerisch gelungene Inszenierungen brachten
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finanziell keinen Erfolg. Bereits am Ende des Gründungsjahres 1767 musste der Spielbetrieb vorübergehend eingestellt werden, der schlussendliche Bankrott folgte im März 1769. Ein weiterer wichtiger Versuch, ein vom Bürgertum getragenes literarisches Kunsttheater zu machen, fand in den 1830er Jahren in Düsseldorf statt. Dieses Unternehmen, das sich selbst Düsseldorfer Stadttheater nannte, soll nun ausführlicher betrachtet werden (hierzu: Linzer 1956: 18ff). Die Initiative ging von Karl Immermann aus, der als Jurist und Literat 1827 nach Düsseldorf kam, um dort als Richter im preußischen Staatsdienst zu arbeiten. Seinem Interesse für das Theater ging er in Liebhaberaufführungen nach, wobei er als Dilettant auch die Einstudierung eigener Dramen besorgte. Durch einen eigens von ihm gegründeten Verein machte Immermann ab 1832 seinen Einfluss auch auf das professionelle Theater vor Ort geltend, bis er schließlich von 1834 bis 1837 die Leitung des unter seiner Ägide formierten Düsseldorf Stadttheaters übernahm. Die drei Spielzeiten, die Immermann bis zum vorzeitigen Ende des Unternehmens verantwortete, standen von Beginn an unter einem programmatischen Anspruch. Immermann begriff seine Arbeit als ein Projekt, das sich einer grundlegenden Reform des Theaters verpflichtete. Er wollte in Düsseldorf nicht irgendwie Theater machen, um beim Publikum Erfolg zu haben, sondern eine neue Form literarischen Theaters entwickeln und erproben, die beim Publikum erst noch zum Erfolg geführt werden musste. Das Theater sollte sich bilden, um seine Zuschauer bilden zu können. Die Referenz für dieses Unternehmen war neben Schillers Idee des Theaters als moralischer Anstalt vor allem Goethes Weimarer Hoftheater (vgl. Itoda 1990: 16). In einer Denkschrift, der Promemoria über die Bildung einer neuen Bühne zu Düsseldorf, wurde 1832 ein Maßnahmenkatalog formuliert, um „der anarchischen Willkür der Schauspieler“ (Immermann 1979: 64) entgegenzuwirken. Diese werden zur „Reproduction eines Dichterwerks verpflichtet“ (ebd.), wobei es nicht nur um den Wortlaut eines Dramas ging, sondern auch um den „Sinn der Dichtung“ (ebd.: 60). Neben der entsprechenden Umgestaltung des Spielplans sollten vor allem „[r]ichtige Accentuation, Eingehen in den Sinn des Dichters, [und] exactes Zusammenspiel“ (ebd.: 51) die entscheidenden „Grundlagen scenischer Repräsentation“ (ebd.) werden. Zentrales Instrument zur Durchsetzung dieser Ziele waren die sogenannten „Musterdarstellungen“ (ebd.: 86) oder auch Mustervorstellungen, von denen ab 1832 die Rede ist (vgl. Itado 1990: 32). Hierbei handelte es sich um eine
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Handvoll Inszenierungen pro Spielzeit, auf deren Einstudierung „ganz besondere Sorgfalt verwendet“ (Immermann 1979: 105) werden sollte und die in den gängigen wenig ambitionierten Spielplan integriert werden mussten, um dort als Vorbild oder Muster eines neuen Theaters zu fungieren. 1833 beispielsweise wurden vier solcher Mustervorstellungen erarbeitet, nämlich Lessings Emilia Galotti, Schröders Stille Wasser sind tief, Calderons Der standhafte Prinz und Kleists Prinz Friedrich von Homburg. Wenn das Ideal dieser Mustervorstellungen darin bestand, dass sie den Sinn des Dramas reproduzierten und repräsentierten, bedeutete dies, dass jede Inszenierung bis ins Detail speziell für ein bestimmtes Stück erarbeitet werden musste. Ihre Ästhetik war abhängig vom Stil des Dramas und nicht mehr Konventionen, Routinen oder gar dem Zufall überlassen. Für die Schauspieler bedeutete dies, dass es nicht mehr darauf ankam, was sie mit dem Text machten, sondern was der Text mit ihnen und aus ihnen machte. In diesem Sinne bemerkte Immermann in einem Brief von 1837 kritisch: „Der Schauspieler stellt sich über das Gedicht, und glaubt erst, Etwas aus demselben machen zu müssen, statt das gerade umgekehrt das Gedicht aus ihm etwas machen soll.“ (Ebd.: 684f.) Doch nicht nur Rhetorik und Mimik, sondern sämtliche Darstellungsmittel der Bühne wie die Kulissen und Kostüme waren auf das Drama zu beziehen bzw. aus ihm abzuleiten. Hierdurch wurden die Mustervorstellungen auch zum Vorbild für die Kunst der Inszenierung. Es gibt Beschreibungen Immermanns von einzelnen Szenen der Musterdarstellungen, die er für besonders gelungen hielt. Hieraus lassen sich die Inszenierungsmaximen ableiten, die Immermann als Reformprojekt vorschwebten. Im Mittelpunkt stand dabei die Gesamtwirkung einer Szene, hinter der die Leistungen einzelner zurückzutreten hatten. Erst durch das Zusammenspiel sämtlicher szenischer Mittel kam eine spezifische Stimmung oder Atmosphäre zustande, welche die Qualität der Szenen ausmachte. Die Sprache der Schauspieler, die Bewegungen der Statisten im Raum, das Licht und die Kulissen – all dies brachte zusammen die gewünschte Wirkung hervor. Auch die akustische Ebene gewann dabei an Bedeutung. Immermann entdeckte, dass auch Geräusche eine Kulisse ergeben können, die mitunter mehr bedeutet als eine bemalte Kulisse zeigen und ein gesprochener Text sagen konnte. So wurde die Schlachtszene in Macbeth einzig durch Geräusche von hinter der Bühne dargestellt. (Vgl. Immermann 1984: 371) Die Kunst der Inszenierung bestand eben darin, nicht alles zu zeigen und die Bühne mit stolpernden, über einander herfallenden Statisten zu be-
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völkern, sondern etwas wegzulassen, anzudeuten und so in der Fantasie der Zuschauer wirkungsvoll hervorzurufen. Immermann erkannte, dass die realistische Wirkung, um die es ihm programmatisch zu tun war, gerade dadurch gesteigert werden konnte, dass nicht alles real gezeigt, sondern bedacht angedeutet wurde. Obwohl sich Immermann mit den Musterdarstellungen dem Text des Dramas verpflichtet fühlte, konnten seine Inszenierungen in origineller Weise über das hinausgehen, was der Text wortwörtlich vorsah. Immermann ließ Passagen streichen und griff in die dramaturgische Struktur der Dramen ein. Die fünf Akte sowohl von Goethes Stella als auch von Tiecks Blaubart wurden auf drei zusammengestrichen. Gegenüber dem Autor Tieck rechtfertigte Immermann diese Maßnahme damit, dass er so die „poetische Stimmung“ (ebd.: 463f.) des Dramas „condensirt“ (ebd.: 464) habe, um dem schwierigen Stück beim Publikum, „der barbarischen Menge“ (ebd.), eine Chance zu geben. Im Sinne des Dichters zu handeln, konnte also auch bedeuten, den Text zu verändern, um seine szenische Wirkung zu gewährleisten oder zu steigern. Diese Kunstgriffe oder Eingriffe bezeichnete Immermann auch als „Experiment[e]“ (Immermann 1979: 685). Zur Klassikerpflege im Theater des 19. Jahrhunderts gehörte also das permanente Beschneiden, Stutzen und Frisieren der Dramen. Immermann erkannte, dass er anspruchsvolle Inszenierungen literarischer Dramen nur gewährleisten konnte, wenn diese sorgfältig vorbereitet wurden. Die Kunst der Inszenierung setzte eine entsprechende Praxis der Proben voraus. Hierfür musste auch die Arbeitsweise des Stadttheaters reformiert werden. Es mussten Probenräume geschaffen werden und ausreichend Probenzeit war zu gewährleisten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts galten Proben noch als notwendige aber lästige Pflicht. Selbst in Theaterleitungen waren Proben nicht wohl gelitten, denn sie brachten keine Einnahmen und verursachten eher Unkosten, etwa für Heizung oder Licht. Die zahlreichen Theaterneubauten jener Jahre vergrößerten das Bauvolumen der Gebäude zwar massiv, sahen aber in der Regel keine speziellen Probenräume vor. In Düsseldorf musste Immermann auf Räume eines ehemaligen Klosters ausweichen, die er als Probenlokal umfunktionierte. (Vgl. Immermann 1984: 412) Dabei war der Produktionsdruck in den neuen großen Häusern hoch, da die Theater für die beschränkten lokalen Zuschauergruppen eine verhältnismäßig hohe Platzzahl vorsahen. Die Theaterleitungen waren gezwungen, „tagtäglich etwas aufzuti-
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schen“ (Immermann 1979: 186) und neue Stücke zu bieten, um die Häuser zu füllen. Mitunter mussten vier oder gar fünf Inszenierungen von Musiktheater und Schauspiel gleichzeitig erarbeitet werden. Für die Düsseldorfer Mustervorstellung von Goethes Stella beispielsweise mussten eine Vorlesung des Stücks, zwei Leseproben mit den Schauspielern und vier szenische Theaterproben ausreichen. (Vgl. Immermann 1984: 450) Waren Proben für Theaterleiter ein mitunter lästiges aber notwendiges Übel, wurde deren Notwendigkeit von Schauspielern aber grundsätzlich in Frage gestellt. Noch 1872 klagte Heinrich Laube: „Leider sind die deutschen Schauspieler in der Mehrzahl probenfaul.“ (Laube 1872: 146) Während der Proben kam es auch in Düsseldorf immer wieder zu Nachlässigkeiten, Mangel an Disziplin und Ernsthaftigkeit. (Vgl. Immermann 1984: 346) Proben verursachten auch den Schauspielern Unkosten, da sie für diese nicht immer extra bezahlt wurden. Außerdem sah mancher Schauspieler durch die Probenanweisungen eines Regisseurs seine künstlerische Souveränität in Frage gestellt. In diesem Sinne klagte bereits August Wilhelm Iffland: „Ein Jammer ist es mit den Proben. Der Einfältigen halber hält man sie, und die Einfältigen bessert es nicht.“ (Geiger 1904: 278) Ein guter Schauspieler bewies seine Qualität eben darin, dass er Proben nicht nötig hatte. Er hatte seine Rolle vielmehr drauf und das hieß, dass er nicht nur den Text auswendig konnte, sondern auch selbst wusste, wie dieser auf der Bühne zu verkörpern sei. Der Gedanke, dass auf der Probe eine Figur erst entstehen konnte, dass eine neue Perspektive auf eine Rolle ge- oder erfunden wurde, war nicht nur Iffland noch fremd. Die Musterdarstellungen waren in Düsseldorf nur die Filetstücke in einem Spielplan, dessen Repertoire auch unter Immermann von kaum geprobten und wenig ambitioniert inszenierten Gebrauchsstücken beherrscht wurde. (Vgl. Itoda 1990: 115) Wie sehr Immermann diese Inszenierungen im eigenen Haus verabscheute, belegt ein Eintrag in seinem Tagebuch, den er am Abend des 24. November 1834 niederschrieb, nachdem er entnervt das Theater während einer Vorstellung, die vom Publikum mit „wieherndem Beifall accompagnirt“ (Immermann 1984: 394) wurde, verlassen hatte: „Ich hielt es bis zum Anfang des 3. Aufzugs aus, dann war es mir physisch und moralisch unmöglich, länger zu dauern; ich lief auf die Straße“ (ebd.). Das frühzeitige Ende des Düsseldorfer Experiments wurde von Immermann selbst und im Anschluss von Theaterhistoriografen mit der desolaten finanziellen Situation begründet. (Vgl. Riemenschneider 1987: 301) In der Kasse
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fehlten 4000 Taler und weder die Stadt, das Land noch ein fürstlicher Mäzen waren bereit einzuspringen. Resümierend stellte Immermann 1840 fest, dass ein Stadttheater, wie es ihm vorschwebte, ohne öffentliche Subventionen nicht möglich sei: „Vielleicht entsteht uns einmal eine Bühne […] auf dem Boden eines empfänglichen Publikums, in der begeisterte Kräfte republikanisch walten und Alles und Jedes versuchen, welche dennoch aber von einem dichtenden und ordnenden Geiste harmonisch zusammengehalten werden; und wenn eine solche Bühne entsteht, so wird von ihr nach und nach sich ein besserer Sinn verbreiten. Die Düsseldorfer Bühne war der Ansatz zu einer solchen, man ließ mich schmählich fallen, und ich kann nur wünschen, daß ein Glücklicherer unter glücklicheren Umständen vollbringe, was mir die Sterne versagten.“ (Immermann 1979: 1061)
V OM F ÖDERALISMUS
ZUM
P ROVINZIALISMUS
Mit dieser resignierten Feststellung und vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung soll der Mythos vom Stadttheater noch einmal rekapituliert werden: Stadttheater sind Errungenschaft des deutschen Föderalismus. Tatsächlich haben die politischen Bedingungen Deutschlands um die Wende zum 19. Jahrhundert die Theaterstruktur entscheidend geprägt, insofern die Repräsentationslust von Fürsten (die in poltischer Hinsicht von 1800 bis 1918 übrigens immer bedeutungsloser wurden) und die Repräsentationsansprüche des selbstbewusster werdenden Bürgertums eine flächendeckende Infrastruktur mit Theatergebäuden möglich machte. Dass jede größere Stadt und auch die kleinste Residenz über ein nicht selten überdimensioniertes großes Haus verfügt, ist allerdings nicht nur eine Errungenschaft, sondern auch eine Bürde. Die Kehrseite von Föderalismus ist Provinzialismus, d.h. es kann mehrere Theater in unmittelbarer Nachbarschaft geben, die gegenseitig voneinander nichts wissen wollen, Kooperationen scheuen und Fusionen für das Ende der Theaterkultur halten. Dass es beispielsweise im Rhein-MainGebiet in einem Umkreis von 30 Quadratkilometern zwischen Frankfurt, Darmstadt, Mainz und Wiesbaden vier Opernhäuser gibt, die man mit öffentlichen Verkehrsmitteln in 30 bis 40 Minuten erreichen kann, mag Musiktheaterfreunde freuen, sachlich begründet ist es deshalb noch nicht.
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Auch die Pflege der dramatischen Literatur hatten sich die Stadttheater der ersten Stunde auf die Fahnen geschrieben, was ihnen prompt die größten Probleme machte. Denn auch wenn an den Fassaden und in den prächtigen Foyers der Theatertempel die Büsten deutscher Dichter in edler Einfalt und stiller Größe prunkten, ist die Praxis der Erarbeitung dramatischer Texte von Beginn an problematisch und konfliktgeladen, wobei unterschiedliche Interpretationen, sachliche Zwänge sowie Unzulänglichkeiten eine wenig ideale Gemengelage ergaben, so dass schon die Stadttheater der ersten Stunde wussten: Wer dem Drama im Theater dienen will, muss es verändern. Auch dem Bildungsauftrag, der letztlich die Begründung für öffentliche Subventionen ist, sind Stadt- und Hoftheater von Beginn an nur halbherzig nachgegangen. Die Unterhaltungsansprüche des Publikums und der dilettantische Geschmack einzelner Fürsten machten anspruchsvollen Intendanten und Dramaturgen immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Die Rede vom bürgerlichen Gemeinsinn findet dabei eine relativ restriktive Auslegung insofern in erster Linie eine bildungsbürgerliche Elite angesprochen wird, die ihre eigene Befriedigung als Grundversorgung deklariert und wohl entsetzt wäre, wenn tatsächlich alle steuerzahlenden Bürger einer Gemeinde ihre Ansprüche an ihr Stadttheater geltend machen würden. Ein Stadttheater als Experimentierbühne, die den Bildungsauftrag im Sinne Immermanns ernst nimmt und eine ästhetische Veränderung herbeiführen will, hat es in diesem Umfeld nicht leicht. Als Ensembletheater haben Stadttheater erheblich zur sozialen Sicherung des Schauspielerberufs beigetragen. Stadttheater sind in diesem Sinne professionelle Betriebe, die hochgradig spezialisiert und arbeitsteilig produzieren, wobei dies in einer hierarchischen Dienststruktur geschieht, die im Wesentlichen auf die Hoftheater des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Aus dieser Perspektive möchte man meinen, dass das deutsche Stadttheater eine soziale Institution ist, deren Struktur die politischen, historischen und künstlerischen Umbrüche der letzten 200 Jahre verhältnismäßig unbeschadet überstanden hat. Historisch gesehen wird das Stadttheater so als eine widersprüchliche Institution kenntlich, die von Beginn unter prekären finanziellen Bedingungen stets an den eigenen Ansprüchen und am Publikum zu scheitern drohte. Das Stadttheater ist nie eine reibungslos funktionierende Kultureinrichtung mit Bildungsauftrag gewesen, sondern eine problematische Institution, die auf, vor und hinter der Bühne Krisen und Konflikte provoziert, moderiert
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oder kaschiert. Das deutsche Stadttheater ist ein Mythos – aber der Mythos lebt. Die Szene ist in Bewegung geraten. Stadttheater und Freies Theater gehen aufeinander zu, wobei Berührungen möglich werden, die von Seiten der Geldgeber durchaus gefördert werden, wie das Programm „Doppelpass“ der Bundeskulturstiftung zeigt. Stadt- und Staatstheater veranstalten Festivals und üben sich damit in einem Format, das eigentlich das maßgebliche Forum des Freien Theaters ist. Umgekehrt streben etablierte freie Gruppen nach eigenen Spielstätten und bauen Strukturen auf, die jenseits des einzelnen Projekts längerfristige Perspektiven möglich machen sollen. Das Antichambrieren von freiem Theater und Stadttheater bleibt in Hinblick auf die Finanzierung allerdings heikel. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass manches Stadttheater mit den Kollaborationen den eigenen Innovationsauftrag vernachlässigt und dabei auch noch die seichten Fördertöpfe des Freien Theaters abschöpft. Mit diesem Insourcing von Innovation bei gleichzeitigem Outsourcing von Risiken verfehlen die Stadttheater letztendlich ihr eigenes Selbstverständnis.
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Die AufLösung des Stadttheaters Die Zukunft des Stadttheaters liegt in einer transkulturellen Theaterlandschaft G ÜNTHER H EEG
Das deutsche Stadttheater nährt sich vom Phantasma der Nationalkultur. Als Antje Vollmer im Jahr 2002 die deutsche Stadttheaterlandschaft zum Weltkulturerbe der UNESCO erklären lassen wollte, war endgültig klar, dass es mit dem Stadttheater in Deutschland zu Ende geht, sofern es nicht bereit ist, sich von seiner Vergangenheit zu verabschieden und sich entschieden auf seine Zeitgenossenschaft zu besinnen. Denn Frau Vollmers Initiative, so berechtigt sie aus politisch-ökonomischer Perspektive angesichts der grassierenden Politik der Streichungen und Kürzungen von Theateretats und Schließungen von ganzen Theatern auf den ersten Blick anmuten mochte, hatte im Hinblick auf die kulturelle Praxis des Theaters eine fatale defensiv-konservative Ausrichtung: Sie stellt das Theater unter Artenschutz, das heißt sie traut ihm nicht zu, sich aus eigener Kraft zu erneuern. Damit verpflichtet sie es ganz auf die Vergangenheit, mithin auf ein Modell von Theater-Kultur, das als Nationaltheater in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrhunderten Karriere gemacht und tiefe bildungspolitische Spuren hinterlassen hat, das aber in der Gegenwart nicht ohne Grund in die Krise geraten ist. Das deutsche Stadttheater ist ein Mythos, darauf hat Jens Roselt an dieser Stelle zu Recht hingewiesen. Aber es ist ein Mythos, der eine reale Wirkung entfaltet hat und sich auch in seiner Verfallsphase immer noch gespenstisch am Leben erhält. Seine Energien bezieht dieser Mythos von ei-
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nem Phantasma, einem Wunsch- und Trugbild also. Das Phantasma strukturiert nach Lacan das Begehren des Subjekts, indem es ein imaginäres Szenario mit diversen unerreichbaren Objekten der Begierde bereitstellt. Über die affektive Bindung an das Szenario des Phantasmas bildet sich die imaginäre Identität des Ich. (Vgl. Lacan 2008) Was die kollektive Identität betrifft, so ist das wirkmächtigste Phantasma hier nach wie vor das der Nationalkultur. Es handelt sich dabei um ein Phantasma, erstens weil Nationalkulturen zu keiner Zeit so gegeneinander abgeschlossen und abgegrenzt, ethnisch rein und sozial homogen waren, wie es Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791) für die nächsten 200 Jahre und womöglich darüber hinaus entworfen hat. Und weil es zweitens mit der klaren Trennung von Drinnen und Draußen, Eigenem und Fremdem, von begehrenswerten und Angst einflößenden Objekten ein perfektes Szenario für die affektive Fesselung des Subjekts an die Nationalkultur darstellt. Wenn Lacan betont, dass das Phantasma in der Regel der Abwehr einer Ohnmachtserfahrung entspringt, die in herbeifantasierte Überlegenheit umgemünzt werden soll, so erklärt dieses hartnäckige, unausrottbare psychische Bedürfnis, das sich gerade in Zeiten der Krise vehement manifestiert, die zähe Fortdauer und das Überleben des Phantasmas, auch oder besser gerade weil es keinen realen Grund in der sozialen, ökonomischen und kulturellen Wirklichkeit besitzt.
P HANTASMA
DER
N ATIONALKULTUR
Zurück zum Stadttheater. Wenn wir sagten, sein Mythos nähre sich vom Phantasma der Nationalkultur, so ist damit nicht die Verbreitung nationaler oder nationalistischer Themen und Stoffe gemeint, sondern eine ganz bestimmte Anordnung der einzelnen Theaterelemente Drama, Sprache, Körper, Gestik, Bewegung usf., die einen symbolischen Raum kreieren, der geschlossen und repräsentativ ist und zur Identifikation einlädt. Symbolische Räume sind phantasmatische Konstrukte, die das kollektive Imaginäre einer Gemeinschaft repräsentieren, deren Mitglieder – in der Realität einander unbekannt und sozial differenziert – nur über die Identifikation mit dem symbolischen Raum miteinander verbunden sind. Möglich wird diese Identifikation mit dem Symbolischen, dem Raum der Bedeutung, weil sie zugleich aufgeladen sind durch die Begehrensstrukturen des Imaginären. Symbolische Räume strukturieren die Raum-Zeit-Konstellation, in der eine
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Gemeinschaft ihre ideale Gestalt zu gewinnen versucht. Für säkularisierte Gemeinschaften ist das Phantasma der Nationalkultur der verbindliche symbolische Raum, von dem wir auszugehen haben. Benedict Anderson hat den Roman des 19. Jahrhunderts mit seinem weit gespannten, nahezu unendlichen Beziehungsgeflecht als ein wesentliches Medium der Konstitution des symbolischen Raums der Nationalkultur beschrieben. Anderson hebt dabei den privaten Status der Mitglieder der bürgerlichen Nation hervor, die im Falle des Romans nur über die Lesekultur zueinander in Beziehung stehen. (Vgl. Anderson 1983) Nun gehört aber zur Idee von Nationalkultur neben der Würdigung von Privatheit unabdingbar die kontrafaktische Vorstellung einer emphatischen Öffentlichkeit der „zum Publikum versammelten Privatleute“ (Habermas 1971: 42). Medium dieses symbolischen Kulturraums der Nation ist die Idee des Nationaltheaters. Kennzeichnend dafür ist die Vorherrschaft der Fabel des Dramas, d.h. einer geschlossenen narrativen Sinnkonstruktion, die vom Regisseur und den Schauspielern im Theater umgesetzt und verkörpert wird. Kennzeichnend dafür ist die Guckkastenbühne mit ihrem epistemologischen Implikat der Trennung der wahrnehmenden Subjekte vom Gegenstand jener Welt der Erkenntnis, die sie selbst konstruiert und von der sie selbst Teil sind. Kennzeichnend für dieses Medium des Nationaltheaters ist die Dominanz des Sinns, d.h. des Verstehens, Interpretierens und öffentlichen Diskutierens der dramatischen Geschichte über andere Sinne. Und kennzeichnend – und in teilweisem Widerspruch dazu – ist nicht zuletzt ein Szenario phantasmatischer Gestalten auf der Bühne, imaginärer Charaktere, scheinbarer Individuen, die sich als Objekte des einfühlenden Begehrens und der affektiven Abgrenzung anbieten. Daraus ergibt sich eine eigentümliche Strukturierung des symbolischen Raums durch eine vertikale Hierarchie einerseits und eine Trennungslinie in der Horizontalen andererseits. In der Vertikalen setzt sich der Geist eines Autors und eines Dramas gleichsam von oben nach unten bis in die Fingerspitzen des Akteurs durch. Alles Körperliche, hat sich diesem Geist zu beugen. Alles Singuläre ist nur Träger von Bedeutung. Durch diese Durchdringung und Symbolisierung alles Materiellen entsteht der Eindruck einer Totalität des Sinns, eines geschlossenen (Kunst-)Werks, in dem sich die Gemeinschaft spiegeln und wiederfinden kann. In der Horizontalen bewirkt die Trennung zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum die Auslöschung der Dimension des Performativen. Das Artefakt, das zu sehen ist, scheint nicht ge-
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macht zu sein, vielmehr hat es den Anschein, als sei es als vollendetes Werk quasi vom Himmel gefallen. Die Haltung, die dem Publikum demgegenüber bleibt, ist allein die der bewundernden Einfühlung. Die aber ist sichergestellt durch das Szenario imaginärer Gestalten, die das Werk der Gemeinschaft inbrünstig begehren. Mit anderen Worten: Der symbolische Raum des Nationaltheaters ist ein ersatzreligiöser Kultraum. Gehuldigt wird darin einem metaphysischen Geist der Bildung. Es ist kein Wunder, dass die realen sozialen Theaterräume, in denen sich die Bürger ihrer nationalen kulturellen Identität versichern, als Bildungstempel angelegt sind. In diesem Raum bleibt den Zuschauern nur, die Rolle von Bildungsjüngern einzunehmen, die staunend-bewundernd, um nicht zu sagen anbetend vor einem Werk stehen, das ihnen durch die priesterliche Exegese von Deutschlehrern, Theaterpädagogen, Dramaturgen und berufenen Rezensenten nahe und zu Gemüte gebracht wird. Der symbolische Raum der Nationaltheaterkultur ist kein harmloser, politisch folgenloser Raum. Der Geist, der ihn gebaut hat, verlangt den Ausschluss des Anderen. Die hierarchische Strukturierung der Theaterelemente, die Logifizierung der Körper, die Geschlossenheit des Bedeutungszusammenhangs, schließlich die Fesselung des Zuschauers vor der Szene, in die er nicht eingreifen und an die imaginären Objekte, die er nicht erreichen kann, erfordern das Opfer des Einzelnen, Nichtidentischen, Abweichenden. Was sich dem auf Repräsentation eines Sinn-Ganzen widersetzt oder entzieht, wird ausgeschlossen, selektiert. Repräsentation setzt nach Heiner Müller immer Selektion voraus (vgl. Müller 1997). Wo lässt sich dieses Phantasma des Nationaltheaters in der gegenwärtigen Praxis des Stadttheaters wiederfinden? Exemplarisch zeigt es sich in der geläufigen Vorstellung, ein Stadttheater habe im Kern die Dramen eines klassischen Kanons, der von Goethe und Schiller, Shakespeare und Molière, über Kleist, Büchner bis hin zu Brecht und einigen Zeitgenossen reicht, auf der Bühne verkörpernd und interpretierend umzusetzen. Wer einmal als Mitglied einer Findungskommission für die Intendanz eines größeren Hauses eine ganze Parade von möglichen Kandidaten erlebt hat, weiß, dort, wo das Stadttheater wirklich zu Hause ist, nicht so sehr in den Millionenstädten, aber in den mittleren mit ein paar hunderttausend Einwohnern, sind die Spielleiter und Intendanten überzeugt: Im Großen Haus werden die Klassiker interpretiert, durchaus aus heutiger Perspektive, auf der kleinen Spielstätte dann die Stücke von zeitgenössischen Autoren, gleichfalls figürlich-
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verkörpernd umgesetzt, wenn die Zeit dafür reicht, ansonsten auch gerne als Lesedrama. Und immer wieder werden von den Politikern die entschiedensten Vertreter und Verfechter dieser alten Stadttheaterkultur berufen, auch schon mal über das Votum der Expertenkommission hinweg.
