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German Pages 235 [236] Year 2016
B E I H E F T E
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Herausgegeben von Winfried Woesler
Band 35 40 Band
Textgenese und digitales Edieren Wolfgang Koeppens Jugend im Kontext der Editionsphilologie Herausgegeben von Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo und Eckhard Schumacher
De Gruyter
Publiziert mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald.
ISBN e-ISBN e-ISBN ISSN
978-3-11-046712-3 (PDF) 978-3-11-047030-7 (EPUB) 978-3-11-046999-8 0939-5946
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Eckhard Schumacher Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Schreibprozesse und Editionsstrategien Almuth Grésillon Schreiben ohne Ende? Fragen zur Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bodo Plachta Arbeitsweisen und Editionsstrategien. Eine Annäherung aus historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Malte Kleinwort Noch (k)ein letztes Wort und (k)eine letzte Hand – Karl Gutzkows Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Thorsten Ries Das digitale dossier génétique. Überlegungen zu Rekonstruktion und Edition digitaler Schreibprozesse anhand von Beispielen aus dem Thomas Kling Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
II. Textgenese und digitales Edieren: Werkstattberichte Thomas Burch, Stefan Büdenbender, Kristina Fink, Vivien Friedrich, Patrick Heck, Wolfgang Lukas, Kathrin Nühlen, Frank Queens, Michael Scheffel, Joshgun Sirajzade, Jonas Wolf Text[ge]schichten. Herausforderungen textgenetischen Edierens bei Arthur Schnitzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Holger Helbig Person unter Papieren. Über die Folgen digitalen Edierens für die Kategorien Autor und Werk am Beispiel der Uwe Johnson-Werkausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . 107
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Inhaltsverzeichnis
Jörgen Schäfer Wie man Pop-Literatur ediert. Textgenese, Überlieferung und Edition von Tristesse Royale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
III. Wolfgang Koeppens Jugend Walter Erhart Die Krankheit(en) der Moderne. Vom Umgang mit Wolfgang Koeppen. . . . . . . . . . 157 Katharina Krüger „auf den jetzt modernen und unheimlichen Maschinen, die man elektrische Gehirne heißt, da liegt die Erinnerung in einem unordentlichen verwirrenden Netz“ – Zur Edition von Wolfgang Koeppens Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Elisabetta Mengaldo Schreibblockade oder Schreibwucherung? Wolfgang Koeppens Notizen, Fragmente und Vorstufen zu Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Philip Koch „Verzettelt, verschoben, verworfen. Wolfgang Koeppens Schreibkrisen“ – Einblicke in eine Ausstellung des Wolfgang-Koeppen-Archivs Greifswald . . . . . . 205
Autorinnen und Autoren der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Eckhard Schumacher
Einleitung
Als im Herbst 1976 Wolfgang Koeppens Prosatext Jugend als Band 500 der Bibliothek Suhrkamp erschien, wurde die literarische Qualität des schmalen, kaum mehr als 140 Seiten umfassenden Buchs schnell erkannt. Ein „einziges kleines Buch“ könne genügen, um „die Frage nach dem Nutzen, den wir hier und heute von der Literatur haben, gleichsam vom Tisch zu fegen“, schrieb Marcel Reich-Ranicki wenige Wochen nach der Veröffentlichung: „Ein solches Buch ist Wolfgang Koeppens Jugend.“1 Weniger bekannt als seine Romane aus den 1950er Jahren, Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom, mit denen sich Koeppen als wichtiger Schriftsteller der Nachkriegszeit etablierte, erscheint Jugend rückblickend als das literarisch letztlich ambitioniertere Buch. Ein hochgradig verdichteter, bildreicher, zugleich sperriger Prosatext, der auch vierzig Jahre nach Erscheinen schnell als außergewöhnliche, wenn nicht herausragende Literatur zu erkennen ist. Bemerkenswert ist Jugend aber auch in weiteren Hinsichten. Der Text wirft Fragen zum Prozess des Schreibens und zur Textgenese auf, die auch über den konkreten Fall hinaus von Interesse sind. Jugend ist das erste neu verfasste Buch, das Koeppen seit seinem 1960 vollzogenen Wechsel zum Suhrkamp Verlag veröffentlicht hat. Mehr als fünfzehn Jahre hat er den Verleger Siegfried Unseld auf ein erstes Buch für den Verlag warten lassen. Den großen Roman, den Koeppen immer wieder angekündigt und versprochen hat, hat er nie auch nur annähernd fertig gestellt, und auch die Veröffentlichung von Jugend ist letztlich nur dem geduldigen Drängen von Verleger, Lektoren und freundlich zusprechenden Kritikern zu verdanken.2 In den Jahren, in denen er das engere Umfeld wie die literarische Öffentlichkeit warten ließ, war Koeppen allerdings keineswegs unproduktiv. Er schrieb unablässig weiter, arbeitete an verschiedenen Romanprojekten und schrieb, immer wieder neu ansetzend, an dem Text, der schließlich unter dem Titel Jugend veröffentlicht wurde. So finden sich zu den rund 140 Druckseiten, die das Buch Jugend umfasst, im Nachlass von Koeppen mehr als 1500 Schreibmaschinenseiten mit Varianten, Entwürfen und Fragmenten, mit verworfenen Anfängen, Reflexionen zum Schreibprozess, Exzerpten
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Marcel Reich-Ranicki: Wahrheit, weil Dichtung. Wolfgang Koeppens vollendetes Fragment „Jugend“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.11.1976. 2 Das Ringen um den Roman wie auch um Jugend ist dokumentiert im Briefwechsel Wolfgang Koeppen / Siegfried Unseld: „Ich bitte um ein Wort“. Der Briefwechsel. Hg. von Alfred Estermann und Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2006.
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Eckhard Schumacher
und Notizen, die bis in die frühen 1960er Jahre zurückreichen.3 Sie geben Einblicke in den Prozess eines Schreibens, das über einen langen Zeitraum von Zweifeln, Krisen und Blockaden, aber auch von intensiven Produktivitätsphasen gekennzeichnet ist. Und sie führen die langwierige Genese eines Textes vor Augen, dessen Status bis zuletzt fragwürdig bleibt. In einem Brief, in dem er Marcel Reich-Ranicki die bevorstehende Fertigstellung des Buches skizziert, bezeichnet Koeppen Jugend schon vorab als „Fragmentband“.4 Reich-Ranicki nimmt diese Zuschreibung in seiner Rezension wieder auf, wenn er schreibt, das Buch sei „nicht mehr als ein Fragment“, aber gleichwohl „auf seine Weise vollendet, nicht obwohl, sondern weil es als Fragment konzipiert war und es glücklicherweise auch geblieben ist“.5 Wie aber verhält sich der „Fragmentband“ zu den vielen weiteren Fragmenten, die sich im Nachlass befinden? Auch wenn die Typoskripte größtenteils direkt auf Jugend zu beziehen sind, lassen sie das publizierte Buch nicht eindeutig als Ziel des Schreibens erkennbar werden. In dem Sinn, in dem Hans-Ulrich Treichel Koeppens Gesamtwerk unter dem Titel Fragment ohne Ende diskutiert,6 ließe sich mit Almuth Grésillon die Arbeit an Jugend als ein „Schreiben ohne Ende“ begreifen,7 selbst wenn der Schreibprozess letztlich in eine Buchpublikation überführt werden konnte. Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts konnte die Entstehung von Jugend nun erstmals umfassend rekonstruiert werden. Neben einer Buchfassung im Rahmen der Neuausgabe der Werke wird im Rahmen des Projekts zurzeit eine digitale textgenetische Edition von Jugend erarbeitet, die den Text der Erstausgabe mit dem Nachlassmaterial wie auch mit den bereits vorab veröffentlichten Texten aus dem Zusammenhang von Jugend vernetzt und online verfügbar machen wird.8 Die Möglichkeiten wie auch die Probleme einer solchen Edition, die mit einem langwierigen, nur schwer zu rekonstruierenden Schreibprozess, mit unübersichtlichen, kaum datierten Nachlassmaterialien und einem Text mit zweifelhaftem Status konfrontiert ist, konnten im Rahmen einer Konferenz am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald erstmals im Detail vorgestellt und in einem weiteren Rahmen diskutiert werden. Unter dem Titel Verzettelt, verschoben, verworfen. Textgenese und Edition moderner Literatur zielte die Tagung, die Editionswissenschaft, Koeppen-Forschung und Computerphilologie zusammenführte, vor allem darauf ab, die Problemlage, die sich im Rahmen der Rekonstruktion der Textgenese von Jugend ergeben hat,
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Der Nachlass befindet sich im Wolfgang-Koeppen-Archiv der Universität Greifswald (www.koeppenarchiv. uni-greifswald.de). Wolfgang Koeppen: Brief an Marcel Reich-Ranicki vom 26.02.1976, WKA Greifswald, Signatur: 4540. Reich-Ranicki (Anm. 1). Hans-Ulrich Treichel: Fragment ohne Ende. Eine Studie über Wolfgang Koeppen. Heidelberg 1984. Vgl. dazu den Beitrag von Almuth Grésillon in diesem Band. Beide Publikationen werden 2016 im Suhrkamp Verlag erscheinen, eine kommentierte Taschenbuchausgabe wird folgen. Zu weiteren Details der digitalen Edition von Jugend (www.koeppen-jugend.de) vgl. die Beiträge von Katharina Krüger und Elisabetta Mengaldo in diesem Band.
Einleitung
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im weiteren Zusammenhang der Literatur der Moderne zu situieren und im Blick auf Grundfragen der Editionsphilologie zu perspektivieren. Im Austausch mit Editionsprojekten zu anderen Autoren und weiteren Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern mit Schwerpunkten im Bereich der Textgenese wurden Werkstattberichte aus laufenden Projekten mit grundsätzlichen Fragen zu Schreibprozessen und Textgenese, Schreibkrisen und Langzeitprojekten, Nachlasserschließung und Archivverwaltung wie auch zu Werk- und Autorkonzepten verknüpft. Dabei lag ein Schwerpunkt auf den Möglichkeiten, die digitale Editionen bzw. Hybrideditionen gerade auch für Texte eröffnen, die hinsichtlich ihrer Genese, der Archivlage oder der Rekonstruktion des Schreibprozesses problematisch erscheinen. Die Beiträge und Diskussionen konnten nicht nur einmal mehr verdeutlichen, inwiefern digitales Edieren neue Perspektiven eröffnet, sie haben auch vor Augen geführt, wie wichtig es ist, neben den Möglichkeiten und Grenzen der Visualisierung und der Veranschaulichung immer wieder erneut Grundbegriffe wie Text und Textgenese, Fragment und Vorstufe oder auch Autor und Werk zu reflektieren und zu problematisieren. Der vorliegende Band versucht dies in drei Teilen, die je verschiedene Schwerpunkte setzen, zu tun. Im ersten Teil (I. Schreibprozesse und Editionsstrategien) werden grundlegende Beiträge zu Schreibprozessen und Fragen der Textgenese, zu Arbeitsweisen und Editionsstrategien sowie zu wichtigen Konzepten der Editionsphilologie zusammengeführt. Almuth Grésillon reflektiert die Methode der critique génétique hinsichtlich des Modus eines „Schreibens ohne Ende“, das sie insbesondere bei Proust, aber auch bei Koeppen ausmacht, und hebt dabei sowohl die Prozesshaftigkeit als auch die Tendenz zur Unabschließbarkeit gerade modernen Schreibens hervor. Bodo Plachta entfaltet in historischer Perspektive Überlegungen zum Zusammenhang von Arbeitsweisen und Editionsstrategien. Am Beispiel von Editionskonzepten aus dem Feld der Literatur wie auch im Blick auf die bildende Kunst, insbesondere am Beispiel von Künstlerhäusern, zeigt er, wie Autoren, Editoren und Archivverwalter Werkpolitik betreiben und welche Konsequenzen sich daraus für Theorie und Praxis des Edierens ergeben. Am Beispiel von Karl Gutzkows 1835 erschienenem Roman Wally, die Zweiflerin, den der Autor siebzehn Jahre später in anderer Form unter dem Titel Vergangene Tage nochmals veröffentlicht, wirft Malte Kleinwort in Reflexionen zum Status der Konzepte Werk, Fassung und Werkzusammenhang neben der Frage nach Werkgrenzen ebenfalls die nach der Werkpolitik auf. Auf nochmals andere Weise werden philologische Grundbegriffe wie Dokument, Text oder Variante in Frage gestellt, wenn es um die Rekonstruktion und Edition digitaler Schreibprozesse geht. An Beispielen aus dem Thomas Kling Archiv und mit Blick auf die laufende Diskussion zur digitalforensischen Analyse zeigt Thorsten Ries, dass „Born Digital Befunde“ eine durchaus grundsätzliche Herausforderung für die Theorie und Praxis der Editorik darstellen können. Der zweite Teil (II. Textgenese und digitales Edieren: Werkstattberichte) konkretisiert die im ersten Teil entfalteten Problemzusammenhänge hinsichtlich der Möglichkeiten des digitalen Edierens anhand von Werkstattberichten aus laufenden Editionsprojekten. Das deutsch-britische Projekt einer digitalen historisch-kritischen Edition von
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Eckhard Schumacher
Arthur Schnitzlers Werken aus dem Zeitraum von 1904 bis 1931, das die Arbeitsgruppe um Wolfgang Lukas und Michael Scheffel in Wuppertal und Thomas Burch in Trier vorstellt, ist mit Texten konfrontiert, in der lange Entstehungszeiträume und komplizierte Formen der Textgenese der Regelfall sind. Wenn mit dem Prinzip der Multiperspektivität versucht wird, die komplexen Entwicklungsprozesse von Schnitzlers Werken auf möglichst anschauliche Weise darzustellen, zeigt sich auf geradezu exemplarische Weise, dass philologische Deutung und Verfahren der Visualisierung nicht zu trennen sind, sondern einander bedingen – mit Konsequenzen für die Arbeit des Editors wie auch des zukünftigen Benutzers. Die auch in dieser Hinsicht relevante Frage, was zum Werk und was in ein Archiv, was in eine Print- und was in eine digitale Edition gehört, wirft Holger Helbig am Beispiel des von ihm geleiteten Projekts der Uwe Johnson-Werkausgabe auf. Auch hier zeigt sich, wie Entscheidungen für Präsentationsformen und die Medialität der Darstellung nicht zu trennen sind von der Frage, wie eine Edition mit dem Werk zugleich ein Bild des Autors hervorbringt. Auf andere Weise stellt sich diese Frage auch für das von Jörg Döring geleitete DFG-Projekt Die Adlon-Tapes: Zur Textgenese von „Tristesse Royale“, das sich einem Text widmet, der für die Etablierung eines bestimmten Autor-Bildes in den späten 1990er Jahren, das des ‚Pop-Literaten‘, mitverantwortlich ist. Da das Projekt über Mitschnitte jenes Gesprächs verfügt, als dessen Transkription sich das Buch Tristesse Royale präsentiert, kann es, wie Jörgen Schäfer zeigt, nicht nur die bislang ungewisse Entstehungsgeschichte zumindest in Teilen klären, sondern zugleich aus editionsphilologischer Sicht die Frage aufwerfen, wie sich Textgenese und Überlieferung dokumentieren lassen, wenn nicht-biblionome Medien die Vorstufen eines literarischen Textes bilden, der sich als kollaboratives audioliterales Schreiben konzeptualisieren lässt. Der dritte Teil (III. Wolfgang Koeppens Jugend) schließlich versammelt verschiedene Perspektiven auf Wolfgang Koeppens Spätwerk und dessen Buch Jugend, das auch rückblickend als Fragment erscheint, angesichts der Befunde aus dem Nachlass aber nur bedingt noch als jenes „vollendete Fragment“ begriffen werden kann, als das es Reich-Ranicki in seiner ersten Reaktion bezeichnet hat.9 Zunächst lenkt Walter Erhart die Aufmerksamkeit auf den von Koeppen schon in den 1950er Jahren konzipierten, in vielen Notizen und Entwürfen skizzierten, aber nie zum Abschluss gebrachten „großen Roman“. Das unabgeschlossene Roman-Projekt bildet auch insofern einen wichtigen Hintergrund für Jugend, als dieses „Fragment“, wie Erhart schreibt, als „fehlgeleitetes und irreführendes Zwischenergebnis“ eines Schreibprozesses verstanden werden kann, der auf einen groß angelegten Familien- und Generationenroman abzielen sollte. Aber auch das „Zwischenergebnis“ und weitere vorliegende Fragmente können, wie Erhart im Rückgriff auf einen weiteren Titel Koeppens argumentiert, als Versuch einer Anamnese der historischen Pathologien des 20. Jahrhunderts entziffert werden kann. Der Schreib- und Arbeitsweise Koeppens im Rahmen von Jugend widmen sich die Beitrage von Katharina Krüger und Elisabetta Mengaldo, beide Mitarbeiterinnen im DFG-Pro-
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Reich-Ranicki (Anm. 1).
Einleitung
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jekt, Mitorganisatorinnen der Tagung und Mitherausgeberinnen des vorliegenden Bandes. Am Beispiel der letzten Sequenz des Buches zeigt Katharina Krüger, wie die schwer zu überblickende, rhizomatische Netzstruktur des Typoskriptkonvoluts mit dem Buchtext und den vorab veröffentlichten Texten aus dem Kontext von Jugend korrespondiert und welche Strategien und Darstellungsmodi für die digitale textgenetische Edition daraus resultieren. Angesichts der Notizen, Fragmente und Vorstufen zu Jugend konzeptualisiert Elisabetta Mengaldo Koeppens Arbeitsweise als prozessorientiertes Schreiben und fragt, inwiefern das Buch als Ergebnis eines Scheiterns zu begreifen ist, sei es aufgrund von Blockaden und Schreibkrisen oder auch eines unkontrollierten Wuchern des Materials, und inwiefern es zugleich auch als ein genuines Experiment mit unterschiedlichen narrativen Möglichkeiten und Traditionen der Moderne gelesen werden kann. Abschließend dokumentiert Philip Koch anhand von ausgewählten Archivalien und Textauszügen eine vom Wolfgang-Koeppen-Archiv konzipierte Ausstellung, die unter dem Titel Verzettelt, verschoben, verworfen anlässlich der gleichnamigen Tagung nicht allein Material zu Wolfgang Koeppens Schreibkrisen zusammengetragen, sondern zugleich Einblicke in seine Arbeitsweise und mithin die Prozessualität eines Schreibens gegeben hat, das sich nicht nur, aber auch als ein „Schreiben ohne Ende“ erweist. Die Tagung wie auch der vorliegende Band konnten im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts Wolfgang Koeppens „Jugend“. Nachlasserschließung, textgenetische Untersuchung, Digitalisierung und Edition realisiert werden. Der Dank der HerausgeberInnen gilt der Förderung durch die DFG wie auch durch das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald, das die Tagung und die Drucklegung des Bandes mit unterstützt hat. Dass die Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungsund Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier nicht nur für das Greifswalder Jugend-Projekt (insbesondere durch die Mitarbeit von Patrick Heck), sondern auch für die Wuppertaler Schnitzler-Edition äußerst fruchtbar ist, unterstreicht nicht zuletzt der entsprechende Beitrag im vorliegenden Band. Thorsten Ries hat seinen Beitrag zu diesem Band nicht im Rahmen der Tagung vorgestellt, war für das Jugend-Projekt aber von Beginn an ein wichtiger Gesprächspartner. Anne Bohnenkamp-Renken, Jörg Döring, Jan Süselbeck und Ulrich Weber waren als Vortragende und Moderatoren wichtige Impulsgeber im Rahmen der Tagung, sind im vorliegenden Band aber nicht mit einem eigenen Beitrag vertreten. Ihnen gilt der Dank der HerausgeberInnen ebenso wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs, insbesondere Siri Hummel, Katja Kottwitz und Christian Suhm, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Wolfgang-Koeppen-Archiv und im Jugend-Projekt, insbesondere Adrian Breda, Michel Kenzler, Philip Koch, Cathrin Scheuring und Claus-Michael Schlesinger. Für die Erteilung der Abdruckgenehmigung für unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass von Wolfgang Koeppen danken die HerausgeberInnen der Peter Suhrkamp Stiftung. Für die Aufnahme in die Beihefte zu editio und die gute Zusammenarbeit gilt der Dank dem Reihen-Herausgeber Winfried Woesler und den Mitarbeiterinnen im Verlag de Gruyter.
I. Schreibprozesse und Editionsstrategien
Almuth Grésillon
Schreiben ohne Ende? Fragen zur Textgenese
1. Schreiben ohne Ende? Nicht jeder Schreibprozess ist per definitionem ein „Schreiben ohne Ende“. Ein Text kann vom Autor fertiggeschrieben und von ihm zum Druck gebracht worden sein, während andere Texte desselben Autors unvollendet erst im Nachlass entdeckt und als Torso postum publiziert werden. Neben diesen Extremfällen gibt es noch allerlei Zwischenstufen, wie z. B. Texte, die zwar fertiggeschrieben, aber, vom Autor selbst als unvollendet erachtet, zu Lebzeiten nicht in den Druck gehen, oder auch tatsächlich unvollendete Texte, die von Fremdhand fertiggeschrieben und in den Druck befördert wurden. Die Frage nach dem Ende des Schreibprozesses ist demnach genauso schwierig zu beantworten wie die nach dem zu edierenden Text. Die critique génétique, auf die ich noch zurückkommen werde, hat eher das Schreiben als den Text auf ihre Fahne geschrieben. Seit ihren Anfängen in den frühen 1970er Jahren bezeichnet sie als Endpunkt des Schreibprozesses genau den Augenblick, in dem der Schreiber das Imprimatur erteilt und damit sein privates Schreiben der Öffentlichkeit übergibt. Mit dieser Geste wird aktives Produzieren zum fertigen Produkt, das Manuskript wird zum unter Lesern zirkulierenden Buch, die Verschriftlichung wird zu erstarrter Schrift. Diese Sichtweise wurde verschiedentlich leicht revidiert, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass manchen Erstausgaben erweiterte, vom Autor verbesserte Ausgaben folgen und dies die Dauer der Genese, also des Schreibens, teilweise um Jahrzehnte verlängert. So zog sich z. B. der Schreibprozess von Paul Claudels Partage de midi über 60 Jahre hin, was unter anderem damit zu tun hat, dass es sich um einen Theatertext handelt, den der Autor vor und nach jeder Neuinszenierung korrigieren kann. So kommt es denn auch vor, z. B. bei Dürrenmatt, dass für gewisse Stücke mehrere Versionen im Umlauf sind, ohne dass dies den Autor je gestört hätte. Stören könnte es höchstens die Editoren, zu deren Aufgabe es immer noch gehört, den Text zu konstituieren und den richtigen, wenn nicht gar den besten Text herzustellen. Was jedoch das absolute Ende des autographen Schreibens nach sich zieht, ist allein der Tod des Autors – jedenfalls solange man noch an Konzepten wie „Autor“ und „Text“ festhält. Marcel Proust hinterließ nach seinem Tod im Jahre 1922 seinen großen Roman À la Recherche du temps perdu, an dem er seit 1908 ununterbrochen gearbeitet hatte und der zu einem der berühmtesten Werke des 20. Jahrhunderts wurde. Doch erst als 1987 ein neuer Textzeuge auftauchte (nämlich das letzte, von Proust korrigierte Typoskript zu Albertine disparue), wurde klar, dass die Recherche, obwohl über 70 Jahre hinweg
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Almuth Grésillon
immer wieder als fertiges Werk ediert, eigentlich nie fertiggeschrieben worden war. Besagtes Typoskript beweist, dass Proust 1922 seinen Roman umorganisieren und die zwei Drittel des in diesem Typoskript gestrichenen Textes in eine neue Gesamtstruktur einbauen wollte. Diese Hypothese ist umso wahrscheinlicher, als Proust zwar laufend Texterweitererungen, aber nur selten definitive Tilgungen vornahm, sondern immer nur Segmente an einem Ort durchstrich, um sie anderweitig, meist in neuem Kontext und um einiges erweitert, wieder zu verwenden. Genau dieses Wiedereinfügen der im Typoskript gestrichenen Passagen konnte im zitierten Fall nicht mehr stattfinden, weil der Tod dem Weiterschreiben ein brutales Ende setzte. Damit ist die Recherche, ebenso wie Robert Musils Mann ohne Eigenschaften oder James Joyce’ Finnegans Wake, zu einem der für die Moderne so charakteristischen unvollendeten Romane geworden. Unvollendetheit hat jedoch nicht nur mit dem Faktum eines immer zu frühen Todes zu tun. Sie ist zur Signatur der Moderne geworden, weil sie ein neues Textverständnis impliziert, nämlich den offenen Text, und damit das vom Idealismus geprägte Konzept des vollendeten Werkes in Frage stellt. Unvollendetheit, welcher Art auch immer, lässt den Entstehungsprozess als ein „Schreiben ohne Ende“ erscheinen, der Schreiber kann sozusagen gar nicht umhin, immer weiterzuschreiben, in stetigem Hinzufügen, vorläufigem Streichen, Ersetzen und Permutieren, wie es gerade Prousts Cahiers oder Paperoles in ihrer Materialität so augenscheinlich machen. Die Formel vom „Schreiben ohne Ende“ verdanke ich Rainer Warnings gleichnamiger Studie zu Prousts Recherche.1 Schreiben ohne Ende, das hat jedoch nicht nur mit der Moderne, sondern auch mit den Arbeitsweisen von Autoren zu tun. Schreiber lassen sich bekanntlich in gewisse Kategorien einteilen: einmal die „Kopfarbeiter“, die erst relativ spät zu schreiben anfangen und bei denen zahlreiche Konzeptionsphasen im Kopf stattgefunden haben und deshalb die erhaltenen Schreibspuren, verglichen mit dem Drucktext, schon sehr textnah, d. h. dem Drucktext schon sehr ähnlich, erscheinen; zu diesen gehört z. B. Heinrich Heine. Zum anderen die „Allesschreiber“, die alles, was ihnen durch den Kopf schießt, auf dem Papier fixieren und erst aus dem Wust des Geschriebenen allmählich einen Text herausschälen; unter ihnen lassen sich wiederum „produktorientierte“ und „prozessorientierte“ unterscheiden.2 Die ersteren arbeiten systematisch auf ein Ziel hin; nacheinander sammeln sie zunächst Material (erhalten in Form von Exzerpten, Zitaten oder Wörterbuchauszügen), machen einen Plan, dann folgen Personen- oder Landschaftsnotizen, Arbeitshandschriften, Revisionen, Reinschriften, korrigierte Druckfahnen. Zu den letzteren, den prozessorientierten Schreibern, zählt zum Beispiel Proust. Es gibt bei ihm keine Pläne, keine Gliederungen, keine Wortlisten, keine Szenarios;
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Rainer Warning: Schreiben ohne Ende. Prousts Recherche im Spiegel ihrer textkritischen Aufarbeitung. In: Rainer Warning (Hg.): Proust. Schreiben ohne Ende. Frankfurt/M. u. a. 1994, S. 7–26. – In demselben Band findet sich auch mein eigener Beitrag: Prousts vagabundierendes Schreiben, S. 66–92. 2 Vgl. Almuth Grésillon: Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994. Ins Deutsche übersetzt: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999.
Schreiben ohne Ende? – Fragen zur Textgenese
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alle genetischen Zeugen sind fast immer schon textartige Gebilde,3 die immer wieder umgestellt, umgeschrieben, erweitert und ersetzt werden. Dennoch wäre es falsch, anzunehmen, Proust habe in den langen Jahren des Schreibens gar nicht mehr an ein Ende gedacht oder gar die Unvollendetheit schon eingeplant. Nein, auf einem Blatt aus dem Jahr 1910 steht sogar in der letzten Zeile in Großbuchstaben das Wort „FIN!“ Proust hatte ab 1909 immer wieder Verleger kontaktiert, in der Hoffnung, seinen Roman zu veröffentlichen, und dann kam es jeweils anders: Zunächst war es der Erste Weltkrieg, durch welchen sich alles änderte, dann, im Jahr 1922, der Tod und wiederum 65 Jahre später die Entdeckung, dass der Roman nie fertiggeschrieben wurde ... Mit dem Beispiel Proust wollte ich, zumindest indirekt, einen Bezug zum Fall Koeppen herstellen. Wie die in diesem Band abgedruckten Beiträge von Walter Erhart, Katharina Krüger und Elisabetta Mengaldo nahelegen, gehört auch Koeppen zu den prozessorientierten Schreibern; auch sein Schreiben ist in mancher Hinsicht ein Schreiben ohne Ende. Nach dieser Einstimmung gehe ich nun auf generelle Fragen zur Textgenese ein, die ich mit einem Rückblick auf eigene Erfahrungen beginnen möchte.
2. Rückblick Als ich 1972 zu der Pariser Heine-Gruppe stieß, war alles Neuland, für mich wie für die fünf weiteren Kollegen – und so geht es wohl allen Literaturwissenschaftlern, wenn sie zum ersten Mal mit Handschriften zu tun haben. Die Arbeit im Archiv, das war für den Fall Heine die Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale: Da galt es zunächst, Heines Schrift zu entziffern und zu transkribieren, Papiere und Wasserzeichen zu untersuchen. Keiner von uns paar Leuten hatte je mit oder über Handschriften gearbeitet: Wir mussten alles von der Pieke auf lernen, und wir wussten damals noch nicht, wozu dieses neue Geschäft mit alten Handschriften gut sein könnte. Der Zufall hatte einen Großteil der in Paris geschriebenen Heine-Handschriften gegen Ende der 1960er Jahre von Jerusalem wieder ans Seine-Ufer zurückgebracht, und nun war zu entscheiden, was damit zu tun sei. „Des manuscrits, pour quoi faire?“ (Was tun mit Handschriften?), fragte damals Louis Hay, der Gründer der Heine-Gruppe, in der Tageszeitung Le Monde.4 Hinzu kam, dass alle Versuche, zwischen Weimar, Düsseldorf und Paris, eine gemeinsame kritische Heine-Gesamtausgabe zu erstellen, aus politisch-ideologischen und editionstechnischen Gründen fehlgeschlagen waren.5 So lässt sich im Nachhinein besser erklären, dass sich unser Blick zunächst von Editionsprojekten weg wandt und immer deutlicher auf die Handschrift an sich, auf ihre Materialität und ihre Funktion in der Genese und Interpretation des Schreibprozesses konzentrierte. Dieses Interesse
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Eine Ausnahme bilden lediglich die vier kleinen Carnets sowie das 2014 von der Bibliothèque nationale de France aufgekaufte Agenda 1906, in denen stichwortartige Szenen zusammenhanglos skizziert werden. 4 Louis Hay: Des manuscrits, pour quoi faire? In: Le Monde, 08.02.1967. 5 Vgl. Bodo Plachta: Heine-Ausgaben. In: Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005, S. 141–161.
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Almuth Grésillon
wurde in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von Zola-, Flaubert-, Proust-, Valéry-, Sartre- und Joyce-Spezialisten begeistert aufgenommen und führte schließlich zu einer neuen, unter dem Namen critique génétique bekannt gewordenen Ausrichtung im literaturwissenschaftlichen Bereich. Sie bezeichnet einen Weg der Forschung, der anhand von überlieferten Schreibspuren den schriftlichen Entstehungsprozess literarischer Werke zu rekonstruieren versucht. Institutionell wurde aus der kleinen Heine-Gruppe im CNRS (Centre national de la recherche scientifique) 1982 ein großes Handschriften-Institut (Institut des textes et manuscrits modernes, ITEM), das von 1986 bis 1994 unter meiner Leitung stand und durch zahlreiche Einzel- und Sammelpublikationen im In- und Ausland hervortrat. Diese Entwicklung ist sicher unter anderem einem wichtigen Archiv-Ereignis zu danken: Im Jahr 1977 hatte Louis Aragon alle seine Handschriften sowie die seiner Frau, Elsa Triolet, nicht etwa der Bibliothèque nationale, sondern dem CNRS vermacht, also genau der Forschungseinrichtung, in der die Heine-Gruppe sowie später das ITEM angesiedelt waren. Archiv und Forschung standen auf diese Weise in direktem Zusammenhang. Aragon hat in der Festrede zur Überreichung der Handschriften unterstrichen, wie wichtig es sei, den Forschern „nicht nur meine Bücher zu vermachen, sondern die Handschriften […], nicht nur die im Buch erstarrte Schrift, sondern jene im Werden begriffenen Gebilde, die während der Verschriftlichung Zeugnis ablegen von den Streichungen und Erweiterungen des Autors, welche das traumhafte Zögern wie auch die Steine des Anstoßes widerspiegeln“.6 Mit diesem Akt folgte Aragon der symbolhaften Geste von Victor Hugo, der in seinem Testament aus dem Jahr 1881 erklärt hatte: „Ich vermache hiermit alle meine Handschriften, sowie alles, was sich von mir an Geschriebenem oder Gezeichnetem auffinden lässt, der Pariser Bibliothèque Royale, die eines Tages die Bibliothek der Vereinigten Staaten Europas sein wird.“7 Das ITEM ist weiterhin die treibende Kraft in der textgenetischen Forschung in Frankreich. In den 1990er Jahren wurde begonnen, die critique génétique auch auf nicht-literarische Schaffensprozesse zu übertragen, z. B. auf Entstehungsprozesse in der Musik, in der bildenden Kunst und Architektur, im Entstehen von Filmen, von wissenschaftlichen Texten und Theorien. Vom neuesten Stand unserer Arbeit im ITEM zeugen seit 1992 die Nummern der Zeitschrift Genesis, die den Untertitel Manuscrits – Recherche – Invention trägt und deren Hauptgewicht nach wie vor auf literarischen Schreibprozessen liegt. Der reine Schreibprozess wurde außerdem in den letzten Jahren um die Analyse von Zeichnungen, Diagrammen und anderen visuellen Indizien erwei-
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Von der Verfasserin übersetzt nach Louis Aragon: D’un grand art nouveau: la recherche. In: Louis Hay (Hg.): Essais de critique génétique. Paris 1979, S. 5–19, hier S. 9: „[...] non seulement d’examiner mes livres, mais à proprement parler mon écriture, […], non seulement l’écrit figé par la publication, mais le texte en devenir, saisi pendant le temps de l’écriture, avec ses ratures comme ses repentirs, miroirs des hésitations de l’écrivain comme des manières de rêverie que révèlent les achoppements du texte.“ 7 „Je donne tous mes manuscrits, et tout ce qui sera trouvé écrit ou dessiné par moi, à la Bibliothèque Royale de Paris, qui sera un jour la Bibliothèque des Etats-Unis d’Europe“ (Übers. d. Verf.).
Schreiben ohne Ende? – Fragen zur Textgenese
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tert. Dabei wurde deutlich, dass bei vielen Autoren gleichzeitig beide Dimensionen mobilisiert werden, um einer dichterischen Idee zum Ausdruck zu verhelfen.8 Andererseits hat sich mit dem Siegeszug der neuen Medien auch auf unserem Gebiet manches verschoben, und böse Zungen sagen uns gerne den baldigen Untergang der critique génétique voraus: „Was macht ihr nun, wo niemand mehr von Hand schreibt und der Computer immer nur spiegelglatte Textgebilde auf der Bildfläche zeigt? Wie wollt ihr verfahren, wenn ihr keine sprechenden Schreibspuren mehr habt, die von der Genese der Werke berichten?“ Der Einwand ist nicht von der Hand zu weisen, die materiellen Angaben handschriftlicher Dokumente sind wertvolle Indikatoren für den Schreibprozess; Papier und Schrift ermöglichen Hinweise auf die Temporalität von Prozessen, die zum Kernstück der critique génétique gehören. Die Frage ist also: Wie wird die critique génétique mit dem Medienwechsel fertigwerden, wenn Schriftstellernachlässe nur noch in Form von elektronischen Datenträgern ins Archiv gegeben werden? Erste Antworten auf diese kapitale Frage liegen vor, zum Beispiel in der Nr. 27 (2007) von Genesis9 und der Nr. 24 von editio (2010), in der Thorsten Ries an einem konkreten Fall nachweist, wie man auch elektronische Speicher zum Sprechen bringen kann.10
3. Zur genetischen Methode Kommen wir nun zurück zur genetischen Methode klassischer Art. Was sind ihre Voraussetzungen, ihre Werkzeuge, ihre Terminologie, ihre Verfahrensweisen? Textgenetik kann nur dann betrieben werden, wenn ein sogenannter avant-texte oder dossier génétique vorliegt, d. h., wenn alle erhaltenen, zum Entstehungsprozess gehörigen schriftlichen Dokumente dem Forscher bekannt und zugänglich sind und wenn er sie in eine genetisch wahrscheinliche Abfolge einordnen kann. Dies bedeutet, dass die critique génétique eine materialabhängige Methode ist und dass der materielle Befund selbst nie absolut vollständig und definitiv sein kann. Denn die schriftlichen Zeugen sind immer nur ein Teil der gesamten mentalen Prozesse, die an der Entstehung eines Werkes mitwirken, und die Anzahl dieser schriftlichen Zeugen selbst kann sich immer wieder ändern; man denke nur an unerwartete Handschriftenfunde (vgl. das oben erwähnte Typoskript von Proust) oder auch an endgültige Verluste von zuvor bekannt gewesenen Handschriften.11 Dass der avant-texte im einzelnen sehr verschieden aussehen kann, liegt auf der Hand. Dies hängt, wie erwähnt, mit der Arbeitsweise des Schreibers, mit
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Vgl. Genesis. Verbal / non verbal 37 (2013). Die Nummer befasst sich mit den konkreten Folgen des Medienwechsels. 10 Thorsten Ries: „die geräte klüger als ihre besitzer“: Philologische Durchblicke hinter die Schreibszene des Graphical User Interface. Überlegungen zur digitalen Quellenphilologie, mit einer textgenetischen Studie zu Michael Speiers ausfahrt st. nazaire. In: editio 24 (2010), S. 149–199. 11 Mit einem Heine-Beispiel habe ich mich befasst in Almuth Grésillon: Erfahrungen mit Textgenese, critique génétique und Interpretation. In: Wolfgang Lukas / Rüdiger Nutt-Kofoth / Madleen Podewski (Hg.): Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Berlin 2014 (Beihefte zu editio, 37), S. 67–79. 9
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Almuth Grésillon
Fragen der Überlieferung wie auch der literarischen Gattung (Gedicht vs. Roman) und mit den immer wechselnden Vorstellungen vom literarischen Schaffensprozess (Barock vs. Surrealismus) zusammen. Mit der genetischen Anordnung der Blätter geht das Lesen der Schrift, das manchmal mühevolle Entziffern einzelner Wörter, die sich bisweilen erst aus dem Kontext späterer Schreibphasen erraten lassen, einher. Als äußerst hilfreich für den Textgenetiker, aber genauso für die Nachwelt, erweist sich das Erstellen einer diplomatischen Transkription, d. h. einer dem Original möglichst nahestehenden Umschrift, bei der eine Seite eine Seite bleibt, eine Zeile eine Zeile, und jedes Schriftzeichen und jede Variante dort wieder erscheinen (auf, über oder unter der Zeile, am Rand, etc.), wo sie ursprünglich standen. Auch Zeichnungen, Kritzeleien und Diagramme sollten in der Transkription zumindest angedeutet werden. Transkriptionen sind natürlich nur Hilfsmittel für die Forschung, ebenso wie Angaben zum Schriftträger (Format, lose oder gebundene Blätter, Wasserzeichen), zur Schrift selbst und zu Schreibinstrumenten, die wichtige Indizien für die Datierung der einzelnen Schreibphasen darstellen können. All diese visuell-materiellen Angaben sind für den Textgenetiker unerlässliche Hilfsmittel auf dem Weg zur Interpretation oder zur Edition der Genese. Was genetische Editionen angeht, so will ich hier nur generell bemerken, dass sie dank dem Durchbruch der neuen Medien sehr viel leichter realisierbar geworden sind. Auf dem Computer lassen sich problemlos alle genetischen Dokumente als Faksimile und in der Transkription speichern, was auf dem Medium Papier aus Raum- und Finanzgründen so gut wie unmöglich ist – es sei denn, man beschränkt sich auf die Kurzform, z. B. auf ein Gedicht. Der Abdruck aller genetischen Zeugen heißt, um auf Hans Zellers Begrifflichkeit zurückzukommen, dass hiermit „Befund“ und „Deutung“ jeweils ihren eigenen Platz in der genetischen Edition finden. Befund impliziert die materielle und zeitlich geordnete Reproduktion der genetischen Zeugen, während die Deutung die textkritische Auswertung der Genese meint. Bei der Interpretation der Genese geht es darum, die Dynamik schriftlicher Prozesse ins Licht zu rücken. Nicht der gedruckte Text ist das Endziel, sondern die innere Dynamik und Rekursivität dessen sichtbar zu machen, was stets im Fluss und widerrufbar bleibt, sich immer wieder verändert und umordnet. Nachdem das räumliche Durcheinander verwandelt wurde in ein zeitliches Nacheinander, geht es also jetzt darum, die Textänderungen nicht als Varianten aufzulisten (z. B. für einen kritischen Apparat), sondern sie in sinnstiftende Zusammenhänge einzuordnen. Dies bedarf gleichzeitig einer präzisen Analyse aller semiotischen Indizes und einer synthetischen Überschau der großen Schreibphasen. Nur so gelingt es, das allmähliche Verfertigen eines Textes beim Schreiben zu verstehen und verständlich zu machen. Die Textgenese interpretieren heißt, die Schrift, das Geschriebene, wieder in Bewegung zu bringen und das auf dem Papier Erstarrte sozusagen zurückzuversetzen in die ihm ursprünglich innewohnende Dynamik. Es gilt, den Schreibprozess in eine Art Zeichentrickfilm zu verwandeln, der jede Bewegung der Hand als nachgespielte Partie simuliert. Dies wurde, lange vor der critique génétique, in der UdSSR der 1950er Jahre, tatsächlich am Beispiel eines Puschkin-Gedichts (Der eherne Reiter) erfolgreich durchgeführt: Man sieht die Schrift
Schreiben ohne Ende? – Fragen zur Textgenese
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vor sich auf dem Bildschirm auftauchen, innehalten; man sieht, wie die schreibende Hand durchstreicht, ersetzt und hinzufügt; man sieht, wie sie sprunghaft zurückeilt, eine Kritzelei am Rand einfügt, etc. Aber nicht nur die Schreibbewegungen, an deren letztem Glied dann trotz allem Hin und Zurück der fertige Text steht, sondern auch die Schlacken, die provisorischen Neuorientierungen, die Rückgriffe auf schon früher erwogene und dann wieder verworfene Hypothesen, die abgebrochenen Fragmente – all dies verweist auf virtuelle Wege, die ganz andere Texte ergeben hätten und die folglich von den zahllosen Möglichkeiten des Schaffensprozesses zeugen. Claude Simon hat das Labyrinth des Schreibens in seiner Stockholmer Rede zum Nobelpreis folgendermaßen kommentiert: „Der Schriftsteller bewegt sich mühsam vorwärts, tastet sich wie ein Blinder weiter, schlägt Sackgassen ein, bleibt im Dreck stecken, geht wieder weiter – und wollte man aus seiner Vorgehensweise wirklich eine Lehre ziehen, so würde man sagen, dass wir uns immer wie auf Treibsand bewegen.“12
4. Zur Theorie Was die critique génétique wohl am meisten von anderen textkritischen Methoden unterscheidet, ist ihre Insistenz auf der Prozesshaftigkeit. Sie erinnert an Valérys „faire poétique“. Das Wichtige dabei ist nicht der Text, auch nicht das Werk, sondern der Prozess des Schreibens, mit all seinen chaotischen, unvorhersehbaren, nicht linearen Vor- und Rückwärtsbewegungen, Neuanfängen und Momenten des Versagens. Insofern ist es für einen Textgenetiker nicht damit getan, dass er von der ersten geschriebenen Spur über alle Teilprozesse hinweg den Königsweg bis zum edierten Text rekonstruiert und dabei die in Sackgassen mündenden, schnell wieder verworfenen Möglichkeiten vergisst. Denn diese Verfahrensweise, die sich nur allzu leicht einschleicht, wäre wieder rein teleologisch orientiert, d. h. ausschließlich auf das Ziel, den Text, ausgerichtet; sie würde am Ende nur beweisen, was der Textgenetiker zu Beginn schon wusste, nämlich dass der Entstehungsprozess tatsächlich zu einem literarischen Werk geführt hat (quod erat demonstrandum). Dieser Weg wäre ohne Weiteres mit stemmaartigen Baumstrukturen abbildbar. Aber literarisches Schreiben ist eben keine rein rational erfassbare Tätigkeit – genauso wenig wie es ein lernbarer Prozess ist. Andererseits ist Schreiben, insbesondere literarisches Schreiben, auch kein völlig dem Zufall ausgesetztes, nur der individuellen Inspiration gehorchendes Tun. Darin liegt gerade der dialektische Kern künstlerischer Schaffensprozesse. Bei solchen Überlegungen waren für mich die musiktheoretischen Schriften des Komponisten Pierre Boulez von großem Gewinn (vor allem Leçons de musique13). Der interessanteste Begriff bei Boulez scheint mir das Wort accident, wörtlich „Unfall“, also etwas Unvorhergesehenes, das den geplanten Ablauf plötzlich unterbricht 12
Übers. d. Verf. nach Claude Simon: Discours de Stockholm. Paris 1986, S. 31: „[…] l’écrivain progresse laborieusement, tâtonne en aveugle, s’engage dans des impasses, s’embourbe, repart, – et si l’on veut vraiment tirer un enseignement de sa démarche, on dira que nous avançons toujours sur des sables mouvants.“ 13 Pierre Boulez: Leçons de musique. Paris 2005.
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Almuth Grésillon
und zunächst zum Stillstand bringt. Ausgehend davon, dass jeder Künstler auf gewissen Traditionen aufbaut, sein Werk konzipiert und zu schreiben beginnt, führt Boulez aus, wie das Komponieren plötzlich ins Stocken gerät und es zu Unterbrechungen und Streichungen kommt. Es ist der Moment des Scheiterns, des Unfalls (l’accident), bei dem das bis dahin verfolgte Gesetz nicht mehr stimmt – bis plötzlich ein völlig neues, unvorhergesehenes Moment, ein kreativer Funke aus dem Dunkel aufleuchtet und das momentane Scheitern der Schreibblockade in einen accident heureux umwandelt. Der Scheideweg wird zum neuralgischen Moment, an dem sich Vision globale und accident du moment gegenüberstehen. Erst aus dieser Dialektik entsteht neue Kreativität: Es ist ein zyklusartiges Abwechseln, wenn nicht unvorsehbar, so doch auch nicht völlig vorhersehbar, eine Dialektik zwischen Gesetz und Accident. Eine musikalische Welt ohne Gesetz gibt es nicht […], aber das Gesetz allein verhindert den Accident und entzieht so der Musik den spontansten Teil ihrer Ausdrucksmittel […]; der Accident muss ständig vom Gesetz absorbiert werden, genauso wie das Gesetz gleichzeitig vom Accident ständig erneuert werden muss.14
Damit wird die Streichung, die rature, der accident – zunächst als negativ, störend oder gar destruktiv empfunden – zum unentbehrlich-essentiellen Element des Schaffensprozesses. Erst aus diesem sich dem Schreibfluss entgegenstellenden graphischen Akt des Durchstreichens kann eine neue Dynamik entstehen. Aus dem störenden accident wird, wie Boulez sagt, ein accident heureux, der das Weiterschreiben ermöglicht, zumindest bis zum nächsten Schock, der wiederum völlig überraschend und unkalkulierbar eintreten wird. Kreative Prozesse sind nur als ständiges Spiel mit einem immer wieder labilen Gleichgewicht zwischen einer vagen Intention und den jeweils dazwischenfunkenden, nicht vorhersehbaren Einfällen, Zwischenfällen und Unfällen zu verstehen. Nur in dieser Dynamik – und damit komme ich zum Anfang meiner Ausführungen zurück – lässt sich schließlich auch die Tendenz zum Schreiben ohne Ende, d. h. zur Unabschließbarkeit gerade modernen Schreibens erklären. Hierzu folgendes Zitat von Musil: „Werke haben etwas Unabschließbares und eigentlich nie ein erreichbares Ziel“.15
Literaturverzeichnis Aragon, Louis: D’un grand art nouveau: la recherche. In: Louis Hay (Hg.): Essais de critique génétique. Paris 1979, S. 5–19. Boulez, Pierre: Leçons de musique. Paris 2005. Genesis. Verbal / non verbal 37 (2013).
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Übers. d. Verf. nach Boulez (Anm. 13), S. 418–419: „Il y a cycle d’échanges, sinon imprévisible, du moins pas entièrement prévisible, il y a dialectique de la loi et de l’accident. Un univers musical sans loi ne peut exister […], mais la loi seule ne permet pas à l’accident d’exister et prive ainsi la musique de la part la plus spontanée de ses moyens d’expression […] l’accident doit pouvoir être constamment absorbé par la loi en même temps que la loi doit sans cesse être rénovée par l’accident.“ 15 Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. Bd. 8. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1024.
Schreiben ohne Ende? – Fragen zur Textgenese
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Grésillon, Almuth: Prousts vagabundierendes Schreiben. In: Rainer Warning (Hg.): Proust. Schreiben ohne Ende. Frankfurt/M. u. a. 1994, S. 66–92. Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994. Ins Deutsche übersetzt: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft, 4). Erfahrungen mit Textgenese, critique génétique und Interpretation. In: Wolfgang Lukas / Rüdiger Nutt-Kofoth / Madleen Podewski (Hg.): Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Berlin 2014 (Beihefte zu editio, 37), S. 67–79. Hay, Louis: Des manuscrits, pour quoi faire? In: Le Monde, 08.02.1967. Musil, Robert: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. Bd. 8. Reinbek bei Hamburg 1978. Plachta, Bodo: Heine-Ausgaben. In: Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005, S. 141–161. Ries, Thorsten: „die geräte klüger als ihre besitzer“: Philologische Durchblicke hinter die Schreibszene des Graphical User Interface. Überlegungen zur digitalen Quellenphilologie, mit einer textgenetischen Studie zu Michael Speiers ausfahrt st. nazaire. In: editio 24 (2010), S. 149–199. Simon, Claude: Discours de Stockholm. Paris 1986. Warning, Rainer: Schreiben ohne Ende. Prousts Recherche im Spiegel ihrer textkritischen Aufarbeitung. In: Ders. (Hg.): Proust. Schreiben ohne Ende. Frankfurt/M. u. a. 1994, S. 7–26.
Bodo Plachta
Arbeitsweisen und Editionsstrategien Eine Annäherung aus historischer Perspektive
Zur Erinnerung an Konrad Hutzelmann
1. Heutzutage ist es keine Seltenheit mehr, wenn Autorennachlässe oder Verlagsarchive einem Museum, Archiv oder einer Forschungseinrichtung zur Aufbewahrung übergeben werden. Hin und wieder können die Umstände der Übergabe spektakulär oder kontrovers sein; dann erhalten sie kurz Aufmerksamkeit in den Medien. Im überwiegenden Teil der Fälle aber ist das Archivalltag. Zu beobachten ist aber, dass sich Autoren immer häufiger dazu entschließen, ihren ‚Vorlass‘, also gewissermaßen ihren ‚Nachlass zu Lebzeiten‘, um mit Musil zu sprechen, abzugeben. Doch dies ist noch eine junge Entwicklung, die aber inzwischen gern genutzt wird, um – von finanziellen Motiven einmal abgesehen – über die Aufbewahrungsmodalitäten mitbestimmen zu können. Ganz anders dagegen die Situation im späten 19. Jahrhundert: Mit Erleichterung hatte man nach dem Tod des letzten Goetheenkels Walther Wolfgang von Goethe am 18. April 1885 dessen letztwillige Verfügung zur Kenntnis genommen, das „Familienarchiv“1 des Dichters, in dem neben dem Briefarchiv der literarische Nachlass den Kernbestand ausmachte, der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach zu vererben und es damit vertrauensvoll ihrer Obhut und Pflege anzuvertrauen. Über fünfzig Jahre lang war Goethes Nachlass für keinen Außenstehenden zugänglich gewesen. Daher war es keineswegs ausgemacht, dass Walther Wolfgang von Goethe sich dazu entschließen würde, den Nachlass des Großvaters zu einer Zeit quasi ‚öffentlich‘ zu machen, als man den Dichter im Rahmen des wilhelminischen Reichs- und Staatspatriotismus zum Heros und weithin wirkenden Monument stilisierte.2 In der Folgezeit ging es dann Schlag auf Schlag: Im Juni 1885 wurde die Goethe-Gesellschaft gegründet, noch im selben Jahr wurde ein Goethe-Nationalmuseum aus der Taufe gehoben, 1886 öffnete man Goethes Wohnhaus als Gedenkstätte, 1887 erschien der erste Band der Weimarer Goethe-Ausgabe und 1889 markierte die Einweihung des Goethe- und Schiller-Archivs
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Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 in 143 Bdn. Weimar 1887– 1919, Abt. I. Bd. 1, S. XIII. 2 Jochen Golz: Das Goethe- und Schiller-Archiv in Geschichte und Gegenwart. In: Jochen Golz (Hg.): Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896–1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Weimar u. a. 1996, S. 13–70, hier S. 14.
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den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, an deren Ende der Dichter als Nationalautor institutionalisiert war. Diese Daten und Fakten sind bekannt, auch die Folgen für die Goethe-Rezeption und Goethe-Philologie.3 Obwohl Goethe schon zu Beginn der 1820er Jahre seine literarischen Handschriften, naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen, Zeichnungen, Tagebücher und Briefe professionell und an seinerzeit modernen Verwaltungsprinzipien orientiert geordnet und archiviert hatte, verfolgte er jedoch andere, eher biografisch motivierte Interessen mit diesem Material als diejenigen, die nach seinem Tod für das Überlieferte verantwortlich wurden. Das Archiv diente Goethe als Arbeitsgrundlage zur Rückgewinnung von authentischen Fakten und Erinnerungen, die er als empathische Motivation für die Realisierung seines groß angelegten Autobiografieprojekts benötigte. Wie notwendig das war, zeigt die komplizierte Entstehungsgeschichte von Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, dessen vierter Teil erst postum erschien und die Erzählung nicht über 1775 und Goethes Abreise nach Weimar hinausgelangte.4 Auch sonst blieb das Autobiografieprojekt ein großer Torso, zerstückelt in Episoden, Lebensabschnitte und fragmentarische Berichte. Das „Konservierungsziel“ des Archivs, meint daher Klaus Hurlebusch, „lag jenseits des von ihm Geschriebenen“.5 Ähnlich äußerte sich Goethe gegenüber dem Kanzler von Müller am 19. November 1830, wenn er betont, er habe das Archiv nicht „nach Laune oder Willkühr“ angelegt, „sondern jedesmal mit Plan und Absicht zu meiner eigenen folgerechten Bildung gesammelt“.6 Sicherlich gehörten zu „Plan und Absicht“ frühere Bemühungen, das inzwischen unübersichtliche, weit verzweigte und vielfach fragmentierte Werk in einer Gesamtausgabe ordnend zu versammeln oder für eine solche zu vollenden, doch insgesamt überwiegen bei der Archivierung persönliche und biografische Gründe. Das Archiv war das Instrument für individuelle Bildung, mit dessen Hilfe Goethe „das Bessere zu leisten hoffte“.7 Obwohl dieses „Bessere“ später in die ‚Vollständige Ausgabe letzter Hand‘ (1827–1830) mündete und die Arbeit an den Archivmaterialien den Schreibprozess des Autors vielfach zu einem erfolgreichen Endpunkt führte, sieht Hurlebusch Goethes Archivkonzeption dennoch von einer „produktiven Kontinuität“8 geprägt, die an erster Stelle den Autor und die Dokumentation seines literarischen Schreibens in den Mittelpunkt rückt und sich erst dann auf das endgültige Werk konzentriert. Goethe räumte zwar ein, dass auch er die „Freunde“ im Blick gehabt habe, denen er bei der postumen Pflege seines Nachlasses mit einem geordneten Archiv „zum besten in die 3 4
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Vgl. hierzu die noch immer instruktiven Beobachtungen von Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1. München 1980, S. 211–232. Vgl. dazu u. a. Rüdiger Nutt-Kofoth: Varianten der Selbstdarstellung und der Torso des Gesamtprojekts Aus meinem Leben: Goethes autobiografische Publikationen. In: Christa Jansohn / Bodo Plachta (Hg.): Varianten – Variants – Variantes. Tübingen 2005 (Beihefte zu editio, 22), S. 137–156. Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne. Tübingen 2001, S. 7. Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe besorgt von Ernst Grumach. Weimar 1956, S. 277. Zum Kontext von Goethes Äußerungen vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Zum Verhältnis von Nachlasspolitik und Editionskonzeption. In: Kai Sina / Carlos Spoerhase (Hg.): Nachlassbewusstsein [im Druck]. Archiv des Dichters und Schriftstellers. In: Goethe (Anm. 1), Abt. I, Bd. 41,2, S. 25–28, hier S. 26. Hurlebusch (Anm. 5), S. 8.
Arbeitsweisen und Editionsstrategien
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Hände gearbeitet“9 habe, doch er dachte dabei zweifellos nicht an eine solche ‚gelehrte‘ Auswertung, wie Archiv- oder Editionswissenschaft sie heutzutage betreiben. Trotzdem machte Goethe mit seinem Archiv auch „Werkpolitik“,10 wie sie in der Konzeption der ‚Ausgabe letzter Hand‘ ihren Niederschlag gefunden hat. Goethe betrachtete sein Archiv sicherlich auch als Materialreservoir zur Kommentierung seiner publizierten Werke und machte es damit zum Gegenstand seiner Publikationsstrategie.11 Wichtiger war ihm jedoch der Erhalt des Archivs als Kunstwerk sui generis und als konstitutiver Teil eines Ensembles, zu dem neben dem literarischen Werk sein naturwissenschaftliches Studienmaterial, seine Bibliothek und seine kunst- bzw. kulturhistorischen Sammlungen zählten. Insofern gründen alle Institutionalisierungsversuche von Goethes Hinterlassenschaft wie auch die quasi in Stein gemeißelten Prinzipien der Weimarer Ausgabe, mit der Wahl eines Textes letzter Hand und der von Goethe kanonisierten Werkanordnung selbst eine unumstößliche Willensbekundung des Dichters umzusetzen, auf einer folgenschweren Strategie. Folgenschwer deshalb, weil sie sich im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext als ideologisch deutbare, vor allem aber durch allerhöchste fürstliche Autorität abgesegnete Archiv- und Editionspolitik von erheblicher Wirkung herausgestellt hat.12 Goethe betrachtete seine Hinterlassenschaft zwar als Resultat klassischer Bildung und als untrennbare Einheit, aber sicherlich nicht als beliebig benutzbares und atomisierbares Reservoir für editorische oder interpretatorische Bemühungen. Dass der Goethe-Nachlass später eine neue Ordnung erhielt, die sich an den Abteilungen und Bänden der Weimarer Goethe-Ausgabe orientierte13 und deren Ordnungsmodell noch einmal zusätzlich sanktionierte, illustriert, mit welcher Geschwin9
Archiv des Dichters und des Schriftstellers. In: Goethe (Anm. 1), Abt. I, Bd. 41,2, S. 27. Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin u. a. 2007, und Nutt-Kofoth (Anm. 6). 11 Vgl. Bodo Plachta: Goethe über das „lästige Geschäft“ des Editors. In: Thomas Bein / Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta (Hg.): Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio, 21), S. 229–238. 12 Vgl. Paul Raabe: Die Weimarer Goethe-Ausgabe nach hundert Jahren. In: Jochen Golz (Hg.): GoethePhilologie im Jubiläumsjahr – Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. Tübingen 2001 (Beihefte zu editio, 16), S. 3–19, besonders S. 6; Norbert Oellers: Die Sophienausgabe als nationales Projekt. In: Jochen Golz / Justus H. Ulbricht (Hg.): Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland. Köln u. a. 2005, S. 103–112; vor dem Hintergrund des Hermann-Denkmals, des Niederwald-Denkmals und des Völkerschlachtdenkmals als Ausdruck des Germanien- bzw. Deutschland-Mythos bezeichnet Oellers die Weimarer Ausgabe als „papiernen Mythos“ (S. 112). 13 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Goethe-Editionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005, S. 95–116, hier S. 98, Anm. 6. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wissenschaftspolitik der DDR die Weimarer Klassikerstätten neu ordnen wollte und Pläne für eine neue Goethe-Gesamtausgabe (die spätere Goethe-Akademie-Ausgabe) geschmiedet wurden, stand auch die Struktur und Organisation des Goethe- und Schiller-Archivs auf der Tagesordnung. Dabei wurde nicht nur die Neuordnung des Goethe-Nachlasses anhand der Weimarer Ausgabe heftig kritisiert, sondern die gesamte, eher willkürlich entstandene Struktur des Archivs prinzipiell auf den Prüfstand gestellt. Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von Volker Wahl: Die 10
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Bodo Plachta
digkeit die damaligen Goethe-Forscher Strategien entwickelten und umsetzten, die Goethes Umgang mit seinen handschriftlichen Aufzeichnungen mit neuem Sinn überlagerten. Entsprechend wurde auch Goethes Archiv wie schon zuvor die ‚Ausgabe letzter Hand‘ als „Abschluß seiner Lebensarbeit“14 etikettiert. Das Archiv war zusehends zu einem „Mausoleum“15 geworden, ein Eindruck, den die monumental-historistische Architektur des Goethe- und Schiller-Archivs zusätzlich unterstreicht. Folgenschwer war diese Politik insofern, weil sie den anfänglichen „editionswissenschaftlichen Pioniergeist“16 der Mitarbeiter behinderte und viele gute Ergebnisse in ein Korsett aus zu schnell beschlossenen Richtlinien zwang, so dass sie heute nur sehr rudimentär erschließbar sind. Insgesamt waren es solche Strukturen, die editorische „Systemzwänge“17 zur Folge hatten und das Verhältnis von Arbeitsweise und Editionsstrategie bis auf den heutigen Tag wenn auch nur noch implizit beeinflussen und darüber hinaus die Autorintention als methodisches wie praktisches Element der Textkritik nachhaltig beschädigt haben. Die in der Weimarer Ausgabe vermeintlich dokumentierte Autorintention war von Anfang an ein Phantom, das bereits in der ‚Ausgabe letzter Hand‘ sein irrlichterndes Unwesen trieb. Aber man erkannte erst in den 1950er Jahren mit letzter Konsequenz, dass wir es in der ‚Ausgabe letzter Hand‘ und damit auch in der Weimarer Ausgabe mit vielfach überfremdeten und oftmals nur rudimentär authentischen Texten zu tun haben. Diese Tatsache, die nicht nur Goethe, sondern auch seinen späteren Editoren lange verborgen blieb, führte dann mit der Aufkündigung des Dogmas von der ‚späten Hand‘ nicht nur zu einem philologischen „Erdbeben“,18 sondern auch zu einem editorischen Paradigmenwechsel mit nun deutlich variablen Modellen der Textkonstitution. Wie weit in Weimar der Arm von Politik und Ideologie auch in späteren Jahren zur Instrumentalisierung der Weimarer Ausgabe noch reichte, zeigt ein Eintrag im Registerband, der mitten im Ersten Weltkrieg erschien und die Zahlenfolge zum Lemma England mit dem Ausruf „Gott strafe England! 1915“19 beschließt. Es gab in den 1870er und 1880er Jahren allerdings bereits philologische Alternativen zu derart staatstragenden Editionen. Karl Goedeke versuchte in den Sämmtliche[n] Schriften Schillers, die zwischen 1867 und 1876 erschienen,20 ein „produktionsbezo-
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Überwindung des Labyrinths. Der Beginn der Reorganisation des Goethe- und Schiller-Archivs unter Willy Flach und die Vorgeschichte seines Direktorats (1954–1958). In: Golz (Anm. 2), S. 71–103. Goethe (Anm. 1), Abt. I, Bd. 1, S. XIX. Diesen Begriff hat der Herder-Editor Bernhard Suphan geprägt, dazu Gerhard Schmid: Vergangenheit und Zukunft der professionellen Archivarbeit im Goethe- und Schiller-Archiv. In: Golz (Anm. 2), S. 105–117, hier S. 107. Marcel Illetschko / Mirko Nottscheid: Kritische Ausgabe oder Neudruck? Editorische Praxis, konkurrierende Editionstypen und zielgruppenorientiertes Edieren am Beginn der Neugermanistik. In: editio 28 (2014), S. 102–126, hier S. 119. Illetschko / Nottscheid (Anm. 16), S. 125. Günther Müller: Goethe-Literatur seit 1945. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26 (1952), S. 377–410, hier S. 378. Goethe (Anm. 1), Abt. I, Bd. 54, S. 276. – Vgl. Herbert Kraft: Editionsphilologie. Frankfurt/M. u. a. 2001, S. 217. Vgl. Bodo Plachta: Schiller-Editionen. In: Nutt-Kofoth / Plachta (Anm. 13), S. 389–402, besonders S. 391– 394.
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gene[s] Editionskonzept“21 umzusetzen, indem er die Rekonstruktion der „Geistes entwicklung Schillers“ und seiner „Gedankenwerkstatt“22 als leitendes Prinzip dieser Ausgabe postulierte. Äußerlich erkennbar war dieses Prinzip bereits an der Anordnung der Texte nach ihrer Entstehungszeit mit einer Bevorzugung des Prinzips der ‚frühen Hand‘. Goedeke schrieb mit Blick auf Schillers dramatischen Nachlass: Denn das Studium dieser Papiere stellte fest, dass dieselben, wenn auch dem blossen ästhetischen Genusse nicht allzuviel bietend, für den aufmerksam Folgenden lehrreicher sein müssen, als alle theoretischen Anweisungen zu Dichtkunst, die von fertigen Kunstwerken abstrahiert oder von Nichtdichtern ersonnen sind. Hier lernt man, wie ein Meister die Sache angriff, wie sie sich unter seiner Hand allmählich formte und häufig vollendete Gestalt gewann.23
Eine solche Vorstellung wirkte sich natürlich auf die editorische Darstellung selbst aus, denn die Editoren sammelten nicht mehr ausschließlich „handschriftliche Spuren“, sondern versuchten erstmals, „Änderungen nicht nur als Änderungsergebnisse, sondern als Änderungsakte darzustellen“.24 Dieses ansatzweise erkennbare genetische Editionskonzept zeigt sich etwa darin, dass mit Hilfe eines differenzierten Siglensystems im Apparat angegeben wird, wie die jeweilige Änderung zustande gekommen ist, um den „Wenige[n]“, wie Goedeke damals weitblickend erkannte, „die Möglichkeit [zu] bieten, die Handschrift des Dichters sich selbst nachzubilden“.25 Goedekes Schiller-Ausgabe blieb jahrzehntelang vielleicht wegen ihres damals unmodernen genieästhetischen Gestus unbeachtet, bis ihr dahinter verborgenes genetisches Konzept in das Blickfeld der Wissenschaftsgeschichte geriet. Dass diese Edition von den Zeitgenossen kaum zur Kenntnis genommen wurde, hing sicherlich mit Goedekes ambivalenter Position im damaligen Wissenschaftsbetrieb zusammen. Sein Agieren war vielfach auch in inhaltlicher Hinsicht paradox, denn er war jemand, „der zugleich mittendrin und draußen“26 war und dies zu inszenieren wusste. Ähnlich erfolglos erging es einer anderen philologischen Alternative, die Michael Bernays schon 1866 bei der Untersuchung der Druckgeschichte von Goethes Werther entwickelt hatte und in der er belegte, dass die ‚Ausgabe letzter Hand‘ eigentlich der Endpunkt eines fehlerhaften und vielfach überfremdeten Druckprozesses war und somit kaum eine philologisch verantwortbare Textgrundlage darstellte. Wenn Bernays’ 21 22
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Klaus Hurlebusch: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (1986), S. 4–42, hier S. 23. Friedrich Schiller: Sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen, R[einhold] Köhler, W[ilhelm] Müldener, H[ermann] Oesterley, H[ermann] Sauppe und W[ilhelm] Vollmer hg. von Karl Goedeke. Bd. 15,2. Stuttgart 1876, S. VI. Schiller (Anm. 22), Bd. 15,2, S. VI. Hurlebusch (Anm. 21), S. 23; vgl. auch Klaus Hurlebusch: Edition. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Das Fischer Lexikon. Literatur. Bd. 1. Frankfurt/M. 1996, S. 456–487, hier S. 480. Schiller (Anm. 22), Bd. 15,2, S. VII. Per Röcken: Karl Goedeke. Anmerkungen zur Biographie, philologischer Praxis und fachhistorischer Beurteilung. In: Roland S. Kamzelak / Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta (Hg.): Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext. Biografische, institutionelle, intellektuelle Rahmen in der Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren. Berlin u. a. 2011, S. 43–66, hier S. 54.
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Abhandlung Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes heute zu den „Gründungsdokumenten“27 neugermanistischer Editionsmethodik gezählt wird, blieb sie doch zu ihrer Zeit weitgehend folgenlos, weil sie sich letztlich doch wieder den herrschenden Strategien unterordnete. Zweifellos hängt das damit zusammen, dass Bernays dem Autorwillen größeres Gewicht beimaß als der Faktizität der Quellen, die er zugegebenermaßen nur in gedruckter Form kannte, denn auch er konnte ja den handschriftlichen Nachlass nicht einsehen. Textkritik begriff Bernays als „eine sorgsam thätige Dienerin“, die das „Hab’ und Gut ihres Herrn, des Autors, treulich zusammen[zu]halten“ habe, damit dies „unverringert und unverkümmert bleibe“.28 Arbeitsweise des Autors und Editionsstrategie durften noch nicht miteinander korrelieren, vielmehr war allein die Feststellung eines „endgültig[en]“29 Textes das Ziel, dem sich die Strategie des Editors anzupassen hatte.