D IE E NTWICKLUNG DER S TADTGESELLSCHAFT ZIEHT DEM P HANTASMA DES S TADTTHEATERS DEN B ODEN UNTER DEN F ÜSSEN WEG Man kann dieses Verhalten von städtischen Politikern als Bugs-BunnySyndrom bezeichnen. Sie erinnern an die Zeichentrickfigur, den Hasen der über den Abgrund läuft und mitten in der Luft weiterläuft als wäre fester Grund unter ihm, nur als er hinunter schaut, bemerkt er seine prekäre Lage und beschleunigt jetzt erst recht wie wahnsinnig. Aber es ist zu spät, er stürzt gnadenlos in den Abgrund! Ich denke, so wird es allen Stadtvätern und Intendanten ergehen, die sich noch einmal dem alten kulturellen Phantasma des Stadttheaters anvertrauen wollen. Theater, die für 700 Zuschauer und mehr gebaut sind, sind mit der herkömmlichen Praxis des Stadttheaters nicht mehr zu füllen. Intendanten, die in mittelgroßen Städten ein Haus mit 400 Zuschauern zu bespielen haben, tun das im Schnitt zweimal die Woche, im Übrigen ist man froh, wenn die kleine Spielstätte mit 99 Zuschauern Zuspruch erfährt. Auf Zuschauerschwund und ökonomische Krise greifen manche Theater kopflos und nahezu panikartig nach allem, was die großen Häuser wieder füllen und Geld in die Kassen bringen könnte. Stadttheater mutieren zu Konzertveranstaltern und graben der örtlichen Musikszene damit das Wasser ab. Selbst wenn die Hütte dadurch erstmals wieder voll ist, ergibt sich daraus keine nachhaltige Steigerung des Theaterbesuchs im engeren Sinne. Auch der Versuch, den historistischen Geschichtsfilmen des Fernsehens Konkurrenz zu machen, bringt auf die Dauer keinen Erfolg. Schnelles, unüberlegtes Klauen bei den „site specific projects“ führt im Stadttheater oft zu einer Art von Kaffeefahrten mit Überraschungsgästen. Es ist nicht schwer vorherzusagen: Alle Versuche, das traditionelle Kerngeschäft des Stadttheaters mit einer Reihe von start up-Unternehmungen zu umgeben, die der Eventkultur und Medienkonkurrenz entstammen, werden zum Scheitern verurteilt sein. Von einer Kultur des Spektakels versteht die Gesellschaft des Spektakels mehr als das Stadttheater.
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D IE S TADT ALS O RT DES KULTURELLEN A NDERSSEINS ERZEUGT DIE A NGST VOR DEM F REMDEN Es ist Zeit und Überlegung nötig, um die Krise des Stadttheaters als Chance zu verstehen. Und ein Programm zu entwickeln, das die Theaterpraxis und die heterogene Entwicklung der Stadtgesellschaft gleichermaßen reflektiert. Die Entwicklung der Stadtgesellschaft zieht dem Phantasma des Stadttheaters den Boden unter den Füßen weg. Die heutige Stadtgesellschaft ist fragmentiert, pluralistisch und heterogen. Das Modell der MarktplatzÖffentlichkeit, in der das Theater seinen Platz hatte gleich neben dem Rathaus, der Kirche, dem Museum usw. hat sich dezentralisiert und partikularisiert in viele konkurrierende Öffentlichkeiten, die um Anerkennung ringen. Die immer schon scheinhafte Homogenität der bürgerlichen Nationalkultur sieht sich durch die offensichtlich und greifbare kulturelle Hybridisierung, durch Sub- und Parallelkulturen ihres Scheins beraubt. Migrationsbewegungen, transnationaler Kapitalflow und ubiquitäre Medienpräsenz machen die Stadt zu einem Ort des „Glocal“, der von den Dynamiken der Globalisierung und ihren Bewegungen der De- und Re-Territorialisierung erschüttert wird. Kräfte der Beschleunigung und Deterritorialisierung treffen hier auf solche der Beharrung und Reterritorialisierung und gehen hybride Verbindungen untereinander ein. Die Hybridisierung der Kulturen führt jedoch nicht automatisch zu einem friedlichen Zusammenleben der Kulturen, im Gegenteil: Die Parallelkulturen und fragmentierten Öffentlichkeiten unserer Städte sind Schauplätze der Abgrenzung mit der Tendenz, das Fremde bzw. die Fremden außen vor zu lassen, wenn nicht zu bekämpfen. Rivalisierende kulturelle Orientierungsmuster und Praktiken sorgen für Desorientierung und Ängste, die zu Abgrenzung und Exklusionsbestrebungen und der Sehnsucht nach althergebrachten Weisen der kollektiven kulturellen Identifikation führen. Kultureller Fundamentalismus, die Wiederkehr und Erneuerung des Konstrukts der Nationalkultur, ist die Reaktionsbildung auf die gegenwärtige Verflüssigung der alten städtischen Strukturen. Dass sich Theaterleute, Politiker und Zuschauer in dieser Situation an das Phantasma des Stadttheaters klammern, ist Teil dieser fundamentalistischen Reaktionsbildungen. Weil sie nicht einfach konservativ und überholt sind, sondern ihre Energien aus gegenwärtigen Dynamiken ziehen, sind sie ernst zu nehmen. Am besten begegnet man ihnen mit dem Pro-
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gramm und der Praxis eines Theaters und dem Aufbau einer Theaterlandschaft, die der veränderten Lage gerecht werden.
D IE B EGEGNUNG
MIT DEM F REMDEN VERLANGT NACH EINEM TRANSKULTURELLEN T HEATER
Einen ersten Hinweis darauf, wie ein solches Theater-Programm für Städtebewohner des 21. Jahrhunderts aussehen könnte, findet sich ausgerechnet bei dem Mann, der mit seiner Abhandlung von 1784 „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ (Schiller 1966), später unter dem Titel „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“ berühmt (und berüchtigt) wurde als der Erfinder eines auf Erziehung und Bildung basierenden Nationaltheaters. Wie nebenbei entwickelt Schiller dort in einem Text, der weit heterogener ist als es die Formel vom Theater als moralischer Anstalt wissen will, ein zukunftsweisendes Modell für ein anderes Stadttheater. Er braucht dafür nur einen einzigen Satz: „Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunterwankt und der Kindermord jetzt geschehen ist.“ (Ebd.: 723) Nicht im Dienst der moralischen Bildung steht hier das Theater, noch macht es Staat und Nation. Wenn alle Ordnung zusammengebrochen ist, will der Satz sagen, wird der Blick frei für eine Erfahrung, die nur dem Theater eigen ist. Was sie auszeichnet, verbirgt sich in Schillers Wortneuschöpfung „anschauern“, einer Mischung aus „anschauen“ und „erschauern (machen)“. Das Anschauen der Medea lässt uns erschauern, so ließe sich Schillers „anschauern“ übersetzen – wobei der Genitiv in doppelter Richtung wirkt: Der Blick der Medea (auf uns) erzwingt, dass wir sie anblicken. Erschauern aber macht uns dieses doppelte Anschauen, weil wir uns im Antlitz der Medea dem nicht einholbaren Anderen ausgesetzt finden. Kein Alter Ego ist dieser Andere und niemand, den man wenigstens ein Stück weit verstehen kann. Selbst wenn das Schicksal der Medea im fremden Land beklagenswert und Jason ein Schwein ist, lässt sich die Tat der Medea, der doppelte Kindermord, nicht wegrationalisieren. Aber auch die einfache moralische Verurteilung der Medea verfängt nicht angesichts ihres Blicks, mit dem sie sich uns, nackt und bloß, ausliefert. Im Antlitz der Medea begegnet uns ein Anderes, das sich nicht ins Subjekt zurückholen, das sich nicht integrieren lässt und das uns deshalb radikal in Frage stellt und in
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die existenzielle Krise bringt. Der körperliche Effekt solcher Infragestellung ist das Erschauern. Um das Erschauern im Anblick des Anderen, um das „Anschauern“ sollte es dem Theater heute gehen. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas, dem wir die Vorstellung vom Antlitz des Anderen und seiner Herausforderung des Individuums verdanken, hat auf die Verantwortung hingewiesen, die wir in der Situation der Aussetzung für den Andern eingehen. Dieser Verantwortung stellt sich ein Theater, das sich von der Repräsentation verabschiedet hat. Zielt Repräsentation stets darauf, das radikal Andere zu eliminieren, indem sie es entweder vernichtet oder beschneidet, zähmt, ummodelt und bildet, so fiele einem Stadt-Theater, das sich dem Antlitz des Anderen verantwortlich fühlt, die Aufgabe zu, dieses radikal Andere aufzusuchen und sich ihm zu stellen. Das liegt nahe. Denn zur Stadt gehört die Omnipräsenz des kulturellen Andersseins. Bereits 1908 hat der Soziologe Georg Simmel den Fremden als Strukturfigur der modernen Großstadt beschrieben. Es ist dabei, so Simmel, „der Fremde nicht [...] gemeint als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.“ (Simmel 1992: 764) Aus dieser Erinnerung der Migrationsgeschichte, die den Fremden wie ein Gespenst anwesend/abwesend umgibt, entsteht eine eigentümliche Potenzialität des Fremden: Die Begegnung mit ihm rückt das Nahe in die Ferne und lässt uns das Eigene mit fremdem Blick sehen. Nähe und Ferne, Eigenes und Fremdes überkreuzen sich, so dass die Fremdheit im vermeintlich Eigenen und das Ineinanderumschlagen von Nähe und Ferne zur Grunderfahrung des Großstädters wird, sei er Einheimischer oder Zugereister. Dass diese Grunderfahrung des Fremden im Eigenen nicht ins hinlänglich beschriebene Phänomen der Entfremdung mit allen negativen Begleiterscheinungen umschlägt, sondern ihr Potenzial eines gelingenden Umgangs mit dem Fremden entfalten kann, ist die Herausforderung des Theaters heute. Das Stadttheater, das sich ihr stellt, muss sich als transkulturelles Theater verstehen. Anders als das sogenannte interkulturelle Theater und seine Theorie geht das transkulturelle Theater nicht von abgeschlossenen, distinkten Kulturen aus, die es miteinander in Kontakt zu bringen sucht, sondern setzt an der Fremdheitserfahrung im Inneren der kulturellen Phantasmen an, die uns umgeben. Denn die Phantasmen der Nationalkultur sind
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in ihrer Konstruktion und Darstellung nie rein, sondern durchsetzt vom Unreinen, von Fremdkörpern, die sie ausschließen müssen und ohne die sie sich nicht konstituieren können. Das hindurchgehende Fremde im vermeintlich reinen Eigenen der Kultur, dieses „Trans“, das das sicher geglaubte Eigene durchquert und öffnet, ist der nicht dingfest zu machende Beweggrund des transkulturellen Theaters. Das heißt: Das Fremde lässt sich nicht substanzialisieren. Fremd sind nicht die Dauerarbeitslosen oder die Missbrauchsopfer oder die rechtsextremen Jugendlichen. Werden sie als Fremde angesehen, werden sie zu Exoten gemacht. Wo auch immer das Theater sich auf die Suche nach dem Fremden macht, bei den Randgruppen und Parallelkulturen, den Armen und den Dropouts der Stadt, in der es spielt, bei den deutschen Klassikern, bei Shakespeare und Heiner Müller oder im Apparat des eigenen Hauses, entscheidend ist, dass es das Fremde nicht exotisiert. Dass es sich nicht anmaßt, stellvertretend für die anderen zu sprechen und sie also zu repräsentieren, sondern dass es unsere Wahrnehmung des Fremden verfremdet als Wahrnehmung eines Entzugs und einer Abwesenheit im Eigenen. Entscheidend für ein transkulturelles Theater wird sein, dass es mit seinen Akteuren seine Darstellungsmittel auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer solchen Erfahrung des Fremden befragt und damit den bekannten Theatereffekt der Einverleibung vermeidet, den Brecht, wie Heiner Müller schreibt, in dem Satz zusammengefasst hat: „Das Theater theatert alles ein“ (Welzel/Müller 1998: 212). Brecht hat gewusst, dass Fremdheit und Nichtverstehen notwendig sind, wenn jene Krise des „Anschauerns“ eintreten soll. „Nicht nahekommen soll[.]en sich Zuschauer und Schauspieler“, schreibt Brecht im „Dialog über die Schauspielkunst“ aus dem Jahr 1929, „sondern entfernen sollten sie sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selbst entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zur Erkenntnis nötig ist.“ (Brecht 1975: 189)
D AS S TADTTHEATER
GEHT PERSPEKTIVISCH IN EINER TRANSKULTURELLEN T HEATERLANDSCHAFT AUF
Das transkulturelle Theater erwächst nicht aus dem Gegensatz zum Stadttheater, sondern durch die Aushöhlung seines Phantasmas. Dies kann von innerhalb und außerhalb geschehen. Sieht man sich die exemplarischen Vorgehensweisen und Arbeiten an, die ich im Folgenden anführen möchte,
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so zeigt es sich, dass sie zum Teil von innen und außen gleichzeitig erfolgt, von Grenzgängern also, die sowohl mit dem Stadttheater als auch anderen Häusern und Produktionsformen vertraut sind. Einer dieser Grenzgänger ist der Regisseur Laurent Chétouane. Laurent Chétouane ist der geräuschloseste Revolutionär des deutschen (Stadt-)Theaters. Seit über zehn Jahren unternimmt er nichts Geringeres als die geläufige, seit dem 18. Jahrhundert tradierte Vorstellung von (Sprech-)Theater gründlich umzustürzen. Die Abbrucharbeiten am Phantasma der Kulturnation und des Nationaltheaters, die er betreibt, erfolgen dabei von innen und außen zugleich. Innerhalb des Systems des deutschen Stadttheaters inszeniert Chétouane seit der Jahrtausendwende die Highlights des klassischen deutschen Theaterkanons: Schiller, Goethe, Kleist, Hölderlin, Büchner und Brecht durchweg an Häusern der ersten Liga. Von außen gleichsam, an Häusern wie den sophiensaelen in Berlin, PACT Zollverein in Essen, dem Tanzquartier Wien und zukünftig verstärkt dem HAU in Berlin arbeitet Chétouane seit 2006 als Choreograph mit Tänzern an der Erkundung von Körpern, Bewegungen, Gesten und Haltungen. Chétouane bringt die Pyramide zum Einsturz, die im Phantasma des Stadttheaters die Theaterelemente hierarchisch anordnet, er untersucht die Einzelteile und bringt sie in neue, a-hierarchische Konstellationen. Die „Trennung der Elemente“ von Text und Körper, Sprache und Bewegung, die Brecht bereits 1929/30 als Bedingung eines zeitgenössischen Theaters für unabdingbar gehalten hatte (vgl. Brecht 1967: 1009f.), und ihre neue Zusammenstellung wird bei Chétouane zum Ausgangspunkt und Prinzip der Theaterarbeit. Die Materialität der Sprache, ihre Verräumlichung als Sprachlandschaft und das Echo, dass die Sprachkörper darin untereinander bilden, nicht die mit Psychologie durchdrungenen imaginären Körper der dramatis personae, sind der Faszinationsgrund seines Theaters. Die raumzeitliche Versetzung von Sprache und Körper, die er in der Zusammenarbeit mit den Tänzern in den Tanzstücken entdeckt und erprobt hat, hat Chétouane auch in seine Arbeit an den Klassikern eingebracht und folgerichtig die Tänzer als Akteure, als sprechende Fremdkörper gleichsam, darin einbezogen. Chétouanes Theaterarbeit begnügt sich nicht mit der Dekonstruktion, sie erschöpft sich nicht im Konzepttheater. Sie zielt auf die Affirmation neuer Erfahrung und neuen Handelns. In Laurent Chétouanes Theater erfahren wir eine Rekonfiguration unserer Sinne und begegnen dem Fremden
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in unserer Wahrnehmung, unserer Sprache und unserem Körper. Wir genießen die ungewohnten Zeiten der Ruhe, des Zauderns und des Erwartens, richten uns ein im Zwischenraum des Abwesend-Anwesenden und üben uns im Umgang mit Gespenstern. Spielerisch probieren wir die Kostüme, Gesten und Maskeraden aus, die den virtuellen Raum von Chétouanes Theater bevölkern und teilen die Erfahrung des „leben wollen (zusammen)“, die Möglichkeit einer künftigen transkulturellen Gemeinschaft. Lassen Sie mich in geraffter Form noch zwei weitere Beispiele aus unterschiedlichen Richtungen und Ecken anführen, um auf die vielfältigen Möglichkeiten auf dem Weg zu einem transkulturellen Theater hinzuweisen. Am Staatsschauspiel Dresden zuerst hat Volker Lösch anlässlich der Orestie (2003), danach bei Hauptmanns Die Weber (2004), Die Dresdner Weber (2005) und Büchners Woyzeck (2007) einen Bürgerchor eingeführt, der aus Laien zusammengesetzt war und zunehmend eigene Texte in die Aufführungen gesprochen hat. Die Texte entstehen durch Fragebögen, Interviews und Gespräche mit den Chormitgliedern, sie sind thematisch zugespitzt und auf das Stück bezogen, so wie sich auch die Bürgerchöre inzwischen an den Orten, an denen Lösch arbeitet, aus unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung rekrutieren, die jeweils im Stück angesprochen sind. In der Aufführung von Draußen vor der Tür an der Schaubühne in Berlin sind das Soldaten, in der Produktion ArmAltArbeitslos Die Bremer Stadtmusikanten am Theater Bremen 2012 war das eine Gruppe von Arbeitslosen der Generation 50plus, wie es beschönigend heißt. Das Verfahren von Lösch ist riskant, weil die Gefahr einer Instrumentalisierung dieser Gruppen nicht vorschnell von der Hand zu weisen ist. Wo aber eine lange und intensive Zusammenarbeit möglich ist, da bekommen in diesem Theater diejenigen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden, werden die sichtbar, die in der Medienöffentlichkeit nicht in Erscheinung treten. Dabei geht es nicht um das Authentische und Dokumentarische als Reales im Unterschied zur Fiktionalität des Theaters. Zu sehen ist hier nicht der unmittelbare Auftritt wirklicher Menschen und ihre direkte, unverfälschte Äußerung. Auch die Teilnehmer der Bürgerchöre treten ein in den Raum des Theaters, treten in eine spannungsvolle Relation zu seinen Darstellungsformen. Was sie im besten Fall bewirken, ist die Einführung des Imperfekten, Hinfälligen und Endlichen in die Darstellung. Wo das gelingt wie in Bremen, stellen sie den Ruin der Darstellung aus, ihr Scheitern angesichts der theaterfernen fremden Subjekte, die hier auftreten. Das Thema der Arbeitslosigkeit ist in den
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Bremer Stadtmusikanten von der Erfahrung und Artikulation des Alterns überlagert. Die Stimmen und Körper der Laien, die von den Spuren ihres Alltags und ihrer Arbeit gezeichnet sind, reiben sich an der Bühnensprache, an den klassischen Texten, an der Verkörperung und an der Dramaturgie. Inmitten des Sicht- und Hörbaren auf der Szene verweisen sie auf das Fremde, das sich nicht darstellen lässt und das in diesem Verweisen doch abwesend anwesend ist. Die Bürgerchöre sind ein Spezialfall jener „Experten des Alltags“, die die Produktionen der Protagonisten der freien Szene seit einiger Zeit bevölkern. In Arbeiten wie Wallenstein (2005) von Rimini Protokoll, eine Produktion für die Schiller-Tage am Staatstheater Mannheim und Testament (2010) von She She Pop nehmen sie sich jeweils klassische Vorlagen, um darin ein Theater der Endlichkeit aufzuführen. Mit der Entdeckung des Alters und mehr noch des Alterns nicht nur als Thema und Gegenstand, sondern als Zeitkern der Darstellung geraten die Generationen und ihre Überlagerung in den Blick. ZeitSprünge heißt eine Arbeit der Choreographin Heike Hennig (2007) mit Tänzern unterschiedlichen Alters, die eine Dramaturgie der Genealogie entwirft, die – in der Nachfolge Foucaults – am Singulären und Diskontinuierlichen der Erfahrung des Fremden den Weg bereitet. Ich lasse die Arbeiten unerwähnt, die, innerhalb und außerhalb des Stadttheaters, mit der Rolle des Zuschauers experimentieren und, Brechts Modell des Lehrstücks folgend, das Publikum zu distanzierten Akteuren der eigenen Fremdheit, die Schauspieler zu Beobachtern ihres ihnen fremd gewordenen Spiels macht. Ich erwähne auch nicht die gegenwärtigen Praktiken des „Geschichte Aufführens“, die der Geschichte im Drama und der Metapher des „Dramas der Geschichte“ den Boden unter den Füßen wegziehen (vgl. Heeg et. al. 2013). Und ich spreche nicht mehr vom postmigrantischen Theater, der Form und Institution, die sich auf den ersten Blick am offensichtlichsten mit dem Fremden befasst. Alle diesen Ansätzen eignet das Potenzial für ein transkulturelles städtisches Theater, das es freizusetzen und zu entwickeln gilt. Die Abbrucharbeiten am Phantasma des alten Stadttheaters von innen und außen, so sie ernsthaft betrieben werden, unterspülen die herausgehobene Position, die das Stadttheater bislang ökonomisch und seinem Anspruch auf Repräsentation nach innehat. Ein Stadttheater als transkulturelles Theater nähert sich den anderen Theaterhäusern der Stadt an. Es verliert
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den Alleinvertretungsanspruch, das erste Theater einer Stadt zu sein. Tendenziell wird es sich von den anderen Theatereinrichtungen nicht mehr grundsätzlich unterscheiden – hier klassischer Kanon und verkörpernde Darstellung, dort Experiment –, sondern nur noch graduell durch die jeweilige Akzentsetzung der Häuser. Mit anderen Worten: Das Stadttheater wird sich auflösen, wird Teil unter Teilen, ein Haus unter anderen Häusern der Stadttheaterlandschaft sein. Das braucht niemanden zu grämen, denn die Auflösung des Stadttheaters könnte zugleich die Lösung für das städtische Theater sein. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich damit auch die bisherige extreme Asymmetrie der ökonomischen Mittel zugunsten einer gerechten Verteilung auf die einzelnen Spielstätten auflöst. Weil das gegenwärtig nicht der Fall ist, nutzen die Stadttheater gern ihre ökonomische Potenz, um der freien Szene die Zuschauer abspenstig zu machen und ihr oft traditionelles Theater mit deren Federn zu schmücken. Das Doppelpass-Programm der Kulturstiftung des Bundes, das die Zusammenarbeit von festen Theaterhäusern und freien Gruppen fördert, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der einzuschlagende Weg ist der des Abbaus von Asymmetrie und Abhängigkeit, des Rückbaus von hierarchischen Strukturen, des Umbaus von Spielstätten und einer wechselseitigen Vernetzung in einer Theaterlandschaft in der Stadt und über deren Grenzen hinaus.
L ITERATUR Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Ithaka (deutsch zuerst 1988 u.d.T. „Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts“, Berlin). Brecht, Bertolt (1975): „Dialog über Schauspielkunst“, in: Brecht Gesammelte Werke 15, Schriften zum Theater 1, hg. v. Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main, S. 189. Brecht, Bertolt (1967): „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“, in: Brecht Gesammelte Werke 17, Schriften zum Theater 3, Frankfurt am Main, S. 1009-1010. Habermas, Jürgen (1971): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied, Berlin. Heeg, Günther/Hensel, Andrea/Kohlhaas, Elisabeth/Pollak, Tamar (2013): „Geschichte Aufführen – Wystawiaüü HistoriĊ – Re-Enacting History.
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Ein deutsch-polnisches Theaterprojekt über die Verfolgung jüdischer Menschen in Olsztyn und Leipzig“, in: Heeg et. al. (Hg.): Re-enacting History. Theater & Geschichte, Berlin. (zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht erschienen) Lacan, Jacques (2008): Die Übertragung. Das Seminar. Buch VIII. (196061), Wien. Müller, Heiner (1997): Jenseits der Nation, Berlin. Schiller, Friedrich (1966): „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, in: F.S.: Werke in 3 Bänden, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 1, München, Wien, S. 719-729. Simmel, Georg (1992): „Exkurs über den Fremden“, in: G. S.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt am Main, S. 764-771. Welzel, Klaus/Müller, Heiner (1998): „Wir brauchen ein neues Geschichtskonzept“, Gespräch mit Heiner Müller 1992, in: Klaus Welzel (Hg.), Utopieverlust. Die deutsche Einheit im Spiegel ostdeutscher Autoren, Würzburg, S. 212.
Freies Theater und das Primat der Stadt Zum notwendigen Perspektivwechsel in der Theaterdebatte A LEXANDER P INTO
Der im Jahr 2007 erschienene Abschlussbericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ entfaltete – was politischen Drucksachen nicht oft beschieden ist – eine starke Impulskraft für die Debatten um die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft. Erstmals fand das professionelle Freie Theater eine explizite politische Würdigung seiner langjährigen künstlerischen Arbeit: „So bildet seit mehr als 25 Jahren das Freie Theater mit seiner künstlerischen Leistungsfähigkeit eine unverzichtbare Säule in der Theaterlandschaft Deutschlands. Mit ästhetischer Experimentierfreude und gesellschaftlicher Relevanz halten Freie Theater unter schwierigen Umständen den kulturellen Nährboden fruchtbar.“ (Deutscher Bundestag 2007: 110)
Die Wirkung dieser Würdigung auf die politische Arbeit des Freien Theaters1 kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit einem so gestärkten
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Wenn im Folgenden vom Freien Theater die Rede ist, dann meint dies zunächst ein unter anderem durch eigene Spielstätten, Förderstrukturen, Medien, Veranstaltungen und Organisationen institutionalisiertes System innerhalb der darstellenden Künste. In diesem Sinne kann Freies Theater auch als Institution verstanden werden (vgl. Esser 2000).
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Selbstbewusstsein formuliert das Freie Theater seither seine „künstlerische Leistungsfähigkeit“ auf Bundes, Länder und kommunaler Ebene mit zunehmendem Erfolg. So lud der damalige Bundespräsident Horst Köhler im Januar 2009 zu einem Abend der Freien Theater auf Schloss Bellevue ein, der Staatsminister für Kultur und Medien fördert seit 2010 und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ab 2013 den Bundesverband Freier Theater (BuFT) in nennenswerter Höhe und Bundesländer wie Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen und Städte wie Hamburg, Frankfurt am Main und München strukturieren und finanzieren die Rahmenbedingungen für die freien darstellenden Künste neu und besser. Die konkrete Benennung und Ausformulierung der künstlerischen Leistungsfähigkeit des Freien Theaters findet in unzähligen theaterwissenschaftlichen Publikationen und Debatten statt. Im Folgenden soll deshalb der Fokus stärker auf die sie strukturierenden Dimensionen gerichtet werden. Entsprechend wird vor dem Hintergrund der zunehmenden kultur- und kreativwirtschaftlichen Ausrichtung städtischer Kulturpolitik der Bedeutungsgewinn des Freien Theaters auf struktureller Ebene analysiert und eine realistische Verortung des Freien Theaters im sogenannten Markt für darstellende Künste vorgenommen. Dabei wird explizit nicht die Möglichkeit eines grundlegenden Strukturwandels der deutschen Theaterlandschaft unterstellt, sondern von einer ausgeprägten Resilienzfähigkeit des bestehenden Systems ausgegangen. Im Anschluss an die Verortung des Freien Theaters werden Möglichkeiten der inhaltlichen Ausrichtung seiner weiteren politischen Arbeit diskutiert und ein möglicher neuer Impuls für die Debatte um die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft formuliert.
Q UASI -M ONOPOL
DER
S TADT -
UND
S TAATSTHEATER
Der fortschreitende gesellschaftliche Wandel macht es den Städten immer schwerer, ihr Wohlstandsversprechen einzulösen und ihrer gesellschaftlichen Integrationsfunktion nachzukommen. Die soziale Kohäsion der Gesellschaft – ihr innerer Zusammenhalt – gerät in Gefahr, weil immer mehr Menschen aus der städtischen Solidargemeinschaft herauszufallen drohen. Die Städte stehen vor der großen Herausforderung, ihre Strukturen den veränderten Bedingungen anzupassen, ohne ihre Integrationsfunktion zu vernachlässigen. „Die vordringlichsten Steuerungsprobleme der Städte bestehen seither nicht mehr darin, Wachstum innerhalb der Stadt zu verteilen,
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sondern Wachstum selbst zu erzeugen“ (Häußermann et. al. 2008: 246). Insbesondere der Bereich der Kultur- und Wissensproduktion gilt als neuer Motor für zukünftige Stadtentwicklung (vgl. Florida 2005). Die daran anknüpfenden städtischen Initiativen zur Ansiedlung zukunftsträchtiger Wirtschaftsbranchen stehen aufgrund des enormen Mobilitätszuwachses der meisten gesellschaftlichen Bereiche mittlerweile in einem (globalen) „Wettbewerb der Städte“. Dieser Wettbewerb gestaltet sich vornehmlich als ein Kampf um Sichtbarkeit und Bedeutung: Nur die Städte – so die Annahme –, die sich im Aufmerksamkeitsmarkt gut positionieren, haben eine Chance auf die dauerhafte Ansiedlung zukunftsfähiger qualifizierter Arbeitsplätze und -kräfte und damit auf ökonomisches Wachstum. Stadtpolitik richtet sich in der Folge immer stärker an Strategien des Stadtmarketings aus. Im Zuge der Markenbildung werden städtische Handlungsfelder wie Kultur zunehmend als ökonomische Teilmärkte identifiziert, geclustert und für die Neuerfindung des Standorts beispielsweise als „Kreative Stadt“ in die Pflicht genommen (vgl. Pinto 2013). Kulturförderung gilt mehr und mehr als Investition in die Kulturwirtschaft, die nachweisbar rentabel zu sein hat. Entsprechend wird von Kulturschaffenden in diesem Zusammenhang oft auf die sogenannte „Umwegrentabilität“ von Kunst und Kultur verwiesen, also auf indirekte positive volkswirtschaftliche Effekte durch städtische Einnahmen von Kulturtouristen oder die Steigerung der Lebensqualität von Bewohnern. Zur gezielten politischen Steuerung der Kulturund Kreativwirtschaft wurde diese in elf Teilmärkte untergliedert und Theater und Tanz dem „Markt für darstellende Künste“ zugeordnet. Betrachtet man diesen Markt für darstellende Künste, den man verkürzt auch als ein System des Austauschs des kulturellen Gutes darstellende Kunst verstehen kann, so fällt auf, dass dieser Markt von einem QuasiMonopol des Stadt- und Staatstheaters gekennzeichnet ist. In seiner Theaterstatistik 2010/2011 gibt der Deutsche Bühnenverein 140 Stadt- und Staatstheater sowie Landesbühnen mit insgesamt 890 Spielstätten an. Diese erhielten öffentliche Zuweisungen und Zuschüsse in Höhe von ca. 2,25 Milliarden Euro. Laut Summentabelle der Theaterstatistik kamen die Theater bei insgesamt 67.755 Vorstellungen (inkl. sonstige Veranstaltungen und theaternahes Rahmenprogramm) auf ca. 21 Millionen Besuche, die mit einem Betriebszuschuss in Höhe von 109 Euro pro Besucher subventioniert wurden (vgl. Deutscher Bühnenverein 2012). Im Gegensatz dazu stellten laut einer vom Dachverband Freier Theaterschaffender Hamburg e.V. (DFT
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Hamburg) in Auftrag gegebenen Studie die Bundesländer im Jahre 2009 dem Freien Theater ca. 30 Millionen Euro zur Verfügung (vgl. Sassmannshausen 2010). Rechnet man die von vereinzelten Kommunen wie München, Stuttgart oder Köln ausgegebenen Fördermittel hinzu, so kam das Freie Theater im besten Falle auf 1,5 Prozent der Summe, die für Stadt- und Staatstheater zur Verfügung standen.2 „Deutschland hat eine der reichsten Theaterlandschaften der Welt. Gleichzeitig betreiben wir eine interessante Monokultur. Theater ist in Deutschland weitgehend synonym mit Stadt- und Staatstheater, auch wenn diese sich untereinander stark unterscheiden. Wir können sagen: Eine Institution hat das Medium fast monopolisiert. Das gilt vor allem für die Ressourcen und damit für die öffentliche Wahrnehmung. Im Vergleich zu den öffentlichen Geldern, die in die Stadt- und Staatstheater fließen, ist vernachlässigbar, was in Tanz, internationales Theater, freie Produktionsstätten, Gruppen oder andere Formen von Bühnenkunst fließt.“ (von Hartz 2011)
Dieses Quasi-Monopol auf die Ressourcen führte dazu, dass das Freie Theater seine „künstlerische Leistungsfähigkeit“ in den vergangenen drei Jahrzehnten vor allem in den Nischen des Marktes ausbildete: Kinder- und Jugendtheater, Figurentheater, zeitgenössischer Tanz und zeitgenössisches Musiktheater, Theater im öffentlichen und im ländlichen Raum und Performances. Parallel zur Nischenproduktion erweiterten die freien Theaterschaffenden ihre Arbeitsfelder auch in andere Branchen wie Bildung (Theater- und Tanzpädagogik), Gesundheit (Körpertraining und -therapie) oder Medien (Journalismus).3 Zunehmend zeigt sich aber, dass diese Nischen
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Die Zahlen für das Freie Theater sind sehr vorsichtig zu bewerten. Die Förderung des Freien Theaters schließt in einigen Bundesländern und Städten die institutionelle Förderung freier Spielstätten ebenso mit ein wie die Projektförderung von Privattheatern oder Amateurtheatern (vgl. Pinto 2010). Leider konnte der Bundesverband Freier Theater bis heute keine fundierte, der Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins vergleichbare Erhebung vorlegen. Die Dimension der unterschiedlichen Mittelverteilung zwischen Stadttheater und Freiem Theater erscheint trotzdem relativ realistisch widergespiegelt.
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Diese Arbeit ausschließlich als künstlerische Nebentätigkeiten zu betrachten, wie es die empirische Studie des Reports Darstellende Künste macht, greift zu kurz. In einigen Interviews zur Studie „wurde die Kombination verschiedener
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und andere Branchen auch von Stadt- und Staatstheatern bespielt werden. Der von der Kulturstiftung des Bundes von 2006 bis 2011 aufgelegte Heimspiel-Fonds förderte beispielsweise Theaterprojekte, die sich mit der urbanen Wirklichkeit der Städte auseinandersetzten und richtete sich ausschließlich an Stadt- und Staatstheater.4 Kinder- und Jugendtheater wird ebenso von ihnen bedient wie die theaterpädagogische Arbeit mittlerweile unter dem Label der kulturellen Bildung ein immer wichtiger werdendes Betätigungsfeld der Stadt- und Staatstheater ist. Und mit dem DoppelpassFonds für Kooperationen der Kulturstiftung des Bundes stehen vor allem den Stadt- und Staatstheatern neue zusätzliche Mittel zur Verfügung, um die performativen Formen und Ästhetiken ambitionierter freier Theaterschaffender noch stärker für sich zu nutzen, als sie es zum Teil schon tun. Zu diesen als Vereinnahmung und Verdrängung zu lesenden Tendenzen kommt hinzu, dass das Freie Theater immer wieder mit dem Versuch seiner Delegitimierung konfrontiert ist. „Ach, wo beginnt denn die Freie Szene, und wo endet sie? Ist Stefan Pucher ein freier Regisseur, oder war er schon immer Stadttheater? Ist Nicolas Stemann, der bei Jürgen Flimm Theater gelernt hat und sich jetzt eigene, eher freiere Produktionsformen schafft, ein Freie-Szene-Mann oder ein Stadttheatermann? Und wie ist das bei Castorf, Kriegenburg, Solberg, Steckel? Die Wege des Lernens gehen ja über Regieund Schauspielschulen, dazu gehören u. a. auch die staatlichen Schulen Gießen und Hildesheim, die berühmten Brutstätten des performativen Theaters. […] Die Übergänge sind längst fließend. Man kann nicht angeben, ob sich neue Formen in den Institutionen, in der Lehre oder außerhalb entwickelt haben. Aber die Stadttheater haben eine schützende Struktur, in der man Dinge entwickeln kann.“ (Ulrich Khuon, zit. n. Pilz/Rakow 2011)
künstlerischer Felder auch als inspirierend und freiwillig beschrieben, nicht nur, um zusätzliche Verdienste zu erzielen“ (Passow et. al. 2010: 183). Welchen Anteil die freiwillige oder notwendige Mobilität in andere künstlerische Felder bzw. Märkte an der künstlerischen Leistungsfähigkeit des Freien Theaters hat, ist an anderer Stelle zu klären. 4
Freie Theater waren nicht antragsberechtigt für den Heimspielfonds, was zu starker Kritik aus der freien Szene am Fonds führte, auch wenn mit Matthias Lilienthal (2006-2008) und Tobias Rausch (2009-2011) zwei Akteure des Freien Theaters Mitglieder der Jury waren (vgl. Kulturstiftung des Bundes 2013).
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Nach dem Muster „was nicht bestimmbar ist, existiert auch nicht“ stellt das Stadttheater das Freie Theater und seine künstlerische Leistungsfähigkeit in Frage und verleiht so dem eigenen Monopolanspruch als „schützende Struktur“ für die darstellenden Künste Nachdruck.5 Dem Freien Theater wird vor dem Hintergrund dieser in Teilen erfolgreichen Strategie der Monopolsicherung durch Vereinnahmung, Verdrängung und Delegitimierung maximal die Rolle eines künstlerisch attraktiven Nischenanbieters im Markt für darstellende Künste zugewiesen, der neue Felder und Märkte für die darstellende Kunst erobert und bestellt. Dass sich das Freie Theater damit nicht zufrieden geben wird, ist nachvollziehbar. Umso mehr, da dass Stadtund Staatstheater sich in einer strukturellen Krise befindet, die unter anderem auf das Ende der fordistischen Stadt zurückgeführt werden kann (Häußermann 2012).
K ÜNSTLERISCHE L EISTUNGSFÄHIGKEIT DES F REIEN T HEATERS Im Zuge des sozioökonomischen Strukturwandels hin zu technologie- und wissensbasierten Arbeitsmärkten erodieren die fordistisch geprägten, an der räumlichen und funktionellen Trennung von Arbeits- und Lebenswelt und an der zeitlichen Standardisierung und Synchronisierung durch das sogenannte „Normalarbeitsverhältnis“ ausgebildeten städtischen Strukturen (vgl. Läpple et. al. 2010). Deutlich wird dieser Erosionsprozess an den strukturell defizitären kommunalen Haushalten. Kultur als freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe der Kommunen gerät unter den Druck der kommunalen Einsparanstrengungen. Im Stadttheater bildet sich im Gegensatz zum Freien Theater dieses „fordistische Raum-Zeit-Regime“ nach wie vor stark ab. Beispielsweise ist das sozialversicherungspflichtige „Normalarbeitsver-
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Dass es auch andere Positionen innerhalb des Stadttheaters gibt, zeigt Thomas Schmidt in seinen Hildesheimer Thesen. In These 6 formuliert er: „Die Kluft zwischen öffentlichen und freien Theatern muss grundlegend aufgehoben werden, durch gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen, durch gleichberechtige politische Legitimation und durch eine enge Kommunikation und Zusammenarbeit – dies ist die Grundvoraussetzung für die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft“ (Schmidt 2013).
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hältnis“ nach wie vor das vorrangige Beschäftigungsverhältnis, während sich im Freien Theater hauptsächlich neuartige Arbeits- und Beschäftigungsformen realisieren: temporär und projektförmig organisierte Komplizenschaften (vgl. Ziemer 2013).6 Damit bietet das Freie Theater gegenüber dem Stadttheater mit Blick auf den kommunalen Spardruck die Möglichkeit, die eingesetzten Mittel stärker in den künstlerischen Bereich, also in das konkrete Projekt fließen zu lassen als in den Erhalt des Betriebes und seiner Infrastruktur. Damit scheint das Freie Theater auch schneller auf gesellschaftliche Entwicklungen wie die Pluralisierung der Lebensformen, den demografischen Wandel oder den „Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0“ (Schulze 2011) zu reagieren und diese künstlerisch wie strukturell abbilden zu können. „In vielen Städten war das Theater bislang ein Zentrum des kulturellen Lebens, doch das Theater scheint in die Peripherie gerutscht zu sein. Das Freizeitverhalten wandelt sich stetig, auch durch die Vielfältigkeit des Angebotes an elektronischen Medien und anderen Freizeitveranstaltungen. Die demografische Entwicklung der Gesellschaft, der zunehmende Bevölkerungsanteil von Migranten sowie die Abwanderung junger Menschen des ländlichen Raums in Ballungszentren mag die Zukunft des Modells Stadttheater mit festem Ensemble, Repertoireangebot und Mehrspartenbetrieb mit Fragezeichen versehen.“ (Deutscher Bundestag 2007: 106f.)
Vor diesem Hintergrund erscheint die derzeitige Position des Freien Theaters als durchaus vorteilhaft: Auf der Grundlage flexibler Produktionsweisen und für vergleichsweise wenig finanziellen Input generiert es einen künstlerisch leistungsfähigen und vielfältigen, gesellschaftlich relevanten und quantitativ hohen Output. Für eine am Wettbewerb der Städte orientierte und ökonomisch ausgerichtete Kulturpolitik und -verwaltung ist das
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Allerdings ist auch das Stadttheater mit einer zunehmenden Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse konfrontiert. Die zunehmende Anzahl von kurzzeitigen Engagements auf Gastvertragsbasis bei gleichzeitiger Einordnung als Selbstständige und damit der Verlust der arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Schutzvorschriften des Arbeitnehmerstatus zeugt ebenso davon wie die teilweise Einordnung von Veranstaltungstechnikern unter den Normalvertrag Bühne aufgrund ihrer angeblich überwiegen künstlerischen Tätigkeit (vgl. Herdlein 2009, BAG 2011).
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Freie Theater damit ein attraktiver Akteur im Markt für darstellende Künste. Allerdings sollte weder die neue Attraktivität des Freien Theaters noch die strukturelle Schwäche des Stadttheaters überschätzt werden. Eine nur am Markt orientierte Argumentation des Freien Theaters zieht eine durchaus berechtigte Kritik dieser Perspektive nach sich, wie die Debatte um das Buch „Der Kulturinfarkt“ (Haselbach et. al. 2012) anschaulich gezeigt hat. Zumal sich die strukturelle Attraktivität des Freien Theaters derzeit vor al7 lem aus einer ausgeprägten sozialen Ungleichheit heraus realisiert. Gleichzeitig wird auch die Schwäche des Stadttheaters in Teilen durch seine Resilienzfähigkeit kompensiert, die sich in den bereits skizzierten Vereinnahmungs-, Verdrängungs- und Delegitimierungstendenzen zeigt. Diese Tendenzen beantworten zugleich auch die Frage nach der Kooperationsfähigkeit des Stadttheaters im Rahmen der Entwicklung der deutschen Theaterlandschaft: Kooperation nur in dem Maße, wie es der Durchsetzung und dem Wohl der eigenen institutionellen Interessen dient. Die Forderung des Intendanten der Neuen Bühne Senftenberg Sewan Latchinian auf einem Podium zur Zukunft der Theater in Nordrhein-Westfalen nach einem Freien Stadttheater spiegelt sich beispielsweise weder in der Programmatik, noch in der Struktur oder in der Politik seines Hauses wieder (Theater der Zeit 2013: 17ff). „Das Stadttheater selbst interessiert sich letztlich nicht für die Zukunft des Theaters, sondern für die Zukunft des Stadttheaters, also sein Überleben als Institution. Die Institution fragt nur selten: Was braucht der Künstler, was braucht das Theater? Stattdessen fragt sie indirekt eigentlich immerzu: Was braucht das Stadttheater? Das ist zwar völlig absurd, aber nicht einmal Vorsatz oder böse Absicht, sondern einerseits Gefangensein in der Institution und andererseits auch Fürsorge für eine etablierte Institution und die vielen dort arbeitenden Menschen.“ (von Hartz 2011)
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Trotz eines sehr hohen Bildungsniveaus und einer Wochenarbeitszeit von durchschnittlich 45 Stunden generieren die freien Theater- und Tanzschaffenden ein durchschnittliches jährliches Gesamteinkommen, das „[...] etwa 40 Prozent unter dem aller Arbeitnehmer in Deutschland einschließlich geringfügig Beschäftigter [liegt]“ (Keuchel 2010: 59).
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Wie aber wäre die weitere Auseinandersetzung mit dem Stadt- und Staatstheater zu führen, ohne ebenfalls in der Sackgasse eines institutionellen Protektionismus zu landen? Eine mögliche Antwort ist eine Strategie der eigenen institutionellen Stärkung, um Gestaltungsmacht im Rahmen der Theaterentwicklung zu erlangen. Die kritische Haltung vieler freier Theaterschaffender gegenüber der eigenen (politischen) Institutionalisierung erscheint einer sich professionalisierenden Interessenvertretung dabei jedoch als Problem. Die Gefahr solcher Institutionalisierungsprozesse, „bestehende Unterschiede zu negieren“ (Matzke 2013) und die Heterogenität des freien Theaterschaffens nicht abzubilden, ist evident. Besonders bemerkbar macht sich diese Zurückhaltung der Theaterschaffenden bei dem für die politische Kommunikation notwendigen Versuch der Quantifizierung des künstlerischen Schaffens freier Theaterschaffender. Vor diesem Hintergrund wäre eine solche kritische Haltung zu kritisieren. Zugleich aber – und das erscheint zentral für die Beantwortung der Frage – bietet eine Institutionen kritische Haltung auch in gewissem Maße Schutz vor der Verunsachlichung der eigenen politischen Arbeit. Sie lenkt den Blick auf die negativen Tendenzen politischen Machtstrebens, auf jenen Punkt also, „wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der ‚Sache‘ zu treten“ (Weber 1994: 75). Versteht man Institutionen weniger als den eigenen Individualismus/Egoismus limitierende tote Maschinerie, sondern als vom Menschen geschaffenes vitales und gestaltbares Gebilde (vgl. Seyfert 2011), ist die kritische Haltung der freien Theaterschaffenden damit selbst schon wichtiger Teil des Institutionalisierungsprozesses. Sie bewahrt das Freie Theater davor, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren: die Entwicklung des Theaters in Deutschland.
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Mit diesem positiven Verständnis von Institutionen öffnet sich zugleich der Horizont über die eigene Institution und deren Überleben hinaus und fragt nach einem neuen Referenzpunkt für die Entwicklung des Theaters in Deutschland. Diesen hat die Enquetekommission ebenfalls benannt, auch wenn er – im Gegensatz zur Würdigung seiner künstlerischen Leistungsfähigkeit – bisher im Freien Theater wie im Stadttheater weniger Beachtung fand.
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„Eines lässt sich dabei unabhängig von Rechtsformen und Tarifdiskussionen, wie sie eine Enquete-Kommission beachten muss, konstatieren: Die Chance der Theater ist ihr Publikum, die reale Lebenssituation der jeweiligen Zuschauergruppe vor Ort. Theaterstrukturen brauchen die programmatische, inhaltliche, personelle und funktionelle Anbindung an ihre jeweilige Stadt oder Region. Die dort vorgefundene mentale, kulturhistorische und soziale Situation wird jeweils sehr verschieden sein, sollte von den Theatermachern jedoch genau untersucht und für ihre Arbeit unbedingt beachtet werden.“ (Deutscher Bundestag 2007: 107)
Bisher diente die Stadt vor allem als Adressat für die jeweiligen Forderungen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen von Theater. Das lag unter anderem daran, dass bis in die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts „vor allem der Staat und die Kommunen als die zentralen Akteure der Kulturlandschaft begriffen (wurden)“ (Wagner 2008: 108). Der im Rahmen des politischen Leitbildes des aktivierenden Staats vorgenommene Perspektivwechsel von einer etatistischen zu einer pluralistischen Kulturpolitik, die zunehmend die Rolle einer „intermediären Instanz“ (ebd.: 111) einnimmt, „die Kooperationen stiftet, vermittelt und koordinierend tätig wird und nicht vor allem bestrebt ist, als Anbieter kultureller Leistungen aufzutreten“ (ebd.: 111), wird auch von der Enquetekommission vollzogen. Sie blickt auf die qualitativen Dimensionen der städtischen Lebenswelt, auf die vorgefundene mentale, kulturhistorische und soziale Situation der in der Stadt lebenden Menschen. Sie fragt nicht danach, was für eine Stadt braucht das Theater, sondern: Was für ein Theater braucht die Stadt? Ein solchermaßen gewendeter Ansatz stellt an den Anfang der Analyse die Stadt, nicht das Theater. Er formuliert gleichsam ein „Primat der Stadt“. Damit befinden wir uns wieder am Anfang der hier formulierten Überlegungen. Allerdings mit der Feststellung, dass dieser neue (alte) Referenzpunkt bisher von den Theaterschaffenden zwar künstlerisch bearbeitet, aber die strukturellen Dimensionen städtischer Entwicklung vor allem Stadtpolitik und -verwaltung und anderen Kräften überlassen wurde. Entsprechend ist man heute am Ende der fordistischen Stadt mit der Ökonomisierung städtischer Kultur unter der politischen Maßgabe des Dienstes an der Stadtmarke als dominante Reaktion auf die gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Das Theater in Deutschland findet sich in einem Verteilungskampf um Ressourcen und Marktanteile zwischen Freiem Theater und Stadttheater wieder. Will man also mit Blick auf die weitere Ausrich-
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tung der Debatte um die Zukunft des Theaters nicht wieder in diesem Verteilungskampf landen, erscheint eine Verschiebung der analytischen Perspektive notwendig. Ein generalisierender Ansatz, der gesellschaftliche Phänomene wie Globalisierung, Migration, verändertes Freizeitverhalten etc. als allgemeine städtische Praxis wahrnimmt und untersucht, scheint dafür nicht mehr geeignet. Städte haben unterschiedliche Atmosphären und gehen unterschiedlich mit Globalisierung, Migration oder auch Gentrifizierung um, je nach dem in welchen Relationen und Traditionen sie stehen und welche Handlungskapazitäten sich daraus ergeben. Eine Perspektive, die an diese Alltagserfahrung der Unterschiedlichkeit von Städten anknüpft und die lokal spezifischen Ausprägungen städtischer Praktiken in die Analyse mit einbezieht, scheint fruchtbarer für die weitere Debatte um die Zukunft des Theaters als die vorgenannte Perspektive. Ein solcher Ansatz findet sich im stadtsoziologischen Forschungsansatz der „Eigenlogik der Städte“ (Berking/Löw 2005: 12). Er fokussiert „das Spezifische der Vergesellschaftungsform Stadt“ und „die Besonderheit dieser [H.i.O.] Stadt“ (Dies. 2008: 8), in dem er die Ausformung eines stadtspezifischen alltagsweltlichen Erfahrungswissens zu zusammenhängenden Wissensbeständen und in der Folge zu lokal spezifischen, tradierten und tradierbaren Sinnzusammenhängen in den Blick nimmt. Diese Sinnzusammenhänge schlagen sich in Handlungsmustern und Praktiken aller Stadtbewohner nieder und evozieren eine eigene ‚natürliche Einstellung‘ der Stadt zur Welt (vgl. Frank 2012: 296f, 299). Diese an der Verstädterung des lebensweltlichen Hintergrundwissens herausgebildeten und sich reproduzierenden lokal spezifischen Strukturen und Praktiken „(bestimmen) den Charakter der Städte, ihre Atmosphären, aber auch ihre Handlungs- und Problemlösungskapazitäten […]“ (Löw 2008: 63). Für die Debatte um die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft bietet dieser eigenlogische Ansatz die Möglichkeit, „Strategien zur Veränderung“ aufzeigen zu können, die „die Bedingungen und Potentiale vor Ort nutzen“ (ebd.: 234). Auf der Grundlage der jeweiligen städtischen Eigenlogik ließe sich das Handlungsfeld Kultur und auch die Theaterstrukturen anhand der Potenziale der jeweiligen Stadt weiterentwickeln. Das offeriert eine Perspektive, die jenseits gängiger politischer Handlungsmuster von Kürzen, Streichen, Umverteilen liegen könnte und einen effektiven Mitteleinsatz bei gleichzeitiger Stärkung des städtischen kulturellen Profils böte. Dabei geht es ganz klar nicht um imagefördernde, an politischen Mehrheiten oder an
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medial stimmulierten öffentlichen Meinungen orientierte Stadtmarken. Im Gegenteil: Der eigenlogische Ansatz bietet das Potenzial, städtische Entwicklung davon lösen. Aufgrund der relativen Neuheit dieses Ansatzes liegen bisher allerdings nur einige Einzelstudien (Wien, Berlin, Dessau, Rostock, Bremerhaven, Darmstadt, Dortmund, Glasgow) vor, in deren Rahmen „der Nachweis städtischer Eigenlogik […] kaum zu leisten ist, da das Untersuchungsdesign, um keine Forschungsartefakte zu produzieren, hochgradig komplex sein muss“ (Frank 2012: 305).8 Das macht diesen Ansatz für die politische Arbeit nur auf mittel- bis langfristige Perspektive verwendbar. Für die Debatte um die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft bietet dieser Ansatz jedoch ein enormes Potenzial, weil er einen Möglichkeitsraum kreiert, in dem die Entwicklung der deutschen Theaterlandschaft anders (neu?) gedacht werden kann. Das widerspricht nicht der Resilienzfähigkeit des Systems, sondern diese bildet gleichsam die „schützende Struktur“ für diesen Möglichkeitsraum. Ob er auch genutzt wird, bleibt mit Blick auf die bestehenden Handlungsstrategien und politischen Alltagsnotwendigkeiten abzuwarten. Aber durch seine Flexibilität und Innovationskraft scheint das Freie Theater dafür prädestiniert, diesen Impuls in die Debatte zu geben.
L ITERATUR BAG (Bundesarbeitsgericht) (2011): Mitbestimmung bei Eingruppierung – Zuordnung zum NV Bühne – Vereinbarung einer überwiegend künstlerischen Tätigkeit. Beschluss vom 15.12.2011, 7 ABR 36/10., http://jur is.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht =bag&Art=en&nr=15024 [25.03.2013]. Berking, Helmuth/Löw, Martina (2005): „Wenn New York nicht Wanne Eickel ist… Über Städte als Wissensobjekt der Soziologie“, in: Dies. (Hg.): Die Wirklichkeit der Städte, Baden-Baden, S. 9-22.
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An der TU Darmstadt werden seit Mai 2011 und gefördert von der DFG die Eigenlogiken der Städte Dortmund, Frankfurt am Main, Birmingham und Glasgow durch einen Vergleich unterschiedlicher Untersuchungsfelder untersucht; siehe hierzu http://www.stadtforschung.tu-darmstadt.de/eigenlogik/dfg_projektverbun d/dfg_projektverbund.de.jsp [25.03.2013].
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Das „Freie Theater“ gibt es nicht Formen des Produzierens im gegenwärtigen Theater A NNEMARIE M ATZKE
2009 fragte der Berliner Landesverband Freier Theater mich für die Moderation eines Workshops an, der an einer Definition des Begriffs „Freies Theater“ arbeiten sollte.1 Im ersten Moment sagte ich mit der Begründung ab, dass diese Aufgabe zu schwierig sei. Mir wurde zugestimmt, der Workshop solle auch auf keine abschließende Definition zielen, aber der Diskussionsbedarf der Künstler, die sich unter dem Label gruppierten, über die verschiedenen Formen wie auch Gemeinsamkeiten eines Freien Theaters sei sehr dringlich. In dem mit großer Resonanz schließlich doch stattfindenden Workshop wurde deutlich, dass zwar der Begriff des Freien Theaters Anfang des 21. Jahrhunderts selbst (immer noch) in Frage steht, jedoch die Auseinandersetzung über Ästhetiken, politische Dimensionen und Produktionsweisen hinsichtlich gemeinsamer politischer Forderungen angesichts rasanter Entwicklungen von Theaterformen jenseits der tradierten und etablierten Stadttheater dringend notwendig ist. Im Folgenden möchte ich deshalb nach den Problematiken und Potenzialen des Labels „freie Szene“ fragen. Welche Tendenzen und Entwicklungen lassen sich damit beschreiben? Inwieweit kann diese Bezeichnung zur Beschreibung gegenwärtiger Theaterarbeit dienen? Und wo gerät der Begriff an seine Grenzen?
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Bereits 2005 initiierte das Festival „Politik im Freien Theater“ einen Thinktank unter der Leitung von Henning Fülle mit dem Auftrag einer Bestandsaufnahme, wie gegenwärtiges freies Theater zu fassen sei.
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Diese Fragen stelle ich nicht nur als Wissenschaftlerin sondern auch aus meiner eigenen Erfahrung als Künstlerin. Als Mitglied des PerformanceKollektivs She She Pop produziere ich seit über zwanzig Jahren Inszenierungen mit öffentlicher Förderung aus Berlin und Hamburg. Wir zeigen unsere Aufführungen im FFT Düsseldorf, im Mousonturm Frankfurt, am HAU in Berlin, auf Kampnagel in Hamburg – also wichtigen Institutionen des Freien Theaters – wie auch im internationalen Kontext auf Festivals. Ich bin damit ein Mitglied der sogenannten freien Szene und jedes Nachdenken über ihre Potenziale ist immer schon durch diese Erfahrungen geprägt. Ich schreibe aus zwei Positionen heraus: erstens die einer Performerin aus der freien Szene, die seit über zwanzig Jahren die Entwicklung des „Freien Theaters“ im besten Falle mitgestaltet, aber auch selbst erfahren hat (beispielsweise auf meinem Bankkonto). Zweitens schreibe ich aus der Perspektive einer Theaterwissenschaft, die darauf zielt, ästhetische Fragen des Machens von Theater nicht von den sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen seines Produzierens zu unterscheiden. Die Form, wie Theater gemacht wird, sagt immer etwas über die gesellschaftlichen Vorstellungen, was Kunst und Theater sein soll, aus. Und gerade diese Verbindung von gesellschaftlichen und ästhetischen Fragen ist ein wiederkehrender Topos im Diskurs über Theaterformen, die sich bewusst gegen die herrschende Theatertradition des Stadttheaters stellten. Beginnen möchte ich deshalb mit dem Diskurs über Freies Theater und den historischen verschiedenen Ansätzen, um jene Form des Produzierens von Theater zu definieren.