2. Verlassen wir den editorischen Schauplatz mit seinem „Hab’ und Gut“ für einen Moment und wechseln nicht nur von Deutschland nach Frankreich, sondern auch von der Literatur zu den bildenden Künsten, um den Horizont ein wenig zu erweitern. Werfen wir einen Blick auf die Atelier- und Wohnhäuser von Gustave Moreau in Paris und Auguste Rodin in Meudon, um einen Maler und einen Bildhauer kennenzulernen, die beide – ähnlich wie Goethe und viele andere Autoren nach ihm – bereits zu Lebzeiten zu „Organisator[en]“30 ihres jeweiligen Werks wurden und dazu eigens riesige Archive angelegt haben, die nicht nur zu ihren Lebzeiten Teil der kreativen Infrastruktur waren, sondern späteren Betrachtern auch die Genese ihrer Werke und ihre Arbeitsweise anschaulich machen sollten. Diese Häuser sind sicherlich nur ein kleines, wenn auch bedeutendes „Segment[] der authentischen Überlieferung“31 des Werks von Moreau und Rodin. Sie eignen sich in unserem Zusammenhang deshalb als Beispiele, weil sie ebenso wie Schriftstellernachlässe der Gefahr unterliegen, im Laufe der Zeit durch denkmalpflegerische Strategien beeinträchtigt zu werden, weil man anfangs eher ratlos war, wie man mit dieser Form von Hinterlassenschaft umgehen sollte und wie sie als Teil des künstlerischen Gesamtwerks von Moreau und Rodin präsentiert werden könnten. Das Wohn- und Atelierhaus Gustave Moreaus liegt im Pariser Künstler- und Literatenviertel Nouvelle Athènes, das seit den 1830er Jahren zu den angesagtesten Pariser Stadtvierteln zählte. Den Status eines ‚Heiligtums‘ erhielt das heute musealisierte Haus,
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Nutt-Kofoth (Anm. 13), S. 97. Michael Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes (1866). In: Rüdiger Nutt-Kofoth (Hg.): Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Tübingen 2005, S. 16–26, hier S. 17. 29 Bernays (Anm. 28), S. 22. 30 Marie-Cécile Forest: Vom Atelierhaus zum Museumshaus. Das Musée Gustave Moreau. In: Margot Th. Brandlhuber / Michael Buhrs (Hg.): Tempel des Ich. Das Künstlerhaus als Gesamtkunstwerk. Europa und Amerika 1800–1948. Ostfildern 2013, S. 166–179, hier S. 169. 31 Erdmut Wizisla: Archive als Editionen? Zum Beispiel Bertolt Brecht. In: Rüdiger Nutt-Kofoth u. a. (Hg.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin 2000, S. 407–417, hier S. 407. 28
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nachdem Marcel Proust es als „halb Kirche, halb Haus des Priesters“32 geadelt hatte. Das samt Inventar komplett überlieferte Haus zählt noch immer zu den merkwürdigen Beispielen unter den Künstlerhäusern, die sich überall in Europa zahlreich erhalten haben.33 Moreaus Haus in der Rue de La Rochefoucault atmete bereits zu Lebzeiten des Malers einen extravaganten Geist. Es bot Moreau, der mit seinen symbolistischen Gemälden ein nachgefragter Künstler und ein gern gesehener Gast in den Pariser Salons war, die entsprechende Kulisse, um sich als Einsiedler zu inszenieren, der sich bewusst aus dem Kunstbetrieb zurückgezogen hatte und es immer entschiedener ablehnte, seine Bilder in der Öffentlichkeit zu zeigen, geschweige denn zu verkaufen. Doch aus dem Kunstgeschehen war Moreau weder verschwunden, noch versiegte seine Produktion. Warum also begann er nach dem Tod seiner Eltern (1862, 1884) deren Haus eingreifend umzugestalten und ihm die Form zu geben, die es noch heute hat? Im Dezember 1862 hatte Moreau notiert: Ich denke an meinen Tod und an das Schicksal meiner armen kleinen Arbeiten und an alle die Werke, die ich mit Mühe zusammengetragen habe. Vereinzelt werden sie verschwinden, vereint werden sie ein wenig von der Idee Zeugnis ablegen, wer ich als Künstler bin und in welcher Umgebung ich mich meinen Träumen hingegeben habe.34
Die Umgestaltung des Hauses hatte demnach keine praktischen Gründe und diente nicht der Verbesserung der Wohn- oder Arbeitsqualität. Vielmehr sollte das 1895/96 neugestaltete Gebäude mit seiner monumentalen Fassade Zeugnis von Moreaus Künstlerschaft ablegen, wie sie sich authentischer als nirgends sonst an diesem Ort manifestierte. Die Räume seiner Eltern in der ersten Etage blieben als Erinnerungsräume zunächst unangetastet. Erst in seinen letzten Lebensmonaten gestaltete Moreau sie um, sodass neben einem Flur ein kombiniertes Arbeits- / Empfangszimmer, ein Esszimmer und ein salonähnliches Schlafzimmer mit unzähligen familiären Erinnerungsstücken entstanden ist. Moreau hat in diesen Räumen ein artifizielles und bis ins kleinste Detail geplantes Ausstattungskonzept realisiert, das den Lebens- und Arbeitsort zu einem Museum aufwertet. Doch die Person, die hier gewohnt und gearbeitet hat, drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern tritt hinter der riesigen Sammlung von Kunstwerken zurück. Bilder – eigene und fremde –, Fotografien, Bücher, Skulpturen, Andenken jeglicher Art, Möbel und die zahllosen wertvollen kunsthandwerklichen Gegenstände wählte Moreau bewusst aus und arrangierte sie nach musealen Kriterien. In der Mehrzahl handelt es sich um Erinnerungsstücke mit persönlichem Wert und nicht um dekorative Gegenstände. Sie sicherten Lebensspuren sowie die Beziehung zu Eltern, Freunden, Kollegen und künstlerischen Vorbildern und dokumentieren dauerhaft ent-
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Marcel Proust: Werke I. Bd. 3. Hg. von Luzius Keller. Frankfurt/M. 1992, S. 510–520, hier S. 516. Zum Kontext vgl. insgesamt Bodo Plachta: Künstlerhäuser. Ateliers und Lebensräume berühmter Maler und Bildhauer. Fotografien Achim Bednorz. Stuttgart 2014. 34 Zit. nach Pierre-Louis Mathieu / Geneviève Lacambre: Le musée Gustave Moreau. Paris 1997, S. 41 (eigene Übers.). 33
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scheidende Phasen im Leben und Werk des Malers. Diese Lebenszeugnisse bilden quasi ein Museum im Museum. Dahinter steht die zugegebenermaßen egozentrische Idee von der Schaffung eines archivalischen Universums, in dem die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie Mythos, Kunst und Leben aufgehoben sind und sich zu einer großen Geschichtserzählung akkumulieren. Das zweite Geschoss und das frühere Atelier im dritten wurden zu großen Atelierräumen umgestaltet. Durch diesen Umbau gewann Moreau nicht nur mehr Fläche, um seine Bilder auszustellen, sondern auch Höhe, um den großformatigen Werken die entsprechende Wirkung zu verschaffen. Beide Etagen sind mit einer kunstvoll gearbeiteten Wendeltreppe verbunden. Diese Räume sind das eigentliche Zentrum des Hauses, denn in ihnen werden die bedeutendsten Werke Moreaus gezeigt und im Falle der Aquarelle, Zeichnungen oder Gipsabgüsse von Skulpturen in eigens konstruierten Schränken, Vitrinen, drehbaren Kästen mit aufklappbaren Fächern und Staffeleien immer in der Absicht aufbewahrt, den jeweiligen Entstehungszusammenhang oder künstlerische Korrespondenzen sichtbar werden zu lassen. Ein späterer Besucher hat diese Präsentation zutreffend als „eine Art riesige Alben“35 charakterisiert.
Abb. 1 Drehbare Kästen mit aufklappbaren Fächern zur Aufbewahrung und Präsentation von Aquarellen und Zeichnungen Gustave Moreaus (Musée national Gustave Moreau, Paris)
35
Zit. nach Forest (Anm. 30), S. 170.
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Moreau hat die Bilder für die Ausstellung in den Atelierräumen teilweise eigens überarbeitet oder überhaupt erst fertiggestellt. Die Mehrzahl der Bilder blieb jedoch unvoll endet. Die Hängung der Gemälde in mehreren Reihen übereinander zeigt einerseits Moreaus malerische Überfülle und macht andererseits durch die Möglichkeit des Vergleichs sein diffiziles Arbeitsverfahren anschaulich, das sich eklektisch bei Literatur, Kunst- und Kulturgeschichte bedient. Das Arrangement der Bilder lässt nun die zwischen ihnen bestehenden Verbindungslinien zutage treten. Exemplarisch kann man dieses Verfahren an dem Polyptychon Das Leben der Menschheit studieren, das nicht nur aus der Bibel und Mythologie wie aus einem riesigen Reservoir schöpft, sondern auch einen zentralen Platz unter den ausgestellten Bildern einnimmt und zum Referenzwerk für alle anderen Bilder wird. Seit 1897 litt Moreau an Magenkrebs. Im Wissen um den nahen Tod ordnete er seine Skizzenbücher und die übrige malerische und sonstige Hinterlassenschaft. Im September 1897 verfasste er ein Testament, in dem er sein Haus mit dem gesamten Inventar sowie allen Kunstwerken dem französischen Staat vermachte. Im Gegenzug erwartete er „für alle Zeiten – was mein größter Wunsch wäre – oder doch so lange wie möglich diese Sammlung zu erhalten und sie als Ganzes zu bewahren, so dass man stets die Summe der Arbeit und der Mühen des Künstlers zu seinen Lebzeiten ermessen kann“.36 Etwa 25.000 Werke – Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen – viele unvoll endet, gehören zum künstlerischen Inventar. Mit seinem Vermächtnis hatte Moreau einen Präzedenzfall geschaffen, denn noch nie zuvor war das komplette Haus eines Künstlers nach seinem Tod zu einem öffentlichen Museum und Archiv geworden. Erst 1902 nahm der französische Staat nach langem Zögern die Schenkung an und im Januar 1903 öffnete das Haus seine Pforten. Es stieß allerdings beim Publikum auf Skepsis und Unverständnis, weil – anders als man es von einem Museum gewohnt war – die vollendeten Werke in der Minderzahl waren, wohingegen das Hauptaugenmerk auf die Werkentstehung und ihre Kontexte sowie auf das Unvollendete gerichtet war. „Es ist wirklich unheimlich“, so überliefert Paul Valéry eine Äußerung von Edgar Degas nach einem gemeinsamen Besuch des Hauses, „man könnte glauben, in einer Totengruft zu sein ... Alle diese hier vereinigten Bilder wirken auf mich wie ein Thesaurus, ein Gradus ad Parnassum“.37 Der Bildhauer Auguste Rodin hatte 1895 ein Haus gekauft, das malerisch oberhalb der Seineschleife bei Meudon lag, um neben dem Pariser Stadtatelier, das sich nicht mehr vergrößern ließ, noch eine zweite Arbeitsstätte zu haben. Die Villa des Brillants in Meudon wurde schon bald mehr als ein Ausweichquartier, denn Rodin erweiterte hier seine Arbeitsmöglichkeiten durch zahlreiche An- und Neubauten beträchtlich. Obwohl Rodin weiterhin täglich nach Paris fuhr, wurde Meudon schnell das Zentrum der kreativen Arbeit. 1901 ließ er im Garten jenen Pavillon etwas verkleinert wieder aufbauen, der ihm ein Jahr zuvor während der Pariser Weltausstellung als Ausstellungsort für sei-
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Zit. nach Mathieu / Lacambre (Anm. 34), S. 190 (eigene Übers.). Zit. nach Mathieu / Lacambre (Anm. 34), S. 191 (eigene Übers.).
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ne Werke gedient hatte. Diesen Pavillon mit klassizistischer Fassade und großem Portikus nutzte er nun in Meudon als weiteres Atelier und als Raum, in dem er seine Werke einer immer größer werdenden Schar von Besuchern aus vielen Ländern präsentierte. Der Pavillon, in dem die Skulpturen wie „ein steinerner Wald“ standen und auf die „innere Endgültigkeit ihrer Konturen“ 38 warteten – wie Stefan Zweig meinte –, war halb Atelier, halb Museum. Rodin selbst bezeichnete es als „musée“. Mit der Zeit baufällig geworden, wurde der ursprüngliche Pavillon 1930/31 durch ein Gebäude ersetzt, das sich architektonisch an den Vorgängerbau anlehnte. Viele Besucher, die in Rodin einen neuen Künstlertypus erkannten, waren von diesem Ateliermuseum begeistert, so auch Rainer Maria Rilke, der im September 1902 erstmals nach Meudon kam und später als Rodins Sekretär zeitweise in einem Nebengebäude der Villa des Brillants lebte. Seiner Ehefrau Clara Westhoff schreibt er tief beeindruckt: Es ist ein ungeheuer großer und seltsamer Eindruck, diese große helle Halle mit allen ihren weißen, blendenden Figuren, die aus den vielen hohen Glastüren hinaussehen wie die Bevölkerung eines Aquariums. Groß ist dieser Eindruck, übergroß. Man sieht, noch ehe man eingetreten ist, daß alle diese hundert Leben ein Leben sind, – Schwingungen einer Kraft und eines Willens. Was da alles ist – alles, alles. Der Marmor von La prière: Gipsabgüsse von fast allem. – Wie das Werk eines Jahrhunderts ... eine Armee von Arbeit.39
Rilke begriff nicht nur kongenial die Funktion dieses Ateliermuseums für den unmittelbaren Arbeitsprozess, sondern erkannte auch das im Skulpturenwald verborgene Selbstbild des Bildhauers als das eines permanent arbeitenden Handwerkers. Das scheinbar unstillbare Bedürfnis nach Raum hatte mit Rodins Arbeitsweise zu tun. Bevor er seine Skulpturen in Marmor oder Bronze ausführte, fertigte er zahlreiche Studien aus Gips, die sich zu regelrechten Serien erweiterten und ihm zur Überarbeitung oder Neu-Kombination bereits bestehender Werke dienten. Diese Entwürfe und Fragmente dokumentierten die einzelnen Phasen der Werkentstehung, auf die der Bildhauer immer wieder zurückgriff.40 Die Ergebnisse wurden sorgfältig – teilweise in Vitrinen oder auf Podesten – aufbewahrt, weil in ihnen auch die Entwicklung der skulpturalen Sprache des Bildhauers bewahrt war, die Rodin ständig überprüfte. Im Laufe der Zeit entstand ein riesiges Archiv von Entwürfen, das natürlich seinen Platz beanspruchte.
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Stefan Zweig: Abschied von Rilke. In: Donald A. Prater (Hg.): Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig in Briefen und Dokumenten. Frankfurt/M. 1987, S. 113–129, hier S. 121. 39 Rainer Maria Rilke: Brief an Clara Westhoff, 2. September 1902. In: Rätus Luck (Hg.): Rainer Maria Rilke / Auguste Rodin: Der Briefwechsel und andere Dokumente zu Rilkes Begegnung mit Rodin. Frankfurt/M. 2001, S. 43. 40 Justus Fetscher bezeichnet sie „als Dispositive unzähliger Körper-Teil-Torsi, die immer neu, aber niemals endgültig konfiguriert werden können“ (Fragment. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2. Stuttgart u. a. 2001, S. 551–588, hier S. 573).
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Abb. 2 Rodins „musée“ zur Archivierung/Präsentation von Gipsfassungen vollendeter und unvollendeter Skulpturen (Musée Rodin, Meudon)
1895 begann Rodin außerdem mit dem Aufbau einer stetig wachsenden Sammlung von Antiken und Gemälden, die ebenfalls in der Villa des Brillants in einem eigens errichteten Anbau eine Heimstatt fand. Gleichzeitig entstand eine Bibliothek, die das Ensemble der Sammlungen komplettierte. Die Villa des Brillants vermachte er ebenso wie seine letzte Pariser Wirkungsstätte im Hôtel Biron dem französischen Staat; heute sind beide Häuser viel besuchte Museen, wobei Meudon eher als Studien- und Arbeitsort mit einem Archiv beeindruckt, in dem Rodins Werk in allen Arbeitsphasen bewahrt wird. Meudon ist die Verwirklichung von Rodins Maxime, „dass alles im Werden war und nichts eilte.“41
3. Die Beispiele aus der Kunstgeschichte ließen sich vermehren, denn seit der Renaissance sind Werkstätten bekannt oder im besten Fall sogar überliefert, in denen das 41
Rainer Maria Rilke: Schriften zur Literatur und Kunst. Hg. von Torsten Hoffmann. Stuttgart 2009, S. 154.
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unvollendete und das vollendete Werk einen selbstverständlichen und gleichberechtigten Platz am Ort ihres Entstehens gefunden haben. Allerdings gibt es in der bildenden Kunst weitere als nur archiv- oder museumsartige Strategien, um die Entstehung eines Kunstwerks zu dokumentieren, in zahlreichen Fällen allerdings auch nicht immer mit dem glücklichen Resultat die jeweilige Werkstattumgebung zu rekonstruieren. Im Nürnberger Dürer-Haus, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen, hat man die Wohn- und Arbeitsstube im späten 19. Jahrhundert anhand von Dürers Kupferstich Der heilige Hieronymus im Gehäus (1514) inszeniert. Lange hielten eigens gemalte Atelierbilder solche Arbeitskontexte bildlich fest, später folgten Fotografie, Film und heutzutage Installationen.42 Axel Gellhaus hat etwa auf den inzwischen legendären Film Le mystère Picasso von Henri-Georges Clouzot aus dem Jahr 1955 hingewiesen, der den Arbeitsprozess des Malers mit raffiniert eingesetzten filmischen Mitteln festhält, indem er dessen Malbewegungen scheinbar durch die Leinwand filmt.43 Die Ateliermuseen von Moreau und Rodin aber schienen mir in unserem Zusammenhang deshalb so interessant, weil hier parallel zu den ‚Gründerjahren‘ der neugermanistischen Editorik und der Erarbeitung erster großer historisch-kritischer Ausgaben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein sowohl internationales als auch interdisziplinäres Interesse am Arbeitsprozess und dessen Dokumentation durch den Künstler selbst aufscheint. Gleichzeitig musste man unabhängig von der jeweiligen Disziplin das Problem in den Griff bekommen, wie man ordnend und analysierend mit dem dazu überlieferten Material umgehen sollte. Ein Blick in unsere Archive zeigt, dass anfangs sehr willkürlich damit umgegangen wurde und sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Systematik in der Ordnung und Verzeichnung literarischer Nachlässe herausdifferenziert hat. Auch aus dieser Perspektive ist die Weimarer Goethe-Ausgabe ein Außenseiterprodukt. Sie ist eben nicht – wie gern behauptet wurde – das Ergebnis eines philologischen Konsenses, sondern das einer wohlkalkulierten Strategie, die die Ausgabe sowohl nach innen als auch nach außen erfolgreich als Konsens inszeniert hat. Das Interesse am künstlerischen Arbeitsprozess und die Idee, diesen in einem Archiv, einer Edition oder einem anderen Medium zu bewahren, war jedoch keine Eintagsfliege und setzte sich im Laufe der Zeit durch. Es ist sogar noch in den erhaltenen Avantgarde-Ateliers von Constantin Brancusi oder Francis Bacon erkennbar. Während Brancusi der Ansicht war, dass seine Skulpturen außerhalb des Ateliers ihre Aura und Wirkung verlieren würden,44 hinterließ Bacon eigenen Worten zufolge ein „Dreckloch“,45 in dem, allerdings unter unendlich vielen Schichten verborgen, eine organisierte Werkstatt und ein faszinierender Arbeitsprozess zu entdecken waren. Deren Systematik wurde in den letzten Jahren
42
Hierzu insgesamt: Ina Conzen (Hg.): Mythos Atelier. Von Spitzweg bis Picasso, von Giacometti bis Nauman. München 2012. 43 Vgl. Axel Gellhaus: Textgenese als poetologisches Problem. In: Axel Gellhaus u. a. (Hg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg 1994, S. 11–24, hier S. 20. 44 Vgl. Plachta (Anm. 33), S. 270–272. 45 Zit. nach Perry Ogden: 7 Reece Mews. Francis Bacon’s Studio. Foreword by John Edwards. Photographs by Perry Ogden. London 2001, S. 10 (eigene Übers.).
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in langwierigen archäologischen Verfahren nach und nach freigelegt. Die etwa 7.000 Einzelteile sind genetisch geordnet in einer Datenbank zugänglich, während das Gesamtatelier von London nach Dublin transportiert und dort in einem Museum originalgetreu wieder aufgebaut wurde.46 Sämtliche hier vorgestellten Ateliers haben trotz aller Verschiedenheit ein gemeinsames Merkmal, das auch Rilke bei seinem Besuch in Rodins Atelier herausgestellt hat: „Da stand, riesig zusammengeballt der Denker, in Bronze, vollendet; aber er gehörte ja in den immer noch wachsenden Zusammenhang des Höllentors.“47 Das vollendete Werk ist zwar Teil eines dynamischen und jederzeit variablen Entstehungskontextes, aber es hat auch seinen eigenständigen Wert. So wie Rodins Denker als selbständiges Kunstwerk oder als Teil der Höllentorkonzeption existiert und sogar sein Grab schmückt, so gruppierte Moreau seine unvollendeten Werke in Bezug auf sein vollendetes Hauptwerk Das Leben der Menschheit. Ähnliches kennen wir aus der Literaturgeschichte, wenn Autoren zu Editoren ihrer eigenen Werke werden und diese in unterschiedlichen Zusammenhängen publizieren oder in Werkausgaben neu arrangieren. Während diese genetischen Zusammenhänge in den Künstlerhäusern von Moreau und Rodin unmittelbar ins Auge springen, ist es noch heute Gegenstand der Diskussion, wie diese Dynamik im Fall der Textgenese in eine Edition zu transportieren ist – Thomas Mann hat dies anschaulich einen „Bohrungsprozeß“48 genannt. Zwar herrscht Konsens, dass die vollständige Dokumentation der Textgenese unverzichtbarer Teil einer wissenschaftlichen Edition ist, und es ist ebenfalls Konsens, dass auf diese Weise ein Schriftstellernachlass in eine Edition eingeht, um den „intellektuelle[n] Spiel-Raum“49 zu vermessen, in dem sich ein Autor schreibend bewegt. Doch die medialen und editionspraktischen Darstellungsformen sind nach wie vor umstritten.50 Die Meinungen gehen beispielsweise weit auseinander, wenn wir darüber streiten, ob überhaupt und – wenn ja – wie in einer Literaturedition die Textgenese zum vollendeten Werk in Beziehung gesetzt werden soll. Oder reicht es schon aus, diese Materialien in einem Dossier zusammenzuführen, wie es das Forschungsanliegen der französischen „critique génétique“ ist? Zugespitzt heißt das: Brauchen wir einen verbindlichen Lesetext, der dann so etwas wie ein Kompass wäre und dem Benutzer eine Orientierung in den gewöhnlich zahlreichen Optionen der Genese erleichtert? Die textgenetisch orientierten Editionen der letzten vier Jahrzehnte haben auf diesen Fragenkomplex mit unterschiedlichen, teilweise divergierenden Modellen reagiert, die den Umgang mit Editionen nicht unbedingt vereinfacht haben. Klaus Hurlebusch hat in mehreren Beiträgen und zuletzt 2001 in seiner Studie über Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens die geringe Akzeptanz der Editi46 47 48 49 50
Vgl. [Unbekannt]: History of Studio Relocation. www.hughlane.ie/history-of-studio-relocation (abgerufen 27.07.2015). Rilke (Anm. 41), S. 154. Thomas Mann: Meine Arbeitsweise. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 11. Frankfurt/M. 1974, S. 747. Adolf Frisé: Ein aktueller Rückblick. In: Friedbert Aspetsberger / Karl Eibl / Adolf Frisé (Hg.): Benutzerhandbuch zu: Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Reinbek 1992 [CD-ROM]. Vgl. Nutt-Kofoth (Anm. 6).
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onswissenschaft bei den anderen Disziplinen beklagt. Den Grund für dieses nach wie vor bestehende Akzeptanzdefizit sieht er im Bedürfnis der deutenden und auf Vermittlung ausgerichteten Literaturwissenschaft nach einem konsistenten Werk. Das massive literaturwissenschaftliche Beharren auf „abgegrenzten und leicht überblickbaren Textgebilden“ behindere – so Hurlebusch – dagegen Lektüren, die sich schwerpunktmäßig auf das werkgenetische Material konzentrieren und damit „einen Textezusammenhang darstellen, [den] es im ursprünglichen voreditorischen Reliktzustand nicht gegeben hat.“51 Textgenetische Lektüren blieben daher weiterhin allein die Domäne von Editoren und vertieften damit die Kluft zwischen Literatur- und Editionswissenschaft durch sich voneinander abgrenzendes Spezialistentum. Dies ist eine – in der Tat – ernüchternde, gleichwohl zutreffende Anamnese vor dem Hintergrund, dass textgenetische, auf die Arbeitsweise des jeweiligen Autors konzentrierte Perspektiven unbeirrt das editorische Geschäft beherrschen und mit den neuen Medien und ihren schier unendlich erweiterbaren Darstellungsmöglichkeiten noch einmal befeuert wurden. Die Konstitution eines edierten Textes galt dagegen vielfach als nachgeordnete Aufgabe, die man gern Verlagen überließ. Schon 1995 hat Peter von Matt in der damaligen Debatte über die Faksimile-Edition von Kafkas Process-Roman52 mit einem Zwischenruf an die editorische Tugend erinnert, über allen ‚postmodernen‘ Vorstellungen vom literarischen Werk „als eines komplexen, an allen Rändern ausfasernden, letztlich endlosen Prozesses, der nie zur festen Gestalt gerinnt und nur als solcher wiedergegeben werden kann“, eine „einzige, verbindliche, rundum verantwortete und definitive Gestalt des Textes“53 nicht zu vergessen. Peter von Matt hat sich als ‚bekennender‘ Kafka-Leser stets für die Lektüre von Kafka-Handschriften stark gemacht, in dieser Lektüre sogar ein ästhetisches Erlebnis gesehen. So wichtig und richtig es ist, durch eine Edition die Handschriftenlektüre zu ermöglichen, der vollendete Text oder das Werk sollten als Bezugsgröße nicht außer Acht gelassen werden. Ob sich der Editor damit zum Knecht der Literaturwissenschaft macht, wie Hurlebusch mutmaßt, sollte dabei weniger interessieren. Rüdiger NuttKofoth hat den edierten Text sogar als „selbständige Größe“ zurückgefordert und Walter Delabar hat sogar jüngst emphatisch ein „Lob der Leseausgabe“54 ‚gesungen‘. Und die neuen, ausdrücklich die Handschriftenlektüre unterstützenden Editionen zu Hölderlin, Büchner, Trakl, Keller oder Musil verweigern dem Benutzer keinen Lesetext mehr
51
Hurlebusch (Anm. 5), S. 3. Franz Kafka: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel u. a. 1995. 53 Peter von Matt: Wie kommt der Kaviar zum Volk? In: Die Zeit, 27.01.1995, S. 53. – Ich greife hier frühere Überlegungen auf: Bodo Plachta: Editorischer Pragmatismus. Zum Verfahren der genetischen Variantendarstellung in der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. In: Hans Zeller / Gunter Martens (Hg.): Textgenetische Edition. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio, 10), S. 233–249. 54 Rüdiger Nutt-Kofoth: Dokumentierte und gedeutete Befunde. Zum Abschluß der historisch-kritischen Ausgabe von C.F. Meyers Gedichten mit einem Rück- und Ausblick auf die Entwicklungen der Editionsphilologie. In: Euphorion 94 (2000), S. 225–241, hier S. 240; Walter Delabar: Lob der Leseausgabe. Die Edition der Brecht-Notizbücher geht weiter und ist großartig, wirft aber Fragen auf. In: literaturkritik. de 16.12.2014. www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20110&ausgabe=201501 (abgerufen 27.07.2015). 52
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und sind gerade auch deshalb innovativ. Dennoch divergieren diese Editionen erheblich in Methodik und Präsentation und das deshalb, weil sie auf eine jeweils andere Materialbasis oder Arbeitsweise reagieren müssen. Obwohl die Organisatoren der Greifswalder Tagung „Verzettelt, verschoben, verworfen. Textgenese und Edition moderner Literatur“ (2014) mich mehrmals herauszufordern versucht haben, pragmatisch ein tragfähiges editorisches Modell für den spezifischen Umgang mit Arbeitsweisen moderner Autoren zu skizzieren, musste ich leider, allerdings auch aus Überzeugung, passen: Wir könnten – so sollte man meinen – textphilologische Standards formulieren, doch allen Bemühungen um eine Vereinheitlichung von Terminologie und Verfahrensweisen war in der Vergangenheit nur wenig Erfolg beschieden und ich sehe auch gegenwärtig wenig Begeisterung, sich solchen Herausforderungen zu stellen. So wenig Architekten und Ingenieure absolut erdbebensichere Gebäude und Brücken konstruieren können, so wenig wird es eine editorische Methode geben, deren Ergebnis nicht vom Laborcharakter ihrer Verfahren abhängig ist. Wie ein editorisches Labor jedoch aussehen könnte, illustriert die 2014 erschienene genetische Edition ausgewählter Gedichte von Gottfried Benn, die Thorsten Ries erarbeitet hat.55 Ries hat sich für das Modell einer „Textmonografie“56 entschieden, also – vereinfachend gesagt – für eine Kombination aus Edition und diskursiver Dokumentation. Methodisch gesehen verknüpft er Prinzipien einer von Faksimiles gestützten genetischen Archivausgabe mit dem Verfahren der „critique génétique“, Elemente der materialen Überlieferung und Schreibspuren in einem „dossier génétique“ zusammenzuführen, zu erschließen und zu kommentieren. Dieser Edition gelingen spannende Einblicke in Benns hochkomplexe „Arbeitstopografie“, zu der unterschiedlichste und miteinander kommunizierende „Textträgerformate“,57 aber auch ebenso komplexe Schreibkontexte gehören. Wenn diese Edition auf die Konstitution eines Lesetextes mit guten Argumenten auch verzichtet, weil Benns Texte in autorisierten Ausgaben vorhanden sind, liegt die Bedeutung dieser Edition darin, das mit ihr viele neue methodische Wege beschritten werden, die einmal mehr den Methodenpluralismus der deutschsprachigen Editionswissenschaft illustrieren. Auch mit dieser Edition sind nicht alle Fragen erschöpfend beantwortet, vor allem braucht es eine gehörige Portion an Bereitschaft, sich auf dieses Modell der Textpräsentation einzulassen. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass vielleicht noch immer folgende Strategie eine Orientierung für das Design zukunftsfähiger Editionen sein kann; eine Strategie, von der sich auch die erwähnte Benn-Edition erkennbar hat leiten lassen: Gerhard Seidel hat 1970 bei der Erörterung eines Planes für eine neue, leider so nie realisierte Brecht-Edition die Forderung aufgestellt, dass jedes neue Editionsvorhaben sich an zwei Faktoren messen lassen müsse, und zwar an denen der „Funktions- und Ge-
55
Vgl. Thorsten Ries: Verwandlung als anthropologisches Motiv in der Lyrik Gottfried Benns. Textgenetische Edition ausgewählter Gedichte aus den Jahren 1935 bis 1953. Berlin u. a. 2014. 56 Ries (Anm. 55), S. 29. 57 Ries (Anm. 55), S. 30.
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genstandsbedingtheit“.58 Dieses Begriffspaar gehört seitdem zu den methodologischen Grundeinsichten der neugermanistischen Editionswissenschaft. Sie sind so etwas wie eine editorische ‚TÜV‘-Zertifizierung geworden. Diese Grundeinsichten implizieren eine Differenzierung der editorischen Zielsetzungen, der textkritischen Verfahren, der spezifischen Überlieferungssituation des zu edierenden Gegenstandes und die Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsweisen. Überlegungen zum Adressatenkreis und zur Gebrauchsfunktion gehören ebenfalls in diesen Reflexionsrahmen, der allerdings vermutlich immer zu Kontroversen Anlass geben wird. Hier divergieren naturgemäß am ehesten die Auffassungen, weil sie meistens von literatur-, kultur- oder medienwissenschaftlichen Vorannahmen geprägt sind. Dennoch sollte man sich bei der Konzeption einer neuen Edition darum bemühen, ein Editionsprofil mit entsprechenden Strategien zu entwerfen, das etwa auf folgende Fragen zu reagieren versucht: Welche Disziplinen will die Edition ansprechen? Wie spezialisiert müssen die potentiellen Benutzer sein, um mit der Edition erfolgreich arbeiten zu können? Welches Informationsbedürfnis soll mit der Edition befriedigt werden? Was muss die Edition als Arbeitsinstrument anbieten bzw. gewährleisten? Auch spielt die Frage eine Rolle, in welchem Medium – als Buch, digitalisiert oder als Hybridausgabe – die Edition publiziert wird. Und: In welchem Maße kann das überlieferte Material bildlich zur Verfügung gestellt und mit der Edition verknüpft werden? Diese Faktoren haben Auswirkungen auf das Editionsziel und damit auf Profil und Design, denn es ist irrig anzunehmen, eine Edition könne allen Wünschen von Benutzern gerecht werden. Wichtiges Anliegen einer Edition bleibt jedoch, dass durch sie eine von allen Benutzerinteressen unabhängige verlässliche, textkritisch verantwortete und zitierfähige Textgrundlage geliefert wird. Dieses Ziel ist zumindest für mich nicht verhandelbar! Während frühere Ausgaben – wie wir gesehen haben – in ihren Zielsetzungen eher normativ verfahren sind, gehen wir heute von „offen[en]“59 Editionen aus, die sich durch methodische Vielfalt und unterschiedliche Verfahrensweisen auszeichnen, was jedoch nicht bedeutet, dass philologische Standards aufgegeben würden oder beliebig wären. Denn es geht keineswegs nur darum, dass eine ‚ältere‘ durch eine ‚neuere‘ Edition ersetzt wird und der Zweck die Mittel heiligt. In dem Maße wie Editionen als „Ehrengräber“60 oder als ‚Editionen für Editoren‘ abgekanzelt wurden, in dem Maße hat sich die Notwendigkeit von Transparenz und Nachhaltigkeit vergrößert. Der Editor verstand zwar seine Aufgabe immer als Mittler zwischen Autor und Leser. Doch wie er sein Selbstverständnis in der praktischen Editionsarbeit umsetzt, war und ist Gegenstand der Diskussion. Die Konzentration auf den einen Text gehört inzwischen ebenso der Wissenschaftsgeschichte an wie das Handeln des Editors als Stellvertreter des Autors. Präferenz hat heute die „möglichst ‚autoritätsfreie‘ Doku-
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Gerhard Seidel: Bertolt Brecht – Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß. Berlin 1977, S. 19. 59 Hans Zeller: Edition und Interpretation. Antrittsvorlesung (1966). In: Nutt-Kofoth (Anm. 28), S. 279– 288, hier S. 288. 60 Ulrich Ott: Dichterwerkstatt oder Ehrengrab? Zum Problem der historisch-kritischen Ausgaben. Eine Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 3–6.
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mentation“61 des Textes. Damit hat sich die Methodik der Edition verändert, wenn auch die kritisch-analytischen Operationen dieselben geblieben sind. Gunter Martens hat in der Entwicklung der Editorik zu Recht einen „Rückzug auf den Text“62 gesehen. Die „Faktizität der Texte“63 hat vor dem Hintergrund neuer Formate von Texteditionen, etwa den Faksimileausgaben oder Editionen mit digitalisierten Anteilen, noch an Bedeutung gewonnen. Ergänzt wurde dieses Prinzip um eine stärkere Berücksichtigung von materialen Aspekten der Überlieferung. Man kann sicherlich Folgendes als Resultat dieser Entwicklung und vielleicht auch dieser Überlegungen festhalten: Der befundorientierte, dokumentierende Aspekt und die Textkritik als Verfahren zur Textkonstitution haben sich als belastbare und zukunftsfähige Editionsstrategie herausgestellt, unabhängig davon, wie dies in einer Edition letztlich umgesetzt wird. Damit ist allerdings keineswegs die hier mehrfach aufgeworfene Frage ‚Wie ediert man ein Archiv?‘ auch nur annähernd und schon gar nicht erschöpfend beantwortet. Vielleicht sind aber zumindest einige Orientierungspunkte deutlich geworden.
Literaturverzeichnis [Unbekannt]: History of Studio Relocation. www.hughlane.ie/history-of-studio-relocation (abgerufen 27.07.2015). Bernays, Michael: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes (1866). In: Rüdiger Nutt-Kofoth (Hg.): Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Tübingen 2005, S. 16–26. Conzen, Ina (Hg.): Mythos Atelier. Von Spitzweg bis Picasso, von Giacometti bis Nauman. München 2012. Delabar, Walter: Lob der Leseausgabe. Die Edition der Brecht-Notizbücher geht weiter und ist großartig, wirft aber Fragen auf. In: literaturkritik.de 16.12.2014. www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20110&ausgabe=201501 (abgerufen 27.07.2015). Fetscher, Justus: Fragment. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2. Stuttgart u. a. 2001, S. 551–588. Forest, Marie-Cécile: Vom Atelierhaus zum Museumshaus. Das Musée Gustave Moreau. In: Margot Th. Brandlhuber / Michael Buhrs (Hg.): Tempel des Ich. Das Künstlerhaus als Gesamtkunstwerk. Europa und Amerika 1800–1948. Ostfildern 2013, S. 166–179. Frisé, Adolf: Ein aktueller Rückblick. In: Friedbert Aspetsberger / Karl Eibl / Adolf Frisé (Hg.): Benutzerhandbuch zu: Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Reinbek 1992. [CD-ROM] Gellhaus, Axel: Textgenese als poetologisches Problem. In: Axel Gellhaus u. a. (Hg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg 1994, S. 11–24. Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 in 143 Bdn. Weimar 1887–1919.
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Bodo Plachta
Golz, Jochen: Das Goethe- und Schiller-Archiv in Geschichte und Gegenwart. In: Jochen Golz (Hg.): Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896–1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Weimar u. a. 1996, S. 13–70. Hurlebusch, Klaus: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (1986), S. 4–42. – Edition. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Das Fischer Lexikon. Literatur. Bd. 1. Frankfurt/M. 1996, S. 456–487. – Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne. Tübingen 2001. Illetschko, Marcel / Nottscheid, Mirko: Kritische Ausgabe oder Neudruck? Editorische Praxis, konkurrierende Editionstypen und zielgruppenorientiertes Edieren am Beginn der Neugermanistik. In: editio 28 (2014), S. 102–126. Kanzog, Klaus: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991. Kraft, Herbert: Die Aufgaben der Editionsphilologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), S. 4–12. – Editionsphilologie. Frankfurt/M. u. a. 2001. Mandelkow, Karl Robert: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1. München 1980. Mann, Thomas: Meine Arbeitsweise. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 11. Frankfurt/M. 1974, S. 747. Martens, Gunter: Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition. In: Hans Gerhard Senger (Hg.): Philosophische Editionen. Erwartungen an sie – Wirkungen durch sie. Beiträge zur VI. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft Philosophischer Editionen. Tübingen 1994 (Beihefte zu editio, 6), S. 71–82. Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin u. a. 2007. Mathieu, Pierre-Louis / Lacambre, Geneviève: Le musée Gustave Moreau. Paris 1997. Matt, Peter von: Wie kommt der Kaviar zum Volk? In: Die Zeit, 27.01.1995, S. 53. Müller, Friedrich von: Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe besorgt von Ernst Grumach. Weimar 1956. Müller, Günther: Goethe-Literatur seit 1945. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26 (1952), S. 377–410. Nutt-Kofoth, Rüdiger: Dokumentierte und gedeutete Befunde. Zum Abschluß der historisch-kritischen Ausgabe von C.F. Meyers Gedichten mit einem Rück- und Ausblick auf die Entwicklungen der Editionsphilologie. In: Euphorion 94 (2000), S. 225–241. – Varianten der Selbstdarstellung und der Torso des Gesamtprojekts Aus meinem Leben: Goe thes autobiografische Publikationen. In: Christa Jansohn / Bodo Plachta (Hg.): Varianten – Variants – Variantes. Tübingen 2005 (Beihefte zu editio, 22), S. 137–156. – Goethe-Editionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005, S. 95–116. – Zum Verhältnis von Nachlasspolitik und Editionskonzeption. In: Kai Sina / Carlos Spoerhase (Hg.): Nachlassbewusstsein [im Druck]. Oellers, Norbert: Die Sophienausgabe als nationales Projekt. In: Jochen Golz / Justus H. Ulbricht (Hg.): Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland. Köln u. a. 2005, S.103–112. Ogden, Perry: 7 Reece Mews. Francis Bacon’s Studio. Foreword by John Edwards. Photographs by Perry Ogden. London 2001. Ott, Ulrich: Dichterwerkstatt oder Ehrengrab? Zum Problem der historisch-kritischen Ausgaben. Eine Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 3–6.
Arbeitsweisen und Editionsstrategien
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Malte Kleinwort
Noch (k)ein letztes Wort und (k)eine letzte Hand – Karl Gutzkows Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage
„Wally“ tritt nicht in neuem Kleide vor das Publicum um Eroberungen zu machen. Ihr Autor glaubt selbst nicht an die Macht verblühter Reize und schlägt ihr deshalb in magdalenenhafter Stimmung den Büßermantel um die Schultern.1
Die Überarbeitung eines bereits veröffentlichten Textes kann ein Privileg, es kann aber auch eine Bürde sein. Karl Gutzkow, der dieses Privileg stets gern in Anspruch nahm, sah sich bei seinem frühen, 1835 erschienenen Roman Wally, die Zweiflerin mit Problemen konfrontiert, die dazu führten, dass er den Roman nur leicht überarbeitete und ihn dann, gerahmt von weiteren Texten, 1852 unter dem neuen Titel Vergangene Tage als Bestandteil seiner von ihm selbst herausgegebenen Gesammelten Werke wiederveröffentlichte. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, werden in diesem Fall grundsätzliche Probleme bei der Weiterarbeit an bereits veröffentlichten Texten wirksam und auf eigentümliche – wenn nicht gar singuläre – Weise gelöst. Die Arbeit am Werk erweist sich dabei vor allem als eine Arbeit an seinen Grenzen. Einerseits schließt er dessen Grenzen, insofern er bei der Neuveröffentlichung im Jahr 1852 seine Ohnmacht, das Werk grundsätzlich zu überarbeiten, eingesteht und inszeniert. Andererseits rahmt er das Werk neu und demonstriert damit einen flexiblen, für alternative Rahmungen offenen Umgang mit den Werkgrenzen.2 Diese Ambivalenz ist im zentralen Ereignis am Schluss des Romans, Wallys Selbstmord, bereits angelegt; es ist ein Schluss jenseits von Vollendung, ein Schluss als Frage, die der Roman stellt, aber nicht beantwortet, offen lässt. 1
Rezension von Vergangene Tage in der Zeitschrift Blätter für literarische Unterhaltung (Nr. 48 vom 27.11.1852, S. 1141–1143, hier S. 1141). Statt eines Namens steht unter der Rezension lediglich die Chiffre „2“. 2 Dieser flexible Umgang mit Werkgrenzen ähnelt einer dezidiert modernen Praxis im Umgang mit bereits veröffentlichten Texten, wie sie beispielhaft an Paul Valéry nachvollzogen werden kann. Valéry sah sich bei der Wiederveröffentlichung seines frühen Vortrags „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“ aus dem Jahr 1895 ebenfalls mit dem Problem konfrontiert, dass eine grundlegende Überarbeitung „über [s]eine Kräfte“ ging (Paul Valéry: Anmerkung und Abschweifung. In: Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hg.): Paul Valéry. Werke. Bd. 6. Frankfurt/M. 1995, S. 62–101, hier S. 63). Statt den Vortrag umfassend zu überarbeiten, veröffentlichte Valéry ihn 1919 erst in einer Fassung mit wenigen Änderungen und Korrekturen, dann im gleichen Jahr mit einer erklärenden und seine Ohnmacht eingestehenden „Anmerkung und Abschweifung“ im Anhang und schließlich 1931 ergänzt um einen weiteren Text über Leonardo da Vinci und mit einer Fülle von Randbemerkungen versehen (zur verwickelten Veröffentlichungsgeschichte vgl. ebd., S. 515–522).
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Malte Kleinwort
1. Zwei Texte – ein Werk? Aus editionsphilologischer Sicht ist die Frage entscheidend, ob es sich bei Vergangene Tage lediglich um eine neue Fassung von Wally, die Zweiflerin handelt oder um ein eigenständiges Werk. Anders gefragt: Handelt es sich um zwei Texte, die als ein Werk angesehen werden können? Carlos Spoerhase weist in diesem Zusammenhang in seinem instruktiven Beitrag zum Werk-Begriff darauf hin, dass in der Editionswissenschaft bislang kein Einvernehmen darüber erzielt wurde, „nach welchen Kriterien derartige editorische Entscheidungen zu fällen sind“3, plädiert indes dafür, sich an die „(vergleichsweise) nüchternen und deskriptiven editionsphilologischen Analysestrategien Roland Reuß’ und Walter Morgenthalers“4 zu halten. Roland Reuß steht der Berücksichtigung der Kategorie des Werks für editorische Entscheidungen grundsätzlich skeptisch gegenüber, sieht es dementsprechend für editorische Entscheidungen geboten, eine kritische Distanz zum Begriff „Werk“ und zur Wirkungsgeschichte eines Textes, die beide von ihm als eng miteinander verbunden verstanden werden, einzunehmen.5 Es ist daher kaum vorstellbar, dass er eine Werkeinheit zwischen Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage postulieren und zum Ausgangspunkt für eine editorische Praxis nehmen würde. Vielmehr wäre von den reußschen Überlegungen her gedacht die Differenz der beiden Texte hervorzuheben; eine Edition müsste es dementsprechend den Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich ein eigenes Urteil über die Differenzen und Gemeinsamkeiten der beiden Texte zu bilden. Walter Morgenthaler, unter dessen Leitung die Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Werke von Gottfried Keller herausgegeben wurde, rückt bei seinen editionsphilologischen Überlegungen die Arbeit von Autoren als Herausgeber ihrer eigenen Werke in den Mittelpunkt.6 Er plädiert bei der Edition von Gesammelten oder Sämtlichen Werken für eine stärkere Berücksichtigung der in diesen selbst herausgegebenen Ausgaben getroffenen editorischen Entscheidungen.7 Von Morgenthaler her gesehen, wäre es sicherlich problematisch, Vergangene Tage als eine spätere Fassung von Wally, die Zweiflerin in einem editorischen Apparat zu verstecken. Je mehr Bedeutsamkeit der editorischen Entscheidung Gutzkows, Wally, die Zweiflerin unter neuem Titel und gerahmt von weiteren Texten zu veröffentlichen, beigemessen wird, desto fraglicher wird die Vereinheitlichung von Vergangene Tage und Wally, die Zweiflerin in einem Werkzusammenhang.
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Carlos Spoerhase: Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia Poetica 11 (2007), S. 276–344, hier S. 294. Spoerhase (Anm. 3), S. 295. Roland Reuß: Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), S. 1–12, hier S. 10–12. Walter Morgenthaler: Die Gesammelten und die Sämtlichen Werke. Anmerkungen zu zwei unterschätzten Werktypen. In: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), S. 13–26. Morgenthaler (Anm. 6), S. 26.
Karl Gutzkows Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage
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Es gibt also durchaus gute Gründe dafür, dass Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage in der aktuellen Ausgabe Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe in zwei unterschiedlichen Bänden erscheinen werden.8 Aus zwei Gründen ist die Frage, ob es sich bei Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage um ein oder zwei Werke handelt, weniger virulent bei einer digitalen (Hybrid-)Ausgabe als bei einer Druckausgabe: 1) Die Kosten für einen bloß digital und nicht gedruckt erscheinenden Band sind nicht so hoch wie in einer reinen Druckausgabe. 2) Die digitale Ausgabe ermöglicht es mit wenigen Klicks, verschiedene Perspektiven auf zwei Texte zu werfen, die sowohl deren Eigenständigkeit als auch deren Zusammenhang auf gut nachvollziehbare Weise darstellen. Für eine differenziertere Erörterung des Verhältnisses der beiden Texte sollen im Folgenden die Gründe diskutiert werden, die dazu geführt haben könnten, dass Gutzkow Wally, die Zweiflerin neu gerahmt und unter neuem Titel 1852 herausgegeben hat. Die Ausführungen in der Vorrede machen deutlich, dass Gutzkow im Nachhinein viele der 1835 vorgebrachten Einwände gegen Wally, die Zweiflerin teilte. Üblicherweise nutzte Gutzkow die Kritik an seinen Werken, um diese bei einer Neuherausgabe in die Überarbeitung mit einfließen zu lassen. Die zum Teil gravierenden Veränderungen, die Gutzkow an seinen Werken bei Wiederveröffentlichung vornahm,9 zeugen von einem grundsätzlich offenen Werkverständnis. Kein Wort in einem veröffentlichten Werk war in Stein gemeißelt, jedes stand bei einer Neuveröffentlichung auf dem Prüfstand. Dementsprechend war jedes seiner Werke vorläufig, es war so, wie es gedruckt wurde, vorbehaltlich späterer Änderungen des Autors. Auf den ersten Blick scheint das eine unproblematische Praxis zu sein. Das mehrmals veröffentlichte Werk kann in verschiedene Texte unterteilt werden, die einen Arbeitsprozess dokumentieren, der mit textgenetischen Begriffen beschrieben werden kann.10 Im Falle von Wally, die Zweiflerin kommt eine grundlegende Problematik zum Tragen, die vor allem (aber nicht nur) bei veröffentlichten Texten, die in einem genetischen Zusammenhang stehen, wirksam werden kann. Indem ein Text überarbeitet neu
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Wally, die Zweiflerin wird in der geplanten Gesamtausgabe als von Wolfgang Rasch, Martina Lauster und David Horrocks herausgegebener Band 4 in der Abteilung „Erzählerische Werke“ erscheinen (die Druckausgabe erscheint im Oktober Verlag, Münster, die digitale Ausgabe im Netz unter www.gutzkow. de). Wolfgang Rasch, dem ich an dieser Stelle für seine zahlreichen, hilfreichen Hinweise danken möchte, erläutert die editorische Entscheidung für zwei Bände in einer E-Mail vom 14.04.2015 folgendermaßen: „Mit Vergangene Tage handelt es sich ja auch nicht einfach nur um eine zweite, veränderte Auflage bzw. Fassung des Romans Wally. Der Roman selbst hat durch seine Einbettung in Begleittexte – Vorwort, Verteidigungsschriften – seinen Charakter verändert und tritt gar nicht mehr unbekümmert als Roman in Erscheinung, sondern als Romantext innerhalb einer von G. konstruierten Textdokumentation“. 9 Besonders eindrücklich sind beispielsweise die weitreichenden Änderungen in der vierten Auflage von Der Zauberer von Rom aus dem Jahr 1872 oder in der dritten Auflage von Die Ritter vom Geiste aus dem Jahr 1854. 10 Dementsprechend spielt die Unterscheidung von Text und Werk in der critique génétique nur eine marginale Rolle, so kann sich beispielsweise „der Textgenetiker“ problemlos mit der „Werkgenese“ beschäftigen, ohne dass dabei die Differenz von Text und Werk thematisiert wird (Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Übers. von Frauke Rother und Wolfgang Günther. Bern u. a. 1999, S. 126).
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veröffentlicht wird, legt er sich über die vorher veröffentlichte Textversion, degradiert die alte Version als eine vorläufige und suggeriert, dass der alte Text durch den neuen schlicht ersetzt werden kann. Der Prozess der Überarbeitung selbst, die vorhergehende Veröffentlichung und die Differenz zur aktuellen werden allenfalls Teil einer paratextuellen Vorrede, im Text selbst aber normalerweise verschwiegen. Damit wird auch verschwiegen, was für ein Werk in vielen Werkkonzeptionen konstitutiv ist: die Art und Weise seiner Rezeption,11 die bei Gutzkow, der sich selber bei der Diskussion um seine Werke stark engagierte, wichtige Impulse und Anhaltspunkte für die Überarbeitung lieferte. Im Falle von Wally, die Zweiflerin gerät diese Praxis in einen inneren Widerspruch, weil Gutzkow Materialien aus der Rezeption des Romans mit in die Neuveröffentlichung integrieren möchte. Würde er den Roman nun gründlich überarbeiten und die Kritik einarbeiten, würde die integrierte Kritik und Verteidigung des Romans nicht mehr zu dem Roman selbst, sofern er in der überarbeiteten Form präsentiert wird, passen. Kritisiert würde etwas, das durch die Überarbeitung nicht mehr zu finden gewesen wäre. Indem Gutzkow also die Rezeption des Romans – und damit eine in vielen Werkkonzeptionen entscheidende Instanz für die Frage, ob einem Text der Werkstatus zugeschrieben werden kann – ins Zentrum rückt und zu einem Bestandteil des Romans machen möchte, behindert er dessen grundlegende Überarbeitung. Die Genese oder Überarbeitung eines bereits veröffentlichten Textes ist also, sofern sie Widersprüche zu vermeiden sucht, daran gebunden, dass bei der Veröffentlichung die Selbstbezugnahme auf sich als einen bereits veröffentlichten Text und auf dessen Rezeption stillschweigend vorgenommen wird, alle Bezugnahmen müssen verdeckt, das bereits veröffentlichte Werk also gewissermaßen verleugnet werden.12 Wie eine Integration von Materialien des Literaturstreits von 1835 die Überarbeitung von Wally, die Zweiflerin behindert, ermöglicht im Umkehrschluss die unterlassene Überarbeitung die Integration der Materialien, sie befördert sie geradezu. Die selbstkritischen Äußerungen Gutzkows legen es nahe, dass eine grundlegende Überarbeitung des Romans für ihn eine große Herausforderung gewesen wäre, der er sich nicht stellen wollte oder konnte. Wenn Gutzkows Hinweis zu Beginn der Vorrede von Vergangene Tage, dass er erst „[n]ach langem Widerstreben“ auf den Wunsch nach Wiederveröffentlichung von Wally, die Zweiflerin eingegangen ist,13 trotz aller unterschwelligen Koketterie ernst genommen wird, ist anzunehmen, dass er einer Überarbeitung und Veröffentlichung reserviert, wenn nicht gar kritisch gegenüberstand. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er Wally, die Zweiflerin erst in den letzten Band seiner ersten Gesammelten Werke aufnahm.
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Dazu pointiert: Reuß (Anm. 5), S. 10–12. Das lässt sich als eine Facette des nach Theodor W. Adorno grundsätzlich negativen Verhältnisses eines Kunstwerks zu seiner Genese verstehen: „Kunstwerke folgen ihrem Formgesetz, indem sie ihre Genesis verzehren“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1997, S. 267). 13 Karl Gutzkow: Vergangene Tage. In: Gesammelte Werke von Karl Gutzkow. Vollständig umgearbeitete Ausgabe. Bd. 13. Frankfurt/M. 1852, S. VII. 12
Karl Gutzkows Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage
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Während bei seiner üblichen Überarbeitungspraxis ein veröffentlichtes Werk vor allem als ein Text verstanden wurde, der noch beliebig überarbeitet und dann neu veröffentlicht werden konnte, scheint Wally, die Zweiflerin ein Text zu sein, der sich nicht in einer Weise überarbeiten ließ, die eine Neuveröffentlichung unter gleichem Titel möglich machte. Die Neuveröffentlichung unter dem Titel Vergangene Tage lässt sich zugleich als ein Schließen der Werkgrenzen von Wally, die Zweiflerin verstehen, da es nach der Veröffentlichung von Vergangene Tage kaum vorstellbar war, dass er Wally, die Zweiflerin in einer revidierten Form unter dem alten Titel in Konkurrenz zu Vergangene Tage wiederveröffentlichen könnte, was de facto auch nicht passierte. Das Offenhalten der Werkgrenzen ist mehr als nur ein spielerischer, freier Umgang mit Konventionen, es ist auch eine Machtgeste des Autors, da jede Kritik durch spätere, neue Versionen des Werks eingeklammert ist, denn er kann einer Kritik gewissermaßen die Grundlage entziehen, indem er sie in einer überarbeiteten Version berücksichtigt.14 Aus dieser Perspektive lässt sich die Integration von zwei Texten, die Wally, die Zweiflerin im Anschluss an die Veröffentlichung verteidigten, sowie der ebenso um Rechtfertigung bemühten Vorrede in den Werkzusammenhang von Vergangene Tage als eine Art Ersatz für diese auktoriale Macht über das Werk verstehen. Zumindest ist es der Versuch, der Rezeption von Vergangene Tage die Richtung vorzugeben. Gutzkow chan giert, wie in den folgenden beiden Abschnitten deutlich werden sollte, bereits bei der Erstveröffentlichung zwischen einer Ohnmacht, die offen eingestanden und literarisch inszeniert wird, und Ermächtigungsversuchen und -strategien, mit denen er sein Werk unter Kontrolle zu halten bemüht ist.
2. Zur Entstehung und Rezeption von Wally, die Zweiflerin Während der kurzen Arbeit an Wally, die Zweiflerin im Sommer 1835 war Gutzkow mit einer Reihe von publizistischen Projekten beschäftigt. So veröffentlichte er beispielsweise im Juli 1835 in dem von ihm geleiteten und allein mit Beiträgen bestückten Literatur-Blatt zur Zeitschrift Phönix einen Essay unter dem Titel Wahrheit und Wirklichkeit. Diesen Essay montierte er an das Ende des einen Monat später erscheinenden Wally-Romans. Die Montage selbst wie auch der Inhalt des Essays markieren neben dem pragmatischen Kalkül, durch Überschreiten der 20-Bogen-Grenze der Vorzensur zu entgehen,15 eine programmatische Öffnung der Werkgrenzen. Durch den Essay verlässt der Roman die Welt der Erzählung, in der eine unbeteiligte Erzählstimme die Ereignisse kommentierend begleitet, und verschafft dem Autor selbst mit literaturkritischen Erwägungen Gehör. Es wirkt so, als wollte Gutzkow als erster das Wort erheben im Anschluss an den Roman, um seine Machtansprüche zu demonstrieren und steuernd auf die Rezepti14 15
Spoerhase (Anm. 3), S. 337–341. Auf dieses Kalkül weist Günter Heintz hin, schließt aber auch andere „programmatische und literaturpolitische Gründe“ für die Wiederveröffentlichung nicht aus (Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Hg. von Günter Heintz. Stuttgart 2010, S. 224).
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on einzuwirken.16 Durch die Integration des Essays nimmt der Roman die Form eines Journals an, das an keine übergeordnete narrative Struktur gebunden ist, das eine Vielzahl unterschiedlicher Bestandteile zusammenstellen kann und das für die Rezeption und Diskussion des Romans eine Schlüsselrolle beansprucht.17 Damit folgt der Roman auch einer geläufigen Tendenz der Vormärz-Literatur, die „Romane der Zeit glichen sich häufig dem vielstimmigen Journal an“ und arbeiteten dabei mit einer „Rhetorik der Verwischung von Unterschieden zwischen dem Text und seinen Kontexten“.18 Gutzkow verurteilt in Wahrheit und Wirklichkeit das realistische Dispositiv der Literatur und plädiert für eine „Poesie der ideellen Wahrheit und reellen Unwahrheit“,19 die sich radikal und mit revolutionärem Impetus von der Gegenwart abwendet und auf eine davon unterschiedene Zukunft ausrichtet, auf „unser zukünftiges Leben“20, eine „embryonische Welt mit keimendem Bewusstsein“.21 Indem sich dieses „dichterische[] Gegenteil unserer Zeit“22 bedingungslos der Zukunft verschreibt, öffnet sich das Werk der Rezeption. So markiert der Essay jenen Übergangsbereich zwischen Werk und Rezeption, in dem der Autor das Fortleben des Werkes mit- oder vorauszubestimmen versucht. Die Grenzen, die der Essay der Rezeption durch die Verpflichtung auf die Zukunft setzt, sind indes zugleich auch die Grenzen der auktorialen Kontrollversuche. Da die Wahrheit als Gradmesser der Zukunft selbst zukünftig und gegenwärtig nicht greifbar ist, können die ästhetischen Bewertungskategorien in der Gegenwart nicht in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Dementsprechend leitet Gutzkow seinen von Fortschrittsoptimismus und Humanität gesättigten Schlussabschnitt im Essay mit den Worten ein: „Dies ist ein Symptom unsrer Zeit, aus dem wir bis jetzt noch keinen weitern Schluß ziehen wollen als einen, der vielleicht außerhalb der Literatur liegt“.23 Der Schluss des Essays – und damit auch der Schluss des Romans – ist demnach vorbehaltlich weiterer zu ziehender Schlüsse bloß vorläufig, zudem nur vage zu umschreiben, da das Verhältnis von Literatur und zukünftiger Wirklichkeit lediglich tentativ angedeutet werden kann. Zugleich klammert Gutzkow damit jede gegenwärtige Kritik mit Blick auf die unverfügbare Zukunft ein. Er konzediert und inszeniert einerseits eine gegenwärtige auktoriale und literaturkriti16
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Gert Vonhoff weist bei seiner Analyse der intertextuellen Bezüge von Wally, die Zweiflerin bereits für den Roman vor dem Essay nach, dass er durch Lektüren und Gegenlektüren geprägt wird, mit denen im Roman ein „Geflecht von Anspielungen und Zitaten“ entsteht und „Signaturen zeitgenössisch avancierter Kritik erscheinen“ (Gegenlektüren in Gutzkows Wally, die Zweiflerin. In: Gustav Frank / Detlev Kopp (Hg.): Gutzkow lesen! Beiträge zur internationalen Konferenz des Forum Vormärz Forschung vom 18. bis 20. September 2000 in Berlin. Bielefeld 2001, S. 19–50, hier S. 50). Vgl. Gustav Frank: Romane als Journal: System- und Umweltreferenzen als Voraussetzung der Entdifferenzierung und Ausdifferenzierung von ‚Literatur‘ im Vormärz. In: Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 1 (1995), S. 15–49, in Bezug auf Wally, die Zweiflerin v.a. S. 36. Gustav Frank: Auf dem Weg zum Realismus. In: Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epochen – Autoren – Werke. Darmstadt 2007, S. 27–44, hier S. 36. Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Mannheim 1835, S. 324. Gutzkow (Anm. 19), S. 324. Gutzkow (Anm. 19), S. 323. Gutzkow (Anm. 19), S. 325. Gutzkow (Anm. 19), S. 325.
Karl Gutzkows Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage
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sche Ohnmacht und bindet die Literaturkritik zugleich per apodiktischer Machtgeste an eine erst schemenhaft erkennbare Zukunft. Die an das Erscheinen von Wally, die Zweiflerin im August 1835 anschließende, von einer Reihe von Akteuren intensiv geführte literaturkritische Debatte und juristische Verfolgung durch die Zensurbehörden aufgrund vermeintlich blasphemischer und anstößiger Passagen ließ sich auf diese Begrenzung ihres Spielfeldes indes nicht ein. Auch Gutzkow beachtete den selbst gesteckten Rahmen kaum. Vehement und ohne eine klare Argumentationslinie setzte er sich mit den Vorwürfen der Verfolgungsbehörden auseinander und beteiligte sich mit großem Engagement an jener Debatte, die auch unter der Bezeichnung Literaturstreit in die Geschichte eingegangen ist.24 Die Dokumente zum Literaturstreit nehmen in der Reclam-Ausgabe von Wally, die Zweiflerin bereits mehr Seiten als der Romantext selbst ein.25 Bei der Lektüre der Dokumente des Literaturstreits fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Es ergeben sich Probleme der Orientierung, Zuordnung und Datierung wie bei der Lektüre von Entwurfshandschriften. Es sind dies aber nicht nur Probleme aus der Meta-Perspektive einer am Literaturstreit interessierten Gutzkow-Forschung, welche die Debatte als eine Art Paratext dem Roman zuordnet, sondern auch Probleme der schreibenden Akteure selbst. Wer ist mit wem warum verbunden? Wie verhält sich wer zu den jeweils virulentesten Streitfragen? Wie kann auf die Ketten von Repliken und Gegenrepliken und die unterschiedlichen Allianzen in einem Einwurf Bezug genommen werden? Innerhalb kurzer Zeit ergeben sich rhizomatische Strukturen. Argumente werden halb zurückgenommen und relativiert. „Hätt’ ich ahnen können“, beginnt Gutzkow mit Bezug auf die Rezeption seines Buches den längsten, separat in Buchform veröffentlichten Einwurf Appellation an den gesunden Menschenverstand und nutzt auch im Fortgang des Essays vermehrt und verstärkt den Konjunktiv bei seinen Überlegungen.26 Es ergeben sich eine Reihe von inneren Widersprüchen:27 Einerseits weist Gutzkow darauf hin, dass die religionskritischen Aussagen im Roman lediglich der Romankonzeption geschuldet sind und dass es sich um Aussagen der Figuren handelt,28 andererseits identifiziert er sich mit dem Religionsskeptiker Cäsar und verteidigt die Identifikation
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Vgl. Erwin Wabnegger: Literaturskandal. Studien zur Reaktion des öffentlichen Systems auf Karl Gutzkows Roman „Wally, die Zweiflerin“ (1835–1848). Würzburg 1987. Gutzkow (Anm. 15), S. 259–435. In der Ausgabe Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe werden sogar noch einige Dokumente mehr präsentiert werden, wie Wolfgang Rasch in einer E-Mail vom 16.06.2013 versichert. Vgl. Karl Gutzkow: Appellation an den gesunden Menschenverstand. Letztes Wort in einer literarischen Streitfrage. Frankfurt/M. 1835. Die Widersprüche innerhalb des Romans und in Gutzkows Verteidigungsschriften hängen zweifellos eng mit der juristischen Verfolgung durch die Zensurbehörden zusammen, unter der Gutzkow selbst noch bei den Veröffentlichungen von Vergangene Tage 1852 und 1874 litt (eine Übersicht zur behördlichen Rezeption und Verfolgung ist zu finden in: Wabnegger [Anm. 24], S. 123–140). Im Rahmen dieses Artikels musste der wichtige Einfluss der Zensur auf die Veröffentlichungsgeschichte der Übersichtlichkeit und argumentativen Stringenz wegen außen vor gelassen werden. Gutzkow (Anm. 15), S. 152 (in der Reclam-Ausgabe wird der Text in der Originalfassung aus dem Jahr 1835 wiedergegeben).
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mit dieser literarischen Figur.29 Einerseits will er sein Werk nur mit ästhetischen Maßstäben beurteilt wissen und versucht, alles mit diesen zu erklären,30 andererseits weist er auf die sich aus den Zeitumständen ergebende politische Valenz hin.31 Einerseits bereut er das Verfassen eines Romanabschnitts, der als „Sigunen-Szene“ bekannt geworden ist, wieder ergänzt um ein „Hätte ich ahnen können“,32 deutet also an, dass er sie eigentlich hätte verwerfen oder anders konzipieren sollen, andererseits verteidigt er sie vehement: „Die Anschuldigung dieser Szene ist deshalb so nichtswürdig, weil […]“.33 Die inneren Widersprüche, das hin und her Lavieren spiegelten das Feld der Meinungen über den Roman. Der Roman erscheint in der Auseinandersetzung nicht als feststehender Monolith, sondern wie ein Verschiebebahnhof stark divergierender Ansichten und enttäuschter oder bestätigter Erwartungen. Gutzkow resümiert seine Überlegungen zur Sigunen-Szene, die wegen der Bitte, Wally möge sich wie Sigune im Titurel nackt zeigen, als anstößig empfunden worden war, folgendermaßen: Der eine sagt, die Sigunen-Szene ist ein plastisches Meisterstück; der andere nennt sie einen Angriff auf die öffentliche Moral und zitiert die Paragraphen der Preßgesetze, um mich zu bestrafen. Hier ist eine Verwirrung der Begriffe eingetreten, die sich nicht durch Maßregeln, sondern nur durch das Ablaufen der Zeit lösen läßt.34
Erneut wird auf eine Zukunft verwiesen, in der erst geurteilt werden kann. Die „Verwirrung der Begriffe“, das unübersichtliche Feld möglicher Deutungen und die Intensität der Auseinandersetzungen steigern indes das Bedürfnis der Beteiligten, unter den Streit zumindest einen vorläufigen Schlussstrich zu ziehen. Nahezu zeitgleich im November 1835 veröffentlichen die beiden Hauptprotagonisten des Literaturstreits Gutzkow und Theodor Menzel, der frühere Freund und Partner Gutzkows, der 1835 zu seinem Konkurrenten, wenn nicht gar Feind geworden ist,35 Beiträge, die darauf aus sind, die öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung zu beenden. Menzel nennt den Beitrag seine „Zweite und letzte Gegenerklärung“ und Gutzkow veröffentlicht – als eigenständige Monographie – die bereits erwähnte Appellation an den gesunden Menschenverstand mit dem Untertitel: Letztes Wort in einer literarischen Streitfrage.
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Gutzkow (Anm. 15), S. 154. „Der dramatische und epische Dichter muß die Figuren ausmalen, wie es die innre Dialektik seines Stoffes verlangt“ (Gutzkow [Anm. 15], S. 150); „ein nur im Interesse der Poesie geschriebener Roman“ (Gutzkow [Anm. 15], S. 155). „Das sind zwei Grillen, die in der Luft schweben, die aber die Tendenz unserer Zeit veranschaulichen, eine Bewegungstendenz mit besonnenen Schritten, ohne Feindseligkeit“ (Gutzkow [Anm. 15], S. 157). Gutzkow (Anm. 15), S. 153. Gutzkow (Anm. 15), S. 153. Gutzkow (Anm. 15), S. 153. Zum Verhältnis von Menzel und Gutzkow vgl. Bernd Füllner: „‚... es zieht mich hin zu dem Manne; denn süsser als Honig fließt ihm die Rede.‘ Karl Gutzkow und Wolfgang Menzel – freundliche Annäherung, erbitterte Feindschaft“. In: Wolfgang Lukas / Ute Schneider (Hg.): Karl Gutzkow (1811–1878). Publizistik, Literatur und Buchmarkt zwischen Vormärz und Gründerzeit. Wiesbaden 2013, S. 209–222.
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Das letzte Wort zur Sache war es natürlich nicht, vor allem die juristischen Auseinandersetzungen zogen sich danach noch einige Zeit hin.36 Das allseits bekannte umfassende Publikationsverbot für die meisten dem Jungen Deutschland zugerechneten Schriftsteller, durch das diese heterogene Gruppe überhaupt erst konstituiert wurde, und eine einmonatige Gefängnisstrafe für Gutzkow waren die Folge.
3. Selbstmord zwischen Ohnmacht und Ermächtigung Das Bedürfnis, einen Schlussstrich zu ziehen, und die eigentümliche Verbindung von Ohnmacht und Ermächtigung, die bei den Protagonisten der Debatte um den Roman – und damit auch beim Autor selbst – deutlich werden, sind der Romanhandlung nicht äußerlich. Auch dort wird das Begehren radikaler Schlüsse an mehreren Stellen wirksam. Sei es die überstürzte und überraschende Heirat der Protagonistin Wally mit dem sardischen Gesandten Luigi, sei es Wallys plötzliche Beendigung der Beziehung mit dem von ihr eigentlich bewunderten Cäsar nach der berühmten Sigunen-Szene, oder seien es vor allem anderen die drei Selbstmorde, die über den Roman verteilt sind und in denen sich die in drei Bücher aufgeteilte Romanhandlung spiegelt. Im Roman steht das Leben der knapp zwanzigjährigen Wally im Mittelpunkt, das vor allem durch ihr Verhältnis zum dandyhaften Dampfplauderer und Religionskritiker Cäsar geprägt wird.37 Das erste von drei Büchern hat in weiten Teilen die Form eines Gesprächsromans. Über Politik, Kunst und Religion, über Gott und die Welt sprechen und philosophieren die beiden. Immer wieder kommt es dazu, dass der Naivität Wallys die hochtrabenden Reden Cäsars gegenübergestellt werden, von denen sich Wally beeindrucken lässt. Beide gefallen sich darin, gesellschaftliche Konventionen zu hinterfragen, ernste Themen wie Liebe und Religion spöttelnd zu umspielen und mit großer Lust im Feld der öffentlichen Meinungen mal diese, mal jene für sich in Anspruch zu nehmen, ohne dabei Konsequenz und Systematik für sich zu beanspruchen. Das erste Buch endet mit dem Bericht vom Selbstmord Bärbels, einer heimlichen Verehrerin von Waldemar, einem Freund Cäsars, und einer unheimlichen Begegnung Wallys mit einer verwirrten Frau – möglicherweise der unter gravierenden psychischen Problemen leidenden Ehefrau Waldemars. Das zweite Buch liest sich wie ein ungewöhnlicher, überdrehter Liebesroman. Er beginnt mit einem Paukenschlag, und zwar mit der unmotivierten Ankündigung Wallys – praktisch aus einer Laune heraus –, den sardischen Gesandten Luigi zu heiraten. Beim intensiven Gespräch zwischen Wally und Cäsar im Anschluss an diese Ankündigung kommt es zu der ebenso überraschenden Bitte von Cäsar, Wally möge sich zum Abschied wie Sigune Schionatulander in Wolfram von Eschenbachs Titurel nackt zeigen.
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Die juristischen Auseinandersetzungen werden in der Kommentierten digitalen Gesamtausgabe, wie Wolfgang Rasch in einer E-Mail vom 11.06.2014 ankündigt, wesentlich ausführlicher als bislang recherchiert und aufgearbeitet werden. 37 Zu Cäsar als Dandy vgl. Martina Lauster: Moden und Modi des Modernen. Der frühe Gutzkow als Essayist. In: Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 1 (1995), S. 59–95, vor allem S. 61–64.