A USDIFFERENZIERUNG
NEUER
T HEATERFORMEN
Die Schwierigkeit einer fehlenden verbindlichen Definition eines Theaters jenseits der etablierten Strukturen der Stadttheater ist kein neues Phänomen. 1987 legt Barbara Büscher unter dem Titel „Wirklichkeitstheater, Straßentheater, Freies Theater – Entstehung und Entwicklung freier Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1968 - 76“2 eine erste wissenschaftliche Reflexion vor. Dort heißt es einleitend:
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Im gleichen Jahr erscheint auch die Veröffentlichung von Michael Batz und Horst Schroth „Theater zwischen Tür und Angel. Handbuch für freies Theater“.
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„Ausgangspunkt der Überlegungen war die Tatsache, daß in den letzten 15 Jahren eine ständig anwachsende Zahl von Theatergruppen entstanden ist, die sich institutionell unabhängig, in Arbeitsweise, Gegenstand und künstlerischen Mitteln als Alternative zum bestehenden Theaterapparat verstehen will.“ (Büscher 1987: 6)
Weiter führt sie aus, dass die Suche nach anderen, kollektiven Arbeitsformen unter dem Ideal einer „unentfremdete[n] Arbeit“, die „Verfügbarkeit der Produktionsmittel“ (ebd.) wie auch ein verändertes Verhältnis zum Publikum diese Formen des Theaters geeignet erscheinen lassen, der Idee der Aufhebung des Gegensatzes von Kunst und Alltag näher zu kommen. Untersucht wird in diesem Sinne das Freie Theater als ein politisches, linkes Theater, das seine eigenen Arbeitsstrukturen schafft. Es ist zugleich ein Theater, das in der Tradition der historischen Avantgarden wie dem Dadaismus oder dem Surrealismus und deren Institutionskritik steht. In deren Tradition, in Berufung auf Brecht und Piscator, auf das Agit-Prop-Theater, die Volksbühnenbewegung oder auf das Konzept eines Armen Theaters, entstanden in den Sechziger- und Siebzigerjahren Freie Theater, die sich bewusst von den Formen und hierarchischen Strukturen der bestehenden Theater absetzten. „Abhauen fürs Da-Sein“ (Weihs 1981: 11), so umschreibt Angie Weihs die Idee eines „ungebundenen Lebens“ (ebd.: 11), für die das neue Theater steht. Es gehe um ein „Bedürfnis nach Freiheit, Spontaneität und kollektiven Arbeitsweisen“ (ebd.). Es ist ein Theater, das sich dem Ziel eines emanzipatorischen Fortschritts verschreibt und damit bestehende Institutionen und tradierte ästhetische Formen ablehnt. Neue Orte für das Theater jenseits der repräsentativen Bühnen der Stadttheater mit ihren Bühneportalen und roten Plüschsesseln wurden gesucht. Andere Strukturen im Ensemble ausprobiert. Die klare Abgrenzung beider beruhte damit auf unterschiedlichen produktionsästhetischen Zusammenhängen, dem Zugang zu Produktionsmitteln, unterschiedlichen Arten von Förderung, zugleich war sie aber auch ideologisch aufgeladen. Auf der einen Seite der Apparat des Stadttheaters, der klassische Kanon, das Repertoire, das Theater als Fo-
Bereits 1981 erscheint Angie Weihs „Freies Theater – Berichte und Bilder, die zum Sehen, Lernen und Anstiften anregen“. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Arbeit von Büscher verstehen sich die beiden letztgenannten als politische Schriften, die ein freies Theater als emanzipatorisch propagieren und Techniken, Verfahren und Praktiken solcher Theaterformen weitergeben wollen.
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rum bürgerlicher Öffentlichkeit und auf der anderen Seite ästhetische Experimente, flexible Arbeitsstrukturen, der Glauben an politische Subversion durch Theater, ein direkter Kontakt zum Publikum. Diese politische Zielrichtung ist eng mit dem Diskurs über ein „Freies Theater“ verbunden, lässt sich aber nicht notwendigerweise in allen Formen eines sich als „frei“ definierenden Theaters in ähnlicher Weise finden. Bereits vier Jahre nach dem Erscheinen ihrer Studie über Freies Theater gibt Barbara Büscher gemeinsam mit Carena Schlewitt einen Band mit dem Titel „Freies Theater – Deutsch-deutsche Materialien“ heraus, der die Situation dieser Theaterform in der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR untersucht.3 Wiederum geht es darum, eine Bestandsaufnahme des Freien Theaters vorzulegen, wobei eine Definition angesichts der steigenden Zahl freier Gruppen nach Büscher zunehmend problematisch wird: „Parallel zur quantitativen Ausdehnung fand ein Prozess der Differenzierung statt. Nicht mehr geprägt von gemeinsamen, politisch motivierten, künstlerischen Zielen, löst sich die freie Theaterszene heute in eine Vielzahl unterschiedlicher Konzeptionen und Projekte auf. Zwischen Kunstanspruch und Unterhaltungssyndrom ist (fast) alles möglich. Was als Gemeinsamkeit bleibt, sind die Möglichkeiten, die in einer anderen Produktionsweise liegen, die nicht in den starren Apparat der institutionalisierten Theater gezwängt ist. Ob und wie sie genutzt werden, läßt sich nur im einzelnen diskutieren.“ (Büscher/Schlewitt 1991: 12)
Nicht die Ästhetik oder gemeinsame politische Ziele legitimieren den Begriff eines „Freien Theaters“, sondern die Möglichkeit einer anderen Produktionsweise. Dabei bleibt, wie auch Büscher anmerkt, dieses ‚Andere‘ des Produzierens erst einmal allein auf die Opposition zum institutionalisierten Theater bezogen und nicht auf konkrete Formen. Wenn ich diesen Text mit dem bewusst provokanten Titel „Das ‚Freie Theater‘ gibt es nicht“ überschreibe, dann nehme ich also eine längst geführte Diskussion wieder auf. Die von Barbara Büscher beschriebene Ausdifferenzierung hat sich im beginnenden 21. Jahrhundert noch weiter fortgesetzt. Was neben den Stadt- und Staatstheatern existiert, sind unzählige
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Eingegangen wird nicht nur auf die historische Entwicklung des freien Theaters in beiden Systemen, sondern auch auf die Veränderungen durch die Wiedervereinigung.
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verschiedene Theaterinstitutionen und Organisationsformen, Theatergruppen und Regiekollektive. Dies reicht vom Puppenspieler, der sich seine Aufführungsorte sucht, vom freien Kindertheater mit eigenem Haus und minimalen Ensembles über lokal verortete Projekte von Tänzern und Schauspielern, die sich immer wieder neu zusammenfinden bis zu jahrzehntelang agierenden Gruppen ohne festes Haus wie beispielsweise Rimini Protokoll, Gob Squad oder She She Pop, die mit ihren Inszenierungen weltweit touren und ihre Produktionen mit einem Netzwerk nationaler und internationaler Koproduzenten entwickeln und finanzieren.4 Es gibt also nicht das Freie Theater, das sich auf einen Begriff, eine Ästhetik oder eine politische Forderung bringen ließe. Hier treffen sich verschiedene Interessen, Ansprüche und Formen des Theaters. Die Infragestellung des Begriffs wie auch des Labels „Freies Theater“ soll nicht die ästhetische wie gesellschaftliche Relevanz der vielfältigen Projekte und Unternehmungen von Theaterformen jenseits der Stadt- und Staatstheater in Frage stellen. Mein Ziel ist vielmehr die Besonderheit dieser Theaterformen neu zu bestimmen und sie damit ein Stück weit auch aus dem historischen Kontext zu lösen, der leicht den Blick auf die verschiedenen Ausdifferenzierungen eines Freien Theaters verstellt.
V ERSCHRÄNKUNG
UND
A UTONOMIE
Die gegenwärtige Diskussion um die Veränderung von Theaterstrukturen nimmt zunehmend Theaterformen in den Blick, die außerhalb der etablierten Stadttheater verortet sind. Symposien5, Publikationen6 und Diskussi-
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Diese Ausdifferenzierung zeigt in ausgezeichneter Weise die Potenzialanalyse des Freien Theaters Hamburg: http://www.hamburg.de/contentblob/3425334/ data/potentialanalyse-freie-szene.pdf [08.05.2013].
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Beispielsweise: Symposium „Förderstrukturen des Freien Theaters in Deutschland“, 23. bis 25.01.2006 in Berlin, Haus der Kulturen der Welt; Jahrestagung „Umbrüche. Freie Darstellende Künste zwischen Peripherie und Metropole“ des Bundesverband Freier Theater 10. bis 12.Dezember 2012 Schwankhalle Bremen, http://www.jahrestagung.freie-theater.de/ [10.04.2013]; „Tanz und Theater in Zukunft“ zweiter Bundeskongress Bundesverband Freier Theater am 27. Ok-
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onsveranstaltungen7 legen den Fokus auf jene Formen. Allerdings wird der Begriff eines Freien Theaters selbst kritisch reflektiert.8 Problematisch wird die Selbst-Bezeichnung freie Szene vor allem dann, wenn sie sich als Gegenbegriff zu einem institutionalisierten Stadttheater begreift. Damit bleibt sie als das ‚andere‘ Theater markiert, das seine Legitimation hauptsächlich aus der Opposition zieht. Diese Aufspaltung und Hierarchisierung wird auch durch die öffentlichen Förderstrukturen manifestiert. Ein Hauptteil der öffentlichen Förderung wird an die städtischen- und staatlichen Theaterinstitutionen vergeben, während die Fördertöpfe der freien Szene mit einem
tober 2011 in Dresden; „Überleben in den Creative Industries“, Konferenz 13. bis 14.11.2009, Volksbühne im Prater Berlin. 6
Beispielsweise: Christin Bahnert/Armin Kerber (Hg.) (2011): Einfachheit & Lust & Freiheit. Theater zwischen freier Wildbahn und städtischer Institution, Berlin; Christian Esch/Tom Stromberg/Matthias von Hartz (2012): Es geht auch anders. Theater Festival Impulse, Berlin; Kirsten Hehmeyer/Matthias Pees (Hg.) (2012): Import Export. Arbeitsbuch zum HAU Berlin, Berlin; Günter Jeschonnek (Hg.) (2007): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Essen; Günter Jeschonnek (Hg.) (2010): Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland. Essen.
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Beispielsweise: „(Denk)Räume für Theater. Diskussion zwischen freien Theater- und Tanzschaffenden und Stadt- und Staatstheatern“, im Rahmen des Theatertreffens 2011, http://archiv2.berlinerfestspiele.de/de/archiv/festivals2011/03 theatertreffen11/tt11_programm/tt11_programm_gesamt/tt11_programmlistedet ailseite_21974.php [10.04.2013]; Podiumsdiskussion „Was braucht die freie Szene in Berlin?”, 05.09.2012; 61. Jour fixe des Kulturforums „Stadt Berlin der Sozialdemokratie“, weitere Veranstaltungen für Berlin vereint die Homepage http://www.habenundbrauchen.de/ [10.04.2013].
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Ein Beispiel ist die Homepage des Festivals Impulse, der wichtigsten Plattform für Formen freien Theaters (www.festivalimpulse.de). Hier schreiben Kuratorinnen und Kuratoren der freien Szene, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie auch Künstlerinnen und Künstler kritisch über den Begriff. In der Veröffentlichung zur Intendanz von Matthias Lilienthal am Berliner Hebbel am Ufer ist sogar von einer „Stigmatisierung und Peripherisierung als ‚freie Szene‘“ die Rede, die „überwunden“ sei (Hehmeyer/Pees 2012: 6).
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marginalen Budget ganz unterschiedliche Ästhetiken wie auch Produktionsweisen unterstützen.9 Ging es in der Gegenüberstellung von Stadttheater und freier Szene lange Zeit vor allem um einen ideologischen Kampf vom klassischem Kanon und der Ausrichtung an einer bürgerlichen Öffentlichkeit gegen experimentelle Formen und einen anderen Zugang zum Zuschauer, so stellt sich die Situation heute anders dar. Es gibt durchaus Gruppen, die einer freien Szene zugeordnet werden, die auch am Stadttheater ihre Inszenierungen zeigen wie auch freie Gruppen und Regisseure an Stadt- und Staatstheatern szenische Experimente initiieren, die erst durch die Institution Stadttheater und ihrer ökonomischen wie personellen Ressourcen möglich sind. Manche Produktionsweisen liegen hier viel näher bei jenen des Stadt- und Staatstheaters, als bei anderen Formen der sogenannten freien Szene. Es wird deutlich, dass die einfache Abgrenzung zum Stadttheater auf vielen Ebenen nicht mehr zu ziehen ist. Das Performance-Kollektiv Gob Squad zeigt seine Inszenierungen an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, im Schauspiel Köln wie auch im Berliner HAU. Die Gruppe andcompany&co inszeniert am Deutschen Theater Göttingen und am Staatstheater Oldenburg und macht aber ebenfalls Arbeiten am Hebbel am Ufer. Installationen wie Die Erscheinungen der Martha Rubin der Gruppe Signa (Schauspiel Köln 2008) oder die 12-Stunden-Inszenierung Gabriel Borkman von Vegard Vinge und Ida Müller (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Prater 2010) sind aufgrund ihrer personellen Voraussetzungen ohne die Unterstützung eines großen Hauses und dessen Infrastruktur kaum möglich. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es grundlegende Unterscheidungen in der Form des Theatermachens zwischen dem Stadttheater und all jenen anderen Projekten in ihren verschiedenen Ausdifferenzierungen gibt.10 Ein Potenzial des Labels „Freies Theater“ ist es gerade,
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So weisen Tom Stromberg und Matthias von Hartz, ehemalige künstlerische Leiter des Festivals Impulse, auf die prekäre Situation der freien Szene hin und kritisieren, dass die Kulturpolitik Institutionen und nicht Künstler fördere: „Nicht Institutionen, Künstler sollt ihr fördern!“ (Hartz/Stromberg 2009).
10 Wenn die Bundeskulturstiftung mit dem Programm „Doppelpass“ die Zusammenarbeit von freien Gruppen und Stadttheatern zu fördern versucht, dann geht es auch darum, den Innovationsgehalt genau jener Arbeitsweisen mit den institutionalisierten Strukturen zu konfrontieren (http://www.kulturstiftung-des-bun
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dass es sich nicht auf einen Begriff bringen lässt. Was alle diese verschiedenen Gruppen und Theaterhäusern im Ansatz auszeichnet – im Gegensatz zu den Stadttheatern mit ihrer Geschichte –, ist eine Arbeit jenseits vorher festgelegter Strukturen. Die Bedingungen des Produzierens werden selbst entworfen – soweit es die ökonomischen Zwänge erlauben. Gearbeitet wird damit im besten Fall immer auf zwei Ebenen. Sie arbeiten nicht nur an den Inszenierungen sondern zugleich an der eigenen Institutionalisierung und deren Reflexion. Die Theatergruppen sind nicht von der Politik an ein Haus berufen worden, sondern haben sich Ort und Mittel gesucht. Dies impliziert eine autonome Situation (trotz der prekären finanziellen Situation). Es geht darum, selbst zu entscheiden, wo und wie mit wem geprobt wird. Dies unterscheidet sich grundlegend von der Arbeitspraxis an vielen Stadttheatern, in denen sich das einzelne Projekt den Produktionsabläufen des Hauses unterordnen muss. Dort werden teilweise Schauspieler in Inszenierungen einfach ohne Mitspracherecht besetzt, wie auch viele Regisseure nicht bestimmen können, mit welchen Schauspielern sie arbeiten. Der Repertoirebetrieb und Arbeitsabläufe der einzelnen Gewerke geben Produktionszeiträume- und Abläufe vor. So findet die erste Bauprobe – die Überprüfung des Bühnenbildentwurfs – häufig vor der ersten Bühnenprobe mit den Schauspielern statt. Die Bühne wird unabhängig von der konkreten schauspielerischen Arbeit entworfen. Dem Intendant als künstlerisch Verantwortlichem für das Haus kommt eine Kontrollfunktion zu. Die technische Belegschaft wird als nicht-künstlerisches Personal definiert, dessen Arbeitszeit in Tarifverträgen ausgehandelt ist und deren Arbeitsorganisation in Schichten nicht selten den künstlerischen Anforderungen an eine Inszenierung zuwider läuft. Angesichts jener Strukturen zielen Projekte außerhalb der tradierten Institution Stadttheater auf eine größtmögliche Autonomie über alle Produktionsabläufe, die sich aus den künstlerischen Ansprüchen und nicht aus der Struktur der Institution heraus ergeben sollen. Diese Autonomie ist allerdings nicht selten teuer erkauft. Denn auch wenn sie über ihre Produktionsabläufe bestimmen können, unterliegen diese Projekte im besonderen Maße den Vorgaben der Förderstrukturen, den Voten von Jurys. Die Ausdifferenzierung verschiedener Organisationsfor-
des.de/cms/de/programme/doppelpass/). Vergleiche hierzu den Beitrag von Florian Malzacher zum Auftakt des Doppelpass-Programms mit dem Titel „Arbeitsvisum oder Schnupperpass“ (Malzacher 2013).
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men ist nicht nur Potenzial sondern auch Problem eines Theaters jenseits des Stadttheaters. Die freie Szene steht gegenüber den vorherrschenden Stadttheatern und ihren Ansprüchen ohnehin vor dem Problem von der Kulturpolitik leicht übersehen zu werden. Die unterschiedlichen Ansätze und Institutionalisierungsformen machen es zudem zunehmend schwierig gemeinsame Ziele zu formulieren. Deshalb ist es notwendig, eine Bestandaufnahme und Analyse gegenwärtiger Organisationsformen und Institutionen vorzunehmen, um nicht in der Rede von „der freien Szene“ bestehende Unterschiede zu negieren. Damit lässt sich dann auch das Verhältnis zum Stadttheater nicht mehr über eine Abgrenzung fassen. Denn sicher stehen einige international agierende Gruppen den Strukturen mancher fester Bühnen in den Großstädten näher als sie vielleicht denken, während manches kleine Stadttheater unter ähnlichen Problemen leidet, wie ein Haus der freien Szene mit festem Ensemble, aber wie, mit wem und an welchem Ort produziert wird, gehört zu den Fragen, denen sich jedes Projekt der freien Szene immer wieder stellen muss: Was heißt es, die Möglichkeiten einer anderen Produktionsweise auszutesten? Wie lassen sich diese Formen und Arbeitsweisen beschreiben?
K OLLEKTIVE P RODUKTIONSWEISEN Betrachtet man die gegenwärtigen Arbeitsformen, so lassen sich zwei bestimmende Parameter herausarbeiten: eine Form der Flexibilisierung verbunden mit der Suche nach neuen Formen kollektiven Produzierens. Monika Gintersdorfer, die gemeinsam mit Knut Klassen Theaterprojekte mit verschiedenen Akteuren initiiert, erklärt über ihre Produktionsweise: „Es gibt einen Kern, Leute mit denen ich kontinuierlich seit vielen Jahren zusammen arbeite, aber es ist auch wichtig, immer wieder neue, zum Teil kurzfristige Verbindungen einzugehen. Es ist eine Mischform aus einem harten Kern und neuen Verbindungen. Ich würde nicht sagen, dass wir als Gruppe alles gemeinsam beschließen, sondern dass es verschiedene Bereiche gibt. Manche wohnen in Paris, manche in Berlin, und manche wohnen Hamburg oder an der Elfenbeinküste. Wir sind also nur während der Probenzeit zusammen und versuchen daher auch Formate zu entwickeln, die in unterschiedlichen Kontexten funktionieren. Somit sind auch Hauptthemen unserer Projekte verschiedene Länder. Knut Klaßen, mit dem ich die Projekte entwickle, kommt aus der bildenden Kunst, ich komme vom Theater, die
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Tänzer vom Tanz, und dann gibt es eben Schauspieler und Performer, und diese unterschiedlichen Herangehensweisen prägen unsere Arbeit stark, so dass wir ein und dieselbe Arbeit in Kunst-, Theater- und Tanzkontexten präsentieren können. Das gibt uns die Möglichkeit, die großen Distanzen, was Disziplinen und Orte der betrifft, produktiv zu nutzen und damit so zu arbeiten, dass daraus ein Vorteil erwächst.“ (Gintersdorfer 2011)
Während in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts die freien Theatergruppen eigene Theater mit eigenen Immobilien gründeten, die sie als Alternative zum Stadttheater vor Ort verstanden, finden sich seit den ausgehenden 1990er Jahren verstärkt Organisationsformen, die sich durch eine Flexibilisierung der Arbeitsweise auszeichnen. Produktionshäuser wie Kampnagel Hamburg, das HAU Berlin oder das Forum Freies Theater Düsseldorf, aber auch kleine Häuser wie das Theaterhaus Hildesheim oder das LOFT in Leipzig bieten verschiedenen Projekten und Gruppen die Möglichkeit zur Koproduktion. Produziert wird nicht mehr für einen lokalen Kontext, sondern für verschiedene Städte und Häuser. Ausgerichtet an einem nationalen Netzwerk von Produktionshäusern und teilweise an einem internationalen Kontext von Theaterfestivals, mit wechselnden Geldgebern und unterschiedlichen Besetzungen, ist die Arbeit nicht an einen Ort gebunden und hat viele Arbeitspartner. Die vorherrschende Form dieser Arbeit ist das Projekt, das zeitlich, organisatorisch wie auch in der Form der Zusammenarbeit limitiert ist. Durch immer neue Konstellationen entwickeln sich Netzwerke zur Zusammenarbeit. Das temporäre Moment der Zusammenarbeit tritt in den Vordergrund, gesucht wird gerade nach nicht-institutionellen künstlerischen Praktiken, die es immer wieder neu zu entwickeln gilt. Vorteil einer solchen Produktionsweise ist die Flexibilität: je nach Ort, Kontext und personeller Zusammensetzung wird produziert. Es ermöglicht die Konfrontation mit immer wieder neuen künstlerischen Ansätzen. Nachteil ist eine mangelnde Nachhaltigkeit und eine fehlende Absicherung der Beteiligten. Verbindlichkeit gilt nur für den Zeitraum eines Projekts.11
11 Ein weiterer Punkt ist eine zunehmende Internationalisierung. Während in den Siebzigerjahren mit der Gründung von Theaterhäusern jenseits der etablierten traditionellen Stadttheater eine besondere lokale Verortung gesucht wurde, lässt sich eine zunehmende Internationalisierung von nicht-institutionalisierten Pro-
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Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen verabschieden mit ihrem Modell das Konzept eines Regietheaters, das einem singulären Künstlersubjekt die Autorschaft über eine Inszenierung zuerkennt. Während sie aber nach immer neuen Arbeitsformen suchen, vergleichbar mit Regiekollektiven wie Rimini Protokoll oder Auftrag:Lorey, zielen andere Performance-Kollektive darauf, das kollektive und gleichberechtigte Arbeiten als Gruppe zu institutionalisieren. 2009 veranstaltete das Festival Impulse eine Podiumsdiskussion unter der programmatischen Überschrift „Kollektive Kontroversen – gemeinschaftliche Arbeitsformen im zeitgenössischen Theater“ und reflektierte damit die in der sogenannten Freien Szene zunehmend kollektiven Organisationsformen und deren Erfolge. Dies zeigt sich auch paradigmatisch am Programm des Festivals Impulse der letzten Jahre. Viele der eingeladenen Gruppen sind kollektiv organisiert, haben keinen individuellen Regisseur – so beispielsweise Gob Squad, Showcase Beat le Mot, Monster Truck, God’s Entertainment oder eben auch She She Pop. Die Arbeitsform Kollektiv wird zu einem Markenzeichen der freien Szene – gerade in Abgrenzung zum Apparat Stadttheater und den dort verankerten Hierarchien. „[W]enn es gut läuft, vor allem, wenn wir uns die Ergebnisse im nachhinein angucken, dann stellen wir immer wieder fest, daß die Arbeit eben nur in dieser besonderen Konstellation der Gruppe möglich ist. Die Vielschichtigkeit und die Komplexität der Kultur, in der wir leben, wird gerade dadurch in unserer Arbeit reflektiert. Wir
jekten feststellen. Nicht nur Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen arbeiten mit Künstlerinnen und Künstlern aus verschiedenen Ländern, das PerformanceKollektiv Gob Squad ist halb britisch, halb deutsch besetzt und spielt in beiden Sprachen. Vor allem im Bereich des Tanzes finden sich Tänzerinnen und Tänzer aus verschiedenen Ländern in Projekten zusammen. Zahlreiche Projekte in der freien Szene werden erst durch internationale Koproduzenten ermöglicht und auf verschiedenen internationalen Festivals gezeigt werden. Diese zunehmende Internationalisierung ist auch eine Reaktion auf unzureichende Fördermittel, denn erst durch ausländische Gastspiele können die mageren Produktionsetats und die nichtvorhandene Gastspiel-Förderung in Deutschland ausgeglichen werden. Dass dies nur sehr wenigen Gruppen möglich ist, sollte nicht verschwiegen werden.
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haben ja nicht sechs identische Positionen und Geschmäcker. “ (Sean Patten, Mitglied des Performance-Kollektivs Gob Squad, zit. n. Tiedemann 1998: 35)
Anders als in den Versuchen eines kollektiven Arbeitens im experimentellen Theater der 1960er Jahre, die auf politische Selbstbestimmung in der Gemeinsamkeit des Kollektivs zielten, wird hier bewusst eine Vielstimmigkeit im Arbeitsprozess gesucht. Diese Vielstimmigkeit leitet sich aus der Erfahrung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit ab, die durch Pluralität gekennzeichnet ist. Die Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit in den Produktionen steht damit in direkter Verbindung zu der gewählten Arbeitsweise im Kollektiv. Zugleich zielt aber die Arbeitsweise auf eine größtmögliche Autonomie, die jedem Mitglied eine Autorschaft an der Inszenierung ermöglicht: „Am Ende eines Stücks haben alle, die mitgemacht haben, das Gefühl, dass es ihr Stück ist und nicht das von jemand anderem, es ist ihr eigenes Stück. Ein Haufen Leute war daran beteiligt und ihnen gehört es.“ (Squad 2010: 16) Die kollektive Arbeitsweise richtet sich bewusst gegen einen Prozess der Spezialisierung. Das Prinzip des „Selbermachens“, übertragen auf alle Bereiche der theatralen Produktion, verspricht eine möglichst große Kontrolle des Einzelnen über die Produktion. Diese Kontrolle ist nicht allein auf den Probenprozess beschränkt, sondern das Kollektiv verspricht selbstbestimmtes Arbeiten außerhalb institutionalisierter Strukturen. Ziel ist es, eine größtmögliche Unabhängigkeit gegenüber Institutionen zu erreichen. Das Kollektiv präsentiert sich in diesem Sinne als Schutzraum. Hinzu kommt die Möglichkeit einer kontinuierlichen Zusammenarbeit. Während sich in den festen Häusern die Ensemblestruktur oft aufgrund ökonomischer und struktureller Bedingungen immer mehr auflöst, arbeiten dagegen die beschriebenen Gruppen kontinuierlich seit über einem Jahrzehnt zusammen. Ein solches Verständnis des Kollektivs impliziert ein Bewusstsein für das In-Szene-Setzen von Arbeitsstrukturen, die niemals als fixiert gedacht werden, sondern beständig im Wandel sind. Die Form der Arbeit verändert sich je nach Projekt beständig. Immer wieder neu – je nach Lebensphase und Bedürfnis der Mitglieder und nach den Anforderungen, die von außen herangetragen werden – werden die Bedingungen des Produzierens verhandelt: wie kommt man zu gemeinsamen Ideen und Konzepten, wie und wann wird geprobt, wer verdient wie viel. (Vgl. Squad 2010; Sprenger 2012) Mag die schwierige ökonomische Situation des Freien Theaters wie auch
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die mangelnde Finanzierung und die wenigen Spielmöglichkeiten ein grundlegendes und immer wiederkehrendes Problem sein, die Arbeit im Kollektiv wird verstanden als eine Geste der Selbstermächtigung hinsichtlich dieser strukturellen Defizite. Dies schafft eine Form der Absicherung innerhalb der Projektstruktur, die nur zeitlich begrenzte Verbindlichkeiten schafft. (Vgl. Sprenger 2012) Angesichts der Diskussionen um die Prekarisierung der kreativen Klasse scheinen jene Potenziale des Kollektivs auf einmal neue Aktualität zu erlangen. (Vgl. Loacker 2010) Wenn also der Bundeskongress des Verbands Freier Darstellender Künste in Dresden 2011 unter der programmatischen Überschrift „Bildet Kollektive!“ steht, dann zeigt sich hier ein neues Interesse an jener Form der Zusammenarbeit. Netzwerke und temporäre Kooperationen fordern von der einzelnen Künstlerin und dem einzelnen Künstler, sich immer wieder neu Arbeit zu suchen und sich beständig selbst zu vermarkten, um sich so die anschließende Arbeitsmöglichkeit und ein neues Netzwerk zu erschließen. Diesen Anforderungen des Theaterbetriebs unterliegt ohne Frage auch das Kollektiv – doch anders als zeitlich begrenzte Organisationsformen eröffnet das kollektive Arbeiten einen Raum kontinuierlich die eigenen Bedingungen und Möglichkeiten des Produzierens zu verhandeln und zu verändern. In diesem Sinne kann ein solches Produzieren, das seine eigenen Bedingungen in Frage stellt, auch als Forschen am Theater und an gesellschaftlichen Strukturen selbst verstanden werden. Und von hier kamen und kommen auch grundlegende ästhetische Impulse für das Theater auch in den Stadttheatern: in der Frage, ob das Theater nicht auch jenseits seiner institutionell verankerten Gebäude stattfinden könne, ob es ausgebildete Schauspieler auf der Bühne brauche, ob nicht Licht und Bühne ebenso wichtig wie der Text sei, ob nicht das Theater selbst als eine besondere Form der Vermittlung zu begreifen sei. Jede dieser Fragen führt zu anderen Formen des Zusammenarbeitens im Prozess der Inszenierung: in der Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum, in der Suche nach den Darstellern, im gleichberechtigten Nebeneinander verschiedener Positionen im Produktionsprozess, im Aushandeln von Bezahlstrukturen oder in einem neu zu bestimmenden Verhältnis zum Publikum. Jenes permanente Arbeiten an den Strukturen gehört zur Ästhetik kollektiver Theaterformen und ist sein besonderes Potenzial.