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Wally weist die Bitte brüsk ab und wirft Cäsar hinaus. Danach hadert sie aber mit ihrer Reaktion und schämt sich für ihre Scham, die ihr allzu konventionell und altbacken vorkommt. Sie wirft sich vor, dass sie das Poetische der Bitte Cäsars nicht angemessen gewürdigt habe. Trotzdem heiratet sie Luigi und zieht mit ihrem Mann nach Paris. Ihr Mann treibt ein falsches Spiel mit ihr, indem er seinen Bruder Jeronimo für die Gesellschaft mit der von Jeronimo angebeteten Wally bezahlen lässt. Nach dem Selbstmord Jeronimos aus unerfüllter Liebe verlässt Wally ihren Mann. Das dritte und letzte Buch vor dem Essay Wahrheit und Wirklichkeit hat in weiten Teilen die Form eines Tagebuchromans. Es versammelt Einträge in Wallys Tagebuch, nachdem sie ihren Mann verlassen hat. In diesen undatierten Einträgen feiert sie ihre Liebe zu Cäsar, der mittlerweile mit einer anderen Frau verheiratet ist, und beginnt, angeregt durch Cäsar, mehr und mehr an der Religion zu zweifeln. Nach dem Hinweis, dass Wally für einen längeren Zeitraum keine Einträge vorgenommen hat, wird ein religionskritischer Essay von Cäsar wiedergegeben, um den Wally gebeten und den sie ins Tagebuch eingeheftet hat. Danach bleibt der Roman auf der Erzählebene jenseits des Tagebuchs, schildert Wallys Verzweiflung und schließlich ihren Selbstmord. Das zugleich Faszinierende und Verstörende an Wallys Selbstmord ist die schillernde Inszenierung der Ohnmacht und Verzweiflung auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Selbstermächtigung zu einem radikalen Schlussstrich, der sich weder aus ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung noch aus ihren religiösen Zweifeln schlüssig herleiten lässt. Wie beim Selbstmord der Schriftstellerin Charlotte Stieglitz aus dem Jahr 1834, den Gutzkow in der Vorrede von Vergangene Tage als wichtige Inspirationsquelle nennt,38 bietet die Begründung keine tragfähige Erklärung der Tat, sondern sorgt für zusätzliche Irritationen. Stieglitz wollte durch den Selbstmord ihrem Mann Heinrich Stieglitz aus seiner literarischen Schaffenskrise heraushelfen.39 Dieser eigentümliche Nexus kehrt im Roman insofern wieder, als Wallys Unvermögen, mit ihren religiösen Zweifeln zurechtzukommen, an mehreren Stellen mit Schreibproblemen verknüpft wird: Wally wußte selbst nicht, was alles zusammentraf, sie nachdenklicher als je zu machen. Sie hatte zum ersten Male einige Beobachtungen über ihren Zustand in eine zusammenhängende Kette aufgereiht. Sie war vor ihren Gedanken nicht scheu zurückgeschreckt, sondern hatte sie diesmal scharf ins Auge gefaßt. In einem Brief an eine Freundin suchte sie ihrer Angst Luft zu machen. Der Brief war vielleicht vollendet. Sie wagte nicht, was sie hatte, wieder durchzulesen. Auch verzweifelte sie während des Schreibens, ihn abzusenden. Sie zerriß ihn. Einige Minuten blickte sie die Reste an; dann ordnete sie mechanisch, was davon noch vor ihr lag. Die Linien und Buchstaben paßten zusammen. Jetzt erst las sie ihn, wo sie gleichsam wußte, daß er ihr nichts mehr schaden könne.40
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Gutzkow (Anm. 13), S. XV–XVI. Vgl. zum Tod von Charlotte Stieglitz als „Kunstprodukt“ und „Mythenkonstrukt“ Olaf Briese: Charlotte Stieglitz (1806–1834). Eine Kunstfigur. In: Irina Hundt (Hg.): Vom Salon zur Barrikade. Frauen der Heine-Zeit. Stuttgart, Weimar 2002, S. 255–280. 40 Gutzkow (Anm. 19), S. 91–92. 39
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Wie bei mäandernden Schreibprojekten wird die Relektüre, die Lektüre des Selbstgeschriebenen durch Angst, Destruktion – das Zerreißen als eine Art lebendiges Bild für die innere Zerrissenheit – und Rekonstruktion – mechanisches Ordnen der Reste – bestimmt.41 Symptomatisch für die Unsicherheit beim Schreiben ist die Formulierung, dass der Brief „vielleicht vollendet“ war. Markant – auch im Hinblick auf Gutzkows ungewöhnliche Werkpolitik,42 auf die ich im nächsten Abschnitt komme – ist die Angst vor einer gefährlichen Wirkung des Geschriebenen, die Wally durch Zerreißen und Wiederzusammenfügen scheinbar neutralisiert. Unschwer lassen sich Schreibszenen wie diese oder die folgende aus Wallys Tagebuch als selbstreferentielle poetologische Reflexionen des noch jungen und unerfahrenen Autors Gutzkow lesen: „Ich las nun alles, was ich schrieb, und zittre, daß ich kaum geschrieben habe, was ich wollte. Eines ist auch ganz unmöglich, geschrieben zu werden: die Verzweiflung und das Gräßliche.“43 Selbstmord als eine der radikalsten Formen, Schluss zu machen, wird im Roman als ein Akt dargestellt, der weniger das Ende einer Entwicklung markiert als den Beginn einer kaum kalkulierbaren Wirkung und Verstörung. Es verwundert daher nicht, dass im letzten Satz der eigentlichen Romanhandlung vor dem Essay Wahrheit und Wirklichkeit selbst diejenigen, die an Wallys Grab standen, nicht die tote Wally beweinten, „sondern nur ihre Jugend“, die Trauergäste sich also trotz ihres Grabbesuchs von Wally und ihrer Tat distanzierten.44 Während sich an die beiden ersten Selbstmorde im Roman radikale Lebensentscheidungen Wallys und ein Wechsel der Bücher anschließen – die überraschende Heirat mit Luigi im Übergang von Buch 1 zu Buch 2 und die Trennung von ihm im Übergang von Buch 2 zu Buch 3 –, fällt dieser letzte Selbstmord, der die Leserinnen und Leser sicherlich am meisten verstört haben wird, mit dem Ende der Romanhandlung in eins. So sehr mit diesem aufwühlenden Schlussakkord auf eine starke Reaktion der Rezipientinnen und Rezipienten gesetzt worden ist – und für die Wahrnehmung Gutzkows als Autor und die Akzeptanz des Textes als literarisches Werkes im emphatischen Sinne war ja ebendiese Rezeption entscheidend –, so wenig ließ sie sich kontrollieren. In der Tat gelang es Gutzkow, sich durch den Roman einen Namen als (Skandal-)Autor zu machen, und die Rezeption sicherte dem Werk trotz allen Streits einen wichtigen Platz in der Literaturgeschichte; die Rezeption zu steuern und in ihm gemäße Bahnen zu lenken, gelang Gutzkow aber nicht. Es passt zu dem Dilemma, dass durch den provokanten Schluss eine Wirkung evoziert werden sollte, die sich dann aber nicht kontrollieren ließ, dass sich Gutzkow bei den Wiederveröffentlichungen des Romans im Rahmen von Vergangene Tage 1852 und
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Zum Verhältnis von Schreiben und Selbstleküre vgl. Davide Giuriato / Martin Stingelin / Sandro Zanetti (Hg.): „Schreiben heißt: sich selber lesen“. Schreibszenen als Selbstlektüren. München 2008. 42 Steffen Martus hat diesen Begriff in der Diskussion zum Werkverständnis etabliert, spart indes in seiner grundlegenden Studie die Zeit des Vormärz weitgehend aus (Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin 2007). 43 Gutzkow (Anm. 19), S. 257. 44 Gutzkow (Anm. 19), S. 313.
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1874 gerade das Schlusswort Wallys in ihrem Abschiedsbrief vornahm, um durch kaum merkliche Veränderungen die Deutung des Romans zu beeinflussen. 1835 endete der Abschiedsbrief mit den Worten: „Ich danke euch allen, die mich liebten, und Dir, Dir, Cäsar, allen. Allen!“45 1852 schob sich dann unvermutet Adolfine, die Ehefrau von Cäsar, in die Aufzählung hinein: „Ich danke euch Allen, die mich liebten, und dir, dir, Cäsar; auch dir! Adolfine! Allen, Allen!“46 1874 schließlich wird die Ansprache an alle sogar komplett durch eine persönliche Direktansprache an Adolfine ersetzt: „Ich danke Euch allen, die mich liebten und Dir, Dir, Cäsar; auch Dir, Adolfine! Beglücke ihn, wenn Du kannst, mehr als ich!“47 Statt eines letzten Wortes von Wally gibt es also drei letzte Worte, in denen unterschiedliche Deutungsimpulse stimuliert werden. Während im letzten Wort von 1835 die Ansprache an alle im Vordergrund steht, und damit die direkte Ansprache an eine ungewisse, mehr oder weniger politische Öffentlichkeit, legt die Nennung von Adolfine im Wort von 1852 nahe, dem Liebesmotiv größere Aufmerksamkeit zu schenken. Tatsächlich spielte bei den ersten beiden Selbstmorden im Roman weder ein religiöser Zweifel noch eine im engeren Sinne politische Streitfrage eine Rolle, es waren Selbsttötungen allein aus unglücklicher Liebe. 1874 wiederum wurde als ein neues Selbstmordmotiv, das durchaus mit den bürgerlichen Moralvorstellungen der Zeit vereinbar war, nahegelegt, dass Wally ihren eigenen Ansprüchen, was das Beglücken des geliebten Mannes anbelangt, nicht gerecht wurde. Damit ließe sich auch ein Bogen zurück zu Charlotte Stieglitz schlagen, die ihr Leben opferte, um dem Mann – zumindest der ihr unterstellten Intention zufolge – zum Glück literarischer Produktivität zu verhelfen.48 Wollte man diese Stellenvarianten in einen größeren Kontext einordnen, ließen sich von ihr ausgehend auch werkbiographische und literaturgeschichtliche Reflexionen anschließen. Zumindest bleibt das letzte Wort Wallys über die Jahre eines, das zwischen inszenierter Ohnmacht und dem Aussenden kalkulierter Deutungsimpulse changiert. Mit der Frage, ob diese Überarbeitungspraxis für das Offenhalten der Werkgrenzen oder lediglich für ein unzureichendes Schließen steht, kehre ich zu der Frage nach dem Verhältnis von Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage zurück.
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Gutzkow (Anm. 19), S. 312. Gutzkow (Anm. 13), S. 158. 47 Karl Gutzkow: Vergangene Tage. In: Gesammelte Werke von Karl Gutzkow. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Bd. 4. Jena 1874, S. 313. 48 Wie sich die Stilisierung von Stieglitz als einer sich für den Mann aufopfernden Frau in den Geschlechterdiskurs im Vormärz einfügt, dazu vgl. Briese (Anm. 39), S. 267–269. 46
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4. Noch ein letztes Wort oder kein letztes Wort? Die Öffnung des Werkes zur Rezeption hin ist beim Roman Wally, die Zweiflerin eng verbunden mit dem Begehren und den Versuchen zu schließen, die Offenheit durch einen Schluss wieder zu beschränken. Auf der Ebene der Romanhandlung lässt sich das mit Wallys Selbstmord in Zusammenhang bringen, auf der Ebene der Romanstruktur mit dem auf eigentümliche Weise an das Romanende montierten Essay Wahrheit und Wirklichkeit und auf der Ebene der Romanrezeption mit den engagierten, auf ein Ende der Diskussion ausgerichteten Einwürfen Gutzkows in die Debatte um den Roman. Es verwundert nicht, dass sich Gutzkow im Rückblick auf dieses eigentümliche Netz aus Schlüssen und Öffnungen außerstande sah, den Roman gründlich zu überarbeiten, und dass er ihn stattdessen unter neuem Titel und in einem neuen Rahmen präsentierte. Damit rückte eben jenes Netz, in dem der Romantext verwoben, in das er verstrickt war, in den Mittelpunkt und der Text für sich in den Hintergrund. Einerseits war Wally, die Zweiflerin dadurch zu einer Art historischem Artefakt geworden, wodurch die Grenzen und Möglichkeiten der Weiterarbeit an ihm auf das Äußerste beschränkt waren. Andererseits bot sich der Text als ein der Rezeption gegenüber grundsätzlich offenes Gebilde für neue, auf Rezeptionslenkung ausgerichtete Rahmungen an. Jede neue Rahmung lässt sich so als ein neuer Schluss des eigentlich schon Abgeschlossenen verstehen. 1852 beließ Gutzkow die Grundstruktur des Romans, wie sie war, korrigierte und überarbeitete an manchen Stellen weniger, an anderen mehr, neu war allein und vor allem die Rahmung. Unter dem Titel Vergangene Tage erschien nach einer ausführlichen, an die Auseinandersetzungen um den Roman anschließenden Vorrede unter I. der Roman, unter II. die bereits ausführlich diskutierte Appellation an den gesunden Menschenverstand und unter III. ein nach Veröffentlichung ebenfalls verbotenes Sendschreiben von Kirchenrat Heinrich Eberhard Gottlob Paulus an Gutzkow aus dem Jahr 1836, in dem dieser den Literaturstreit und die juristische Verfolgung aufarbeitete und Gutzkow vor seinen Kritikern in Schutz nahm. Diese singuläre Verfahrensweise dokumentiert Gutzkows flexiblen, aber auch in sich widersprüchlichen Umgang mit Werkgrenzen. Einerseits befestigt er die Grenzen, indem er sie unter römisch I so belässt wie gehabt und im Verbund mit den anderen drei Texten unter neuem Titel veröffentlicht. Andererseits stellt er übliche Vorstellungen von Werkgrenzen radikal infrage, da neue Werke normalerweise nicht allein dadurch entstehen, dass Veränderungen im Paratext-Bereich der Vorrede oder des Anhangs vorgenommen werden. In sich widersprüchlich ist die Veröffentlichungspraxis auch aufgrund der Rechtfertigung der Neuveröffentlichung. Einerseits führt er als Grund nicht nur die Bitte von Leserinnen und Lesern an,49 sondern weist darüber hinaus darauf hin, dass der Roman als historisches Artefakt, als Dokument einer bestimmten Zeit trotz der berechtigten
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Kritik an ihm und der in ihm enthaltenen strukturellen Probleme von Interesse ist.50 Andererseits verfälscht er aber jenes Artefakt, da er es zumindest partiell überarbeitet.51 Damit werden Probleme virulent, die grundsätzlich mit der Selbsthistorisierung qua Selbstherausgabe eigener Werke einhergehen.52 Zu den Aporien eines solchen Unternehmens gehört es, dass die Grenzen des eigenen Œuvre immer wieder neu verhandelt werden müssen und sich dabei auch überlagern oder durchkreuzen können. Das Historisieren eines erschienenen Werkes läuft einer Überarbeitung zuwider und vice versa. Wie die Historisierung die Werkgrenzen im Hinblick auf eine Überarbeitung tendenziell schließt, öffnet sie sie zugleich für all jenes, was zum historischen Kontext gerechnet werden kann. So hatte Gutzkow in der Vorrede von Vergangene Tage aus dem Jahr 1852 angedacht, nicht nur unter III. den Text eines anderen, von Kirchenrat Paulus, als wesentlichen Bestandteil dieses neuen Romangebildes zu präsentieren, sondern – dann ja wohl unter weiter fortlaufender römischer Nummerierung – eine umfangreiche Dokumentation von relevanten zeitgenössischen Debattenbeiträgen vorzunehmen. Wie er in der Vorrede kokett feststellt, wäre das eigentlich eine naheliegende Möglichkeit gewesen, er musste es aber deshalb unterlassen, weil die Reihe der Beiträger „so voll leerer und für unsre Zeit gleichgültiger Persönlichkeiten gewesen“ sei.53 Wenn Gutzkow weitere fremde Texte, wie angedacht, integriert hätte, hätte Vergangene Tage noch stärker den Eindruck einer Textdokumentation angenommen. Die sonst übliche Trennung von Text und Kommentar wäre in noch größerem Maße aufgehoben, und ein Konvolut, das normalerweise im Kommentar von historisch-kritischen Ausgaben zu finden ist, eng mit dem Romantext verknüpft worden. Nach der Supplementierung des Romanendes 1835 durch den Essay Wahrheit und Wirklichkeit, nach dem im Untertitel behaupteten letzten Wort in der Appellation von 1835 gewährte Gutzkow 1852 – gemäß dem Aufbau von Vergangene Tage – Kirchenrat Paulus unter römisch III das letzte Wort. Von der tatsächlichen Chronologie der Entstehung der Texte her nimmt er dieses letzte Wort in der auf November 1851 datierten Vorrede aber wieder für sich selbst in Anspruch, denn das letzte Wort von Paulus stammt bekanntlich aus dem Jahr 1836.
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Gutzkow (Anm. 13), S. X. Diese Inkonsistenz ist im Übrigen der Hauptkritikpunkt der im Motto bereits zitierten Rezension von Vergangene Tage in der Zeitschrift Blätter für literarische Unterhaltung (Nr. 48 vom 27.11.1852, S. 1141– 1143, hier S. 1143). Im letzten Satz der Besprechung wird die Möglichkeit erörtert, die Überarbeitungen als Selbstkommentare zu verstehen, die dann aber anders hätten präsentiert werden müssen: „Oder glaubte der Autor sein Buch im Texte commentieren zu müssen, so hätte er es wenigstens so thun sollen daß die neue Leßart als solche Jedem erkennbar ward“ (ebd.). Dies ist weniger eine Kritik am Autor als am Editor Gutzkow. 52 Vgl. dazu generell: Sandro Zanetti: Selbstherausgaben: Autoren als Editoren ihres Lebenswerkes. In: editio 19 (2008), S. 369–376; sowie Ders.: Avantgardismus der Greise? Spätwerke und ihre Poetik. München 2012, vor allem S. 239–261. 53 Gutzkow (Anm. 13), S. X. 51
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1874 – im Übrigen neun Jahre nach einem eigenem Selbstmordversuch mit einem anschließenden, fast einjährigen Klinikaufenthalt –54 stellte Gutzkow bei der Neuausgabe von Vergangene Tage seinen flexiblen Umgang mit Werkgrenzen ein weiteres Mal unter Beweis, insofern er das Sendschreiben von Kirchenrat Paulus stillschweigend wieder entfernte. So schloss Vergangene Tage 1874 nicht wie 1852 unter III. mit dem Sendschreiben, sondern unter II. mit Gutzkows Appellation an den gesunden Menschenverstand von 1835. Auf eigentümliche Weise treffen am Schluss dieser Ausgabe Vergangenheit und Gegenwart aufeinander, als Gutzkow in der Appellation ganz „zum Schlusse noch einmal“ an das Motto von Wally, die Zweiflerin erinnert und es abschließend zitiert.55 Vermeintlich schließt sich mit diesem Verweis auf den Anfang vor dem Anfang von Wally, die Zweiflerin am Schluss der letzten von Gutzkow verantworteten Ausgabe von Vergangene Tage ein Kreis. Tatsächlich ist gerade dieses Motto mit der Neuherausgabe von Wally, die Zweiflerin im Rahmen von Vergangene Tage entfernt worden. Wer also nach dem Schluss von Vergangene Tage aus dem Jahr 1874 zurückblättert und das Motto sucht, findet es nicht. An Schlüssen, auch an – zumindest behaupteten – letzten Schlüssen mangelt es nicht. So fraglich es ist, ob sie tatsächlich zurecht auch als Schlüsse oder gar letzte Schlüsse bezeichnet werden können, so bemerkenswert ist ihre Häufung. Wally, die Zweiflerin scheint ein Text zu sein, der von der Kraft und Dynamik jener (letzten) Schlüsse zehrt, der zugleich auf sie aus ist, der aber nicht in ihnen aufgeht, sondern der durch sie unförmig und unhandlich wird. Diese Unhandlichkeit stellt sich nicht nur bei den über Ansätze nicht hinausgehenden Versuchen Gutzkows, den Roman zu überarbeiten, ein, sondern auch beim editorischen Umgang mit ihm. Das gilt für Vergangene Tage aus dem Jahr 1852 ebenso wie für jede weitere Edition von Wally, die Zweiflerin oder von Vergangene Tage. 1874 entfernte Gutzkow in Vergangene Tage nicht nur das Schlusswort von Kirchenrat Paulus, sondern auch den Titel „Vorrede“ über der Vorrede. Stattdessen wurde die Vorrede nur noch mit der Jahreszahl „1851“ betitelt, sie selbst war mittlerweile historisch geworden und nicht mehr die Vorrede einer Neuausgabe, sondern Teil einer Editionsgeschichte. Die Fallstricke von Gutzkows flexiblem Umgang mit Rahmen und Schlüssen werden bei der um 1900 erschienenen postumen Herausgabe von Gutzkows Werken durch Reinhold Gensel deutlich. Dort wird der Titel der Vorrede aus dem Jahr 1874 – die schlichte Jahreszahl 1851 – unter den Titel Vergangene Tage versetzt.56 Dadurch setzt die Vorrede in der Ausgabe gänzlich unbetitelt ein,57 und zugleich wird Vergangene Tage als Ganzes mit dem Jahr, in dem Gutzkow die Vorrede geschrieben hatte, identifi-
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Martina Lauster: Die unsichtbare Gemeinde. Gutzkow-Leser in ihren Briefen an den Autor ab ca. 1850. In: Gert Vonhoff (Hg.): Karl Gutzkow und seine Zeitgenossen. / Karl Gutzkow and his Contemporaries. Bielefeld 2011, S. 387–406, hier S. 398. 55 Gutzkow (Anm. 47), S. 186. 56 Reinhold Gensel (Hg.): Gutzkows Werke. Vierter Teil. Der Sadduzäer von Amsterdam. Vergangene Tage (Wally, die Zweiflerin). Berlin u. a. [ca. 1900], S. 65. 57 Gensel (Anm. 56), S. 67.
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ziert. Tatsächlich folgt unter dem Titel Vergangene Tage (1851) dann aber nicht die Version von Vergangene Tage aus dem Jahr 1852, sondern die Version aus dem Jahr 1874, die im Verhältnis zur Ausgabe von 1852 an mehreren Stellen, nicht nur, wie erwähnt, beim letzten Wort von Wally von Gutzkow verändert worden war. Wie es statt eines letzten Wortes von Wally durch die Ausgabe von Wally, die Zweiflerin aus dem Jahr 1835 und die beiden Ausgaben von Vergangene Tage aus den Jahren 1852 und 1874 drei letzte Worte gibt, deren Status und Verhältnis fraglich ist, so gibt es – abhängig von der textkritischen Einschätzung zum Verhältnis der beiden Texte – auch mehr oder anderes als eine letzte Hand vom Roman Wally, die Zweiflerin. Beinhaltet die letzte Ausgabe von Vergangene Tage zugleich die Ausgabe letzter Hand von Wally, die Zweiflerin oder ist die Wally, die Zweiflerin im Rahmen von Vergangene Tage eine andere als die eigenständig veröffentlichte? Letztlich haben der durch die Veröffentlichung von Wally, die Zweiflerin ausgelöste Skandal und die der Veröffentlichung nachfolgende, in ihrer Breite und Vehemenz mehr als bemerkenswerte Debatte das Werk und den Autor in ihren Grundfesten erschüttert. Die Neuherausgabe von Wally, die Zweiflerin im Rahmen von Vergangene Tage ist ein Echo dieser Erschütterung und keine Rekonstruktion der Werkgrenzen oder Wiederherstellung auktorialer Macht über das Werk.
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Karl Gutzkows Wally, die Zweiflerin und Vergangene Tage
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Thorsten Ries
Das digitale dossier génétique Überlegungen zu Rekonstruktion und Edition digitaler Schreibprozesse anhand von Beispielen aus dem Thomas Kling Archiv
I1 Born Digital Befunde stellen eine grundlegende Herausforderung für die Konzeption der historisch-kritischen Ausgabe dar. Die Logik und der Ablauf des Schreibprozesses im Word-Processor unterscheidet sich technisch wie kognitiv stark vom Schreiben mit analogen Schreibwerkzeugen. Der Editier- und Revisionsvorgang eröffnet erweiterte Freiheitsgrade für den kreativen Prozess: das digitale „Dokument“ lässt sich endlos, ohne Rücksicht auf Begrenzungen des Text- oder Revisionsraums durch die materialen Dimensionen des Papiers, editieren und revidieren, ohne dass sich mehrende Spuren des Arbeitsprozesses in der Darstellung der Benutzeroberfläche den Blick auf den bearbeiteten, zu jedem Zeitpunkt wie gedruckt erscheinenden „Text“ verstellen. Je nach Editor-Applikation kann die lineare Textstruktur durch Hyperlinks, Grafiken oder eingebundene Multimedia-Inhalte aufgebrochen werden. Texte können online gemeinsam von mehreren Autoren verfasst werden. Diese sehr knappe Skizze der Unterschiede wirft bereits die Frage auf, wie der digital formierte Schreibprozess adäquat begrifflich zu fassen oder etwa in einen textgenetischen Apparat zu übersetzen wäre. Insbesondere unter einem digitalforensischen Blickwinkel wird deutlich, dass die in der editorischen Arbeit an Handschriften, Typoskripten und Drucken entwickelten konzeptuellen Begriffe, analytischen Methoden und Apparatmodelle der Editionsphilologie nur begrenzt für eine philologische Analyse und editorische Darstellung des digitalen Befunds vorbereitet sind. Das Born Digital Pendant der analytischen Handschriftenforschung,2 eine digitale Quellenphilologie, wird sich nicht nur mit der Datenpräserva tion, Kompatibilitätssicherung und Analyse von unterschiedlichen Dateiformaten und Metadaten zu befassen haben – in vielen Fällen lässt sich mittels digitalforensischer Analyse von archivierten Datenbeständen, forensisch gesicherten Datenträgern und Systemen ein dossier génétique aus digitalen Entwurfstufen, temporären Dateien, Da-
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Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des vom Flämischen Forschungsfonds FWO geförderten Forschungsprojekts Hard Disk Drive Philology (12Q9815N). Der Autor ist Postdoctoral Researcher am Institut für deutsche Literatur der Universiteit Gent, Belgien, und Mitglied des Ghent Center for Digital Humanities. Grundlegend hierzu Marianne Bockelkamp: Analytische Forschungen zu Handschriften des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Heine-Handschriften der Bibliothèque Nationale Paris. Hamburg 1982.
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tenfragmenten und anderen Spuren des Schreibprozesses rekonstruieren.3 Allerdings sind philologische Grundbegriffe und Konzepte wie „Dokument“, „Text“, „Textträger“, „Textstufe“ und „Variante“ nicht ohne Weiteres auf die Funktionsweise von digitalen Datenobjekten (etwa digitale Dokumente) in ihrem jeweiligen historischen Systemund Applikationskontext und auf die spezifische Materialität des forensischen Befunds übertragbar. Während in internationalen Projekten zur Langzeitarchivierung von digitalen Beständen unter anderem das Anfertigen forensischer Abbilddateien von kulturell bedeutsamen Datenträgern zum internationalen Standard avanciert,4 steht auf philologischer Seite die digitalforensische Analyse derselben zur Rekonstruktion des digitalen avant-texte noch am Anfang. Die konzeptionelle Herausforderung für Theorie und Praxis der historisch-kritischen Ausgabe trifft auf eine (neugermanistische) Editionswissenschaft, welche nach den grundlegenden Diskussionen um die Trennung von Befund und Deutung und den editorischen Textbegriff den Bestand an hochkomplexen, am analogen Befund orientierten Editions- und Apparatmodellen bis hin zu den diplomatisch verfahrenden, textgenetischen Ausgaben weitgehend konsolidiert hat und sich inzwischen an der Entwicklung von digitalen Editionskonzepten im internationalen Rahmen beteiligt. Im Zuge der skizzierten Entwicklung stieß die Editionswissenschaft mit den Anforderungen bezüglich der Trennung von Befund und Deutung sowie der Repräsentation der analytischen Mehrdimensionalität des Befundes bereits an die medialen Grenzen des gedruckten Buches.5 Digitale Editionen bieten heute durch strukturiertes Markup, interaktive, grafische Interfaces, Hyperlinking und den Bedarf weit übersteigende Speicherkapazität prinzipiell die Möglichkeit, die Genauigkeit und Qualität der analytisch differenzierten Darstellung und Kommentierung des faksimilierten analogen Dokuments auf ein – technisch gesehen – nahezu beliebiges Niveau zu steigern.6 Die Betonung liegt hier allerdings auf „des analogen Dokuments“, denn eine Systematik der philologischen Analyse und editorisch angemessenen Darstellung von textgenetischen Born Digital Befunden ist, abgesehen von Metadaten-Schemata, bisher nicht entwickelt.
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Vgl. Thorsten Ries: „die geräte klüger als ihre besitzer“: Philologische Durchblicke hinter die Schreibszene des Graphical User Interface. Überlegungen zur digitalen Quellenphilologie, mit einer textgenetischen Studie zu Michael Speiers ausfahrt st. nazaire. In: editio 24 (2010), S. 149–199. 4 Luciana Duranti: From Digital Diplomatics to Digital Records Forensics. In: Archivaria 68 (2009), S. 39–66. 5 Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. 3 Bde. Teil 1: Das typografische Erbe. Dissertation. Köln 2013. http://kups.ub.unikoeln.de/id/eprint/5351 (abgerufen am 22.08.2015); weiterhin grundlegend Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur „Textgenese“. In: Text. Kritische Beiträge 5 (1999), S. 1–25. 6 Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. 3 Bde. Teil 3: Textbegriffe und Recodierung. Dissertation. Köln 2013. http://kups. ub.uni-koeln.de/id/eprint/5013 (abgerufen am 22.08.2015). Zu den Grenzen dieses Paradigmas vgl. Elena Pierazzo: A Rationale of Digital Documentary Editions. In: Literary and Linguistic Computing 26.4 (2011), S. 453–477.
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Der vorliegende Beitrag skizziert digitalforensische Ansätze zur textgenetischen Rekonstruktion digitaler Schreibprozesse mit Blick auf Dokumentation und philologische Interpretation des Born Digital Befundes im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe. Im Zentrum der Überlegungen stehen die theoretischen und methodologischen Problemstellungen, welche sich für die Editionswissenschaft und die Philologie im Allgemeinen aus der spezifischen Materialität des digitalen avant-texte ergeben.
II In der Folge von Matthew Kirschenbaums Mechanisms. New Media and the Forensic Imagination7 und durch die Pionierarbeit von VertreterInnen der Bibliotheks- und Archivwissenschaft wie Luciana Duranti8, Kari Kraus9, Susan Thomas10, Doug Reside11 und Jeremy Leighton John12 hat sich im Rahmen zahlreicher internationaler Projekte13 das Anfertigen forensischer Sicherungen als Standard für die Langzeitarchivierung von Datenträgern in Nach- und Vorlässen durchgesetzt. Mit den archivarischen Software-Projekten BitCurator und BitCurator Access werden Voraussetzungen für ei-
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Matthew Kirschenbaum: Mechanisms. New Media and the Forensic Imagination. Cambridge, Mass. u. a. 2008. 8 Duranti (Anm. 4); dies. / Barbara Endicott-Popovsky: Digital Records Forensics. A New Science and Academic Program for Forensic Readiness. In: ADFSL Conference on Digital Forensics, Security and Law 2010. http://arqtleufes.pbworks.com/w/file/fetch/94919918/Duranti.pdf (abgerufen am 22.08.2015). 9 Kari Kraus: When Data Disappears. In: New York Times 07.08.2011, S. SR12; Matthew Kirschenbaum u. a.: Digital Materiality. Preserving Access to Computers as Complete Environments. In: iPress 2009. 6th International Conference on Preservation of Digital Objects. October 2009. University of California. California Digital Library (Online Publikation, PDF). http://escholarship.org/uc/cdl_ipres09 (abgerufen am 22.08.2015). 10 Gabriela Redwine u. a.: Born Digital: Guidance for Donors, Dealers, and Archival Repositories. Washington, D.C.: Council on Library und Information Resources Washington, D.C., October 2013. http://www. clir.org/pubs/reports/pub159/pub159.pdf (abgerufen am 22.08.2015). 11 Matthew Kirschenbaum / Doug Reside: Tracking the changes. Textual scholarship and the challenge of the born digital. In: Neil Freistat / Julia Flanders (Hg.): The Cambridge Companion to Textual Scholar ship. Cambridge, Mass. u. a. 2013, S. 257–273; Doug Reside: “Last Modified January 1996”. The Digital History of RENT. In: Theatre Survey 52.2 (2011), S. 335–340; Ders.: Digital Genetic Criticism of RENT. Vortrag gehalten auf der Tagung Digital Humanities 2012 in Hamburg. http://www.dh2012.uni-hamburg. de/conference/programme/abstracts/digital-genetic-criticism-of-rent.1.html (abgerufen am 22.08.2015). 12 Jeremy Leighton John: Digital Forensics and Preservation. DPC Technology Watch Report 12-03 November 2012. Digital Preservation Coalition 2012. http://dx.doi.org/10.7207/twr12-03 (abgerufen am 22.08.2015). 13 Eine unvollständige Liste von Publikationen: Matthew Kirschenbaum (u. a., Hg.): Digital Forensics and Born-Digital Content in Cultural Heritage Collections. Washington, D.C.: Council on Library und Information Resources Washington, D.C. Dez. 2010. http://www.clir.org/pubs/reports/reports/pub149/ pub149.pdf (abgerufen am 22.08.2015); Silke Becker: Born-digital-Materialien in literarischen sen. Auswertung einer quantitativen Erhebung. Berlin 2014. http://edoc.hu-berlin.de/series/ Nachläs berliner-handreichungen/2014-355/PDF/355.pdf (abgerufen am 22.08.2015). Internationale Projekte: PLANetS: http://www.planets-project.eu; nestor: http://www.langzeitarchivierung.de, CASPAR: http:// www.casparpreserves.eu, ParADigM: http://www.paradigm.ac.uk/, InterPARES: http://www.interpares. org/, OCLC “Demystifying Born Digital”: http://www.oclc.org/research/themes/research-collections/ borndigital.html (alle abgerufen am 22.08.2015).
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ne leicht bedienbare, standardisierte forensische Sicherung, Sichtung, Dokumentation und Bereitstellung im Archiv geschaffen.14 Mit Hilfe des in jeder Linux-Distribution enthaltenen Werkzeugs dd, einer seiner Varianten15 oder kommerzieller forensischer Software wie EnCase®16 werden bitgenaue Repräsentationen der Original-Datenstruktur des physischen Mediums hergestellt (bitstream-preserving image, auch: forensic image). Diese können mit Hashes zuverlässig für die bibliografische Aufnahme authentifiziert, in andere Betriebssysteme eingebunden und mittels digitalforensischer Werkzeuge analysiert werden. Auf diesen forensischen Abbildern lassen sich nicht nur etwa die durch einen Autor gespeicherten Dokumente wiederfinden. Forensische Tools erlauben ferner, etwa bei Abbild-Dateien von Systempartitionen von Festplatten, die Zugriffsgeschichte einzelner Dateien anhand von Metadaten, Strukturen des Systemkontexts sowie temporären und automatisch erzeugten Backup-Dateien nachzuvollziehen („multi-evidential perspective“).17 Von besonderer philologischer Bedeutung ist die Möglichkeit, von diesen Abbildern gelöschte, jedoch noch nicht überschriebene Daten, etwa temporäre Dateien, wieder herzustellen (undelete) oder Dateifragmente zu rekonstruieren (File Carving, Drive Slack-Analyse).18 Bei manchen Betriebssystemen ist mit entsprechenden Tools auch der Zugriff auf Systemwiederherstellungspunkte und den dort liegenden Zwischenspeicherungen möglich.19 Ein weiterer wichtiger Vorteil des Forensic Imaging-Ansatzes ist, dass die auf dem Datenträger vorhandenen Dateien nicht migriert werden, also in ihnen enthaltene System-Metadaten und textgenetisch relevante Dateistrukturen, etwa Dokument-Metadaten, fast save-Artefakte oder RSIDtags,20 unverändert erhalten bleiben. Einige der hier genannten Methoden sind als weitgehend generisch anzusehen, etwa das Anfertigen forensischer Datenträger-Abbilder. Andere sind hoch spezifisch für bestimmte Versionen von Betriebssystemen oder Applikationen, welche der jeweilige Nutzer verwendet hat. So greifen, um nur ein Beispiel zu nennen, Methoden zur Entschlüsselung von Zugriffsmetadaten für den Cloud-Synchronisationsdienst Dropbox® freilich nur, wenn der Service verwendet wurde.21 Das-
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http://www.bitcurator.net, http://www.bitcurator.net (abgerufen am 22.08.2015). Vgl. Ries (Anm. 3), S. 155; vgl. auch Kirschenbaum (Anm. 7) und Kirschenbaum u. a. (Anm. 13). Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit und Nachhaltigkeit sind Open Source Werkzeuge zu bevorzugen, zur grundsätzlichen Argumentation siehe Brian Carrier: Open Source Digital Forensics Tools: The Legal Argument. September 2003. http://www.digital-evidence.org/papers/opensrc_legal.pdf (abgerufen am 22.08.2015). Bei John (Anm. 12) finden sich passim instruktive Abwägungen zur Verwendung von kommerziellen und Open Source Lösungen im Archiv. John (Anm. 12), S. 13. Beschreibung und weitere Hinweise bei Ries (Anm. 3), S. 156–159. Weitere Hinweise bei Ries (Anm. 3), S. 154. Es existieren verschiedene spezifische Open Source Lösungen, etwa libvshadow. http://github.com/libyal/libvshadow (abgerufen am 22.08.2015). Beschreibung und weitere Hinweise bei Ries (Anm. 3), S. 162–169. Zum Beispiel mit dem Tool Dropbox Decryptor, https://www.magnetforensics.com/free-tool-dropboxdecryptor (abgerufen am 22.08.2015). Die Daten, welche mit der Dropbox-Cloud synchronisiert werden, findet man übrigens bis zur heute aktuellen Version unverschlüsselt auf der lokalen Festplatte gespeichert.
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selbe gilt für Versionen-spezifische Software-Verhaltensweisen wie etwa das FastsaveFeature, welches in Microsoft Word® im September 2007 abgeschafft wurde.22 Forensische Images von Systemdatenträgern haben noch einen weiteren Vorzug, der hier nicht unerwähnt bleiben soll: Sie lassen sich als Grundlage für die Emulation eines historischen Systems verwenden, welche einen besseren Eindruck des Look and Feel der digitalen Arbeitsumgebung des jeweiligen Autors und dessen individueller, arbeitsökonomischer Einrichtung und Anpassungen vermitteln. Bekannte Beispiele sind die Emulationen des Mac Performa 5400/180 Salman Rushdies23 und Vilém Flussers Hypercard-“Flusser-Hyptertext“ auf dessen Apple Macintosh.24 Früher geäußerte Befürchtungen, durch den Einzug des Personal Computer und der Word Processor Software in die Literaturproduktion25 würde textgenetischen Studien und der historisch-kritischen Ausgabe im 21. Jahrhundert die Materialgrundlage entzogen, sind also unbegründet.26 Der digitalforensisch rekonstruierbare Befund von Original-Datenträgern kann im Gegenteil unter Umständen eine hohe Dichte an textgenetischen Spuren und Textversionen aufweisen.27 Die Born Digital Überlieferungssituation und textgenetische Dichte der rekonstruierbaren Momentaufnahmen variiert je nach im konkreten Fall verwendeter Version von Software und Betriebssystem, Systemeinstellungen und Nutzerverhalten. Durch die Einführung von forensic imaging in den Archiven werden die überlieferungstechnischen Voraussetzungen für textgenetische Studien und historisch-kritische und genetische Ausgaben von Born Digital- und hybriden dossiers génétiques geschaffen.28 So wurden etwa, um nur einige Beispiele zu nennen, die
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Ina Fried: Microsoft disabling Word 2003’s ‘fast save’ feature. In: CNet vom 17. September 2007. http:// www.cnet.com/news/microsoft-disabling-word-2003s-fast-save-feature (abgerufen am 22.08.2015). 23 Dan Rockmore: The Digital Life of Salman Rushdie. In: The New Yorker 29.07.2014. http://www. newyorker.com/tech/elements/digital-life-salman-rushdie (abgerufen am 22.08.2015). 24 Projekt bwFLA — Emulation as a Service: The Digital Heritage of Vilém Flusser. Universität Freiburg 1992. http://bw-fla.uni-freiburg.de/demo-flusser.html (abgerufen am 22.08.2015). Ferner erwähnenswert das Projekt ResurrectionLab zur Bewahrung und Open-Access-Publikation von digitaler Kunst. Brüssel. http://imal.org/en/resurrection (abgerufen am 22.08.2015). 25 Das deutsche Wort „Textverarbeitung“ ist die erste Bezeichnung für diesen Applikationstyp, geprägt in den 1950er Jahren von Ulrich Steinhilper, seinerzeit bei IBM in Deutschland angestellt. Als den ersten literarischen Poweruser bezeichnet Kirschenbaum den englischen Autor Len Deighton. Vgl. Matthew Kirschenbaum: The Book-Writing Machine. What was the first novel ever written on a word processor? In: Slate Book Review. 1. März 2013. http://www.slate.com/articles/arts/books/2013/03/len_deighton_s_ bomber_the_first_book_ever_written_on_a_word_processor.html (abgerufen am 22.08.2015). 26 Vgl. Ries (Anm. 3), S. 151–152. 27 Vgl. auch den Hinweis bei Kirschenbaum / Reside (Anm. 11), S. 263. 28 Vgl. Christopher A. Lee u. a.: From Bitstreams to Heritage: Putting Digital Forensics into Practice in Collecting Institutions. BitCurator Project. 30. September 2013. http://sils.unc.edu/sites/default/files/news/ From%20Bitstream%20to%20Heritage%20S%20(2).pdf (abgerufen am 22.08.2015); dort S. 10, 13 zur Schaffung von zentralen Einrichtungen für forensisches Imaging, an die sich kleinere bestandhaltende Institutionen wenden können.
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digitalen Medien in den Vor- und Nachlässen Salman Rushdies,29 Norman Mailers,30 Jonathan Larsons,31 Hanif Kureishis32 und Friedrich A. Kittlers33 mit forensischen Sicherungstechniken für die Nachwelt bewahrt. Auf Seiten der Philologie ist ein wachsendes Interesse am Studium digitaler literarischer Schreibprozesse zu beobachten, wie nicht nur Matthew Kirschenbaums und Doug Resides forensisch orientierte Arbeiten zeigen, sondern auch die Beiträge von Bénédicte Vauthier34 und Thomas Crombez.35 Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist Jean-Louis Lebraves Diskussion digitalforensischer Ansätze zur Textgenese-Forschung aus Sicht der critique génétique, welche besonders die Perspektive der Schreibprozessforschung gegenüber derjenigen der new bibliography betont.36 Für den Editor wie auch für den Leser einer historisch-kritischen Ausgabe impliziert die Analyse des digitalen avant-texte einen Perspektivenwechsel vom metaphorischen Schreibtisch des Graphical User Interface hin zur forensischen Betrachtungsebene des digitalen Befundes. Die eingangs bereits angedeutete Herausforderung besteht nicht allein in den notwendigen technischen Kompetenzen im Umgang mit oft hochspezifischen digitalforensischen Methoden, Befunden und der Funktionsweise von historischen, oft nicht zureichend dokumentierten Betriebssystemen und Applikationen. Die „Materialität“ und Funktionsweise des digitalen „Dokuments“ und der bei seiner Bearbeitung in der „Textverarbeitung“ entstehenden Varianten und Schreibprozess-Spuren 29
Vgl. Rockmore (Anm. 23). Zugriff über http://marbl.library.emory.edu/using/reading-room/digital-archives-access.html; weitere Born Digital Bestände sind bereits zur Verfügbarmachung vorgesehen, siehe http://marbl.library.emory.edu/about/digital-archives/index.html (abgerufen am 22.08.2015). 30 Michelle Light: Managing Risk with a Virtual Reading Room. Two Born-Digital Projects. In: Kate Theimer (Hg.): Reference and Access. Innovative Practices in Archives and Special Collections. Lanham, MA: Rowman & Littlefield 2014, S. 17–35. Pressemitteilung des Harry Ransom Center 2007: http:// www.hrc.utexas.edu/press/releases/2007/mailer/ (abgerufen am 22.08.2015). 31 Vgl. Kirschenbaum / Reside (Anm. 11); Reside (Anm. 11); Doug Reside: „No Day But Today“. A look at Jonathan Larson’s Word Files. In: New York Public Library Blog. 22. April 2011. http://www.nypl.org/ blog/2011/04/22/no-day-today-look-jonathan-larsons-word-files (abgerufen am 22.08.2015). 32 Jeremy Leighton John, Curator of eMSS, Vortrag auf der Tagung „Applying Forensics to Preserving the Past: Current Activities and Future Possibilities“. First Digital Lives Research Workshop 2014 at the British Library, 11.–12. September 2014, British Library. http://britishlibrary.typepad.co.uk/digital-scholarship/2014/09/first-digital-lives-research-workshop-2014-at-the-british-library.html (abgerufen am 22.08.2015). 33 Jürgen Enge / Heinz Werner Kramski: „Arme Nachlassverwalter ...“. Herausforderungen, Erkenntnisse und Lösungsansätze bei der Aufbereitung komplexer digitaler Datensammlungen. In: Jörg Filthaut (Hg.): Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digitalen Archivierung. 18. Tagung des Arbeitskreises Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen am 11. und 12. März 2014 in Weimar. Weimar 2014, S. 53–62. 34 Bénédicte Vauthier: La critique génétique à l’épreuve du numérique, El Dorado (2008) de Robert Juan-Cantavella. In: Passim 14 (2014), Themenheft „eArchives“, S. 6–7; Dies: Tanteos, calas y pesquisas en el dossier genético digital de El Dorado de Robert Juan-Cantavella. In: Marco Kunz / Sonia Gómez Rodríguez (Hg.): Nueva narrativa española. Barcelona 2014, S. 311–345. 35 Thomas Crombez, dessen Vortrag Genetic Criticism and the Auto-Saved Document auf der Tagung Digital Humanities Benelux 2014 in Den Haag. Abstract. http://dhbenelux.org/wp-content/uploads/2014/06/ unstable-data-crombez.pdf (abgerufen am 22.08.2015). 36 Jean-Louis Lebrave: Computer forensics: la critique génétique et l’écriture numérique. In: Genesis 33 (2011), S. 137–147.
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erfordern eine technische und philologische Heuristik, welche den literarischen Produktionsvorgang auf der Benutzeroberfläche mit der philologischen Interpretation des technisch-forensischen digitalen Befundes in Beziehung setzt. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass bei dieser Analyse zentrale philologische Grundbegriffe und Konzepte („Dokument“, „Text“, „Textträger“, „Textstufe“ und „Variante“), Verfahrensweisen, Heuristiken und editorische Darstellungs- und Dokumentationsformen nicht ohne Anpassungen anwendbar sind. Bereits das close reading eines digitalen literarischen Hypertexts impliziert die doppelte Perspektive auf die Dynamik multipler Lesewege von Knoten zu Knoten (node) und des konkret implementierten Codes.37 Mitunter finden sich bereits in einzelnen Fällen Code-Fragmente in Gedichten und Gedichtentwürfen.38 Der editorische Text- und Werkbegriff ist bereits oberflächlich betrachtet einerseits mit Blick auf interaktive und dynamische Multimedia-, Hypertext- und andere typografische Möglichkeiten digitaler Objekte zu erweitern, andererseits mit Blick auf Markup- oder Programmcode, welchem literarischer oder theoretischer Werkcharakter zugeschrieben werden kann.39 Bei solchen Programmcode-Dokumenten, wie sich etwa im Nachlass Friedrich A. Kittlers finden, stellt sich die Frage, ob der Code selbst oder das in einer Emulationsumgebung lauffähige Kompilat als zu edierendes Werk, als „Text“, anzusehen und in welcher Form es zu dokumentieren sei.40 Das digitale dossier génétique, sofern es neben bewusst versionierten „Dokument“-Dateien, per E-Mail verschickten Dateien und Daten im System-„Papierkorb“ aus digitalforensisch wiederherstellbaren Dateien, Dateistrukturartefakten, temporären Dateien, Datenfragmenten verschiedenen Ursprungs und Datenspuren im Systemkontext besteht, kann in der textgenetischen Interpretation nur aus einer technischen Gesamtperspektive auf das Originalsystem heraus verstanden und dokumentiert werden (multi-evidential perspective). Anders als bei einer Handschrift, einem Notizbuch oder Typoskript ist dem Verfasser während des Schreibprozesses in der Regel nicht bewusst, dass der Schreib- und Revisionsvorgang im Word Processor unter Umständen dauerhaft Versionen und Entstehungsspuren in seinem System hinterlässt. Es muss davon ausgegangen werden, dass viele digitalforensisch rekonstruierbare Textstadien, vor allem temporäre Dateien, Dateistrukturartefakte und Dateifragmente, nicht auf eine bewusste Autorentscheidung zum Abspeichern des jeweiligen Dokuments zurückgehen, sondern auf einen automatischen Systemprozess, etwa regelmäßige Sicherungsbackups, Arbeitsspeicherauslagerungen oder gar Systemabstürze. Aus philologischer Sicht handelt es sich also um ‚zufällige‘ snapshots des Schreib- und Revisionsvorgangs – noch zufälliger durch den Umstand, dass lediglich diejenigen Dateien und Textfragmente überliefert werden, welche nach ihrer Löschung nicht im Laufe der Monate oder Jahre
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David Ciccoricco: The Materialities of Close Reading: 1942, 1959, 2009. In: Digital Humanities Quarterly 6.1 (2012), Par. 26. 38 Ries (Anm. 3), S. 178–182. 39 Jürgen Enge / Heinz Werner Kramski (Anm. 33). 40 Moritz Hiller: Diskurs/Signal (II). Prolegomena zu einer Philologie digitaler Quelltexte. In: editio 28 (2014), S. 193–212.
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der Benutzung eines Systems überschrieben werden. Die chronologische Dichte und Vollständigkeit der überlieferten snapshots kann stark variieren, das forensisch rekonstruierbare digitale dossier génétique eines Textes ist – so reichhaltig es ausfallen kann – konstitutiv lückenhaft.41 Zahlreiche Änderungen eines Textes werden nicht aus dem Arbeitsspeicher auf die Festplatte geschrieben, zwischen zwei Snapshots geschriebene und wieder gelöschte Passagen sind nicht rekonstruierbar – sofern nicht Track Changes oder ein Keylogger aktiv waren. Um das Verhältnis von digitalem Text und Entstehungsvariante genauer zu bestimmen, sind einige grundlegende technische und philologische Überlegungen zum Dokument-, Textträger- und Entwurfbegriff aus digitalforensischer Perspektive anzustellen. Der editorische Dokument-Begriff und der in den alltagssprachlichen Begriffsgebrauch übergangene Begriff des „digitalen Dokuments“ sind trotz ihres medienhistorischen Zusammenhangs nicht kongruent und umstandslos miteinander zu vermitteln. In editorischen Definitionen des Begriffs „Dokument“ spielt die Kategorie der physischen Materialität des Textträgers in der Regel eine zentrale Rolle, sei es in Form des metaphorischen „physischen Behälters“ des Textes,42 selbst als Identifikation des Dokuments mit seiner Physikalität.43 Auch in Patrick Sahles gegenüber dem allgemeinen Begriff des Dokuments als „Träger schriftlicher Informationen“ „erweiterten Begriffsverständnis“ einer „materiell gebundene[n] Informationseinheit“ ist die Gebundenheit an ein physisches Objekt offenbar eine definierende Bedingung.44 Selbst die ISO-Norm 9000 bestimmt ein „Dokument“ als Kombination von „Information“ und „Trägermedium“, wobei das Medium „Papier, eine magnetische, elektronische oder optische Rechnerdiskette, eine Fotografie, ein Bezugsmuster oder eine Kombination daraus“ sein könne.45 Etymologisch und mediengeschichtlich gesehen hat das (analoge) Dokument als Urkunde Beweiskraft. Sie stiftet durch ihre materiale Existenz ein Verhältnis zwischen Text und außertextlichen Fakten, welches Zuschreibungen wie „potentially authentic, original, unique, complete, uncorrupted, lasting, immutable, citeable, or otherwise ‘true’“ rechtfertigt.46 Im editorischen Kontext ist das „Dokument“ im Wechselbezug mit dem Begriff des „Textes“ zu sehen, welcher im Rahmen einer Edition als Type vom historisch einzigartigen, urkundlichen Token abgelöst
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46
Vgl. den allgemeinen Hinweis bei Kirschenbaum / Reside (Anm. 11), S. 268. Peter Shillingsburg: Scholarly Editing in the Computer Age: Theory and Practice. Athens, GA 1986. S. 174. Dirk Van Hulle: Denkt aleer ge doende zijt, ... Elektronische Teksteditie. In: Dirk Van Hulle / Edward Vanhoutte (Hg.): Editiewetenschap in de Praktijk. Gent 1998, S. 93–106, hier S. 93. Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. 3 Bde. Teil 2: Befunde, Theorie, Methodik. Dissertation. Köln 2013. http://kups. ub.uni-koeln.de/id/eprint/5012, S. 138 (abgerufen am 22.08.2015). DIN ISO 9000:2005-12, hier zit. nach Klaus Graebig: Wörterbuch Qualitätsmanagement. Normgerechte Definitionen Deutsch – Englisch, Englisch – Deutsch. 2., vollst. überarb. und erweit. Aufl. Berlin u. a. 2010, S. 36. Lisa Gitelman: Always Already New. Media, History, and the Data of Culture. Cambridge, Mass. 2006, S. 106–107.
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wird.47 Dies gilt auch für die diplomatische Umschrift einer literarischen Handschrift, welche jeweils ein bestimmtes Set von materialen Eigenschaften des „Dokuments“ als dem „Text“ relevanterweise zugehörig selektiert, typografisch normalisiert umschreibt und vom Textträger ablöst.48 Welche physischen Eigenschaften dies jeweils sind, wird durch eine philologisch, kognitiv oder letztlich jedoch literarische Interpretationstheorie bestimmt, welche einerseits philologisch die „Spur“ der Manipulation der statisch-physischen Substanz als Verweisungszusammenhang zwischen der historischen Temporalität des Objekts, des Textes und dessen Umwelt verfügbar macht, als auch für den literarischen Textbegriff das zu Grunde liegende Problem des Geist-Körper-Dualismus und das Problem der „Identität“ von Texten lösen muss, wie Christian Benne argumentiert.49 Die Bindung des Dokumentbegriffs an die Physikalität des Textträgers selbst im technischen Bereich mag überraschen, wenn man an den alltagssprachlichen Gebrauch des Begriffs „digitales Dokument“ denkt. Digitale Dokumente – im engeren Sinne exemplarisch als digitale Textdokumente aufgefasst – sind zunächst einmal digitale Datenstrukturen oder digitale Objekte, welche (ausschließlich) mittels eines kompatiblen Ensembles aus Hardware, Betriebssystem und Applikation interpretiert, angezeigt, bearbeitet und wieder gespeichert werden können. Wir sprechen immer noch von demselben digitalen Dokument, wenn etwa die Anzeige in der Benutzeroberfläche einer anderen „Textverarbeitung“-Software anders aussieht, wenn es auf einen USBStick kopiert und von dort geöffnet wurde oder selbst wenn die Dokument-Datei als E-Mail-Attachment verschickt und auf einem anderen Personal Computer, Tablet oder Mobiltelefon geöffnet wurde. Ein und dasselbe digitale Dokument kann innerhalb eines Cloud Service von verschiedenen Autoren gemeinsam bearbeitet werden, in deren Browsern es an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit geöffnet präsent ist. Dass wir hierbei stets von „einem Dokument“ sprechen, geht nicht auf eine Ungenauigkeit des alltäglichen Sprachgebrauchs zurück – digitale Dokumente sind als strukturierte Datenobjekte nicht an eine einzige physische Instanz, nicht einmal an einen einzigen verarbeitenden Systemkontext oder eine anzeigende Applikation gebunden. Ihre Integrität, Identität und Authentizität wird üblicherweise durch den Vergleich von Hash-Werten gegenüber einem digitalen Referenzobjekt geprüft, also in Form ihrer bitgenauen Identität des Inhalts, unabhängig vom physischen Datenträger. Die Differenz zwischen digitalen Dokumenten und deren Versionen wird entsprechend durch Abweichung des datentechnischen Inhalts (Hash) und der identifizierenden Metadaten (z. B. Dateiname, Erstellungs- und Änderungsdaten) des Datenobjekts bestimmt. Das digitale Objekt ist
47
Vgl. Thorsten Ries: „Materialität“? Notizen aus dem Grenzgebiet zwischen editorischer Praxis, Texttheorie und Lektüre. Mit einigen Beispielen aus Gottfried Benns „Arbeitsheften“. In: Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft. Berlin u. a. 2010 (Beihefte zu editio, 32), S. 159–178, hier S. 161. 48 Vgl. Reuß (Anm. 5). 49 Vgl. Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin 2015, S. 80–88, 90–93, 105–108, 133, 137–143.
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gerade nicht durch seine materiale Einzigartigkeit oder das materiale Speichermedium definiert, weil seine eigentliche Funktionsweise darauf beruht, ohne Informationsverlust zwischen flüchtigen und nichtflüchtigen Speichern und Systemzuständen kopiert, zur Laufzeit des Programms lokal oder online weiterverarbeitet und wieder beliebig gespeichert werden zu können. Als Problem der Archivierung gewendet: One can, in a very literal sense, never access the ‘same’ electronic file twice, since each and every access constitutes a distinct instance of the file that will be addressed and stored in a unique location in computer memory. [...] each access engenders a new logical entity that is forensically individuated at the level of its physical representation on some storage medium. Access is thus duplication, duplication is preservation, and preservation is creation — and recreation. That is the catechism of the .txtual condition [...]50
Auf der anderen Seite steht die materiale Realität der physischen Datenträger, der algorithmischen Software-Signalverarbeitungsprozesse und deren Spuren, welche diese während des Schreibens an einem Text auf verschiedenen Ebenen in verarbeitenden Systemen hinterlassen.51 Die Rede ist von neben den vom Autor selbst willentlich abgespeicherten Dokumenten und Versionen, den von ihm per Mail verschickten Dokumenten und den Daten im „Papierkorb“ des Betriebssystems von wiederherstellbaren, gelöschten Dokument-Versionen, automatisch gespeicherten und gelöschten temporären Auslagerungsdateien und Sicherheitskopien für automatische Dokumentwiederherstellung. Diese können, obwohl gelöscht, auf einem System noch vollständig enthalten oder durch Überschreibprozesse fragmentiert überliefert sein und sind mittels forensischer Werkzeuge rekonstruierbar. Textrevisionen und Metadaten können sich ebenso in üblicherweise nicht in der Applikation angezeigten Bereichen der Dokument-Datei
50
Matthew Kirschenbaum: The .txtual Condition: Digital Humanities, Born-Digital Archives, and the Future Literary, Digital Humanities Quarterly 7.1. (2013), Par. 16. Siehe zum Faktor Einzigartigkeit auch Anm. 51 zu den Begriffen „forensische Materialtät“ und „formale Materialität“ bei Kirschenbaum. 51 Matthew Kirschenbaum schlägt in Mechanisms (Anm. 11), S. 9–15, die Unterscheidung von „forensischer“ und „formaler Materialität“ vor, wobei er letztere bereits als den problematischeren Begriff einführt („more difficult term“, S. 11). Nimmt man die beiden Begriffe als globale Konzepte zur Beschreibung unterschiedlicher „Materialitäten“ innerhalb eines signalverarbeitenden Systems, stellen sie sich schnell als nicht trennscharf heraus. Insbesondere die Definitionen der formalen Materialität bleiben vage: „imposition of multiple relational computational states on the data set or digital object“ (S. 12), „relative or just-in-time dimension of materiality“ (S. 13). Auch wenn (digitale) Forensik keinen eigenständigen Begriff von Materialität beansprucht, gelingt eine vorläufige, auf philologische Fragestellungen übertragbare Bestimmung des prinzipiellen Verhältnisses von physisch einzigartigem, digitalem Objekt und signalverarbeitendem Prozess: „Whereas forensic materiality rests upon the potential for individualization inherent in matter, a digital environment is an abstract projection supported and sustained by its capacity to propagate the illusion (or call it a working model) of immaterial behavior: identification without ambiguity, transmission without loss, repetition without originality.“ (S. 11) Anzumerken wäre an dieser Stelle lediglich, dass es sich bei der durch materiale Transistoren vermittelten, allerdings logischen Verhaltensweise eines Systems nicht um eine Illusion handelt. An anderer Stelle wird deutlich, dass sich für Kirschenbaum die beiden Begriffe als Dimensionen überschneiden, wenn der mechanism in seiner Dualität als Produkt und Prozess zu beschreiben ist: „Forensic and formal materiality also accord with the fundamental duality of a mechanism as both a product and a process“ (S. 15).
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selbst befinden. Für die Rekonstruktion des Schreibprozesses wesentliche Metadaten lassen sich durch eine Analyse der Log-Dateien und anderer Metadaten des Systems gewinnen. Welche Rekonstruktionsmöglichkeiten vorliegen, welche Werkzeuge zu verwenden sind und in welcher materialen Form der digitale Befund vorliegt, wie ergiebig er ist, hängt vom jeweils analysierten historischen Ensemble aus Hardware, Betriebssystem und Applikation sowie natürlich von der Nutzungsgeschichte des Systems ab. Es ist vor allem Matthew Kirschenbaums Verdienst, mit Mechanisms. New Media and the Forensic Imagination und den folgenden Arbeiten52 auf die philologische Relevanz der forensischen Dimension digitaler Datenträger und archivierter Systeme hingewiesen zu haben. Die von Kirschenbaum beschriebene „forensische Materialität“53 des digitalen Befundes, also auch des philologisch für die Rekonstruktion eines digitalen avant-texte relevanten Befundes, ist auf mehreren Ebenen des archivierten signalverarbeitenden Systems von der Benutzeroberfläche über die Applikation und das Betriebssystem bis hinunter zur Speicherverwaltung des physischen Datenträgers angesiedelt. Der physische materiale Befund eines Datenträgers wird durch ein bitgenaues forensisches Datenabbild eingefroren und konserviert. Hierbei werden die Geometrie, physische Struktur und der Inhalt aktuell nicht vom Dateisystem genutzter Bereiche (nicht allozierte Bereiche) bewahrt. Lediglich einige physikalische Effekte wie unsystematisch auftretende Schatten von früheren Magnetisierungen auf den Speicherspuren auf Festplatten oder Magnetbändern gehen bei dieser Ablösung des diplomatischen Datenabbilds vom digitalen Äquivalent des Textträgers verloren. Diese Effekte können zwar, wo sie auftreten, unter Rasterkraftmikroskopen sichtbar gemacht werden, erlauben jedoch bei Festplatten erwiesenermaßen keine Datenwiederherstellung.54 Die forensischen Datenabbilder haben insofern materialen Charakter, als sie die physische Anordnung der Speicherzellen, der Blocks, Cluster und Pages auf dem Datenträger originalgetreu wiedergeben. Deren materiale Gestalt spiegelt somit tatsächlich die materialen Effekte der physischen Speicherverwaltung wider. So sind etwa oft Textstücke in Zwischenräumen zwischen Dateien in nicht vollständig genutzten Speicherblocks oder Clustern überliefert (drive slack). Auf NAND-Speichern (solid state drives, USB-Sticks) erfolgt die physische Speicherzuweisung anders als bei Festplatten nach einem Wear Leveling Verfahren, welches unter anderem dazu führt, dass es sehr lange dauert, bis gelöschte Daten, also auch temporäre Dateien und Backup-Dateien mit Textrevisionen, physisch überschrieben werden. Manche Betriebssysteme, darunter Windows 7, legen physisch identifizierbare, separate Snapshot-Partitionen an (VSS service), auf denen frühere Systemzustände gespeichert werden. In diesem Sinne kann das forensische Ab-
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Siehe Anm. 7, 11, 13. Zur Problematik des Begriffs siehe Anm. 51. 54 Craig Wright / Dave Kleiman / Shyaam Sundhar R. S.: Overwriting Hard Drive Data: The Great Wiping Controversy. In: Lecture Notes on Computer Science (LNCS) 5352, 2008, S. 243–257, hier S. 256. Siehe auch Ries (Anm. 3), S. 158. Diese Effekte treten modernen NAND-Speichern (in USB-Sticks, Solid State Drives etc.) nicht mehr auf, diese Speicher haben jedoch durch das notwendige wear levelling andere forensisch interessante Eigenschaften. 53
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bild einer archivierten Systemfestplatte als diplomatisches Faksimile eines anders nicht dauerhaft konservierbaren, einzigartigen physischen digitalen Datenträger-Befundes gelten. Dieses Abbild des physischen Befunds friert das archivierte System forensisch ein, bewahrt es vor eventuellen Veränderungen durch unbedachte Lesezugriffe und ist durch einmaliges Hashen in der bestandhaltenden Institution authentifizierbar und zitierfähig. Insofern ist Christian Bennes Vermutung, dass „die Zukunft zeigen [werde], dass auch digital aufbereitete, gespeicherte, vermittelte und rezipierte Texte ihre eigene Gegenständlichkeit besitzen und nicht in reiner Semiosis aufgehen“ und seine Analyse, dass „in der Zwischenzeit […] als auffälligster Trend, antigegenständliche Tendenzen“ überwögen,55 längst von der Realität überholt. Die Übernahme und forensische Sicherung von digitalen Nachlassteilen in historischen Hardware- und Datenformaten gehört in vielen modernen Archiven mittlerweile zum Alltag. Anders als beim materialen, analogen Dokument sind das digitale Dokument und das digitale dossier génétique aus textgenetischer Perspektive als mehrschichtiger Zusammenhang zu lesen, welcher neben dem digitalen Objekt auf Betriebssystemebene („digitales Dokument“, kopierfähiges, strukturiertes Datenobjekt, auf physischem Datenträger nachweisbar), dessen dynamische Verarbeitung in der Applikation und Repräsentation im grafischen Benutzerinterface der Applikation (Applikationsebene, „Materialität“ des dynamischen GUI aus Nutzerperspektive) und die materialen, forensisch auswertbaren Spuren der Datenverarbeitungsprozesse in Applikation, Betriebssystem und Speicherverwaltung, unter Umständen nebst Synchronisationsdaten zu Web- und Cloud-Services, auf dem System-Datenträger umfasst. Unter dem Betrachtungswinkel der critique génétique sind die Dynamik des Schreibprozesses in der Applikation und die Statik des digitalen Befundes analytisch notwendig zusammen zu denken, analog zur Analyse literarischer Entwurfhandschriften. In der Diskussion um den digitalen Dokument- und Textbegriff hat sich eine Frontstellung ausgebildet zwischen Positionen, welche das digitale Dokument wesentlich durch seinen immateriellen, logischen Informationsgehalt und die Software-Performance der grafischen Benutzeroberfläche bestimmt sehen56 und denjenigen, welche einen „bibliografischen/ textuellen Ansatz“ im Sinne der New Bibliography verfolgen und „Plattform, Benutzerschnittstelle, Datenstandards, Dateiformate, Betriebsysteme, Code-Versionen und -Distributionen, Patches, Ports und so weiter“ bis hin zur Hardware als die materialen Elemente des digitalen Dokuments und digitaler Kunstwerke betonen.57 Die beiden hier etwas idealtypisierend einander gegenübergestellten Perspektiven formieren eine lange Diskussion innerhalb der so genannten Digital Humanities um einen ihrer zentralen Gegenstände, den digitalen Text, während dieser sich in ständiger Entwicklung
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Benne (Anm. 49), S. 635. Lev Manovich: Software Takes Command. London, New York 2013, S. 33–34. 57 Matthew Kirschenbaum: Materiality and Matter and Stuff. What Electronic Texts Are Made Of. In: electronic book review. 1. Oktober 2001, geändert Mai 2003. http://www.electronicbookreview.com/thread/ electropoetics/sited (abgerufen am 22.08.2015). 56
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befindet.58 Die TeilnehmerInnen der Diskussion folgen dabei in der Regel entweder einer technisch-konzeptionellen Überbietungslogik, welche die „Neuheit“ und Eigenständigkeit des „remedialisierten“ digitalen Texts / Dokuments, des Hypertexts und anderer Multimedia-Formate gegenüber dem analogen betont, oder einer Kontinuitätslogik, welche auf die Gemeinsamkeiten zwischen analogen und digitalen Dokumenten und die Fortsetzung bibliografisch materialer Kategorien und Standards setzt. Letzterer Ansatz korrigiert auch die innerhalb der Geisteswissenschaften verbreitete Vorstellung, dass die „textual condition“ unter den analogen Vorzeichen Gutenbergs durch eine „digital condition“ in der Folge der Digitalisierung ersetzt würde,59 die Digitalisierung des Textbegriffs führe aus der Kontinuitätsperspektive vielmehr zu einer „.txtual condition“.60 Beide skizzierte Perspektiven beziehen sich auf unterschiedliche Gründungstexte der Geschichte der Digital Culture Theorie. Lev Manovich etwa geht davon aus, dass das digitale Dokument nicht primär als statisch gespeichertes digitales Objekt, sondern als Element einer dynamischen Software-Performance der Benutzeroberfläche aufzufassen sei, welche das Papier und dessen Bearbeitung remedialisiere und simuliere. Als deren materiale Grundlage definiert er die allgemeinen Prinzipien der numerischen Programmierung und der modularen Software-Organisation.61 In der historischen Herleitung widmet Manovich längere Abschnitte dem Design der grafischen Benutzeroberfläche, mit farbigem Display und unter Verwendung der grafischen Fenster-Metapher, als „Universal Media Machine“ durch Alan Kay bei Xerox® PARC im Jahr 1977. Es ging damals bereits bei der Umsetzung von Textverarbeitungen und Dokumentanzeige-Software um eine Simulation von Papier-Dokumenten und Büchern. Aber es ging eben nicht allein um eine Simulation des Papier-Mediums, sondern um die Simulation von „magischem Papier“ mit den Möglichkeiten des Computers, so Kay in der Rückschau 1990.62 Lisa Gitelman hingegen verfolgt die historische Spur der konzeptionellen Genese des digitalen Dokuments als eine Geschichte der Entkopplung von Information und materialem Text- oder Datenträger, in deren medienhistorischen Verlauf auch die Begriffe „document“ und „record“ eine grundlegende Bedeutungsveränderung durchlaufen haben.63 Die Erzählung setzt anekdotisch ein mit einem bibliografisch motivierten Gerichtsurteil zu verbrannten, dennoch rechtskräftigen Armee-Einberufungsbescheiden aus dem Jahr 1966 und leitet hin zur durch
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Gitelman (Anm. 46), S. 96. „Today such a critical analysis is important, perhaps even imperative, for the reason already given: the entirety of our paper-based inheritance is being digitally remediated. A ‘Digital Condition’ is overtaking and in certain respects completely replacing our ‘Textual Condition’. How will this unfold? No one knows because no one yet understands the social an institutional implications of these technological changes.“ Jerome McGann: Coda: Why digital textual scholarship matters. In: Neil Freistat / Julia Flanders (Hg.): The Cambridge Companion to Textual Scholarship. Cambridge, Mass. u. a. 2013, S. 274–288, hier S. 277. Kirschenbaum (Anm. 50). Lev Manovich: The Language of New Media. Cambridge, Mass. 2001, S. 45, 48. Alan Kay: User Interface: A Personal View. In: Brenda Laurel (Hg.): The Art of Human-Computer Interface Design. Reading, Mass. 1999, S. 199. Gitelman (Anm. 46), S. 89–107.
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Standards und DTDs definierten Körperlichkeit des digitalen Texts zwischen den Tags und in strukturierten Dokumentformaten.64 Den entscheidenden konzeptuellen Schritt allerdings vollzieht in Gitelmans Darstellung nach Vannevar Bushs As We May Think (1945) und der Konzeption des Memex,65 welches trotz seiner prototypischen Vorstellung eines Hypertexts noch materiale Dokumente erschließt, erst J.C.R. Lickliders Libraries of the Future (1964/65) mit der Beschreibung des digitalen, interaktiven procognitive system.66 Dieses verwaltet nicht-einzigartige digitalisierte Repräsentanten (Types) von materialen Dokumenten (Tokens), deren Informations-„Corpus“ in ein seinerzeit noch zu entwickelndes digitales, binär strukturiertes Speichermedium zu überführen sei. Diese von Licklider definierten Dokumente können vom procognitive system „gelesen“ und „verstanden“ werden, sie sind selbstidentisch in dem Sinne, dass sie gleichgesetzt werden mit der Information, die sie enthalten.67 In Lickliders Konzeption waren lediglich digitalisierte materiale Dokumente vorgesehen, Digital Born Dokumente spielten in seinen Überlegungen noch keine Rolle.68 Ungeachtet der unterschiedlichen Akzentsetzungen dieser beiden historischen Narrative des digitalen Dokuments fällt die prominente Rolle des analogen, materialen Dokuments auf – sei es als verbrannter Einberufungsbescheid und Beginn der Geschichte der konzeptionellen Entkopplung von Information und Informationsträger oder als Gegenstand einer What you see is what you get-Simulation im grafischen Benutzerinterface. Die Schichtung des digitalen avant-texte in nicht-materiale und materiale Aspekte ist nicht nur durch technische Machbarkeit, sondern auch mediengeschichtlich bedingt. Die informatische Forensik befasst sich bei der so genannten dead system analysis archivierter Systeme vor allem mit der materialen Seite des digitalen Befundes. Ihre Methoden und Werkzeuge sind, eine entsprechende forensische Sicherung vorausgesetzt, unter anderem geeignet, gelöschte Revisionen eines Textdokuments wiederherzustellen und Metadaten zum Schreibprozess aus einem System zu extrahieren, um so die vorhandenen Spuren zu einem dossier génétique zusammenzufügen. Oben wurde skizziert, auf welche Weise der digitale Befund des avant-texte durch die Datenverarbeitungsprozesse auf Applikations-, Betriebssystems- und Speicherverwaltungsebene formiert sind. Anhand von vier Beispielen aus dem Thomas Kling Archiv der Stiftung Insel Hombroich wird im folgenden Abschnitt zu zeigen sein, welche spezifischen Problemstellungen sich bei der textgenetischen Interpretation digitalforensischer Befunde ergeben.69
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Gitelman (Anm. 46), S. 127. Vannevar Bush: As we may think. In: Atlantic Monthly 176 (1945), S. 101–108; vgl. Gitelman (Anm. 46), S. 98. J.C.R. Licklider: Libraries of the Future. Cambridge, Mass. 1965; vgl. Gitelman (Anm. 46), S. 98–105. Gitelman (Anm. 46), S. 101. Gitelman (Anm. 46), S. 103. An dieser Stelle ist besonders Ute Langanky zu danken, die das Thomas Kling Archiv der Stiftung Insel Hombroich mit der Leiterin der Archive der Stiftung (Dr. Ricarda Dick) verwaltet und betreut. Ohne ihr Engagement für das Archiv, ohne ihre Offenheit für das Thema „Born Digital Archivalien“ wäre dieses
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III Ted Nelsons in Literary Machines formulierte Idee eines alternativen Dateisystems, welches nicht bei jedem Speichervorgang eines digitalen Dokuments jeweils die vollständige Datei, sondern lediglich die Änderungen inkrementell auf den Datenträger schreibt und diese in Bäumen von wiederherstellbaren alternativen Versionen („tree of alternative versions“) verwaltet,70 wurde in dieser Form nicht realisiert. Funktional am nächsten kommen Nelsons Idee wohl heutige Code-Versionsverwaltungssysteme wie GIT oder Subversion, auf Betriebssystem-Ebene von Einzelrechnern könnte man Ähnlichkeiten zu Funktionen wie VSS-Snaphot-Service (Windows 7) oder der File History Funktion (Windows 8 und 10, ähnlich TimeMachine auf Apple OS X) sehen. Nelsons sprachbildliche Konzeption des digitalen Dokuments als eines sich in der Zeit fortlaufend entwickelnden „Zopfes“ („evolving ongoing braid“), aus dessen Schreib- und Revisionsprozess („re-twisting“, „space-time vortex“) bestimmte Zustände repräsentierende Momentaufnahmen („instantaneous slices“) gespeichert und auf dem Bildschirm stückweise rekonstruiert angezeigt werden können, kann als eine der frühesten Formulierungen des Verhältnisses zwischen dem dynamischen Jetzt-Zustand eines Dokuments auf dem Nutzerinterface des word processor und den automatisch oder willentlich auf Anweisung des Nutzers gespeicherten Versionen gelten. Änderungsverfolgung und Wiederherstellungsfunktionen für Textänderungen wie zum Beispiel track changes oder auch die Diff-/Merge-Änderungsverwaltung der Plattform Wikipedia (MediaWiki) eröffnen die Jetzt-Perspektive des text editor-Fensters auf das digitale Dokument hin zur textgenetischen Dimension und ermöglichen die Revision einzelner Änderungen und produktive Zusammenarbeit zwischen mehreren Nutzern innerhalb der Applika tion. Für viele Autoren ist die Verfügbarkeit früherer Entwurfzustände notwendige Vor aussetzung prozessorientierten Schreibens. Entsprechend kritisch sieht Daniel Chandler in The Phenomenology of Writing by Hand die Jetzt-Perspektive des word processor und Verfahren wie track changes für das „explorative Schreiben“ im Vergleich zum handschriftlichen Entwurf: Another point related to tools and revision is one I have made elsewhere, which is that “writing done with a word processor obscures its own evolution”71. “Crossing out” on a word processor is usually accomplished by deleting words, leaving no trace. [...] Even if drafts are regularly saved or printed out it is not easy to spot the differences between versions. In more senses than one something may be lost with the word processor compared with handwriting. […] Many writers choose to annotate their printouts by hand – though this is seldom as complete a record of changes as that of the completely handwritten draft. Apologists who point to the existence of facilities and techniques which cater for preserving changes with the word
Projekt nicht möglich. Weiterhin schuldet dieser Beitrag Prof. Felix Freiling aus Erlangen Dank für Beratung und die Gelegenheit, mit einem Forum von informatischen Forensikern ins Gespräch zu kommen. 70 Ted Nelson: Literary Machines. Aufl. 87.1. Sausalito, CA 1987, S. 2/13–2/22. Mein Dank geht an Thomas Crombez, dessen Vortrag (Anm. 35) mich auf Nelsons Text hinwies. 71 Daniel Chandler: Are We Ready for Word-Processors? In: English in Australia 79 (1987), S. 11–17.