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L ITERATUR Büscher, Barbara (1987): Wirklichkeitstheater, Straßentheater, Freies Theater: Entstehung und Entwicklung freier Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1968 - 76, Frankfurt am Main [u.a.]. Büscher, Barbara/Schlewitt, Carena (1991): Freies Theater. Deutschdeutsche Materialien (= Dokumentation Kulturpolitische Gesellschaft, 40), Hagen. Gintersdorfer, Monika (2011): zitiert nach dem Anhang zur „Potentialanalyse der freien Theater- und Tanzszene in Hamburg“, http://www.hamb urg.de/contentblob/3425334/data/potentialanalyse-freie-szene.pdf [21. 05.2013]. Der Anhang ist einsehbar auf http://www.agoracommsy.unihamburg.de. Eine Erklärung zum Zugang befindet sich in der „Potentialanalyse der freien Theater- und Tanzszene in Hamburg“ auf S. 5. Hartz, Matthias von/Stromberg, Tom (2009): „15 Versuche für die Zukunft des Theaters – 15 Impulse Festivals“, in: http://www.nachtkritik.de/inde x.php?option=com_content&task=view&id=3531&Itemid=84 [21.05.2013]. Hehmeyer, Kirsten/Pees, Matthias (2012): Import Export. Arbeitsbuch zum HAU Berlin, Berlin. Loacker, Bernadette (2010): kreativ prekär. Künstlerische Arbeit und Subjektivität im Postfordismus, Bielefeld. Malzacher, Florian (2013): „Arbeitsvisum oder Schnupperpass“, http://festi valimpulse.de/de/news/112/florian-malzacher-ueber-die-doppelpass-foe rderung-der-ksb-zur-zusammenarbeit-freier-gruppen-mit-theaterhaeuse rn [09.04.2013]. Sprenger, Veit (2012): „CHAOSSYSTEMSELBSTMORD“, in: Matzke/Weiler/Wortelkamp (Hg.), Das Buch von der angewandten Theaterwissenschaft, Berlin, S. 229-248. Squad, Gob (2010): Gob Squad und der unmögliche Versuch daraus klug zu werden, Berlin. Tiedemann, Katrin (1998): „Life is live. Berit Stumpf und Sean Patten im Gespräch mit Kathrin Tiedemann über die Arbeit der britisch-deutschen Live-Art Cooperative Gob Squad“, in: Therese Hörnigk/Bettina Masuch/Frank Raddatz (Hg.), TheaterKulturVision, Berlin, S. 34-38. Weihs, Angie (1981): Freies Theater – Berichte und Bilder, die zum Sehen, Lernen und Anstiften anregen, Reinbek bei Hamburg.
Die „deutsche Teilung“ „Roadmaps“ zum Strukturwandel in der Theaterlandschaft H ENNING F ÜLLE
Die deutsche Theaterlandschaft ist mit ihren Parallelsystemen „Freies“ und Stadt- und Staatstheater von einer Frontstellung zwischen diesen beiden Welten geprägt. Zwar wird seit einigen Jahren immer wieder davon gesprochen, dass sich diese Grenzen auflösten (zuletzt: vgl. Matzke 2012), doch sind Zweifel angebracht, zumindest was die Nachhaltigkeit einer solchen Konvergenzbewegung angeht. Diese Aufteilung der Theaterlandschaft hat problematische Konsequenzen für die Entwicklung von zeitgemäßen Strukturen und künstlerischen Profilen. Es ist nicht zu übersehen, dass die freien Produktionsweisen als „Innovationsmotor“ fungieren, nicht nur die ästhetische Entwicklungen betreffend: Themen, Formensprachen, Spielformen und Präsentationsformate, die sich mit dem Kulturwandel in Folge der Digitalisierung der Kommunikation auseinandersetzen; die Schaffung von Angeboten für theater- und bildungsferne Zielgruppen; die „Versorgung“ diesseits der Schwellen der immer noch auratischen Theatergebäude mit ihrem immer noch (wenn auch längst nicht mehr so stark, wie noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts) ritualisierten Verhaltensnormierungen und -kodices; partizipatorische Projekte und Projekte der kulturellen Bildung – all diese Entwicklungen gehen im Wesentlichen auf die immer schon und immer noch themen- und projektorientierten Produktionsweisen zurück, die den Kern der besonderen Produktivität des Freien Theaters ausmachen; so zu lesen in den freilich etwas holzschnittartigen Thesen des Festivalkurators Matthias von Hartz (vgl. Von Hartz 2011).
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Zunehmend werden solche neuen, zeitgenössischen Formate und Spielformen auch von Stadt- und Staatstheatern adaptiert; ihre Bedeutung wird durch Förderprogramme der Bundeskulturstiftung anerkannt und gewürdigt („Heimspiel“, „Doppelpass“), die jene Stadttheater mit zusätzlichen Finanzmitteln ausstatten, die solche Formen in ihren Strukturen umsetzen. Die Nachhaltigkeit dieser Programme in den Strukturen und längerfristigen Dauerangeboten der Stadt- und Staatstheater ist allerdings noch zu erforschen. Dabei führt aber die Getrenntheit der Parallelsysteme zum einen dazu, dass die Institutionen und Zusammenhänge auf „beiden Seiten“ letztlich um – in den letzten Jahren abnehmende – öffentliche Finanzierung konkurrieren, aber auch um Aufmerksamkeit beim Publikum und in den Medien und jedenfalls in aller Regel nicht gemeinsam für „das Theater“ arbeiten, sondern bestenfalls „nur“ getrennt voneinander, tendenziell aber sogar konkurrierend. Es kommt hinzu, dass der Sektor „Freies Theater“ immer schon und immer noch finanziell und strukturell unter höchst prekären Bedingungen zu arbeiten gezwungen ist, was seine Produktivität, Kreativität und Nachhaltigkeit beeinträchtigt.1 Vor diesem Hintergrund fordert Wolfgang Schneider: „Theaterförderung muss endlich auch einmal von Konzeptionen gedacht werden dürfen, die nicht einseitig bestehende Verhältnisse festschreiben. […] Es geht um eine Neubetrachtung der Theaterlandschaft in Deutschland, nicht um ein Entweder Oder, um Stadttheater oder Freies Theater, es geht um ein sinnvolles Neben- und Miteinander.“ (Schneider 2007: 151f.)
Dieses kulturpolitische „Konzept Theaterlandschaft“ finden wir mit zwei beispielhaften Entwicklungen in Niedersachsen mit den Theaterstädten Hildesheim und Oldenburg, die über den Status von „Blaupausen“ hinaus als „Roadmaps“ zumindest für die notwendigen Diskussionen – wenn schon nicht unmittelbar für die praktische Umsetzung – dienen können.
1
Ohne hier auf einzelne Texte einzugehen, sei zu Hintergründen und Zusammenhängen auch auf das von Bernd Wagner herausgegebene Jahrbuch für Kulturpolitik 2004, Band 4, Thema: Theaterdebatte, Essen 2004 verwiesen.
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H ISTORISCHER H INTERGRUND : DER DEUTSCHE T HEATERSONDERWEG Zunächst aber sei zum besseren Verständnis der Konstellation der TheaterParallelsysteme in Deutschland und seine gegenwärtige Formierung als kulturpolitische Handlungsgrundlage hier seine Entstehungsgeschichte kurz umrissen. (Vgl. hierzu auch: Fülle 2012) Das „Deutsche System“ der Stadtund Staatstheater, das mit ca. 150 institutionalisierten Theateranstalten mit dauerhaft beschäftigtem künstlerischen Ensemble und in Sparten organisiertem Repertoirespielbetrieb die Versorgung der Bevölkerung in nahezu allen großen Städten und Regionen gewährleistet, ist weltweit einzigartig. Doch ebenso einzigartig ist die Abgetrenntheit der seit den 1970er Jahren (zunächst in der Bundesrepublik) bestehenden „freien Theaterszene“, die in Abgrenzung und Frontstellung zum „hochkulturellen“ Theater entstanden ist. Die lange währende „monopolistische“ Festlegung des „Deutschen Systems“ auf die Form des Staats- oder Stadttheaters als des einen verbindlichen Dispositivs der verkörpernden Vermittlung dramatischer Literatur, als öffentlich verwaltete Anstalt der umfassenden Theater-Kulturversorgung und -bildung der städtischen Bevölkerung ist zwar von weltweit einzigartigem Reichtum (und soll auch mit diesen Überlegungen keinesfalls zur Abschaffung freigegeben werden!); sie ist aber ein historischer deutscher Sonderweg, der in der Weimarer Republik als späte Reform- und Modernisierungsanstrengung der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt wurde, die damit auch die gesellschaftliche Integration der Arbeiterschaft in die bürgerliche Kultur anstrebte. Dieser „Monopolismus“ des Stadt- und Staatstheatersystems, der im Nationalsozialismus im Sinne staatlich gelenkter Kulturpolitik vollendet wurde, hat nach dem Zweiten Weltkrieg de facto zu einer Abkoppelung von den internationalen künstlerischen Entwicklungen der Theaterkunst beigetragen, die Anfang der 1960er Jahre schmerzlich registriert wurde. Das hat auch die Gründung von „Theater heute“ veranlasst, deren Titel programmatisch auf das Fehlen und die Notwendigkeit „heutiger“, aktuell relevanter Theaterkunst deutete. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser normativen Fixierung ist die Herausbildung des Freien Theaters und seine eigenständige, getrennte Etablierung als Paralleluniversum zu verstehen.
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F REIE G RUPPEN – F REIE S ZENE – F REIES T HEATER Im kulturellen Milieu der Jugend- und Studentenproteste der späten Sechzigerjahre formierten sich in der Bundesrepublik erste Gruppen und Kollektive, die das Medium Theater in den Dienst gesellschaftlichen Protestes und gesellschaftlicher Veränderung stellten und dabei auch für sich selbst andere, „alternative“ – nicht hierarchische, sondern selbstbestimmte – Formen der Vergesellschaftung verwirklichen wollten. Theater für Publikumsschichten, die vom „hochkulturellen bürgerlichen Theater“ ausgeschlossen blieben – Arbeiter, Angestellte, Lehrlinge, Kinder und Jugendliche zumal aus bildungs- und (hoch)kulturfernen Schichten, „Gastarbeiter“, die ländliche Bevölkerung waren ihre „Zielgruppen“, die mit ihnen angemessenen Spiel- und Präsentationsformen, mit sie unmittelbar interessierenden Themen erreicht werden sollten. Auch ihre Organisationsformen und Produktionsweisen wurden in kritischer Abgrenzung zu den „etablierten“ Theaterstrukturen formiert: Kollektivität, Selbstbestimmung, Hierarchiefreiheit (und etwas später auch: Selbstverwirklichung der Akteure) waren zentrale (Wert-)Maßstäbe für die Entwicklung ihrer Formen. Diese neuen Gruppen und Formen, denen sich auch „dissidente“ Angehörige der traditionellen Institutionen zuwandten, die den „kulturrevolutionären“ Impulsen der gesellschaftlichen Bewegungen in ihrem eigenen Umfeld folgten, fanden zwar in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in der „Dramaturgischen Gesellschaft“ und vor allem bei der Zeitschrift „Theater heute“ eine gewisse Resonanz; sie wurden als Ausdruck eines durchaus berechtigten Aufbegehrens gegen ein als – zumal im internationalen Vergleich – ästhetisch und gesellschaftlich verkrustet wahrgenommenes bürgerliches Theater registriert. Doch die Versuche, diese Reformimpulse zu integrieren wie der „Theaterpädagogische Kongress“ in West-Berlin im Jahre 1973 und einige Debatten auf den Jahrestagungen der „Dramaturgischen Gesellschaft“ sowie einige Beiträge in „Theater heute“ zeigten kaum – geschweige denn nachhaltige – Wirkung. Auch das mit dem Anspruch der Demokratisierung lange und heftig diskutierte „Mitbestimmungsmodell“ für das Theater zerschellte mit seinem einzigen Praxisversuch in Frankfurt an seinen inneren Widersprüchen und an der Intransigenz der bürgerlichen Kulturträger. Die Etablierung eines ästhetisch und strukturell erneuerten Modells eines Ensembletheaters mit kollegialer Leitung, Ensemble-Mitbestimmung und politisch und gesell-
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schaftskritisch orientierter Dramaturgie – die „Schaubühne am Halleschen Ufer“ in West-Berlin – blieb ein einsamer, wenn auch kräftig strahlender Leuchtturm. Vielmehr schien mit der Durchsetzung von einigen Leitungswechseln in Richtung auf ästhetische Erneuerung und der „Durchsetzung“ der Generation jüngerer Regisseure (die vor allem Kurt Hübner als Intendant zunächst in Ulm, dann vor allem in Bremen gefördert hatte) der „Reformbedarf“ gestillt und das Theater den Anschluss an die gesellschaftlichen Entwicklungen gefunden zu haben. Das „System Stadttheater“ kam auf diese Weise strukturell ziemlich unbeschadet durch die Krise. Auf der anderen Seite wurden zwar punktuell einzelne Projekte aus bildungs- und sozialpolitischen Programmen finanziell unterstützt, aber die entstehende „Szene“ blieb doch vor allem auf sich selbst verwiesen. Auch wenn sich in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre bereits erste Ansätze zur Strukturbildung der Freien Gruppen nachweisen lassen – zumal im Bereich des Jugendtheaters für Schüler, Lehrlinge und Jungarbeiter – kann von einer freien Szene zunächst noch keine Rede sein. Diese bildete sich in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre in Westdeutschland heraus, eingebettet in jene „Alternativbewegung“, die in einem weit gesteckten Feld der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion neue Formen der „Vergesellschaftung“ nicht nur forderte, sondern auch zu praktizieren begann. Diesem Selbstbewusstsein, den praktischen Vollzug einer historisch notwendigen Umwälzung der kapitalistischen (als menschen- und naturfeindlich angesehenen) Verhältnisse im Sinne einer gesellschaftlichen Emanzipation voranzutreiben, entsprach auch für die freie Theaterszene jene klare und oppositionelle Abgrenzung gegenüber dem Theater der bürgerlichen Hochkultur – die eine Seite der entstehenden Frontbildung. Auf der Seite der Stadt- und Staatstheater wurden diese neuen Formen als „Theater“ meist nicht ernst genommen, galten als amateurund laienhaft, kunstfern und im besten Falle als gut gemeinte Sozialarbeit. Die weitere Entwicklung und jahrzehntelange Fixierung dieser international einzigartigen, die deutsche Theaterlandschaft prägenden Frontstellung kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden; als Stichworte zur Kennzeichnung der Entwicklungen der freien Theaterszene seien hier lediglich genannt: erste öffentlich mitgetragene Festivals in Frankfurt am Main („argumenta“, 1974/75) und München (1977-1980); die Durchsetzung von ersten eigenständigen Projekt-Förderprogrammen aus öffentlichen Mitteln
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etwa ab 1979; die Entwicklung von Infrastrukturen der freien Szene mit Spiel- und Produktionsstätten, der „Eroberung“ von Produktions- und Spielstätten in den 1980er Jahren (Kampnagel in Hamburg, Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main) sowie einer ausgedehnten Struktur von selbstorganisierter Ausbildung und Professionalisierung. Bis zum Ende der Achtzigerjahre hatte sich diese Parallelstruktur der freien Szene auf – wenn auch auf materiell prekärem Niveau – stabilisiert. Ihre weitere – vor allem künstlerische – Entwicklung wurde in den Achtziger- und Neunzigerjahren von drei Impulsen geprägt: •
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Zum einen die theaterästhetischen Impulse aus dem Ausland, wo aus weit greifenden künstlerischen Auseinandersetzungen mit den kulturellen Wirklichkeiten zur Entwicklung von neuen ästhetischen – später „postdramatisch“ genannten – klassischen Formen jenseits des dramatischen Repräsentationstheaters geschaffen wurden, die auf den ersten Festivals im Umfeld des Freien entwickelten Festivals und in den neuen Präsentationshäusern (Hamburg, Berlin) gezeigt wurden; dabei spielten die künstlerischen Entwicklungen des zeitgenössischen Tanzes eine besondere Rolle. Zum zweiten die neuen Institutionen und Studiengänge der künstlerischen Theaterausbildung – allen voran das „Institut für angewandte Theaterwissenschaften“ (gegründet 1982) in Gießen, die Gründung des Studienganges „Kulturpädagogik“ (1979) an der Universität Hildesheim und seine Neuausrichtung zu „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ und die Gründung des Regie-Studienganges an der Universität Hamburg, die in den 1990er Jahren als Kreativitätsschulen neuer zeitgenössischer „postdramatischer“ Theaterkunst zu wirken begannen. Und zum dritten die Entwicklungen des bis dahin vom Stadt- und Staatstheater als „Nische“ behandelten Kinder- und Jugendtheaters, auf das sich viele der alternativ bewegten Theaterleute spezialisierten – zumal weil auf diesem Gebiet aus bildungs- und sozialpolitischen Motiven einigermaßen stabile Förderprogramme entwickelt wurden. Hier fand eine bis in die Gegenwart wirksame Sonderentwicklung statt, in deren Folge sowohl strukturell als auch künstlerisch gleichsam „spartenbezogene“ „Theaterlandschaften“ entstanden, die viel weniger von den ansonsten dichotomischen Verhältnissen geprägt sind. Dass dabei auch die besonderen Einflüsse der Theaterkultur der DDR, in der dem
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Kinder- und Jugendtheater, aber auch dem Figuren- und Puppentheater besonderes Augenmerk gewidmet war eine bedeutsame Rolle zukam, kann hier nur am Rande vermerkt werden. Diese Entwicklungen führten zum einen zu einer strukturellen Etablierung des freien Theaters auf prekärem Niveau und bildeten auch die Grundlage für seine – etwas generalisiert formuliert – „künstlerische Emanzipation“: die Namen der Künstler bzw. Künstlergruppen, die heute für die mehr oder weniger „durchgesetzte“ künstlerische Eigenständigkeit, Berechtigung und Notwendigkeit von theaterästhetischen Formen jenseits des klassischen dramatischen Repräsentationstheaters stehen, brauchen als „übliche Verdächtige“ hier nicht mehr aufgeführt werden. Sie werden gern als „Kronzeugen“ für den eingangs erwähnten „Konvergenzdiskurs“ angeführt, der öffentlich sichtbar und wirksam seit dem Abschlussbericht der EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2007 die Auflösung der Grenzen der Paralleluniversen der deutschen Theaterlandschaft propagiert. Allerdings sind diese Näherungs- oder Konvergenztendenzen zunächst vor allem kulturpolitische Absichtserklärungen, die häufig genug dabei stehen bleiben, die Existenz der freien Theaterszene, ihre Bedeutung und Notwendigkeit anzuerkennen und ihre weitere Stabilisierung zu fordern, was aber nur sehr träge zu praktischen Konsequenzen führt. Erklärtermaßen sind die auf solche Konvergenz zielenden Förderprogramme der Kulturstiftung des Bundes – „Heimspiel“, „Doppelpass“ und in gewisser Weise im Sinne einer Internationalisierung auch „Wanderlust“ – zeitlich begrenzte Initialprogramme, deren nachhaltige Wirkungen – jenseits von „Mitnahmeeffekten“ – sich erst noch erweisen müssen.
T HEATERLANDSCHAFT N IEDERSACHSEN Vor diesem Hintergrund finden sich in Niedersachsen zwei „Modelle“, die die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des notwendigen Strukturwandels zur integralen Gestaltung von Theaterlandschaft aufzeigen können. Die Theaterstrukturen des Flächenlandes Niedersachsen als Nachkriegsgrün-
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dung2 bestehen aus den drei Staatstheatern in der Landeshauptstadt, in Braunschweig und Oldenburg, sowie aus vier Häusern in kommunaler Trägerschaft (Osnabrück, Göttingen, Celle, Lüneburg), zwei Landesbühnen (Wilhelmshaven und Hildesheim/Hannover, in der das bis 2007 bestehende Stadttheater Hildesheim aufgegangen ist) und dem Göttinger Symphonie Orchester. Das internationale Festival „Theaterformen“, das seit 1990 besteht und seit 2007 jährlich im Wechsel in Hannover bzw. Braunschweig durchgeführt wird, zählt zu den wichtigsten Veranstaltungen, auf denen in Deutschland internationale Produktionen der zeitgenössischen darstellenden Künste gezeigt werden und fungiert auch als eine Art „Transitzone“ zwischen den beiden Welten. Für die freien Gruppen und die freie Theaterszene war Hannover in der Frühzeit der 1970er Jahre ein wichtiges Zentrum. Doch vor allem die Neuausrichtung der künstlerischen und Medienstudiengänge an der Universität Hildesheim hat zu nachhaltigen Impulsen für die Entwicklung der „künstlerischen Emanzipation“ des Freien Theaters in Niedersachsen und ganz Deutschland geführt. Hierzu zählt auch das an der Universität seit 1994 in dreijährigem Abstand von Studierenden durchgeführte internationale Theater- und Performance-Festival „Transeuropa“. Der Schwerpunkt der Theaterfinanzierung des Landes Niedersachsen liegt – angesichts der zementierten deutschen Verhältnisse ist man geneigt zu sagen: „naturgemäß“ – eindeutig bei den drei Staatstheatern sowie dem Göttinger Symphonie Orchester, für die ca. 100 Millionen Euro im Landeshaushalt bereitgestellt werden (bei einem Gesamtansatz für die Theaterförderung von ca. 120 Millionen Euro). Für die freie Szene, deren Umfang im „Kulturbericht Niedersachsen 2010“ (Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur 2011) mit ca. 90 Freien Theatern angegeben wird, stehen ca. 500.000 Euro für Projekt- und ca. 300.000 Euro für mehrjährige Konzeptionsförderung zur Verfügung (ebd.: 24). Zu diesen Landesmitteln kommen weitere kommunale Fördermittel Der Kommunalisierungsgrad der Kulturförderung liegt in Niedersachsen bei knapp über 50 Prozent und damit nahe dem durchschnittlichen Mittelfeld der Bundesländer (ebd.: 16).
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In den Theaterstrukturen gingen die territorialstaatlichen Traditionen des früheren Königreiches Hannover (ab 1866 preußische Provinz) und der früheren Herzogtümer Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe auf.
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Besondere Anstrengungen oder auch nur ein Problembewusstsein im Hinblick auf die Entwicklung oder Förderung von regionalen Theaterlandschaften, in denen die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure gefördert würde, sind derzeit auf Landesebene nicht absehbar. Auch die Anlage des auf der Grundlage des Kulturberichts angesetzten Prozesses zur Erstellung eines „Kulturentwicklungskonzepts Niedersachsen“ scheint dieser Forderung nicht nachzukommen. Die Ergebnisse dieses Prozesses sollen Ende 2013 vorgelegt werden.3
D AS „H ILDESHEIMER M ODELL “ Dabei tauchte zwischen 2002 und 2007 in bundesweiten theaterpolitischen Debatten ein „Hildesheimer Modell“ auf, in dem ausgehend vom Stadttheater Hildesheim die spezifischen Potenziale des Stadttheaters, der lokalen freien Szene und der kulturwissenschaftlichen Studiengänge der Universität gebündelt werden sollten. (Vgl. Bircher 2004; Vollmer 2003) Dieses Modell, dessen Modellhaftigkeit im Sinne von Übertragbarkeit auf andere lokale Konstellationen seine Urheber aber immer wieder infrage gestellt haben, ging dabei vom Stadttheater und seiner im Jahre 2000 neu berufenen Leitung aus. Vor allem der drastisch zurückgegangene Zuspruch des Publikums bedrohte die Fortexistenz des Theaters. Der 2000 eingesetzte Intendant, der Schweizer Theaterwissenschaftler und Dramaturg Urs Bircher und sein Leitungsteam standen vor der Aufgabe, diesen Trend umzukehren oder wenigsten anzuhalten. „Wichtig scheint mir, dass wir durch unsere Arbeit die Bedürfnisse nach Theater an unserem Ort und seiner Bevölkerung so nachhaltig wecken und lebendig halten, dass diese auch in klammen Zeiten Theater als lebensnotwendig empfindet.“ (Bircher 2004: 227) Dabei grenzte er sich von vornherein von dem „anderen Weg“ der Verbesserung der Publikumsresonanz ab: „Es geht dabei nicht darum, sich populistisch dem niedrigsten gemeinsamen Geschmacksnenner anzunähern, um ein Massenpublikum zu erreichen.“ (Ebd.: 227) Vielmehr wurde gemeinsam mit der aus der „Zürcher Jugendbewegung“ stammenden Chefdramaturgin Barbara Ellenberger (und schon bald
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Siehe hierzu: http://www.mwk.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id= 29893&article_id=102975&_psmand=19 [07.07.2013].