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processor fail to recognize the deliberateness such strategies require in contrast to a rapid slash of the pen – which can preserve every change (even with subtle and unpremeditated degrees of unwantedness). The handwritten text maps paths not taken in a way that enables them to be re-explored if necessary. For the tentative, exploratory writing in which Discoverers engage such a function may matter.72
Viele Autoren greifen statt komplexer Revisionsverwaltungsfunktionen auf das einfache Mittel der Versionierung durch Abspeichern unter neuem Dateinamen zurück – zur datentechnischen Sicherung, aber auch, um Wiederaufnahme früherer Textstadien zu ermöglichen. Die von Micheal Speier alphanumerisch in genetischer Reihenfolge und teils als Parallelversionen organisierten Dateinamen des Schreibprojekts september st. nazaire können hierfür als Beispiel stehen.73 Die aktive Versionierung der eigenen Arbeit gehört hier zum Schreibverfahren.74 Die philologische Rekonstruktion des nicht so offensichtlich zugänglichen digitalen dossier génétique und der Dynamik des Schreibprozesses erfolgt mit digitalforensischen Mitteln, sofern der Original-Datenträger überliefert ist und ein forensisches Datenabbild angefertigt wurde. Die Verfahren der Gewinnung von Varianten und textgenetisch relevanten Metadaten aus Dokument-Dateien (fastsave feature, RSID-tags) und der Datenrekonstruktion gelöschter, nicht physisch auf dem Datenträger überschriebener Dateien (undelete, file carving, drive slack analysis, Zugriff auf VSS service Partitionen, file history Feature) wurden an anderer Stelle grundlegend dargestellt.75 Neben Weiterentwicklungen dieser Verfahren sind aus heutiger Sicht vor allem die Fortschritte in der Auswertung von lokalen Dateien von installierten Dropbox-Clients zu erwähnen.76 Im Folgenden soll jedoch nicht die Breite der technischen Werkzeuge und Methoden dargestellt werden. Vielmehr sollen, mit freundlicher Erlaubnis von Ute Langanky, einige Befunde aus dem Thomas Kling Archiv exemplarisch herausgegriffen werden, um den spezifischen Zusammenhang zwischen der Materialität des digitalen Befundes und der Dynamik des Schreibprozesses zu verdeutlichen. III.1 Das erste Beispiel ist eine Dokument-Datei mit dem Dateinamen „Waschzettel.doc“, sie enthält den Entwurf zu einem Ankündigungstext für den Gedichtband Fernhandel
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Daniel Chandler: The Phenomenology of Writing by Hand. In: Intelligent Tutoring Media 3 (1992), S. 65–74, hier S. 69. Vgl. Ries (Anm. 3), S. 169–198. Dass dies freilich nicht für alle AutorInnen zutrifft, hat Marita Mathijsen gezeigt. Vgl. Marita Mathijsen: Genetic Textual Editing: the End of an Era. In: Gertraud Mitterauer (u. a., Hg.): Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft. Tübingen 2009 (Beihefte zu editio, 28), S. 233–240. Vgl. Ries (Anm. 3). Siehe Anm. 21.
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aus dem Jahr 1999.77 Ein Ausdruck dieser Datei, von einem Backup angefertigt, ist im Thomas Kling Archiv unter der Sigle „Kling 3073“ archiviert. Der früheste digital überlieferte Beleg findet sich im Verzeichnis „alte dokumente“ auf der Datenpartition einer Festplatte, welche in einem Laptop Klings von 2000 bis zu ihrem Versagen durch einen Hardware-Fehler Ende 2004 verwendet wurde. Da sich der Datenträger nicht mehr auf die übliche Weise ansprechen ließ, wurde die Partition im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Thomas Kling Archiv, den Universitäten Gent und Erlangen und dem international renommierten digitalforensischen Dienstleister Kroll Ontrack® im Labor ausgelesen und forensisch gesichert. Die Metadaten des mit Microsoft Word® 6.0 erstellten Dokuments verraten, dass es am 8. Februar 1999, 13:23 erstellt und bereits um 13:50 zuletzt gespeichert wurde, was gerade Zeit für zwei verzeichnete Revisionszyklen ließ. Der in den Metadaten angegebene Titel lautet „Thomas Kling, Fernhandel“ und wurde während des ersten Speichervorgangs von der Textverarbeitung anhand der ersten Zeile geraten. Der folgende Text erscheint, öffnet man die Datei in einer Textverarbeitung, etwa Microsoft Word®: Thomas Kling, Fernhandel Fernhandel ist die erste Form des Handels überhaupt. Fernhandel ist Verbindung unter Gemeinschaften. Fernhandel existiert seit frühgeschichtlicher Zeit: über weite Räume werden Güter – Rohstoffe, Textilien – transportiert. Per Fernhandel reist auch das Gedicht: es legt als Textreise die zeitliche und räumliche Entfernung zwischen Dichter und Leser zurück. Im Zentrum von Thomas Klings Gedichtband Fernhandel steht die aus dem kollektiven Gedächtnis weit entfernte Zeit des Ersten Weltkriegs. Der – auch mediengeschichtlich – wichtigen Epoche aus der Frühzeit des 20. Jahrhunderts geben die Gedichte Klings ihren Raum. Ihr setzt (teils ausgehend von Familiendokumenten) Fernhandel ein Denkmal.
Dieser Text ist identisch mit dem Ausdruck unter der Sigle „Kling 3073“. Wenn man die Datei allerdings mit einem so genannten Hex-Editor öffnet, wird deutlich, dass die Anzeige des Textes tatsächlich erst in der Applikation zusammengesetzt wird aus Fragmenten von Zwischenspeicherungen, welche im Datenstrom der Binary-Dokumentdatei zu finden sind:
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Thomas Kling: Fernhandel. Gedichte. Köln 1999.
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Abb. 1 Datei „Waschzettel.doc“ im Hex-Editor. Der Ausschnitt zeigt die Fragmente 3 und 2
Bei der Durchsicht der Fragmente fällt auf, dass sie nicht ganz chronologisch im Datenstrom des Dokuments angeordnet sind. Die Fragmente an der zweiten und dritten Position müssen vertauscht werden, um zu einer chronologisch plausiblen Anordnung zu kommen, siehe Abb. 2. Thomas Kling hat offenbar die ersten beiden Fragmente 1, 3 zunächst weitgehend durchgeschrieben, am Ende des Fragments 3 allerdings „zeitliche und räumliche [Entfernung]“ (3, Anzeige) weiter oben im Text ergänzt, um den Text zunächst fortzusetzen und dann „Epoche des Ersten Weltkriegs – [...] zeitlich weit Entferntes“ (3) zu „weit entfernte Zeit des Ersten Weltkriegs.“ (Anzeige) zu überarbeiten. Hierbei fällt die unvollständige Zwischenstufe „weit entfernte Zeitriegs.“ (2) auf, welche offenbar auf einen Speichervorgang zurückgeht, bei welchem lediglich die Änderungen gegenüber Fragment 3 abgespeichert wurden. Fragment 4 speichert zwischendurch nochmals den Anfang des Texts, möglicherweise wurde eine Textformatierung geändert. Die in dieser Datei vorfindliche Versionierung ist das Ergebnis des bis ins Jahr 200078 in Microsoft Word® für Windows als default aktiven fast save Feature, welches Speichervorgänge beschleunigen sollte, indem bis zu 14 Versionen geänderter Passa-
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Das Feature wurde mit Microsoft Word® 9 (Office 2000®) per default abgeschaltet, war aber bis Word® 11 (Office 2003®) noch verfügbar und wurde von der Applikation noch beim Schreiben temporärer Dateien verwendet. In Word® 12 (Office 2007®) stand die Option „allow fast save“ nicht mehr zur Verfügung. Vgl. Fried (Anm. 22).
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I m Ze nt r um v onThomasKl i ngsGe di c ht band Fer nhandels t e htdi eausde mk ol l e kt i v e n Ge däc ht ni swe i te nt f e r nt e Ze i tde sEr s t e n We l t k r i e gs .De r-auc hme di e ng es c hi c ht l i c hwi c ht i g e nEpoc heausde rF r ühz e i tde s2 0 . J ahr hunde r t sg e be n di e Gedi c ht e Kl i ngs i hr e nRaum.I hrs e t z t( t e i l saus g e he ndv on F ami l i e ndok ume nt e n)Fer nhandele i nDe nkmal .
Abb. 2 Datei „Waschzettel.doc“, Übersicht der Textfragmente in chronologischer Folge
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I mZe nt r umv onThomasKl i ng s Ge di c ht bandF e r nhande l s t e htdi e Epoc hede sEr s t e nWe l t k r i e gs-ausde m k ol l e k t i v e nGe däc ht ni sz e i t l i c hwe i t Ent f e r nt e s , dasanhandv on
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ThomasKl i ng, Fer nhandel
Anz e i g ei nAppl i k at i on
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F r agme nt5
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F e r nhande l i s tVe r bi ndungunt e r Ge me i ns c haf t e n.
F e r nhande l e x i s t i e r ts e i t f r ühg e s c hi c ht l i c he rZe i t : übe rwe i t e Räumewe r de nGüt e r-Rohs t offe , T e x t i l i e n–t r ans por t i e r t .
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F r agme nt4
F e r nhande l i s tdi ee r s t eF or m de s Hande l sübe r haupt .
F r agme nt2 ThomasKl i ng , F e r nhande l
F r ag me nt3
ThomasKl i ng, F e r nhande l
F r ag me nt1
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gen, inklusive gelöschten Texts, an den Datenstrom des Dokuments in der Datei angehängt wurden, bevor die Applikation das Dokument mit dem 15ten Speichervorgang vollständig neu schrieb. Derselbe Mechanismus arbeitete in temporären Dateien. Bei der hier vorfindlichen Versionierung handelt es sich also um einen versionsspezifischen Effekt der Speicherverwaltung von Microsoft Word®, welcher sich in der Struktur, der digitalen Materialität des digitalen Dokuments, abbildet.79 Was die textgenetische Deutung des digitalen Befunds angeht, deuten sich bereits bei diesem überschaubaren Beispiel die Schwierigkeiten an, insofern es sich um partiale, sich teilweise überlappende, teils exakt aneinander anschließende snapshots von jeweils neu geschriebenen oder lediglich geänderten Passagen aus dem Bearbeitungsprozess handelt. Es werden hierbei nicht Entstehungsvarianten im philologischen Sinne aufgezeichnet, Struktur und Textgrenzen dieser Fragmente wurden algorithmisch bestimmt durch Erfordernisse der Speicher- und Prozessverwaltung. Die Momentaufnahmen können jeweils entweder zeitgesteuert oder durch Thomas Kling ausgelöst worden sein, was die Einschätzung des textgenetischen Status des jeweiligen Fragments erschwert. III.2 Ein zweites und drittes Beispiel bezieht sich auf Bearbeitungsstufen eines der Gedichte aus Fernhandel, aus dem Zyklus Der Erste Weltkrieg: ihr hinterleib in ständiger bewegung.80 Sie konnten rekonstruiert werden von der Festplatte eines Laptops des Typs „Nan Tan / Clevo 9500“, welchen Kling bis 1999 verwendet und später an eine Verwandte weitergegeben hat. Obwohl die persönlichen Daten Klings von dem Rechner gelöscht worden waren, sind von dem forensischen Abbild noch Spuren von Klings literarischer Arbeit zu finden. So etwa das folgend abgebildete Fragment von ihr hinterleib in ständiger bewegung, hier noch unter dem Projekttitel des Zyklus Die Wahrnehmung, als dessen erstes Gedicht ihr hinterleib […] offenbar zu diesem Zeitpunkt vorgesehen war. Das Fragment befindet sich in der Datei FILE0013.CHK im Wurzelverzeichnis auf Laufwerk C. Die insgesamt 3,6 MB große Speicherauszug-Datei wurde offenbar am 17. September 1998 zur Analyse- und Datenrettungszwecken automatisch geschrieben, als das Betriebssystem (Windows 3.11 for Workgroups) abstürzte. Beim späteren Löschen von Klings persönlichen Daten wurde die Datei offenbar übersehen.
79
Doug Reside, der dieses Phänomen bei der Analyse von Jonathan Larson Dokument-Dateien zum Musical RENT beobachtet hat, vergleicht fast save Artefakte zur Veranschaulichung – terminologisch etwas schief – mit Palimpsesten. Vgl. Reside (Anm. 31). 80 Kling (Anm. 77), S. 26.
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Abb. 3 Datei „FILE0013.CHK“ in einem Text-Editor
Eine umfassende Analyse im Kontext der weiteren rekonstruierbaren Versionen dieses Gedichts und vor allem des Zyklus ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. Auffällig sind an dieser Version die Abweichung der Versgrenzen gegenüber der späteren Druckversion (Abb. 3, Z. 519, 521–22), die Änderung des Artikels „das“ (522) zu „ein zeitaquarium“ und von der Verschmelzungsform „istn“ (521) zu „ist ein“.81 Festzuhalten ist mit Blick auf dieses Beispiel, dass ein Systemfehler zur Überlieferung dieser Momentaufnahme des Arbeitsprozesses an ihr hinterleib […] geführt hat. Ob man in diesem Falle von einem Fragment einer „Textstufe“ im engeren Sinne sprechen kann, muss dahingestellt bleiben, da unklar ist, ob Kling in diesem Augenblick überhaupt an diesem Text gearbeitet hat – der Speicherauszug enthält Text von anderen Gedichten. III.3 Die Datei „f4199911_die_wahrnehmung.doc“ ist eines der Ergebnisse der Datenwiederherstellung mit dem file carver Photorec von derselben Festplatte, von welcher vor der Weitergabe Klings persönliche Daten gelöscht worden waren. File carver suchen
81
Vgl. Kling (Anm. 77), S. 26, V, 9–11.
Abb. 4 Datei „f4199911_die_wahrnehmung.doc“ im Hex-Editor. Der Ausschnitt zeigt eine Version von ihr hinterleib [...], unterbrochen durch anderen Text (grau unterlegt)
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den gesamten Datenraum eines Datenträgers, auch die nicht allozierten Bereiche, mit Strukturheuristiken nach rekonstruierbaren Dateien ab. Wird zum Beispiel ein unvollständiger header eines bestimmten Dateityps, etwa einer Word® Binary Dokumentdatei mit dem Metadatentitel „die wahrnehmung“ gefunden, so versucht der file carver, einen entsprechenden footer oder andere Strukturmerkmale zu finden, um die vermutlich dazwischen liegende, möglicherweise durch Überschreibungsprozesse fragmentierte Datei rekonstruieren zu können. Hierbei können so genannte false positives entstehen, also fehlerhafte Wiederherstellungen. Im Fall von f4199911_die_wahrnehmung. doc sind offenbar mehrere typische Probleme aufgetreten. Zum einen wurde nicht der richtige footer gefunden, so dass die Texte mehrerer Dokumente, auch mehrere Ver sionen von ihr hinterleib […], in der Datei veschmolzen wurden und diese auch in MS Word® nicht als valides Dokument geöffnet werden kann. Zweitens, und hierin liegt vermutlich der eigentliche Grund, zeigt der Befund innerhalb des zusammengefügten Datenstroms, dass die wiederherzustellenden Dateien fragmentiert gespeichert sind. Im Hex-Editor finden wir zum Beispiel, dass eine etwas spätere Version von ihr hinterleib […] exakt durch einen Abschnitt einer Version von es stützen mit den toten schultern aus Fernhandel82 und einem weiteren kurzen Textfragment (beide in Abb. dunkel unterlegt) unterbrochen abgespeichert wurde. Es lässt sich auf Grund der fragmentierten Speicherung technisch nicht mehr mit Sicherheit bestimmen, ob die multiplen hier in f4199911_die_wahrnehmung.doc zusammengeführten Dateien tatsächlich Dokument-Dateien, temporäre oder Backup-Dateien gewesen sind. Das Beispiel verweist auf ein grundsätzliches, theoretisches Problem mancher digitalforensischer Methoden, insbesondere des file caving. Es handelt sich zwar bei dem materialen Befund auf der Festplatte durchaus um original traces („a trace produced from evidence in the matter“).83 Das file caving Artefakt f4199911_die_wahrnehmung. doc hingegen wäre nach Fred Cohens Terminologie als constructed trace („a trace constructed from a reconstruction process“) zu bezeichnen.84 Die verwendeten analytischen Werkzeuge produzieren und beeinflussen das Ergebnis, selbst unterschiedliche Versionen desselben Tools können zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. III.4 Als viertes Beispiel sei ein kurzer Auszug aus dem so genannten drive slack der Festplatte des letzten von Thomas Kling verwendeten Laptops angeführt. Es handelt sich um ein Fragment des Gesang von der Bronchoskopie und dessen ersten Gedicht arnikabläue aus der letzten Sammlung Auswertung der Flugdaten.85
82
Kling (Anm. 77), S. 29–30. Fred Cohen: Putting the Science in Digital Forensics. In: Journal of Digital Forensics, Security and Law 6.1 (2011), S. 7–14, hier S. 10. 84 Cohen (Anm. 83), S. 10. 85 Thomas Kling: Auswertung der Flugdaten. Köln 2005, S. 9, 11. 83
80
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198780448 Microsoft Word-Dokument 198780476 MSWordDoc 198780490 Word.Document.8 198782498 bjbj 198783488 [Gesang von der Bronchoskopie] 198783526 Wer bist du? 198783542 Ich bin der tod! 198783559 sprach jener 198783573 mit ganz heiserer stimme. 198783600 Ludwig Bechstein, Gevatter Tod 198783640 EINS 198783646 arnikabl 198783658 198783681 so fran198783732 st grafit das hochgebirge aus mir: 198783768 den kopf, die abz 198783786 hlbaren kuppen. 198783804 sonne strahlt arnika, trotzdem: frantic, 198783845 reichlich alles. die im blauen kranz, 198783883 herzkranz austobt sich, protuberanzen. 198783923 schraffuren erzeugend im blau 198783956 yves-klein-pigment? sei`s drum. 198783989 wenn diagno
Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, handelt es sich bei drive slack um ungenutzten Datenraum auf einem Datenträger, der zwischen Dateien in nicht vollständig genutzten Blocks oder Clustern entsteht. So lange die benachbarten Dateien nicht gelöscht werden, bleibt dieser Platz also frei und kann nicht überschrieben werden. Auf diese Weise können sich besonders frühe Textfragmente im drive slack finden. Dessen Analyse lässt sich leicht mit den Tools blkls (sleuthkit®)86 und strings durchführen.87 Textfragmente, die aus dem drive slack extrahiert werden können, sind in der Regel durch die angrenzenden Dateien ab den Blockgrenzen teilweise überschrieben und besitzen keine Dateioder Dokumentstrukturen mehr. Die Form, in der sie überliefert werden, nämlich als fragmentierte Daten, ist daher in besonderer Weise durch die Datenverwaltung auf dem jeweiligen Datenträger und den Systemkontext geprägt.
86 87
http://www.sleuthkit.org/ (abgerufen am 22.08.2015). Vgl. Ries (Anm. 3), S. 157.
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IV Digital archivists need digital humanities researchers and subject experts to use born-digital collections. Nothing is more important.88
Den Aufruf Matthew Kirschenbaums aufnehmend, versuchte der Beitrag einige Grundlagen der Rekonstruktion und Edition digitaler Schreibprozesse anhand von Beispielen aus digitalen dossiers génétiques aus dem Thomas Kling Archiv zu reflektieren. Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass Born Digital Befunde eine grundlegende Herausforderung für die Theorie und Praxis der historisch-kritischen Editorik darstellen, indem sie grundlegende philologische Arbeitsbegriffe und analytische Konzeptionen in Frage stellen. Eine erste Annäherung an den digitalen avant-texte erfolgte daher über einen Versuch, den funktionalen und überlieferungsrelevanten Hybridcharakter des digitalen Dokuments als digitales Objekt und physisch gespeicherte Datenspur vor einem konzeptionell-technischen wie vor dem mediengeschichtlichen Hintergrund zu bestimmen. In einem zweiten Schritt wurden Konzeptionen der Schreibprozess-Textdynamik im digitalen Medium beleuchtet und mit aus typischen Befunden des Born Digital Pendants der analytischen Handschriftenforschung, der informatischen Forensik, abgeglichen. Es wurde dargestellt, dass das digitale dossier génétique eine hohe chronologische Dichte an Momentaufnahmen aufweisen kann, allerdings gleichzeitig als konstitutiv lückenhaft gelten muss. Anhand der vier Beispiele aus dem Thomas Kling Archiv der Stiftung Insel Hombroich, Entwurfstufen und -fragmente zu einem Ankündigungstext der Sammlung Fernhandel sowie zu den Gedichten ihr hinterleib in ständiger bewegung (in Fernhandel) und arnikabläue (in Auswertung der Flugdaten), wurden grundlegende Methoden der forensischen Rekonstruktion des digitalen dossier génétique exemplifiziert. Die Diskussion der Ergebnisse verweisen einerseits auf den Hybridcharakter des Befunds, gleichzeitig wurden Besonderheiten der philologischen Deutung deutlich: etwa das constructed trace Problem und die technische System- und Versionsspezifizität der Befunde, der verwendeten forensischen Werkzeuge und Methoden und sogar der Analyse-Ergebnisse. Bei den Herausforderung für die Editionswissenschaft geht es sicherlich auch um auszubildende Kompetenzen von Editoren, Archivaren und Lesern, die mit entsprechenden Materialien arbeiten wollen. Vor allem jedoch sind in Zusammenarbeit mit der Archivwissenschaft und forensischen Informatik Standards für die Dokumentation digitaler Befunde in historisch-kritischen Editionen zu schaffen. Eine angemessene Vermittlung von literarischen Handschriften, Typoskripten und digitalforensischen Befunden in der textgenetischen Darstellung zu finden ist eine der schwierigsten konzeptionellen Aufgaben der näheren Zukunft. Angesichts der schieren Menge und technischen Spezifizität der Befunde dürften generische Komplexitätsreduktion und scholarly choice bei der Bewältigung eine wesentliche Rolle spielen.89
88 89
Kirschenbaum (Anm. 50), Par. 38. Vgl. Pierazzo (Anm. 6), S. 4–5.
82
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II. Textgenese und digitales Edieren: Werkstattberichte
Thomas Burch, Stefan Büdenbender, Kristina Fink, Vivien Friedrich, Patrick Heck, Wolfgang Lukas, Kathrin Nühlen, Frank Queens, Michael Scheffel, Joshgun Sirajzade, Jonas Wolf
Text[ge]schichten Herausforderungen textgenetischen Edierens bei Arthur Schnitzler Die Rekonstruktion und Darstellung der Textgenese steht im Zentrum unseres deutsch-britischen Editionsprojekts, das eine digitale historisch-kritische Edition von Arthur Schnitzlers Werken aus dem Zeitraum von 1904 bis 1931 erarbeiten will. Der zum Großteil an der Cambridge University Library, zum kleineren Teil im Deutschen Literaturarchiv Marbach archivierte1 umfangreiche, schätzungsweise 30.000 Seiten umfassende Werknachlass Schnitzlers enthält sowohl die vom Autor aufbewahrten (und zum Teil auch von ihm selbst geordneten) Entwürfe zu den publizierten Werken als auch zahlreiche unveröffentlichte Werke in je unterschiedlichem Ausarbeitungszustand. Eine besondere editorische Herausforderung in Bezug auf dieses Material besteht sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht: Denn für Schnitzlers Arbeitsweise typisch sind lange Entstehungszeiträume, die sich beim Spätwerk der 1920er Jahre über 30 Jahre erstrecken können, und eine komplizierte Textgenese, in deren Verlauf sich nicht selten Gattungswechsel finden: so z. B. von der Novelle zum Drama (der „Verführer“-Stoff, der, Ende der 1880er Jahre begonnen und zunächst als Novelle ausgearbeitet, von ca. 1904 an bis zur Uraufführung und Publikation 1924 schließlich zur Komödie der Verführung umgearbeitet wird), vom Drama zum Roman (so z. B. Der Weg ins Freie), vom Einakter zur Novelle (so z. B. Die Frau des Richters) oder von der fünfaktigen Tragödie zur dreiaktigen Komödie (Fink und Fliederbusch). Dementsprechend reichhaltig und vielgestaltig präsentiert sich das textgenetische Material. Darüber hinaus finden sich innerhalb des Gesamtœuvre auch mannigfache werkübergreifende genetische Beziehungen, Stoffverzweigungen (so u. a. der ‚Ärzte‘-Stoff, der zu den beiden Dramen Der einsame Weg und Professor Bernhardi, oder der ‚Verführer‘-Stoff, der zur Novelle Die Hirtenflöte und zur Komödie der Verführung führt) ebenso wie -fusionen (so u. a. Erinnerungen und Stunde des Erkennens, die beide in den Einakter Stunde des Erkennens münden), sodass sich das Gesamtwerk als System interdependenter Transformationen rekonstruieren lässt. Reinhard Urbach hat in dem von ihm herausgegebenen Band Entworfenes und Verworfenes, der ausgewählte Entwürfe in einer Leseausgabe zusammenstellt, Schnitzler treffend als einen Dichter beschrieben, dessen Charakteristikum das stete Überarbeiten und Ändern seiner ursprünglichen Ideen gewesen ist: „Seine Begabung war nicht der einmalige Wurf, sondern der mühsame Weg
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Weitere Aufbewahrungsorte einzelner Dokumente sind u. a. Wien, Jerusalem, Coligny/Genf.
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von der ersten Notiz zur endgültigen Fassung. Seine Begabung war die Korrektur.“2 Schnitzlers Selbsteinschätzung, die er im März 1916 im Tagebuch festhält, setzt demgegenüber noch einen anderen Akzent: Manches von dem unvollendeten, ja dem mißlungnen wird denen, die sich in 50 oder 100 Jahren für mich noch interessiren gerade so interessant oder interessanter sein als das gelungene, das fertig gemachte. Mein Vergnügen: mit meinen Einfällen spielen – und das ausfeilen; das eigentliche Arbeiten nicht.–3
Dabei scheint Schnitzler sich allerdings überwiegend auf die zahlreichen nichtveröffentlichten Werke, sein Nachlasswerk im engeren Sinn, zu beziehen, die er ebenso gezielt (und selektiv) der Nachwelt hinterlassen hat wie das genetische Material zu seinen „gelungenen“ und veröffentlichten Werken. Letzteres legt beredtes Zeugnis ab sowohl vom „Spiel“ mit „Einfällen“, dem gleichsam Erproben ganz unterschiedlicher Erzählformen und Handlungsverläufe seiner Geschichten, als auch vom „eigentlichen Arbeiten“, das Schnitzler, wie die Tagebucheinträge zu nicht wenigen seiner im Entstehen begriffenen Werke bezeugen, oftmals als regelrecht quälend erlebt hat. Das Ziel unseres Editionsprojekts ist es, die zu rekonstruierenden komplexen Entwicklungsprozesse von Schnitzlers Werken auf möglichst anschauliche Weise darzustellen und damit einen Einblick in die Wege der dichterischen Imagination und Produktion zu gewähren. Die folgenden Ausführungen skizzieren den aktuellen Stand unserer Überlegungen zur Modellierung und Visualisierung der Textgenese.4
1. Definitionen: Textgenese, Makro- und Mikrogenese, Schicht, Fassung In Anlehnung an Seiffert5 und Hurlebusch6 bestimmen wir die textgenetische Dimension über das Kriterium einer dynamischen Textentwicklung und stellen dergestalt
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Reinhard Urbach: Vorwort. In: Arthur Schnitzler: Entworfenes und Verworfenes. Aus dem Nachlaß. Hg. von R. U. Frankfurt/M. 1977, S. III. – Selbstverständlich sind auch bei Schnitzler Ausnahmen von dieser Arbeitsweise zu finden, so etwa bei der Novelle Lieutenant Gustl, deren Niederschrift innerhalb nur weniger Tage im Sommer 1900 durchaus als „einmalige[r] Wurf“ bezeichnet werden kann. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1983, S. 277 (Eintrag vom 30.3.1916). Gegenüber der Präsentation auf der Greifswalder Tagung gehen hier nun auch einige neuere Überlegungen mit ein, die Ergebnis der Diskussionen mit unseren britischen Partnern sind. Ihnen – Andrew Webber, Judith Beniston, Annja Neumann und Robert Vilain – sei an dieser Stelle ebenso gedankt wie Rüdiger Nutt-Kofoth für Kritik und Anregungen. Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Kap. II. „Textveränderungen“. Berlin 1963. Die hier relevanten Passagen sind neu abgedruckt in: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition, 1), S. 243–251, hier S. 249. Zur Terminologie s. auch Rüdiger Nutt-Kofoth: Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zum Problem der Synonyme in der neugermanistischen Editionsphilologie. In: Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“. Hg. von Gunter Martens. Berlin u. a. 2013 (Beihefte zu editio, 36), S. 113–124. Klaus Hurlebusch: „Editionsprinzipien“, Kap. A: „Typologische Änderungsbefunde und ihre Termini“.
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Variationen bloßen statischen Änderungen wie Korrekturen – betreffend das System Text (z. B. Schnitzlers handschriftliche Korrekturen der Tippfehler seiner Sekretärin) – oder Verdeutlichungen – betr. das System Schrift (Nachzeichnungen von Graphen) – gegenüber. Von textgenetischer Relevanz sind somit ausschließlich Variationen in der genannten Bedeutung – zumindest primär. Denn sekundär können im Falle Schnitzlers auch Buchstabennachzeichnungen und -verdeutlichungen genetische Relevanz besitzen. So häufen sich solche Phänomene oft in signifikanter Weise auf bestimmten Seiten oder in bestimmten Passagen des Manuskripts als materielle Manifestation einer offenkundigen Unterbrechung des Produktionsflusses: Man meint förmlich zu sehen, wie Schnitzler zögert, überlegt, wie es weitergehen soll, bestimmte Zeilen wieder und wieder liest und zum Teil ganze Sätze wie in Gedanken fast spielerisch nachzeichnet. Durch die Auszeichnung solcher Materialphänomene gewinnen wir also potentiell zusätzliche Erkenntnis über spezifische Aspekte und Probleme des dichterischen Produktionsprozesses. Die Kategorien Makro- vs. Mikrogenese betreffen den – größeren resp. kleineren – Betrachtungsausschnitt, der für die Beobachtung textgenetischer Phänomene gewählt wird. Hierzu existiert bislang keine konsensuelle Terminologie, die Begriffe werden somit je nach den spezifischen textgenetischen Gegebenheiten und den Zwecken einer Edition pragmatisch definiert.7 Eine erste Definition, die die Grenze des Überlieferungs-/Textträgers relevant setzte und dementsprechend die mikrogenetische Dimension als Intra-Dokument-Varianz (Binnenvarianz), die makrogenetische hingegen als Inter-Dokument-Varianz bestimmte, wurde von uns verworfen, weil diese Differenz letztlich (auch) von der Extension der Änderung(en) abhängt und somit in gewisser Weise kontingent ist. Sie wurde ersetzt durch eine Definition, die die beiden Kategorien nicht disjunkt, sondern im Sinne einer graduellen Skala der variablen Distanz/Nähe zwischen Betrachter und Textobjekt (à la zoom) bestimmt. Diese Definition scheint uns auch der Tatsache besser Rechnung zu tragen, dass die kategoriale Grenzziehung zwischen Mikro- vs. Makrogenese letztlich eine relative bleiben wird. Die makrogenetische Dimension betrifft demzufolge die genetische Relation größerer Einheiten wie der überlieferten Dokumente selbst (etwa die Serie: erster Plan – Skizze/Entwurf – erste Werkniederschrift/-fassung – erneuter Plan – etc.) sowie von ganzen Textsegmenten, die in der Regel als gattungs- bzw. genrespezifische Einheiten des discours vorgegeben sind: Akte und Szenen im Fall des Dramas, Kapitel und Unterkapitel im Falle des Prosatextes. Wenn es keine solchen Einheiten gibt, wie dies etwa programmatisch in einer
In: F. G. Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. Addenda II: Klopstocks Arbeitstagebuch. Berlin 1977. 7 Vgl. andere Beiträge in diesem Band sowie die Überlegungen, die im Rahmen des Workshops „Digitale genetische Editionen“ (Schweizer Literaturarchiv, Bern, September 2014) angestellt wurden und dokumentiert sind auf: http://www.lokalbericht.unibe.ch/hermann_burger/workshops.html (abgerufen am 15.07.2015). Siehe insbesondere den Bericht von Almuth Grésillon: Gedanken zu unserem internationalen Workshop. Ebd., S. 7–8. Vgl. auch Rüdiger Nutt-Kofoth: Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37 (2005), Heft 1, S. 97–122.
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scheinbar erzählerlosen, ausschließlich aus direkter Figurenrede und Innerem Monolog bestehenden Monolognovelle wie Fräulein Else der Fall ist, können ersatzweise Einheiten der histoire wie z. B. isolierbare Handlungssequenzen abstrahiert werden, deren Status als editorische Einheiten freilich zu markieren ist. Gefragt wird in dieser Perspektive also: In welchen Überlieferungsträgern wird welches Kapitel, welcher Akt und welche Szene überhaupt bearbeitet? Wie ändert sich die Makrostruktur eines Werks im genetischen Prozess (z. B. vom Drei- zum Fünfakter)? Wohin wird eine bestimmte Einheit verschoben (z. B. eine Szene vom IV. in den V. Akt)? Erst die mikrogenetische Perspektive ‚zoomt‘ in den Text hinein und informiert über Textvarianz im engeren Sinne, indem sie es gestattet, eine gegebene syntagmatische Stelle, also einen (Teil-)Satz oder ein Lexem, in den Blick zu nehmen und dessen Änderungen im Gesamtprozess zu verfolgen. Bleiben noch die folgenden Begriffe zu klären: Die Kategorie der Textschicht wird, wie üblich, von uns rein materiell-graphisch definiert über die Kriterien der Hand und/ oder des Beschreibstoffs und/oder des Duktus und kann insofern als (objektivierbares) indexikalisches Zeichen genetischer Relationen fungieren.8 Eine neue Textschicht konstituiert somit stets einen neuen Textzustand, aber nicht notwendig vice versa (mehrere Textzustände können sich also innerhalb ein und derselben Textschicht situieren). Textzustand bezeichnet als neutraler Begriff (etwa synonym zu Textstadium) den Zustand des Textes zu einem gegebenen Zeitpunkt. Ein neuer Textzustand ist das logisch-textuelle Resultat von beliebigen Änderungsakten, die ihrerseits genetische Dimension besitzen können (Variation), aber nicht müssen (eine bloße Fehlerkorrektur führt einen neuen Textzustand herbei, treibt den dynamischen Textentwicklungsprozess aber nicht voran); sie können zudem, müssen aber nicht als eigene Änderungsschicht materialisiert sein. In diesem Sinne sprechen wir, bezogen auf die Einheit einer Seite, vom Grundzustand, einem oder mehreren Bearbeitungszuständen (= Grundzustand + Änderungen) und vom Letztgültigen Textzustand, wobei folgende wichtige Unterscheidung zu treffen ist: Während für handschriftlich überarbeitete Typoskriptseiten alle diese drei Zustände rekonstruiert werden können, gilt dies aus logischen Gründen nicht im gleichen Maße für Manuskriptseiten, sofern sich bei diesen, wie bei Schnitzler in der Regel der Fall, nicht verschiedene Schichten, analog zur maschinen- und handschriftlichen Schicht auf Typoskripten, isolieren lassen. Hier könnte immer nur wortbzw. stellenbezogen ein Grund- und Bearbeitungszustand angegeben werden, nicht aber in Bezug auf die ganze dargestellte Seite, da, anders als im Falle des Typoskripts, das erst nach Herstellung durch die Sekretärin vom Autor handschriftlich überarbeitet wird, über die genetische Relation der einzelnen geänderten und nichtgeänderten Stellen keine Aussage getroffen werden kann; hier einen Grundzustand zu edieren (etwa sämtlichen Text ohne die Spätänderungen) würde eine genetisch spekulative und somit philologisch sinnlose Einheit konstruieren.
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Vgl. Hans Zeller: Bericht des Herausgebers. In: Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 2. Bern 1964, S. 89.
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Was schließlich die relevanten genetischen Textsorten betrifft, so sind diese auf der Basis autorspezifischer Arbeitsweisen und möglichst in Anlehnung an allgemein akzeptierte editionswissenschaftliche Kategorien und Termini, soweit diese überhaupt existieren, zu bestimmen. Die von Reinhard Urbach für Schnitzler angeführte Serie – vom ersten „Einfall“ über den groben „Plan“, dem ein „Entwurf“, auf diesen eine „Skizze“ und dann eine erste „Fassung“ folgen, bis hin zum Erstdruck9 – ist idealtypischer Natur und lässt sich keineswegs immer (eindeutig) ansetzen. Schnitzlers eigene Terminologie, auf die auch Urbach rekurriert, erwies sich bei näherer Prüfung als letztlich unsystematisch, sodass auch sie keine Hilfe zu bieten vermag. Einigermaßen konsistent scheint sich nach unserem aktuellen Kenntnisstand bei Schnitzler hingegen die Grenze zwischen der Werkniederschrift im eigentlichen Sinn, die wir auch als Fassung bezeichnen wollen,10 und denjenigen Texten ziehen zu lassen, die ihrerseits ganz unterschiedlich weit ausgearbeitet sein können – halbseitige Pläne mit einem noch gattungsunspezifischen plot-Konzept oder umfangreichere Entwürfe/Skizzen mit vollständiger Segmentierung (z. B. Akt- und Szenengerüst) und punktuell gar ausformulierten Dialogpassagen –, deren gemeinsames Merkmal jedoch ist, dass sie „nicht unmittelbar auf die konkrete Werkproduktion bezogen sind, sondern diese nur mittelbar einleiten“.11 Charakteristisch für sie ist ein tendenziell inhaltlich-summarischer Duktus, der sich deutlich von der Ausformulierung einer Werkniederschrift unterscheidet; demzufolge sind diese Texte, zumindest mehrheitlich, „auf das Werk bedeutungsmäßig, aber nicht syntaktisch beziehbar“.12 Schnitzler fasst diese selbst zum Teil auch als „Vorarbeiten“ zusammen13 und vermerkt im Tagebuch etwa: „Begann den ersten Akt vom ‚Verführer‘“ (22.03.1908)14 – nachdem er mindestens vier Jahre lang bereits Entwürfe, Skizzen, Szenare etc. verfasst hat. Der Schritt vom Entwurfsstadium zum konkreten Produktionsstadium markiert hier also eine qualitative Zäsur im Arbeitsprozess.
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Urbach 1977 (Anm. 2), S. 3. Sensu Seiffert, der „Fassungen“ definiert als „Niederschriften“ des Werks im engeren Sinn; sie „führen das Werk in einer ersten Teil- oder Gesamtfassung aus dem Stadium des Entwurfes heraus“ (Seiffert 1963, Anm. 5, S. 15) und bezeichnen, so auch Almuth Grésillon, somit bereits ein „relativ fortgeschrittenes Stadium einer Textgenese“ (Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999, S. 295). Während weitgehend Einigkeit im Bedürfnis nach dieser Unterscheidung herrscht – vgl. allerdings Roland Reuß, der, als logische Konsequenz eines engen, über Linearität und mündliche Rezitierbarkeit definierten Text-Begriffs, einen sehr weiten Begriff des Entwurfs verwenden muss (Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), S. 1–12) –, bestehen nach wie vor terminologische Differenzen: So definiert Roger Lüdeke den „Entwurf“ synonym zu „Arbeitshandschrift“ und „Brouillon“ (Art. „Entwurf“. In: Kompendium der Editionswissenschaften, hier: http://www.edkomp.uni-muenchen. de/CD1/frame_edkomp_RL1.html, abgerufen am 20.07.2015), welch letztere hingegen für Grésillon „unverkennbar zur Phase der Textausarbeitung, der Niederschrift des Textes gehör[en]“ (1999, S. 293). 11 Lüdeke (Anm. 10). 12 Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1–44, hier S. 20. 13 So etwa Komödie der Verführung: Umschlag der Mappe A108. 14 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1991, S. 325. 10
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Das schließt freilich nicht aus, dass eine solche „Vorarbeit“ punktuell bereits fertig ausgearbeitete Passagen enthalten kann, ebenso wie umgekehrt eine Werkniederschrift auch skizzenhafte Teile aufweisen kann (s. u.); es geht also (bei Schnitzler) generell um Dominanzen. Angesichts der bei Schnitzler nicht seltenen Gattungs- und Genrewechsel im Entstehungsprozess scheint uns in Ergänzung zu den unterschiedenen genetischen Textsorten der Begriff der „Konzeption“ sinnvoll, wie ihn die Wiener Horváth-Ausgabe verwendet.15 Die „Konzeption“ bezeichnet keine Textsorte, sondern eine mentale „übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes“; sie umfasst prinzipielle Festlegungen bzw. Vorstellungen des Autors betreffend die Gattung und die „makrostrukturelle Anlage des Werkes“ (z. B. Ein-/Drei-/Fünfakter etc.).16 Eine Konzeption ist meist über eine längere Zeit hinweg gültig, und ihr können demzufolge ganz unterschiedliche Textsorten aus verschiedenen genetischen Produktionsstadien zugeordnet sein.
2. Multiperspektivität Das Prinzip der Multiperspektivität besitzt für unsere Edition einen zentralen Stellenwert. Multiperspektivität ist dabei in einem doppelten Sinn zu verstehen. Sie bezieht sich zum einen auf die unterscheidbaren Dimensionen des zu edierenden Objekts. Die genetische Dimension ist dabei eine von mehreren möglichen; ihre editorische Rekonstruktion (soweit sie möglich ist) macht eine temporale Ordnung sichtbar, die auf dem physischen Dokument selbst in dieser Form nicht, bzw. allenfalls indirekt, erkennbar ist. Sie ist abzugrenzen sowohl von der materiellen Dimension, die primär die topographisch-spatiale Ordnung des Textes auf dem Überlieferungsträger betrifft, d. h. die Textverteilung im Schreibraum und die graphisch-materiellen Manifestationen aller Textänderungsprozesse, als auch von der rein textuellen Dimension, die sowohl von den Gegebenheiten der materiellen Fixierung auf dem Überlieferungsträger als auch von der Genese abstrahiert.17 Multiperspektivität bezieht sich zum anderen auf den wählbaren unterschiedlichen Betrachtungsausschnitt, was insbesondere für die genetische Dimension relevant wird. Während der erstgenannte Aspekt von Multiperspektivität auch von einer Buchausgabe realisiert werden kann und von den großen Faksimile-Editionen seit den 1970er Jahren als Modell bekanntlich eingeführt worden ist (paradigmatisch: die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe von D. E. Sattler), ist es dieser zweite Aspekt, der die editorische
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Klaus Kastberger u. a.: Editionsprinzipien. In: Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline. Hg. von Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar (Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Hg. von Klaus Kastberger, Bd. 4). Berlin 2009, S. 573–580, hier S. 577. 16 Kastberger (Anm. 15), S. 577. 17 Vgl. auch die Differenzierung von Peter Shillingsburg in “linguistic” vs. “material text”: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997, S. 101.
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Spezifität einer digitalen kritisch-genetischen Ausgabe u. a. begründet und deren – in aller Regel stets zeit- und kostenaufwendigere – Herstellung zuallererst legitimiert. Während sich das Buch als dominant lineares Medium in dieser Hinsicht auf eine (genetisch geordnete) Abfolge der edierten Dokumente beschränken darf und deren Relationierung nur im kritischen Variantenapparat oder, bis zu einem begrenzten Ausmaß, in synoptischen Darstellungen vornimmt, wird von einer digitalen Edition eine weitaus größere editorische Erschließungs- und Auswertungsleistung erwartet. In gewisser Weise ist dieses Mehr auch eine Art nötige Kompensation für den Verlust an Orientierung, den der Benutzer im nonlinearen digitalen Medium zunächst einmal erleidet. In jedem Fall aber wird der Status der repräsentierten Textgenese – nämlich als Konstrukt des Editors und als Produkt einer vorgängigen Abstraktion und Modellbildung – hier nun unmissverständlich deutlich. Jede textgenetische Modellbildung muss grundsätzlich die folgenden drei Größen systematisch in Beziehung zueinander setzen: die des Archivs – die Menge der überlieferten Textträger –, der Zeit – die rekonstruierte chronologische Sukzession der punktuellen/durativen Zeiteinheiten – und die des Textes – die als Betrachtungsausschnitt je gewählten textuellen Einheiten. So soll es möglich sein, unterschiedlich zu fokussieren und Textsyntagmen variabler Extension, vom einzelnen Lexem über einen Absatz bzw. Abschnitt, einem ganzen Kapitel oder Akt bis hin zum Gesamtsyntagma eines ganzen Werkes in ihrem Transformationsprozess auf anschauliche Weise zu verfolgen. Unsere Edition versucht, diese beiden Aspekte von Multiperspektivität folgendermaßen zu berücksichtigen. Grundsätzlich werden drei verschiedene Zugangsweisen angeboten: eine archivalisch-dokumentarische Ansicht, mehrere genetische Wiedergaben sowie eine reine Lesefassung, die den emendierten Text sowohl des Erstdrucks (in der Regel ein Journaldruck) als auch der ersten Buchausgabe zur Verfügung stellt. Die archivalisch-dokumentarische Ansicht erlaubt das seitenweise Studium der Überlieferungsträger in einer Synopse, die das Faksimile mit einer semidiplomatischen Transkription kombiniert. In dem Maße, wie verschiedene Textzustände der jeweiligen Manu-/Typoskriptseite interaktiv anwählbar sind – Grundzustand (nur beim Typoskript, s. o.), Bearbeitungszustände (wobei bloße Korrekturen durch die Sekretärin bzw. durch Schnitzler von Variationen unterschieden werden), letztgültiger Textzustand (linearisierter Text, in dem sämtliche Tilgungen, Ersetzungen, Umstellungen vollzogen sind und kein ungültiger Text mehr erscheint) – können bereits in dieser Ansicht (mikro)genetische Änderungsprozesse verfolgt werden (vgl. hierzu unten, Abb. 3). Davon unterschieden sind nun genetische Wiedergaben und Ansichten, die nicht mehr von der archivalisch-dokumentarischen Einheit der beschriebenen Seite, sondern von anderen – größeren wie kleineren – Einheiten ausgehen. Eine erste (makro)genetische Übersicht verzeichnet in Gestalt einer Synchronopse sämtliche, nach genetischen Textsorten (Paralipomena, Entwürfen, Werkniederschriften, Drucken) geordnete Überlieferungsträger pro Werk auf einer Zeitachse und stellt sie zugleich in den Kontext der anderen edierten Werke Schnitzlers. Informiert wird somit über die Menge und Art der überlieferten Dokumente zu einem gegebenen Werk, über deren chronologische Reihenfolge sowie spezifische Abfolge (bei bestimmten Werken z. B. folgen auf
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Werkniederschriften wieder Phasen bloßer Entwürfe und Skizzen), über deren jeweilige entstehungsgeschichtliche Erstreckung (wie lange hat Schnitzler an dem jeweiligen Dokument gearbeitet?) sowie über deren Relation zu anderen Werken (welche anderen Werke hat er gleichzeitig bearbeitet?). Eine zweite, in unserer Terminologie ebenfalls makrogenetische, Ansicht nimmt die vorgegebenen textuellen Einheiten – Kapitel in Novellen/Romanen, Akte und Szenen in Dramen, abstrahierte Handlungssequenzen im Falle von Fräulein Else – und deren Entwicklung in den Blick. Beantwortet wird hier die Frage, welche dieser Einheiten in welchem Überlieferungsträger überhaupt bearbeitet werden, wo bzw. wann neue hinzukommen oder bisherige entfallen bzw. wohin sie verschoben werden. Zwei mikrogenetische Perspektiven lenken schließlich den Blick auf Textvarianz im engeren, lexikalisch-syntaktischen Sinn. Diese Information ist das Resultat der Kollationierung von zwei oder mehreren Fassungen (Werkniederschriften), die i. d. R. durch ein hinreichendes Ausmaß an Textidentität gekennzeichnet sind, das einen Vergleich überhaupt sinnvoll macht. Eine erste Synopse erlaubt die satzbezogene Kollationierung sämtlicher Fassungen eines Werkes, die jeweils in frei zusammenstellbaren Gruppen von max. drei Fassungen auf einmal betrachtet werden können. Die geordnete Menge der rekonstruierten Textzustände (Horizontale), die das ganze Werk im Laufe seines Entstehungsprozesses durchläuft, und die lineare Textabfolge (Vertikale) bilden eine paradigmatisch-syntagmatische Gesamtmatrix, innerhalb der der Benutzer navigieren und sich einen frei wählbaren Ausschnitt anzeigen lassen kann (s. unten, Abb. 4). Verglichen werden dabei jeweils die letztgültigen Textzustände eines Dokuments, bei Typoskripten auch der jeweilige Grundzustand. Die ausgewählten Fassungen müssen nicht notwendig unmittelbar konsekutiv sein; es soll also z. B. möglich sein, eine bestimmte Passage im Erstdruck mit der entsprechenden Stelle in der ersten Werkniederschrift (auf die z. B. noch weitere folgen können) zu vergleichen. In diesem Vergleich wird Binnenvarianz, also die aus den Überarbeitungen innerhalb eines gegebenen Überlieferungsträgers resultierende Varianz, nur insoweit erfasst, als sie sich als zusammenhängender Textzustand für dieses ganze Dokument rekonstruieren lässt; letzteres ist nur bei Typoskripten in Bezug auf die Differenz von Grundzustand (= der isolierbare maschinenschriftliche Textzustand vor der weiteren handschriftlichen Bearbeitung durch den Autor) und Endzustand der Fall. Eine zweite mikrogenetische Ansicht inkludiert auch die Binnenvarianzen, indem sie, voraussichtlich in der Art eines synoptischen Kolumnenapparats, den (stellenbezogenen) Gesamtbestand an textueller Varianz systematisch verzeichnet. Auf dieser Basis lassen sich nun charakteristische Kompositionsverfahren des Autors durch alle Fassungen hindurch bis einschließlich zum Erstdruck en détail nachverfolgen, etwa der Prozess von einer zunehmenden Augmentation und Amplifikation einer gegebenen Passage bis zur letztendlichen erneuten Komprimierung und Reduktion.
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3. Spezielle Herausforderungen Nachstehend seien am Beispiel der beiden Werke Fräulein Else und Flucht in die Finsternis zwei charakteristische Herausforderungen skizziert, die Schnitzlers nachgelassene Papiere für eine genetische Edition bedeuten. Außerdem gilt es, einige Softwarelösungen und elektronische Darstellungsformen zu umreißen, die am Trier Center for Digital Humanities18 für das Projekt entwickelt werden, da sie nicht nur grundlegende Schritte des EDV-gestützten Edierens abdecken, sondern darüber hinaus auch speziell auf die oben dargelegte Multiperspektivität und die im Folgenden skizzierten spezifischen Problemstellungen zugeschnitten sind. Erstellt wird die Textgrundlage größtenteils in Transcribo,19 einem graphischen Editor, der die Transkription der vorliegenden Dokumente unter Berücksichtigung ihrer materiellen und genetischen Dimension ermöglicht. Dabei wird die Topographie des Originals wortgenau in ein Koordinatensystem überführt und im elektronischen Text hinterlegt, zusammen mit einer detaillierten Beschreibung der damit einhergehenden genetischen Prozesse. Ebenfalls neu entwickelt wird der Kollationierer, ein tool zum Textvergleich, das in seiner Anlage die Unterteilung in Mikrogenese I und II widerspiegelt. Dazu wird der Vergleichsprozess in zwei Stufen aufgebrochen; der Bearbeiter wählt zunächst, welche übergeordneten Strukturelemente (Sätze, Absätze, Kapitel, Szenen, Akte …) einander zugeordnet werden sollen. Diese Alignierung kann in der graphischen Oberfläche überprüft und ggf. korrigiert werden, bevor sie zur Feinkollationierung freigegeben wird, deren Ergebnis dann die Basis für Mikrogenese II bildet. Ein drittes Werkzeug wird schließlich die Sichtung und Ordnung des Archivmaterials unterstützen. Die vorliegenden Dokumente können so virtuell zu Gruppen zusammengeschlossen und unter verschiedenen Gesichtspunkten verknüpft werden, auf diese Weise werden jeder Seite ein oder mehrere Vorgänger und Nachfolger zugewiesen. Dies geschieht standardmäßig sowohl in textuell-syntagmatischer Hinsicht als auch in der temporalen Dimension; es sind aber auch genetische Pfade denkbar, die noch andere Aspekte berücksichtigen. Text- und Metadaten fließen dabei letztlich im Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem FuD20 zusammen, das mit seiner integrierten Nutzerverwaltung und mit seinen Grundfunktionen zum dezentralen gemeinschaftlichen Arbeiten die gemein same technische Infrastruktur bereitstellt. Den philologischen Problemstellungen und den damit verbundenen Herausforderungen bei der Dateneingabe und Annotation stehen analoge Problemstellungen im Bereich der Darstellung gegenüber, die sich in der Struktur des Online-Portals niederschlagen, das es dem Nutzer ermöglichen soll, die komplexen zugrundeliegenden Prozesse aus
18 http://kompetenzzentrum.uni-trier.de. 19 http://www.transcribo.org. 20
Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem (FuD: http://www.fud.uni-trier.de/), das speziell auf die Projektanforderungen zugeschnitten und erweitert wurde.
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verschiedenen Blickwinkeln und in der jeweils passenden Granularität transparent zu machen. Die folgenden Abschnitte sollen das an zwei Beispielen erläutern. 3.1 Parallele Entstehung von Manuskript und Typoskript (am Beispiel von Fräulein Else) a) Ausgangslage Die allgemeine Materialsichtung bzw. -ordnung und Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte (samt Auswertung der Ego-Dokumente, wie Tagebücher und Korrespondenzen) von Fräulein Else ergab zunächst, dass Schnitzler hauptsächlich im Zeitraum zwischen August 1921 und September 1924 an dem Werk arbeitete. Nach der (idealtypischen) Klassifikation der Überlieferungsträger gliedert sich das Material (abgesehen von ersten Notizen zum Stoff und den Drucken ab 1924) chronologisch in einen Plan,21 einen Entwurf22 sowie eine Manuskript-23 und eine Typoskriptfassung.24 Da der einseitige, undatierte Plan nur als maschinenschriftliche Abschrift mit handschriftlichen Ergänzungen vorliegt, muss davon ausgegangen werden, dass ursprünglich eine (nicht überlieferte) handgeschriebene Vorlage aus früheren Jahren existierte, die dann in ebendiese Maschinenschrift übertragen wurde. Der eigentliche Entstehungszeitpunkt ist nicht eindeutig rekonstruierbar. Auch der Entwurf auf drei beidseitig beschriebenen Blättern liegt ausschließlich als Typoskript vor, wobei zumindest ein handschriftlicher Vermerk von Schnitzler auf der ersten Seite auf das Jahr 1921 hinweist. Die Niederschriften der darauffolgenden 318 Seiten langen Manuskript- und 172 Seiten umfassenden Typoskriptfassung fallen in den Zeitraum vom Dezember 1922 bis zum April 1923. Weitere Überlieferungsträger vor der Erstveröffentlichung in der Neuen Rundschau im Oktober 192425 wie z. B. die Vorlage für den Zsolnay Verlag oder Korrekturfahren sind trotz intensiver Recherchen nicht auffindbar. b) Problembeschreibung Die Überlieferungslage wirkt a prima vista recht übersichtlich und unproblematisch, bis auf den Umstand, dass die Paginierung der Seiten in der Manuskriptfassung nicht konsistent verläuft und nicht erklärbare Sprünge aufweist. Diese Tatsache und die recto/ verso-Beschreibung der Blätter machten die Ordnung des (von der Cambridge University Library noch unfoliierten) rein handschriftlichen Materials mitunter schwierig und ließen zunächst vermuten, dass sich das Manuskript aus konkurrierenden handschriftlichen Fassungen zusammensetzt, was sich allerdings nicht bestätigte. Erst der systematische inhaltliche Textvergleich von Manuskript- und Typoskriptniederschrift und
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Cambridge University Library (CUL), Item A141,1. CUL, Item A141,2. 23 CUL, Item A140. 24 CUL, Item A141,3. 25 Fräulein Else. Novelle von Arthur Schnitzler. In: Neue Rundschau, 35. Jg., Heft 10, Oktober 1924, S. 993–1051. 22
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Abb. 1
die Identifizierung von Seitenanschlüssen lieferten den entscheidenden Hinweis zur Klärung des Phänomens: Die diskontinuierliche Paginierung ist nämlich darauf zurückzuführen, dass Schnitzler die handschriftliche Niederschrift nach den abschnittsweisen Diktaten fortsetzte, indem er sich im Manuskript jeweils an der Pagina der soeben erfolgten Typoskriptniederschrift orientierte. Manuskript- und Typoskriptniederschrift sind infolgedessen eben nicht idealtypisch nacheinander, wie zunächst erwartet, sondern abschnittsweise im Wechsel, insgesamt somit parallel, entstanden (vgl. Abb. 1).26 Entsprechende Einträge im Tagebuch belegen zudem, dass Schnitzler vorzugsweise am
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Nachmittag am Manuskript weiterarbeitete und eben diesen Text am nächsten Vormittag seiner Sekretärin diktierte. So kommt es, dass es innerhalb der Typoskriptniederschrift Seiten gibt, die in ihrer Entstehung älter sind als manche der Manuskriptseiten und dass sich wiederum u. U. Änderungen, die Schnitzler während des Diktierens im Text gemacht hat, rückwirkend auf die zeitlich danach verfassten Manuskriptseiten auswirken. Dies ist z. B. bei der Umbenennung einer Figur besonders markant: Der Bruder der monologisierenden Hauptfigur Else heißt zunächst sowohl im Typoskript als auch im Manuskript „Ferdinand“. Doch Schnitzler entscheidet sich für einen anderen Namen und streicht den am 04.01.1923 diktierten „Ferdinand“ auf dem Typoskript (Seite 25) erstmals von Hand durch und ersetzt ihn durch „Rudi“. Fortan erfolgt im weiteren Manuskript der Namenswechsel ganz ohne Korrektur. Dieses Phänomen der Verschränkung und gegenseitigen Beeinflussung von Manuskript und Typoskript ist kein Einzelfall in Schnitzlers Arbeitsweise; die Novelle Spiel im Morgengrauen beispielsweise ist nach dem gleichen Prinzip entstanden. Der künstlerische Arbeitsprozess operiert somit mittels zweier verschiedener Aufschreibesysteme auf zwei verschiedenen Überlieferungsträgern, die zusammen gewissermaßen ein einziges übergeordnetes virtuelles Archi-Brouillon konstituieren. c) Lösungsskizze Aus dem skizzierten Sachverhalt ergab sich für eine genetische Darstellung die Notwendigkeit, dass die Manuskript- und Typoskriptfassung nicht nur jeweils isoliert, sondern auch in ihrer entstehungsgeschichtlichen Verschränkung rekonstruiert werden sollte. Ein Schlüsselelement bildet dabei die oben skizzierte differenzierte Metadatenerfassung, die die temporalen und syntagmatischen Beziehungen zwischen den Dokumenten getrennt erfasst. In Verbindung mit den vielfältigen Darstellungsoptionen des digitalen Mediums können so verschiedene Zugangsweisen zum Material ermöglicht werden: Um der Materialität und der archivalischen Aufteilung in die Mappen A140 (Manuskript) und A141,3 (Typoskript) Rechnung zu tragen, wird dem Nutzer der Website die archivalisch-dokumentarische Ansicht angeboten, die die separate Durchsicht der beiden Überlieferungsträger erlaubt. Eine weitere Darstellung (Abb. 2) veranschaulicht die parallele Entstehungsweise nach Textabschnitten von Manuskript- und Typoskriptfassung, indem die archivalische Ordnung virtuell aufgelöst wird und die einzelnen bzw. gruppierten Seiten beider Fassungen ihrem tatsächlichen Entstehungszeitpunkt entsprechend ineinander verschränkt angeordnet sind. Die mittlere Spalte bildet dabei die zeitliche Achse ab, die Icons links markieren die betreffenden Manuskriptseiten, die rechts platzierten Graphiken die Typoskriptseiten; sie stehen jeweils für eine separate Arbeitseinheit Schnitzlers, bevor er mit der handschriftlichen Ausarbeitung bzw. dem Dikat des verfassten Textes fortfuhr. Ergänzt wird diese zentrale Kolumne durch entstehungsgeschichtliche Zitate und Kommentare.
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Abb. 2
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3.2 Komplexer Textersatz (am Beispiel von Flucht in die Finsternis) a) Ausgangslage Bei der ersten überlieferten vollständigen Werkniederschrift von Flucht in die Finsternis handelt es sich um den Durchschlag einer Typoskriptfassung (CUL-Signatur A200,1), die in einem Zeitraum von einem knappen Jahr (1.5.1916 bis 21.3.1917) entstand und massiv überarbeitet wurde. Diese Überarbeitungen fanden in vielfacher Weise statt, nämlich in Form von 1) maschinenschriftlichen Sofortkorrekturen, 2) Änderungen, die mit der Schreibmaschine nachträglich auf dem erneut eingespannten Original erfolgt sind, 3) handschriftlichen Änderungen der Sekretärin auf dem nicht überlieferten Original, die sich durch das eingelegte Kohlepapier auch auf den überlieferten Durchschlag übertragen haben, 4) handschriftlichen Änderungen der Sekretärin mit Bleistift direkt auf dem Durchschlag, 5) umfangreichen Bleistift-Änderungen von Arthur Schnitzler, zum Teil auf 6) eingelegten handschriftlichen Seiten, ferner in Form von 7) Neudiktat infolge massiver Überarbeitung nahezu unleserlicher Passagen oder Seiten, das mit einer anderen Schreibmaschine auf kleinerem Papierformat ausgeführt und als Original in die Durchschlagsfassung eingelegt wurde, und schließlich in Form von 8) erneuten handschriftlichen Änderungen auf diesen eingelegten maschinenschriftlichen Neudiktatseiten. Einer dieser komplexen textgenetischen Änderungsprozesse ist gleich auf den ersten Seiten dieser Fassung zu beobachten: Schnitzler ändert zunächst auf den mit 12–14 paginierten Durchschlagsseiten vielfach den Text, was auf Seite 14 u. a. zu einer sechsfachen Umformulierung derselben Passage führt. Als diese Stelle durch die multiplen Tilgungen, Überschreibungen, Ausradierungen, interlinearen und marginalen Zusätze schließlich kaum noch entzifferbar ist, diktiert Schnitzler den letztgültigen Textzustand neu, streicht die betroffene Hälfte von Seite 14 ebenso wie die vorangehende Seite 13 und den letzten Halbsatz auf Seite 12 durch und ersetzt den ganzen Teil durch das zwei Seiten umfassende Neudiktat auf einem eingelegten Blatt. Dieses ist paginiert mit „12b“ und „13“, weshalb Schnitzler, die Pagina der ursprünglichen Seite 12 zu „12a“ abändert. Auch auf den eingelegten Seiten feilt Schnitzler daraufhin weiter an den Formulierungen, die dann nur wenige Tage später in die darauffolgende nächste vollständige Typoskriptfassung (CUL-Signatur A200,2) aufgenommen werden, bei welcher es sich um eine Abschrift der vorliegenden ersten Fassung handelt. b) Problembeschreibung Es stellt sich zunächst die Frage, wie in der archivalisch-dokumentarischen Ansicht diese komplexen Beziehungen von ersetzten und ersetzenden Textpassagen und Seiten mit ihren jeweils unterschiedlichen Textzuständen für den Website-Benutzer nachvollziehbar dargestellt werden können. Eine weitere Herausforderung besteht in der Aufgabe, den Betrachter der ersten mikrogenetischen Ansicht sowie der paradigmatisch-syntagmatischen Gesamtmatrix aller Grund- und letztgültigen Textzustände aller Fassungen eines Werkes, an der betroffenen Textstelle auf die komplexe Binnenvarianz und damit sich lohnende eingehendere Beschäftigung mit dieser Stelle im synoptischen Kolumnenapparat aufmerksam zu machen.
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c) Lösungsskizze In der archivalisch-dokumentarischen Ansicht werden bei Auswahl des entsprechenden Textzustandes zur besseren Übersicht die in diesem Zustand geänderten bzw. neuen Wörter oder Satzzeichen nicht nur in der semidiplomatischen Umschrift, sondern zusätzlich auch auf dem Faksimile selbst farblich hervorgehoben. Grundlage dafür ist die präzise Beschreibung der Textzustände und die topografische Erfassung der graphematischen Realisierung während der Umschrift in Transcribo. Aus diesem Grund wird auch eine positionsgenaue Überblendung der Transkription auf dem Faksimile für den Benutzer zur Verfügung gestellt werden können. Die nachträglich in die Fassung eingelegten Blätter werden in der Datenbank als solche ausgezeichnet und in der archivalisch-dokumentarischen Ansicht entsprechend gekennzeichnet. Um auch in der syntagmatischen Sortierung dieser Ansicht eine durchgehende Lektüre der Fassung zu ermöglichen, wird jeweils am Anfang und am Ende einer ersetzten Textpassage, deren Ersetzung sich auf einem oder mehreren eingelegten Blättern befindet, mittels eines ‚Attachment‘-Symbols auf diesen Umstand hingewiesen. Bei Klick auf dieses verlinkte Symbol ist ein direkter Sprung zu der ersetzenden Seite und damit eine Fortsetzung der Lektüre in der syntagmatischen Sukzession möglich. Darüber hinaus werden sämtliche für den jeweils ausgewählten Textzustand relevanten Relationen angezeigt, sodass der Benutzer sich rasch auch über die genaue Ausdehnung und den Umfang beispielsweise einer Ersetzung informieren kann. Auch hier ist die interaktive Auswahl einer Relation vorgesehen, welche die zugehörigen Transkripte auf dem Faksimile und in der Umschrift hervorhebt, um auch bei unübersichtlichen Seiten eine eindeutige und intuitive Orientierung zu gewährleisten (Abb. 3).27 Für die automatische Generierung des Grundzustands und des letztgültigen Textzustands der beschriebenen ersten Typoskriptfassung von Flucht in die Finsternis in der paradigmatisch-syntagmatischen Gesamtmatrix der Website stellt sich im Fall der seitenübergreifenden Ersetzungsprozesse das Problem, dass für eine Textstelle zwei konkurrierende letztgültige Textzustände, die auf unterschiedlichen Seiten liegen, erzeugt würden. Um diese Fehlinterpretation abzufangen, wird für die automatische Generierung der Kollationierungsfassungen die Ersetzungsrelation selbst in das Datenmodell miteinbezogen. Auf diese Weise kann die erste Kollationierungsfassung (= Grundzustand des Typoskripts: TI.1) aus allen Grundzuständen sämtlicher Einzelseiten mit Ausnahme derjenigen, die ersetzende Seiten bzw. Passagen sind, generiert werden, während die zweite Kollationierungsfassung (= letztgültiger Textzustand des Typoskripts: TI.2) definiert ist durch alle letztgültigen Textzustände sämtlicher Einzelseiten mit Ausnahme derjenigen Seiten bzw. Passagen, bei denen es sich um ersetzten Text handelt. Um den Benutzer darüber hinaus auf die sich lohnende eingehendere Beschäftigung mit dieser Stelle im synoptischen Kolumnenapparat hinzuweisen, werden 27
Die hier eingefügten Websiteansichten dienen nur der Veranschaulichung des Gemeinten; es handelt sich dabei um Mockups, die zwar den aktuellen Stand der projektinternen Diskussion widerspiegeln, aber noch keinen Anspruch auf Endgültigkeit erheben. Auch sind diese Mockups auf die zur Verdeutlichung hier wesentlichen Elemente reduziert, weshalb beispielsweise keine Navigationsleiste o. ä. zu sehen ist.
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in der paradigmatisch-syntagmatischen Gesamtmatrix der Website in einer Kollationierungsfassung entfallene Passagen zudem nicht einfach stillschweigend ausgeblendet, sondern durch Leersatz-Elemente markiert, denen der entsprechende Satz vor seinem Entfallen zugeordnet ist. Hierdurch wird nicht nur die Textdynamik zwischen den Fassungen sinnfällig kenntlich gemacht, sondern darüber hinaus ist eine ggf. in einer späteren Fassung erneute Wiederaufnahme des zuvor entfallenen Textes durch eindeutige Zuordnung darstellbar, wobei es möglich ist, eine Fassung jeweils von oben nach unten zusammenhängend zu lesen (Abb. 4). Dass die im Grundzustand noch vorhandene Textpassage von Seite 14 im letztgültigen Textzustand durch drei Sätze auf der eingelegten Neudiktat-Seite 13 ersetzt worden ist, während der von der alten Seite 14 ungestrichene Text der unteren Seitenhälfte auch im letztgültigen Textzustand noch gültig bleibt, ist durch die mit Horizontalstrichen angedeuteten Seitenumbrüche innerhalb der jeweiligen Kollationierungsfassung nachvollziehbar. Anhand dieser beiden textgenetischen Problemfälle und ihrer Lösungsskizzen für eine digitale Edition wird deutlich, dass die philologische Deutung des genetischen Sachverhalts (Modellierung) und die Entwicklung von Konzepten der Darstellung (Visualisierung) nicht voneinander zu trennen sind, sondern zwei einander bedingende Arbeitsprozesse bilden. Das Gebot der Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit, das der Editor insbesondere im digitalen Medium zu erfüllen sucht, erlegt ihm eine vermehrte Deutungs- und Erschließungsleistung auf. Mit der Rolle des Editors wandelt sich auch die des Benutzers. Zwar kann – und soll – diesem das eigene kritisch-vergleichende Studium der verschiedenen Entwürfe und Fassungen nicht abgenommen werden; dennoch können und sollen ihm mögliche, d. h. vom Editor als philologisch sinnvoll beurteilte, Fragestellungen an das Material explizit angeboten werden.
Literaturverzeichnis Grésillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft, 4). – Gedanken zu unserem internationalen Workshop. URL: http://www.lokalbericht.unibe.ch/ hermann_burger/pdf/Resuemees.pdf, S. 7–8 (abgerufen am 20.07.2015). http://kompetenzzentrum.uni-trier.de (abgerufen am 20.07.2015). http://www.fud.uni-trier.de/ (abgerufen am 20.07.2015). http://www.transcribo.org (abgerufen am 20.07.2015). Hurlebusch, Klaus: Editionsprinzipien, Kap. A: Typologische Änderungsbefunde und ihre Termini. In: Ders. (Hg.): Klopstocks Arbeitstagebuch. Berlin u. a. 1977, S. 196–203. Kastberger, Klaus u. a.: Editionsprinzipien. In: Klaus Kastberger / Kerstin Reimann (Hg.): Ödön von Horváth. Kasimir und Karoline. Berlin 2009, S. 573–580. Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach (Hg.): Arthur Schnitzler. Tagebuch 1913–1916. Wien 1983. – Arthur Schnitzler. Tagebuch 1903–1908. Wien 1991. Lüdeke, Roger: Entwurf. In: Kompendium der Editionswissenschaften. http://www.edkomp. uni-muenchen.de/CD1/frame_edkomp_RL1.html (abgerufen am 20.07.2015).
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Nutt-Kofoth, Rüdiger: Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37.1 (2005), S. 97–122. – Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zum Problem der Synonyme in der neugermanistischen Editionsphilologie. In: Gunter Martens (Hg.): Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“. Berlin u. a. 2013 (Beihefte zu editio, 36), S. 113–124. Reuß, Roland: Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), S. 1–12. Scheibe, Siegfried: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Gunter Martens / Hans Zeller (Hg.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. München 1971, S. 1–44. Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. In: Neue Rundschau 10 (1924), S. 993–1051. – Originalmanuskripte, verwahrt im Archiv der Cambridge University Library, Sammlung Schnitzler Papers. Seiffert, Hans Werner: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963. – Teilweiser Neuabdruck in: Rüdiger Nutt-Kofoth (Hg.): Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Tübingen 2005, S. 243–251. Shillingsburg, Peter: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997. Urbach, Reinhard (Hg.): Arthur Schnitzler. Entworfenes und Verworfenes. Aus dem Nachlaß. Frankfurt/M. 1977. Zeller, Hans: Conrad Ferdinand Meyer. Gedichte. Bericht des Herausgebers. Apparat zu den Abteilungen I und II. Bern 1964.
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Person unter Papieren Über die Folgen digitalen Edierens für die Kategorien Autor und Werk am Beispiel der Uwe Johnson-Werkausgabe
Die „Uwe Johnson-Werkausgabe“ ist als historisch-kritische Edition der Werke, Schriften und Briefe in gedruckter und digitaler Form angelegt. Die bisherige Arbeit war konzeptioneller Art. Sie bestand darin, ausgehend von den Texten den Bestand der Abteilungen zu entwerfen und die Prinzipien der editorischen Darbietung zu klären. Wir haben das Material des Uwe Johnson-Archivs betrachtet und überlegt, an welcher Stelle der Ausgabe welches Papier auf welche Weise präsentiert werden soll. Dabei zeigte sich, dass die Differenz zwischen gedruckter und digitaler Form erheblich ist.1 Die konsequente Nutzung der digitalen Möglichkeiten führt dazu, dass sich auch das Verständnis grundlegender Kategorien verändert. Die Fragen Was ist ein Werk? und Was ist ein Autor? verlangen nicht nach neuen, aber nach veränderten Antworten. Der folgende Aufsatz bereitet die Antworten vor, indem er die konzeptionellen Überlegungen offenlegt und den Gang durchs Archiv des Autors nachvollzieht. Er verdeutlicht zugleich, dass es eine Johnson-Edition ohne dieses Nachdenken nicht geben kann.
1. Edieren ist generell bestimmt durch Sichtbarmachen und (An-)Ordnen von Text. Bei einer Edition im Buch markieren verschiedene Positionen innerhalb der textuellen Ordnung sowie verschiedene Grade der Lesbarkeit die kategoriale Zugehörigkeit des jeweiligen Textes. Haupt- und Nebentext, Stelle und Kommentar variieren gewöhnlich in der Schriftgröße, auch in der Type sowie in der Unterbringung in bestimmten Teilen der Seite bzw. des Buches. Ein Teil des Buches ist in schlichtem Sinne besser lesbar als ein anderer. Darin drückt sich zuallererst Zugehörigkeit zum Werk aus, sodann auch, auf näher zu betrachtende Weise, Zugehörigkeit zum Autor. Auch im Kommentarteil stehen Texte, die auf den Autor zurückgehen, aber sie werden nicht im strengen Sinne zum Werk gezählt, sondern ihm relational zugeordnet, etwa als Entwurf. Innerhalb der Autorentexte markieren Grade der Sichtbarkeit – also etwa größere Schrift, ungekürzte
1
Dieses Nachdenken setzte mit den Vorbereitungen für die Antragstellung an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ein und ist bisher nicht abgerissen. Daran waren und sind maßgeblich beteiligt: Ulrich Fries, André Kischel, Katja Leuchtenberger, Antje Pautzke, Tanja Winkler und seit Herbst 2014 Cornelia Bögel und Fabian Kaßner. Ich danke den Co-Autoren.
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Abb. 1 Doppelseite aus: Bertolt Brecht: Notizbücher, Bd. 1. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags
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Wiedergabe der Vorlage, Unterbringung im vorderen oder hinteren Buchteil – die Zugehörigkeit zum Werk. Was am Ende sichtbar wird, sind die Folgen editorischer Entscheidungen, die durch mediale Grenzen bedingt sind. Es haben sich Präsentationsformen herausgebildet, die auf Handhabbarkeit ausgerichtet sind: sowohl herstellerische als auch benutzerbezogene. Zwei Lesebändchen etwa. Innerhalb der Grenzen der Handhabbarkeit ist im Medium Buch vieles möglich. Man kann zum Beispiel faksimilieren. Gelegentlich erblickt man in diesen Fällen noch vor dem Text die Grenzen des Mediums. Die Notizbücher von Brecht etwa muss man hin und wieder drehen, wenn man den Text so vor sich haben möchte, wie ihn der Autor geschrieben hat.2 Auch der Band, aus dem diese Abbildung stammt, hat einen Anhang, der anzeigt, dass den Texten im vorderen Teil des Bandes der Status eines Werks zukommt. Zu anderen Werken Brechts, die in anderen Ausgaben enthalten sind, etwa in der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe,3 verhalten sich die Notizbücher (als Werk) kommentierend: Die Ausgaben stehen in einem Verhältnis, das durch verschiedene Perspektiven auf das Gesamtwerk bestimmt wird. Die Nutzer, Leser und Forscher, benötigen für den Blick auf das Ganze mindestens zwei Ausgaben. Die Editoren beider Ausgaben stellen jeweils ein spezifisches Interesse der Leser und die Praktikabilität des Mediums in Rechnung. Demgegenüber besteht die Besonderheit digitaler Editionen zuerst einmal darin, dass man aufhören kann, in Bänden oder Büchern zu denken. Umfang des Bandes, Gliederung der Abfolge, Platzierung des Kleingedruckten – all das entfällt. Die Kommentare stehen auf demselben Bildschirm wie der Text, die Entwürfe sind in derselben Vergrößerung wie die Varianten letzter Hand zu sehen, beides erscheint immer dann, wenn der Nutzer es wünscht – und auch wie der Nutzer es wünscht. Die Ausgabe ist an der Oberfläche flexibel, das kommentierende Verhältnis verschiedener Werkbestandteile in deutlich geringerem Maße festgeschrieben als im Buch. Die Gleichberechtigung des Materials gehört zu den Eigenheiten des Mediums. Trotzdem ist man als Herausgeber weiterhin mit Fragen der Sichtbarkeit und der Ordnung beschäftigt. Um die Anlage der digitalen Edition zu bestimmen, kann man, ja: muss man in den Kategorien des Werks und der Forschung denken. Themen und Motive, Namen und Biographien von Figuren, Landkarten und fiktive Topographien, Quellen, Notizen und Kontexte, Lebensjahre des Autors – kurz: alles, was sich in Untertiteln von Dissertationen findet, kommt als Ordnungskriterium in Frage. In der digitalen Ressource werden die entsprechenden Ordnungen angelegt; welche dieser Ordnungen dann tatsächlich abgerufen werden, entscheiden die Nutzer.
2 3
Bertolt Brecht: Notizbücher. Bd. 1: Notizbücher 1 bis 3 (1918–1920). Berlin 2012, S. 12–13 [Abb. 1]. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht. Berlin u. a. 2000.
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Im Anschluss an Patrick Sahles Thesen zur digitalen Edition historischer Quellen lässt sich sagen:4 Die digitale Ordnung resultiert zuerst aus der Beschaffenheit des Materials und sodann aus den Interessen der Leser. Die digitale Sichtbarkeit resultiert umgekehrt zuerst aus den Interessen der Leser und sodann aus der Beschaffenheit des Materials. Vermittelt über die Graduierung der Sichtbarkeit sind es die Leser, die eine Ordnung des Werks herstellen. Als Ausgangspunkt der Überlegungen lässt sich also festhalten: Eine Print-Edition ist die Manifestation einer Ordnung, die im Buch sichtbar wird. Eine digitale Edition dagegen ist die Ermöglichung von verschiedenen An-Ordnungen. Die möglichen Ordnungen werden durch die Struktur einer Oberfläche angezeigt. Was die Leser letztlich vor sich sehen, bestimmen sie selbst. Angelegt ist diese Ordnung in den Kategorien, mit denen das Archiv erfasst wird, das hinter der Ausgabe steht. Dieser Satz meint im engen Sinne das Archiv des Autors. Im weiten Sinne meint er das Archiv des Autors und das der Forschung: Die Forschung ist nichts anderes als das Gespräch über die Kategorien, mit denen das Werk erfasst wird. An dieser Stelle setzen die weiterführenden Überlegungen an: Der Umstand nämlich, dass die Leser selbst verschiedene Ordnungen herstellen können, wird auch die Kategorien verändern, mit denen das Werk beschrieben und erfasst wird. Im Kontrast zum Nebeneinanderlegen mehrerer Editionen im Buch ist das entscheidende Charakteristikum einer digitalen Edition, jedem Nutzer die Möglichkeit zu bieten, die editorische Oberfläche selbst einzurichten. Das verändert die Vorstellung nicht nur davon, was eine Ausgabe ist, sondern auch davon, woraus ein Werk besteht. Von beidem ist das Konzept des Autors gleichermaßen betroffen. Diesen Zusammenhang und seine Folgen zu bedenken, ist, womit wir derzeit an der Arbeitsstelle „Uwe Johnson-Werkausgabe“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an der Universität Rostock beschäftigt sind. Die Ausgabe ist in die Abteilungen Werke, Schriften und Briefe unterteilt und als Kombination einer Edition im Buch und einer digitalen Version angelegt. Die Bücher sind auf wissenschaftlich abgesicherte Verständlichkeit und Leserfreundlichkeit hin konzipiert. Die digitale Präsentation dagegen zielt auf historisch-kritische Vollständigkeit bei höchstem wissenschaftlichen Anspruch und maximaler Flexibilität der Darstellung. Mit dem Fortschreiten der digitalen Edition werden Texte, Apparate und Register sachbezogen vernetzt, also über die Grenzen der Abteilungen hinweg. Das trägt dem für Uwe Johnson prägenden Konzept des Gesamtwerks Rechnung. – Derzeit wird die konkrete Ausgestaltung beider Formen der Ausgabe anhand von Beispielen aus den verschiedensten Textbereichen diskutiert und festgelegt. Dabei gilt die besondere Aufmerksamkeit der digitalen Edition und ihren Folgen. In diesem Stadium der Arbeit läuft der Blick in die Werkstatt unvermeidlich auf Thesen hinaus. 4
Vgl. Patrick Sahle: Digitale Edition (Historischer Quellen) – Einige Thesen. © Patrick Sahle 1997. http:// www.uni-koeln.de/~ahz26/dateien/thesen.htm/ (abgerufen am 20.7.2015). „Die Anforderungen an eine Edition ergeben sich einerseits aus den Besonderheiten der jeweiligen Quelle und andererseits aus den Wünschen der Adressaten der Edition.“
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2. Das der Ausgabe zugrunde liegende Material befindet sich im Uwe Johnson-Archiv. Es besteht im engen Sinne erst einmal aus 70.000 Blatt Papier. Entwürfe, Notizen, Manuskripte, Briefe, Kalender, Lebensläufe, Steuerunterlagen und Zeitungsausschnitte sind, der Name der Institution zeigt es an, einer natürlichen Person zugeordnet. Diese Papiere lassen sich technisch gleichberechtigt in einer digitalen Edition zur Verfügung stellen. Als Texte sind die Papiere mehr oder minder kommentierungsbedürftig. Für eine Ausgabe lautet die entscheidende Frage, ob alle diese Papiere tatsächlich dem Autor Johnson und seinem Werk zuzurechnen sind. Zwar wird ein erheblicher Teil des Archivmaterials Uwe Johnson als Urheber zugerechnet, aber nicht alles seinem literarischen Werk.5 Es ist eben die Ausgabe, die den Autor konstituiert, indem sie, vermittelt über Anordnung und Sichtbarkeit, Teile des vorliegenden Materials zum Werk erklärt und andere Teile nicht. Die Ausgabe macht dann nicht nur das Werk zugänglich, sondern auch die Arbeit daran – seine Entstehung – nachvollziehbar. Durch die Einbeziehung der Vorstufen wird die Aufmerksamkeit vom Text auf den Prozess des Schreibens gelenkt. Der interpretatorische Umgang mit dem Text führt unter diesen Voraussetzungen von der Auslegung des Werks zur „Ästhetik der Produktion“.6 Mit der Ausweitung des Werkbegriffs geht eine Stärkung der Autor-Figur einher. Dieser Zusammenhang konstituiert die Perspektive, mit der für die Arbeit an der Ausgabe auf das Archiv geblickt wird: Welche Materialien sind dem Autor Johnson und seinem Werk zuzurechnen? Angesichts des Bedarfs an grundsätzlicher Klärung liegt es nahe, diese Frage eindeutig zu beantworten: Alle. Die Antwort entspricht zum einen der Arbeitssituation: Die Planung der Ausgabe verlangt konzeptionelle Entscheidungen, es besteht ein großer Bedarf an Begründungen. Zum anderen zeigt die Antwort an, wie weitreichend die Folgen des digitalen Edierens sein können. Diesbezüglich handelt es sich um die konsequente Fortsetzung der critique génétique.7 Sie tritt mit den Möglichkeiten des Digitalen in das Stadium der Radikalisierung ein.
5
Der Werkbegriff changiert im Folgenden gelegentlich zwischen einer weiteren Fassung – Werk wie in Werkausgabe – und einer engeren, strenger literarischen – Werk wie in der Abteilung Werke. Gemeint ist hier durchgängig der weitere Begriff. Damit werden auch in unabgeschlossenen Texten oder in Texten mit überwiegend pragmatischem Charakter Merkmale intentionaler Gestaltung und literarischer Überformung als entscheidend für die Zuordnung anerkannt. Vgl. zur ersten Orientierung: Horst Thomé: Werk. In: Jan-Dirk Müller / Georg Braungart (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin 2003, S. 832–834. Thomé beendet seinen explikatorischen Überblick mit dem Hinweis auf Werk als einer „historische variable[n] Form des Produzierens und Gebrauchens von Texten“. – Diese historische Variable soll hier näher bestimmt werden. 6 Vgl. Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999, S. 29. 7 Almuth Grésillon hat die Behauptung von der grundlegenden Relevanz der critique génétique für die Literaturwissenschaft einmal als „Flucht nach vorn“ charakterisiert (Grésillon [Anm. 6]). Nun, denn.
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Eine kleine Menge an Materialien lässt sich auch bei einem solch weitgreifenden Ansatz vom Werk im weiten Sinne sofort ausschließen: Steuerbelege und Kalender etwa. Hier kann von Intention und literarischer Form keine Rede sein. Deshalb muss solches Material dem Leser nicht vorenthalten bleiben. Im Buch können Auszüge daraus in den Kommentaren enthalten sein. Die Überlegung, solche Dokumente in Gänze zu präsentieren, gehört aber nicht in den Bereich einer digitalen Werkausgabe, sondern in den des digitalen Archivs. Wie mit der folgenden Illustration gezeigt werden soll, liegt im Falle Uwe Johnsons die radikale Antwort dennoch besonders nahe. Sie ist gemeint als Einladung, den argumentativen Status der Illustration in Zweifel zu ziehen. Das sollte beim gegenwärtigen Stand der Diskussion das nützlichste Verfahren sein, die Thesen einer kritischen Prüfung zugänglich zu machen.
3. Eine kurze Bildbetrachtung soll ausschweifende theoretische Ausflüge ersetzen und anzeigen, worauf Frage und Antwort abzielen: auf das Bild des Autors.8
Abb. 2 Uwe Johnson auf der Frankfurter Buchmesse, 1983 © Peter Peitsch/peitschphoto.com 8
Meine Paraphrasen sind darauf ausgerichtet, eine editorische Funktionsweise zu erhellen, nicht die Diskussion um das Autor-Konzept der Literaturwissenschaft wiederzugeben.
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Zu sehen ist Uwe Johnson auf der Buchmesse. Die Inszenierung der Person des Autors vor seinem eigenen Abbild samt der dazugehörigen Bücherwand ist nichts anderes als die ironische Anerkennung der Verhältnisse. Das Bild zeigt auch, dass Uwe Johnson ihnen einiges abzugewinnen wusste. – Autor ist ein Begriff, um zu beschreiben, was auf dem Bild zu sehen ist. Es gibt eine natürliche Person, sie bringt Literatur hervor, die öffentlich zirkuliert, und infolgedessen wird diese Person in Beziehung gesetzt zum Geschriebenen. Das Wort für diese Beziehung ist: Autor. Das Wort für die kulturelle Geltung des Geschriebenen ist: Werk. Der Autor ist ein öffentliches Bild der Person, das sich zwischen diese und das Werk stellt, und so die Verbindung zwischen beiden manifestiert. Das Bild ist weder mit dem Werk noch mit der Person identisch, aber in der Lage, beides ikonographisch zu vertreten. Die Vokabel ikonographisch präzisiert den Bildbegriff: Es muss sich nicht um ein Bild handeln, es geht um die Vorstellung von einer Person, die schreibt. Eine Edition entwirft in diesem Sinne unweigerlich das Bild eines Autors. Sie erhöht die Präsenz des Bildes in der öffentlichen Zirkulation und stellt Attribute zur Verfügung, mit denen der Autor ausgestattet werden kann. Bei Johnson ist etwa zu denken an Zugehörigkeit zur Moderne, extreme Nutzung von Intertexten, erzählerische Komplexität, historische Präzision, ethischer Anspruch, die Verbindung von Geschichtsphilosophie und Anthropologie zu einem kritischen Realismus. All das lässt sich mühelos in verschiedene Diskurse übersetzen, in denen Johnson dann etwa als der Dichter beider Deutschland, Chronist der DDR oder Bezugspunkt einer spezifisch westdeutschen literarischen Moderne erscheint. Edieren lässt sich verstehen als das Generieren dieser Attribute. Sie werden unter anderem erzeugt durch die unablässige Überblendung von Person und Werk. Die Überblendung begründet den Mechanismus von Sichtbarmachen und Anordnen: Im Kommentar werden Briefstellen, Notizen, Erinnerungen angeführt, die der Autor eigens vom Werk ausgeschlossen hat. Sie werden der Person zugeschrieben und gelten damit als besonders geeignet, aufs Werk zurückbezogen zu werden. Von diesem aus wiederum wird auf den Autor geschlossen. Dem editorischen Prinzip des starken Autors korrespondiert die rhetorische Figur der persona pro re: Das ist ein Johnson.
4. Robert Gillett hat gründlich und überzeugend dargelegt, dass „sich Johnson Zeit seines Lebens nicht zufällig, sondern aus zwingenden politischen und historischen Gründen mit der Frage auseinandergesetzt [hat], wie ‚Life‘ in ‚Writing‘ umzusetzen sei“.9 Es spricht vieles dafür zu behaupten, dass Uwe Johnson in der Inszenierung von Autorschaft den Mechanismus sozialer Techniken wiedererkannte, die er früh eingeübt hat-
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Robert Gillett: Uwe Johnson und Life Writing. Ein Vorschlag. In: Johnson-Jahrbuch 17. Göttingen 2011, S. 14. – Der vorliegende Aufsatz zeigt, dass wir mit der Arbeit an der Ausgabe schon dabei sind, Johnsons Werk mit den „Debatten um Life Writing in Verbindung zu setzen“, so wie Gillett das vorgeschlagen hat.
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Abb. 3 Uwe Johnson: Darstellung meiner Entwicklung Reproduktion aus Johnson-Jahrbuch Bd. 4
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te. Gleich zwei Bildungseinrichtungen hatten den Schüler Johnson bekannt gemacht mit der Notwendigkeit, sich ein öffentliches Bild der eigenen Person zuzulegen, zum Schutz derselben. Nationalsozialistische Erziehungsanstalt und sozialistische Schule übten in ein Verhalten ein, das der Student später „das plumpe widerliche Erlügen einer Haltung“10 nannte. Das lässt sich etwa an einem Dokument erkennen, das auf den 23.3.1952 datiert ist. An diesem Tag schrieb der Oberschüler Johnson einen Lebenslauf. Dessen Gliederung und Aufbau waren in der Verordnung über die Reifeprüfung an Oberschulen (Ministerialblatt Nr. 9) vom März 1952 vorgegeben, und der Schüler setzte den Wunsch des Gesetzgebers vorbildlich und durchaus in ganz eigenem Sinne um. Den extrem hohen Grad an rhetorischer Überformung der Darstellung haben bereits Johnsons Lehrer als Anzeichen für eine literarische Begabung gelesen. Wie ein kurzer Ausschnitt zeigen kann, ist der Text ohne Deutung und Kommentierung kaum verständlich. Ich besuchte in Anklam die 1.–4. Klasse der Cothenius-Schule und kam dann auf Grund einer allgemeinen Auswahl auf die Deutsche Heimschule Kosin bei Poznan (Posen). Diese Schule wurde im Januar 1945 aufgelöst und ich ging nach Anklam zurück. Ende April 1945 verließen wir Anklam, da die Stadt verteidigt werden sollte. Bis 1946 lebten wir bei Verwandten in Recknitz im Kreis Güstrow, wo ich die Schule besuchte.11
Aufgrund einer allgemeinen Auswahl auf die Schule gekommen zu sein, bedeutet so viel wie: nicht freiwillig, aber ohne Gegenwehr der Eltern. Die Deutschen Heimschulen, im Volksmund „Napola“ – für: Nationalpolitische Lehranstalt –, waren eine Art nationalsozialistische Kaderschmiede. Die Zeitangabe ‚nach der 4. Klasse‘ heißt: Noch 1944 waren die Nazis auf der Suche nach Nachwuchs für ihre Elite. Die in Klammern stehende deutsche Übersetzung des polnischen Ortsnamens zeigt die neue Zeit an. Hinter der Auflösung der Schule im Jahre 1945 und dem Euphemismus „ich ging“ verbirgt sich der Umstand, dass die Schüler der Heimschule bis auf den jüngsten Jahrgang, dem Johnson angehörte, im sinnlosen Endkampf geopfert wurden.12 Man kann das erahnen, wenn einen Satz später von „verteidigen“ die Rede ist. Johnson, Schüler einer fünften Klasse, kam mit den Flüchtlingstrecks nach Hause. Was nicht ausgesprochen wird, ist die Angst vor den anrückenden russischen Truppen. „Lebten wir bei Verwandten“ heißt: Wir waren Flüchtlinge.
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Uwe Johnson: Thema 3. Welche literarischen Fragen wurden auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress im Januar 1965 in Berlin behandelt? In: „Entwöhnung von einem Arbeitsplatz“. Klausuren und frühe Prosatexte. Mit einem philologisch-biographischen Essay hg. von Bernd Neumann. Frankfurt/M. 1992 (Schriften des Uwe-Johnson-Archivs 3), S. 74. 11 Uwe Johnson: Darstellung meiner Entwicklung. Faksimile und Transkription. In: Johnson-Jahrbuch 4. Göttingen 1997, S. 13. 12 Vgl. dazu Uwe Johnson: Das erste Lese-Erlebnis ist das hundertste Buch … In: Siegfried Unseld (Hg.): Erste Lese-Erlebnisse. Frankfurt/M. 1975, S. 107–110.
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Das ist beileibe nicht die aufregendste Passage dieses Lebenslaufes.13 Es handelt sich insgesamt um eine Übung im uneigentlichen Sprechen, der Text ist per dectractionem entstanden. Sein poetologisches Gewicht gewinnt er aus dem Umstand, dass sich in ihm die erste öffentliche Erwähnung des Wunsches, Schriftsteller zu werden, findet. „Über die nähere Praxis meines Berufes bin ich mir noch nicht völlig im Klaren, da ich nicht weiß, ob ich die nötigen Fähigkeiten für den Beruf eines Schriftstellers noch im Laufe meiner Entwicklung erlangen werde“.14 Die Beschäftigung mit der Darstellung des eigenen Lebenslaufs ergab sich zwangsläufig als wiederkehrende Tätigkeit. Der Schüler musste seinen Berufswunsch begründen und sich um einen Studienplatz bewerben.15 Mit dem Umzug in den Westteil Berlins, 1959, ließ sich im Lebenslauf auch aussprechen, dass der Vater von der sowjetischen Besatzungsmacht interniert und später für tot erklärt worden war.16 Auch Johnsons spätere Lebensläufe verlangen nach Kommentar und sind auf andere Weise literarisiert. Auch in diesen Fällen wird sinnstiftend, was der Verfasser nicht ausspricht. Dazu gehören Dinge, die 1953 deutlich betont wurden, etwa die Tätigkeit in der sozialistischen Jugendorganisation. An vielen weiteren Papieren lässt sich zeigen, was hier angelegt ist: Uwe Johnson entdeckt seine Biographie als literarisches Material. In Anbetracht der Textsorte handelt es sich um eine keinesfalls ungewöhnliche Stilisierung der Selbstbildnisse. Wie jeder Bewerbungstrainer bestätigen wird, geht es bei dieser Art von Darstellung ohnehin wesentlich um den Ausgleich zwischen Pragmatik und Rhetorik. Bei Johnson geht es darüber hinaus um Literatur. Die Besonderheiten, auf die hin solche Lebensläufe also zu betrachten wären, betreffen sowohl die Person als auch das Werk. Zu fragen wäre etwa nach der Repräsentativität biographischer Erfahrung, nach Themen und Konstellationen, die die Romane bestimmen. Erkundet wird mit solchen Fragen zum einen die literarische Geltung eines individuellen Lebenslaufs und zum anderen die Nutzung des Selbstbildnisses zur Konturierung des Werks. In Fällen, in denen der Autor um seinen Lebenslauf gebeten wird, dominiert der literarische Zugriff auf das biographische Material in aller Deutlichkeit. Für den von Reinhard Baumgart herausgegebenen Materialienband Über Uwe Johnson fertigte Johnson 1970 eine kurze „Vita“ an:
13
Zu einer genaueren Analyse und Einordnung des Lebenslaufs vgl. Gillett (Anm. 9), S. 23–25 und Se bastian Horn: Ich und Andere über mich. Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Biografie. In: JohnsonJahrbuch 17 (Anm. 9), S. 48–59, bes. S. 50–56. 14 Johnson (Anm. 11), S. 14. 15 Vgl. dazu Uwe Johnson: Handschriftliche „Begründung für die Wahl der Fachrichtung und des Berufes“ aus dem Aufnahmeantrag 1952 für die Universität Rostock. In: Eberhard Fahlke (Hg.): „Die Katze Erinnerung“. Uwe Johnson – Eine Chronik in Briefen und Bildern. Frankfurt/M. 1994, S. 46. Vgl. zu mehreren anderen Lebensläufen Eberhard Fahlke: „Erinnerung umgesetzt in Wissen“. Spurensuche im Uwe Johnson-Archiv. In: Siegfried Unseld / Eberhard Fahlke (Hg.): Uwe Johnson: „Für wenn ich tot bin“. Frankfurt/M. 31992 (1991) (Schriften des Uwe-Johnson-Archivs 1), S. 73–143, hier S. 80–90. 16 Vgl. dazu Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/110180 sowie UJA/H/110181.
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Geboren in Deutschland 1934 (daher der Vorname) in Kammin in Pommern an der Dievenow, dem heutigen Kamien Pomorski an der Dziwna. Aufgewachsen in Anklam an der Peene, gegen Kriegsende in einer Heimschule der Nazis in Koscian an der Obra. Nach der Kapitulation im Mecklenburgischen, in Recknitz (benannt nach dem Flusse Recknitz), Schulzeit mit verändertem Lehrstoff in Güstrow an den Ufern der Nebel. Von 1952 bis 1956 Studium der Germanistik und weiterer Folgen des Krieges in Rostock/Warnow und Leipzig/Pleisse.17
Schon nach den ersten Sätzen ist deutlich, welches Detail Johnson zur Strukturierung der Biographie benutzt: die Flüsse, an denen die Orte seiner Biographie gelegen sind. Das spielerische Moment hält der distanzierenden Ironie, mit der das eigene Leben erzählt wird, die Waage. Wenige Jahre später, in einem etwas längeren Lebenslauf, arbeitet der Autor es aus. Als Uwe Johnson 1977 in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt aufgenommen wurde, hatte er als neues Mitglied die Pflicht, sich akademie-öffentlich vorzustellen. Diese Vorstellung endete mit dem folgenden Absatz: Am Ende könnte man mir nachsagen, ich sei jemand, der hat es mit Flüssen. Es ist wahr, aufgewachsen bin ich an der Peene von Anklam, durch Güstrow fließt die Nebel, auf der Warnow bin ich nach und in Rostock gereist, Leipzig bot mir Pleisse und Elster, Manhattan ist umschlossen von Hudson und East und North, ich gedenke auch eines Flusses Hackensack, und seit drei Jahren bedient mich vor dem Fenster die Themse, wo sie die Nordsee wird. Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Eide und der Havel und dort hoffe ich mich in meiner nächsten Arbeit aufzuhalten, ich weiß schon in welcher Eigenschaft, aber ich verrate sie nicht.18
Bei dieser Gelegenheit ist aus der strukturierenden Aufzählung der Vita die Pointe der ganzen Darstellung geworden. Um das zu erkennen hilft es, den vorangegangenen Lebenslauf für den Baumgart-Band zu kennen, aber es ist auch ohne diesen zu sehen. Johnson legte seine Vorstellung als kommentiertes Mosaik aus Fremdzuschreibungen an. Mit einem Vergnügen, das dem Text noch immer abzulesen ist, kündigte er an, der Verpflichtung sich vorzustellen, „auf einem Umweg“ nachkommen zu wollen, nämlich auf dem Wege „einer Vorstellung der Ansichten, die ihn bisher beschreiben sollten“.19 Mit guten Gründen könne man ihn als Pommer verstehen oder als Mecklenburger, auch als einen Leipziger, „‘Westberliner’“ oder Beinahe-New Yorker; sein Umzug nach
17
Uwe Johnson: Vita. In: Reinhard Baumgart (Hg.): Über Uwe Johnson. Frankfurt/M. 1970, S. 175. Uwe Johnson: Ich über mich. In: Rainer Gerlach / Matthias Richter (Hg.): Uwe Johnson. Frankfurt/M. 1984, S. 20. Vorstellung bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, zuerst veröffentlicht in: Die Zeit, 04.11.1976, S. 46. 19 Johnson (Anm. 18), S. 16. Sebastian Horn benennt den Grund für das Vergnügen: Johnson hatte eine weitere Möglichkeit gefunden, „sich auf möglichst attraktive Weise den vorgegebenen Regeln eines biografischen Abrisses seiner Person zu entziehen“; Horn (Anm. 13), S. 56. Vgl. zur genaueren Einordnung ebd., S. 56–58. 18
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Sheerness habe ihn zu einem „German“ gemacht.20 Die einzige Stelle, an der keine Fremdzuschreibungen mitgeteilt werden, ist der letzte Absatz, die Aufzählung der Flüsse. Man „könnte“ ihm das nachsagen, heißt es: bisher hat es niemand getan. Abgesehen vom Autor, der die Zuschreibung in seiner Vita selbst vornahm.
Abb. 4 Uwe Johnsons Beleg des Abdrucks seiner Rede zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt (1977). Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000411, Bl. 1. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Peter Suhrkamp Stifung und der Johannes und Annitta Fries Stiftung.
Als Die Zeit den Text druckte, versah die Redaktion ihn mit zwei Bildern (und nicht etwa nur einem) sowie der Überschrift „Ich über mich“. Auf dem Beleg, den Johnson aufhob, änderte er dies mit vorschriftsmäßigen Korrekturzeichen zu „Andere über mich“.21 – Das Versteckspiel war wohlberechnet und erfüllte den Zweck, die Person als Autor vorzustellen, auf geradezu vorbildliche Weise: Johnson gab eine Probe seines Könnens. Dass dieser Text zum Werk gehört, steht nicht in Zweifel. Die Folge der Lebensläufe zeigt zudem, dass der Autor kontinuierlich an diesem Werkbestandteil gearbeitet hat.
20
Vgl. Horn (Anm. 13), S. 56–58. – Zu einer vollständigeren Aufzählung der Zuschreibung und genaueren Einordnung des Lebenslaufs vgl. Gillett (Anm. 9), S. 25f. 21 Vgl. dazu Fahlke: Katze Erinnerung (Anm. 15), S. 14.
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Der Befund lässt sich, cum grano salis, auf alle vermeintlich pragmatischen Texte übertragen, die von der Person handeln. Es bedarf keines größeren argumentativen Aufwands, diesen Stücken Werkcharakter zuzusprechen und sie dem Autor zuzuordnen, der auch die Romane verfasst hat.
5. Dass diese Zuordnung naheliegend ist und dem Selbstverständnis des Autors entspricht, kann man an anderen Texten erkennen, die sich mit größerer Selbstverständlichkeit dem Werk zurechnen lassen. Es handelt sich dabei um im weitesten Sinne ‚personenbezogene Schriften‘, also Nachrufe, Erinnerungen, Festschriftenbeiträge für bzw. über andere Personen – eine Textsorte, für die Johnson geschätzt wurde. Ein Teil von ihnen wurde posthum in einem Bändchen mit dem sprechenden Titel Porträts und Erinnerungen versammelt.22 In diese Reihe gehört auch Johnsons grandioses Bachmann-Buch Eine Reise nach Klagenfurt.23 Für all diese Texte ist erst einmal von demselben Verhältnis von Pragmatik und Rhetorik auszugehen wie bei den Lebensläufen. Es handelt sich um okkasionelle Texte, die Johnson mit großer Konsequenz für den Bereich der Literatur reklamiert. Auch in diesen Fällen läuft die Literarisierung auf Selbstbildnisse hinaus. Ein einziges Beispiel soll das illustrieren. Zu der Festschrift, die 1967 anlässlich des 60. Geburtstags von Hans Mayer erschien, steuerte Johnson unter dem Titel Einer meiner Lehrer ein Porträt bei, das den Jubilar aus der Perspektive des Studenten zeigt. Johnson hatte in Leipzig bei Hans Mayer studiert, und der wurde in doppelter Hinsicht zu einem Vermittler für ihn – zum einen, was den Umgang mit Literatur anging, zum anderen auch, was die literarische Entwicklung betraf. Mayer gab das Manuskript von Johnsons erstem Roman an Peter Suhrkamp. Der lehnte zwar ab, stiftete aber auf diese Weise eine lebenslang anhaltende Verbindung zwischen Autor und Verlag.24 Johnson bat Mayer noch als Student darum, das Manuskript seines Romans zu lesen. „Mayer zeigte sich interessiert, bestand aber auf rollengerechtem Abstand, sodass der Student erst Examen machen musste, bevor er sein Manuskript zur Lektüre bringen durfte“.25 Bei dieser Episode setzt Johnson an, um zu zeigen, auf welch widerständig lebendige Weise dieser Professor den Klischees über seinen Berufsstand gerecht wurde. Johnson erzählt von der unüberwindlich scheinenden Entfernung zwischen Professor und Student und unterläuft sie bereits dadurch, dass er von Lehrer und Schüler spricht: Und Abstand, korrekter Abstand zwischen Lehrer und Schüler bewies sich, wenn der Unbedarfte in der Examensklausur eines der Themen zum Anlass nahm, um, ausgehend von den Ergebnissen des XX. Parteitags der KPdSU und ausgehend von einer Äußerung eines be-
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Eberhard Fahlke: Porträts und Erinnerungen. Uwe Johnson. Frankfurt/M. 1988. Vgl. Uwe Johnson: Eine Reise nach Klagenfurt. Frankfurt/M. 1974. 24 Ingrid Babendererde erschien dann erst posthum 1985. 25 Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson. Leben, Werk, Wirkung. Berlin 2010, S. 19. 23
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hördlich lizensierten Schriftstellers, einen Realismus des Realismus zu beschreiben, und dann nicht etwa von seinem Lehrer, sondern vom Dekan die Mitteilung erhält: die Philosophische Fakultät weigere sich, diese Arbeit anzunehmen, und erkläre das Examen für abgebrochen. Und Abstand, schlicht die Unmöglichkeit, Professoren zu kennen, bewog zwei Mädchen dazu, einen halben Nachmittag unter ihren Sachen zu prüfen, was denn nun chic genug wäre für einen Besuch bei Prof. Dr. Mayer und die Bitte, mich dennoch zu prüfen. Ich konnte es nicht verhindern. Er soll sich verblüfft gezeigt haben.26
Die Ehrung ist deutlich: Obwohl ein erheblicher Abstand zwischen Professor und Student existiert, gibt es da eine verständnisvolle Nähe, ein Eingehen auf den Einzelnen. Mayer teilt dem Studenten nicht mit, dass er dessen Klausur nicht angenommen hat, er hält den Dienstweg ein. Aber er lässt sich bitten, dennoch eine Prüfung zu ermöglichen. Die Pointe der Anekdote besteht nicht in der subtilen Anzeige der homoerotischen Neigungen des akademischen Lehrers. Der staunt nämlich nicht darüber, dass die Mädchen sich hübsch gemacht haben für ihn, sondern dass sie dies ausgerechnet für jenen Studenten tun. Die Anekdote sagt mindestens ebenso viel über Johnson wie über Mayer: „Ich konnte es nicht verhindern“. – Und was den Abstand der beiden angeht, so hätte sich dies auch kürzer mitteilen lassen, nämlich so: „Die Prüfung fand sowieso statt und war eine Unterhaltung. Es hätte Cognac geben dürfen, wäre da nicht der Beisitzer gewesen.“27 Zweifelsfrei transportiert Johnson in seinem Porträt Episoden, an denen Mayer Gefallen fand. Ebenso deutlich entwirft er ein Bild des Schriftstellers als junger Student. Und der war seinem Gegenüber schon damals ebenbürtig. Der kleine Text handelt vom Verhältnis des Porträtierten zum Autor des Porträts: Bildnis des Autors mit Literaturwissenschaftler. Mit schöner und nützlicher Unvermeidlichkeit kontextualisiert der Rückblick auch das Werk. Es ist vom Marxismus auf Weltniveau die Rede, von Realismus und Allusion, von Brecht, Kafka, Grass und davon, dass die Literatur nicht teilbar sei. Das alles wird ergänzt um das ausgestellte Bestehen auf mindestens zwei Perspektiven („also was nun“).28 Das alles sind Stichworte zum Traditionsverständnis und Anregungen, Johnson zu lesen.
6. Episoden und Porträts dieser Art finden sich in großer Zahl auch in den Briefen Uwe Johnsons. Wenn es einen deutschsprachigen Autor des 20. Jahrhunderts gibt, bei dem man vom Briefwerk sprechen kann, dann ist es Johnson. Die Gattung Brief ist nicht zuletzt charakterisiert durch das Selbstporträt. Gewöhnlich ist diese Selbstdarstellung adressiert an eine Privatperson. Das bestimmt den pri-
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Uwe Johnson: Einer meiner Lehrer. In: Walter Jens / Fritz J. Raddatz (Hg.): Hans Mayer zum 60. Geburtstag. Eine Festschrift. Reinbek bei Hamburg 1967, S. 123f. 27 Johnson (Anm. 26), S. 124. 28 Johnson (Anm. 26), S. 124.
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vaten Charakter der Gattung, eben auf die Kommunikation mit Einzelnen gerichtet und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt zu sein. Im Falle Uwe Johnsons wird das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit absehbar Gegenstand künftiger Betrachtungen werden. Zwei Beispiele sollen zeigen, dass solche Betrachtungen auf die Frage nach dem Werkcharakter der Gattung Brief hinauslaufen. Angesichts der schieren Menge an Briefen, die das Archiv beherbergt – von etwa 13.000 Blatt ist bisher lediglich ein Zehntel in Einzelausgaben mit unterschiedlichen editorischen Standards publiziert –, steht außer Frage, dass Briefe ein wesentlicher Bestandteil der Alltagskommunikation Johnsons waren. Er nutzte das Briefschreiben auch als Werkstatt, in der literarisches Material ‚entwickelt‘ wurde. Er prüfte biographische Episoden auf ihr literarisches Potential, erprobte Verfahren der Beschreibung und erzählerische Perspektiven. Unverkennbar hat ein Teil der Briefe den Charakter von Vorarbeiten zum Werk. In dem aus dem Nachlass herausgegebenen Band Inselgeschichten besteht der Großteil der Texte aus Ausschnitten aus Briefen. Eberhard Fahlke, der Herausgeber, teilt mit, die „Beobachtung, dass alle [von Johnson selbst publizierten, H.H.] Inselgeschichten im Kern zunächst in Briefen erzählt wurden“, habe ihn veranlasst, „in Uwe Johnsons Korrespondenz nach weiteren Beschreibungen, Szenen und Episoden zu suchen, die zu Inselgeschichten hätten ausgesponnen werden können“.29 Im Ergebnis der erfolgreichen Suche erschien ein Band, der die Gattungsanzeige (eben: Geschichten) im Titel trägt und daher ohne Untertitel auskommt. Das ist ebenso salomonisch wie editorisch fragwürdig. Der größte Teil der Texte des Buches gehört in die Reihe der Briefbände und nicht in die Abteilung der Werke. Aus dieser ‚traditionellen‘ Perspektive verschleiern die editorischen Eingriffe das Überschreiten der Gattungsgrenze, die der Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre korrespondiert. Im Nachwort benennt Fahlke die Verhältnisse präzise: Daraus hätten einmal Geschichten werden können. Aus der Perspektive des Gesamtwerks steht außer Frage, dass es sich bei den ausgewählten Passagen auch um Entwürfe zu Werken handelt. Zuerst einmal allerdings sind es private Mitteilungen an ein Gegenüber, die zu rekonstruieren die Ausgabe der Inselgeschichten nicht gestattet. Der Fall erhellt in aller Deutlichkeit, dass es sich bei Johnsons Briefen in der Regel um eine hochgradig literarisierte Korrespondenz handelt. Und auch in einem zweiten, anderen Sinne betrachtete Johnson seine Briefe als Werk, nämlich als literarische Zeugnisse einer Schriftstellerexistenz. Der Briefwechsel, den er mit Hans Magnus Enzensberger führte, lässt sich insgesamt als Kommentar zum Thema Autor und Privatperson lesen. Immer wieder wird Johnsons Bemühen deutlich, über die politische und literarische Verständigung zweier Autoren hinaus zu einem privaten Einverständnis miteinander zu kommen. Diesem Bemühen liegt die schon skizzierte Unterscheidung der beiden Sphären zugrunde, die Johnson ausspricht und mitführt, etwa wenn er schreibt: „Es ist nur und gilt für die privaten weniger, für die öffentlichen Gegenstände mehr:
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Eberhard Fahlke: Nachwort, in: Uwe Johnson: Inselgeschichten, hg. von dems. Frankfurt/M. 1995, S. 195.
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ihr seid reichlich entfernt, und ich war nicht sicher ob euch gedient ist mit der bloßen Kenntnis“.30 Dabei schreibt Johnson von Anfang an mit Blick auf eine spätere Publikation des Briefwechsels: Lieber Mang, du siehst, ich scheue nicht einmal vor Firmenpapier zurück, wenn ich dich nur erinnern kann daran dass du jetzt dran bist und dass meine Saumseligkeit im vorigen Monat dir weder für diesen noch ueberhaupt eine Ausrede bietet angesichts der Ueberlegung, dass die Gesamtausgabe unseres Briefwechsels auf mindestens zwei Baende angelegt ist, und zwar im Duenndruck.31
Wie ironisch auch immer man das auffassen mag: Dies ist die Aussage der 28-jährigen Person Uwe Johnson, die alle privaten und biographischen Implikationen ihres Autor-Daseins durchdacht hat. Mit seinen Briefen investiert Johnson in ein späteres Bild seiner selbst, in dem Person und Autor auf kaum entwirrbare Weise zusammenfallen – und ins Werk übergehen.
7. Der Zusammenhang zwischen Person und Autorschaft und die Verbindung von Leben und Werk haben Johnson immer wieder und auf ganz verschiedene Weise beschäftigt. Dies genauer zu betrachten ist eine der reizvollen Aufgaben, die die Forschung noch vor sich hat. Johnson hat dazu sehr konkrete Überlegungen angestellt, alle grundsätzlichen Äußerungen beziehen sich argumentativ auf bestimmte Personen – und am Ende immer auf ihn selbst. Dabei ist seine Position keinesfalls konsistent, zu beobachten ist vielmehr ein Abwägen, das auch vor plakativen Widersprüchen nicht zurückschreckt. Letztere dienten ihm dazu, seine Standortbestimmung voranzutreiben. So behauptet Johnson, dass zu den literarischen Konsequenzen der Nachkriegszeit die Frage nach dem „Platz des Erzählers“ gehöre, um unmittelbar daran die Frage anzuschließen: „Wo steht der Autor in seinem Text?“32 Der terminologische Widerspruch ist nicht weniger offensichtlich als der Zusammenhang, der zwischen Erzähler und Autor besteht. Es ist zu vermuten, dass die Sache Methode hat. In seinen Poetikvorlesungen Begleitumstände teilt Johnson mit, er sei überzeugt davon, „dass private Mitteilungen“
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Uwe Johnson an Hans Magnus Enzensberger, Berlin-Friedenau, 19. März 1964. In: Hans Magnus Enzensberger / Uwe Johnson: „fuer Zwecke der brutalen Verstaendigung“. Der Briefwechsel, hg. von Henning Marmulla und Claus Kröger. Frankfurt/M. 2009, S. 85. 31 Enzensberger / Johnson (Anm. 30), S. 134. 32 Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn (veraltet). In: Ders.: Berliner Sachen. Frankfurt/M. 1975, S. 20. – Im Anschluss an Colin Riordans Ethics of Narration schickt sich die nächste Generation der Forschung gerade an, die Implikationen genau dieser Stelle unter neuen Voraussetzungen zu durchdenken. Auf dem 3. Internationalen Doktorandenworkshop der Uwe Johnson-Gesellschaft, am 18./19. Juni 2015 in Rostock, entwickelte sich nach dem Vortrag von Jisung Kim über Poststrukturalistische Momente in Uwe Johnsons Poetik eine lebhafte Diskussion dazu.
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von Autoren „wenig ergiebig“33 für das Verständnis ihrer Werke seien, und begründet dies durch eine Reihe von Beispielen: Was immer wir wissen über Fontanes häusliches Leben, es ist eher erstaunlich als aufschlussreich gegenüber seiner Begabung, Unglücksfälle gerade in der ehelichen Beziehung schlüssig zu machen. Was Günter Graß uns im Druck mitgeteilt hat über den Zustand seiner Familie, ist nutzlos als Spürrute in seinem Umgang mit einem dicken Fisch. Wenn Martin Walser die Öffentlichkeit wissen lässt, es gehe ihm gut, und er habe nicht zu klagen, ausser vielleicht, weil er auf die Welt gekommen sei, so wird er unseren Ableitungen wenig später entkommen mit einer „Seelenarbeit“.34
Die Pointe des Aufwands führt dann direkt zu seiner Person: „Wie bei allen, genügt für mich das Jahr der Geburt“.35 – Die Behauptung wird allerdings mit dem nächsten Satz ad absurdum geführt: „Mithin war ich fast elf Jahre alt, als ich meinem Staatsoberhaupt Adolf Hitler zum letzten Mal begegnete in einem mecklenburgischen Dorf“.36 Was in den Vorlesungen folgt, sind biographische Episoden, die das Bild einer Person entwerfen, deren Verständnis der Schriftstellerei – die Poetologie – aus den historischen Umständen heraus erhellt wird. Poetikvorlesungen, die unter dem Titel Begleitumstände stehen, können unmöglich mit dem Geburtsdatum des Autors auskommen. Dieser Widerspruch ist darauf ausgerichtet, ein ganz bestimmtes Verhältnis von Person und Autor einleuchtend erscheinen zu lassen. Im Mittelpunkt der biographischen Einlassungen in den Poetikvorlesungen steht die Person. Im Vollzug der Vorlesung wird erkundet, was sie – die Person: den Vortragenden – zum Autor macht. Eins der Resultate dieses Vorgehens ist, dass Johnson für seine Poetologie eine Metaphorik entwickelt, die die Person als Autor zeigt. Der Höhepunkt der Darstellung besteht in der konsequenten Einlösung der Metaphorik: Der Autor berichtet, wie er seiner wichtigsten Romanfigur begegnet. Am Dienstag der folgenden Woche sah ich Mrs. Cresspahl auf der Südseite der 42. Strasse auf die Sechste Avenue zugehen. Sie war zu erkennen an der Kopfhaltung, an der lockeren, acht- und wachsamen Art, in der sie den rechten Arm pendeln liess, in der Hand eine kompakte schwarze Börse (im Notfall zum Zurückschlagen geeignet), verriegelt im Griff der Finger, von denen die ersten zwei die Bügel einer Sonnenbrille wippen liessen. (Das Tageslicht war für einen Moment beschlagen.) Meine Damen und Herren, Sie werden mir vorhalten, sicherlich sei ich der einzige gewesen auf der ganzen 42. Strasse, ungefähr unterhalb der Rückfront der Public Library einer Gesine Cresspahl zu begegnen, wie sie in einem halbärmligen grauen Jerseykleid nach Westen unterwegs ist, geringschätzig die Blumenverkäufer musternd. Ich gestehe die Einschränkung zu: dazu war ich ja da.37
33
Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M. 1980, S. 24–25. Johnson (Anm. 33), S. 25. 35 Johnson (Anm. 33), S. 25. 36 Johnson (Anm. 33), S. 25. 37 Johnson (Anm. 33), S. 406f. 34
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Der Umgang mit dem Einwand, dies sei keine realistische Beschreibung des Geschehens, legt die Überblendung zwischen Person und Autor offen: Andere Personen sehen anderes, aber dieser Autor sieht eine Romanfigur. Wo andere Leute spazieren gehen, arbeitet er am Werk. Dies gehört zu den Eigenheiten seines Berufs. Diese Denkfigur hat Johnson nicht erst in den Poetikvorlesungen ausgearbeitet. Er hat sie mehrfach variiert und auf ihre konkreten Implikationen hin geprüft. Den größten Effekt erreichte er damit in seiner Büchner-Preis-Rede. Ihre ‚oberflächliche‘ Pointe besteht darin, dass Johnson behauptet, das Geld, das mit dem Preis verbunden ist, schon ausgegeben zu haben. Die Preisverleihung verwandelt die privaten Auslagen in anerkannte Investitionen ins Werk. In der sorgfältigen Beschreibung der Verhältnisse treten die thematischen Zusammenhänge deutlich hervor: Gewiß war ihm der eigene Augenblick entfremdet durch den Raster, der objektiv Verwendbares aus dem Subjektiven zog; der Verfasser wünschte es so, nicht zuletzt angesichts der so teuer bezahlten Zeit.38
Das beschreibt das Geschehen, von dem in der Poetikvorlesung die Rede ist, sehr präzise: Wenn Johnson auf der 42. Straße Gesine Cresspahl erblickt, dann entzieht der Autor der natürlichen Person ihr Erleben und verwandelt es in literarisches Material. Was Johnson in der Büchner-Preis-Rede auf gut marxistische Weise vorführt, sind die ökonomischen und sozialen Folgen, die sich daraus ergeben. Ein Buch wie die Jahrestage schreiben zu wollen, erfordert die Investition der Person auf verschiedenen Ebenen, ökonomische einerseits, Abstriche am Privatleben andererseits. Die Öffentlichkeit erkennt das mit der Preisverleihung an, einerseits durch die Ehrung, andererseits mit Geld. Das Tun des Autors und die Reaktion der Öffentlichkeit haben ihren Fluchtpunkt im Werk. Es begründet die Anstrengung des Einen und die Wertschätzung der Vielen. Bei Preisverleihungen allerdings fallen Werk und Autor in eins und machen die Person unsichtbar. In Anerkennung dieser Verhältnisse entschloss sich Uwe Johnson, die Person im Werk hervortreten zu lassen. Zum einen in der Preisrede, zum anderen aber auch im Roman.
8. Dass das literarische Spiel mit der eigenen Person einen ernsthaften Hintergrund hat, ist an dem Aufwand zu erkennen, den Johnson betreibt. Von einem Journalisten eingeladen, den eigenen Nachruf zu Lebzeiten zu schreiben, liefert er einen eigenwilligen fremdsprachigen Text ab. Es liegt in der Natur der Gattung, dass er vom Zusammenhang von Leben und Werk handelt. Ebenso eindeutig ist die Zuordnung zur Literatur im engsten Sinne. Es ist eben kein Nachruf, sondern eine Fiktion – und genau da setzt Johnson an. 38
Uwe Johnson: Rede zur Verleihung des Büchner-Preises, in: Büchner-Preis-Reden 1951–1971. Stuttgart 1981, S. 238.
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Zum einen schreibt er gar keinen Nachruf, sondern den Bericht eines Korrespondenten der New York Times, der vom Tod eines deutschen Schriftstellers namens Uwe Johnson und den damit verknüpften Enthüllungen handelt. Enthüllt wird, dass dieser Johnson gar kein Schriftsteller war. Er war einem anderen, ungenannt bleibenden Schriftsteller behilflich, die Öffentlichkeit zu meiden, indem er, Johnson, sich so verhielt, als habe er geschrieben, was unter seinem Namen erschien.39 Wie der Korrespondent berichtet, liegt aber auch ein umfangreiches, autobiographisch gefärbtes Manuskript vor, das auf Uwe Johnson zurückgeht. Es befindet sich im Besitz von Thomas Shean, einem Anwalt, der auch Johnsons Testament verwaltet. Zum anderen schreibt Johnson auf Englisch. Damit ermöglicht er die mühelose Integration des Nachrufs in den Roman Jahrestage. Gesine Cresspahl, die Hauptfigur dieses Romans, liest den Artikel in der Zeitung. Ein wörtliches englisches Zitat sichert den Zusammenhang. (Damals war ein Ausländer verschwunden, und der Korrespondent der New York Times schilderte nicht nur die Suchaktion unter Führung des detective Thomas Shean, sondern auch den Lee, „which provides a scene of romantic beauty“.)40
Dieser intertextuelle Verweis bestätigt (im Zusammenhang des Romans) die Mitteilung aus der Zeitung: Uwe Johnson ist tot. Es ist aber nicht der einzige Uwe Johnson, der in dem Roman erwähnt wird. Gesine Cresspahl beobachtet einen Schriftsteller dieses Namens auf einer öffentlichen Veranstaltung. Dort versucht er, in Amerika lebenden Juden die politische Lage in Deutschland zu erklären. Sie lernen es nicht. Sie betrachten die Hand, mit der sie ihre überlebenden Opfer ohrfeigen, und begreifen es nicht: sagte der Schriftsteller Uwe Johnson. Darauf bekam er eine Ohrfeige. Denn auch der Schriftsteller Johnson hatte etwas nicht begriffen.41
Der Schriftsteller scheitert kläglich mit seinem Erklärungsversuch, es scheint, als habe er sowohl die Lage in Deutschland als auch die Situation auf der Veranstaltung in New York falsch eingeschätzt. Die Sache ist ihm hochgradig peinlich, er fragt Gesine, die ihn beobachtet hat, ob sie tatsächlich anwesend gewesen sei. Wo hast du gesessen, Gesine. Gut genug, dich zu sehen, Genosse Schriftsteller. Hinten. Ja, weit weg, dicht an einer Tür.42
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Vgl. Uwe Johnson: Dead Author’s Identity in Doubt; Publishers Defiant. In: Heinz Kramberg (Hg.): Vorletzte Worte. Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf. Frankfurt/M. 1985, S. 116–124. 40 Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Bd. 1–4. Frankfurt/M. 1988, S. 336. – Im Nachruf heißt es: “Cobh is in the county of Cork, Ireland. It is connected to the city of Cork by a railway service along the river Lee which provides a scene of romantic beauty.” 41 Johnson (Anm. 40), S. 253. 42 Johnson (Anm. 40), S. 253.
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Der vieldiskutierte narrative Effekt – der Anschein, als spreche die Figur des Romans mit dem Autor – erhält eine seiner funktionalen Zuschreibungen durch den Nachruf. Der Zusammenhang ist markiert. Die Markierung besteht in dem Umstand, dass in dem Nachruf zwei Personen desselben Namens auftauchen, und die Leser eigens informiert werden, dass es sich nicht um Verwandte handelt. Der eine Thomas Shean ist Anwalt, der andere Thomas Shean ist Polizist.43 – Auch im Roman sind die beiden Uwe Johnsons gut zu unterscheiden: der eine ist tot, der andere lebendig. Schon mit dem ersten Satz des Nachrufs hatte Johnson (der Autor des fiktiven Nachrufs und des Romans Jahrestage) diesen Unterschied semantisch aufgeladen: „In this quaint little city a new chapter is being unfolded in the life of the German author Uwe Johnson that ended last week, when this newspaper mentioned his death“.44 – Zu gut Deutsch: Im Leben des Autors Uwe Johnsons, der letzte Woche verstarb, wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Ganz gleich, wie man die contradictio in adiecto auslegen möchte, der Widerspruch ist offensichtlich und wohlkalkuliert. Er benennt, was im Roman geschieht: Mit dem Tod des einen beginnt das Leben des anderen.45 Die Person wird für tot erklärt und der Autor (eine Fiktion) spricht mit der Figur. Damit fallen Autor und Werk in eins. Es ist nicht nur im Alltag verführerisch, Romane als Lebenszeugnisse zu verstehen; schließlich besteht das Leben eines Schriftstellers aus dem Schreiben. Aber deshalb handelt der Roman Jahrestage noch lange nicht von Uwe Johnson. Inwiefern er auch als ein biographisches Dokument zu lesen ist, hat die Forschung noch zu klären. Die Frage ist von einiger Dringlichkeit, wenn das Werk in einer Ausgabe kommentiert werden soll. Etwa an Stellen wie dieser: Wer eines Tages die amtlichen Lebensläufe dieser Gesine Cresspahl vergleicht, er wird nicht umhin können, verschiedene Personen dieses Namens anzunehmen. Oder aber eine einzige, die war jedes Jahr eine andere und wurde sich selbst unbekannt von einem auf den anderen Tag!46
Erwähnt man im Kommentar an dieser Stelle die Lebensläufe der Person Uwe Johnson? Findet man in einer gedruckten Ausgabe der Jahrestage an dieser Stelle einen Kommentar, der Uwe Johnsons Verhältnis zur eigenen Biographie anspricht, und was daraus für die Biographien seiner Figuren resultierte? Wie viele Belegstellen aus den poetologischen Schriften führt man dann an? Verlinkt man in der digitalen Edition auf all die Dokumente, die gerade aufgeführt wurden (und noch einige andere)? Und zieht dies wiederum weitere Verlinkungen nach sich? Etwa mit dem Argument, dass erst die Materialfülle den grundlegenden Zusam-
43
Johnson (Anm. 39), S. 37: „Meanwhile Cork police find themselves unable to locate Mr. Johnson’s surviving family in Cork county and are convinced, in the words of detective Thomas Shean (no relative), that still another chapter will be ‘unfolded’ in the life of the intriguing Mr. Johnson [...].“ 44 Johnson (Anm. 39), S. 28. 45 Vgl. detaillierter dazu: Holger Helbig: Who am I now? Zur Inszenierung von Autorschaft in Uwe Johnsons Dead Author’s Identity In Doubt; Publishers Defiant. In: Johnson-Jahrbuch 17 (Anm. 9). 46 Johnson (Anm. 40), S. 1451.
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menhang sichtbar macht? Andererseits: An wie vielen Stellen in wie vielen Texten soll die Kommentierung so erfolgen, im Buch?, im Netz? – Und wie verhält sich das, wenn der Autorname im literarischen Text fällt, komplexer oder einfacher?
9. Eine Edition bringt unweigerlich ein Autor-Bild hervor. Eine Werkausgabe ist ein Ex tremfall, an dem die Wirkung der editorischen Verfahren deutlich hervortritt. Konstruiert wird ein starker Autor, also einer, in dessen Archiv durchgängig werk relevante kommunikative Absichten gelesen werden. Die Papiere müssen dabei nicht zwingend einen Bezug zum Werk aufweisen, auch persönliche Papiere sind geeignet, Attribute der Autorschaft zu generieren. Gerade aus der Überschneidung der Zuordnung resultieren starke Attribute: Eine in einem privaten Brief aufgefundene Information erhellt das im Werk Gemeinte oft besonders wirkungsvoll. Die Person teilt als Autor das Wirklichgemeinte über das Werk mit.47 Zu den Folgen dieser Art der interpretativen Aneignung gehört, dass die Attribute sowohl für das Werk als auch für die Person zur Verfügung stehen. Der Autor teilt im Werk das Wirklichgemeinte über sein Leben mit. Das ist, für die Leser wie für die Philologen, nichts anderes als konsequent: der einschlägige Untertitel „Leben und Werk“ zeigt das an. Das Werk ist ebenso interpretationsbedürftig wie das Leben, und beide fallen im Autorbegriff zusammen. Der gegenseitige Bezug von Werk und Leben verleiht beiden „referentiellen Halt“.48 Soweit der Standard, gleichermaßen fraglich wie nachvollziehbar. Die Überblendung der Kategorien hat Grenzen. Bei Editionen im Buch werden die Verhältnisse durch Entscheidungen der Herausgeber aufrecht erhalten, die auf Ordnung und Sichtbarkeit sowie auf den Grenzen des Mediums beruhen: In der Abteilung Werke wird der Text, der dem Autor zugeordnet wird, vervielfacht. Es werden Varianten und Vorarbeiten gegeben, die der Autor eigens vom Werk ausgeschlossen wünschte. Der Text, der der Person zugeordnet wird, wird gekürzt: Im Kommentar werden keine kompletten Dokumente wiedergegeben, sondern funktional begründete Zitate. In der Abteilung Briefe verhält sich das ebenso, nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Die Texte, die der Person zugeordnet sind, werden vervielfacht. Ausschnitte aus den Werken fungieren als Kommentar. In der Abteilung Schriften wäre von Fall zu Fall zu entscheiden, wie die Herausgeber die Sache sehen wollen. Im Falle Johnsons nun lässt sich die Überblendung von Person und Autor verfolgen bis hin zu dem Punkt, an dem die Unterscheidung implodiert und der Text – der
47
Vgl. dazu etwa Karl Eibl: Der ‚Autor‘ als biologische Disposition. In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 47–60, hier S. 54: „Die Möglichkeit einer Differenz von Gesagtem und Gemeintem, ob als mißverständliche Äußerung oder deutungsbedürftiger Wink oder als Lüge, macht den Rückgriff auf einen Urheber der Äußerung unentbehrlich. Nur bei ihm kann das ‚wirklich‘ Gemeinte angesiedelt werden.“ 48 Eibl (Anm. 47), S. 55.
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Holger Helbig
Wortlaut auf den Papieren – in seiner Zuordnung dauerhaft verdoppelt wird: Alles wird Werk. Diese Besonderheit des Werks entspricht den Eigenarten des Autors wie den Marotten der Person. Demzufolge sind alle drei Kategorien vom Nachdenken betroffen. Der Ausgangspunkt lässt sich in etwa so beschreiben: Uwe Johnson hat ein literarisches Verfahren entwickelt, das die Unterscheidung zwischen Autor und Person auf eine Weise ausnutzt, die sie obsolet werden lässt. Er wehrte sich gegen die Lebenskonzeption des Rollenhandelns, indem er die Gleichzeitigkeit der Rollen inszenierte. Diese Gleichzeitigkeit begründet die Überblendung von Person und Autor: Die Person wird als Strukturelement des Werks eingesetzt, das private Dasein wird literarisiert.49 Wenn man diesen Befund als grundlegend für die in Planung befindliche Werkausgabe betrachtet, dann bedeutet dies: Jedes Papier im Uwe Johnson-Archiv sagt etwas über das Werk aus. Und jedes Papier im Uwe Johnson-Archiv sagt auch etwas über die Person aus. Das Medium Buch gestattet es allerdings nicht, diesen Zusammenhang editorisch angemessen umzusetzen. Im digitalen Medium dagegen ist das eine naheliegende Lösung. Digital lassen sich alle Papiere vollständig edieren. Mit ihrer Aufnahme in den digitalen Bestand der Edition wird die Zuordnung zu Werk oder Nicht-Werk hinfällig.50 Welcher Text welchen anderen Text desselben Autors kommentiert, richtet sich nach der Oberfläche, die der Nutzer generiert. Welche Texte sichtbar werden, kann etwa über ein thematisches Schlagwort reguliert werden – das könnte Leben und Werk sein oder auch Selbstbildnisse, Lebenslauf oder poetologische Dokumente. Über weitere Suchbegriffe lässt sich der so gewonnene Textvorrat ordnen (etwa nach Datum der Niederschrift). Dann genügt ein Klick, um zu sehen, welche weiteren Verästelungen oder Ordnungskriterien das Angebot an weiteren Schlagworten bereithält. Die Generation Buch druckt das Ergebnis möglicherweise aus. Sie besitzt dann im beschriebenen Fall einen Stapel Papier, der niemals als Band in einer Werkausgabe erscheinen würde. In denkbaren Bänden wäre allenfalls aus den Verweisen über mehrere Abteilungen hinweg der Bestand an Archivalien zu rekonstruieren gewesen, der der Zusammenstellung zugrunde liegt. Aber die komplette Wiedergabe der relevanten Texte wäre durch Kategorisierungen verschiedener Art verhindert worden: Eben jene Kategorien, die auf Entscheidungen über Werkzugehörigkeit und Autorenstatus hinauslaufen. Was bedeutet das für diese Kategorien? Und was bedeutet das für digitale Ausgaben? – Angesichts des Materialbergs und der Aufgabe, eine Ausgabe in zwei Formen zu gestalten, wären vorschnelle Antworten kontraproduktiv. Stattdessen vier Thesen:
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Der Befund führt zu weiteren Fragen, die vorerst in den Bereich der ‚traditionellen Biographie‘ verwiesen werden, aber deshalb nicht weniger dringlich sind: Dass Johnsons Leben durch die angesprochene Inszenierung von Autorschaft Werkcharakter gewann, dürfte nicht von der Hand zu weisen sein. Noch offen ist die Frage, inwiefern es ihm auf diese Weise gelang, zentrale Bereiche seines Privatlebens vor der Öffentlichkeit zu schützen. 50 Es bleibt immer noch ein Rest, den ich als digitales Archiv, das außerhalb der digitalen Ausgabe existiert, schon angesprochen habe.
Person unter Papieren
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1. Angesichts des Umfangs des Materials, das in Büchern und in einer digitalen Präsentation sichtbar gemacht werden soll, ist die Funktion des Autors pragmatisch dicht am juristischen Alltagsverständnis anzusiedeln. Uwe Johnson ist der Urheber, er hat all das geschrieben und gesagt. Sein Name wird auf den Büchern stehen und der entscheidende Suchbegriff im Netz sein. Aus einem solchen Autorenverständnis resultiert ein weiter Werkbegriff. Er entspricht den Möglichkeiten des neuen Mediums. 2. Der weite Werkbegriff gefährdet die literarische Geltung der Texte nicht. Ihre Wiedergabe als digitales Faksimile rückt den Autor dicht an die Person. Das Original als hochwertige digitale Reproduktion beglaubigt den Kunstcharakter des Werks. 3. Die Ausweitung der Autoren-Kategorie entspricht dem generellen Umgang mit der Person im Medium Internet. Im Ergebnis der Häufung von virtuellen Beglaubigungen tritt ein spielerischer Umgang mit Identitäten und Selbstbildern auf. Die Person wird vervielfacht, ohne dass ihre Identität dadurch gefährdet wird. Das Angebot an digitalisierten Quellen und die Themenkonstanz im Werk unterstützen solche Effekte, indem sie jeweils auf ein und dieselbe Person verweisen. 4. Da traditionelle kategorielle Zuordnungen, die den Werkcharakter anzeigen, fragwürdig werden, wird der Editor als Vertreter des Urhebers entlastet. In der digitalen Form beruht die Rekonstruktion des Gemeinten zuerst einmal auf der Lesbarmachung des Archivs. Ist dieser Schritt getan, haben die Leser einen erheblichen Anteil an der Konstitution des Werks.
Literaturverzeichnis Brecht, Bertolt: Notizbücher. Bd. 1: Notizbücher 1 bis 3 (1918–1920). Berlin 2012. – Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht. Berlin u. a. 2000. Eibl, Karl: Der ‚Autor‘ als biologische Disposition. In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999. Fahlke, Eberhard: Porträts und Erinnerungen. Uwe Johnson. Frankfurt/M. 1988. – „Erinnerung umgesetzt in Wissen“. Spurensuche im Uwe Johnson-Archiv. In: Siegfried Unseld / Eberhard Fahlke (Hg.): Uwe Johnson: „Für wenn ich tot bin“. Frankfurt/M. ³1992 (1991) (Schriften des Uwe-Johnson-Archivs 1). – Nachwort. In: Uwe Johnson: Inselgeschichten. Hg. von Eberhard Fahlke. Frankfurt/M. 1995. Gillett, Robert: Uwe Johnson und Life Writing. Ein Vorschlag. In: Johnson-Jahrbuch 17. Göttingen 2011. Grésillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft, 4). Helbig, Holger: Who am I now? Zur Inszenierung von Autorschaft in Uwe Johnsons Dead Author’s Identity in Doubt; Publishers Defiant. In: Johnson-Jahrbuch 17. Göttingen 2011. Horn, Sebastian: Ich und Andere über mich. Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Biografie. In: Johnson-Jahrbuch 17. Göttingen 2011. Johnson, Uwe: Einer meiner Lehrer. In: Walter Jens / Fritz J. Raddatz (Hg.): Hans Mayer zum 60. Geburtstag. Eine Festschrift. Reinbek bei Hamburg 1967. – Vita. In: Reinhard Baumgart (Hg.): Über Uwe Johnson. Frankfurt/M. 1970.
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– Eine Reise nach Klagenfurt. Frankfurt/M. 1974. – Das erste Lese-Erlebnis ist das hundertste Buch … In: Siegfried Unseld (Hg.): Erste Lese-Erlebnisse. Frankfurt/M. 1975. – Ich über mich. In: Die Zeit, 04.11.1976, S. 46. – Berliner Stadtbahn (veraltet). In: Ders.: Berliner Sachen. Frankfurt/M. 1975. – Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M. 1980. – Rede zur Verleihung des Büchner-Preises. In: Büchner-Preis-Reden 1951–1971. Stuttgart 1981. – Ich über mich. In: Rainer Gerlach / Matthias Richter (Hg.): Uwe Johnson. Frankfurt/M. 1984. – Dead Author’s Identity in Doubt; Publishers Defiant. In: Heinz Kramberg (Hg.): Vorletzte Worte. Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf. Frankfurt/M. 1985. – Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Bd. 1–4. Frankfurt/M. 1988. – Thema 3. Welche literarischen Fragen wurden auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress im Januar 1965 in Berlin behandelt? In: Bernd Neumann (Hg.): „Entwöhnung von einem Arbeitsplatz“. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt/M. 1992 (Schriften des Uwe-Johnson-Archivs 3). – Handschriftliche „Begründung für die Wahl der Fachrichtung und des Berufes“ aus dem Aufnahmeantrag 1952 für die Universität Rostock. In: Eberhard Fahlke (Hg.): „Die Katze Erinnerung“. Uwe Johnson – Eine Chronik in Briefen und Bildern. Frankfurt/M. 1994. – Darstellung meiner Entwicklung. Faksimile und Transkription. In: Johnson-Jahrbuch 4. Göttingen 1997. – Uwe Johnson an Hans Magnus Enzensberger, Berlin-Friedenau, 19. März 1964. In: Hans Magnus Enzensberger / Uwe Johnson: „fuer Zwecke der brutalen Verstaendigung“. Der Briefwechsel. Hg. von Henning Marmulla und Claus Kröger. Frankfurt/M. 2009. Leuchtenberger, Katja: Uwe Johnson. Leben, Werk, Wirkung. Berlin 2010. Sahle, Patrick: Digitale Edition (Historischer Quellen) – Einige Thesen. Köln 1997. http://www. uni-koeln.de/~ahz26/dateien/thesen.htm/ (abgerufen am 20.7.2015). Thomé, Horst: Werk. In: Jan-Dirk Müller / Georg Braungart (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin 2003.