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mit dem Absolventen der Hildesheimer Universität Jan Ivar Sellke, der als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit eingestellt wurde) ein Konzept der Kooperation von Stadttheater, der Universität „mit einer höchst innovativen praxisbezogenen Theaterwissenschaft sowie – aus diesem Kreis gespeist – einer lebhaften, qualitativ hochstehenden freien Theaterszene“ (ebd.: 228), für die vor allem Hajo Kurzenberger mit Hartwin Gromes verantwortlich war, entwickelt und auch praktisch umgesetzt: „Inzwischen gibt es ein dichtes und vielgestaltiges Netz von Kooperationen, Koproduktionen, Austauschaktivitäten, gegenseitiger Hilfestellung in Produktion, Ausstattung, technischem Support, Fundus, Werbung, Marketing und Verkauf. Nicht nur mit Universität und Freier Szene, sondern auch mit anderen Kulturträgern der Stadt bahnen sich Kooperationsprojekte an.“ (Ebd.: 229)
Dieses Modell der Kooperation zwischen Stadttheater, Universität und freier Szene wurde laut Bircher 2004 mit folgenden Aktivitäten umgesetzt: „a) eine Nachtbarreihe unter Leitung eines studentischen Mitarbeiters […], b) eine große Studententheaterproduktion […], [die] durch unsere Abonnementringe gezogen [wurde], c) eine aus Schauspielern des Stadttheaters und der Freien Szene paritätisch besetzten und finanzierten Ensemble eine aufsehenerregende Theaterproduktion im Schwurgerichtssaal […] (Regie führte der Leiter einer freien Gruppe), d) die Verabredung […] mit zwei freien Truppen [über] regelmäßige Koproduktionen im Kinder- und Jugendtheater, e) indem wir, last but not least, möglichst alle offenen Stellen im Theater (vor allem im Bereich Studioregie, Assistenz, Dramaturgie, Öffentlichkeitsarbeit) mit Personen aus der Uni oder Freien Szene besetzten. Des Weiteren versuchten wir, die Lehrpläne der Universität mit unseren Spielplänen zu koordinieren. Als das Theaterhaus, die Spielstätte der Freien Szene, aus finanziellen Gründen schließen musste, überließen wir weitgehend den ‚Freien‘ unsere Studiobühne als Exilspielstätte. Gleichzeitig erschlossen wir für das Stadttheater zahlreiche neue Außenspielstätten.“ (Ebd.: 229)
Doch dieser viel versprechende Praxisansatz endete bereits nach wenigen Jahren. Mit der Spielzeit 2007/2008 wurde nach dem Abgang von Bircher und seinem Team das Hildesheimer Stadttheater mit dem Landestheater Hannover zum „Theater für Niedersachsen Hildesheim Hannover“ (TfN)
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fusioniert, das nunmehr als Zwei-Spartenhaus mit Schauspiel und Musiktheater – mit einer eigenen Musical-Company, wie die Selbstdarstellung der TfN hervorhebt – als Landesbühne fungiert. Damit war auch das „Hildesheimer Modell“ so gut wie beendet, auch wenn es weiterhin Kooperationen zwischen dem TfN und freien Ensembles des Kinder- und Jugendtheaters gibt und „einzelne Freie Regisseure aus dem Hildesheimer Kontext im Großen Haus engagiert werden“ (Fester/Wagner 2012: 19). In der Selbstdarstellung des TfN wird es noch zitiert: „Darüber hinaus bietet das Junge Theater des TfN Kindern und Jugendlichen Theater zum Zuschauen, Anfassen und Mitmachen. Seine wertvolle theaterpädagogische Arbeit ist in der deutschsprachigen Theaterlandschaft als sogenanntes „Hildesheimer Modell“ mittlerweile zum festen Begriff geworden.“ (Stadt Hildesheim 2013)
Auch wenn diese Konzeption mit der Perspektive einer Trendumkehr für das schwindende Interesse des Publikums an „seinem“ Stadttheater entwickelt wurde, kann sie doch auch als „Blaupause“ für eine kommunale Theaterlandschaft gedacht werden, bei der es nicht länger nur um die „Versorgung“ der Bevölkerung mit dem traditionellen Bildungs- und Kulturgut „Theater“ geht. Vielmehr handelt das Konzept der Theaterlandschaft von der Schaffung von Formen und Institutionen, in denen die Künste – hier die Theaterkunst in ihren unterschiedlichen Ausprägungen – ihre Auseinandersetzung mit den „res publica“, den allgemein interessierenden gesellschaftlichen und kulturellen Themen und Fragen entwickeln und präsentieren können. Es geht um die Gestaltung von Formen der „unterhaltsamen“ Auseinandersetzung der Stadtgesellschaft mit ihren Reflexionen in den Künsten und damit letztlich mit sich selbst sowie um das Erreichen unterschiedlicher Zielgruppen der Stadtgesellschaft mit unterschiedlichen thematischen Interessen, Bedürfnissen und Rezeptionsgewohnheiten. Gegenwärtig scheint sich im Wesentlichen der Status Quo Ante „Hildesheimer Modell“ wieder hergestellt zu haben: die weitgehende Trennung der Sphären von freier Szene, die weiter in äußerster Prekarität existiert, der Universität mit ihren Medien-, Theater- und kulturpraktischen Projekten und dem ehemaligen Stadttheater, das durch die Umwidmung zum Landestheater zwar seine Fortexistenz gesichert zu haben scheint, aber um den Preis der Ablösung von seiner Funktion als Ort der Auseinandersetzung der Künste mit der Aktualität der Stadtgesellschaft. Es scheint sogar so, als entlaste sich die städtische Kulturpolitik durch den Verweis und den Rückgriff
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auf die künstlerisch lebendige Szene an der Universität von der Notwendigkeit, gleichsam „darüber hinaus“ noch verstärkte Anstrengungen um die Entwicklung der freien Theaterszene als Bestandteil der städtischen Theaterlandschaft zu unternehmen. Auch das „Theaterhaus Hildesheim“, das 1999 als selbstorganisierte Produktions- und Spielstätte der freien Szene gegründet wurde – der „Verein für freie Theaterkultur buffo e.V.“ bestand schon seit 1990 – wird lediglich aus Landesmitteln bezuschusst. Die ursprünglich aufgebaute Infrastruktur musste 2001 aufgegeben werden und nach der Episode der „Exilspielstätte“ im Studio des Stadttheaters während der Intendanz Urs Birchers wurde 2002 ein neuer Raum gefunden; aber erst seit 2005 hat eine neue Generation von jungen Theatermachern die Regie übernommen und kann eine begrenzte Infrastruktur (Raum, Beratung, Marketing) seit 2007 mit einer Konzeptionsförderung des Landes („Spitzenförderung für freies Theater und Tanz“) professionell am Leben erhalten. (Vgl. Theaterhaus Hildesheim 2012) Die Stadt engagiert sich gemeinsam mit einer Stiftung mit 40.000 Euro an Projektmitteln pro Jahr, die sich auf bis zu 15 Einzelprojekte verteilen (vgl. Theaterhaus Hildesheim 2012: 10). Die im Theaterhaus vertretene freie Szene – der Verein hat derzeit ca. 30 korporative Mitglieder (vgl. Theaterhaus Hildesheim 2012: 59) – entwickelt sich zweifellos vor allem aus den Impulsen der stark praxis- und projektorientierten universitären kulturwissenschaftlichen Studiengänge, aus denen sich immer wieder Gruppen von jungen Künstlern bilden, die sich der Theaterpraxis zuwenden und dabei neben der Universität selbst in der Stadt ihr Publikum suchen und finden. Jedoch sind der grundsätzlich transitorische Charakter der Studienzeit und die höchst prekären Produktionsbedingungen in Zusammenhang mit der Zurückhaltung der städtischen Kulturpolitik kaum eine Grundlage für eine nachhaltig stabile Entwicklung in diesem Feld. Auch wenn mit der Besetzung der Leitung und des Lehrkörpers des Instituts für Medien, Theater und populäre Kultur an der Universität mit jungen Wissenschaftlern, die biografisch akademische Qualifizierung und theaterpraktische Erfahrung verbinden, eine Grundlage für eine längerfristige Kontinuität immer wieder innovativer Impulse geschaffen wurde, findet deren Bedeutung für die Stadt ihre Grenze in der „Verweildauer“ der Mehrzahl der Studierenden, die inzwischen wegen des spezifischen Angebotes aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und auch aus dem Ausland nach Hildesheim kommen.
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Hier hätte eine zukunftsorientierte Kulturpolitik die Aufgabe, im Sinne einer Entwicklung der städtischen und regionalen Theaterlandschaft die Impulse des ursprünglichen „Hildesheimer Modells“ als kommunale Aufgabe anzunehmen, wofür es aber derzeit keine Anzeichen gibt. So wurde hier ein kräftiger Ansatz der Neugestaltung der Theaterlandschaft aufgegeben, der vor allem die Impulse aus der freien Theaterszene und der jungen Medien- und Kulturwissenschaften aufnehmen und die traditionellen Strukturen im Sinne dieser Öffnung verändern wollte, der aber offenbar von der städtischen Kulturpolitik nicht mitgetragen wurde. Statt dessen wurde das Hildesheimer Stadttheater mit der Landesbühne Hannover fusioniert und zu einem Landestheater zur „Flächenversorgung“ gleichsam „downgegraded“ – was aber immerhin zu seiner Erhaltung als wichtiger Bestandteil der niedersächsischen Theaterlandschaft geführt hat.
K ÜNSTLERISCHE E RNEUERUNG IN „ KOORDINIERTER K OEXISTENZ “ Anders als in Hildesheim ist in Oldenburg tatsächlich aus einer gezielten kulturpolitischen Entwicklung eine Theaterlandschaft entstanden, die aus dem Staatstheater und differenzierten Strukturen des Freien Theaters besteht, und die ein breites, lokal produziertes Theaterangebot und Impulse zeitgenössischer künstlerischer Erneuerung ermöglicht. Neben dem Staatstheater, das bereits im 17. Jahrhundert gegründet und 1842 als Großherzogliches Hoftheater anerkannt wurde, finden sich in der Stadt fünf Produktions- und Präsentationsstätten für Freies Theater mit unterschiedlichen Schwerpunkten, was die ästhetischen Profile und die Zielgruppen angeht. Einen Sonderfall bildet darüber hinaus die August-Hinrichs-Bühne, die aus einer Laienspielgruppe für niederdeutsches Theater hervorgegangen ist und als Sparte des Staatstheaters arbeitet. Der „Masterplan Kultur in der Stadt Oldenburg“, der im Mai 2007 nach einem mehr als zweijährigen Beratungsprozess zwischen Rat, Verwaltung sowie Akteuren aus der Kultur, dem Bildungswesen und der Wirtschaft vom Rat der Stadt verabschiedet wurde, legt im eigenständigen Kapitel zu den „Darstellenden Künsten“ (was wohl als zeitbewusste Begriffswahl zu verstehen ist) neben der Betonung des Wertes und der Notwendigkeit des Erhaltes der „besonders großen Vielfalt […], die es in vergleichbaren Städten so nicht gibt“ (Kulturdezernat Oldenburg 2007: 21f.), starkes Gewicht
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auf Strategien der „Zusammenarbeit aller Akteure“ (ebd.: 22). „Dabei ist besonderes Augenmerk auf die institutionsübergreifenden thematischen Projekte zu legen, die für einzelne Einrichtungen finanziell und personell nicht zu leisten sind.“ (Ebd.: 22) Weiterhin wird betont, dass sich neben dem Staatstheater, dem „zentralen Ort für Theater“, „in den letzten 20 Jahren die Freie Theaterszene mit eigenen Häusern etabliert und neue Zuschauergruppen erschlossen“ habe; „hervorzuheben sind insbesondere Produktionen für Kinder und Jugendliche.“ (Ebd.: 21) Als besondere Rolle der Kulturverwaltung in der Umsetzung der in dem Masterplan aufgestellten Ziele wird deren Konzentration auf die Stärkung der Zusammenarbeit der Akteure untereinander hervorgehoben: „Dazu richtet sie einen regelmäßig tagenden Runden Tisch der mindestens einmal im Jahr zusammengerufen wird, ein.“ (Ebd.: 22) Und den Akteuren wird die gemeinsame Entwicklung eines Marketingkonzeptes aufgegeben. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Oldenburger Theaterlandschaft, so scheint es, als sei diese Konzeption – wie sie auf in der Regel „geduldigem Papier“, das häufig genug auch unausgetragene Interessendifferenzen und -widersprüche in auf die wolkige Ebene von Allgemeinheiten, Formelkompromissen und Absichtserklärungen verschiebt – tatsächlich praktisch wirksame Leitlinie für die Gestaltung der Kultur- und hier speziell der Theaterlandschaft. Das Staatstheater selbst ist ein Sechs-Sparten-Haus in öffentlicher Trägerschaft (Landesanteil: 75 Prozent) mit Programmen in den Bereichen Musiktheater (Oper/Operette/Musical), Schauspiel, Tanztheater/Ballett, Konzert, Kinder- und Jugendtheater sowie niederdeutschem Schauspiel (mit der August-Hinrichs-Bühne, s.u.). Daneben bestehen in der Stadt in ländlicher Randlage mit ca. 160.000 Einwohnern, mit wenig Industrie und einer kleinen bis mittelgroßen jungen, im Jahr 1970 gegründeten Universität (ca. 12.000 Studierende) allein fünf Produktions- und Präsentationshäuser für Freies Theater, die von der Stadt mit einer regelmäßigen finanziellen Grundförderung ausgestattet und unterschiedlich profiliert sind. Das älteste dieser Häuser ist die „Kulturetage“, das als sozio-kulturelles Zentrum mit Kino und Konzertbetrieb konzipiert ist und das u.a. durch den heutigen Direktor der Tanzsparte des Staatstheaters, Honne Dohrmann mit aufgebaut wurde. Der Theaterbetrieb in der „Kulturetage“ (siehe http://www.kultur etage.de und http://www.kulturetage.de/?id=1--x-----10006----0-) wird vor allem durch Produktionen des eigenen Ensembles („k-produktionen“) ge-
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tragen, umfasst aber auch die Einladung von auswärtigen Gastspielen. Die Kulturetage erhält seit 2011 (in diesem Jahr wurde im Rahmen eines „Haushaltssicherungskonzeptes“ eine fünfprozentige Kürzung des Zuschusses beschlossen) etwas mehr als 232.000 Euro sowie zusätzlich 90.000 Euro für die Veranstaltung des „Kultursommers“. (Auch diese Zuwendung war von der Kürzung in 2011 betroffen.) Zwei weitere Häuser, die ebenfalls als produzierende geführt werden, erhalten knapp unter 30.000 Euro („theater wrede+“, http://www.theaterwrede.de/, „Theater Laboratorium“, http://www.theater-laboratorium.org/) bzw. knapp 43.000 Euro („theaterhof/19“, http://www.theaterhof19.de/). Das fünfte Haus, das Studententheater „UNIKUM“ wird vom universitären Studentenwerk getragen. (Vgl. Stadt Oldenburg 2011: 53/55) Neben der kommunalen Förderung erhalten die vier „städtischen“ Häuser auch Mittel vom Land Niedersachsen. Damit besteht in Oldenburg neben dem Staatstheater in der Tat eine „vielfältige“, stabile und lebensfähige Struktur selbst produzierender freier Theaterhäuser. Das Staatstheater wiederum, das zu 75 Prozent vom Land Niedersachsen finanziert wird und auf dessen Personal- und Programmentscheidungen die Stadt demzufolge wenig Einfluss hat, wartet neben seinem weitgesteckten Produktions- und Programmangebot mit einer Besonderheit auf: Im Jahr 2006, in der Intendanz Markus Müllers wurde die seit 1920 bestehende niederdeutsche Laienbühne, die bereits 1923 als „Niederdeutsche Bühne“ dem damaligen Oldenburger Landestheater angegliedert worden und 1939 nach ihrem langjährigen „Freund, Förderer und literarischen Begleiter“ in „August-Hinrichs-Bühne“ umbenannt worden war, zu einer „eigenen Sparte ‚Niederdeutsches Schauspiel‘ am Oldenburgischen Staatstheater“ (August-Hinrichs-Bühne 2013). Diese Entscheidung, die zweifellos auf die Umsetzung der Forderung von Angebotsvielfalt als Ausgangspunkt für das Erreichen breiter, unterschiedlicher Publikumsschichten für das Theater zielt, kann als paradigmatisch für die auf die verantwortliche (Mit-)Gestaltung der Oldenburger Theaterlandschaft gelten, die vom Staatstheater unter Müllers Intendanz betrieben wurde.
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O LDENBURG GIBT SICH ZEITGENÖSSISCH UND INTERNATIONAL Mit dem biennalen Festival „PAZZ“, das unter der Leitung von Markus Müller selbst sowie Thomas Kraus als künstlerischem Direktor 2012 zum dritten und vorerst letzten Male veranstaltet wurde, entwickelte das Staatstheater nicht nur in der Stadt ein Fenster für die Entwicklungen „junger“ zeitgenössischer Darstellender Künste in Deutschland und international. Vielmehr ermöglichten der Charakter des „Arbeitsfestivals“, die Einrichtung von Begegnungsorten zwischen beteiligten Künstlern, Publikum und Experten („Container City“) und die Programmierung von Stadtinterventionen für das städtische Publikum und natürlich auch die Theaterakteure in der Stadt neben einer besonderen Bindung auch Reflexionsräume zur Entwicklung der eigenen künstlerischen Wahrnehmung und Praxis im Sinne des weit greifenden zeitgenössischen Theaterbegriffs: „Es geht dabei um das, worum es im Theater immer geht: den Versuch, die Welt durch Kunst zu begreifen.“ (Oldenburgisches Staatstheater 2012: 2) Auch die „internationale Vernetzung des Hauses“ sowie der „intensive Austausch zwischen Künstlern, Zuschauern und Experten“ und die Aufhebung der „Grenzen zwischen Zuschauern und Experten“ werden mit der Konzeption als Arbeitsfestival umgesetzt. Das Festival funktioniert damit als „Transitzone“ für nationale und internationale Impulse zeitgenössischer Theaterkunst, ohne dass das Staatstheater damit dieses Feld dauerhaft besetzen und damit den freien Häusern Konkurrenz machen würde. Ähnliches gilt auch für die internationalen Tanztheatertage, die allerdings auf eine längere Tradition zurückblicken. Im Jahr 2013 wurden sie in der elften Auflage durchgeführt, geleitet durch den Direktor der Tanzsparte, Honne Dohrmann, der als Mitbegründer und langjähriger Leiter der Oldenburger Kulturetage und zwischenzeitlich als Dramaturg und Kurator des Tanzprogramms von Kampnagel Hamburg während der Intendanz Gordana Vnuks 2001 bis 2007 aus der freien Szene stammt. Hier ist das internationale, künstlerisch ebenfalls auf Zeitgenossenschaft angelegte Gastspielprogramm durch offene Workshop-Angebote mit beteiligten Künstlern und Companies angereichert sowie einem „Dance Walk“, einer auf Tanz und Choreografie orientierten Stadtführung, die zwar als Marketingmaßnahme verstanden werden kann, die aber eben auch die Neugier, Sensibilität und Empfänglichkeit von Publikum für zeitgenössische choreografische Kunst
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und Wahrnehmung entwickeln hilft und damit auch Zugänge für neue Publikumsschichten eröffnet. Auch für das Feld des Kinder- und Jugendtheaters ging von der Generalintendanz Markus Müllers am Staatstheater ein grundlegender Impuls aus. Er richtete eine eigene Sparte „Junges Staatstheater“ (JuSt) ein. Neben einem umfangreichen Produktionsprogramm von Kinder- und Jugendtheater-Arbeiten werden in der Sparte auch theaterpraktische Projekte angeboten sowie als Festival-Format die Jugendtheatertage. Deren Arbeit hat laut Selbstdarstellung folgendes Ziel: „Künstlerische Prozesse mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu initiieren und zu formen gehört zum Selbstverständnis der Theaterpädagogik. Über das theaterpraktische Experimentieren und unseren zahlreichen Projekten vermitteln wir Erfahrungen mit dem Theater – als Tätige, Fragende und als Erlebende. Deshalb regen wir an zum Mitmachen, Forschen und Entdecken.“ (Oldenburgisches Staatstheater 2013a)
Dabei bildet das Festival „Oldenburger Jugendtheatertage“ „den jährlichen Höhepunkt der theaterpädagogischen Netzwerkarbeit von Schulen, freien Jugendtheatergruppen, der Evangelischen Akademie Oldenburg und dem Jungen Staatstheater. Sie sind Plattform für Theaterarbeiten mit Jugendlichen und fördern die inhaltliche Auseinandersetzung mit der eigenen künstlerischen Arbeit in Diskussionen, Publikumsgesprächen und Workshops. Auch 2013 laden wir Jugendtheatergruppen der Stadt und des Landes Oldenburg ein, sich mit ihren Arbeiten auf der Bühne der Exerzierhalle am Pferdemarkt einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Gezeigt werden können kurze Theaterszenen, Improvisationen, szenische Lesungen, klassisches oder zeitgenössisches Theater und eigene Stückentwicklungen. Den Jugendtheatertagen geht ein intensiver Arbeitsaustausch voraus: Die eingeladenen Theatergruppen übernehmen gegenseitig Patenschaften, unterstützen sich bei der Suche und Entwicklung von dramatischen Stoffen oder Themen, beraten sich bei der praktischen Umsetzung und treten darüber in einen Dialog, was Theater(arbeit) ausmacht.“ (Oldenburgisches Staatstheater 2013b)
Diese Aktivitäten können im Hinblick auf die Wahrnehmung des Staatstheaters, seiner Rolle und seiner Funktionen in der städtischen Theaterlandschaft als vorbildlich angesehen werden; es ist lediglich zu fragen, wie sich diese Aktivitäten auf die freie Szene auswirken und wie sie von dieser
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wahrgenommen werden. Die Hypothese „Konkurrenz belebt das Geschäft und nützt im Zweifel allen“, mag angesichts der massiven institutionellen Asymmetrien anders gesehen werden; und die Frage, ob und in welchem Umfang tatsächlich Zusammenarbeit und Absprachen funktionieren (Runder Tisch, Marketingkonzept) ist noch zu klären. In diesem „Modell“ fungiert das Staatstheater sowohl als „Grundversorger“ für die Sparten des traditionellen Repertoires bis hin zur Spezialität des Niederdeutschen Schauspiels, aber auch – vor allem durch die Festivals – als Impulsgeber für künstlerische Innovation und für genreübergreifende Bespielung des öffentlichen Raums. Die freien Häuser als Strukturen, in denen die spezifischen Produktionsweisen des Freien Theaters relativ stabile und kontinuierliche Arbeitsmöglichkeiten finden, produzieren ein breites Angebot zu zeitgenössischen Theatertexten, thematisch aktuellen Projekten, genreübergreifenden und experimentellen Spielformen und anspruchsvoller Unterhaltung bei niedrigschwelligen Zugängen. Dabei sind die örtlichen Festivalformate sowohl auf Kontextualisierung in die nationalen und internationalen künstlerischen Entwicklungen als auch auf eine Impulsfunktion für das Publikum und die lokalen Künstler ausgerichtet.
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F ÜRTH
Ein besonderes Beispiel für den gezielten Strukturwandel eines Stadttheaters im Hinblick auf die Entwicklung von Produktionsweisen und Präsentationsformen jenseits des traditionellen Sparten-, Ensemble- und Repertoirebetriebes findet merkwürdigerweise kaum größere öffentliche Resonanz jenseits seines regionalen Einzugsgebietes: Das Stadttheater Fürth, das seit 1990 unter der künstlerischen Leitung von Werner Müller ein „Modell“ praktiziert, das dem der Produktionshäuser des Freien Theaters zumindest ähnelt. Zur Vorgeschichte dieser Entwicklung gehört es, dass das Stadttheater Fürth, das 1902 unter starker Beteiligung der Fürther Bürgerschaft (vgl. Müller 2004: 219) erbaut und 1920 in städtische Verwaltung übergegangen und im Rahmen eines Theatervertrages mit der Nachbarstadt Nürnberg betrieben worden war. Dieser Vertrag wurde 1933 nicht verlängert. Die Stadt Fürth zog es vor, das Theater selbstständig zu betreiben und verzichtete
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damit sogar auf einen (geringfügig) höheren Zuschuss aus Nürnberg. (Vgl. Stadttheater Fürth 2013a) Diese Situation wiederholte sich im Jahr 1970. Nach einer Phase von 1945 bis 1952, in der das Theater als Kino für die amerikanischen Besatzungssoldaten fungierte und in der die Theatergemeinschaft mit Nürnberg wiederbelebt worden war, wurde es in dieser Gemeinschaft von Nürnberg aus bespielt. Mit dem Auslaufen des entsprechenden Vertrages entschied sich die Stadt wiederum für die Selbstständigkeit ihres Theaters – und zwar vor dem Hintergrund einer erheblichen „Zuschauerkrise“, die „durch die Organisationsform des selbstständigen Gastspielbetriebes“ (ebd.) überwunden werden sollte. Bei dieser Entscheidung für die Selbstständigkeit spielte das starke Engagement des 1969 gegründeten Vereins „Freunde des Fürther Theaters“, der die Tradition des Bürgerengagements („Theatercomité“) beim Bau des Theaters 1902 aufnahm, eine zentrale Rolle. (Vgl. Stadttheater Fürth 2013b; Müller 2004: 219) Als Werner Müller das Haus 1990 übernahm, trat er mit einem „DreiStufen-Modell“ an, das darauf basierte, dass das Haus eben über kein eigenes Ensemble verfügte und neben den Gastspielen vom Nürnberger Theater bespielt wurde, was in Fürth zu vielerlei Verstimmung und Publikumszurückhaltung geführt hatte. Dieses Modell sah einen Entwicklungsprozess vor, der von einem profilierten Gastspielprogramm – anstelle der Tourneebühnen wurden Arbeiten des Deutschen Theaters Berlin, der Münchner Kammerspiele, der Bayrischen Staatstheater, der Schauspielhäuser Hamburg, Frankfurt am Main und Stuttgart sowie des Theaters an der Ruhr gezeigt und hier kontinuierliche Partnerschaften auch in den Sparten Musiktheater und Tanz/Ballett entwickelt – zu einer „Integration freier und innovativer Ensembles im Rahmen von Koproduktionen oder durch die Vergabe von Auftragswerken“ (Müller 2004: 222) und schließlich ab der Spielzeit 1994/95 zu ein bis zwei Eigenproduktionen – seit 2002/2003 bis zu sechs pro Spielzeit – des Hauses führte. Dieses Modell, das die Arbeit der regionalen/örtlichen freien Ensembles „Czurda-Tanztheater Fürth“, „Pocket Opera Company Nürnberg“ und im Bereich Kinder- und Jugendtheater der Nürnberger Ensembles „Mummpitz“ und „Pfütze“ integrierte, kompensiert offenbar das „Fehlen“ eines „eigenen festen Ensembles“ (das wird immer wieder als zentrales Argument für die unbedingte Notwendigkeit des Ensembletheaters angeführt: die „Stadt“ wolle „ihre“ Schauspieler kontinuierlich auf der Bühne sehen)
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durch hochwertige und längerfristig kontinuierliche künstlerische Profilbildung mit in Gastspielen, Ko- und Eigenproduktionen. Und anstelle eines „eigenen Ensembles“ hatte sich bis 2004 ein „Pool“ von künstlerischem Personal, insgesamt ca. 70 Regisseure, Dramaturgen, Ausstatter, Assistenten, Schauspieler, Sänger, Musiker und Tänzer, die mit Stück- und Zeitverträgen beschäftigt werden und mit denen „so kontinuierlich wie möglich“ (Müller 2004: 224) zusammengearbeitet wird. Der Theaterbetrieb umfasst dabei insgesamt knapp 30 Stellen: Technische Leitung, je zwei Bühnen- und Beleuchtungsmeister, ein Tonmeister, sechs Bühnen- und drei Beleuchtungstechniker, zwei Mitarbeiterinnen der Kostümabteilung/Schneiderei, vier Mitarbeiter im Vorderhaus sowie neben dem Intendanten fünf Mitarbeiter im Bereich der künstlerischen Administration und den Pförtner. (Vgl. Stadttheater Fürth 2013c) Die Spielplanung für die Spielzeit 2013/2014 weist acht Neuproduktionen des Theaters auf, davon zwei Koproduktionen (Kinder der Sonne von Gorki mit der „Bagaasch Ensemblebühne Fürth“ und die Uraufführung von Zu Hause Mokupoku oder die wahrste Lügenschgeschichte der Welt, ein Kinderstück von Sophie Linnenbaum und Thomas Klischke mit dem Fränkischen Theater Schloss Maßbach), fünf Eigenproduktionen im Schauspiel und ein Musical. Unter den zur Wiederaufnahme vorgesehenen Arbeiten finden sich je eine Koproduktion mit den Kinder- und Jugendtheaterensembles „Pfütze“ und „Mummpitz“ aus Nürnberg, ein „Chansonkabarett“, eine „Expedition für zwei Schauspieler und Ein-Mann-Orchester“, ein „Generationen-Tanz-Theater-Projekt“, ein Schauspielabend und ein Klassenzimmerstück. (Vgl. Stadttheater Fürth 2013d) Neben dem Stammhaus wird seit 2004 auch das „Kulturforum Fürth“ bespielt (sieben der für 2013/14 vorgesehenen Produktionen finden hier statt), das ab 2000 durch die Stadt Fürth und die neu gegründete „Kulturstiftung Fürth“ zu dem auf dem ehemaligen Schlachthofgelände bestehenden soziokulturellen Zentrum ausgebaut wurde. Hier werden „spartenübergreifende und experimentelle Formen (ausprobiert und präsentiert), die offener und öffentlicher als in der grundsätzlich hermetischen Atmosphäre eines im besten Sinn tradierten Guckkasten-Theaters.“ (Müller 2004: 225) Insgesamt bietet dieses Theatermodell für eine kleine Großstadt (ca. 115.000 Einwohner – mit Nürnberg in nächster und Erlangen in näherer Nachbarschaft) ein umfassendes Angebot zeitgenössischen Theaters, das für 172 Veranstaltungen mit ca. 90.000 Besuchern im Jahr 2011 knapp
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vierzig Prozent seines Gesamtbudgets aus Einspielerlösen erwirtschaftet und damit seit Jahren an der Spitze der entsprechenden Statistik des Deutschen Bühnenvereins steht. (Vgl. Amt für Stadtforschung und Statistik für Nürnberg und Fürth 2013)
S TADTTHEATER – F REIES T HEATER – T HEATERLANDSCHAFT Während das „Hildesheimer Modell“ auf eine Bündelung der Ressourcen von Stadttheater, freier Szene und der kulturwissenschaftlichen Studiengänge der Universität zielte und in Oldenburg im Zusammenwirken von kommunaler Kulturpolitik und Staatstheater eine innovationsfreundliche Koexistenz von freien Ensembles und dem Repertoirebetrieb organisiert wurde, die eine vielgestaltige Theaterlandschaft für Stadt und Region im Blick hat, zeigt die Entwicklung in Fürth ein grundlegend verändertes Strukturmodell eines Stadttheaters. Dessen Arbeitsweise ähnelt zumindest der eines „Produktionshauses“ des Freien Theaters: Ohne festes Ensemble und mit minimalem Personalaufwand wird aus Eigen- und Koproduktionen sowie Gastspielen ein künstlerisch und thematisch anspruchsvolles und profiliertes Theaterprogramm gestaltet. Dabei „genießt Theaterpädagogik in Fürth einen besonderen Stellenwert. Neben umfangreicher Kinder- und Jugendarbeit bietet das Bürgertheater ‚brückenbau‘ zahlreiche Möglichkeiten, Theater unter professioneller Anleitung in allen Facetten zu erfahren und selbst zu erarbeiten“ (Appoldt 2013).