Jörgen Schäfer
Wie man Pop-Literatur ediert Textgenese, Überlieferung und Edition von Tristesse Royale
1. „Aus dem Zitat dieser Zitate entsteht die Kultur um uns herum“: Pop-Literatur und die ‚Dunkelheiten‘ der Gegenwartskultur In den Jahren um die Jahrtausendwende, als der Publizist Diedrich Diederichsen klagte, ‚Pop‘ drohe zu einem „zeitdiagnostischen Dummy-Term“1 zu verkommen, verbreitete sich auch im deutschen Literaturbetrieb die Rede von einer ‚Pop-Literatur‘. Der Begriff diente im Verlagsmarketing, aber auch in Literaturkritik und Literaturwissenschaft als Sammelbezeichnung für die Texte einer jüngeren Autorengeneration, deren Texte ein affirmatives Verhältnis zur populären Kultur offenbarten. Als eines der wichtigsten Bücher, das diesen einige Jahre währenden Trend bis heute repräsentiert, galt rasch Tristesse Royale, ein im Herbst 1999 in einer billigen Taschenbuchausgabe im Ullstein Verlag erschienenes Werk, das die Konversation eines eigens zu diesem Anlass formierten „popkulturellen Quintetts“ dokumentiert.2 Dieses Quintett war am Wochenende von Freitag, dem 23. April, bis Sonntag, dem 25. April 1999, auf Initiative des seinerzeit als Gastrokolumnist für die Berliner Boulevardzeitung B.Z. tätigen Journalisten und Schriftstellers Joachim Bessing in der Executive Lounge des Berliner Hotel Adlon zusammengekommen. Der Gruppe gehörten neben Bessing noch vier weitere im Grenzbereich von Literatur, (Boulevard-)Journalismus und Show-Business aktive Autoren an: Christian Kracht, seit dem großen Erfolg seines Debütromans Faserland (1995) einer der erfolgreichsten deutschen ‚Jungautoren‘, hatte zuvor für das Lifestyle-Magazin Tempo, den Spiegel und die Welt am Sonntag geschrieben; seit 1998 arbeitete auch er für die B.Z. Eckhart Nickel war zum Zeitpunkt der Adlon-Gespräche Chefredakteur des Studentenmagazins Academix und offenbar auf Vermittlung seines langjährigen Freundes Kracht ins Adlon geladen worden; Kracht und Nickel hatten im Jahr zuvor gemeinsam die Reiseberichte Ferien für immer (1998) veröffentlicht. Alexander von Schönburg, als jüngerer Bruder Gloria von Thurn und Taxis’ selbst ein Mitglied des internationalen Jetsets, arbeitete
1 2
Diedrich Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln 1999, S. 274. Joachim Bessing: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin 1999 (im Folgenden abgekürzt: D, Seitenzahl; zu den verwendeten Siglen vgl. Anmerkung 15). Die Bezeichnung „popkulturelles Quintett“, die in Anlehnung an Marcel Reich-Ranickis damals populäre Fernsehsendung Das Literarische Quartett gewählt worden ist, verwendet Bessing bereits in seinem vermutlich im Februar 1999 entstandenen Konzeptpapier (EV2, S. 1).
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als Gesellschaftsreporter für die B.Z.; wenig später wurde er von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für deren Berliner Seiten angeheuert. Einzig Benjamin von Stuckrad-Barre gehörte nicht zu diesem etablierten Freundes- und Kollegenkreis; ihn hatte Bessing erst auf der Frankfurter Buchmesse 1998 kennengelernt und kurzerhand zu dem Projekt eingeladen. Damit sicherte er sich die Beteiligung eines ‚Shooting-Stars‘ des damaligen Literaturbetriebs. Obgleich Stuckrad-Barre mit gerade einmal 24 Jahren das jüngste Mitglied des Quintetts war, hatte er sich bereits als besonders versiert im Umgang mit den Mechanismen des Literaturbetriebs wie auch der Unterhaltungsindustrie erwiesen: Er arbeitete als Gag-Schreiber für die Harald Schmidt Show, schrieb Kolumnen und journalistische Texte für diverse Zeitungen und Zeitschriften (u. a. taz, Rolling Stone), die dann gesammelt als Buch erschienen (Remix, 1999), verfasste Bestseller (Soloalbum, 1998; Livealbum, 1999) und veröffentlichte Hörbücher (Soloalbum, 1998; Liverecordings, 1999). Warum aber wurde Tristesse Royale als Produkt eines ‚popkulturellen Quintetts‘ lanciert? Worin bestehen überhaupt die Verbindungen zwischen Pop und Literatur, und was folgt daraus für die Produktion, Distribution und Rezeption popliterarischer Texte?3 Und schließlich: Welche Konsequenzen hat es für die philologische Forschungsund Editionspraxis, wenn sie sich mit Werken der Gegenwartsliteratur auseinandersetzt? Unter den Beteiligten an Tristesse Royale bestand keineswegs ein Konsens über die Tauglichkeit des Pop-Etiketts für die Charakterisierung ihres gemeinsamen Projekts. Als er in einem Interview, das er gemeinsam mit Benjamin von Stuckrad-Barre im September 1999 der Wochenzeitung Die Zeit gab, auf die Einschätzung als ‚Popliterat‘ angesprochen wurde, antwortete Christian Kracht betont wortkarg: „Ich hab keine Ahnung, was das sein soll: Popliteratur.“4 Stuckrad-Barre sprang ihm zwar bei, wenn er betonte, dieses Etikett werde im Feuilleton lediglich verwendet, um „Popliteratur als Behindertenparkplatz der Literatur“ zu denunzieren: „Niemand, der ein ernstzunehmendes Verhältnis zu Pop hat, würde dieses nichtssagende Wort gebrauchen.“5 Gleichwohl stellte er sein eigenes Schreiben ausdrücklich in einen Pop-Kontext – allerdings in einer feinsinnigen Differenzierung nicht als ‚Pop-Literatur‘, sondern als „Literatur-Pop“: „Ich benutze die ästhetischen Mittel des Pop, Pop ist Referenzrahmen und stilbildendes Subthema, und das wiederum ist ein Abbild der Realität von Kultur hierzulande. Von Politik, von Fernsehen, Werbung, Sprache. Also muss es sich niederschlagen in zeitgenössischer Literatur.“6 Diese Auto(r)reflexion weist eine signifikante Ähnlichkeit mit theoretischen Überlegungen auf, die in den Jahren um 2000 auch in der germanistischen Literaturwissen-
3
Vgl. dazu Jörgen Schäfer: „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit“. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In: Text+Kritik X/2003 (Sonderband Pop-Literatur, hg. von Heinz Ludwig Arnold und Jörgen Schäfer), S. 7–25. 4 Anne Philippi / Rainer Schmidt: „Wir tragen Größe 46“ [Interview mit Christian Kracht und Benjamin v. Stuckrad-Barre]. In: Die Zeit, 09.09.1999. 5 Philippi / Schmidt (Anm. 4). 6 Philippi / Schmidt (Anm. 4).
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schaft zum Verhältnis von Populärkultur und Literatur angestellt worden sind.7 Als besonders einflussreich erwies sich die Monografie Der deutsche Pop-Roman (2002) von Moritz Baßler, der das Besondere an den Texten der „neuen Archivisten“ wie Stuckrad-Barre, Kracht und anderen darin sah, dass sie die Realien der Gegenwartskultur katalogisierten und archivierten.8 Für wenige Texte trifft dies in solch hohem Maße zu wie für Tristesse Royale: In den Adlon-Gesprächen, die den Anspruch erhoben, zur Jahrtausendwende das „Sittenbild unserer Generation modelliert zu haben“ (D, S. 11), werden viele Markenprodukte und Statussymbole, Popsongs und Videoclips, Werbespots und Filme, Boulevard-Geschichten und Szene-Anekdoten thematisiert, die heute, nach gerade einmal eineinhalb Jahrzehnten, vielfach bereits in Vergessenheit geraten und daher in hohem Maße erklärungsbedürftig geworden sind. Die Popkultur ist konstitutiv gegenwartsfixiert und droht unverständlich zu werden, wenn die jeweils populären Bands, Brands und Moden durch andere abgelöst werden, wenn eine neue Generation sich ihre je eigene Popkultur mit den je eigenen Signifizierungskontexten erarbeitet hat. Dies hat die Gegenwartsliteraturforschung schon frühzeitig erkannt und die Kommentierung dieser Art von Literatur angemahnt. Baßler bezeichnet die Pop-Literatur der späten 1990er Jahre als eine „Literatur der zweiten Worte“, welche die zeitgenössischen diskursiven Zusammenhänge und Vorstellungskomplexe in literarischen Texten verwende: „Der literarische Thesaurus […] wird dabei radikal auf die Waren- und Medienwelt des 21. Jahrhunderts hin geöffnet.“9 Diese Literatur zeichne sich vor allem dadurch aus, dass sie „in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur [archiviert], mit einer Intensität, einer Sammelwut, wie sie im Medium der Literatur in den Jahrzehnten zuvor unbekannt war.“10 Die philologische Erschließung eines Werkes der ‚Neuen deutschen Pop-Literatur‘ betritt damit einerseits Neuland: Sie konstatiert das rasche Altern der Popkultur und zieht daraus den Schluss, dass sich bereits ein Text der jüngeren Gegenwartsliteratur nach wenigen Jahren nur noch mithilfe eines fundierten Stellenkommentars erschließen lässt. Welcher Leser etwa vermag heute noch die im Kapitel „Die englischen Verhältnisse“ diskutierten jugendkulturellen Grenzziehungen im Cool Britannia der 1990er
7
Den Anfang hatte meine eigene Studie gemacht, die sich am Beispiel der Pop-Texte von Rolf Dieter Brinkmann vorwiegend mit der ersten ‚Welle‘ der deutschen Pop-Literatur in den späten 1960er Jahren befasst: Jörgen Schäfer: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Eckhard Schumacher erweiterte diese Perspektive auch auf Texte der 1980er und 1990er Jahre (Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M. 2003). Außerdem erschienen innerhalb weniger Jahre mehrere Überblicksdarstellungen und Sammelbände, vor allem: Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2001; Thomas Ernst: Popliteratur. Hamburg 2001; Heinz Ludwig Arnold / Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur (Text+Kritik Sonderband). München 2003; Dirk Frank (Hg.): Popliteratur. Stuttgart 2003; Sascha Seiler: „Das einfache wahre Abschreiben der Welt“. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006; Enno Stahl: Popliteraturgeschichte(n). Düsseldorf 2007. 8 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002. 9 Baßler (Anm. 8), S. 184. 10 Baßler (Anm. 8), S. 184.
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Jahre nachzuvollziehen (D, S. 115–116)? Wem sind noch die Einzelheiten des ‚Re-Modeling‘ von U2, den Scorpions, Cher oder Robbie Williams geläufig (D, S. 126–132)? Wer erinnert sich noch an die Boulevardposse um die Hollywood-Ambitionen der Tagesschau-Sprecherin Susan Stahnke (D, S. 18)? Die Textstrategie des Sammelns und Archivierens alltagskultureller Phänomene wird somit zu einer hermeneutischen Herausforderung, mit der man gewöhnlich nur bei der Lektüre älterer Texte konfrontiert wird. Andererseits handelt es sich dabei aber um Probleme, auf die jede Form einer philologischen Erhellung von Unverständlichkeiten seit jeher reagieren muss. Die von Manfred Fuhrmann vorgeschlagenen Begriffe der ‚primären‘ und der ‚sekundären Dunkelheit‘, mit denen er zwischen den Verständnisproblemen eines zeitgenössischen Lesepublikums und den erst mit einem größeren zeitlichen Abstand zur Erstpublikation auftretenden Unklarheiten differenziert,11 bieten daher nach wie vor eine Richtschnur für die Lemmaselektion – mit dem Unterschied, dass die sekundäre ‚Verdunkelung‘ sich in der Popkultur im Zeitraffer vollzieht. In methodischer Hinsicht kommt der Philologie der Gegenwartsliteratur die medientechnische Entwicklung zupass: Eine kommentierte Studienausgabe von Tristesse Royale kann sich die besonderen Möglichkeiten computerbasierter und vernetzter Medien zunutze machen. Um die spezifischen popkulturellen Dunkelheiten aufzuklären, die sich nicht mehr vorrangig auf schriftliche Überlieferungen beziehen, können dadurch neben Sacherläuterungen auch Audio-, Foto- und Videoquellen im Kommentar verfügbar gemacht werden (vgl. Abschnitt 3.1).
2. „Fünf Autoren erzählen“: Textgenese und Überlieferung von Tristesse Royale Für die germanistische Forschung ist Tristesse Royale noch aus einem anderen Grund ein interessanter Gegenstand. Lange herrschte eine gewisse Unsicherheit über die Entstehungsgeschichte dieses Textes. Dass das Treffen im Hotel Adlon tatsächlich stattgefunden hat und es sich bei dem edierten Text um ein über weite Strecken authentisches Protokoll handelt – und eben nicht um einen literarischen Dramentext, in dem die Äußerungen der mit Klarnamen bezeichneten Figuren kollaborativ oder gar nur von Bessing verfasst worden sind –, lässt sich mit letzter Sicherheit erst belegen, seit der Forschung die Tonbandaufzeichnungen der Gespräche zur Verfügung stehen. In dem DFG-Projekt Die Adlon-Tapes: Zur Textgenese von ‚Tristesse Royale‘ konnten diese ungewöhnlichen Textzeugen von einem Forscherteam unter der Leitung von Jörg Döring erstmals ausgewertet werden.12
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Vgl. Manfred Fuhrmann: Kommentierte Klassiker? Über die Erklärungsbedürftigkeit der klassischen deutschen Literatur. In: Gottfried Honnefelder (Hg.): Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker. Frankfurt/M. 1985, S. 37–57. 12 Eine ausführliche Darstellung der Entstehung von Tristesse Royale wird in Kürze vorgelegt in Jörg Döring: Die Adlon-Tapes. Wie Tristesse Royale entstand: Zeitliteraturforschung. Berlin [erscheint 2016]. Vgl. außerdem Jörg Döring: „Der Schreibtisch im Nachtleben“. Bohème um 2000 in Tristesse Royale. In:
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Über den konkreten Einzelfall der Adlon-Tapes hinaus wirft dieses Material die Frage auf, wie sich Textgenese und Überlieferung dokumentieren lassen, wenn nicht-biblio nome Medien eine zentrale Funktion als Vorstufen eines literarischen Textes übernehmen. Für die Editionsphilologie stellt dies eine drängende Herausforderung dar, denn es gerät eine Textproduktionsweise in den Blick, die sich nicht als kreatives Handeln einer Einzelperson beschreiben lässt, das sich in Handschriften bzw. Typoskripten und (möglicherweise voneinander abweichenden) Druckfassungen niederschlägt. Vielmehr lässt sich die Textgenese von Tristesse Royale als kollaboratives audioliterales Schreiben darstellen: Zunächst wurden (thematisch vorstrukturierte) Gespräche mit technischen Apparaturen aufgenommen und gespeichert, dann wurden diese Aufnahmen transkribiert und anschließend redaktionell bearbeitet. Es handelt sich somit um die skripturale Inszenierung eines akustischen Textes, in deren Zuge die typografische Gestalt des Textes nachträglich aus einem akustischen Präskript erzeugt worden ist.13 2.1 Textüberlieferung und Stemma Zwar sind durch Textverluste einige Überlieferungslücken entstanden, die Typoskripte sind nur zum Teil überliefert.14 Im Druck ist bislang lediglich eine Ausgabe erschienen (D), die in den Folgeauflagen unverändert geblieben ist. Neben den vorliegenden autorisierten Textzeugen lassen sich alle weiteren nicht überlieferten Textzeugen, die im Folgenden erwähnt werden, durch übereinstimmende Erinnerungen der beteiligten Personen textkritisch erschließen15:
Walburga Hülk / Nicole Pöppel / Georg Stanitzek (Hg.): Bohème nach 1968. Berlin 2015, S. 109–141; Jörg Döring: Paratext Tristesse Royale. In: Björn Weyand / Alexandra Tacke (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u. a. 2009, S. 178–198; Jörgen Schäfer / Jan Süselbeck: Nachdenken über Lady P. Von den Adlon-Tapes zu Tristesse Royale – Vorüberlegungen zu einer textgenetischen Teiledition. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 179 (2015), S. 108–133. 13 Dies kann hier nur sehr verkürzt angedeutet werden. Vgl. die ausführliche Darstellung in Schäfer / Süselbeck (Anm. 12). Dieser Ansatz basiert wiederum auf den grundsätzlichen Überlegungen zum ‚audioliteralen Schreiben‘ in Ludwig Jäger: Audioliteralität. Eine Skizze zur Transkriptivität des Hörbuchs. In: Natalie Binczek / Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch. München 2014, S. 231–253. Außerdem werden die Anregungen der critique génétique aufgegriffen, vgl. Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999. 14 Die Datenträger, auf denen die unterschiedlichen Transkriptions- und Bearbeitungsstufen ursprünglich gespeichert wurden, sind nicht erhalten. Aus den überlieferten Word-Dokumenten haben sich keine Metadaten extrahieren lassen, die verlässlichen Aufschluss über die genauen Entstehungs- und Bearbeitungszeitpunkte geben könnten. Vgl. zur grundsätzlich für die künftige Gegenwartsliteraturforschung unerlässlichen digitalen Quellenkunde den wegweisenden Aufsatz von Thorsten Ries: „die geräte klüger als ihre besitzer“: Philologische Durchblicke hinter die Schreibszene des Graphical User Interface. Überlegungen zur digitalen Quellenphilologie, mit einer textgenetischen Studie zu Michael Speiers ausfahrt st. nazaire. In: editio 24 (2010), S. 149–199. Zur Bedeutung der forensischen Informatik vgl. außerdem Matthew Kirschenbaum: Mechanisms. New Media and the Forensic Imagination. Cambridge, Mass. 2008. 15 Im Text und im Stemma werden die folgenden Siglen verwendet: D: autorisierte Drucke; DE: Digitale Edition; EV: Entwürfe und Varianten; P: Paralipomena; T: eigenhändige Typoskripte von Joachim Bessing; Tb: Tonband. Verschollene bzw. nicht erhaltene Dokumente stehen in eckigen Klammern.
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EV1 | EV2 | Tb1 [Tb2] | T1 | [T2] | T3 | D | DE Abb. 1 Stemma von Tristesse Royale EV1:
Kurzexposé „Platinum Egoïste“ sowie Anschreiben an Anne Enderlein, 30.10.1998. Typoskript, 4 S., auch: Word-Datei „Konzept Platinum Egoïste.doc“. Privatarchiv Joachim Bessing (im Folgenden: PAB). EV2: Konzept „Tristesse Royale“ (ca. Februar 1999). Typoskript, 6 S., auch: Word-Datei „Konzept Tristesse Royale.doc“. PAB. Tb1: Adlon-Tapes: 12 Tonbandkassetten; Tb1.1–1.11 aufgenommen vom 23.04.–25.04.1999 im Hotel Adlon, Tb1.12 aufgenommen am 30.4. / 01.05.1999 in einem Hotelzimmer in Phnom Penh (Kambodscha). PAB. [Tb1.1]: verschollen; Tb1.2: 1:35:02 h; Tb1.3: 1:35:17 h; Tb1.4: 1:35:08 h; Tb1.5: 0:57:06 h; Tb1.6: 1:30:41 h; [Tb1.7]: verschollen; Tb1.8: 1:30:41 h; Tb1.9: 1:35:12 h; Tb1.10: 1:35:04 h; Tb1.11: 1:35:24 h; Tb1.12: 0:59:31 h. [Tb2]: Aufnahme des Anrufbeantworters von Joachim Bessing, Textgrundlage für das „Vorwort“ (D, S. 9–11). Nicht erhalten. T1.1–18: 18 Typoskripte bzw. Word-Dateien. Älteste überlieferte Fassungen mit vorläufigen Kapitelnamen. PAB. T1.1: „Deckblatt.doc“; T1.2: „Widmung.doc“; T1.3: „Inhalt.doc“; T1.4: „Vorwort.doc“; T1.5: „Das Bild der Gesellschaft.doc“; T1.6: „Bilder der Gesellschaft II.doc“; T1.7: „Bilder der Gesellschaft I.doc“; T1.8: „Eclipse.doc“; T1.9: „Der Sinn des Lebens.doc“; T1.10: „Besuch beim Kulturchef. doc“; T1.11: „Blitzlicht.doc“; T1.12: „Im Spiegel der Medien IV.doc“; T1.13: „Unter den Linden.doc“; T1.14: „Im Spiegel der Medien III.doc“; T1.15: „Im Spiegel der Medien II.doc“; T1.16: „Im Spiegel der Medien.doc“; T1.17: „Die Spirale.doc“; T1.18: „Phnom Penh.doc“. T1.19–20: 2 Typoskripte bzw. Word-Dateien. PAB. T1.19: „Francis Coppola-Zitat für U4.doc“, nicht verwendet; T1.20: „Notizen zu TRISTESSE ROYALE.doc“, Vorstufe zu EV3. [T2]: „Tristesse Royale“. Typoskript. Erste vollständige Textfassung. 4 gebundene Exemplare („Das Goldene Buch“) wurden zur Korrektur an Kracht, Nickel, v. Schönburg und v. Stuckrad-Barre versandt. Verschollen. T3: „Tristesse Royale“. Typoskript, 146 S., auch: Word-Datei „TRISTESSE ROYALE.doc“. PAB. D: Joachim Bessing: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin: Ullstein Verlag 1999, 203 S. DE: Joachim Bessing: Tristesse Royale. Siegener Kommentierte Ausgabe. Hg. von Jörg Döring, Jörgen Schäfer und Jan Süselbeck. Digitale Edition: http://tristesse-royale.zimt.uni-siegen.de. EV3: „Tristesse Royale: Drama in 2 Akten“. Theaterfassung für Inszenierung am Jungen Theater Göttingen (Uraufführung: 26.1.2001). Typoskript, 112 S., auch: PDF-Datei „Tristesse Royale_Stück.pdf“. PAB. P1: Verlagsvertrag zwischen Joachim Bessing und dem Ullstein Verlag, 18.03.1999. 8 S. PAB. P2: Fax von Joachim Bessing an Kracht, Nickel, v. Schönburg und v. Stuckrad-Barre, 18.04.1999. 2 S. PAB
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2.2 Die audioliterale Textgenese von Tristesse Royale Die Vorgeschichte von Tristesse Royale begann im Herbst 1998: Die freie Lektorin Anne Enderlein war von Dorle Maravilla, der damaligen Programmleiterin des Ullstein Taschenbuchverlags, beauftragt worden, für eine neue Buchreihe ein Projekt mit Christian Kracht zu akquirieren. Offenbar lehnte Kracht dieses Ansinnen ab, verwies Enderlein aber an Joachim Bessing, der daraufhin zunächst ein dreiseitiges Exposé unter dem Arbeitstitel Platinum Egoïste ausarbeitete: eine „Betrachtung des Falschen. Eine niedergeschriebene Debatte über den Zerfall. Die Bestandsaufnahme fünf unterschiedlich denkender und arbeitender Autoren einer Generation, die sich nur in einem einig sind: ‚Uns eint der Schmerz über die Abwesenheit auch nur eines einzigen verläßlichen Wertes. [...]‘“ (EV1, S. 2).16 Schon in diesem ersten Entwurf, den er am 30. Oktober 1998 an Enderlein sandte, listete Bessing die späteren Diskussionsteilnehmer vollständig auf (EV1, S. 4) und skizzierte einige mögliche Gesprächsthemen („1. Was ist ein Statussymbol? Wie haben sich die Statussymbole gewandelt? [...] 2. Kokain mit geliehenem Geld kaufen. [...] 3. Ist die Lust am Falschen die Lust am Tod? [...] 4. Ist die Spirale schon überdreht? [...]“, EV1, S. 3). Vor allem aber deutete er bereits das geplante Produktionsverfahren an, wonach das mitgeschnittene Gespräch den Ausgangspunkt des Textes bilden sollte, das aber durch nachträgliche Hinzufügungen ergänzt werden müsste: Ich denke, daß sich zusätzlich zu diesen Kernfragen viele wertvolle und weiterführende Gedanken im Gespräch selbst ergeben werden. Um die Debatte offenzuhalten, sollte im Vorweg nicht mehr festgelegt werden. Ich glaube die Gesprächsteilnehmer und die Werke, für die sie stehen, sind schlüssige Garanten für eine äußerst ergiebige und kontroverse Diskussion. Darüber hinaus besteht die gute Möglichkeit, im Nachgang zum großen Gespräch eventuell entstandene Kooperationen im Briefwechsel zu vertiefen und die sich hieraus ergebenden Erkenntnisse in das Buch einfließen zu lassen. (EV1, S. 3)
In einem ausführlicheren Konzeptpapier, in dem das Projekt bereits unter dem Titel Tristesse Royale firmierte, entwarf Bessing – vermutlich im Februar 1999 – die Struktur des geplanten Buches und entwickelte die inhaltlichen Schwerpunkte, welche die Gespräche haben sollten. Interessanterweise kündigte er bereits einen „kommentierten Katalog der essentiellen Güter und Verhaltensweisen des modernen Menschen“ an und situierte das Projekt damit bereits im Kontext dessen, was Baßler wenig später als ‚neuen Archivismus‘ bezeichnete:
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Bessings erste Titelidee ließ sich nicht umsetzen, da der französische Parfümhersteller Chanel die Verwendung dieses Produktnamens nicht gestattete. In den nächsten Monaten wurden die weiteren Arbeitstitel Abendland, nachts und Modern Talking in Erwägung gezogen, ehe die Entscheidung für Tristesse Royale fiel (mündliche Mitteilung von Joachim Bessing an Jörg Döring, 18.03.2013). Vgl. auch Döring 2009 (Anm. 12), S. 180–183.
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Zum Inhalt Fünf Autoren erzählen, von ihrem Lebensgefühl ausgehend von der kulturellen und gesellschaftlichen Landschaft Deutschlands der Jahrtausendwende. Vorausschicken möchte ich, daß die genannten Autoren für eine gewisse Art zu denken und zu schreiben, ja die Welt zu sehen, stehen. Es kann also keine allgemeingültige Kulturkritik erwartet werden. Vielmehr möchte ich das hierbei entstehende Werk ein popkulturelles Quintett nennen. Mit der Einschränkung allerdings, daß es sich weniger um eine Diskussion über einzelne Personen und deren Belange handeln wird, sondern um die Suche nach Symptomen und Charakteren, die maßgeblich für das Lebensgefühl unserer Generation verantwortlich sind. So soll ein Dokument über die Populärkultur des ausgehenden Jahrtausends entstehen. Der Leser erhält damit zweierlei: Einen kommentierten Katalog der essentiellen Güter und Verhaltensweisen des modernen Menschen und eine Untersuchung unserer von den zuvor genannten Faktoren bewegten Gesellschaft. Von der Oberfläche, von Symptomen, Erlebnissen und Anekdoten ausgehend, ringt sich die Runde so zu philosophischen Fragestellungen durch. Die Niederschrift dieser Gespräche erscheint im Buch selbst redigiert und in Kapitel gegliedert, jeweils durch einleitende Sätze und Erläuterungen des Herausgebers ergänzt. Der Schwerpunkt soll bei den Gesprächen über Markenartikel, Genußmittel und Erzeugnissen [sic!] der Luxusindustrie liegen. Statussymbole zu besitzen, öffentlich zu konsumieren und die der Anderen einschätzen zu können, ist, so die nicht neue Behauptung der Runde, essentiell wichtig geworden, um in jegliche Gesellschaft aufgenommen zu werden. Neu ist allerdings, wie genau heute untersucht werden muß, um welche Statussymbole es sich aktuell handelt. (EV2, S. 1)
Diese konzeptionelle Skizze ergänzte Bessing mit einer Gliederung des geplanten Bandes, der aus drei Teilen bestehen sollte: „Das Bild der Gesellschaft“ (Teil 1), „Der Sinn des Lebens“ (Teil 2) und „Die Spirale“ (Teil 3). An dieser dreiteiligen Struktur hat Bessing über alle Bearbeitungsstufen hinweg bis zum edierten Text festgehalten. Lediglich der Titel des mittleren Abschnitts trägt in der Buchfassung den geänderten Titel „Im Spiegel der Medien“. Unterhalb dieser Gliederungsebenen ließ sich der geplante Aufbau nicht durchgängig realisieren: Der Verlauf der Gespräche führte dazu, dass entweder Themen, die Bessing vorgesehen hatte, gar nicht zur Sprache kamen oder die Diskussionen in einer unbefriedigenden Weise verliefen, so dass sie für den edierten Text nicht berücksichtigt wurden. Wenngleich sich einige spätere Arbeitsschritte nicht bis ins letzte Detail rekonstruieren lassen, so ist doch der zentrale Moment der Textgenese, die kollaborative ‚Sprechszene‘17 des sorgsam inszenierten dreitägigen Gesprächsmarathons in der Executive Lounge (sowie teilweise auch in Alexander von Schönburgs Suite) im Hotel Adlon, in der denkbar größten Präzision auf den Adlon-Tapes dokumentiert. Das Gesprächs
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Zum Konzept der ‚Sprechszene‘ vgl. Döring 2015 (Anm. 12), S. 119–127. Dörings Begriff basiert auf dem Konzept der ‚Schreibszene‘, die Rüdiger Campe als „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“ definiert hat. Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/M. 1991, S. 759–772; vgl. auch Martin Stingelin: ‚Schreiben‘. Einleitung. In: Martin Stingelin / Davide Giuriato / Sandro Zanetti (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 7–21.
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ereignis im Hotel Adlon wurde – nicht, wie im edierten Text behauptet, mit einer „Revox-Studiobandmaschine“ (D, S. 17), sondern mit einem einfachen Aufnahmegerät – auf elf Audio-Kassetten aufgenommen, von denen allerdings zwei – die Tapes 1 und 7 – aus ungeklärten Gründen nicht überliefert sind (Tb1).18 Zu dem Konvolut gehört außerdem eine weitere Kassette, die von Bessing und Kracht während ihres gemeinsamen Aufenthalts in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh besprochen worden ist (Tb1.12).19 Eine Woche vor der Zusammenkunft hatte Bessing seine Kollegen noch einmal per Fax beschworen, die geplanten Inhalte „bitte gründlich aus dem Euch vorliegenden Konzept („Fünf Autoren erzählen ...“)“ zu memorieren (P2, S. 1). Um die Diskussion in diesem Sinne zu strukturieren, hatte er überdies einige Materialien vorbereitet, die sich indirekt erschließen lassen: Es ist auf den Bändern zu hören, dass die Diskutanten gelegentlich auf einen „Leitfaden“ – offenbar das erwähnte Konzeptpapier EV2 – zurückgreifen, wenn das Gespräch ins Stocken gerät (Tb1.3, 1:33:08 h). Außerdem hatte Bessing in Zusammenarbeit mit der Grafikerin Judith Grubinger, seiner damaligen Lebensgefährtin (die auch den Umschlag von Tristesse Royale gestaltet hat), in einem Blindbuch eine umfangreiche Collage aus Zeitungsausschnitten, vor allem aus Spiegel-Ausgaben der 1980er Jahre, erstellt, die als „Ikonographie meiner Jugend, meines Aufwachsens“20 Gesprächsanlässe liefern sollte. Außerdem waren alle Gesprächs teilnehmer aufgefordert worden, Bücher oder Zeitschriften mitzubringen: Auf den Adlon-Tapes ist etwa zu hören, dass Nickel eine Diskussion über Mietwohnungen als ästhetisches Problem mit Zitaten aus Vom Geschmack (1910) und Die Mietwohnung. Eine Kulturfrage (1907) des österreichischen Dandys Richard Schaukal anregt (Tb1.3, 0:36:10 h) und Kracht bzw. Stuckrad-Barre mehrfach aus mitgebrachten Zeitschriften zitieren, z. B. aus dem Stern (Tb1.9, 0:00:38 h; vgl. D, S. 94–95), dem Magazin
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Bessing vermutet, dass die Kassetten bei einem seiner zahlreichen Umzüge verloren gegangen sind (mündliche Mitteilung von Joachim Bessing an Jörg Döring, 18.03.2013). Interessanterweise lassen sich durch diesen Verlust ausgerechnet zwei in der kritischen Auseinandersetzung mit Tristesse Royale prominente Stellen, die auf Äußerungen Alexander von Schönburgs zurückgehen, nicht belegen: In einer vielfach skandalisierten Passage vergleicht von Schönburg die als langweilig empfundene Gegenwart um 2000 mit der Situation vor dem Ersten Weltkrieg: „Wir befinden uns schon unser ganzes Leben in ständiger Metamorphose. Unsere einzige Rettung wäre eine Art Somme-Offensive. Unsere Langeweile bringt den Tod. [...] Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin, und wäre jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die ersten, die sich freiwillig meldeten“ (D, S. 137–138). Außerdem lässt sich auf den Adlon-Tapes die mehrere Druckseiten umfassende Schilderung einer Begegnung mit dem amerikanischen Popmusiker Prince und dessen Vater in der Münchener Diskothek P 1 und einem anschließenden Besuch auf dem Stammsitz der Familie Thurn und Taxis in Regensburg nicht belegen (D, S. 134–137). Einige der Anekdoten aus dieser Passage lassen sich allerdings anhand der Berichte in Boulevard-Zeitungen wie Bild und der Münchner Abendzeitung sowie Illustrierten wie Gala oder Bunte verifizieren. Vgl. dazu die Kommentare in der Siegener Kommentierten Ausgabe (in Vorbereitung). 19 Bessing und Kracht reisten gleich im Anschluss an das Adlon-Treffen nach Kambodscha. Die im edierten Text angegebene Datierung des dritten Teils auf die Tage „30. April bis 1. Mai 1999“ (D, S. 169) erscheint daher zutreffend. 20 Mündliche Mitteilung von Joachim Bessing an Jörg Döring, 18.03.2013.
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Léonce (Tb1.10, 1:02:57 h; D, S. 125) oder dem WOM-Journal (Tb1.10, 1:07:15 h; D, S. 127–128). Die Gespräche des ersten Tages der Zusammenkunft im Hotel Adlon sind auf den Kassetten 2 bis 6 dokumentiert (Tb1.2: 1:35:02 h; Tb1.3: 1:35:17 h; Tb1.4: 1:35:08 h; Tb1.5: 0:57:06 h; Tb1.6: bis 0:18:44 h). In diesem Zeitraum versuchten die Gesprächs teilnehmer vor allem über das Thema „Statussymbole“ zu sprechen. Bessing hatte vorgesehen, zunächst über „Die Geschichte der Statussymbole im Wandel der Zeiten“ zu reden, um dann eine Erörterung über „Status heute“ („Ungeheizt zur Untermiete wohnen und aus Dosen essen. Aber mit dem Taxi vor dem Club vorfahren und erstmal alle einladen.“) folgen zu lassen (EV2, S. 3). Allerdings erwiesen sich die Diskussionen, die überdies durch Bestellung und Konsum von Rauschmitteln unterbrochen und gestört wurden, als völlig unergiebig.21 Selbst der Versuch, über das Nachtleben und über Drogenerfahrungen ins Gespräch zu kommen, scheiterte, weil die Diskutanten vor lauter Anekdoten den Gesprächsfaden verloren (Tb1.4, ab 1:09:40 h; Tb1.5, passim; Tb1.6, bis 0:18:44 h). Nur eine einzige kurze Passage von Kassette 3 dieser stundenlangen Unterhaltungen, deren Transkription im edierten Text nur 27 Zeilen umfasst, fand Eingang in den edierten Text: Im Anschluss an eine expositorische Beschreibung im Kapitel „Check in to Another World“ erscheint die scheinbar belanglose Konversation über Hotels und deren Toiletten als unverbindliche Gesprächseröffnung (Tb1.3, 0:00:01–0:07:06 h; D, S. 17–18). Erst am zweiten und dritten Tag waren die Akteure wesentlich aufmerksamer und zielstrebiger. Es verwundert daher nicht, dass der edierte Text – mit Ausnahme der erwähnten Stelle – ausschließlich Redebeiträge dieser beiden Tage dokumentiert. Am zweiten Tag begannen die Gespräche äußerst konzentriert: Die Kapitel „Der Kreislauf des Geldes“ (Tb1.6, 0:18:54–0:42:00 h; D, S. 19–25) und „Ansturm auf das letzte Loch“ (Tb1.6, 0:42:00–1:00:45 h; D, S. 26–30) sind sehr getreuliche Protokolle der Diskussion. Die folgenden Kapitel „Der Sexytanz“ (Tb1.6, 1:08:45–1:14:06 h; D, S. 30–31) und „Knoten und Stricke“ (Tb1.6, 1:14:07–1:21:19; D, S. 31–32) dokumentieren ebenfalls den Wortlaut, sind jedoch gekürzt. Kassette 6 enthält noch den Beginn des Kapitels „Ennui“ (Tb1.6, 1:26:00–1:30:41 h), dann bricht die Aufnahme ab. Der Rest befindet sich vermutlich auf der verschollenen Kassette 7. Auch im weiteren Verlauf wurden die Gespräche konzentriert geführt und erwiesen sich beinahe durchgängig als verwertbar. Abgesehen von einigen anekdotischen Einschüben, die nachträglich gestrichen worden sind, gibt der edierte Text den Gesprächsverlauf nahezu vollständig wieder. Allerdings ist bei der späteren Transkriptions- und Redaktionsarbeit bisweilen die Reihenfolge verändert worden. Die weiteren Kapitel des edierten Textes lassen sich folgendermaßen auf die Adlon-Tapes des zweiten und dritten Tages zurückführen:
21
Wiederholt wird am ersten Tag an Bessing appelliert, das Gespräch stärker zu strukturieren, z. B.: „Joachim, du musst mal als Herausgeber diktatorisch werden, bitte Themen und so“ (Tb1.4, 0:17:27 h).
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Aufnahmen am 24. April 1999 (Tb1.8–1.10), Seitenzahlen und Kapitel in D: Tb1.8, 0:14:10–0:23:34 h; D, S. 85–88: „Die neue Mitte“ Tb1.8, 0:23:35–0:35:02 h; D, S. 88–92: „Der lederne Dorn“ Tb1.8, 0:35:03–0:44:42 h; D, S. 118–121: „Die Drei-Wetter-Taft-Welt“. Im edierten Text wird das kurze narrative Kapitel „Unter den Linden“ (D, S. 92–93) eingeschoben, das einen Spaziergang der Autoren schildert, bei dem sie zufällig Zeugen einer Demonstration gegen den Kosovokrieg wurden, die dann in den weiteren Gesprächen auch thematisiert worden ist. Tb1.8, 0:44:43–0:55:25 h; D, S. 121–124: „Die Mengenlehre“ Tb1.8, 0:56:26–1:12:23 h; D, S. 76–80: „Der alte Lappen“. Dieses Kapitel ist stark gekürzt worden: Insbesondere sind die Namen von anderen SchriftstellerInnen gestrichen worden, über die in dem Gespräch über Kultursubventionen teilweise sehr abfällig gesprochen wurde. Auch längere Gesprächspassagen über Homosexualität wurden nicht berücksichtigt. Tb1.8, 1:29:56–Tb1.9, 0:49:31 h; D, S. 93–110: „Der Flug der Steine“. Diese lange Sequenz enthält einige Passagen, die an anderen Stellen einmontiert worden sind. Tb1.9, 0:49:32–1:03:05 h; D, S. 110–112: „Der Fall der Mauer“. Diese Passage ist stark gekürzt, überdies wurde die Reihenfolge der Gesprächsbeiträge verändert. Die Gespräche versiegen, als der Welt-Journalist Thomas Delekat, der ins Adlon gekommen war, um über das Treffen zu berichten, in die Gespräche verwickelt wird. Zudem erscheint die Lektorin Dorle Maravilla, und der Fotograf Daniel Rosenthal macht Aufnahmen (Tb1.9, 1:03:06–1:35:34 h).
Der dritte Tag begann mit einem Gespräch über den vorangegangenen Abend, an dem sich die Gesprächsteilnehmer, gemeinsam mit Maravilla, Delekat und der Literaturagentin Karin Graf, zum Essen im Restaurant des Adlon getroffen hatten – und bei dem es offenbar zu diversen Auseinandersetzungen gekommen war (Tb1.10, bis 0:22:44 h).22 Im Anschluss wurden die Gespräche aber erneut zielstrebig fortgesetzt, bis die Aufnahme kurz vor der Abreise der Beteiligten abrupt abbricht: Aufnahmen am 25. April 1999 (Tb1.10–1.11), Seitenzahlen und Kapitel in D: Tb1.10, 0:22:45–0:58:35 h; D, S. 112–118: „Der Fußball“ und „Die englischen Verhältnisse“. Tb1.10, 1:02:57–1:35:04 h; D, S. 124–134: „Der gefasste Kieselstein“, „Re-Modeling“ und Teile von „Der Ritt auf der Schere“. Danach beginnt das Gespräch über Prince, dann bricht die Aufnahme ab. Der lange Abschnitt über Prince im edierten Text ist auf den Adlon-Tapes nicht überliefert. Auf Tb1.11 kann man allerdings hören, dass zuvor aufgenommene Inhalte versehentlich überspielt worden sind. Dies wird dadurch erhärtet, dass die Gespräche am Anfang von Kassette 11 nicht ans Ende von Kassette 10 anschließen. Es ist zu vermuten, dass die Prince-Passage durch diesen Lapsus verloren gegangen ist (vgl. Anmerkung 18). Tb1.11, 0:00:01–0:12:59 h; D, S. 155–159: „Erase and Rewind“ Tb1.11, 0:21:43–0:32:41, 0:34:57–0:41:50 h; D, S. 146–152: „Der rasierte Biber“ Tb1.11, 0:32:42–0:34:55 h; D, S. 81–82: „Music Sounds Better Without You“ Tb1.11, 0:44:34–0:52:00 h; D, S. 152–155: „Der Sturz der Blätter“ Tb1.11, 0:54:50–1:21:44 h; D, S. 138–146: „Der Rock“ Tb1.11, 1:21:45–1:35:22 h; D, S. 159–165: „Das reinigende Bad“.
22
Statt des vorgesehenen ‚Making-of‘-Berichts veröffentlichte Delekat wenige Tage später in der Wochenendausgabe der Welt anonym eine ‚Klatsch-Kolumne‘, welche die Ereignisse des Abends thematisiert: [Anonym]: Fünf Freunde und eine Agentin. In: Die Welt, 30.04.1999.
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Im Anschluss an das Treffen im Adlon reisten Bessing und Kracht gemeinsam nach Kambodscha. Der gesamte 3. Teil von Tristesse Royale besteht aus einem narrativen Bericht aus Phnom Penh sowie einem weiteren Gesprächsprotokoll. Allerdings lässt sich dieses Gespräch nicht mit den Adlon-Tapes belegen. Aus dem Konvolut hat sich lediglich eine Kassette erhalten (Tb1.12), die einen – offenbar unter Drogeneinfluss aufgenommenen – Dialog enthält. Diese gesamte Sequenz ist in der Druckfassung in einem einzigen Satz zusammengefasst: „Beide schauen etwas Zee-TV, den indischen Fernsehsender, reden unverständlichen Blödsinn und schlafen ein“ (D, S. 174). An die Sprechszene(n) der Adlon-Gespräche schloss sich eine verzögerte Schreibszene an: Bessing erstellte selektive Transkripte, indem er die ausgewählten Gesprächspassagen – in erstaunlichem Maße getreulich – in Schriftform brachte, wobei er aber Formen der konzeptionellen Mündlichkeit beibehalten hat.23 Im Zuge dieser ersten Bearbeitung integrierte Bessing einige zusätzliche Texte, welche die transkribierten Stellen ergänzen: Das „Vorwort“ (D, S. 9–11) geht auf ein weiteres, allerdings nicht erhaltenes Tondokument zurück ([Tb2]): Nach übereinstimmenden Aussagen von Bessing und Nickel handelt es sich um die nahezu wörtliche Transkription eines Anrufs, den Kracht und Nickel aus Heidelberg am 9. Juni 1999 auf Bessings Anrufbeantworter hinterlassen hatten.24 Zwei weitere Abschnitte, nämlich das Kapitel „Eclipse“ (D, S. 53–67) und der dritte Teil „Die Spirale“ (D, S. 167–189), entstanden in nachträglichen kollaborativen Schreibprozessen: „Eclipse“ wurde von Bessing und Nickel gemeinsam in Heidelberg verfasst, anschließend wurden kleinere Ergänzungen von Schönburgs einmontiert (T1.8). Ein kurzes Textstück, das von Schönburg unter dem Dateititel „Blitzlicht“ (T1.11) geschrieben hat, wurde nicht verwendet. „Die Spirale“ wurde von Bessing und Kracht in Hamburg mit verteilten Rollen geschrieben; erhalten ist nur das erste Kapitel dieses Teils („Phnom Penh“, T1.18).25 Dass Bessing die Autorschaft beanspruchte, war bereits im Vorfeld festgelegt worden. Während er sich in seinem Konzeptpapier noch als ‚Herausgeber‘ bezeichnet hatte, wurde in den von der Agentin Karin Graf geführten Vertragsverhandlungen ein anderes Arrangement festgeschrieben:26 Es wurde vereinbart, dass Bessing „allein berechtigt 23
Die weitere Textgenese, insbesondere in T1 und [T2], kann hier aus Platzgründen nicht im Detail dargestellt werden. Dies geschieht im Editorischen Bericht zur Siegener Kommentierten Ausgabe. 24 Übereinstimmende mündliche Mitteilungen von Joachim Bessing (18.03.2013) und Eckhart Nickel (03.11.2013). Die Datierung ist möglich, weil Nickel sich erinnert, sie hätten diesen Anruf getätigt, als ihn Kracht anlässlich des Endes der Studentenzeitschrift Academix in Heidelberg besucht habe. Am gleichen Tag hätten beide im Internet-Portal am pool eine Nachricht gepostet: „So sitzen wir nun in den letzten Tagen des Academix-Magazins in den ausgebombt erscheinenden Hallen der Redaktion des größten Studentenmagazins Deutschlands und hören Orbital. Nickel hat gekündigt, es waren drei große Ausgaben. Wir danken allen Menschen. // Christian Kracht & Eckhart Nickel Heidelberg, Deutschland – 10.06.99 at 17:27:53“ www.imloop.de/archiv/poolarc/pool01.htm (abgerufen am 28.07.2015)]. 25 Die Typoskripte sind nur in diesen Bearbeitungen T1.8, T1.11 und T1.18, nicht aber in den ursprünglichen Fassungen erhalten. 26 Der Verlagsvertrag mit der handschriftlich ergänzten Nummer „14091“ (P1) wurde am 18. März 1999 von der Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG aufgesetzt und am 30. März 1999 von Joachim Bessing unterzeichnet. Als Arbeitstitel ist „Egoisten“ abgegeben, was handschriftlich in „Tristesse Royal“ [sic!] verändert worden ist
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ist, über das Urheberrecht an seinem Werk zu verfügen“ (P1, § 1 Abs. 1); er allein erhält ein Autorenhonorar (§ 4 Abs. 2), einen Vorschuss (§ 4 Abs. 3), und nur ihm stehen die Anteile aus etwaigen Nebenrechten zu (§ 5). Die anderen Gesprächsteilnehmer erhielten lediglich eine einmalige Pauschale in Höhe von DM 1.000,– für ihre Teilnahme.27 Vom Typoskript T2 stellte Bessing mehrere in goldene Umschläge gebundene Ausdrucke her – im Jargon der Beteiligten: „Das Goldene Buch“ – und versandte sie per Post zur Korrektur und Überarbeitung an Kracht, Nickel, von Schönburg und von Stuckrad-Barre. Diese Exemplare sind nach heutigem Stand verschollen; die vier individuellen Korrekturschichten lassen sich daher bislang nicht rekonstruieren. Die Änderungen seien, so erinnert sich Bessing, per Telefon durchgegeben worden, damit er sie in das Typoskript T3 einarbeiten konnte. Vor allem habe er „stundenlange Telefongespräche“ mit Benjamin von Stuckrad-Barre geführt, der den Text als einziger im Detail bearbeitet hätte. Gleichwohl habe er dessen Änderungswünsche überwiegend nicht berücksichtigt.28 Nachdem diese Korrekturen abgeschlossen waren, erstellte Bessing die abschließende Textfassung T3, die er beim Verlag einreichte. Vor der Drucklegung wurden noch einige Passagen aus persönlichkeitsrechtlichen Erwägungen getilgt.29 Im Herbst 1999 erschien im Ullstein Verlag die Erstausgabe des Textes (D). Bis heute ist diese Textfassung in allen Folgeauflagen, die zunächst in der Reihe Ullstein Metropolis, ab der 3. Auflage seit 2005 dann als List-Taschenbuch erschienen sind, nicht verändert worden. Nicht einmal die zahlreichen Schreibfehler und Errata hat der Verlag korrigieren lassen. Neben den Vorstufen der Buchfassung hat sich auch das Typoskript EV3 der Theaterfassung erhalten, die Bessing für seine eigene Inszenierung am Jungen Theater in Göttingen (Uraufführung: 26.01.2001) erstellt hat. In dieser Fassung sind die Sprecherrollen des stark gekürzten Textes auf zwei Männer („Schnorchel“, „Duke of Earl“) und zwei Frauen („Barbara“, „Gilda“) verteilt, außerdem treten noch „Dorle Maravilla“, ein „Oberförster“ sowie zwei stumme Figuren – ein „schmetterlingsfangender Ostmensch“ und ein „Mensch im Giraffenkostüm – auf (EV3, S. 2). Die Handlung ist nicht im Hotel Adlon, sondern in einem Wald situiert.30
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Im Vertrag heißt es: „Der Verlag zahlt jedem Teilnehmer der Diskussionsrunde (inklusive Autor) eine einmalige Pauschale in Höhe von DM 1.000 zzgl. Mwst. als Honorar für das Gespräch, das die Grundlage des zu erstellenden Buches bildet. Damit sind für den Verlag alle urheberrechtlichen Forderungen der Diskussionsteilnehmer exklusive Autor abgegolten. Eventuelle weitere Absprachen gelten ausschließlich zwischen Autor und Diskussionsteilnehmer“ (P1, § 14 Abs. 2). Über diese einmalige Zahlung hinaus stand den Diskussionsteilnehmern eine weitere pauschale Gewinnbeteiligung in Höhe von DM 1.000,– pro Person für den Fall zu, dass mehr als 20.000 Exemplare des Buchs abgesetzt würden (P1, § 14 Abs. 2.1). 28 Mündliche Mitteilung von Joachim Bessing an Jörg Döring, 18.03.2013. 29 Schon im Verlagsvertrag waren persönlichkeitsrechtliche Schwierigkeiten antizipiert worden: In § 4 Abs. 1 wird dem Autor die Verpflichtung auferlegt, auf mögliche Probleme hinzuweisen. Im Gegenzug sichert der Verlag seine Unterstützung bei etwaigen Rechtsstreitigkeiten zu. Für einen Überblick über die Varianten vgl. den Editorischen Bericht der Siegener Kommentierten Ausgabe. 30 In den Text hat Bessing mehrere Zitate eingearbeitet: EV3, S. 41–42, 64, 103–104: Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen. In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Dritte Abteilung: Erzählende Schriften. Bd. 15.
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3. „It’s the world at your fingertips“: Editionsstrategien für die Gegenwartsliteraturforschung Bei der Neuedition von Tristesse Royale sind einige Besonderheiten zu bedenken: Es geht bei einem Werk, das erst wenige Jahre alt ist, nicht in erster Linie darum, einen bedrohten Bestand zu sichern oder verstreute Textzeugen aufzufinden und zu dokumentieren. Eine an den Kriterien für eine historisch-kritische Edition orientierte Ausgabe ist ohnehin nicht möglich, da sich die wichtigsten Textzeugen, die Adlon-Tapes, aus rechtlichen Gründen nicht vollständig veröffentlichen lassen. Das Augenmerk der editorischen Bemühungen um Tristesse Royale liegt daher auf zwei anderen Aspekten: Zum einen werden die eingangs diskutierten Dunkelheiten der Popkultur mit einer kommentierten Studienausgabe erhellt, die sich der besonderen Möglichkeiten computerbasierter und vernetzter Medien bedient (vgl. Abschnitt 3.1); zum anderen lassen sich am Beispiel von Tristesse Royale verallgemeinerbare methodische Überlegungen zu textgenetischen Editionen anstellen, die mit akustischen Textzeugen umgehen müssen (vgl. Abschnitt 3.2). 3.1 „Ein Dokument über die Populärkultur des ausgehenden Jahrtausends“: Die Siegener Kommentierte Ausgabe von Tristesse Royale – nebst Anmerkungen zu Möglichkeiten und Grenzen ‚digitaler‘ Editionen Sieht man von Detailfragen zu Darstellungsprinzipien ab, dann herrscht unter Editionsphilologen über die Funktionen einer Studienausgabe große Einigkeit: Sie soll einen Text präsentieren, der nach textkritischen Prinzipien konstituiert worden ist, insbesondere dann, wenn keine historisch-kritische Ausgabe vorliegt.31 Vor allem aber ist es ihre Aufgabe, durch texterschließende Kommentare „offenkundige punktuelle Verstehenswiderstände des Textes“32 zu überwinden. Weniger einig sind sich die Philologen gewöhnlich darüber, welche Informationen ein Kommentar enthalten sollte, zumal umstritten ist, wie er von einer Textinterpretation abzugrenzen ist. Für die Siegener Kommentierte Ausgabe von Tristesse Royale wurden vier Aspekte berücksichtigt: Erstens werden die primären und sekundären Dunkelheiten, welche die zahlreichen popkulturellen Referenzen der Jahre um 2000 inzwischen umgeben, durch Sacherläuterungen aufgeklärt. Zweitens werden Realien
Stuttgart 1978, S. 268–269, 309; EV3, S. 24ff.: Helmut Berger: Ich. Die Autobiographie. Berlin 1998, S. 189ff.; EV3, S. 66–67: Feridun Zaimoglu: Schlechtes Koks und falsche Karten. In: Focus, 18.12.1999; EV3, S. 67: Leserbriefe aus dem Spiegel; EV3, S. 71: Henryk M. Broder / Reinhard Mohr: Die faselnden Fünf. In: Der Spiegel, 06.12.1999, S. 264–265. 31 Vgl. z. B. die verbreiteten Einführungen von Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 2006 und Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991. 32 Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Wolfgang Frühwald / Herbert Kraft / Walter Müller-Seidel (Hg.): Probleme der Kommentierung. Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 33–74, hier S. 59–60.
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wie Popsongs, Film- und Fernsehausschnitte, Werbespots etc. – so weit als möglich – unmittelbar zugänglich gemacht. Drittens klärt der Stellenkommentar textkritische Fragen und gibt Aufschluss über die transkriptiven Bezüge des edierten Textes zu den Adlon-Tapes. Und viertens wird die Wirkungsgeschichte des Textes über die intertextuellen Bezüge zu anderen Texten der beteiligten Autoren bis in die unmittelbare Gegenwart verfolgt. Warum wird die Siegener Kommentierte Ausgabe als ‚digitale‘ Edition im World Wide Web veröffentlicht?33 Welchen spezifischen Gewinn verspricht eine solche Vorgehensweise? Aber auch: Welche Probleme handelt man sich dadurch ein? Roland Reuß hat zu Recht darauf beharrt, auch beim Einsatz computerbasierter Medien müsse gewährleistet sein, dass „die Philologie die Technik bestimmt, nicht umgekehrt“.34 Es geht bei der ‚digitalen‘ Edition von Tristesse Royale nicht darum, unbedingt am Trend zu den sog. Digital Humanities zu partizipieren. Vielmehr sind es in diesem Fall gerade philologische Prinzipien, die eine gezielte und problembewusste Nutzung computerbasierter Medien, Tools und Infrastrukturen nahelegen. Berücksichtigt man nämlich Reuß’ Prüfkriterien für die Legitimität einer Edition, dann zeigt sich, dass sich popkulturelle Dunkelheiten am ehesten auf eine sachadäquate Weise erhellen lassen, wenn der Rezipient über den Stellenkommentar einen direkten Zugang zu den Realien erhält. Auf diese Weise lässt sich der Wissenshorizont der Autoren rekonstruieren und zugleich für spätere Lesergenerationen veranschaulichen. Im Fall von Tristesse Royale erweitert und aktualisiert der Editor zudem jenen „kommentierten Katalog“, den Bessing selbst mit dem Projekt anvisiert hatte.35 Die Siegener Kommentierte Ausgabe gibt die Version D, sprich: den Text der Ull stein-Ausgabe, seiten- und zeilenidentisch wieder. Die kommentierungsbedürftigen Textstellen sind mit Hyperlinks versehen, die auf den Stellenkommentar verweisen. Dieser Kommentar erscheint in einer eigenen Spalte neben dem Text. Er folgt jedoch nicht der Textchronologie, sondern die Lemmata sind in alphabetischer Reihenfolge sortiert. Wird ein Link aktiviert, dann setzt sich die Kommentarspalte in Bewegung und platziert das entsprechende Lemma auf Höhe der Textstelle. Treten Namen oder Begriffe an mehreren Textstellen auf, verweist der Link möglichst auf ein einziges Lemma. Sofern es nicht sachgerecht ist, die Sachbezüge in einem einzigen Kommentar zu erläu-
33
Zur zumeist unreflektierten Verwendung des Attributs ‚digital‘ zur Bezeichnung computerbasierter bzw. programmierbarer und vernetzter Medien vgl. Jörgen Schäfer: Sprachzeichenprozesse. Überlegungen zur Codierung von Literatur in ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien. In: Jens Schröter / Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung. Bielefeld 2004, S. 143–168. 34 Roland Reuß: Die Editionsphilologie und das gedruckte Buch. Zur Problemlage der digitalen Edition im Spannungsfeld von Philologie, Ökonomie und technokratischen Anmaßungen. In: Text. Kritische Beiträge 12 (2008), S. 1–10, hier S. 1. 35 Reuß formuliert drei grundsätzliche Fragen: „Man kann die Frage nach dem Einfluß der Digitalisierung mit Blick auf die drei Fragerichtungen analysieren, die mit jeder Edition gegeben sind. Es gibt einen Referenzaspekt (wie sachadäquat verhält sich eine Edition zu der Überlieferung, die sie vermitteln soll?), einen Rezeptionsaspekt (für wen werden Editionen hergestellt?) und einen Produktionsaspekt (wie werden Editionen hergestellt?).“ (Reuß [Anm. 34], S. 1; meine Hervorhebungen, J.S.)
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Abb. 2 Screenshot der Siegener Kommentierten Ausgabe
tern, wird in ein Hauptlemma sowie weitere Nebenlemmata differenziert, die ebenfalls in der alphabetischen Reihenfolge einsortiert sind. Die alphabetische Sortierung bietet einen weiteren Vorteil: Der Stellenkommentar kann durch Scrollen auch unabhängig vom edierten Text als kommentierter Katalog rezipiert werden, und über eine Volltextsuche lässt er sich überdies gezielt durchsuchen. Jedes Lemma enthält zunächst die Emendation von etwaigen Schreib- oder Druckfehlern; insbesondere Personennamen werden in Tristesse Royale mehrfach falsch wiedergegeben. Darunter sind Audio-, Video- und Bildmaterialien platziert. Sofern sich der Kommentar auf einen im Text präzise benannten Song, Film, Videoclip o. ä. bezieht, wird dieser in einem sog. Inline-Frame in den Kommentar eingebettet und lässt sich in der Kommentarspalte abspielen. Handelt es sich hingegen um allgemeine Verweise, die im Kommentartext belegt werden, so sind externe Links integriert. Für das Musikstrea ming wird der derzeit am weitesten verbreitete Streaming-Dienst Spotify verwendet, der registrierten Nutzern den kostenfreien Zugang zu urheberrechtlich geschützter Musik ermöglicht. Auf diese Weise können Audiodateien rechtskonform genutzt werden. Für das Video-Streaming sind die Videoplattformen Youtube bzw. Vimeo eingebunden. Will man popkulturelle Realien im Kommentar zugänglich machen, ohne gegen urhe-
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berrechtliche Beschränkungen zu verstoßen, dann lässt es sich nicht vollständig vermeiden, auch solche proprietäre Software zu nutzen. Wo immer es möglich ist, wird auf Materialien zurückgegriffen, die unter Creative-Commons-Lizenzen nutzbar sind. In Fällen, in denen die Verwendung von urheberrechtsgeschützten Dokumenten erforderlich ist, wurden Genehmigungen eingeholt. Bei der Gestaltung und Programmierung wurde großer Wert darauf gelegt, dass die Interfaces – sowohl am Front-End als auch am Back-End – es ermöglichen, die Anwendung ohne spezielle Vorkenntnisse ‚intuitiv‘ zu nutzen. Daher wurde die plattformunabhängige und leicht bedienbare Weblog-Software WordPress als Content Management System verwendet. Als freie Software ist WordPress unter der GNU General Public License (GPLv2) lizenziert. Die große Verbreitung und die weltweite Entwicklergemeinschaft sichert die nachhaltige Verfügbarkeit und Aktualisierung der Software. Gleichwohl sind alle Nachhaltigkeitsversprechen bei Online-Editionen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Die mittel- und langfristige Datenpflege stellt ein nach wie vor weitgehend ungelöstes Problem dar: Allzu oft veraltet die Software, die Datenbestände werden nicht kontinuierlich und systematisch gepflegt, sodass vor allem Links und Einbettungscodes mit der Zeit nicht mehr funktionieren. Außerdem wandeln sich Gestaltungs- und Designkonventionen außergewöhnlich rasch; schon nach wenigen Jahren wirken Websites, als seien sie in grauen Vorzeiten gestaltet worden. Es gibt also gute Gründe, einem skeptischen Bonmot Jeff Rothenbergs zuzustimmen: „Digital information lasts forever, or five years – whichever comes first.“36 Unter den Verhältnissen der „permanenten Mutabilität“37 von Daten, die als unvermeidliches Resultat der beiden medienhistorischen Umbrüche Digitalisierung und Vernetzung auftritt, ist die Sicherstellung der Datenkonstanz zu einer Aufgabe geworden, die nur dann gelöst werden kann, wenn institutionelle Pflege- und Aktualisierungsvereinbarungen existieren. Für die Siegener Kommentierte Ausgabe ist dies durch die Kooperation mit dem Zentrum für Informations- und Medientechnologie (ZIMT) der Universität Siegen gewährleistet. Dort wird die erste Fassung in einem verlässlichen Repertorium gesichert, wobei die Audio- und Videodateien im MP3- bzw. MPEG-4Format in einem passwortgeschützten Bereich hinterlegt werden. Außerdem werden die Links regelmäßig geprüft und ggf. aktualisiert. Auf diese Weise wird den Erfordernissen der Langzeitarchivierung entsprochen. Bei allen Bedenken kann sich die permanente Mutabilität auch als vorteilhaft erweisen. Eine Online-Edition lässt sich jederzeit aktualisieren und deutet dadurch einen Ausweg aus einem Dilemma an, das manche Philologen zu einem generellen Vorbe-
36
Jeff Rothenberg: Ensuring the Longevity of Digital Documents. In: Scientific American 272 (1995), H. 1, S. 42–47. 37 „In der elektronischen Welt“, so Michel Chaouli, „ist der Augenblick des ‚Druckens‘, in dem ein bestimmter Datenzustand eingefroren wird, lediglich ein Punkt auf einer fortlaufenden Zeitachse; der Datenabruf bietet nicht mehr als eine Momentaufnahme des permanent wandelbaren Datenflusses.“ (Michel Chaouli: Was bedeutet: Online lesen? Über die Möglichkeit des Archivs im Cyberspace. In: Heinz Ludwig Arnold / Roberto Simanowski (Hg.): Digitale Literatur. München 2001, S. 65–74, hier S. 68).
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halt gegen Stellenkommentare veranlasst hat: Sie verstießen, so etwa Reuß’ pointierte Position, grundsätzlich gegen den „Charakter der Forschung“, da sie ein vermeintlich ‚gesichertes‘ aktuelles Wissen präsentierten, wohingegen es in der Forschung gerade darum gehe, diesen Wissensstand zu überschreiten: Soll der Kommentar der Forschung helfen, dann kann er aus diesem Wissen heraus gar nicht wollen, sein aktuelles Wissen sprachlich so festzuschreiben, daß die Widerreden und der Forschungsprozeß mit ihm zu einem Ende kommen, nicht einmal zu einem vorläufigen. Im Gegenteil, er müsste sich als Moment dieses Prozesses verstehen und Kontroversen und Diskussionen aufgreifen, gar provozieren wollen. Das vorletzte, nicht das letzte Wort wäre es, was er anstrebte.38
In diesem Sinne eröffnet ein sacherschließender digitaler Stellenkommentar dem Leser genau die Möglichkeiten, die Reuß so schmerzlich vermisst: „sich dem Gegenstand vorbehaltlos zu überlassen, der geregelten Spekulation jenen Spielraum zu eröffnen, in dem es einem vielleicht möglich wird, die immanenten Bezüge eines Textes zum Leuchten zu bringen.“39 3.2 Wie man Gespräche ediert: Erste Überlegungen zur genetischen Edition audioliteraler Texte Es läge nahe, nicht nur textkritische Ausführungen in den Stellenkommentar zu integrieren, sondern die einzigartigen akustischen Textzeugen der Adlon-Tapes für eine vollständige genetische Edition von Tristesse Royale zu nutzen. Diesem Vorhaben stehen jedoch juristische Hindernisse im Wege. Dabei handelt es sich nicht nur um urheberrechtliche Probleme, sondern vielmehr, wie erwähnt, um den Schutz von Persönlichkeitsrechten Dritter. Im Laufe der Adlon-Gespräche werden zahlreiche kompromittierende Anekdoten zum Besten gegeben, häufig wird abschätzig über Bekannte und Kollegen gesprochen, und bisweilen kommen auch strafrechtlich relevante Vorkommnisse zur Sprache. Gleichwohl lassen sich zumindest die vergleichsweise unverfänglichen Passagen für textgenetische Analysen nutzen. Die Funktion, welche die diplomatische Umschrift seit einigen Jahren für die Präsentation von Handschriften in Faksimile-Editionen übernommen hat, können dabei konversationsanalytische Transkriptionen übernehmen, die in der linguistischen Gesprächsforschung entwickelt worden sind. Im Rahmen unseres Siegener DFG-Projekts hat Katharina Knorr ein vollständiges Transkript der Gespräche im Hotel Adlon angefertigt, das den Konventionen des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems 2 (GAT 2) folgt.40 Ein solches Transkript lässt sich bei einer geneti-
38
Roland Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort. Anmerkungen zur Praxis des Kommentierens. In: Text. Kritische Beiträge 6 (2000), S. 1–14, hier S. 9–10. 39 Reuß (Anm. 38), S. 9. 40 Vgl. Margret Selting: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung. Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10 (2009), S. 353–402.
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schen Edition für synoptische Darstellungen verwenden, bei denen in der linken Spalte die Gesprächspassagen und in der rechten Spalte der edierte Text platziert werden. So wie etwa in der Faksimile-Edition der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe die topographische Anordnung der handschriftlichen Schreibspuren reproduziert wird, lässt sich nach konventionalisierten Notationsregeln die wortgetreue Wiedergabe einer Gruppendiskussion in literarischer Umschrift erzeugen. Neben den Redebeiträgen werden auch Formulierungskorrekturen, Interjektionen, Verzögerungssignale, Schweigephasen, Ein- und Ausatmungen, Lachen etc. berücksichtigt, und auch nonvokale Phänomene wie Umgebungsgeräusche oder nonverbale Handlungen lassen sich notieren. Überlappungen werden durch eckige Klammern markiert und ggf. durch hochgestellte Ziffern aufeinander bezogen. Pausen werden durch Sekundenangaben in runden Klammern belegt.41 Für den Einsatz dieser konversationsanalytischen Methode in der editionsphilologischen Arbeit empfiehlt es sich, ein sog. Minimaltranskript zu erstellen, das im Unterschied zum Basis- oder gar zum Feintranskript Konzessionen an schriftsprachliche Konventionen macht. Es ist an die Standardorthographie angelehnt und verzichtet bewusst auf die Notation prosodischer Informationen (z. B. Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Akzente, Rhythmen), um die bessere Lesbarkeit für Nicht-Linguisten zu ermöglichen. In der folgenden Segmentansicht enthält die erste Spalte eine präzise Zeitangabe, welche die genaue Stunden-, Minuten- und Sekundenzahl des Beginns einer Intonationsphrase anzeigt.42 Die zweite Spalte weist jeder Intonationsphrase eine fortlaufende Zeilennummer zu. In der dritten Spalte werden Siglen verwendet, um die Sprecher Joachim Bessing (JB), Christian Kracht (CK), Eckhart Nickel (EN), Alexander von Schönburg (AvS) und Benjamin von Stuckrad-Barre (BvSB) zu kennzeichnen. Die vierte Spalte enthält den transkribierten und segmentierten Wortlaut der Redebeiträge. Wenn mehrere Sprecher parallel sprechen, wird mit eckigen Klammern angegeben, wann die Überlappung einsetzt und wann sie endet. Auch Pausen werden angegeben. Dem Transkript ist in der fünften Spalte der edierte Text der Ausgabe D zugeordnet. Die äußere rechte Spalte gibt die Seitenzahl an (vgl. das Beispiel im Anhang). Wenngleich sich dieses Verfahren, wie erwähnt, im Fall von Tristesse Royale nur eingeschränkt verwenden lässt, so geraten doch methodische Ansätze in den Blick, welche für die künftige philologische Auseinandersetzung mit audioliteralen Texten in zweierlei Hinsicht von Bedeutung sein können: Zum einen ermöglicht es der Rückgriff auf konversationsanalytische Methoden und Werkzeuge, auch solche Textgenesen zu untersuchen, die nicht ausschließlich aus schriftlichen Dokumenten zu rekonstruieren sind. Zum anderen deuten sich aber auch die Konturen einer künftigen ‚digitalen Philologie‘ an, welche die Audiodateien selbst verfügbar macht. Auch in der linguistischen
41 42
Vgl. Arnulf Deppermann: Gespräche analysieren. Eine Einführung. Wiesbaden 2008, S. 39ff. Die Zeitangabe bezieht sich nicht auf das gesamte mehrtägige Gespräch, sondern auf den Zeitcode von Tb1.6.
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Gesprächsforschung wird an der Entwicklung verbesserter Tools gearbeitet, mit denen Tonspuren und Transkripte parallelisiert werden können. Für eine Editionsphilologie, die es vermehrt mit multimodalen Daten zu tun haben wird, sind dies vielversprechende Aussichten.
Anhang: In dem folgenden Beispiel wird ein Gesprächsausschnitt über die Selbstironisierung in der Hamburger Musikszene der 1990er Jahre (Tb1.6, 0:49:20–0:51:13 h) in Beziehung gesetzt zum transkribierten und edierten Text (D, S. 28–29). Es ist zu erkennen, dass Bessing an dieser Stelle nachträglich eine Aufzählung von Hamburger Szene-Protagonisten eingefügt hat.
EN
{49:24} {49:25} {49:27} {49:28} {49:28} {49:28} {49:29} {49:30} {49:30}
EN
{49:41} {49:44} {49:52} {49:53} {49:54} {49:55}
EN BvSB
JB
0018 0019 0020 0021 0022 0023
BvSB
{49:38} 0017
JB
{49:33} 0014 {49:35} 0015 {49:37} 0016
CK
EN CK
BvSB CK
JB EN JB
{49:22} 0002 {49:23} 0003 {49:23} 0004
0005 0006 0007 0008 0009 0010 0011 0012 0013
CK
{49:20} 0001
wir sind wieder bei dem hassenswerten begriff der selbstironie ja ja das ist wirklich [ich möcht das jetzt mal]1 festhalten und ich hoffe dass [alle zustimmen dass selbst]2ironie das [schlimmste ist]3 überhaupt [ist schlimm]1 [schlagerwahn]2 [oh ja]3 ja (husten) furchtbar mm (0.49) und das epizentrum dieses [eh phänome]ns ist der pudelclub in [hamburg] [ja] [ja] muss man leider [sagen] [ich] bin auch so dagegen der pudelclub ist das allerschlimmste ehm dort tritt dann [rocko]1 schamoni als fdpkreistags[abgeordneter auf und alle findens]2 lustig oder da legt jochen distelmeyer irgendwie reel two real auf und alle findens total super das ist das [grauen das abso]3lute grauen rocko [schamoni]1 [(genervtes stöhnen)]2 [das ist schlimm]3 (0.89) das ist wirklich [schlimm] [das ist aber] in hamburg wirklich findet [dieses in der pervertiertesten form]1 statt 2 3 [dieses] [durch] styles [sich]4 und wirklich überhaupt nicht mehr ehm ganz objektiv mal sagen dieser orangene pullunder sieht scheiße [aus und]5 [da sind schwitz]6flecken unter dem [synthetikhemd und bitte jetzt mal waschen sondern man sagt]7 fein [ehm]8 lasst uns doch eine schlechte BENJAMIN V. STUCKRAD-BARRE In Hamburg findet die Selbstironisierung aber auch in ihrer pervertiertesten Form statt: sich durch Styles zu brechen. Das objektive Urteil, daß ein orangebrauner Synthetikpullunder immer beschissen aussah und aussieht, in den Wind zu schlagen und sich dann mit einer zu engen Trainingsjacke und mit zu kurzen Cordhosen auf eine Hafentreppe zu setzen, schales Astra-Bier und Persico zu trinken, Schlagerplatten von
JOACHIM BESSING Der Pudel-Club ist das Allerverkommenste. Dort tritt Tobias Albrecht unter seinem Künstlernamen Rocko Schamoni auf und spielt einen Kreistagsabgeordneten der FDP. Alle finden das dort lustig. Es ist das Grauen.
CHRISTIAN KRACHT Das Epizentrum dieser verfluchten Selbstironie ist der Pudel-Club in Hamburg.
28
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0024 0025 0026 0027 0028 0029 0030 0031 0032 0033 0034 0035 0036
CK
BvSB
CK JB
CK JB
CK JB
EN CK
JB
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{50:32} 0040 {50:33} 0041
{50:36} 0042 {50:45} 0043
{50:55} 0044 {50:60} 0045 {51:00} 0046
{51:04} 0047 {51:08} 0048
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EN JB
JB
JB CK JB EN CK JB EN
{50:29} 0038
{50:24} 0037
{49:56} {49:58} {49:59} {49:59} {50:00} {50:07} {50:07} {50:09} {50:12} {50:12} {50:15} {50:16} {50:19}
deutschland immer noch viel [zu viel beachtete underground ist]2 [undeodoriert]1 [deren größter und innigster wunsch es ist auszuschauen]2 wie auf dem tocotroniccover ja natürlich (1.52)
schlagerplattte hören [der plattenspieler]9 wackelt [herzlichen glückwunsch wir]10 trinken persico weil wir dann kotzen müssen es ist so schlimm [ich musste die stadt deshalb verlassen]11 [ja ja]1 [ja das muss man mal sagen]2 [ja]2 [ja]3 [ja]4 [ja]5 6 [nein] 7 [ja und dass der kratzt] he [ja]8 [absolut]9 [wie schräg]10 11 [ich muss] ich sage selbst ich wohne sehr gern in hamburg ehm aber ich muss selbst sagen in ähm in der in der demuts und ekel und armutsstadt berlin [die ja eh die] gut für [jeden] [was ist persico] [dieser] rote schnaps den wir auch in [göttingen [schauen]1 mussten]2 [ah]1 [der wirklich]2 die wirklich sich nie für irgendeinen [scheiß also auch selbst] schweiß (unverständlich) tacheles zu schade war gibt inzwischen weniger siebziger jahre second hand läden als in hamburg in einer einzigen straße [ja ja] ja das ist wirklich so und du kannst dort immer noch ein und in einer in einer riesigen range von schlaghosen trevirahosen pepitahütchen schwelgen du kannst dir [adidas trainingsjacken in allen farben] kaufen und sie werden auch gekauft [(lachen)] mm und diese stinkenden schlecht angezogenen menschen ehm sind [leider]1 genau das was in hamburg der in
In diesem Moment betritt Alexander von Schönburg den Raum. 29 Er war schwimmen, danach zum Haarschnitt bei Gerhard Meir in dessen Salon LE COVP, der sich im Erdgeschoß des Hotels befindet.
JOACHIM BESSING Es ist ja auch ein trauriger Rekord, daß es in Hamburg in einer einzigen Straße mehr Secondhandläden gibt als in ganz Berlin zusammengenommen. Eine monströse Range aus Schlaghosen, Trevirahosen, Pepitahütchen und zu engen T-Shirts steht dort zum DarinSchwelgen bereit. Und die solchermaßen schlimmst eingekleideten, stinkenden Menschen, Menschen, die alle aussehen wie die Hamburger Band Tocotronic, halten diesen grausamen Pudel-Club am Leben, wo doch ansonsten die gesunden Zeitläufte ihn schon vor fünf Jahren verschlungen hätten. Ich muß es leider so sagen: Die Wurzel aller Ironie liegt in der sogenannten Hamburger Musikszene begraben. Ich meine damit Egoexpress, den Wassersportler Ulrich Rehberg, Ja, König, ja, Tocotronic, Die Goldenen Zitronen mit ihrem Schorsch Kamerun, den bereits genannten Rocko Schamoni, Stella, den weißhaarigen Reggaeforscher Günter Jacob, Die Sterne, Brüllen, das Silly Walks Soundsystem, das Lovetank Soundsystem, den Toaster Pensi, den Reggaeaktivisten Kai Jürgens, Dackelblut, Aura Anthropica, Knarf Rellöm, den Punkmagier Guido Schmalriede alias Manuel Muerte, Bürobert, Slime, Bernd Begemann, Die Braut haut ins Auge und Tilmann Rossmy.
untalentierten DJs an wackelnden Plattenspielern zu hören - es ist schlimm. Deshalb mußte ich diese Stadt auch verlassen.
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Jörgen Schäfer
– Die Editionsphilologie und das gedruckte Buch. Zur Problemlage der digitalen Edition im Spannungsfeld von Philologie, Ökonomie und technokratischen Anmaßungen. In: Text. Kritische Beiträge 12 (2008), S. 1–10. Ricklefs, Ulfert: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Wolfgang Frühwald / Herbert Kraft / Walter Müller-Seidel (Hg.): Probleme der Kommentierung. Bonn 1975, S. 33–74. Ries, Thorsten: „die geräte klüger als ihre besitzer“: Philologische Durchblicke hinter die Schreibszene des Graphical User Interface. Überlegungen zur digitalen Quellenphilologie, mit einer textgenetischen Studie zu Michael Speiers ausfahrt st. nazaire. In: editio 24 (2010), S. 149–199. Rothenberg, Jeff: Ensuring the Longevity of Digital Documents. In: Scientific American 272 (1995), H. 1, S. 42–47. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. – „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit“. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In: Heinz Ludwig Arnold / Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur. München 2003, S. 7–25. – Sprachzeichenprozesse. Überlegungen zur Codierung von Literatur in ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien. In: Jens Schröter / Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung. Bielefeld 2004, S. 143–168. – mit Süselbeck, Jan: Nachdenken über Lady P. Von den Adlon-Tapes zu Tristesse Royale – Vor überlegungen zu einer textgenetischen Teiledition. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 179 (2015), S. 108–133. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M. 2003. Seiler, Sascha: „Das einfache wahre Abschreiben der Welt“. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006. Selting, Margret: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung. Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10 (2009), S. 353–402. Stahl, Enno: Popliteraturgeschichte(n). Düsseldorf 2007. Stingelin, Martin: ‚Schreiben‘. Einleitung. In: Martin Stingelin / Davide Giuriato / Sandro Za netti (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 7–21. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2001. Zaimoglu, Feridun: Schlechtes Koks und falsche Karten. In: Focus, 18.12.1999.
III. Wolfgang Koeppens Jugend
Walter Erhart
Die Krankheit(en) der Moderne Vom Umgang mit Wolfgang Koeppen
In einem berühmten Text aus dem Jahr 1965, Ein Kaffeehaus, später auch bekannt unter dem Titel Romanisches Café, stellt Wolfgang Koeppen die gesamte deutsche Geschichte von Karl dem Großen bis zum Jahr 1945 in einem einzigen Satz dar, auf genau drei Seiten. In dem weit gespannten und gleichzeitig dicht gedrängten Panorama ist immerhin noch Platz für zwei Ärzte: „[…] und es zogen Geschäftsleute in das romanische Haus, und handelten mit Stahl oder mit Schläue, und ein Zahntechniker und ein Nervenarzt eröffneten ihre Praxen und heilten oder heilten nicht.“ (GW 3, 165)1 Die Szene spielt im deutschen Kaiserreich in Berlin, noch kurz bevor die Literaten und Künstler in den 1920er Jahren das Romanische Café bevölkert haben. Der Zahntechniker und der Nervenarzt bilden in Koeppens Text eine höchst bezeichnende und wohl kalkulierte Hausgemeinschaft; in der Literatur und in der literarischen Geschichtsschreibung dieser Epoche haben die Zähne und die Nerven eine wichtige Rolle gespielt. Die kranken Zähne des Thomas Buddenbrook zum Beispiel bedeuten Anfang und Ende im groß angelegten Verfall der hanseatischen Kaufmannsfamilie, sie sind die zentrale Metapher für den Niedergang der in diesem Roman geschilderten Geschäftsleute – diese hätten sich also, um im Bild des Romanischen Cafés zu bleiben, gleich nebenan behandeln lassen können. Die Nerven wiederum sind die ganz große Krankheit der Epoche – Das Zeitalter der Nervosität hat Joachim Radkau das deutsche Kaiserreich in einem monumentalen Buch genannt.2 Es ist die Krankheit des anderen Buddenbrook. „Mein Bruder Christian ist nervös, kurz, verträgt nicht viel“ 3, erklärt Thomas Buddenbrook den bei ihm versammelten Geschäftsleuten, „zu kurze Nerven“4, lautet die Diagnose von Christian selbst. Neun Jahre später begibt sich der Held in Rainer Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von 1910 geradewegs in solch eine Praxis wie im Romanischen Café, zu den Nervenärzten der Salpêtière in Paris. „Man wollte einen Versuch
1
Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Bd. 1–6. Frankfurt/M. 1986. (Hier und im Folgenden zitiert mit der Sigle GW sowie Band- und Seitenzahl.) 2 Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München u. a. 1998. 3 Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt/M. 1960, S. 474. 4 Mann (Anm. 3), S. 343.
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Walter Erhart
machen mit dem Elektrisieren“5, schreibt er; es handelt sich dabei um eine anerkannte Standardtherapie bei Neurasthenie und Hysterie, denjenigen Nervenkrankheiten, über die sich in der Salpêtière die Ärzte beugten, darunter Charcot und sein deutscher, kurzzeitig dort lernender Kollege Sigmund Freud. Die Ärzte spielen eine Hauptrolle in der Geschichte der modernen Literatur, sie heilten oder sie heilten nicht jene Zivilisationskrankheiten, die mit Vorliebe in den gut situierten bürgerlichen Familien und in den Großstädten auftraten, Krankheiten, die sich, so wurde zumindest sofort behauptet, geradewegs dieser Zivilisation und der Moderne verdanken,6 die allesamt ein Symptom dieser modernen Gesellschaft darstellen und deshalb auch nur mit der Zivilisation selbst zu heilen sind. Im Umkehrschluss ist es immer die Moderne selbst, die krank macht und die selbst als die große Krankheit dargestellt wird. Dies wiederum gehört zum festen Repertoire aller kulturkritischen (und kulturpessimistischen) Bewegungen, zu den Protesten und den Ressentiments, die die Moderne seit Anbeginn – vor allem in den Künsten – begleitet haben. Auf der anderen Seite kann die Krankheit dennoch – oder gerade deshalb – auch zu einer Auszeichnung werden, vor allem für jene Künstler und Intellektuellen, die symptomatisch leiden unter einer Gesellschaft und einer Moderne, die sie mit ihrer Krankheit zugleich kritisieren und in Frage stellen.7 Die Tuberkulose beispielsweise kann sich in Literatur und Kunst in eine wirkungsvolle „Krankheitsmetapher“ für das Leiden an der Gesellschaft verwandeln – und dies noch lange, nachdem der bakteriologische Ursprung der Tuberkulose experimentell erwiesen war.8 Die Krankheit als Metapher, die Krankheit als romantisches Symbol: Susan Sontag ist in ihrem berühmten Buch Krankheit als Metapher gerade gegen diese Metaphorik zu Felde gezogen, mit dem erklärten Ziel, der Krankheit ihre krude Wirklichkeit zurückzuerstatten.9 Sontag hat zugleich darauf aufmerksam gemacht, wie sehr Krankheitsmetaphern seit jeher für die Rhetorik politischer Ordnungen und gesellschaftlicher Zustände eingesetzt worden sind und welch unterschiedliche Metaphoriken mit den verschiedenen Krankheiten
5
Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt/M. 1980, S. 53. Klassisch dazu das um die Jahrhundertwende weitverbreitete Buch des amerikanischen Nervenarztes Georg M. Beard: Die Nervenschwäche (Neurasthenie). Ihre Symptome, Natur, Folgezustände und Behandlung, nach der 2. Aufl. ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen v. San.-Rath. Dr. M. Neisser. Leipzig 1881. 7 Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Walter Müller-Seidel und Thomas Anz: Walter Müller-Seidel: Zeitbewußtsein um 1900. Literarische Moderne im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. In: Ulrich Mölk (Hg.): Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900. Göttingen 1999, S. 13–34. Walter Müller-Seidel: Alfred Erich Hoche. Lebensgeschichte im Spannungsfeld von Psychiatrie, Strafrecht und Literatur. München 1999. Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977. Thomas Anz: Thesen zur expressionistischen Moderne. In: Sabina Becker / Helmuth Kiesel: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin 2007, S. 329–346. 8 Vgl. hierzu etwa Martina King: Inspiration und Infektion. Zur literarischen und medizinischen Wissensgeschichte von ‚auszeichnender Krankheit‘ um 1900. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 35 (2010), Heft 2, S. 61–97. 9 Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Frankfurt/M. 1981. 6
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jeweils verbunden sein konnten: Tuberkulose, Krebs, die vielgestaltige Semantik des Wahnsinns und des Irreseins, die Zähne, die Nerven. All dies gehört bereits zur zeitgenössischen Debatte des Fin de Siècle, zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs und des 20. Jahrhunderts: 1892 erschien das einflussreiche Buch Entartung des jüdischen, in Ungarn geborenen und in Paris lebenden Arztes Max Nordau, dessen erster Teil Fin de Siècle eine Bestandsaufnahme moderner Gesellschaft enthält, mit folgenden Kapiteln: Völkerdämmerung, Symptome, Diagnose, Aetiologie.10 Nordaus Buch, dessen Titel den französischen, in Psychiaterkreisen damals üblichen Begriff dégénérescence übersetzte, wurde einflussreich und berühmt, weil es die Künstler und Literaten als die entscheidende Hauptgruppe ausmachte, an denen die kranken und die krank machenden Symptome der modernen Gesellschaft abzulesen seien. Max Nordau schrieb eine Psychopathologie der modernen Gesellschaft, gleichzeitig haben die Avantgarde-Künstler bereits selbst damit begonnen, diese Krankheiten als ein symptomatisches Motiv einzusetzen. Die ästhetisch-literarische Moderne wurde auch dadurch zu einem Gegenspieler der gesellschaftlichen Moderne, dass sie deren vermeintlich krank machenden Effekte – Technisierung, Anonymisierung, Medikalisierung, Verwissenschaftlichung – darzustellen und zu kritisieren begann.11 Diese Krankheitsgeschichte der Moderne, in der die moderne Zivilisation als exponierter Krankheitsherd ausgemacht wird, findet sich bis in unsere Gegenwart, in der die Tuberkulose und die Neurasthenie vom Burn-Out-Syndrom und von der Depression abgelöst worden sind: Entsprechende Analysen finden sich heute etwa in Alain Ehrenbergs Buch Das erschöpfte Selbst, das die Depression als Nachfolgerin der um 1900 behandelten Nervenkrankheiten auf die gewandelten pathogenen Einflüsse (post-) moderner Gesellschaften zurückführt.12 Ich möchte in diesem Kontext einen neuen Blick auf Wolfgang Koeppen richten, weil der literarische und öffentliche Umgang mit seinem Werk zutiefst von dieser eben skizzierten Konstellation geprägt ist. Koeppens Werke weisen einen engen Bezug zur Metaphorik der Krankheit auf; Psychopathologien und vermeintlich kranke Helden werden in seinen Texten häufig eingesetzt, um historische Prozesse und moderne Gesellschaften darzustellen; umgekehrt ist der Umgang mit seinem Werk gleichzeitig davon geprägt, dass sich der Diskurs über psychische Krankheiten und die Krankheit der Moderne als Folie dieses Umgangs mit Koeppen etabliert hat. Mittlerweile hat sich das damit verbundene Bild der Moderne und der modernen Gesellschaft allerdings gewandelt; die aktuelle historische und gesellschaftstheoretische Forschung geht nicht mehr von einem einheitlichen Bild der Moderne aus, der man eine Krankheit im Singular oder pathologische Züge im Ganzen unterstellen könn-
10
Max Nordau: Entartung. 2 Bde. Berlin 1892. Zur Kontroverse um die Konfrontation und Gegenüberstellung von gesellschaftlicher und ästhetischer Moderne vgl. Walter Erhart: Editorial. Stichworte zu einer literaturwissenschaftlichen Moderne-Debatte. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34 (2009), Heft 2, S. 176–194. 12 Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M. 2004. 11
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te. Inzwischen wird von einer Moderne im Plural gesprochen, die sich vielfältig und diskontinuierlich entwickelt hat,13 von der nicht einmal mehr klar ist, ob es sie als geradlinig verlaufende Moderne überhaupt gibt.14 Ich möchte einige Konsequenzen dieser neuen Vorstellung von ‚Moderne‘ für unseren Umgang mit Wolfgang Koeppen darstellen, und ich möchte in diesem Beitrag andeuten und ansatzweise entwickeln, dass Wolfgang Koeppens ungeschriebener, immer wieder angekündigter großer Roman Elemente enthalten könnte, die das Bild von Wolfgang Koeppen und den Umgang mit seinen Texten verändern. Anders gesagt: Die Anstrengung Koeppens, diesen in vielen Notizen und Entwürfen vorliegenden Roman zu schreiben,15 zeugt von dem Versuch, ein anderes Modell der modernen Literatur zu entwickeln, auch und vor allem in Bezug auf dargestellte psychopathologische Phänomene und Krankheiten. Ich beginne mit einem kurzen Überblick, einer Erinnerung daran, wie zentral Krankheitsmotive und damit ein Kernbestandteil modernistischer Literatur in Koeppens Werk angelegt sind. Ich skizziere danach, wie die Krankheit, die Psychopathologie und die sozialen Pathologien zum Thema seiner Versuche werden, einen neuen und großen Roman zu konzipieren (als dessen eher fehlgeleitetes und irreführendes Zwischenergebnis das Fragment Jugend gelten kann). Und ich möchte dann – nach einem kleinen Exkurs über die Theorie der Moderne und ihrer sozialen Pathologien – an einem Beispiel zeigen, auf welche neuen Wege sich Koeppens ungeschriebener Roman begibt und wie Koeppen zu neuen Formen der literarischen Moderne vorzudringen versuchte. Wolfgang Koeppen stammt nicht nur aus Greifswald, sondern aus dem Fin de Siècle und dem Expressionismus; vielleicht etwas verzögert erreichte und beeinflusste ihn diejenige moderne Literatur, die zutiefst geprägt war von einem neuen, in Max Nordaus Entartung bis zur Karikatur verzerrten Verständnis von Zivilisationskrankheiten und modernen Pathologien. Dies lässt sich an vielen selbstverständlichen Einzelheiten seiner frühen Romane zeigen – Eine unglückliche Liebe, Die Mauer schwankt sowie Die Jawang-Gesellschaft. Der Held Johannes von Süde in Die Mauer schwankt beispielsweise ist plötzlich unfähig, über einen Platz zu gehen, auf dem sich das „Haus des Präfekten“ und ein „Gendarm auf einem Pferd“ befinden, und er vermag es dabei sofort, an sich selbst einen psychopathologischen Fall von Agoraphobie und Nervosität zu diagnostizieren: Angst? Unsinn. Er wartete einen Moment und prüfte sich. Er konstatierte: ‚Ich stehe unter der Wirkung eines Schocks.‘ Dies Wort aus dem Sprachgebrauch der Psychiatrie half ihm; es war die Wissenschaft, es war die ruhige, bürgerliche Zeit, in der er lebte, und die ihn stärkte. Er
13
Vgl. hierzu Shmuel N. Eisenstadt: Multiple modernities. Analyserahmen und Problemstellung. In: Thorsten Bonacker / Andreas Reckwitz (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart. Frankfurt/M. 2007, S. 19–45. Wolfgang Knöbl: Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit. Weilerswist 2001. 14 Wolfgang Knöbl: Beobachtungen zum Begriff der Moderne. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), Heft 1, S. 63–77. 15 Vgl. dazu ausführlich Walter Erhart: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur. Konstanz 2012.
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bemühte sich mit dem Gleichmut eines beobachtenden Arztes seinen Zustand zu kontrollieren und die Herrschaft über die versagenden Nerven wiederzugewinnen. (GW 1, 212)
Symptom, Diagnose und Therapie sind hier auf engem Raum zusammengefasst. In ihrem Zentrum befinden sich die „versagenden Nerven“, die hier als Krankheitszeichen und sogleich als ein längst bekanntes, autosuggestiv zu heilendes Phänomen auftauchen. Eine der Nebenfiguren in Koeppens erstem Roman nach dem Zweiten Weltkrieg – Tauben im Gras – ist Doktor Behude, „Facharzt für Psychiatrie und Neurologie“, und wir begegnen ihm zuerst als einem Kriegsmediziner, der sich selbst „analysierte“, als er auf dem „Wachstuchs eines Transfusionstisches“ lag, um sich beim Blutspenden zehn Mark zu verdienen. All dies dient der Vorbereitung auf seine neue Aufgabe, die ihn in der Nachkriegszeit erwartet und ihn zu einem erfolgreichen und gut verdienenden Facharzt machen wird: Bald werden sich die Räume seiner Praxis füllen, werden sich mit Leuten füllen, die Kraft und Lebensmut von ihm abzapfen wollen. Die Schar der Halbverrückten liebt und bedrängt den Doktor Behude, die Neurotiker, die Lügner, die nicht wissen, warum sie lügen, die Impotenten, die Schwulen, die Paidophilen, die sich in Kinder vergaffen, kurzen Röckchen folgen, nackten Beinen, die Literaten, die zwischen allen Stühlen sitzen, die Maler, denen die Farben des Lebens zu geometrischen Strichen zusammenfließen, Schauspieler, die an toten Worten ersticken […], sie alle […], die ihre Komplexe brauchen, wie ihr tägliches Brot, die Geängstigten und Untüchtigen […]. (WA 4, 25)16
Hier ist ein psychopathologisches Panoptikum des 20. Jahrhunderts und der Nachkriegszeit versammelt, inklusive der Künstler, die sich mit den Halbverrückten einen Platz im Sprechzimmer teilen. Mehr noch: In den „Geängstigten und Untüchtigen“ erkennen wir die zahlreichen Helden in Koeppens Romanen, für die hier fast eine Art Überschrift gefunden sein mag: jene Künstlernaturen und Charaktere, die nicht zuletzt aufgrund ihrer ästhetischen Sensibilität an der desolaten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts leiden. In der frühen Rezeption dieser Romane hat die konservative Kritik häufig auf diese ‚kranken‘ Helden hingewiesen und ihnen die Literaturfähigkeit abgesprochen. Bereits in einem denkwürdigen Verriss des ersten Romans von Koeppen, Eine unglückliche Liebe, hat der spätere Hanser-Lektor Herbert Göpfert 1934 einen Rat ganz auf der Linie von Max Nordau erteilt, wonach die Künstler in ihrer offensichtlichen décadence therapiert werden müssen. Ein „junger deutscher Dichter“ habe diesen Roman geschrieben: „Da kann man nur wünschen: Arbeitsdienst!“17 Zugleich deutet Göpfert in dieser Rezension an, dass es sich in diesem Roman um ganz spezifische, nämlich um
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Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. Hg. von Hans-Ulrich Treichel (Werke, hg. von Hans-Ulrich Treichel, Bd. 4), Frankfurt/M. 2006 (fortan zitiert mit der Sigle WA sowie Band- und Seitenzahl). 17 Zit. in Jörg Döring: Kommentar. In: Wolfgang Koeppen: Eine unglückliche Liebe. Hg. von Jörg Döring (Werke, hg. von Hans-Ulrich Treichel, Bd. 1). Frankfurt/M. 2007, S. 170–201, hier S. 193.
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psychisch instabile, wenn nicht ‚kranke‘ Helden handelt: „[…] muß denn über solche Jünglinge und Weibchen durchaus etwas geschrieben werden?“18 Auch in der frühen Nachkriegszeit, in den Literaturkritiken der ersten Romane Wolfgang Koeppens, lassen sich diese Tendenzen noch vernehmen: Der Autor schildere eine bedenkliche Welt, die – so Hans Schwab-Felisch – ausschließlich „im Morbiden“ angesiedelt sei.19 Wenig später hat sich die Kritik – auch im Widerruf desselben Kritikers – bereits verschoben: von den unverständlicherweise ‚kranken‘ und morbiden Helden zu der ‚krank‘ machenden Gesellschaft, die für die psychopathologisch infiltrierte Welt dieser Romane verantwortlich ist. Nun werden Koeppens Romanwelten regelrecht selbst zu jenen Behandlungsräumen des Doktors Behude, die mit den ‚Halbverrückten‘, den ‚Geängstigten und Untüchtigen‘ gefüllt sind, und sie berichten von einer Gesellschaft, die solche Helden hervorbringt, von sich stößt und in die Isolation treibt. Dies hat den Umgang mit Wolfgang Koeppens Werken bis heute geprägt: Die Romane gelten als Psychogramme einer Nachkriegsgesellschaft, in der sich die Protagonisten kaum behaupten können und von den sozialen Pathologien dieser Gesellschaft Zeugnis ablegen.20 Und fortan wurden décadence, Krankheiten, psychopathologische Symptome und sexuelle ‚Abweichungen‘ in Koeppens Romanen zunehmend als kritische Kommentare zur deutschen Nachkriegsgesellschaft gelesen: als Figurendarstellungen und Figurenreden, in denen sich die Verdrängungen und Abgründe des fortwirkenden Nationalsozialismus enthüllen, in denen sich zugleich eine bestimmte Geschichtsphilosophie und eine bestimmte Gesellschaftstheorie entfaltet, eine Theorie der Moderne, nicht unähnlich der 1947 veröffentlichten Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. In diesem Zusammenhang wurde auch der modernistische Stil von Koeppens Prosa als Ausdruck dieser Gesellschafts- und Geschichtstheorie gelesen. Bereits einer der ersten Theoretiker der décadence, Paul Bourget, hatte in seiner expliziten théorie de la décadence (1883) die Stilcharakteristika des Fin de Siècle mit der Auflösung von Gesellschaften parallelisiert, dem Zerfall eines sozialen „organisme“, in dem sich „la vie individuelle“ von der „énergie totale“ einer Gesellschaft abzukoppeln beginnt und sich immer weniger Individuen mit dem Gemeinwesen identifizieren: „Par le mot de décadence, on désigne volontiers l’état d’une société qui produit un trop petit nombre d’individus propres aux travaux de la vie commune“.21 Und dies – so Bourget weiter – spiegelt sich im Stil der décadence: „Un style de décadence est celui où l’unité du livre se décompose pour laisser la place à l’indépendance de la page, où la page se décompo-
18
Döring (Anm. 17), S. 193. Hans Schwab-Felisch: Kritik und Widerruf [1952/1966]. In: Ulrich Greiner (Hg.): Über Wolfgang Koeppen. Frankfurt/M. 1976, S. 36–49, hier S. 38. 20 Maßgeblich und klassisch dazu: Marcel Reich-Ranicki: Der Zeuge Koeppen [1963]. In: Ulrich Greiner (Hg.): Über Wolfgang Koeppen. Frankfurt/M. 1976, S. 147. 21 Paul Bourget: Œuvres Complètes. Critique I. Essais de Psychologie Contemporaine. Paris 1899, S. 15. 19
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se pour laisser la place à l’indépendance de la phrase, et la phrase pour laisser la place à l’indépendance du mot.“22 Hier liegt eine der Quellen für den Zusammenhang von Gesellschaftstheorie und literarischem Modernismus, für die weitverbreitete Meinung, der Zerfall einer Gesellschaft spiegele sich im Zerfall der narrativen Strukturen, und die krank machenden Anomien, Entfremdungssymptome und Pathologien einer Gesellschaftsordnung hätten ihr Pendant nicht nur in den ‚kranken‘ Helden der Romane, sondern auch im dafür ausgeprägten Stil moderner Erzählliteratur. Schon früh verbindet sich diese Theorie der modernen Literatur mit dem Phänomen des nicht mehr schreibenden, des buchstäblich selbst an dem künstlerisch-sprachlichen Verfall teilhabenden Autors, und auf diese Weise konnte sich nicht zuletzt der angeblich schweigende, nicht mehr schreibende Koeppen als der große Nachkriegsautor der Bundesrepublik etablieren. Bekanntlich hatte Koeppen bereits seine drei berühmt gewordenen Romane – Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953), Der Tod in Rom (1954) – in relativ kurzer Zeit geschrieben, währenddessen ein anderer, viel umfangreicher angelegter Roman pausieren musste. Im Briefwechsel mit seinem Verleger Henry Goverts hat Koeppen zwischen 1951 und 1961 immer wieder einen ‚großen‘ Roman in Aussicht gestellt, von dem die drei Nachkriegsromane dann lediglich abgelenkt haben. In der Zeit zwischen den beiden Romanen Das Treibhaus und Der Tod in Rom hat Koeppen 1953 bereits Plan und Handlung umrissen: „Das dicke Buch beschäftigt mich doch sehr. Es sind aber verschiedene Romankreise, die sich dort überschneiden, es sind mehrere Familiengeschichten, die ineinanderlaufen, und es ist die Zeit von 1870 bis etwa 1948 zu bewältigen.“23 In den 1960er Jahren begann Koeppen sich intensiv mit diesem großen Roman zu beschäftigen; damals entstanden die später in Jugend gesammelten Fragmente einer in Pommern spielenden Geschichte, die – wie Koeppen in der hierfür geschriebenen Vorankündigung des Suhrkamp Verlags schreibt – „Vorstellungen und Träume meiner Kindheit und Jugend kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg“ schildert.24 Zugleich finden sich in diesen Notizen und Arbeitsentwürfen der 1960er Jahre die charakteristischen Züge eines in Jugend lediglich zu erahnenden, groß angelegten Familien- und Generationenromans; zu der in Ansätzen konturierten Kindheits- und Jugendgeschichte sollen offensichtlich die Familiengeschichte der Großmutter hinzutreten, ebenso der dazugehörige historische Kontext: die Aristokratie, niederer Adel, Dienstpersonal, Aufstieg und Fall der Familien in den preußisch-pommerschen Provinzen des Kaiserreichs. Koeppen erstellt biographische Listen und entwirft Genealogien, Namen, eine Zeittabelle mit geschichtlichen Ereignissen25 sowie eine „Zeittafel“26; er erprobt
22
Bourget (Anm. 21), S. 15–16. Wolfgang Koeppen: Brief an Henry Goverts, 10. Juli 1953. UB Greifswald, Signatur: 24428. 24 Wolfgang Koeppen / Siegfried Unseld: „Ich bitte um ein Wort ...“ Der Briefwechsel. Hg. von Alfred Estermann und Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2006, S. 280. 25 WKA Greifswald, Signatur: MID 355-M 007-011. (Zitate aus dem Nachlass im Wolfgang-Koeppen-Archiv werden mit dem Kürzel WKA Greifswald sowie der Signatur belegt.) 26 WKA Greifswald, Signatur: MID 355-M 001-042. 23
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verschiedene Erzählstimmen und kombiniert Erzählvarianten mit poetologischen Kommentaren zur Wahl von Orten, Sujets und Erzählperspektiven. Daneben finden sich biographische Notizen, darunter ein bemerkenswertes Dokument, in dem Koeppen seine eigene Krankheitsgeschichte beschreibt: In den Jahren 50–54 quälten mich Erscheinungen, die unter den Namen Kreislaufstörungen, Herzneurose, Herzinsuffizienz, vegetative Dystonie erfolglos behandelt wurden. Ein EGK zeigte nur unerhebliche Abweichungen vom Gesunden. Die Erscheinungen bestanden in Aufgeregtheit, Herzklopfen, Herzangst, Stiche, Druck, Atemnot, Schweiss, Schwindel und Unsicherheit auf der Strasse, die sich fast bis zur Platzangst und Anlehnung an Hauswände steigern konnten.27
Über mehrere Seiten beschreibt Koeppen in diesem bislang nicht publizierten Text seine Krankheitssymptome bis zum Jahr 1965. Der Krankheitsbericht liegt in mehreren Varianten vor, es handelt sich demnach auch um einen literarischen, mehrfach überarbeiteten Text. Und dieser Text ist bemerkenswert vor allem deshalb, weil Koeppen seine psychosomatische Krankheitsgeschichte unmittelbar mit dem Schreiben des eigenen Romans verknüpft: Vielleicht bin ich krank, weil ich diesen Roman nicht schreiben will oder nicht schreiben kann. Vielleicht bin ich aber auch wirklich krank und geschwächt und kann deshalb den Roman nicht zu Ende bringen.28
Wolfgang Koeppen kommt an dieser Stelle, in diesen Selbstbeschreibungen und Selbst inszenierungen, zurück zu jenem Bild des modernen kranken Autors, dessen ästhetische Sensibilität mit psychopathologischen Zuständen in Verbindung steht. Die Parallelität seiner eigenen Krankheitsbeschreibungen und dem zu dieser Zeit noch einmal neu entworfenen ‚großen‘ Roman ist nicht zufällig: Der große Roman und das in diesem Umfeld entstandene Romanfragment Jugend werden ebenfalls zu einer Art von medizinischer Fallgeschichte, zu einer Psychopathologie nicht des Autors, sondern einer ganzen Gesellschaft, zu einer Krankheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts. 1968 überschreibt Koeppen den ersten Ausschnitt aus dem späteren Romanfragment Jugend mit dem Titel Anamnese.29 Der Begriff deutet auf das griechische Wort für Erinnerung, es ist jedoch auch der medizinische Fachbegriff für das, was der Romancier Koeppen mit dem Auftakt seines großen Romans über das 20. Jahrhundert beabsichtigt: eine Ursachenforschung über die Pathologien dieses Jahrhunderts. In den Fragmenten zu Jugend treten solche Pathologien gehäuft auf, in den Notizen der 1960er Jahre sind sie noch sehr viel stärker und plastischer mit dem Versuch eines Gesellschaftsromans verbunden. Ursprünglich sollte er den Titel Die Scherzhaften tragen und sein Personal einen Querschnitt durch die Bevölkerung des späten Kaiserreichs darstellen. Das erste
27
WKA Greifswald, Signatur: MID 26, 43. WKA Greifswald, Signatur: MID 26, 49. 29 Wolfgang Koeppen: Anamnese. In: Merkur 239, Jg. 22 (1968), S. 252–259. 28
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publizierte Fragment in der Zeitschrift Merkur – Anamnese – enthält die Familiengeschichte des Protagonisten; der in den Notizen entworfene Roman kombiniert Familienroman, Gesellschaftsgeschichte und das Psychogramm des kindlichen und jugendlichen Helden: Zusätzlich zur Kindheits- und Jugendgeschichte sollten Die Scherzhaften einen historischen Roman über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre entfalten. Im späten 1976 publizierten Romanfragment Jugend sind die in den Notizen angedeuteten narrativen Bestandteile dieser letztlich ungeschriebenen Romane eher wieder zurückgedrängt, übrig blieb ein von Koeppen später entsprechend kommentiertes Porträt einer Jugend und einer Stadt: „Ich habe […] Greifswald in einer Joyceschen Manier gesehen, nicht mit Absicht, sondern es kam mir so […].“30 Bestehen aber bleibt Koeppens Versuch einer ‚Anamnese‘ der historischen Pathologien in diesem 20. Jahrhundert, und die entscheidende Frage dabei war immer auch, wie sich die historischen und gesellschaftlichen Pathologien in die psychische Struktur der Individuen – oder auch der Helden dieser Romane – eingegraben haben. Wolfgang Koeppen ist – kurz gesagt – mit seinem ungeschriebenen Roman auf der Suche nach einer Form und einer Darstellung für die Pathologien, die Krankheiten und die Krankheit der Moderne. Er beginnt sich dabei zugleich zu verabschieden von der Dominanz der „Joyceschen Manier“, die nur eine Antwort bietet auf die Frage, wie den Wirkungen der gesellschaftlichen Pathologien auf die Individuen nachzuspüren ist, wie sich soziale Pathologien in die Psyche eingraben und wie sie in dieser Wirkung darzustellen sind. Die Frage nach dem Zusammenhang individueller und gesellschaftlicher Pathologien liegt auch den Bemühungen um eine Theorie der modernen Gesellschaft zugrunde, die zu dem monolithischen Bild einer einzigen Moderne und einer damit verbundenen großflächigen Pathologie der Moderne inzwischen auf Distanz gegangen ist. Weder lässt sich eine krankhafte Funktionsstörung der Gesellschaft durch die Addition individueller und mutmaßlich gehäuft auftretender psychischer Krankheiten dokumentieren (etwa durch die Zahl der Patienten in nervenärztlicher Behandlung), noch scheint die Rede von der Gesellschaft als einem kranken Organismus einer komplexen und funktional differenzierten modernen Gesellschaft angemessen zu sein.31 Statt die Moderne und die von ihr erfassten Subjekte mit einem einzigen pathogenen Modell – etwa der Entfremdung, der Verdinglichung – zu erfassen, statt Gesellschaft unmittelbar mit den davon affizierten Individuen zu verknüpfen, beginnt eine aktuelle Diagnose sozialer Pathologien mit der Analyse derjenigen Strukturen, in und mit denen gesellschaftlich-soziale Integrationsprozesse auf der Ebene individueller Selbstverhältnisse und kommunikativer Vergemeinschaftung ihren Niederschlag finden. Hier gilt es stets mehrfache Integrations- und Funktionszusammenhänge zu betrachten, mit deren Hilfe sich Gesellschaften reproduzieren und Individuen sozialisieren: im Umgang mit innerer und äu-
30
Wolfgang Koeppen: „Greifswald ein bescheidener und kleinerer Fundort“. Interview mit Gunnar Müller-Waldeck im Jahr 1990 (WKA Greifswald, Signatur: MID 469, 4). Das Interview wurde später gedruckt in: Stadtstreicher. Jugend- und Kulturmagazin aus Greifswald 5 (1996), Heft 16, S. 6–12. 31 Vgl. dazu Axel Honneth: Die Krankheiten der Gesellschaft. Annäherung an einen nahezu unmöglichen Begriff. In: WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2014, Heft 1, S. 45–60.
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ßerer Natur, in Bezug auf Bedürfnisse in leiblicher, psychischer und sozialer Hinsicht, im Hinblick auf Selbstverhältnisse, internalisierte Normen und soziale Beziehungen. Deshalb ist die Analyse sozialer Pathologien, gar einer sozialen Funktionsstörung im Ganzen, immer auf mehrstufige gesellschaftstheoretische Konzepte angewiesen, und zu diesem Zweck versucht eine solche Gesellschaftstheorie stets Sozialisations- und Vergesellschaftungsprozesse, psychische Stabilität und soziale Pathologien gleichermaßen in den Blick zu bekommen. Pathologien wiederum verweisen auf ein Modell der Gesundheit und ‚Normalität‘, auf Entwürfe eines gelungenen Lebens, von dem her die Pathologien erst sichtbar und kritisierbar werden. Jürgen Habermas hat vorgeschlagen, mit den Strukturen des kommunikativen Handelns sowohl die normativen Grundlagen für gesellschaftliche und psychische Integrationsprozesse als auch die Möglichkeiten für Pathologien – das sind systematisch verzerrte Kommunikationen – angeben zu können.32 Axel Honneth hat die Ebene, in der gesellschaftliche Prozesse und individuelle Selbstverhältnisse zusammentreffen, noch einmal tiefer gelegt und in der Struktur elementarer – auch vorsprachlicher – Anerkennungsprozesse verankert.33 Auf wiederum verschiedenen Ebenen – so Axel Honneth – haben sich in der Moderne die Prozesse der Anerkennung ausdifferenziert und entwickelt: Sie finden statt erstens im Bereich der juristisch-formalen Anerkennung als Rechtssubjekte, zweitens auf der Ebene der gesellschaftlich-sozialen Solidarität, auf der die je individuellen Leistungen der Gesellschaftsmitglieder für die Gemeinschaft anerkannt werden, drittens im Kontext der familiären und privat-intimen Beziehungen, in denen der Einzelne als solcher – als je individuelle Person – wahrgenommen und anerkannt wird. In diesem Modell liegen einerseits die Möglichkeiten für Pathologien – sogenannte Anerkennungspathologien – bereit, in denen eine Verweigerung oder eine systematische Beschädigung der Anerkennung in einem oder mehreren dieser Bereiche vorliegt.34 Andererseits liegen den Anerkennungsprozessen jeweils positive individuelle Selbstverhältnisse zugrunde, an denen die Abweichungen erst diagnostiziert werden können: Selbstachtung, Selbstschätzung und Selbstvertrauen.35 Grundlegend für solche Theorien und Modelle ist die Art und Weise, wie hier gesellschaftliche Systeme und Modelle mit der psychischen und kommunikativen Struktur der Gesellschaftsmitglieder verknüpft sind: Die Gesellschaft wird nicht mehr en bloc als ein System konstruiert, das die Individuen insgesamt bestimmt, etwa ‚krank‘ macht, sondern als soziale Welt, die auf vielfältige Weise und von Anfang an in den psychischen Apparat eingreift. Ansatzpunkte einer solchen Analyse von „Pathologien des Sozialen“ (Axel Honneth) bleiben die jeweils sichtbaren individuellen Störungen, die Anzeichen fehlgeleiteter und fehlschlagender Integrationsprozesse, eine beobachtbare
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Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M. 1981. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 2. erw. Auflage. Frankfurt/M. 2003. 34 Vgl. Axel Honneth: Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie. In: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt/M. 2000, S. 11–69. 35 Vgl. Axel Honneth: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Berlin 2010. 33
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„Psychopathologie des Alltagslebens“ (wie schon zu Zeiten Freuds); dafür eignen sich auch und besonders Darstellungen in Kunst und Literatur, die jeweils spielerisch-fiktiv, in seismographischer Schärfe oder in Überzeichnung und Übertreibung Symptome sozialer Pathologien zur Erscheinung bringen.36 Sowohl in der Gesellschaftstheorie als auch in der Literatur(-wissenschaft) bleibt jedoch die entscheidende Frage, wie die subjektiven und subjektiv erfahrbaren Pathologien mit den gesellschaftlichen Fehlfunktionen und der Gesellschaft im Ganzen vermittelt sind. Koeppens ungeschriebener Roman – so möchte ich behaupten – ist auf der Suche nach einer Darstellung, in der die politische und gesellschaftliche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit der psychischen Struktur der literarischen Figuren verbunden wird, all dies auch mit dem Ziel, die doppelte und ineinander verschränkte Pathologie von modernen Gesellschaften und ihren Individuen deutlich werden zu lassen. Im Modell einer Geschichtsphilosophie à la Horkheimer und Adorno – und in den Nachkriegsromanen von Wolfgang Koeppen – ist dieses Problem einigermaßen grobflächig gelöst, da sich der allgemeine ‚Verblendungszusammenhang‘ gleichzeitig und gleichermaßen in den gesellschaftlichen Strukturen und unmittelbar auch in der jeweils individuellen Psyche niederschlägt. Die literarischen Modelle hierfür sind Mythisierungen einerseits, interne Fokalisierungen andererseits. Noch in Koeppens Jugend beispielsweise wird die Ausweglosigkeit der individuellen Geschichte mit der naturrechtlichen Verdammnis und dem solcherart mythisierten Schicksal der Menschheit überblendet und dadurch in eins gesetzt. Die literarische Form einer solchen geschichtsphilosophischen Prägung in Koeppens modernistischen Romanen ist die Innensicht der Figuren: Entweder sind die Bewusstseinsreden der Figuren Bestandteil und Ausdruck einer pathologischen Gesellschaft, oder sie markieren die radikale Distanz, ein aus dem Leiden an den pathologischen Effekten resultierendes anarchisches Künstler- und Außenseitertum. Die exem plarischen Vertreter solcher gegensätzlicher Figuren sind einerseits Judejahn in Der Tod in Rom, andererseits der namenlose Held in Koeppens Jugend. Koeppens lebenslanger Versuch, nach seinen Nachkriegswerken einen großen historischen und zeitgeschichtlichen Roman über das 20. Jahrhundert zu schreiben, zeugt auch von dem Bemühen, eine literarische Darstellungsform für ein komplexer gewordenes, nicht mit den Mitteln der literarischen Moderne zu erfassendes Gesellschaftsgeschehen zu finden. Dieser ungeschriebene Roman liegt in mehreren Anläufen und mehreren Ausprägungen vor, es handelt sich im Wesentlichen jedoch um einen einzigen Roman. Er setzt jeweils an verschiedenen Stationen und Phasen in der Geschichte des
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Vgl. Axel Honneth: Das Recht auf Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011, S. 158: „Insofern bildet den Königsweg einer Pathologiediagnose noch immer, wie schon zu Zeiten Hegels oder des jungen Lukács, die Analyse von ästhetischen Zeugnissen, in denen solche Symptome indirekt zur Darstellung gelangen – Romane, Filme oder Kunstwerke enthalten weiterhin den Stoff, aus dem wir primär Erkenntnisse darüber gewinnen, ob und inwiefern sich in unserer Zeit Tendenzen einer höherstufigen, einer reflexiven Deformation des Sozialverhaltens feststellen lassen.“ (S. 158). Zur noch zögerlichen Rezeption der Anerkennungstheorie in der Literaturwissenschaft vgl. den Überblick bei Andrea Albrecht: Theorien der Anerkennung – Literaturwissenschaftliche Appropriationen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), Heft 2, S. 323–343.
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20. Jahrhunderts an, bildet jedoch ein einziges, aus unterschiedlichen Handlungsketten bestehendes Projekt, das zugleich einige wenige Darstellungsformen variiert und kombiniert. Selbst ein scheinbar marginaler, im Nachlass verborgener Erzählversuch wie Der Maskenball lässt sich als Teilstück dieses Romans dechiffrieren, zugleich als ein Fallbeispiel, das die möglichen Darstellungsformen dieses Romans enthält.37 Dieses „Manuskript“ – so Koeppen 1978 in einem Interview – habe er inzwischen wieder „liegen lassen“, einen Roman, der Maskenball heißen sollte: „Es ist ein Roman, der in Amerika spielt, in Washington, und ein politischer Roman.“38 Es ist zugleich ein Roman über die Moderne und das 20. Jahrhundert – und über die damit verbundenen Pathologien, deren hervorstechendstes Symptom in diesem Kontext das politische Attentat darstellt. Die Geschichte dieses nur in wenigen Fragmenten vorliegenden (Teil-)Romans besteht aus Attentätern, deren Opfern sowie den sich mit Attentaten befassenden Intellektuellen. In den unter dem Titel Der Maskenball versammelten Manuskripten und Konvoluten befinden sich Skizzen, Zeitungsmeldungen und Reportagen zum Attentat auf den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Mit dem Attentat findet Koeppen ein Modell für die politische Geschichte der Moderne. Der Maskenball zitiert zunächst die gleichnamige Oper von Giuseppe Verdi: die Geschichte eines während eines Maskenballs erfolgten Attentats auf den schwedischen König im 18. Jahrhundert, die in der Oper aus politischen Rücksichtsnahmen heraus nach Boston, als Geschichte eines amerikanischen Gouverneurs, verlegt worden war. In Koeppens Konvolut finden sich Bezugnahmen auf eine Geschichte der politischen Attentate seit dem 18. Jahrhundert, neben Figuren, die in diesem Roman auftauchen sollten. Eine davon ist ein Intellektueller und Psychoanalytiker, der sich mit der Geschichte dieses Attentäters zu beschäftigen beginnt. In kurzen Passagen auf einzelnen Seiten notiert Koeppen mit der Schreibmaschine dessen Situation: „Er liegt in seinem Bett, sein Herz schlägt schnell, ein Buch ist ihm aus der Hand gefallen, auf einen Berg von Büchern vor seinem Bett, Bücher umstellen in hohen Regalen das Bett, er ist müde, aber er kann nicht schlafen, er fürchtet sich.“39 Herzbeschwerden, Schlaflosigkeit, Psychoanalyse, Angst und Ekel: Auf kurzem Raum sind hier die Spuren und Symptome jener Pathologien genannt, um die es Koeppen in seinem ungeschriebenen Roman geht. Diese vermutlich als Rahmengeschichte konzipierte Darstellung ist jedoch nur ein bestimmter Teil des insgesamt projektierten Romans. In den vorliegenden Aufzeichnungen lassen sich drei Ebenen unterscheiden, die sich jeweils um das zeitgeschichtliche Geschehen der 1960er Jahre gruppieren. Koeppen stellt zunächst einzelne Protagonisten ins Zentrum, beginnt Erzählungen, die jeweils die Stimmen und den Bewusstseinsbericht einer einzelnen Figur darstellen.
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Vgl. hierzu auch Walter Erhart: Der ungeschriebene Roman. Ein erster und ein zweiter Blick in Koeppens Nachlass. In: Text+Kritik 34 (2014), S. 24–33. 38 Wolfgang Koeppen: Zur Resignation neige ich sehr [1971]. In: Ders.: Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Hg. von Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt/M. 1995, S. 41–53, hier S. 47. 39 WKA Greifswald, Signatur: MID 2, 24a.
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Eine davon gehört Oswald, dem Attentäter, wie er – laut seiner übermittelten Biographie – in der Sowjetunion ankommt, desorientiert, träumend, unsicher: Er kam an, es war Abend, er wußte nicht, wo er war. […] Er wußte nicht, was hier los war. Sie hielten auf einem Bahnhof. Es war ein Bahnhof ohne eine Stadt. […] Es hätte aber auch ein Hauptquartier sein können, die alte Kommandostelle einer grosstädtischen Polizei, einer Festung in der Altstadt, eine Gegend armer und zu beaufsichtigender Leute, Slum genannt […]. Er aber träumte. Träumte sich eine Schiffahrt, träumte Finnland, träumte jetzt, dies ist die Sowjetunion. Er erschrak. Seine Träume sagten ihm nichts. Er wußte nichts. […] Er fühlt sich ständig beobachtet, sah aber niemand. Eine Nacht, eine richtige dunkle Nacht hätte ihm Geborgenheit gegeben.40
Unmittelbar daneben findet sich eine Skizze über einen amerikanischen „General“ in seinem Haus, demgegenüber sich offensichtlich ein möglicher Attentäter postiert hat. Der General hört Rasenmäher und ferne Gewehrsalven, wahrscheinlich eine Halluzination aus den von ihm erlebten Kriegen („Zuviele Gefechte“), „er ist pensioniert“ und „er ist sehr böse“, er benutzt ein „Mikrophon“41, wohl um seine Autobiographie zu schreiben, aber er zielt damit – vermutlich im Wahn – „auf das Kapitol“ und das „weisse Haus“: „[…] so in seinem Heim, so bei seinen Memoiren, so allein und doch nicht allein mit seinem Hass, so allein und doch nicht allein mit seinen Toten […].“42 Attentäter und Objekt, Opfer und Täter gleichen sich an, laborieren an denselben Ängsten und Verletzungen, die in einer unmittelbaren, intern fokalisierten Perspektive – „in Joycescher Manier“ – wiedergegeben werden. Der zweite Erzählkreis des Manuskripts besteht aus der mit „Lebenslauf M“ überschriebenen Biographie eines Helden, den Koeppen imaginiert und der später höchst verrätselt, andeutungsweise und kaum erkennbar, in der Figur Kaplan einer 1974 unter dem Titel Angst in der Zeitschrift Merkur publizierten Erzählskizze auftaucht. Es handelt sich um den Psychoanalytiker, die dritte Figur des Romans, dessen Lebenslauf entlang von autobiographischen Daten und Stationen des Autors Koeppen sowie im Kontext der Erzählwelt von Jugend angelegt ist: geboren 1900, Studium der Jurisprudenz in Greifswald, 1923 ohne Studienabschluss nach Berlin, Mitarbeiter bei einer Berliner Zeitung, dann Emigration nach Wien, Den Haag und in die USA. M wird Psychoanalytiker und psychologischer Berater in Washington, zugleich Professor für politische Wissenschaften und Mitglied des Teams von J.F. Kennedy. Mit dieser Biographie ist zugleich der Plan eines Romans entworfen, der am Ende in einer intensiven Beschäftigung dieses Helden mit dem Attentäter mündet oder auch dieses Attentat als (Erzähl-) Anlass für den gesamten Roman nimmt. Auf einem weiteren Manuskriptblatt sinniert der Autor Koeppen über diese Figur: „Aber wäre er am Ende mehr als bestenfalls ein behinderter Dr. Faust? Sicher eine zeittypische Figur. Vielleicht nur ein gutwilliger und gutmütiger Scharlatan.“ Sein In40
WKA Greifswald, Signatur: MID 2, 27. WKA Greifswald, Signatur: MID 2, 30. 42 WKA Greifswald, Signatur: MID 2, 31. 41
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teresse für den Fall Oswald jedenfalls – so die Schlussfolgerung und das Ergebnis – soll einem „verletzten Rechtsgefühl“43 entspringen; hier spitzt sich die Biographie auf ein sie zuletzt charakterisierendes Motiv zu, das zwar weitgehend im Dunkel gelassen wird, offensichtlich aber aus dieser Biographie entfaltet werden soll. Der Roman entwirft Erzählsituationen, die mit jeweils unterschiedlichen Erzählformen verbunden sind. Auf der Bewusstseinsebene des Attentäters Oswald und des amerikanischen Generals kommen die Erfahrungen und Gefühle der Isolation, der Angst und der Verletzungen weitgehend unverstellt, intern fokalisiert und daher auch unerklärlich zum Ausdruck: jener Bereich, der sich mit dem gesellschaftstheoretischen Begriff der sozialen Pathologien erfassen lässt. Beide Figuren sind aus sozialen Interaktionen gewissermaßen herauskatapultiert worden, sie sind heimatlos, hegen eine diffuse Angst und einen diffusen Hass. Sie leiden an sozialer und gesellschaftlicher Desintegration und spüren die Folgen einer Verweigerung jener Anerkennung, die ihnen als Mitglieder einer Gesellschaft zukommen sollte. In der Figur M sollen die deutsche Geschichte, die wechselnden politischen und gesellschaftstheoretischen (Unrechts-)Systeme mit einem biographischen Lebensentwurf verknüpft und narrativ entfaltet werden. Das „verletzte Rechtsgefühl“ markiert ein Motiv für dieses Emigrantenleben, das am Ende in das Interesse für den Attentäter und das Attentat mündet. Die Figur soll „zeittypisch“ sein, das heißt, die in die Biographie hinein gewobenen Umstände bilden eine Art Genealogie von Unrechtserfahrungen im 20. Jahrhundert; zugleich bezieht sich die Pathologie hier auf jene Dimension der Anerkennung, die mit dem Rechtssubjekt und dem Rechtssystem verbunden ist. Der dritte Erzählkreis des in diesem Manuskriptkonvolut gesammelten Romanstoffes besteht aus autobiographischen Skizzen, die sich auf die Erzählstimme der Figur M beziehen könnten und dabei gleichzeitig das die Figuren verbindende Thema des Romans entwickeln. Es sind Momentaufnahmen eines auch in Jugend entfaltenden Szenarios: Ein Ich-Erzähler schildert sein Jugenderlebnis als Mitarbeiter an einem Theater, wo er mehrfach Giuseppe Verdis Oper Der Maskenball sieht. Der junge Mann recherchiert anschließend in der Universitätsbibliothek über die historischen Hintergründe und die Motive politischer Attentate. Der ‚Maskenball‘ wird zu einer Metapher für die politische, aber auch die gesamte Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, und der politische, zumeist von Einzeltätern und Einzelgängern unternommene Anschlag auf einen Repräsentanten der Macht markiert die Schnittfläche der individuellen und der politischen Geschichte. In sämtlichen Romanfragmenten zum Maskenball bildet das Attentat auf John F. Kennedy den Kristallisationspunkt der individuellen Handlungen und der allgemeinen politischen Geschichte, es ist Ausdruck einer ziellosen Unruhe, einer Empörung, eines Unrechtsbewusstseins, einer eher pathologischen als politischen Motivation, die den politisch-gesellschaftlichen ‚Maskenball‘ unterbricht, ohne ihn aufzulösen oder zu beenden.
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WKA Greifswald, Signatur: MID 2, 23.
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In den Notizen zu diesem Roman(-teil) sind demnach sämtliche Elemente des ungeschriebenen Romans von Koeppen versammelt: der Lebenslauf und die Geschichte einer Figur, die repräsentativ sein soll für die Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts; die Bewusstseinsberichte von Figuren, Tätern und Opfern gleichermaßen, die in literarisch-modernistischer Form, „in Joycescher Manier“, wiedergegeben werden; die autobiographische Genealogie eines Motivs, das Geschichte verdichtet und dabei Opfer und Täter vereint. Entscheidend ist, dass die verschiedenen Dimensionen des hier vorgeführten Erzählens die Pathologien der Moderne im 20. Jahrhundert auf sehr vielschichtige Weise darstellen: Auf der Bewusstseinsebene der unterschiedlichen Figuren kommt der unmittelbare Ausdruck existenzieller Leiden zu seinem Recht. Im Kontext einer narrativen, biographisch und historiographisch angelegten Geschichte findet sich das diagnostische Erklärungspotential für diese Leiden: ein verletztes Rechtsgefühl, Emigration, Kindheitserlebnisse, eine Geschichte misslungener Anerkennungsverhältnisse. Wolfgang Koeppens nicht zu Ende geführter, mehrmals abgebrochener und wieder aufgenommener Versuch, einen Roman über das 20. Jahrhundert zu schreiben, markiert letztlich ein literarisches und literaturtheoretisches Problem des modernen Erzählens: die Verbindung einer narrativ und historiographisch motivierten, biographisch angelegten Geschichte mit der unmittelbaren Bewusstseinsebene der handelnden Figuren. Das Erzählproblem – und darauf kommt es mir in diesem Zusammenhang an – verweist auch auf den Kern der Diagnostik sozialer Pathologien: die Konstruktion eines narrativen Verlaufs, entweder als Anamnese, als Autobiographie, als identitätsstiftende Erzählung, sowie die unvermittelt auftretenden Empfindungen, das Leiden, die Empörung, die Angst, den Ekel, den Verlust von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung. Der Roman als ein literarisches Unternehmen nicht nur bei Wolfgang Koeppen vereint auf diese Weise Darstellung und Diagnose, Pathologie und Therapie, immer mit dem Anspruch, die Stimmen der ‚kranken‘ Subjekte und der sie behandelnden Analytiker, das Dokument einer Fallgeschichte und die Ansätze einer gesellschaftstheoretischen Interpretation zu verbinden. Der Umgang mit Wolfgang Koeppen ist ein literaturhistorischer Umgang geworden: Wir blicken auf ein Werk der literarischen Moderne zurück, das über unsere Nachkriegszeit erzählt. Es erzählt mit den literarischen Mitteln des frühen 20. Jahrhunderts, es spiegelt die Unheilsgeschichte dieses Jahrhunderts, eine heillose Welt. Im Text Ein Kaffeehaus ist sie auf drei Seiten komprimiert: Die Ärzte heilten oder sie heilten nicht. Unser künftiger Umgang mit Wolfgang Koeppen könnte auch davon bestimmt sein, dass dieser Autor dreißig Jahre lang versucht hat, diese Erzählweise, die frühe Literatur des 20. Jahrhunderts zu verlassen und etwas anderes darzustellen, etwas anderes zu schreiben: einen Roman, in dem weitere und mehrere Stimmen, mehrere Erzähler und mehrere Geschichten zu Wort kommen. Es wäre ein Roman, in dem sich das Erfahrungs- und Erklärungspotential im Blick auf das 20. Jahrhundert noch einmal erweitert – und damit auch das Potential einer weit über dieses Jahrhundert hinausweisenden Literatur.
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Katharina Krüger
„auf den jetzt modernen und unheimlichen Maschinen, die man elektrische Gehirne heißt, da liegt die Erinnerung in einem unordentlichen verwirrenden Netz“ Zur Edition von Wolfgang Koeppens Jugend 1. Die letzte Sequenz von Wolfgang Koeppens Prosatext Jugend beginnt mit dem Satz: „Ich schrieb, meine Mutter fürchtete die Schlangen“.1 Damit wird auf den Anfang des Buches verwiesen und zugleich auf den Modus des autobiographischen Schreibens, der Jugend zum Teil prägt. An die mit diesem Zitat eingeleitete, den Buchanfang nacherzählende Passage knüpfen diskursive, dichte Ausführungen über das Verstehen und Erinnern an, aus denen das Zitat des Beitragstitels entnommen ist und die schließlich übergehen in die das Buch abschließende Beschreibung des letzten gemeinsamen Spaziergangs von Mutter und Sohn. Die verschiedenen Reminiszenzen an den vorangegangenen Text und die Schreibweise mit dem hohen Grad an Verdichtung, ausgeführt in umfangreichen parataktischen Satzstrukturen, sind durch die Buchlektüre vertraut und zugleich herausfordernd, man könnte auch sagen: schwer zu verstehen. Dabei wird gerade in dieser letzten Sequenz das Verstehen in zweifacher Hinsicht thematisiert: Zum einen das Verstehen des (autobiographisch) Schreibenden bzw. Erzählenden, zum anderen das Verstehen des Geschriebenen durch den Lesenden: Aber wird man mich verstehen? Ich darf nicht zugeben, daß es gleichgültig wäre, ob mich keiner versteht oder einer, der natürlich wichtig würde und meine Bemühung nicht ganz vergeblich sein ließe, wenn ich auch selber nicht weiß, ob ich etwas verstanden habe oder überhaupt etwas zu verstehen war. Es ereignete sich etwas, und es ereignet sich ja immer etwas und unendlich viel, es war einmal und wird sein, das ist unübersehbar, aber dies betraf mich, nicht andere, obwohl was andere zerschmettert auch mich vernichtet, oder ich beobachtete etwas, es ging vor, ich habe es erlebt, ich war Zeuge, es war ein Augenblick, eine Sekunde, ich könnte annehmen, möchte hoffen, es war ein bestimmter wenn auch winziger Punkt in der Zeit, ein immerhin zu lokalisierendes Ereignis im All, und schon weggewischt und wäre nie
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Wolfgang Koeppen: Jugend. Frankfurt/M. 1976, S. 142. Der Text wird nach Freischaltung der Website auch in der digitalen textgenetischen Edition unter www.koeppen-jugend.de (hg. von Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo und Eckhard Schumacher) abrufbar sein sowie als Leseausgabe im Rahmen der Ausgabe Wolfgang Koeppen: Werke, Bd. 7 (hg. von Eckhard Schumacher) verfügbar sein. Beide Editionen erscheinen 2016 bei Suhrkamp (Berlin). Unter dem Begriff „Sequenz“ werden in der digitalen Edition die Textabschnitte verstanden, die im gedruckten Buch durch Leerzeilen typographisch voneinander separiert sind. Sie sind mit einer Zählung versehen worden.
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gewesen, ruhte es nicht gespeichert in mir, in dem Gedächtnis irgendeiner Zelle, die ermüden, krank, ausgemerzt, veröden, sterben kann, doch solange ich bin und denke, die furchtbaren Gefahren überstehe, nicht den Verstand verliere, sind Aufzeichnungen da, Daten, wie sie es nennen, die hervorgezogen, herbeigerufen werden können wie auf den jetzt modernen und unheimlichen Maschinen, die man elektrische Gehirne heißt, da liegt die Erinnerung in einem unordentlichen verwirrenden Netz, griffbereit, nur wehe, wenn ich den Schlüssel verloren habe, die Fähigkeit, den Mechanismus zu bedienen, wenn ich die Taste nicht mehr finde, die Vergangenheit herbeiruft, sie zur Gegenwart und gar zur Zukunft in unentrinnbare Beziehung setzt, vielleicht konnte ich nie mit dem umgehen, mit dem mich die Schöpfung ausstattete, und nur noch zufällig löst irgendeine ungewollte Erregung ein Bild aus dem Vorrat bewahrter doch vergessener gleichgültiger Eindrücke und macht es bedeutsam, wiederholt den längst vergangenen Augenblick, schafft ihn neu oder täuscht mich darin2.
Es scheint, als würde hier nicht nur über memo-kognitive Prozesse reflektiert: ein „unordentlich[es] verwirrend[es] Netz“, das scheint auch auf den Text selbst zuzutreffen, der in einzelne Textminiaturen segmentiert ist, die doch ein zusammengehöriges Geflecht ergeben.3 Bei Kenntnis des Nachlasses ist man zudem geneigt, dieses Bild auch auf die schwer zu überblickende, rhizomatische Netzstruktur des Typoskriptkonvoluts zu übertragen, das im Verhältnis zum publizierten Text sehr umfangreich ist. Derzeit entsteht eine digitale textgenetische Edition der Typoskripte, die diese Ausgangslage adäquat wiedergeben möchte und zugleich Wege durch das Material erschließt.4 Anhand der letzten Sequenz von Jugend möchte ich exemplarisch zeigen, wie der Manuskriptbefund im Detail aussieht und welche Strategien für die Edition von Jugend daraus resultieren.
2. Als Wolfgang Koeppen 1976 die Öffentlichkeit mit der ersten Buchpublikation nach vielen Jahren des vermeintlichen Schweigens überraschte, war ein Großteil der in Jugend arrangierten Sequenzen bereits zuvor an anderer Stelle publiziert worden. Erste Sequenzen erschienen im Merkur im März 1968 unter dem Titel Anamnese.5 Es handelt
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Koeppen (Anm. 1), S. 143–144. „Verwirren“ kann auch die im Text außer Kraft gesetzte Chronologie. Kußmann hat jedoch bemerkt, dass das zwar auf die Zeitgeschichte zutrifft, die Lebensgeschichte des Protagonisten hingegen chronologisch erzählt ist. Matthias Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Wolfgang Koeppens Spätwerk. Würzburg 2001, S. 47. 4 Die digitale textgenetische Edition entsteht im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes „Wolfgang Koeppens Jugend – Nachlasserschließung, textgenetische Untersuchung, Digitalisierung und Edition“. Zur Nachlasssituation und den Editionsstrategien der digitalen Edition vgl. auch Katharina Krüger: Wolfgang Koeppens Textwerkstatt als editorische Herausforderung. Zur Edition von Wolfgang Koeppens Jugend. In: Thomas Bein (Hg.): Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Berlin u. a. 2015 (Beihefte zu editio, 39), S. 139–144. Zur Konzeption einer heutigen Edition und zu ihren Zielsetzungen vgl. den grundlegenden Beitrag von Bodo Plachta in diesem Band. 5 Wolfgang Koeppen: Anamnese. In: Merkur 239, Jg. 22, Heft 3, März 1968, S. 252–259. 3
Zur Edition von Wolfgang Koeppens Jugend
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sich um einen Text aus drei Sequenzen, die sich alle in besonderem Maße der Figur der Mutter und deren Geschichte widmen. Diese drei Sequenzen wurden von Koeppen in den Buchtext Jugend nahezu unverändert integriert, jedoch nicht als Verbund, sondern separiert voneinander an verschiedenen Stellen. Die Satzvorlage, die sich im Siegfried Unseld Archiv, Marbach, befindet, bestätigt auf ungeahnt prägnante Weise diese Zusammenhänge. Das Manuskript besteht zu überwiegendem Teil aus ausgerissenen Seiten von Sonderdrucken der zuvor bereits publizierten Texte, die aufgeklebt wurden auf Papier im Format DIN A4. Der Autor selbst hat die Seiten handschriftlich paginiert und die Abstände zwischen den Sequenzen markiert. Die in der Koeppen-Forschung schon länger im Raum stehende Vermutung, der Autor selbst sei an der Zusammenstellung der Sequenzen des Buchtextes nicht oder nur bedingt beteiligt gewesen, kann durch den Fund der Satzvorlage nun erstmals mit Gewissheit widerlegt werden.6 Die handschriftlichen Abstandsmarkierungen unterstreichen zudem, dass es sich bei der Sequenzierung des Textes um eine dem Text immanente, vorgesehene Struktur handelt, die nun auch als Ordnungskriterium der digitalen textgenetischen Edition dient, indem sich Nutzer u. a. alle vorliegenden Textträger zu einer Sequenz anzeigen lassen können. Diese Textträger im Nachlass, ein Konvolut von rund 1500 Blatt, sind die materiellen Spuren eines Schreibprozesses, der schließlich in der Abgabe der Satzvorlage mündete, ohne dass diese Ziel der Arbeit gewesen zu sein scheint. In dem Konvolut wird vielmehr ein Schreibprozess sichtbar, der changiert zwischen dem Wunsch nach Struktur und dem gleichzeitigen Treiben lassen in einem Schreiben und Überarbeiten, das kein Ende zu finden scheint. Koeppen hat an Jugend über einen langen Zeitraum seit dem Beginn der 1960er Jahre gearbeitet, jedoch nicht systematisch, sondern diskontinuierlich, eruptiv, immer wieder neu ansetzend. Der Arbeitsprozess bei diesem Langzeitprojekt verlief nur partiell teleologisch oder linear; der Autor lässt sich als „prozeß-orientierter Allesschreiber“ charakterisieren, der „sich sozusagen vom Sog des Schreibens selbst tragen und leiten“7 lässt, ohne stets auf das Endprodukt fokussiert zu sein.8 Zugleich werden aber auch auf einigen Typoskripten vergebliche Bemühungen deutlich, eine Ordnung herzustellen, Vorhandenes einzuordnen und noch zu Schreibendes zu benennen, begleitet von zahlreichen Notizen, die
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So fragen Günter und Hiltrud Häntzschel in ihrer Biographie: „Hat Koeppen das Buch wirklich selber zusammengestellt oder hat er die Zusammenstellung durch andere lediglich im Nachhinein ,gebilligt‘?“ (Günter Häntzschel / Hiltrud Häntzschel: Wolfgang Koeppen. Leben – Werk – Wirkung. Frankfurt/M. 2006, S. 114.) 7 Almuth Grésillon: Literarische Schreibprozesse. In: Kirsten Adamzik / Gerd Antos / Eva-Maria Jakobs (Hg.): Domänen- und kulturspezifisches Schreiben. Frankfurt/M. u. a. 1997, S. 239–253, hier S. 241. 8 Zumindest trifft das für die Zeit ab den 1960er Jahren und insbesondere für das Jugend-Konvolut zu. Inwiefern es auf die Romane Koeppens zutrifft, kann aufgrund fehlender Manuskripte heute nicht mehr festgestellt werden. Die Zeit der zügigen Produktion literarischer Texte in den 1950er Jahren lässt aber eher darauf schließen, dass hier konzentrierter auf das Produkt hin geschrieben wurde. Zu den verschiedenen Schreibertypen vgl. Almuth Grésillon (Anm. 6), S. 241–242 sowie Dies.: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999, S. 132ff.
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u. a. die Unentschlossenheit in der Art des Erzählens und das Scheitern des eigenen Schreibens thematisieren.9 Mehrheitlich entsteht jedoch unmittelbar Prosa, ohne dass das Schreiben durch ein schriftlich festgehaltenes Konzept oder poetologische Notizen ausführlich vorbereitet oder antizipiert würde. Das Schreiben verläuft dabei in unterschiedliche Richtungen: Auf der einen Seite werden sehr verdichtete Texte, die teilweise ohne Satzzeichen in einem Fluss geschrieben sind und sehr gedrängt viele Motive und Themen aufweisen, in einzelne Sequenzen auseinanderdividiert (ein Beispiel hierfür sind die ersten beiden Sequenzen der Publikation Anamnese, die den späteren Buchsequenzen 1 und 37 entsprechen und die temporär in einer Sequenz zusammenmontiert waren); überwiegend entstehen jedoch Vorstufen zu bereits separierten Sequenzen, deren Umfang und Komplexität im Verlauf der Genese zunehmen.