Um seine Bedeutung für die Theaterlandschaft präziser zu bestimmen, wäre zwar die gesamte Region mit Nürnberg und Erlangen zu untersuchen, doch ist deutlich, dass dieses Modell als kulturelle Identifikation stiftende Institution in der Stadt angenommen wird. Ein Theaterverein mit ca. 2000 Mitgliedern und ein Abonnentenstamm von ca. 7000 Nutzern und eine durchschnittliche Auslastung von über 80 Prozent sprechen für seine Funktion als funktionierender kultureller Mittelpunkt der Stadt, der von einem „umfassenden und nachhaltigen Konsens der (kommunalen) Kulturpolitik“ (Müller 2004: 226) getragen wird. Auch wenn die längerfristige Wirksamkeit der Oldenburger „koordinierten Koexistenz“ von Freien Theatern und Staatstheater hier nicht ab-
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schließend beurteilt werden kann – das sollte der Wirkungsforschung überlassen bleiben und nicht interessierten Spekulationen anheim gestellt – lassen sich doch im Hinblick auf die Entwicklung von Theaterlandschaft einige Feststellungen treffen. Weder die Kulturverwaltung noch der in der Regel größte Akteur, das örtliche Stadt- oder Staatstheater können allein eine solche Konzeption umsetzungsfähig entwickeln; die Verständigung über gemeinsame Ziele und differierende Interessen ist vielmehr von zentraler Bedeutung. Und was die Umsetzung angeht, so ist es entscheidend, dass der gewichtigste Akteur vor Ort sie sowohl im Hinblick auf die aktive Förderung, als auch was die (abgestimmte) Begrenzung seiner Aktivitäten angeht, bewusst in Abwägung zwischen seinen institutionellen Interessen und den gemeinsamen Zielen agiert. Dass Theater weit mehr ist, als der klassische Repertoirespielplan eines deutschen Stadt- oder Staatstheaters, diese Erkenntnis hat sich nicht zuletzt durch die in Folge der künstlerischen Emanzipation des Freien Theaters hervorgebrachten künstlerischen Spielformen und Formate weitgehend durchgesetzt. Sie realisiert sich in der Ausweitung der Spielprogramme auch kleiner und mittlerer Häuser, auch in der „Provinz“ und durch das Engagement von einzelnen, besonders und auch international „erfolgreichen“ Künstlergruppen des Freien Theaters an Stadt- und Staatstheatern. Dass aber diese wegen der schwindenden Bindungskräfte des traditionellen Kulturgutes Theater so dringend nötigen Innovationen aus einer vom Repertoire- und Ensemblebetrieb der „Volltheater“ unterschiedenen „freien“ künstlerischen Produktionsweise hervorgebracht wurden und werden, diese Erkenntnis hat sich keineswegs durchgesetzt. Die holzschnittartige Vorstellung, die „Freien“ seien das Probierfeld für Experimente und Nachwuchs, aus dem die Erfolgreichen an den Häusern aufgenommen würden, führt dazu, dass sich dort die Produktionsstrukturen kaum – oder nur punktuell und sehr träge – verändern. Auch sehr holzschnittartig formuliert: das Innovationspotenzial des freien Theaters bleibt damit getrennt vom Kernbereich der Theaterlandschaft und fristet sein Dasein unter höchst prekären Verhältnissen, sieht man einmal von den inzwischen doch recht gut entwickelten Ausbildungsstätten ab, in denen neue künstlerische Formen zum Standard geworden sind. Bislang hat es die Kulturpolitik versäumt, diese Themen der Getrenntheit der Paralleluniversen der deutschen Theaterlandschaft und der Prekarität der Existenz- und Arbeitsbedingungen zeitgenössischer künstlerischer
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Produktionsweisen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, was auch angesichts der Finanzprobleme der Kulturhaushalte rasch zu fatalen Ergebnissen führen könnte. Den warmen Worten der Anerkennung des Freien Theaters müssten längst Taten folgen, die sich vor allem darauf richten müssen, nicht nur dessen Bestand und Perspektive zu sichern, sondern vor allem darauf, die Strukturen der „Anstalten“ für die Produktion zeitgenössischer Formen der Theaterkunst zu öffnen und die Verteilung der Finanzmittel im Sinne einer Gestaltung von Theaterlandschaft(en) zu reorganisieren, die den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Publikumsschichten Rechnung trägt; oder anders gesagt die Möglichkeiten der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt im Großen und Kleinen möglichst umfassend zugänglich macht. Zumal das ursprüngliche „Hildesheimer“ und das praktizierte „Fürther“ Modell, aber auch die in Oldenburg geschaffenen Verhältnisse könnten für diese Aufgabe richtungweisend sein. Allerdings haben in der jüngeren Gegenwart auch die krisenhafte Entwicklung der Staats- und vor allem der Kommunalfinanzen, die die Fortexistenz des „Deutschen Systems“ der Stadt- und Staatstheaters in seinem Kern und in seiner gesamten Auslegung zunehmend bedrohen, aber auch die Erfolge der spezifischen ästhetischen Formatierungen und Präsentationsformen, die in der freien Szene entwickelt wurden, in vielen Stadt- und Staatstheatern auch zu Anstrengungen einer Öffnung des Angebotsspektrums der Institutionen geführt. Partizipatorische Formate, performative Spielformen, genreübergreifende Projekte sowie die Etablierung von diskursiven und festlichen Formen zielen auf eine stärkere Rückbindung der Theater an die Gesellschaft mit ihren aktuell bezogenen Kommunikationsund auch Unterhaltungsbedürfnissen – mit der Perspektive der (Wieder-)Gewinnung einer Funktion als öffentliche Orte der Kultivierung und der künstlerischen Auseinandersetzung in der Gesellschaft. Die Reich- und Tragweite dieser Entwicklungen lassen sich bislang noch nicht verlässlich abschätzen. Die Bewegungen zur Abwehr von haushaltspolitischen und betriebswirtschaftlich inspirierten Existenzbedrohungen von Stadt- und Staatstheatern jenseits der „Leuchttürme“ scheinen derzeit noch stärker ausgeprägt, als das offensive Momentum zur öffnenden Reformierung von Strukturen und Angebotsspektrum der Theateranstalten. Gleichwohl ist im System Bewegung zu verzeichnen. Die Herausbildung der freien Szene in den 1970er Jahren war – neben ihrer originären Anknüpfung an den politischen und kulturellen Protest – in
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diesem Sinne auch ein Reflex auf diesen Modernisierungsrückstand des Theatersystems in Inhalten, Ästhetik und Strukturen. Ihre Entwicklung bis hin zu ihrer künstlerischen Emanzipation zumal im Feld des Kinder- und Jugendtheaters hat nunmehr die Voraussetzungen für eine Horizonterweiterung des theaterpolitischen Denkens, Planens und Entwickelns in Richtung auf die Gestaltung der Theaterlandschaften geschaffen – wobei die Fiskalkrisen und ihre häufig reflexhaften Abwehrreaktionen der Betroffenen auf die Zumutungen von Einsparungen, Fusionierungs- und Abschaffungsplänen diese notwendigen Diskussionen keinesfalls „automatisch“ erleichtern.
L ITERATUR Amt für Stadtforschung und Statistik für Nürnberg und Fürth (Hg.) (2013): Fürth in Zahlen, Nürnberg, http://www.fuerth.de/Portaldata/1/Resourc es/wirtschaft/dokumente/2013/fuerth_in_zahlen_2013.pdf [24.07.2013]. Appoldt, Simone (Hg.) (2013): „FürthFaktor. Der kulturelle Mittelpunkt unserer Stadt“, http://www.fuerthfaktor.de/stadttheater.php [25.07. 2013]. August-Hinrichs-Bühne (Hg.) (2013): „Geschichte“, http://www.ahboldenburg.de/index.php?option=com_content&view=article&id=82&It emid=478 [07.07.2013]. Bircher, Urs (2004): „Innovation durch Kooperation. Informationen zum so genannten Hildesheimer Modell“, in: Wagner, Bernd (Hg. für das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft): Jahrbuch für Kulturpolitik 2004, Band 4, Thema: Theaterdebatte, Bonn, S. 227-230. Fester, Andreas/Wagner, Lene (2012): „Freies Theater in der Stadt“, in: Theaterhaus Hildesheim (Hg.): Freizeichen. Das Hildesheimer Phänomen Freies Theater. Eine Annäherung, Hildesheim, S. 8-10. Fülle, Henning (2012): „Freies Theater – Worüber reden wir eigentlich?“, auf www.festivalimpulse.de [07.07.2013]. Kulturdezernat Oldenburg (Hg.) (2007): Masterplan Kultur in der Stadt Oldenburg, Oldenburg. Matzke, Annemarie (2012): „Hildesheimer Thesen V – Das Freie Theater gibt es nicht. Jenseits des Freien Theaters, http://www.festivalimpulse.d e/de/news/104/das-freie-theater-gibt-es-nicht-von-annemarie-matzke [07.07.2013].
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Müller, Werner (2004): „Theaterreform als kontinuierlicher Prozess. Die Entwicklung des Stadttheaters Fürth“, in: Bernd Wagner (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2004. Thema: Theaterdebatte, Essen, S. 219-226. Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur (Hg.) (2011): Kulturbericht 2010, Hannover. Oldenburgisches Staatstheater (Hg.) (2013a): „Theaterpädagogik“, http:// www.staatstheater.de/theaterpaedagogik.html [07.07.2013]. Oldenburgisches Staatstheater (Hg.) (2013b): „Jugendtheatertage 2013“, http://www.staatstheater.de/201213/junges-staatstheater/jugendtheaterta ge-2013.html [07.07.2013]. Oldenburgisches Staatstheater (Hg.) (2012): PAZZ 2012. Performing Arts Festival, Oldenburg. Schneider, Wolfgang (2007): „Von Projekt zu Projekt – am Katzentisch der Kulturpolitik? Die Rolle des Freien Theaters in einer zukünftigen Theaterlandschaft. Symposium des Fonds Darstellender Künste in Berlin“, in: Schneider, Wolfgang (Hg.): Grundlagentexte zur Kulturpolitik. Eine Lektüre für Studium und Beruf, Hildesheim, S. 149-158. Stadt Hildesheim (Hg.) (2013): „Theater und Museen“, http://www.hildesh eim.de/staticsite/staticsite.php?menuid=162&topmenu=407 [07.07.2013]. Stadt Oldenburg (Hg.) (2011): Übersichten. Übersicht über die Zuweisungen und Zuschüsse an Dritte, http://www.oldenburg.de/fileadmin/olden burg/Benutzer/PDF/20/200/Haushalt_2011/03_UEbersichten.pdf [07.07.2013]. Stadttheater Fürth (Hg.) (2013a): „Stadttheater Fürth“, http://www.stadtthea ter.fuerth.de/stf/home.nsf/contentview/AB1F3ED892C2E5E4C12571D 400348C2A [24.07.2013]. Stadttheater Fürth (Hg.) (2013b): „40 Jahre Theaterverein Fürth“, http:// www.stadttheater.fuerth.de/stf/home.nsf/contentview/DEFE2E70BD48 ECC0C12571DA005EC6A8 [24.07.2013]. Stadttheater Fürth (Hg.) (2013c): „Viel Tradition und noch mehr Zukunft“, http://www.stadttheater.fuerth.de/stf/home.nsf/contentview/2449EA659 765474FC1257AD1003CDADD [24.07.2013]. Stadttheater Fürth (Hg.) (2013d): „Premieren 2013/2014“, http://www.stadt theater.fuerth.de/stf/home.nsf/contentview/503F54F19B33BEB7C1257 5A50050DB34 [24.07.2013].
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Theaterhaus Hildesheim (Hg.) (2012): FREI ZEICHEN. Das Hildesheimer Phänomen Freies Theater. Eine Annäherung, Hildesheim. Vollmer, Antje (Hg.): Dokumentation der Dritten Theateranhörung „Kooperation und Innovation – Zusammenarbeit von Stadttheatern und Freier Szene“, Berlin am 30. April 2003, S. 5-31 „Das Hildesheimer Modell“. Von Hartz, Matthias (2011): „Kunst oder Kerngeschäft? Warum sich das System Stadttheater von innen heraus erneuern muss – und dafür dringend Impulse von außen braucht“, in: Mackert/Goebbels/Mundel (Hg.), Heart of the City, Recherchen zum Stadttheater der Zukunft, Theater der Zeit Arbeitsbuch 2011, Berlin.
Musiktheater Spielräume schaffen! M ATTHIAS R EBSTOCK
Die kulturpolitischen sowie die ästhetischen Diskussionen um das Musiktheater drehen sich fast ausschließlich um die Zukunft der Opernhäuser. Die freie Musiktheater-Szene kommt dabei kaum vor. Einerseits ist das nicht verwunderlich, wenn man vergleicht, was an öffentlichen Mitteln für die städtischen und staatlichen Opernbühnen und was für das Freie Musiktheater ausgegeben wird. So betrachtet ist die Bedeutung des Freien Musiktheaters freilich marginal. Vergleicht man aber die Situation im Musiktheater mit der im Sprechtheater, so wird man doch stutzig: Das „Freie Theater“, so heterogen die darunter fallenden Theaterformen, Organisations- und Produktionsweisen heute auch sein mögen (vgl. Matzke 2012), ist ein etablierter Begriff; das Erstarken der freien Szene seit den 1990er Jahren ein bekanntes, auch theaterwissenschaftlich reflektiertes Phänomen, das dazu geführt hat, dass die ersten freien Produktionen zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurden, was bis dahin quasi selbstverständlich nur Produktionen städtischer oder staatlicher Theater vorbehalten war1. Freies Theater wird in den ein-
1
„Testament“ von She She Pop, Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, FFT Düsseldorf, 2011; „Hate Radio“, International Institute of Political Murder, Kigali Genocide Memorial Centre, Hebbel am Ufer, 2012; „Before Your Very Eyes“ von Gob Squad, CAMPO Gent, Hebbel am Ufer Berlin, 2012; „Disabled Theater“ von Jérôme Bel, Theater Hora – Stiftung Züriwerk, Zürich, 2013.
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schlägigen Theaterzeitschriften selbstverständlich ebenso diskutiert wie das etablierte Theater, und sowohl ästhetisch als auch personell befinden wir uns in einer Phase, in der die Grenzen zwischen freier und etablierter Szene durchlässig geworden sind. Die Innovativkraft des Freien Theaters ist allgemein anerkannt. Dass das (bislang) nicht zu den entsprechenden kulturpolitischen Konsequenzen geführt hat und dass hierbei meist unberücksichtigt bleibt, dass im Freien Theater ebenso wie bei den etablierten Häusern ein riesiges Gefälle besteht zwischen den international agierenden Leuchttürmen, angesiedelt meist in den urbanen Zentren, und den kleinen Gruppen, die täglich an der Existenzgrenze herum laborieren bzw. den kleinen Theatern in strukturschwachen Regionen, steht auf einem anderen Blatt. In Entgegnung zu Annemarie Matzkes Beitrag in diesem Band „Das Freie Theater gibt es nicht“ würde ich sagen: das Freie Theater gibt es immerhin so deutlich, dass es als innovativer Faktor anerkannt ist und sich eine eigene (Selbst-)Kritik und auch Ansätze einer eigenen Geschichtsschreibung leisten kann. (Vgl. Fülle 2012) Von alledem ist das Freie Musiktheater weit entfernt. Dabei, so meine These, gibt es durchaus eine lebendige und innovative Szene Freien Musiktheaters im deutschsprachigen Raum, aber sie ist als solche kaum wahrnehmbar. Ich möchte mich im Folgenden mit den Gründen hierfür beschäftigen. Dabei geht es zum einen um diese freie Musiktheaterlandschaft selbst: wie sieht sie überhaupt aus, wie tritt sie in Erscheinung, wie wird sie wahrgenommen? Und zum anderen geht es um das Verhältnis dieser Szene zu den staatlichen bzw. städtischen Operbühnen.2 Ich werde mich dabei an
2
Rainer Simon beschäftigt sich in seinem unlängst erschienen Buch „Labor oder Fließband?“ (Berlin 2013) mit den „Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern“. Unter „freiem Musiktheater“ oder „freien Musiktheaterproduktionen“ versteht er dabei Musiktheaterproduktionen, „die von gewissen Produktionskonventionen, die traditionellen Opernaufführungen zugrunde liegen [...], unabhängig beziehungsweise frei sind.“ (a.a.O.: 15) Ich bin, wie Rainer Simon, ganz entschieden der Meinung, dass sich die Opernhäuser für Produktionsweisen des Freien Musiktheaters öffnen sollen. Trotzdem halte ich seine Definition von „Freiem Musiktheater“ für etwas problematisch. Sie verkennt, dass der Begriff „Freies Theater“ – und „Freies Musiktheater“ ist in Analogie hierzu gebildet – in einem bestimmten historischen Kontext geprägt wurde: als ein Theater, das unabhängig von politischer Einflussnahme und Intendan-
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der Berliner Musiktheaterlandschaft orientieren, die mit den drei Opernhäusern nicht nur im Bereich der etablierten Opernhäuser besonders gut ausgestattet ist, sondern auch über die reichhaltigste Szene Freien Musiktheaters in Deutschland verfügt.3 Im ersten Schritt muss aber geklärt werden, was im Folgenden unter „Musiktheater“ verstanden werden soll.
F ÜR
EINEN WEITEN
B EGRIFF
VON
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Um die ganze Musiktheaterlandschaft in den Blick zu bekommen, muss man einen weiten Begriff von Musiktheater verwenden. Der Terminus „Musiktheater“ wird gegenwärtig auf zwei sich widersprechende Weisen benutzt: Erstens wird er quasi als Ersatz für den Terminus Oper verwendet. Wenn man statt von „Oper“ von „Musiktheater“ spricht, soll dadurch der Anspruch betont werden, gutes und modernes Theater zu machen – und nicht den theatralen Aspekt der Gattung gegenüber der Musik zu vernachlässigen. Für dieses Verständnis von Musiktheater war Walter Felsenstein, Gründer und Chefregisseur der Komischen Oper nach dem Zweiten Weltkrieg, maßgebend. In dieser Bedeutung hat der Terminus also programma-
tenentscheidungen sein wollte und sich dafür außerhalb des Stadttheatersystems positioniert hat. (Vgl. Karschnia 2013) „Freies Theater“ ist inzwischen ein Terminus technicus für diesen Sektor geworden, ganz unabhängig davon, wie frei – z.B. von finanziellen Zwängen – die jeweiligen Produktionen oder Gruppen tatsächlich sind. Das „frei“ im Freien Musiktheater als relative Kategorie aufzufassen, wie es Rainer Simon vorschlägt, die den tatsächlichen Grad an Freiheit innerhalb einer Produktion bezeichnet, wobei die Produktionsweise und nicht die strukturelle Dimension zum entscheidenden Kriterium wird, verwischt die Tatsache, dass wir es im Theater und allemal im Musiktheater im deutschsprachigen Raum – bis auf Weiteres – mit einer „Parallelstruktur“ (Fülle 2012) von etabliertem und Freiem (Musik-)Theater zu tun haben. 3
Ähnlich breit gefächert ist nur noch die Wiener Szene. Diese ist allerdings durch die Gründung des Verbandes der freien Wiener Musiktheater im Jahr 2011 und z.B. durch die zu diesem Anlass entstandene Publikation „Fragen an das Musiktheater“ (Everhartz/Tornquist 2012), in der 14 Wiener Gruppen bzw. Ensembles ihre Arbeit darstellen, deutlich besser aufgestellt.
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tischen Charakter und steht für ein bestimmtes Bild der Oper, die sich von den herkömmlichen typischen Sänger-Gesten und dem Singen an der Rampe verabschieden und als Theater ernst genommen werden will. Zweitens dient der Begriff als Sammelbegriff, als umbrella term, für alle Formen im weitesten Sinn theatraler Aufführungsformen, die in besonderem Maße durch die Inszenierung von oder mit Musik bzw. musikalischen Prinzipien bestimmt sind. Ich plädiere im Folgenden für eine solche weite Auslegung des Begriffs, weil nur dann das ganze Spektrum an Formen vor Augen tritt. Verwendet man diesen weiten Begriff, lässt sich das Musiktheater in drei große Bereiche einteilen: den Bereich der Oper, des Komponierten Theaters und der szenischen Konzerte. Die Oper zeichnet sich, grob gesagt, durch die Zentralstellung des Sängers und – klassischerweise auch – der gesungenen dramatischen Handlung aus. Die Opernhäuser widmen sich fast ausschließlich diesem Segment und beschränken sich dabei im Wesentlichen auf ein Repertoire von ca. 50 Opern die permanent wiederholt werden.4 Die Auseinandersetzung mit der Oper im Freien Musiktheater lässt sich wiederum in zwei Bereiche unterteilen: Aufführungen, die sich auf besondere Weise mit Repertoireopern beschäftigen, insbesondere in Form von Bearbeitungen, oder mit selten gespielten (Kammer-)Opern. Eine solche Auseinandersetzung mit der Oper zählt beispielsweise zum Kernprofil der Neuköllner Oper, der einzigen festen Spielstätte für alternative Opernaufführungen in Berlin. Ebenso zählen aber auch die Produktionen von David Marton dazu, der sich mit besonderen Umsetzungen von Repertoireopern in den letzten Jahren einen Namen gemacht hat (s.u.). Der andere Bereich ist das der sogenannten Neuen Oper, also Formen von Musiktheater, die durch Verwendung der Neuen Musik seit 1950 charakterisiert sind, formal aber in der Tradition der Oper stehen. Hier sind die Neuköllner Oper (1976) und die Berliner Kammeroper (1981) die ältesten Formationen in Berlin. Daneben wäre die Zeitgenössische Oper Berlin zu nennen, 1997 gegründet und bis zur Gründung des HAU 2004 am Hebbel
4
Darüber hinaus produzieren die Opernhäuser auch Uraufführungen. Der Anteil wird vom Bühnenverein mit 13,48 Prozent in der Spielzeit 2010/11 angegeben. (Vgl. Deutscher Bühnenverein 2012: 55)
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Theater ansässig, seither ohne eigenen Ort; ebenso die Berliner Kammeroper, sowie Novoflot (2002) um den Regisseur Sven Holm.5 Der zweite große Bereich ist das, was David Roesner und ich das Komponierte Theater genannt haben. (Vgl. Rebstock/Roesner 2012) Auch dies ist ein Sammelbegriff, kein Genre oder gar eine Gattung. Das Komponierte Theater bestimmt sich weniger durch strenge Kriterien sondern durch eine Reihe von „Symptomen“6 bzw. Charakteristika, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können. „Komponiertes Theater“ bezeichnet damit ein heterogenes Feld vielfältiger Musiktheaterformate, die – das wäre das erste Charakteristikum – durch die Verwendung kompositorischer Verfahren und Strategien bzw. durch musikalisches Denken geprägt sind. Dieses Feld hat sich seit den 1960er Jahren herausgebildet und liegt zwischen den klassischen Gebieten des Theaters, der Oper und des Tanzes. Ein zweites Charakteristikum des Komponierten Theaters besteht in der Überzeugung von der Gleichberechtigung der Theatermittel. Kein Element – Text, Musik, Aktion, Bewegung etc. – ist grundsätzlich wichtiger als ein anderes. Das Gestalten der „Dominanzverhältnisse“, also wann welches Element bzw. welche Schicht Hauptstimme ist, wann begleitend, ist das, was die szenische Komposition ausmacht. Modellhaft hierfür ist die Vorstellung einer Polyphonie der Theatermittel und deren Organisation in einer – gedachten oder tatsächlich ausgeschriebenen – szenisch-musikalischen Partitur. Ein drittes Charakteristikum besteht in der Organisation des Arbeitsprozesses. Häufig – bei weitem nicht immer – wird die für die Oper typische schrittweise voneinander getrennte Produktionsform (Libretto, Komposition, Inszenierung, Aufführung) ersetzt durch ein über die ganze Produktionszeit konstantes Team mit flachen Hierarchien bis hin zu kollektiven Entscheidungsprozessen. Dies gilt insbesondere da, wo Stücke gemeinsam entwickelt werden. Hier übernimmt das Komponierte Theater Arbeitsweisen des Freien Theaters. Und schließlich: Komponiertes Theater existiert meist erst in der Aufführung. Die für die Oper typische Unterscheidung zwischen Komposition
5
Alle genannten Ensembles beschränken sich dabei nicht nur auf diesen Bereich.
6
Ich entlehne diese Ausdrucksweise hier von Nelson Goodman, der im Zusammenhang seiner Zeichentheorie von „Symptomen des Ästhetischen“ spricht. (Vgl. Goodman 1976)
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(Werk) und Inszenierung wird aufgegeben: erst im Moment der Aufführung kommen die verschiedenen Ebenen und Elemente zusammen, und alles davor zielt auf diese Aufführung. Dies hat weitreichende Konsequenzen für den Werkbegriff: Repräsentieren im Bereich der Oper die Partituren die Werke, die dann immer wieder neu inszeniert werden können, ohne dass dadurch das Werk tangiert würde, gilt im Komponierten Theater die Aufführung als das „Werk“. Dadurch können diese Stücke auch nicht ohne weiteres nachgespielt oder neu inszeniert werden, sondern bleiben oft an die jeweils spezifische Uraufführungskonstellation gebunden.7
K OMPONIERTES T HEATER INSZENIERTES K ONZERT
UND
Zu den beiden Bereichen Oper und Komponiertes Theater tritt seit jüngerer Zeit das szenische oder inszenierte Konzert hinzu. Hier bildet das Konzert als Aufführungsform den Ansatzpunkt: es geht darum, die traditionelle Konzertform aufzubrechen und durch verschiedene Formen der Inszenierung andere Hörweisen zu ermöglichen. Die Musik steht eindeutig im Zentrum und ist im Normalfall Konzertmusik, also Musik, die nicht von sich aus schon für einen szenischen Kontext geschrieben ist.8 Entscheidend für die Dynamik in der Szene Freien Musiktheaters ist nun, dass die genannten Bereiche in der Praxis in höchstem Maße durchlässig geworden sind, sich die Genres untereinander beeinflussen, es zu jeder Art von Mischformen kommt, die Akteure in mehreren Bereichen zugleich tätig sind etc. Allerdings wird dieses Feld als Ganzes und gerade durch diese Dynamik auch Zusammenhängendes nicht ausreichend sichtbar. Daher meine zweite These: Es gibt im deutschsprachigen Raum eine lebendige Musiktheater-Szene jenseits der Opernhäuser, doch sie tritt nicht als zusammenhängende in Erscheinung, ist vielmehr zersplittert in Einzelszenen.
7
Die Grenze zwischen Komponiertem Theater und (Neuer) Oper ist fließend und
8
Hier wären in Berlin zum Beispiel eine Reihe von Arbeiten des Solistenen-
ergibt sich aus Gewichtung und Kombination der einzelnen Charakteristika. semble Kaleidoskop zu nennen.
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Schon unabhängig von der Frage nach freier oder etablierter Szene liegt es im Wesen des Musiktheaters, dass man es von zwei Seiten her betrachten kann: von der Musik und vom Theater her. Historisch hat sich dieser Konflikt in der praktisch vom Anfang der Oper bis heute andauernden Diskussion um das Verhältnis von Musik und Theater, traditionell repräsentiert in Form des Textes, niedergeschlagen.9 Strukturell gesehen bedeutet dies, dass sich Musiktheaterproduktionen stets den beiden großen kulturellen Systemen Musik und Theater zuordnen müssen. Diese Systeme grenzen sich voneinander ab durch unterschiedliche Institutionen, Finanzierungsund Förderstrukturen, Publikationsorgane, Diskurse, Ausbildungsstätten etc. Die Zuordnung erfolgt dabei keineswegs aus der „Natur der Sache“ heraus: Dass z.B. David Martons Versionen des Wozzeck (Volksbühne Berlin 2007), der Lulu (Schauspiel Hannover 2009) oder des Rheingolds (Staatstheater Dresden 2011) nicht an Opernhäusern sondern an Sprechtheaterbühnen herausgekommen sind, obwohl es sich dabei um Auseinandersetzungen mit Repertoireopern handelt, die zum „Kerngeschäft“ der Opernhäuser gehören, lässt sich nicht mit der Beschaffenheit dieser Inszenierungen begründen. Sie hätten im Prinzip genauso gut an einem Opernhaus produziert werden können (bzw. müssen). Grundsätzlich teilt sich das Feld des Musiktheaters also auf, je nach dem kulturellen System, in dem es produziert und wahrgenommen wird. So werden z.B. im Moment viele der wirklich bemerkenswerten Entwicklungen im Musiktheater nicht an Opernhäusern, sondern an Sprechtheaterbühnen gezeigt. Neben den Arbeiten von David Marton wären hier Frank Castorfs Meistersinger oder Sebastian Baumgartens Tosca (2007) an der Volksbühne Berlin zu nennen; auch Ruedi Häusermann inszeniert fast ausschließlich an – sowohl freien als auch etablierten – Sprechtheaterbühnen10; ebenso Christoph Marthaler, den ich hier ganz bewusst auch zum Musiktheater zähle.11
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Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Gluck’sche Opernreform, die das Verhältnis Text und Musik neu bestimmt, entsprechend der Maxime „prima le parole, poi la musica“.
10 Einzige Ausnahme bislang ist sein Stück Randolph’s Erben, aufgeführt im Rahmen der „zeitoper“, Staatsoper Stuttgart 2009. 11 Ich beziehe mich hierbei auf die Stückentwicklungen Marthalers. Seine expliziten Operninszenierungen sind natürlich auch an Opernhäusern gezeigt worden.
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Anders als im Sprechtheater zeigen sich die Opernhäuser gegenüber der Formenvielfalt und den Impulsen aus der freien Musiktheaterszene weitgehend verschlossen. Es gibt – glücklicherweise – eine Reihe von Ausnahmen. Die Eröffnung der Alten Tischlerei an der Deutschen Oper im November 2012 ist das jüngste Beispiel. An vergleichbaren Einrichtungen wären das Magazin der Staatsoper bzw. jetzt die Werkstatt Schillertheater zu nennen mit dem Festival „Infektion. Festival für Neues Musiktheater“. Aber es ist aus meiner Sicht noch nicht erkennbar, dass sich hieraus ein nachhaltiger Trend, eine echte Entwicklung ablesen lässt. Den neu eingerichteten Spielstätten stehen ebenso viele Abwicklungen gegenüber, z.B. Forum Neues Musiktheater in Stuttgart, Reihe „Visible Music“ in Mannheim, davor in Bielefeld (Leitung: Roland Quitt), die Reihe „zeitoper“ am Staatstheater Hannover und dann an der Staatsoper Stuttgart, jeweils unter Leitung von Xavier Zuber. Allerdings lässt sich beobachten, dass Opernhäuser, ähnlich wie die Sprechtheater, verstärkt auf Regisseure zugreifen, die in der freien Szene theatermäßig sozialisiert wurden. Häufig sind das aber gerade Regisseure aus dem Freien Theater und nicht so sehr aus dem Freien Musiktheater. Ich denke hier z.B. an Sebastian Nübling oder auch Christoph Schlingensief. Auch die Festivals, die sich dem Musiktheater widmen, haben meist nur bestimmte Ausschnitte der Szene im Blick, hier insbesondere das Musiktheater, das mit den Entwicklungen der Neuen Musik verbunden ist, das dann je nachdem unter den Labeln „Neue Oper“ oder „Neues Musiktheater“ firmiert. (z.B. Biennale München, Maerzmusik Berlin, ultraschall Berlin, Eclat Stuttgart, Donaueschinger Musiktage, für kleinere Formate auch die Wittener Tage für neue Kammermusik etc.). Diese Festivals präsentieren im Wesentlichen Uraufführungen neuer Kompositionen. Inszenierungen, die einen innovativen Umgang mit Repertoireopern zeigen oder Musiktheaterformen, die nicht auf Partituren beruhen, werden hier kaum berücksichtigt. An den einschlägigen Spielstätten des Freien Theaters wiederum, z.B. HAU und sophiensaele Berlin, Kampnagel Hamburg, FFT Düsseldorf, finden zwar durchaus auch solche Uraufführungen Neuen Musiktheaters bzw. Neuer Opern statt. Es bleibt aber bei vereinzelten Inszenierungen, ohne konzeptionellen Zusammenhang. Häufiger anzutreffen sind hier aber stark musikalisierte Theaterformen im Sinne des Postdramatischen Theaters von
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Lehmann – wie sie wiederum weder auf den Neue Musikfestivals noch an den Opernhäusern anzutreffen wären. Die Szene Freien Musiktheaters ist also in kleinere Unterszenen aufgeteilt, die teilweise kaum etwas miteinander zu tun haben. Sie ist an Bedeutung, Wirkmächtigkeit und Organisationsgrad mit dem Freien Theater nicht vergleichbar. Ebenso wenig ist der Musiktheaterszene gelungen, was im Tanztheater erreicht wurde, nämlich dass sich das Tanztheater alternativ oder als Ersatz des klassischen Balletts an den Häusern selbst etablieren konnte. Dass das Feld so disparat ist, hat historische und räumliche Gründe, wobei ich mit „räumlich“ bzw. „Raum“ hier Handlungsräume meine, also Räume, die aus dem Zusammenspiel von Personen, Strukturen und Örtlichkeiten, z.B. Aufführungsräumen, entstehen. Beide Begründungszusammenhänge gilt es im Blick zu haben, wenn man die gegenwärtige Situation verstehen und Veränderungen herbeiführen möchte.
D IE Z ERSPLITTERUNG DER M USIKTHEATERLANDSCHAFT Ein Großteil der Musiktheaterformen, die sich in den 1960er Jahren gebildet haben, sind aus musikalischen und kompositorischen Fragen der Neuen Musik entstanden, seien es die musikalischen Aktionen und Happenings von John Cage, das experimentelle Musiktheater oder das instrumentale Theater. Sie sind als Theatralisierung von Musik zu verstehen und sind bis heute für die Musikalisierung des Postdramatischen Theaters von großer Bedeutung. Das Theater von Christoph Marthaler mit allen von ihm wiederum inspirierten Ansätzen wäre z.B. ohne das instrumentale Theater von Mauricio Kagel gar nicht denkbar. Die Oper war aber für diese Entwicklungen noch nicht einmal das Gegenmodell, sondern sie kam für die Akteure der Zeit als lebendige Kunstform gar nicht in Betracht, galt vielmehr als Ort bürgerlichen Konservatismus und einer ausgehöhlten Repräsentationskultur einer sich selbst überlebt habenden gesellschaftlichen Klasse.12 Man denke etwa an Adornos Aufsatz „Bürgerliche Oper“ (Adorno 1998), an Pi-
12 Dies bezieht sich primär auf die Entwicklung in der Bundesrepublik. In der DDR konnte das Neue Musiktheater kaum Fuß fassen.
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erre Boulez berühmtes Diktum, man solle die Opernhäuser in die Luft sprengen von 1967, aber auch an Mauricio Kagels „staatstheater“, 1970 an der Staatsoper Hamburg uraufgeführt, das eine beißende Kritik an der Institution Oper und ihrer „verwalteten“ Pseudo-Kunstproduktion war. Es gab also eine intensive ideologisch und ästhetisch motivierte, wechselseitige Ablehnung zwischen Opernbetrieb und alternativem Musiktheater, die bis heute zu spüren ist. Die Abschottung der Opernhäuser vor Impulsen aus dieser Szene ist vor diesem Hintergrund zum Teil durchaus verständlich. Gleichzeitig hat sich die Situation inzwischen aber deutlich geändert. Und das nicht nur, weil Boulez nur knapp zehn Jahre später im Mekka der bürgerlichen Oper, bei den Bayreuther Festspielen, den gesamten Ring des Nibelungen dirigierte. Seit den 1990er Jahren hat das Regietheater namhafter Sprechtheaterregisseure auch an der Oper Einzug gehalten und sorgt seither für einen lebendigen Diskurs um den Kunstanspruch der Gattung. Marthaler und Schlingensief (wiederum mit Boulez) inszenierten in Bayreuth. Avancierte Komponisten wie Helmut Lachenmann und Dieter Schnebel haben sich der Gattung zugewandt, und die amerikanischen Komponisten, etwa John Adams oder Philip Glass, gehen mit der Gattung Oper ohnehin gelassen um. Die grundsätzliche Reserviertheit gegenüber der Oper ist passé, die errichteten ästhetischen und ideologischen Abgrenzungen überwunden, so dass auch eine Öffnung der Opernhäuser hin zum restlichen Feld des Musiktheaters an der Zeit wäre. Während die arrivierten Opernhäuser lange den alternativen Musiktheaterformen ablehnend gegenüber standen, hatten die Theateravantgarden des 20. Jahrhunderts immer ein besonderes Interesse für die Abstraktheit der Musik und die Genauigkeit ihrer Organisation mittels Partituren. Egal ob bei Edward Gordon Craig, László Moholy-Nagy oder bei Antonin Artaud: in dem Maße, in dem die Vorrangstellung des Textes im Theater kritisiert und schließlich aufgegeben wurde, rückten musikalische Gestaltungsprinzipien in den Vordergrund. Dies lässt sich auch in der Fluxus-Bewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre beobachten, die stark von John Cage beeinflusst war und sich zunächst als musikalische Bewegung verstand. Und das gilt auch für das Postdramatische Theater, für das Lehmann eine besondere Musikalität bzw. eine Musikalisierung des Theaters als Signum angibt. (Vgl. Lehmann 2005) Von daher ist leicht zu sehen, dass ein Teil der Musiktheaterlandschaft starke Berührungspunkte mit der Freien Theaterszene hat bzw. sogar in dieser aufgeht. Hierbei handelt es sich um den Bereich
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des Musiktheaters, der sich weniger auf den klassischen Kompositionsbegriff stützt, d.h. der nicht oder weniger mit vorab fixierten Partituren arbeitet. Neue Oper und Neues Musiktheater, die als „Komponistentheater“ verstanden werden können und in den Traditionslinien und Kontexten der Entwicklung der Neuen Musik stehen, werden dadurch ebenso abgekoppelt, wie das szenische Konzert.
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Das Musiktheater hatte an der Herausbildung des Freien Theaters in Deutschland kaum Anteil. (Vgl. Fülle 2012) Das Neue Musiktheater entwickelte sich seit den 1960er Jahren im Umfeld der Neue Musik-Szene und nicht an den Theatern. Gleichzeitig trennte sich die Neue Musik immer mehr vom breiten Konzertpublikum ab und bildete eine eigene Szene aus. Dies verstärkte noch den oben beschriebenen Bruch zwischen Opernwelt und Neuem Musiktheater. Freie Opernproduktionen bzw. Freie Musiktheaterensembles finden sich in Deutschland in größerer Zahl erst seit den 1980er Jahren.13 Und anders als im Freien Theater bildete es sich weniger aus politischen, gesellschaftlichen oder soziokulturellen Gründen heraus, sondern eher, um ein bestimmtes, von den Opernhäusern nicht abgedecktes Repertoire an Stücken aufzuführen und dadurch auch ein anderes Musiktheater zu zeigen – also eher aus ästhetischen Gründen. Gegenüber dem Freien Theater fehlen dem Freien Musiktheater die historischen Wurzeln, die ursprünglich politischen, gesellschaftlichen und soziokulturellen Triebkräfte und die Breite der Verankerung, publikumsmäßig, kulturpolitisch und institutionell.14 Der Aspekt, andere Produktionsformen zu schaffen, spielte auch für die freie Musiktheaterszene von Anfang an eine Rolle, aber bei weitem nicht so
13 Bereits aus den Siebzigerjahren stammen z.B. das TAM Krefeld, die Neuköllner Oper (1976) oder die Maulwerker (1977). 14 Die Neuköllner Oper nimmt hier eine Sonderstellung ein. Ihre Gründung 1976 durch Winfried Radeke war auch politisch bzw. soziokulturell motiviert. Das zeigt sich u.a. in der Wahl des Standorts im damals „kulturfernen“ Neukölln. Und der Anspruch politisches Musiktheater zu machen, ist bis heute für die Arbeit der Neuköllner Oper konstitutiv.
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radikal wie im Freien Theater. Es ging um einen leichteren, flexibleren Apparat, Themen, die näher an der Gegenwart und am Leben der Menschen sind und damit auch mehr Uraufführungen. Es finden sich im Freien Musiktheater aber z.B. kaum Theaterkollektive, die über längere Zeit zusammenarbeiten. (Vgl. Matzke 2012) Meist gibt es zentrale Leitungspersonen innerhalb eines Ensembles bzw. bestehen die Ensembles genau genommen überhaupt nur aus einem Leitungsteam, das mit einem Pool von Künstlern mehr oder weniger konstant zusammenarbeitet. Es gibt also eher Netzwerke um ein Kernteam herum als stabile Kollektive. Entsprechend der unterschiedlichen Genres auf dem Feld des Musiktheaters sind auch die Produktionsweisen sehr unterschiedlich. Im Bereich der freien Opernprojekte findet man häufig Produktionsformen vor, die in der eigentlichen Probenarbeit denen an Opernhäusern gar nicht so unähnlich sind, nur mit flacheren Hierarchien, einem starken Teamcharakter in der Leitung, besonders zwischen musikalischer Leitung und Regie und natürlich einem sehr viel flexibleren Apparat. Aber in den meisten Fällen gibt es zu Beginn der szenischen Probenarbeit eine Partitur, die dann szenisch umgesetzt wird. Die zeitlich sukzessive Produktionsweise der Oper bleibt also erhalten. Beispiele hierfür wäre die Berliner Kammeroper, die Zeitgenössische Oper Berlin und Novoflot, aber auch freie Opernproduktionen, die ohne Ensemblelabel auftreten.15 Im Bereich des Komponierten Theaters sieht das anders aus. Entsprechend der Heterogenität der Formen sind auch die Produktionsweisen ausdifferenzierter. Insgesamt herrscht aber stärker die Vorstellung vor, dass das Stück selbst – nicht nur die Inszenierung – erst im Probenprozess entsteht und dass das Stück („Werk“) die Aufführung und nicht etwa die Partitur ist. Typische Arbeitsformen des Freien Theaters spielen hier eine größere Rolle, seien es Phasen der gemeinsamen Recherche, des Improvisierens, der gemeinsamen Reflexion von Probenergebnissen, der Entwicklung der Großform aus den Probenmaterialien etc. Beispiele hierfür wären die Arbeiten von Christoph Marthaler, der seine Arbeitsweise ja zunächst in der Freien Theaterszene entwickelt hat. Ruedi Häusermann wäre zu nennen, ebenso Georges Aperghis und auch Heiner Goebbels.
15 Zum Beispiel „Strangers“ und „Hoffmanns Erzählungen“ von Florian Lutz und Janka Voigt, Hebbel am Ufer 2007 bzw. 2011; „Wiener Blut“, Regie: Cordula Däuper, Hebbel am Ufer 2008.
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Wenn man sich ansieht, wo überall in Berlin Freies Musiktheater zu erleben ist, so stellt man fest, dass dies unter anderem an den namhaften Orten des Freien Theaters der Fall ist, also an den sophiensaelen und am HAU; dann am Radialsystem, auf den Musikfestivals ultraschall und Maerzmusik u.v.m. Aber bei keiner dieser Institutionen gehört das Musiktheater zu den profilbildenden Säulen. Überall läuft es sozusagen nur so mit – entweder mit anderen Formen des Theaters oder im Konzertbereich. Dass das Musiktheater nicht wirklich in die Szene Freien Theaters integriert ist, lässt sich z.B. auch daran ablesen, dass es in den letzten zehn Jahren beim Impulse Festival, sozusagen dem state of the art des Freien Theaters, nur eine einzige Musiktheaterproduktion zu sehen gab, nämlich David Martons Fairy Queen oder hätte ich Glenn Gould nie kennen gelernt von 2007. Auch bei den Nachwuchsfestivals „100 Grad“ oder „Freischwimmer“ spielt das Musiktheater praktisch keine Rolle. Einzige Ausnahme ist der Preis der Hildesheimer Formation Musiktheater bruit beim 100 Grad Festival 2012. Es gibt also eine Reihe von Spielorten, aber zu wenige, für die das Musiktheater profilbildend ist. Das Konzerthaus Berlin hatte sich unter der künstlerischen Leitung von Jens Schubbe, also bis 2010, zu einem Ort für zeitgenössisches Musiktheater in ziemlicher Breite der Formen entwickelt und bot der Freien Musiktheaterszene einen gemeinsamen Ort. Seit der neuen Intendanz von Sebastian Nordmann spielt dieser Bereich für das Profil des Hauses aber praktisch keine Rolle mehr. Insbesondere die Kooperation mit den freien Ensembles wurde weitgehend eingestellt. Von 1999 bis 2003 gab es mit der staatsbank berlin unter der Leitung von Berthold Schneider einen Ort, der sich überwiegend über Musiktheater definierte. Mit dem Verkauf des Gebäudes der ehemaligen Staatsbank der DDR endete diese Ära. Der einzige Ort in Berlin, der sich ausschließlich mit Freiem Musiktheater beschäftigt, ist die Neuköllner Oper, die gerne auch als das vierte Opernhaus Berlins bezeichnet wird. Sie zeigt pro Spielzeit ca. zehn Produktionen, meist als Ur- oder Erstaufführungen. Lag unter der Künstlerischen Leitung von Peter Lund ein Schwerpunkt der Arbeit auf kleinformatigem Musical, so hat sich das Formenspektrum unter der künstlerischen Leitung
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von Bernhard Glocksin enorm erweitert. Neben den für das Haus typischen Opernneubearbeitungen haben sich stärker experimentelle Formen im Umgang mit Repertoireopern etabliert sowie Stückentwicklungen, musikalische Performances etc. Vor dem Hintergrund fehlender Orte, die sich tatsächlich über das Musiktheater definieren und gleichzeitig der Fülle an Aktivitäten, die in den unterschiedlichen Theater- und Musik-Szenen stattfinden, sind die jüngsten Bemühungen aller drei Berliner Opernhäuser zu begrüßen, sich für Impulse aus der freien Musiktheaterszene zu öffnen. Die Einrichtung der neuen Spielstätte Alte Tischlerei und die Eröffnung der Werkstatt Schillertheater der Staatsoper sowie die von Barrie Kosky initiierten Kooperationen mit freien Gruppen an der Komischen Oper16 zeigen, dass zumindest diese Opernhäuser erkannt haben, dass eine solche Öffnung hin zu anderen Formen des Musiktheaters und der dadurch mögliche Kontakt zur Freien Musiktheaterszene und deren Publikum überfällig sind. Er ist für die Häuser selbst nötig und für die Entwicklung des Musiktheaters insgesamt produktiv.
Z EHN F ORDERUNGEN
FÜR DAS
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1.) Die Opernhäuser müssen sich dem Musiktheater in seiner ganzen Breite an Formen öffnen. Hierfür ist die Einrichtung kleinerer Spielstätten, auf denen nicht der Auslastungsdruck der großen Bühnen lastet, Voraussetzung. 2.) Die internen Strukturen der Opernhäuser müssen so verändert werden, dass die gemeinsame Projektarbeit mit Beteiligten aus den Häusern und Teams von außen und Produktionsweisen aus der Freien Musiktheaterszene überhaupt möglich werden. Das betrifft die Flexibilisierung der Tarifverträge, Zulagenregelungen, Dienstplangestaltung etc. Aber vieles an Flexibilisierung ließe sich schon innerhalb des bestehenden Rahmens erreichen. 3.) Keine Alibiveranstaltungen: die Studiobühnen müssen zu einem festen Bestandteil der Hausprofile werden und müssen entsprechend auch in den
16 Zum Beispiel Mozarts Zauberflöte, in der Barry Kosky mit der britischen Theatergruppe „1927“ zusammenarbeitet.
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regulären Budgets verankert sein. Ausschließlich über Sponsoren- oder andere Zusatzmittel finanzierte Einrichtungen können nicht für die nötige Kontinuität sorgen. 4.) Die Öffnung für experimentelle Formen des Musiktheaters ist genauso wichtig wie die Etablierung des Kindermusiktheaters. In diesem Bereich ist in den letzten Jahren bereits viel erreicht worden und es sind auch Erfahrungen mit spartenübergreifender Projektarbeit und alternativen Produktionsprozessen gesammelt worden, an die angeknüpft werden kann. 5.) Das Freie Musiktheater muss als zusammenhängendes Feld sichtbarer werden. Hierfür wären eigene Plattformen, durchaus auch im Sinne einer eigenen „Leistungsschau“ von zentraler Bedeutung (ähnlich dem Impulse Festival im Freien Theater). In Ansätzen leistet das der Wettbewerb „Music Theatre Now“ des ITI. Allerdings kann dieser durch die weltweite Ausrichtung nicht als Spiegel des state of the art im deutschsprachigen Raum fungieren. 6.) Die Spielstätten, die es im Freien Musiktheater gibt, müssen sich stärker zu Netzwerken und Koproduktionspartnern zusammenschließen. Das Freie Theater hat hier beispielsweise ein starkes Netzwerk geschaffen, bestehend aus den sophiensaelen, FFT Düsseldorf, Kampnagel Hamburg, Mousonturm Frankfurt, Brut Wien und Gessnerallee Zürich. Da es in Deutschland wenige entsprechende Institutionen gibt, hat sich z.B. die Neuköllner Oper mit dem OpenOp Festival 2010 den Startschuss für eine internationale Vernetzung gegeben. 7.) Es muss ein eigener Diskurs um das Musiktheater in der Breite seiner Formen entstehen. Die Fachzeitschriften im Bereich Oper und Theater nehmen typischerweise immer nur einen Ausschnitt des Feldes wahr. Ebenso ist die Bindung zu den Universitäten und den dortigen Musiktheaterstudiengängen, wo es diese überhaupt gibt, zu intensivieren. 8.) Die Ausbildung an den Musikhochschulen muss darauf reagieren, dass es jenseits der Opernhäuser ein Feld professioneller Betätigung gibt, das andere Anforderungen an die Akteure stellt. Projektarbeit, szenische Arbeit auch für Instrumentalisten, Eigenverantwortlichkeit bei der künstlerischen
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Entwicklung wie bei der Produktion und Verwaltung eigener Ensembles etc. müssen in die Ausbildung mit einbezogen werden. 9.) Auch auf Seiten der künstlerischen Leiter und Dramaturgen der freien Spielstätten braucht es eine verstärkte Kompetenz auf dem Feld des Musiktheaters. Zu viele Projektideen werden nicht weiterverfolgt oder unterstützt, weil sich niemand für den Bereich der Musik zuständig fühlt. 10.) Und schließlich: die Qualität muss stimmen. Das zeigt auch die Entwicklung des Freien Theaters. Letztlich ist die Qualität der Arbeiten der alles entscheidende Faktor, um für bessere Bedingungen und eine bessere Sichtbarkeit zu werben. Es ist Aufgabe von uns Musiktheatermachern, Stücke zu produzieren, an denen man einfach nicht vorbei kommt.
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1998): Bürgerliche Oper, Musikalische Schriften IIII, Darmstadt. Deutscher Bühnenverein (Hg.) (2012): Werkstatistik 2010/2011, Köln. Everhartz, Jury/Tornquist, Kristine (Hg.) (2012): Fragen an das Musiktheater, Wien. Fülle, Henning (2012): „Freies Theater – Worüber reden wir eigentlich?“, http://www.festivalimpulse.de/de [11.06.2013]. Goodman, Nelson (1976): Languages of Art, Indianapolis. Karschnia, Alexander (2013): „Freies (d.h. freies) Theater! Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart eines Wortes“, http://www.festivalimpulse.de/ de [11.06.2013]. Lehmann, Hans-Thies (2005): Postdramatisches Theater, Berlin. Matzke, Annemarie (2012): „Hildesheimer Thesen V. Das Freie Theater gibt es nicht“, http://www.festivalimpulse.de/de [11.06.2013]. Rebstock, Matthias/Roesner, David (Hg.) (2012): Composed Theatre. Aesthetic, Practices, Processes, Bristol. Simon, Rainer (2013): Labor oder Fließband? Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern, Berlin.
Autoren
Christopher Balme ist seit 2006 Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Forum Modernes Theater und Präsident der International Federation for Theatre Research sowie Projektleiter der Weiterbildung Theater- und Musikmanagement. Henning Fülle ist freier Dramaturg in Berlin und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe sowie Doktorand am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim mit einer Arbeit über die „Entwicklung und Bedeutung des Freien Theaters in Deutschland“. Heiner Goebbels ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und Präsident der Hessischen Theaterakademie. Er komponiert für Ensemble, großes Orchester, Hörstücke, Musiktheater, Installationen und ist künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale 2012 bis 2014. Günther Heeg ist Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Aktuelle Forschungsprojekte sind „Das Transkulturelle Theater“ und „Geschichte aufführen – Re-enacting History“. Er ist Vizepräsident der International Brecht Society. Ingrid Hentschel ist Professorin für Theater, Kultur und Medien an der Fachhochschule Bielefeld. Sie ist Herausgeberin der Reihen „Scena – Theater und Religion“ und „Resonanzen. Theater – Kunst – Performance“. Ihr jüngstes Forschungsprojekt beschäftigt sich unter dem Aspekt der Gabe und der Gemeingüter mit den Prozessen von Austausch und Wechselseitigkeit in den bildenden und performativen Künsten.
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Armin Klein ist Professor für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft und Leiter des Instituts für Kulturmanagement in Ludwigsburg. Er arbeitete davor als Leitender Dramaturg am Theater am Turm in Frankfurt am Main und als Kulturreferent in Marburg. Friedemann Kreuder ist Professor für Theaterwissenschaft und leitet das Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Von 2001 bis 2005 war er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Birgit Mandel ist Professorin für Kulturmanagement und Kulturvermittlung an der Universität Hildesheim. Sie ist Präsidentin des Fachverbandes Kulturmanagement und Herausgeberin der Forschungs-Website kulturvermittlung-online.de. Peter W. Marx ist Professor für Medien- und Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln, wo er auch als Direktor der Theaterwissenschaftlichen Sammlung tätig ist. Er ist Schriftleiter der Fachzeitschrift Forum Modernes Theater. Annemarie Matzke ist Professorin für Experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim und Mitglied der Performancegruppe She She Pop. Ihre Forschungsgebiete sind Geschichte und Theorie der Theaterprobe, Schauspieltheorien, theatrale Raumkonzepte, Improvisation sowie Tanz- und Bewegungskonzepte. Nikolaus Merck ist Mitgründer und Redakteur von nachtkritik.de. Er arbeitete zuvor als Dramaturg und freier Kritiker. Thomas Oberender promovierte über den Dramatiker Botho Strauß. Seit 1997 veröffentlichte er zahlreiche Theaterstücke und Übersetzungen. Er arbeitete als Dramaturg und Direktionsmitglied am Schauspielhaus Bochum und Zürich, sowie als Kurator für die Ruhrtriennale und Ruhr 2010. 2006 bis 2011 war Oberender Schauspielchef der Salzburger Festspiele, seit 2012 ist er Intendant der Berliner Festspiele.
AUTOREN
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Alexander Pinto ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der HafenCity Universität Hamburg im Studiengang Kultur der Metropole. Seine Schwerpunkte sind Stadt- und Kulturpolitik, Theater und darstellende Kunst als urbane Praxis, Kulturmanagement, Multilokalität und Mehrsprachigkeit. 2008 bis 2012 war Pinto Vorsitzender des Dachverbandes Freier Theaterschaffender Hamburg. Er ist Mitglied der Hamburger Jury zur Projektförderung im Freien Theater. Matthias Rebstock ist Professor für Szenische Musik an der Universität Hildesheim. Er beschäftigt sich mit Formen des musikalisierten Theaters, Musiktheaters und der Oper sowie der Geschichte und Ästhetik der Neuen Musik. Schwerpunkt seiner Arbeit als Regisseur im Bereich des Neuen Musiktheaters bilden Stückentwicklungen im Grenzbereich zwischen Musik und Theater und Uraufführungen im Spektrum von szenischen Konzerten bis neuen Opern. Jens Roselt ist Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Universität Hildesheim. Zuvor war Roselt Geschäftsführer des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin. Seit 1995 arbeitete er in dramaturgischer Tätigkeit an verschiedenen Theatern Deutschlands, u.a. an der Volksbühne Berlin, am Schauspielhaus Hamburg und am Staatstheater Mainz. Von 2000 bis in das Jahr 2001 war er Hausautor am Staatstheater Stuttgart. Thomas Schmidt ist Professor für Theater- und Orchestermanagement und Direktor des gleichnamigen Masterstudiengangs an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Seine Lehrschwerpunkte sind Theatermanagement, Kulturwirtschaftslehre, Kulturpolitik sowie Organisationstheorie und Organisationsmanagement. Er ist Geschäftsführer des Deutschen Nationaltheaters Weimar und in der Spielzeit 2012/13 Interimsintendant. Wolfgang Schneider ist Professor für Kulturpolitik und Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Von 2003 bis 2007 war er Sachverständiges Mitglied (u.a. für das Kapitel „Theater“) der EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“, seit 1997 Vorsitzender der ASSITEJ Deutschland, von 2002 bis 2011 Präsident, seitdem Ehrenpräsident der
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ASSITEJ sowie Inhaber des UNESCO-Chair „Cultural Policy for the Arts in Development“. Esther Slevogt studierte Philosophie, Theater- und Literaturwissenschaften in Düsseldorf und Berlin. Sie arbeitet als Autorin und Redakteurin und ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von nachtkritik.de. Geesche Wartemann ist Professorin für Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters an der Universität Hildesheim. Zuvor war sie Theaterpädagogin und Dramaturgin am Staatstheater Braunschweig und Professorin für Theater und Theaterpädagogik an der Universität in Agder, Kristiansand (Norwegen). 2005 initiierte sie das International Theatre for Young Audiences Research Network (ITYARN), das Forschungsnetzwerk von ASSITEJ International. Birte Werner ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Dramaturgin und seit 2012 Leiterin des Programmbereichs Darstellende Künste der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel.
Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Januar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1839-6
Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee : Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Januar 2014 , ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2
Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Januar 2014, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Melanie Hinz Das Theater der Prostitution Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart Februar 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2467-0
Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz (Hg.) Theater und Subjektkonstitution Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion 2012, 752 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1809-9
Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de