3. Im Falle der eingangs zitierten letzten Sequenz ist die Genese im Vergleich zu anderen Sequenzen überschaubar. Der avant-texte10 besteht in diesem Fall aus einer Reihe von zumeist undatierten Vorstufen, die sich zum Teil nur geringfügig voneinander unterscheiden. Diese Texte in eine gesicherte chronologische Abfolge zu bringen ist mitunter kaum möglich. Um jedoch die textgenetischen Zusammenhänge adäquat abzubilden, werden die Typoskripte in der digitalen textgenetischen Edition virtuell in Gruppen angeordnet. Eine Gruppe kann dabei aus einem oder beliebig vielen Dokumenten bestehen, die jeweils aufgrund bestimmter textueller oder metatextueller Eigenschaften zusammengefasst und zu den anderen Gruppen in eine Vorgänger/Nachfolger Relation gebracht werden. Visualisiert wird diese Abfolge schließlich als genetischer Pfad. Die zugrunde liegenden textgenetischen Überlegungen, aus der die Anordnung und Abfolge der Gruppen resultieren, werden dabei in den Beschreibungen der textgenetischen Gruppen erläutert. Wie sieht nun der genetische Pfad für die letzte Sequenz aus? Feststellen lässt sich eine Reihe textgenetischer Gruppen: Die erste besteht aus zwei Textträgern, die auf den 2.7.1963 datiert sind (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M012-013 und -014). Bis zum Erscheinen der Publikation Anamnese 1968 vergehen fünf Jahre, die Buchpublikation Jugend erscheint 1976 und somit weitere acht Jahre später – Koeppens Jugend ist also schon aufgrund der Spannweite der Datierungen ein Langzeitprojekt.
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Vgl. dazu Walter Erhart, der die Notizen im Jugend-Konvolut als Spuren des nicht umgesetzten, großen Romans identifiziert: Walter Erhart: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur. Konstanz 2012, hier insbesondere Kapitel VI: „Der Roman ist hoffnungslos und deprimiert“. Koeppens Notizen zum „großen Roman“ (1962–1965), S. 257–293 sowie den Beitrag von Elisabetta Mengaldo in diesem Band. 10 Betrachtet werden ausschließlich jene Typoskripte, die sich der letzten Buchsequenz zuordnen lassen. Sie befinden sich, sofern nicht anders angegeben, im Wolfgang-Koeppen-Archiv, Greifswald.
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Der Text ist hier deutlich kürzer als die spätere Buchsequenz. Die wesentlichen Inhalte sind jedoch bereits angelegt. Das Speichermedium Gedächtnis wird in dieser ersten Vorstufe noch zweifach bildlich beschrieben: Es ereignete sich, es ging vor, ein Augenblick, eine Sekunde, und dann wie weggewischt, wie nie gewesen, und doch aufgespeichert in einem Gedächtnis, wenigstens in meinem, da solange ich bin, wenn auch in einem Kasten, zu dem ich den Schlüssel verloren habe, oder in einem Erinnerungssystem mit einer Tastatur, die ich nicht mehr zu bedienen verstehe […]. [Hervorhebung K.K.] (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M012-013)
Das Gedächtnis wird hier noch in zweifacher Weise beschrieben: Als „Kasten“ und als „Erinnerungssystem mit einer Tastatur“, beides steht sich jedoch oppositionell gegenüber. Die zweite textgenetische Gruppe definiert sich hingegen darüber, dass hier durch die Wiederaufnahme des Schlangenmotivs: „Ich sage, sie fürchtete die Schlangen, aber wird man mich verstehen?“ die für die Publikation Anamnese und die spätere Buchpublikation charakteristische Rondoform etabliert wird, bei der der Anfang mit dem Ende korrespondiert (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M016-MP2-001 bis -003). Die undatierten Typoskripte sind offenbar chronologisch der ersten Gruppe nachfolgend; das Papier der Typoskripte der beiden ersten Gruppen trägt jedoch ein identisches Wasserzeichen. Aufgrund dieses Indizes lässt sich auf eine zeitliche Nähe schließen. Neben maschinenschriftlichen Korrekturen enthalten die Typoskripte dieser Gruppe Korrekturen mit einem roten Kugelschreiber, die häufig als Alternativvarianten fungieren: So bleibt aufgrund der sonst geläufigen, hier fehlenden handschriftlichen Durchstreichung unentschieden, ob die Hand „den Bissen“ oder „das Kotelett“ „zum Munde führt“.
Abb. 1 Wolfgang-Koeppen-Archiv Greifswald, Signatur: MID355-M026-MP2-002 (Ausschnitt)
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Sowohl maschinenschriftliche als auch handschriftliche Änderungen zeichnen wir in der digitalen Edition mithilfe des vom Kompetenzzentrum Trier entwickelten Tools Transcribo XML-codiert aus. Die Gegenüberstellung von Dokument und Text ermöglicht es dabei, die Lesarten der HerausgeberInnen zu verifizieren oder in Zweifel zu ziehen. Der Text der letzten Sequenz gewinnt in der Genese fortschreitend an Umfang, indem die einzelnen Sätze durch parataktische Einfügungen um Assoziationen und Präzisierungen ergänzt werden: Es ereignete sich etwas, und es ereignete sich unendlich viel, jetzt und immer, es war einmal und wird so weitergehen, das ist unübersehbar, aber dies betraf mich, oder ich beobachtete es, es ging vor, ich habe es erlebt, ich bin Zeuge, es war ein Augenblick, eine Sekunde, ich könnte annehmen, ich möchte hoffen, es war ein wenn auch winziger Punkt in der Zeit, ein immerhin zu lokalisierendes Ereignis im All, und schon ist es wie weggewischt, nie gewesen, würde es nicht aufgespeichert in mir, in dem Gedächtnis irgendeiner Zelle, die ermüden, krank, ausgemerzt werden, sterben kann doch solange ich bin und denke, die Gefahren überstehe, nicht den Verstand verliere, sind Daten da, die hervorgezogen, herbeigerufen werden können wie auf diesen jetzt modernen und unheimlichen Maschinen, die man elektrische Gehirne nennt, da liegt die Erinnerung in einem Kasten, griffbereit, nur wehe, wenn ich den Schlüssel verloren habe, die Fähigkeit, den Mechanismus zu bedienen, wenn ich die Taste nicht mehr finde, die Vergangenheit gegenwärtig macht […]. [Hervorhebung K.K.] (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M026-MP2-001)
Das traditionellere Bild eines verschlossenen Erinnerungskastens wird nun mit dem modernen eines elektronischen Systems kombiniert, für das andere Schlüssel benötigt werden – wobei der Computer nicht nur im übertragenen Sinne ein Erinnerungskasten sein kann, denn das Gerätegehäuse ist schließlich auch eine Art Kasten, und auch die heute etablierte deutsche Terminologie scheint mit Begriffen wie Speicherplatz oder Arbeitsplatz tendenziell eher auf einen konkreten Ort zu weisen. Der Terminus elektrische Gehirne hingegen bringt menschliche, kognitive Fähigkeiten ins Spiel. Damit wird expliziter angeknüpft an den zeitgenössischen Diskurs der 1960er Jahre um die sich etablierende Computertechnik, in dem dieser Begriff kursierte. Die elektrischen Gehirne verleiteten dabei zeitweise sogar zu der Annahme, Koeppen habe beim Schreiben parallel eine aktuelle Ausgabe des Spiegels vorliegen gehabt. Erstaunliche Korrespondenzen zwischen dem Text der Sequenz und der Titelstory „Elektronenroboter in Deutschland“, wie der Vergleich mit dem menschlichen Gehirn, eine Karikatur mit dem Zitat „Cogito, ergo sum“, Werbeanzeigen zu Verpackungsmaterialien, Schlüssel und Fotographien führten zu dieser Vermutung. Durch die Lektüre des ersten Typoskripts gerät die These nun jedoch ins Wanken, denn die Datierung auf den 2.7.1963 und die vermutete zeitliche Nähe der zweiten Gruppe sind mit dem Erscheinungsjahr des Spiegels – 1965 – nicht kompatibel.11
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Vgl. Der Spiegel, 26. Mai 1965, 19. Jahrgang, Nr. 22, S. 56ff.
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Dennoch lässt sich ein Interesse Koeppens an den elektrischen Gehirnen weiterhin konstatieren, denn in seiner Bibliothek, die sich heute im Wolfgang-Koeppen-Archiv Greifswald befindet, finden sich einige einschlägige thematische Bücher. Auch in den Texten spielen elektrische Gehirne eine Rolle: Bereits in Das Treibhaus (1953) findet sich eine Erwähnung, ebenso an einer weiteren Stelle in Jugend.12 Koeppens Schreibtätigkeit haben die neuen Medien trotz dieser Affinität bis zu seinem Tod 1996 kaum mehr beeinflusst: Obwohl Koeppen sich mit seiner zuletzt erworbenen, nur noch wenig benutzten elektronischen Schreibmaschine mit Diskettenlaufwerk dem Computerzeitalter annäherte, scheint er am technischen Fortschritt nicht mehr umfassend partizipiert zu haben. Die dritte textgenetische Typoskript-Gruppe besteht aus zwei Seiten, die mit einem blauen Kugelschreiber korrigiert wurden und von denen sich ein unbearbeiteter Durchschlag erhalten hat (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M028-003 und -004 sowie MID355-M030-001 und -002). Während die „elektrische[n] Gehirne“ zuvor noch mit einem „Kasten“ assoziiert wurden, wird nun das Wort „Kasten“ durch „Netz“ ersetzt, der Schlüssel jedoch bleibt im Text fortan sozusagen als Relikt des „Kastens“ erhalten (siehe Abb. 2). Die vierte Gruppe beinhaltet drei Seiten, die der Publikation Anamnese und somit auch dem Text in Jugend nahezu entsprechen (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M030-003 bis -005). Das Netz erhält hier nun die Attribute „unordentlich verwirrend“. In der Gegenüberstellung mit der vorigen Variante ist jedoch vor allem die Abwandlung des Schlusses auffällig, indem der letzte Satz „Ich empfinde einen brennenden Schmerz, ich empfinde nichts“ nunmehr ersetzt wird durch Der Reif ist um die Brust gelegt, es brennen die Augen, die feucht werden, es brennt die Hand, die erstarrt, wie sehr das schmerzt, denn ich spürte nichts, es war nicht mein Tod, der sich im Eishaus der Sträucher unter den kahlen Kastanien entkleidete, ich verließ sie schon oder ließ sie mich verlassen, Iphigenie, wie üblich, auch wenn ich ihr den Arm reichte, xxxx oder sie heimführte oder so tat und an das Geschäft dachte, das ich nicht habe. (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M030-005)
Eingeflochten werden hier unter anderem das Bildungszitat „Iphigenie“ sowie „das Geschäft, das ich nicht habe“, was wohl auf die berufliche Situierung des Protagonisten anspielt, zugleich aber auch übertragbar zu sein scheint auf den Autor. Hier, aber auch die Jugend-Genese im Ganzen betreffend, könnten intertextuelle Zusammenhänge bestehen zu dem von Koeppens fürs Radio geschrieben Beitrag in der 12 Im
Treibhaus heißt es: „und Forst-Forestier war das Werk, das in Gang gesetzt wurde. Er eiferte den elektrischen Gehirnen nach“ (Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Bd. 1–6. Frankfurt/M. 1986, Bd. 3, S. 242). In der fünften Sequenz von Jugend hingegen: „Alle beobachteten, wer zu Feetenbrink ging. Nicht nur alte Weiber hockten hinter den Fensterspiegeln, diesen wie Periskope oder Polypenaugen auf die Straße hinausgestreckten Spionen und registrierten, was anfiel, speicherten die Daten, jederzeit bereit, sie wieder auszuspucken, bleich entrüstet, neidgrün verfärbt, frühe Elektronengehirne.“ (Koeppen [Anm. 1], S. 26f.)
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Abb. 2 Wolfgang-Koeppen-Archiv Greifswald, Signatur: MID355-M028-003
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Reihe „Das Tagebuch und der moderne Autor“ mit dem Titel „Unlauterer Geschäftsbericht“13, zu dem eine Reihe von auffälligen Analogien bestehen. So entwirft Koeppen in diesem Text die futuristische Vision eines umfassenden Aufzeichnungsgerätes, um schließlich über seine eigene Arbeitsweise zu berichten: Die Idee des großen Tagebuchs, die mich beschäftigt hat, wäre nur mit einer Art Elektronenzephalogramm zu verwirklichen, einem Gerät, das nicht Wörter, nicht einmal das in Wörter übersetzte Denken, sondern das Denken selbst aufzeichnete. […] Ein solches Dokument auch nur einer einzigen Autoren-Existenz würde, transkribiert, gedruckt, gebunden, wahrscheinlich schon räumlich das Fassungsvermögen der größten öffentlichen Bibliothek überschreiten. […] Gemessen an diesem Gut der ganzen, der ausführlichen Wahrheit ist jedes Tagebuch eine Fälschung, ein unlauterer Geschäftsbericht, oder anders ausgedrückt, ein Ausschnitt, eine Wahl, ein frisierter Gedanke, Kunst. Mein eigener unlauterer Geschäftsbericht sind Zettel, irgendwo aus irgendeinem Impuls beschrieben, verloren, zufällig aufgehoben, vergessen, nicht wieder angesehen oder selten, wiederum zufällig, nicht geordnet, nicht in einen Kasten getan, nicht als Stoff für ein Werk gedacht, denn sollte ich ein Werk schreiben, dann muß es zur Arbeit in mir sein, eine Kartothek lenkt ab.14
Eine nicht geordnete Zettelsammlung („nicht geordnet, nicht in einen Kasten getan“), ohne klar benennbare Schreibmotivation („irgendwo aus irgendeinem Impuls beschrieben“) und ohne das projektierte Ziel eines abgeschlossenen Ganzen („nicht als Stoff für ein Werk gedacht“). Der „Unlautere Geschäftsbericht“ geht schließlich über in drei Prosafragmente, über die Walter Erhart festhält: „wie zur Illustration präsentiert Koeppen am Ende dieses Essays einige der ,Zettel meiner großen Unordnung‘“ (GW 5, 274): drei nicht zusammenhängende Prosatexte, Bewusstseinsberichte und Traumsequenzen, Fragmente modernistischer Prosa, kein ,Stoff‘ und kein ,Werk‘.“15 Am Ende des Jugend-Konvoluts, das Koeppen hier bei der Beschreibung seiner Schreibtätigkeit zu Beginn der 1960er Jahre mit impliziert haben könnte, steht jedoch immerhin ein publizierter Text, eine eigenständige Buchpublikation, die als Wegmarke der textgenetischen Erschließung dient – auch wenn das Material und die Umstände nicht dafür sprechen, dass Jugend Ziel des Schreibens war. Die Publikation einzelner Ausschnitte schafft jedoch fixe Anhaltspunkte, anhand derer sich Typoskripte in ei-
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Wolfgang Koeppen: Unlauterer Geschäftsbericht. Zuerst in: Uwe Schultz (Hg.): Das Tagebuch und der moderne Autor. München 1965. Wiederabgedruckt in: Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Bd. 1–6. Frankfurt/M. 1986, Bd. 5, S. 265–278, hier S. 274. Ursprünglich handelt es sich um eine Arbeit für den Rundfunk, gesendet am 24.01.1965 in der Reihe „Literatur am Sonntagmorgen“. 14 Koeppen (Anm. 12), S. 274. Koeppen zitiert abschließend u. a. Goethe: „Goethe spottet: / ,Es schnurrt mein Tagebuch / Am Bratenwender / Nicht schreibt sich leichter voll / Als ein Kalender.‘ / Und doch und doch, es schnurrt nicht mehr so, das Tagebuch des modernen Autors. Es steckt was in diesem Braten, ein höllisches Rüchlein, das Ende, der Tod.“ (Ebd., S. 277.) Die Opferszene der letzten Sequenz („dies ist die Hand, die dich streichelte, meine Hand, die das Messer nahm, die Kehle aufreißt, den Leib zerhackt, den Braten wendet“) mit dem anschließenden letzten Spaziergang von Mutter und Sohn vor deren Tod ist es ähnliches, merkwürdiges Kurzschließen von Braten, Kulturgeschichte, Schuld und Tod, und die Erwähnung Iphigenies an dieser Stelle der Textgenese könnte auf eine weitere Goethe-Assoziation hindeuten. 15 Erhart (Anm. 9), S. 406.
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ne Chronologie bringen lassen. So liegen im Fall der letzten Sequenz textgenetische Gruppen vor, die sich unmittelbar auf die Zeit vor der Publikation von Anamnese 1968 und Jugend 1976 beziehen. Bei einer Gruppe handelt es sich um einen Durchschlag des Anfangs einer Reinschrift des Anamnese-Typoskripts mit großem Zeilenabstand und letzten Änderungen, die nach einigen Zeilen abgebrochen wurde (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M028-005). Vermutlich handelt es sich um eine verworfene Abgabeversion an die Redaktion des Merkur, von der sich einige ähnlich aussehende Seiten erhalten haben. Die daran anschließende Gruppe schließlich enthält den Text des Merkur, gefolgt von einer Gruppe mit einer weiteren Veröffentlichung, nämlich einem Manuskript für eine Sendung am 21.6.1976 im Bayerischen Rundfunk, das im Nachlass in zwei Kopien vorliegt. Der Wortlaut des Textes gleicht dem der Publikation Anamnese in Merkur 1968. Die anschließende Gruppe trägt den Titel „Vorbereitung Satzvorlage“. Es handelt sich um einige ausgerissene Seiten aus einem Anamnese-Sonderdruck. Zum Teil sind diese Seiten aufgeklebt und von Koeppen paginiert und korrigiert worden. Es bestehen damit große Analogien zur Satzvorlage. Die Änderungen finden sich jedoch nicht in der Marbacher Satzvorlage wieder. Die letzte rekonstruierte textgenetische Gruppe besteht aus den entsprechenden Seiten der Satzvorlage aus dem Siegfried Unseld Archiv in Marbach. Die auf der Satzvorlage markierte Tilgung ist nicht übernommen worden, dafür sind andere Änderungen im Text vorgenommen worden, die auf der Satzvorlage noch nicht markiert sind. Spätere Herstellungsunterlagen, etwa ein Umbruchexemplar, sind bislang leider nicht bekannt, könnten jedoch im Zuge der andauernden Erschließung des Archivs in Marbach noch aufgefunden werden. Es bleiben in diesem avant-texte drei Typoskripte übrig, die die Herausgeberinnen als isolierte Gruppen stehenlassen, weil sie sich nicht schlüssig in die Textgenese integrieren lassen. Das betrifft zum einen ein Typoskript, auf dem drei Sequenzen zusammengefügt sind (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M018-016); zum anderen ein Blatt mit nur einem initialen Satz: „ich sage, sie fürchtete die schlangen, aber wird man mich verstehen“ (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M001-064). Diese Typoskripte können nicht exakt im genetischen Pfad eingeordnet werden, sind jedoch mit der Entstehung der Sequenz assoziiert, genauso eines der Konzeptionspapiere (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M001-031). Durch die Erschließung und Aufbereitung im Rahmen der digitalen textgenetischen Edition konnten diese Querverweise und Verbindungen im Konvolut systematisch erfasst und visualisiert werden.
4. Anhand der Typoskript-Lektüre der 53. Sequenz lässt sich die Schreib- und Arbeitsweise Koeppens zeigen: Die Wiederaufnahme von Motiven aus anderen Sequenzen (hier das Schlangenmotiv, was dem Text in seiner späteren Gestalt die Rondoform gibt), die Montierung zeitgenössischer Diskurse in den Text (hier die elektrischen Gehirne), die im Text vorhandenen Relikte aus Vorstufen der Genese (hier die Ver-
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schmelzung der Vorstellung von einem mit einem Schlüssel zu öffnenden Kasten mit dem Bild eines per Tastendruck abrufbaren Datennetzes, wobei der Schlüssel als Relikt des Kastens im Text erhalten bleibt); das Einflechten von Bildungszitaten (Iphigenie), die zunehmende Verdichtung des Textes und die zu vermutenden intertextuellen Bezüge. Gleichzeitig erkennt man auch Koeppens Unordnung, die Lose-Blatt-Sammlung, das Chaos – ein Rhizom, in dem vieles – auch Verworfenes – der Aufhebung wert schien. Durch die digitale textgenetische Edition wird eine Lektüre des dossier génétique nun erstmals ermöglicht. Neben einer Lektüre anhand einer Sequenz, wie sie hier vorgestellt wurde, sind aber für die späteren Nutzer der Edition auch andere Interessen denkbar. So könnte ein gemeinsames, sequenzübergreifendes Betrachten all derjenigen Seiten, die das Schlangenmotiv beinhalten, ebenso aufschlussreich sein wie das Nebeneinanderlegen aller Textstellen, die auf die elektrischen Gehirne rekurrieren. Dabei ließen sich Fäden spinnen innerhalb des Konvoluts und darüber hinaus. Um diesen möglichen Nutzerinteressen entgegenzukommen haben wir uns entschlossen, für jedes Dokument Motive und/oder Themen zu benennen, die in einem Register erfasst sind. So bieten wir den Nutzern fakultative Lesepfade an, die es ermöglichen, beispielsweise die Erscheinungsweisen eines Motivs, eines Schauplatzes oder eines Eigennamens durch Entwürfe, Textstufen, Notizen und Fragmente hindurch bis zu den Publikationen und dem Text der Erstausgabe zu verfolgen. Koeppens Vision des Datenzugriffs auf ein unordentliches, verwirrendes Netz kann also auch paradigmatisch für die digitale textgenetische Edition stehen, innerhalb derer die Daten des rhizomatischen dossier génétique per Mausklick auf verschiedene Weise „hervorgezogen“ und „herbeigerufen“ werden können. Auch eine Art der Annäherung an Koeppens futuristische Visionen.
Literaturverzeichnis Der Spiegel, 26. Mai 1965, 19. Jahrgang, Nr. 22. Erhart, Walter: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur. Konstanz 2012. Grésillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999. – Literarische Schreibprozesse. In: Kirsten Adamzik / Gerd Antos / Eva-Maria Jakobs (Hg.): Domänen- und kulturspezifisches Schreiben. Frankfurt/M. u. a. 1997, S. 239–253. Häntzschel, Günter / Häntzschel, Hiltrud: Wolfgang Koeppen. Leben – Werk – Wirkung. Frankfurt/M. 2006. Koeppen, Wolfgang: Unlauterer Geschäftsbericht. Zuerst in: Uwe Schultz (Hg.): Das Tagebuch und der moderne Autor. München 1965. Wiederabgedruckt in: Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Bd. 1–6. Frankfurt/M. 1986, Bd. 5, S. 265–278. – Anamnese. In: Merkur 239, Jg. 22, Heft 3, März 1968, S. 252–259. – Jugend. Frankfurt/M. 1976. – Jugend. Digitale textgenetische Edition. Hg. von Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo und Eckhard Schumacher. Berlin 2016: www.koeppen-jugend.de.
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– Gesammelte Werke. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Bd. 1–6. Frankfurt/M. 1986. Krüger, Katharina: Wolfgang Koeppens Textwerkstatt als editorische Herausforderung. Zur Edition von Wolfgang Koeppens Jugend. In: Thomas Bein (Hg.): Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Berlin u. a. 2015 (Beihefte zu editio, 39), S. 139–144. Kußmann, Matthias: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Wolfgang Koeppens Spätwerk. Würzburg 2001.
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Schreibblockade oder Schreibwucherung? Wolfgang Koeppens Notizen, Fragmente und Vorstufen zu Jugend
Un poème n’est jamais achevé – c’est toujours un accident qui le termine, c’est-à-dire qui le donne au public.1 (Paul Valéry)
Für den „elenden Skribenten“2 Wolfgang Koeppen waren Schreibkrisen, Blockaden und Widerstände tägliches Brot. Und dass dies insbesondere die Textgenese von Jugend kennzeichnet, ist bekannt und wurde neulich von Walter Erhart in seiner Monographie über Koeppen betont, die nicht umsonst den Untertitel Das Scheitern moderner Literatur trägt.3 Das Wort „Scheitern“ begegnet häufig in Koeppens Nachlassnotizen. Exemplarisch lässt sich dies an einem handschriftlich überarbeiteten Typoskript zeigen (s. Abb. 1).4 Interessanterweise ist dieses Typoskript die Rückseite eines Blattes, auf dem sich Koeppen an dem Satz abgearbeitet hat, der schon in seinen Entwürfen in zahlreichen Varianten immer wiederkehrt („Meine Mutter fürchtete die Schlangen“, hier in der Variante „Deine Mutter…“) und der die erste und die letzte Sequenz in der Erstausgabe (1976) eröffnet. Schlangen als (auch) sexuell konnotiertes Motiv sowie als poetologische Metapher (die auf die Rondoform des Buches verweist) stellen in der Textgenese von Jugend eine regelrechte Obsession dar.5 Detailversessene Obsession und Angst vor dem Scheitern scheinen in Koeppens später Arbeitsweise eng zusammenzuhängen. Diese lässt sich auf jeden Fall vielmehr als ein „prozessorientiertes“ denn als ein
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„Ein Gedicht ist niemals fertig. Es ist immer ein Zufall, der es beschließt, d. h. es dem Publikum übergibt“ (Übers. d. Verf.). Vgl. Wolfgang Koeppen: Die elenden Skribenten. Aufsätze. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 1981. Walter Erhart: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur. Konstanz 2012. WKA Greifswald, Signatur: MID355-M034-001I. Wenn nicht anders angegeben, sind die Originale im Wolfgang-Koeppen-Archiv Greifswald (im Folgenden WKA abgekürzt) aufbewahrt. Zur Schlangensymbolik in Jugend vgl. u. a. Martin Hielscher: Zitierte Moderne. Poetische Erfahrung und Reflexion in Wolfgang Koeppens Nachkriegsromanen und in „Jugend“. Heidelberg 1988, S. 186–196. Zum Begriff „Sequenz“ und zu den Bezügen zwischen erster und letzter Sequenz des Buches vgl. den Beitrag von Katharina Krüger in diesem Band.
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Abb. 1 WKA Greifswald, Nachlass-Typoskript MID355-M034-001I
„produktorientiertes“ Schreiben6 bezeichnen, obwohl der Autor andauernd versuchte, durch Schreibpläne, Episoden- und Figurenauflistungen sowie hypothetische Kapitelüberschriften das fertige Produkt nicht aus den Augen zu verlieren. Aber um was für ein Scheitern handelt es sich oder besser gefragt: um was für verschiedene Arten des Scheiterns? Und: Handelt es sich wirklich bloß um ein gescheitertes Projekt oder sollte man diesen Text und dessen Genese gerade im Hinblick auf ihre Offenheit und Prozessualität auch als einen besonders interessanten Fall in der modernen Prosalandschaft beobachten? Koeppen ist zunächst einmal und für die Öffentlichkeit insofern gescheitert, als der geplante und seinen Verlegern (zuerst Goverts, dann Unseld) immer wieder versprochene große Roman nie erschienen ist. Stattdessen ist 1976 ein schmaler Band in der Reihe „Bibliothek Suhrkamp“ veröffentlicht worden, der Koeppen vom Verlag abgerungen wurde und der an manchen Stellen den Eindruck des Unausgegorenen, Provisorischen und Unabgeschlossenen macht.7 Koeppen selbst nannte ihn in einem späteren Brief an Unseld (1983) „eine blasse Skizze“8 des geplanten und noch zu realisierenden Romans. Die Frage, die sich dem textgenetisch interessierten Forscher stellt, ist zunächst einmal, ob er am zu viel oder am zu wenig gescheitert ist, etwas vereinfacht ausgedrückt: am
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In Anlehnung an Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999, S. 133. 7 Wolfgang Koeppen: Jugend. Frankfurt/M. 1976. 8 Wolfgang Koeppen / Siegfried Unseld: „Ich bitte um ein Wort“. Der Briefwechsel. Hg. von Alfred Estermann und Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2006, S. 419.
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Stoffmangel oder am Organisationsmangel. Folglich kommt es uns als HerausgeberInnen der digitalen textgenetischen Edition von Jugend9 darauf an, die Textgenese von Jugend nicht nur im Hinblick auf Widerstände und Blockaden, sondern auch auf das Wuchern von Material zu untersuchen – auf das also, was der Sortierung des Geschriebenen im Wege steht. Ein Blick in die etwa 1500 nachgelassenen Typoskripte (zum kleinen Teil auch Handschriften), die vermutlich der erste Nachlass-Verwalter Alfred Estermann kurz nach Koeppens Tod dem Jugend-Stoff zugewiesen hat, verrät erstens, dass Koeppen an einigen Passagen mehrmals, immer wieder und mit penibler Detailversessenheit gearbeitet hat (und an anderen wiederum kaum). Zweitens geht aus diesen Konvoluten hervor, dass neben den Entwürfen, die dem Jugend-Dossier klar zuzuordnen sind, sich zahlreiche andere befinden, die zumindest mit dem veröffentlichten Text nichts zu tun haben. Sie sind vielmehr Entwürfe und Fragmente anderer Erzählstoffe, die entweder eine Alternative zu den in Jugend vorhandenen Erzählsträngen darstellen oder (häufiger) Material zur Fortsetzung der Handlung über die Mitte der 1920er Jahre hinaus enthalten – den Zeitpunkt also, an dem die Handlung von Jugend aufhört. In einem Brief an Unseld vom 13. Mai 1962 spricht Koeppen über den ersten Band eines geplanten dreiteiligen Romans, der mit der „Jugend des Erzählers“ beginnen soll.10 Und selbst nach der Veröffentlichung von Jugend träumte Koeppen noch vom großen Projekt in drei Teilen: „Drei Bände Stoff, Vorkrieg, Krieg, Nachkrieg. Holland, Berlin, Starnberg“.11 Eine zentrale editorische Frage, die wir uns gestellt haben, war, ob in einer textgenetischen Ausgabe von Jugend auch das Jugend-fremde Material ediert werden sollte, nur weil es sich in den wohlgemerkt nicht von Koeppen selbst sortierten Jugend-Kisten befand. Nun eigentlich ja, man sollte nach Möglichkeit den ganzen avant-texte eines Autors publizieren. Aber dann nicht unter Jugend: Es wäre vielmehr ein Teil einer anderen, umfangreicheren und noch zu planenden Edition, die den ganzen Nachlass ab etwa 1960 berücksichtigen müsste. Die andere Frage ist, welche Grenzen der Herausgeber innerhalb des Dossiers ziehen darf und soll – eine Entscheidung, die wohl von Fall zu Fall zu treffen ist und seitens der Benutzer der Edition immer hinterfragbar bleibt. Im Zentrum dieses Beitrags soll Koeppens Arbeitsweise stehen und es soll dabei der Versuch unternommen werden, einige theoretische und editorische Bestimmungen innerhalb dieses z.T. sehr chaotischen und heterogenen genetischen Dossiers festzulegen. Es geht im Folgenden um drei (Haupt-)Textsorten, in die wir dieses eingeteilt haben: Notizen, Vorstufen zu Jugend-Sequenzen und Fragmente.
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Wolfgang Koeppen: Jugend. Digitale textgenetische Edition. Hg. von Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo und Eckhard Schumacher. Berlin 2016: www.koeppen-jugend.de. 10 Koeppen / Unseld (Anm. 7), S. 76. 11 Koeppen / Unseld (Anm. 8), S. 350. Für die auch editorisch sehr interessante Geschichte dieses gescheiterten Projekts verweise ich auf die detaillierten Ausführungen Walter Erharts (Anm. 3).
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1. Koeppens Notizen: eine Fundgrube theoretischer und poetologischer Reflexionen Wenn er sich mit einem Motiv, einer Episode oder einer Figur befasst hat, hat Koeppen meistens zunächst etwas darüber notiert, oft nur stichwortartig, dann mit einer richtigen Aufzeichnung – oder, um auf die Unterscheidung von Roland Barthes in Die Vorbereitung des Romans zurückzugreifen: zuerst eine notula und dann eine richtige nota.12 Ein Beispiel einer notula bzw. einer Stichwortnotiz ist etwa in folgender Liste von Orten bzw. Schauplätzen, von Motiven und von Figuren zu finden, die nur aus Substantiven bzw. Nominalsyntagmen besteht: „Stettin. Das Bollwerk. Die Heuerstelle. Die Jugendherberge. Die Verzweiflung. Die Enge. Die lange Reihe. Das Fahrrad. […]“13. In einem anderen Fall (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M007-006, s. Abb. 2) sehen wir zuerst eine Auflistung von Jahren, die durch einen Schrägstrich von Zahlen getrennt sind, die sich vermutlich auf das Alter des Protagonisten (und – was für ein Zufall! – auch von Koeppen) beziehen, und dann eine Reihe von Fragen oder wiederum Auflistungen im Nominalstil. Ein Beispiel einer etwas umfangreicheren Notiz, also einer nota, ist auf einem Typoskript zu sehen, das schon ganze Sätze enthält. Es werden hier Motive geschildert, die mit dem Jugend-Stoff streng genommen nichts zu tun haben, es handelt sich nämlich um den Großmutter-Stoff, die Großmutter spielt aber in Jugend eine sehr marginale Rolle: Die Frage der Kinder: Artur, der Sohn aus erster Ehe, verdammt seine beiden Eltern, auch den ehrenhaften Inspektor. Er wütet gegen jede Autorität, geht zur See, und macht in Japan sein Glück. Gab es aus dieser Ehe noch ein zweites Kind, den halben Theologen, den verkniffenen Schullehrer?14
Am Ende dieser Seite lesen wir folgenden Satz: „Beschränke ich mich auf den einen Bruder, so würde etwa dies gesagt werden:“. Der nicht fiktionale Status der ersten Person markiert einen zentralen Unterschied zu Vorstufen und Fragmenten: In den Notizen bezieht sich das „Ich“ meistens nicht auf den Erzähler und Protagonisten (der meist in 3. Person erscheint), sondern auf den Autor Koeppen. Und dieser Autor erwägt zwar Möglichkeiten des Erzählens, erzählt aber im engen Sinne nicht, sondern beschreibt und stellt Hypothesen und Fragen auf.15 Um es in narratologischen Kategorien zu fassen: In den Notizen fällt das Ich des Erzählers weg zugunsten des Autor-Ich (das die Ent-
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Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt/M. 2008, S. 152–153. WKA Greifswald, Signatur: MID355-M034-003. 14 WKA Greifswald, Signatur: MID355-M018-021. 15 In Anlehnung an Harald Weinrich könnte man hier von einer erzählenden vs. einer besprechenden Sprechsituation und von einer erzählten vs. besprochenen Welt reden (vgl. Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1971). Dass in Jugend das Tempus des Erzählens nicht nur das Präteritum ist, sondern dass Koeppen zwischen vor Augen stellendem Präsens und erzählendem Präteritum schwankt, ist eine sehr interessante Tatsache, die einer längeren Untersuchung bedürfte. 13
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Abb. 2 WKA Greifswald, Nachlass-Typoskript MID355-M007-006
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wicklung des Romans mit seinen poetologischen Reflexionen zu ‚steuern‘ versucht), während wir in den Fragmenten und Vorstufen die Stimme des Erzählers sehr häufig in Form eines quasi autobiographischen bzw. eher autofiktionalen Ich hören.16 Tatsächlich bewegt sich auch der publizierte Text im Zwischenraum der Gattungen und macht dem Leser das ambivalente Angebot, ihn mal autobiographisch, mal fiktional zu lesen, wie eines seiner größten Vorbilder es tut: Prousts À la recherche du temps perdu.17 Dieser spielt jedoch noch stärker als Jugend mit dieser Unentscheidbarkeit, denn der Name des Protagonisten wird häufig genannt und ist dem Namen des Autors gleich (Marcel), während der Leser von Jugend den Namen des Protagonisten nie erfährt. Neben diesen Notizen, die den Romanstoff betreffen, gibt es zahlreiche für Koeppens Poetik sehr relevante Aufzeichnungen, die poetologische Reflexionen, Schreibskrupel, Unsicherheiten über die eigene Arbeit am großen Projekt usw. enthalten. Eine der auch gattungsgeschichtlich und -theoretisch interessantesten findet sich auf einem auf den 19. April 1963 datierten Typoskript. Dieses enthält Überlegungen zu Zeit- und Personendarstellungen, die sicher in den Kontext von Koeppens Beschäftigung mit dem nouveau roman zu stellen sind – zu der Frage also, ob der große Roman eher nach der Tradition des historischen Romans des 19. Jahrhunderts oder eben infolge eines Bruchs mit ihr und nach modernistischen Schreibverfahren geschrieben werden soll.18 Diese für Koeppen letztlich ungelöste Frage hat sicher zum Scheitern des Projekts eines großen Romans beigetragen: Versuch zu einer Aufhebung der Zeit, zu einer Gleichzeitigkeit allen Geschehens zu kommen, indem jeder Vorgang gegenwärtig als jetzt und hier und in diesem Augenblick sich ereignend beschrieben wird. Esm gibt kein Vor- und Nachher, keine Vergangenheit und keine Zukunft. […] [D]ie Zeit ist eine geleugnete oder eine unabhängige, jedenfalls eine Grösse, die dadurch nicht unheimlicher wird, dass man sie ignoriert.19
Im zweiten Absatz dieser Notiz geht es dann zur schwierigen Entscheidung zwischen Ich- und Er-Erzähler über. In Jugend schwankt Koeppen hin und her und es lässt sich deshalb nicht genau bestimmen, ob dies eine bewusste und verspätete Entscheidung
16
Vgl. dazu Gérard Genette: Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung. In: Ders.: Fiktion und Diktion. München 1992, S. 65–94, hier S. 79–87. Zur Form der Autobiographie vgl. den Klassiker von Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994. Zur modernen Autofiktion vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion? In: Dies. (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld 2013, S. 7–21. 17 Koeppens Liebe für Proust dokumentiert u. A. sein kurzer Proust-Essay: Marcel Proust und die Summe der Sensibilität [1957]. In: Wolfgang Koeppen. Gesammelte Werke. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Bd. 6: Essays und Rezensionen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 1986, S. 175–180. Den narratologischen Hybridstatus von Prousts großem Roman hat Gerard Génette durch das Bild der Drehtür beschrieben (in: Gerard Génette: Figures III. Paris 1972, S. 50). 18 Erhart hebt hervor, dass Chronologie, Entwicklung und Stimme des Erzählers für Koeppen die Hauptunterschiede zwischen traditionellem und modernistischem Stil und deshalb auch die drei Hauptprobleme darstellen, an denen er sich bei der Arbeit am „großen Roman“ abarbeitet. Vgl. Erhart (Anm. 3), S. 277–293. 19 WKA Greifswald, Signatur: MID355-M002-006.
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kurz vor dem Druck war oder ob es zur etwas provisorischen Gestalt gehört, die den Roman noch in der Erstausgabe kennzeichnet. Es scheint mir jedenfalls ein weiteres Indiz zu sein für die Unentscheidbarkeit zwischen autobiographischem bzw. autofikionalem Schreiben (das von einer Ich-Erzählung über eine Kindheit in Koeppens Heimatstadt angedeutet wird) und reiner Fiktion (die von einer Er-Erzählung stärker suggeriert wird). Und als Anspielung auf diesen Zwischenraum zwischen Fakt und Fiktion lässt sich auch das Motto des ganzen Buches lesen, das einen Brief Goethes über die Wahlverwandtschaften zitiert: „Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene“.20 Der dritte und letzte Absatz lautet: Das radikale und konsequente Heute der Vergangenheit ist für den Stil ebenso schwierig wie tückisch. Die Person verliert ihre Perspektive, gewinnt aber an Nähe, vielleicht auch an Fläche. […] Mit der Vergangenheit schwindet auch die Zukunft. […] Die Bewegungen sind gelähmt, dennoch geschieht etwas, ohne dass man es als Aktivität wahrnehmen könnte. Man könnte den konservativen Roman eine Sinngebung des Sinnlosen nennen, diese Versuche dagegen als die Sinnlosigkeit eines Seins. Es ist eine Form, die (wie jede andere) nach einem grossen Inhalt verlangt.21
Nun lässt sich diese Notiz ziemlich sicher als Vorstufe einer Passage in der Publikation Vom Tisch in Text+Kritik (1972) identifizieren,22 in der Koeppen auch den Hauptvertreter des nouveau roman zurate zieht: Alain Robbe-Grillet und seinen Roman La jalousie. Interessanterweise war dieser für Koeppen jedoch auch zum Scheitern verurteilt: Was wäre gewonnen, wenn man das Ich, den Erzähler wegließe und nur die Welt, die er, der nicht in Erscheinung tritt, beobachtet, zeigen würde? Das wäre ungefähr das von Robbe-Grillet in seinem Roman „La Jalousie“ angewandte Prinzip. Aber Robbe-Grillet hat die Methode zu Tode gehetzt und ist gescheitert. Der Roman war ohne Leben.23
Was ist aber der textgenetische Status dieser Publikationen und deren Vorstufen im Hinblick auf das Buch Jugend? Im Unterschied zu anderen Veröffentlichungen in Zeitschriften vor 1976 (etwa Anamnese, in: Merkur 1968; Von Anbeginn verurteilt, in: Merkur 1969), erscheint die Publikation in Text+Kritik, mit ihrer Mischung aus narrativen
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Koeppen (Anm. 7), S. 7. WKA Greifswald, Signatur: MID355-M002-006. 22 Es handelt sich um eine Stelle in Wolfgang Koeppen: Vom Tisch. In: Text+Kritik 34 (1972), S. 1–13, hier S. 11. Weitere Passagen in dieser Publikation lassen sich textgenetisch ebenso auf frühere Notizen zurückführen, etwa die Passage auf S. 4–5 („Meine Mutter fürchtete die Schlangen. Dieser eine Satz und nicht mehr. Ich verirre mich. Der Satz mauert mich ein. Ich bewege mich im Kreis. Es ist ein Gefängnis. Meine Mutter fürchtete die Schlangen. […] Die Zeit wird aufgehoben. Ich habe immer den Verdacht, daß es sie nicht gibt. Das Papier wird beschmutzt. Die Seiten häufen sich. Niemand wird sie finden. Bald ist es ein Buch“). Die vermutlich direkte Vorstufe davon ist MID355-M018-001. MID355-M001-018 stellt schließlich die wahrscheinlich direkte Vorstufe der Passage über die Erinnerung in Vom Tisch dar: „Dies alles weiß ich nicht. Ich glaube, mich zu erinnern. Aber wer ist das, der sich erinnert? […]“ (S. 3). 23 Koeppen (Anm. 22), S. 9. 21
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und theoretisch reflektierenden Passagen, wie ein Auszug aus Koeppens Brouillon (was auch der Titel Vom Tisch nahelegt) – also aus einer doch produktiven, wenn auch zum Teil sehr chaotischen und eher prozess- als ergebnisorientierten Werkstatt. Es ist einerseits offensichtlich, dass Koeppen die Passagen aus den anderen Publikationen fast wortwörtlich in die Erstausgabe aufgenommen hat und dass diese also zweifellos als Vorabveröffentlichungen zu identifizieren sind, während Vom Tisch textgenetisch gesehen einen anderen Stellenwert hat. Andererseits finden sich auch hier Passagen, die später in Jugend vorkommen. Entscheidend scheint mir jedoch die Tatsache zu sein, dass keine einzige der poetologischen Stellen aus Vom Tisch in die Erstausgabe eingeflossen ist. Hier bleibt wirklich nur das narrative Geflecht erhalten. Viele der in den Notizen aufgezeichneten Überlegungen gehen aber im Arbeitsprozess nicht ganz verloren, sondern werden erzählerisch transformiert, was ich an einem Beispiel zeigen möchte. In der letzten Sequenz des Buches begleitet der erwachsene Sohn die todkranke Mutter zu einem Winterspaziergang und gegen Ende heißt es, in einer merkwürdigen Mischung aus Präsens und Präteritum, also aus gegenwärtiger Reflexion über die Vergangenheit und Vergegenwärtigung der Vergangenheit selbst: […] sie erwartet das von mir, die Hilfe zum Sterben, eine Sinngebung nur, ihr Leben, das am Ende ist, soll einen Sinn bekommen, den sie verstehen könnte, oder ich soll ihr Leben rechtfertigen, so wie ich dastand auf jener Brücke, in einem Mantel reif für den Müll, mit lange nicht geschnittenem Haar, existenzlos, jeder sagte: ohne Zukunft.24
Genau in diesen Zeilen ist nicht nur ein ethisch-existenzielles Problem angerissen (das schlechte Gewissen des Protagonisten, der Mutter in ihren letzten Tagen nicht wirklich nahe gestanden zu haben) und nicht nur die Frage nach der Möglichkeit von Erinnerung und Sinngebung der Vergangenheit durch sie.25 Hier, in den letzten Seiten dieses gescheiterten Romans, steckt auch ein genuin poetologisches Problem, das Koeppen zum Verhängnis wurde – die Alternative zwischen einem stilistisch avancierten, experimentellen Roman, dessen Form aber eben nur die existenzielle Sinnlosigkeit zum Ausdruck bringt, sogar deren notwendige Entsprechung ist, und, auf der anderen Seite, einem formal konservativen Roman (wie der historische Roman des 19. Jahrhunderts), dessen Stärke hingegen darin besteht, der sinnlosen Vergangenheit einen Sinn zu geben, u. a. durch eine strenge Chronologie. Verwischen die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft im narrativen Guss des Romans, dann verliert die Handlung und damit das erinnerte Leben an Perspektive und Konsistenz und fällt der reinen Kontingenz und letztlich der Vergessenheit anheim. Zwischen diesen beiden Alternativen konnte sich Koeppen, wie die Notizen gut zeigen, nie entscheiden, obwohl die Prosa von Jugend (die ja aber als ein Zwischenergebnis zu betrachten ist) eher in die modernistische Richtung geht.
24 25
Koeppen (Anm. 7), S. 145. Vgl. dazu Matthias Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Wolfgang Koeppens Spätwerk. Würzburg 2001, S. 52–70.
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Koeppens Notizen zeichnen sich insgesamt durch mehrere Signale der Unsicherheit und des Zweifelns aus, die gleichzeitig auch die konstitutive Offenheit und Dezentrierung, somit das Experimentieren mit mehreren ästhetischen Möglichkeiten offenlegen: – Wie soeben gezeigt, enthalten zahlreiche Notizen Zweifel an der Erzählform, sei es an der Chronologie, an der Erzählperspektive oder an der Frage des Modus, ob eher showing oder telling (eine handschriftliche Notiz lautet etwa: „Versuch der Dialog-Erzählung“26). Die Koeppen-Leser wissen nun genau, dass der dramatische Modus nie wirklich Koeppens Sache war, schon in der Nachkriegstrilogie nicht und in Jugend noch weniger. Aber in den Notizen spielt diese Unentschlossenheit noch eine große Rolle. – Die Thematisierung des (nicht nur eigenen!) Scheiterns ist, wie oben gezeigt, ein Leitmotiv der Notizen. – Sehr charakteristisch ist die Konjunktivform, die eine noch nicht realisierte Möglichkeit (und aber auch gleich die unterschwelligen Zweifel an ihr) äußert: „Im großen Roman ließe sich die Gehemmtheit, die Unkenntnis, die Zartheit, die Weltfremdheit, die Angst des damaligen Zustandes im Präsenz [sic!] ausdrücken“ oder „Was von der Vorgeschichte mitgeteilt werden muss, könnte jederzeit an jeder Stelle eingeflochten werden“.27 – Ein weiteres Unsicherheitssignal stellen die sehr häufigen Fragen dar. Auf einem Typoskript steht etwa der immer wiederkehrende Satz „Seine Mutter fürchtete die Schlange“, worauf die Frage „Wo war das?“28 als quasi anamnestischer Versuch zu deuten ist, die verlorene Zeit auszugraben. In einer anderen Notiz schreibt Koeppen zuerst Fragen auf („Was ist mit der Familie in Holland? […] Und wer ist der Mann, der nach dem Hitlerreich in Berlin oder in Hamburg für den Zauberladen wirbt? Verzicht auf die Wiedergutmachung?“, usw.), um am Schluss das handschriftlich eingerahmte Schema für vier geplante Bücher des „großen Romans“ festzuhalten, deren Handlungen zu vier verschiedenen Zeitpunkten spielen sollten: 1. Buch: 1923. 2. Buch: 1927–1933. 3. Buch: um 1936. 4. Buch: der Krieg.29
– Sehr oft tauchen die einschränkenden Adverbien „vielleicht“, „wahrscheinlich“, „vermutlich“ auf, oft mehrmals auf demselben Blatt. In einer Notiz zu einem möglichen Erzählstoff, der nach dem Krieg spielt, mit der Überschrift „Der Erzähler“, steht etwa:
26
WKA Greifswald, Signatur: MID355-M034-014. Resp. WKA Greifswald, Signatur: MID355-M007-004 und MID355-M007-014. 28 WKA Greifswald, Signatur: MID355-M007-027. 29 WKA Greifswald, Signatur: MID355-M007-041. 27
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Er hat – wahrscheinlich – wann? – in Holstein die Holzhändlerstochter geheiratet. […] Die x hat nicht Teil an siener Holzhändlerstocheter geistigen Existenz, vielleicht seinem wahren Leei ben. […] Eifersucht auf ihn, den sie sieht, wie er vielleicht sein möchte. […] (Vielleicht stirbt sie zum Schluss als eine, die vergewaltigt wurde, verpflanzt in ein ihr tödliches Klima, […]).30
– Häufig begegnet man Einschüben (meist durch Sätze in Klammern), die Alternativen der Erzählung schildern, wie das eben zitierte Beispiel zeigt. – Viele Notizen beschreiben explizit eine Alternative zwischen zwei Möglichkeiten, zwischen denen sich Koeppen nicht entscheiden kann: Die Wahrheit schreiben, versuchen, es so zu schreiben, wie es war. Möglichkeiten: Der Schreibende versetzt sich in die Vergangenheit und schildert als Augenzeuge oder als Handelnder aus jenen Tagen, Bemühung um Nähe, Vortäuschen einer Gegenwart […], oder der Verfasser erinnert sich, er kennt die ganze Geschichte, die sich vor langer Zeit ereignet hat, […].31
– Schließlich ist der schon mehrmals erwähnte und in mehreren Varianten vorkommende Satz „Meine Mutter fürchtete die Schlangen“ zu verzeichnen, der in der Erstausgabe den Anfang der Erzählung markiert. Diese Tendenz zur obsessiven Wiederholung des einen Satzes bildet in den Notizen das komplementäre Gegenstück zur oben beschriebenen Offenheit und Unentscheidbarkeit. Koeppens Schreibkrisen, sein produktives Scheitern entstehen an der Schnittstelle von Obsession und Dispersion, von graphomanischer Versessenheit und struktureller Unentschlossenheit. Dass er sich dieses lähmenden Widerspruchs völlig bewusst war, kennzeichnet eben seine zwanghafte Vorstellung, denn „obsession often involves a battle of selves in which a compulsive self struggles with an observing self“.32 Koeppens Notizen werden also zur Schreibszene auch im Sinne eines Schlachtfeldes, auf dem der obsessive Autor gleichzeitig agiert und sich selbst beobachtet.
2. Vorstufen und Fragmente Die anderen beiden Textsorten in der Textgenese von Jugend, Fragment und Vorstufe, vermischen sich so häufig, dass es mitunter schwer ist, sie auseinanderzuhalten. „Vorstufen“ nennen wir alle Entwürfe, die eindeutig der Textgenese einer bestimmten Sequenz in der Erstausgabe zuzuordnen sind und die wir in unserer digitalen Edition in den genetischen Pfad der jeweiligen Sequenz einsortieren. „Fragmente“ nennen wir dagegen alle Entwürfe, die im Unterschied zu den Notizen überwiegend erzählerischen Charakter haben, die aber textgenetisch keiner bestimmten Sequenz der Erstausgabe zuzuordnen sind, sondern die entweder mit Motiven oder Figuren einer bzw. mehrerer Sequenzen zusammenhängen (ohne als deren Vorstufe identifizierbar zu sein) oder gar zu Jugend-fremden Erzählstoffen gehören. Beide Begriffe sind (mit 30
WKA Greifswald, Signatur: MID355-M003-007. WKA Greifswald, Signatur: MID355-M032-006. 32 Lennard J. Davis: Obsession. A History. Chicago u. a. 2008, S. 31. 31
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einigen Verschiebungen) u. a. in der Nietzsche-Philologie seit der historisch-kritischen Ausgabe von Colli und Montinari geläufig,33 die bekanntermaßen zwischen Vorstufen und nachgelassenen Fragmenten unterscheidet. Wolfram Groddeck hat als erster dieses Begriffspaar kritisch betrachtet und problematisiert.34 Abgesehen von den spezifischen Argumenten, die Nietzsches Nachlass betreffen und die ich hier ausblende, hebt Groddeck hervor, dass der Begriff Fragment eine Verwandtschaft mit der romantischen Gattung suggeriert. Im Falle von Nietzsche, der seine Kurzprosatexte (vermutlich auch in bewusster Absetzung von den Frühromantikern) als Aphorismen und nie als Fragmente bezeichnet hat, ist das besonders heikel, im Falle von Koeppen ist es weniger problematisch. Fragment ist jedoch in erster Linie ein rein philologischer Begriff und bezeichnet alle nicht vollständig überlieferten Texte, sei es aus äußeren, sei es aus inneren Gründen, d. h., weil die vollendete Fassung des Werkes im Laufe seiner Überlieferung verloren ging oder weil im Entstehungsprozess keine weiteren Ausformulierungen folgten. Die äußeren Gründe sind besonders in der antiken und mittelalterlichen Überlieferung sehr häufig, den inneren begegnet man öfter bei der Textgenese moderner Texte, die meistens (aber längst nicht immer!) keine Lücken in der Überlieferung aufweisen. Etwas heikel bleibt der Begriff Fragment jedoch auch in seiner rein philologischen Bedeutung, und zwar deshalb, weil es als Bruchstück immer auf ein Ganzes zu verweisen scheint, das wenigstens potenziell vorhanden ist, dass es also ein eminent teleologischer Begriff ist, der einem offenen, dezentrierten und prozessualen Schreiben wie dem des späten Koeppens nicht ganz gerecht wird. Diesen problematischen Aspekt möchte ich nicht stillschweigend aus dem Weg räumen, sondern ihn insofern entschärfen, als bei Koeppen die Absicht, einen „großen Roman“ zu schreiben, explizit und nachweislich vorhanden war und, so betrachtet, die Bezeichnung Fragment unproblematischer erscheinen mag als bei Textgenesen anderer Autoren bzw. Werke. Die obigen Überlegungen sollen an einem schwer einzuordnenden Fall veranschaulicht werden. Am Anfang des Dokuments MID355-M001-050 (s. Abb. 3) sind Motive aufgereiht, die zur ersten Sequenz des Romans gehören: der Spaziergang, die Hunde, der Geruch der Desinfektion, die Saline, die Ruderboote. Man könnte zwar in der Edition durch einen eingeschalteten Kommentar die Verbindungen mit dieser Sequenz markieren. Trotzdem lässt sich das Dokument nicht sicher als Vorstufe von Sequenz 1 einordnen, weil das ganze Setting und die Figuren der ersten Sequenz (Mutter und Kind) sowie der narrative Duktus fehlen. Außerdem ähnelt es sprachlich-stilistisch eher einer Notiz, was in den zwei folgenden Absätzen, die fast stichpunktartig sind, noch klarer hervorkommt. Hier lässt sich allerdings feststellen, dass einige Motive im später veröffentlichten Jugend-Text nicht mehr zu finden sind (Helga und die schwedische
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Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begr. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin u. a. 1967ff. 34 Wolfram Groddeck: ‘Vorstufe’ und ‘Fragment’. Zur Problematik einer traditionellen textkritischen Unterscheidung in der Nietzsche-Philologie. In: Martin Stern (Hg.): Textkonstitution bei schriftlicher und bei mündlicher Überlieferung. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio, 1), S. 165–175.
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Abb. 3 WKA Greifswald, Nachlass-Typoskript MID355-M001-050
Studentin), andere wiederum schon (die Kröte in der Schulmappe kommt in der Sequenz 45 über den Fememord im Wald vor). Der genetische Stellenwert einiger Typoskripte an der Schwelle von Fragment und Vorstufe lässt sich also nicht immer eindeutig bestimmen und jede editorische Entscheidung kann und soll von kompetenten Usern kritisch überprüft und hinterfragt werden.
3. Die Schlangen von Putbus Die Textgenese vieler Sequenzen von Jugend ist auch deswegen komplex, weil Koeppen häufig Themen und Motive zuerst zusammengedacht hat, um sie dann voneinander zu trennen oder, umgekehrt (aber seltener), weil Motive, die zunächst getrennt voneinander entstanden und entwickelt worden waren, irgendwann fusionierten. Dies möchte ich exemplarisch an einer längeren Sequenz zeigen und dabei versuchen, einige Stationen der Textgenese von Sequenz 37 (Putbus-Sequenz) zu rekonstruieren. Zuerst einige Ausschnitte aus dem Text der Erstausgabe:
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der Park von Putbus und im Hintergrund das Schloß des Fürsten von Putbus, und das Schloß sieht genau wie das Schloß des Fürsten von Putbus auf der Ansichtspostkarte aus, die sie am Eingang des Parkes verkaufen, für zehn Pfennig eine schwarzweiße, nein eine graue nebelfleckige Natur, für zwanzig Pfennig das weiße Schloß unter azurblauem, fast tropischem Himmel auf einem stechendgrünen Rasen. Das Schloß ist nicht klein und nicht groß, es ist hell angestrichen wie mit blendendem Kalk beworfen, es ist ein sehr hübsches weißangestrichenes Schloß, und für die Insel Rügen und für Pommern ist es Versailles oder Sanssouci oder sonst so etwas. […] Meine Mutter sitzt im Park auf einer Bank, die der Schloßverwaltung oder dem Kurverein gehört. Meine Mutter schreibt. Sie schreibt keine Ansichtspostkarte, sie transportiert nicht das Schloß des Fürsten von Putbus nach Hause oder in die weite Welt. Keine Grüße aus der Sommerfrische. Auf ihren Knien ruht ein abgegriffener Band, eine Sammlung von Fingerabdrücken, von Erinnerungen an fremde, unachtsam verschlungene Mahlzeiten, Brandflecken mißmutig verpaffter Zigaretten, der Klavierauszug einer lustigen Operette, und auf dem schäbigen alten Klavierauszug liegt ein Bogen gelblichen Kanzleipapiers, den meine Mutter irgendwo gefunden oder mitgenommen hat, und sie schreibt mir: verhungere, wenn du verhungern willst, wenn es deine Bosheit ist, mir dies anzutun, ich kann dir nicht helfen, wenn du dir nicht hilfst, und sie entschließt sich zu schreiben, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott […] Meine Mutter sitzt in einem Käfig. Der Käfig ist eng. Er hat drei Wände, und die drei Wände schließen sie ein. Die vierte Wand fehlt. Die Luft in dem Käfig west nach Hobelspänen, nach Tischlerleim, nach roher Leinwand und scharfer Farbe, vor allem nach Staub. Die Luft dunstet auch von heißen Füßen in für die Jahreszeit zu festen und zu lange getragenen Schuhen. Der gepriesene Himmel der Badegäste ist nicht zu sehen. Die schöne Ostsee ist auch nicht zu sehen. Vom Sommer ist hier nur die Hitze zu spüren und fällt schwer in den Keller, den Käfig, in dem meine Mutter sich nicht rühren kann. Eine Glühlampe glüht grell und heiß über ihrer Stirn. Meine Mutter beugt sich aus dem Käfig vor und flüstert; aber mit einem Flüstern, das ein flüsterndes angestrengtes Schreien ist. Meine Mutter sitzt im Soufflierkasten des fürstlichen Putbuser Sommertheaters und liest laut den Klavierauszug und spricht scharf flüsternd den Text der lustigen Operette. […]35
Auf einem nach der Papiersorte zu urteilen ziemlich frühen Typoskript (WKA Greifswald, Signatur: MID355-M012-015) lässt sich nun feststellen, dass die Hauptmotive, die in der Erstausgabe Sequenz 1 (Mutter, Schlangen, Rosental und Ephraimshagen) und 37 (Mutter im Putbuser Schlosspark und im Putbuser Theater) bilden, ursprünglich zusammen gehörten. Auf diesem Entwurf werden zwar auch Motive skizziert, die in der Erstausgabe nicht mehr zu finden sind (das Schulbuch mit den Abbildungen der Laokoon erwürgenden Schlangen und das „zoologische Buch“ mit den Abbildungen von Raubtieren36). Die Hauptmotive von den Schlangen und vom Ort Putbus – beide durch die Figur der Mutter beherrscht – sind jedoch klar erkennbar und hängen unweigerlich zusammen:
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Koeppen (Anm. 7), S. 85–92. Die Beschreibungen der Tiere auf diesem Typoskript entsprechen ziemlich genau den Abbildungen aus dem Buch Naturgeschichte der Reptilien, Amphibien, Fische, Insekten, Krebse, Würmer, Weichtiere, Stachelhäuter, Pflanzentiere und Untiere für Schule und Haus. Hg. von Gotthilf Heinrich von Schubert. Eßlingen 1886. Ein Exemplar dieser Auflage befand sich in Koeppens Bibliothek (jetzt im WKA).
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Sie fürchtete die Schlangen. Sei es nun, daß sie sich knäulten aus dem grauen Bild in über Land und Meer, das er auf dem Boden aufgeschlagen hatte, und später in irgend einem Schulbuch die Umschlingung des Laocoon […] doch als sie am Sommertheater in Putbus war, sah k sie die Schlange wirklich, schlängelte sich über den Promenadenweg, fast zu ihren Füßen So […] Doch was wir fürchteten, an warmen Sommertagen, waren die heimlichen Bewohner des Rosentals, der bei Sturmfluten vom Meer überspülten Flur auf brackigem Grund, über die wir gingen, das Gut zu sehen, Ephraimshagen mit seiner abweisenden, gekalgten k Mauer […]37
Einer späteren Arbeitsphase gehören zwei Dokumente an, in denen die Putbus-Passage ausgebaut wird. Der bedeutendste Unterschied zwischen diesen beiden, vermutlich kurz nacheinander entstandenen Textstufen ist ein räumlicher. Auf dem ersten Blatt fließt die Schlangen-Passage unmittelbar in die Putbus-Passage ein („es ist als ob ich nicht mehr von ihr zu erzählen hätte ich verstumme aber warum fürchtete sie die Schlangen sie sass im Schlosspark von Butbus [sic!]“38). In der späteren Variante befinden sich nicht nur weitere Korrekturen, sondern eine klare Abgrenzung durch eine Leerzeile. Sie markiert auch räumlich die nun beschlossene Trennung der beiden Motive: „Immer wieder der Satz. Sie fürchtete die Schlangen. Der Anfang das Ende. Habe ich nicht mehr zu sagen? Ich verstumme“ – nach dieser Stelle kommt eine Leerzeile, auf die die Putbus-Passage folgt. Wiederum lässt sich hier eine Vermischung aus einer poetologischen Reflexion aus Koeppens quälender Schreibszene und aus einer narrativen Stelle beobachten – womöglich ein weiterer Grund für die spätere Trennung dieser beiden Textpassagen:
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WKA Greifswald, Signatur: MID355-M012-015. WKA Greifswald, Signatur: MID355-M018-016.
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Abb. 4 WKA Greifswald, Nachlass-Typoskript MID355-M012-044.
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Für weitere Details dieser Textgenese, die um einiges komplexer ist als hier gezeigt, verweise ich auf die digitale textgenetische Edition.39 An dieser Stelle seien nur zwei Thesen erläutert, die aus dem genetischen Jugend-Dossier hervorgehen und die Koeppens Arbeitsweise zu erklären versuchen: Erstens hat Koeppen in diesem wie in anderen Fällen an zwei Motiven gleichzeitig gearbeitet und sie zusammengedacht, die genetische Bifurkation ist erst später erfolgt. Der gemeinsame Nenner der beiden Sequenzen in der Erstausgabe ist die prominente Rolle, die die Mutter-Figur darin spielt. Dieses Beispiel ist für Koeppens Arbeitsweise sehr bezeichnend, der immer wieder dazu tendiert, Motivzusammenhänge bzw. Erzählstränge knäuelartig zu notieren bzw. zu entwerfen, um sie dann gleichzeitig mit deren Überarbeitung (was oft überhaupt deren erste Narrativierung bedeutet) voneinander zu trennen und an ganz verschiedenen Stellen und in anderen narrativen Kontexten weiter zu entwickeln. Kennzeichnend für Koeppens Arbeitsweise ist zweitens auch, dass der reflexiv-poetologische und unsichere Moment, der für die Notizen charakteristisch ist, auch noch in die schon erzählerisch geformten weiteren Varianten hineingreift und erst ziemlich spät (aber dann auf radikale Weise) ausgeschieden wird. Wie oben gezeigt, spielen in den Notizen und sogar in einigen Vorstufen sowie in der Publikation Vom Tisch in Text+Kritik (1972) genuin poetologische und reflexive Passagen eine sehr große Rolle. Diese werden in der rein erzählerisch gestalteten Erstausgabe entweder ganz getilgt oder (wie ich an der Passage mit der Sinngebung des Lebens zu zeigen versucht habe) transformiert und in das narrative Geflecht integriert, damit also quasi getarnt, um die Dinge aus sich sprechen zu lassen. Vorstufen, Notizen und Fragmente bilden das wuchernde Geflecht, aus dem Jugend entstanden ist. Ihr Stellenwert und ihre Funktion im textgenetischen Kontext lassen sich nicht nur angesichts von Koeppens Projekt eines „großen Romans“ (von dem Jugend ja zumindest in seinen Absichten nur eine Station darstellen sollte), sondern auch aufgrund seiner Tendenz zu einem dezentrierten, nicht produktorientierten Schreiben nicht immer mit Sicherheit festlegen. Dazu trägt auch die von Erhart zurecht hervorgehobene Unentschlossenheit Koeppens zwischen einer eher konservativen und einer eher modernistischen Schreibweise bei, aber auch die strukturelle Gattungshybridität dieses Romans zwischen Fiktion und Autobiographie, die sich – wie oben gezeigt – auch am stetigen Wechsel zwischen Ich- und Er-Erzählung sogar noch im publizierten Text beobachten lässt. Jugend ist nicht nur textgenetisch und vermutlich in den Absichten seines Autors ein Zwischenprodukt, sondern es ist auch auf einer ästhetisch-poetologischen Ebene ein Hybrid. Aber genau aufgrund dieses Schwellencharakters und dieser Vorläufigkeit lässt sich dieses Buch nicht einfach als ein gescheiterter Versuch abtun, sondern auch als genuines Experiment mit den unterschiedlichen narrativen Möglichkeiten und Traditionen. All dem hoffen die HerausgeberInnen durch die digitale textgenetische Edition von Jugend besser gerecht zu werden.
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Koeppen (Anm. 9).
Schreibblockade oder Schreibwucherung?
203
Literaturverzeichnis Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt/M. 2008. Davis, Lennard J.: Obsession. A History. Chicago u. a. 2008. Erhart, Walter: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur. Konstanz 2012. Genette, Gérard: Figures III. Paris 1972. – Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung. In: Ders.: Fiktion und Diktion. München 1992, S. 65–94. Grésillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die critique génétique. Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft, 4). Groddeck, Wolfram: ‘Vorstufe’ und ‘Fragment’. Zur Problematik einer traditionellen textkritischen Unterscheidung in der Nietzsche-Philologie. In: Martin Stern (Hg.): Textkonstitution bei schriftlicher und mündlicher Überlieferung. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio, 1), S. 165–175. Hielscher, Martin: Zitierte Moderne. Poetische Erfahrung und Reflexion in Wolfgang Koeppens Nachkriegsromanen und in „Jugend“. Heidelberg 1988. Koeppen, Wolfgang: Vom Tisch. In: Text+Kritik 34 (1972), S. 1–13. – Jugend. Frankfurt/M. 1976. – Die elenden Skribenten. Aufsätze. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 1981. – Marcel Proust und die Summe der Sensibilität [1957]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Bd. 6: Essays und Rezensionen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 1986, S. 175– 180. – mit Siegfried Unseld: „Ich bitte um ein Wort“. Der Briefwechsel. Hg. von Alfred Estermann und Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2006. – Jugend. Digitale textgenetische Edition. Hg. von Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo und Eckhard Schumacher. Berlin 2016: www.koeppen-jugend.de Kußmann, Matthias: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Wolfgang Koeppens Spätwerk. Würzburg 2001. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994. Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begr. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin u. a. 1967ff. von Schubert, Gotthilf Heinrich (Hg.): Naturgeschichte der Reptilien, Amphibien, Fische, Insekten, Krebse, Würmer, Weichtiere, Stachelhäuter, Pflanzentiere und Untiere für Schule und Haus. Eßlingen 1886. Wagner-Egelhaaf, Martina: Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion? In: Dies. (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld 2013, S. 7–21. Weinrich, Harald: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1971.
Philip Koch
„Verzettelt, verschoben, verworfen. Wolfgang Koeppens Schreibkrisen“ Einblicke in eine Ausstellung des Wolfgang-Koeppen-Archivs Greifswald
Die Accumulatio im Titel der Tagung „Verzettelt, verschoben, verworfen – Textgenese und Edition moderner Literatur“, auf der dieser Band aufbaut, beschreibt die Komplexität und Nichtlinearität von Schreibprozessen – in besonderem Maße auch für Wolfgang Koeppen. Bei ihm sind Abbrüche, Modifikationen und zahlreiche Neuanfänge seiner literarischen Texte Ausdruck immer wiederkehrender Zweifel am eigenen Werk und folgenreicher ‚Schreibkrisen‘, die sich anhand von Briefen, Fragmenten, Notizen oder mittels Fotografien seines Arbeitszimmers rekonstruieren lassen. Anlässlich der Tagung und der Greifswalder Koeppentage hat das Wolfgang-Koeppen-Archiv Greifswald eine Ausstellung konzipiert, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Koeppens Krisen entlang seines Schreibprozesses abzubilden. Die Ausstellung, die von Juni bis September 2014 im Greifswalder Koeppenhaus zu sehen war, gliederte sich in drei aufeinanderfolgende Stationen: An der ersten wurde dargestellt, wie Koeppen anfängt zu schreiben, die zweite versammelte Zeugnisse, die sein Weiterschreiben dokumentieren, die letzte schließlich beschrieb das Beenden eines Projekts. An jeder Station gab es Exponate zu sehen, anhand derer die Vorgänge während der drei Phasen des Schreibens nachempfunden werden konnten. Die erste, „Anfangen“, stellte Schreibproben, Skizzen und Notizen zusammen mit Selbstreflexionen über den Anfang einer Schreibarbeit aus. Koeppens „Weiterschreiben“, besonders in den 1960er und 70er Jahren, ist von Verzögerungen, Aufschüben und Finanzierungsfragen geprägt, entsprechend versammelte diese Station besonders Korrespondenzen mit seinen Verlegern, Freunden und Bekannten. Den Abschluss der Ausstellung markierten das vermeintliche Fragment Jugend, begeisterte Glückwünsche zum fertigen Buch von seinem früheren Verleger Henry Goverts und Koeppens Erkenntnis: „Ich glaube, daß immer noch etwas zu sagen wäre und alles, was man gesagt hat – und wenn man es auch auf tausend Seiten geschrieben hätte –, Fragment bleibt und nicht vollendet.“1 Im Folgenden sollen ausgewählte Exponate aus dem Nachlass nachträglich einen Einblick in die drei Stationen der Ausstellung geben. Ergänzt werden diese – wie auch bereits in der Ausstellung selbst – durch Zitate Koeppens, in denen er sein Schreiben, seine Arbeitsweise und seine Schreibkrisen in diesem Zusammenhang kommentiert und gewissermaßen selbst durch seine Schreibprozesse führt.
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Wolfgang Koeppen, zit. nach Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Ders.: Gespräche mit Schriftstellern. München 1975, S. 138.
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Philip Koch
Erste Station: ‚Anfangen‘
„Verzettelt, verschoben, verworfen. Wolfgang Koeppens Schreibkrisen“
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Wolfgang Koeppen: Brief an Marcel Reich-Ranicki, 4.10. [1974]. WKA Greifswald, Signatur: 3127.
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Philip Koch
„Die Arbeitsvorgänge beim Schreiben beginnen mit dem Nichtschreiben. Der Schriftsteller weiß, es ist soweit, ein Buch soll entstehen, und schon hält ihn nichts mehr am Schreibtisch, der Anblick unbeschriebenen Papiers entsetzt ihn, er enteilt in die Straßen, und wenn er sich’s leisten kann, verreist er.” Wolfgang Koeppen: Ich lebe vom Schreiben. In: Gesammelte Werke 5. Berichte und Skizzen II. Hg. von Marcel Reich-Ranicki u. a., Frankfurt/M. 1986, S. 236. Zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 222 vom 25./26. September 1954.
Schreibtisch in Wolfgang Koeppens Wohnung. WKA Greifswald.
„Ich schreibe meinen ersten Entwurf mit einem Finger auf der Schreibmaschine und nur mit kleinen Buchstaben. Diese erste Seite korrigiere ich und dann schreibe ich sie selber noch einmal ab, diesmal, wie üblich, auch mit großen Buchstaben, und dann lasse ich eventuell dieses Blatt drei-, viermal abschreiben, bis ich dann die Seite habe, von der ich glaube, daß ich sie in das Buch aufnehmen kann.” Wolfgang Koeppen, zit. nach Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftsteller. Wolfgang Koeppen. München 1965, S. 62.
„Verzettelt, verschoben, verworfen. Wolfgang Koeppens Schreibkrisen“
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Wolfgang Koeppen: Seite aus der Notizmappe 8. WKA Greifswald, Signatur: M795, 22062.
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Philip Koch
Zweite Station: ‚Weiterschreiben‘
„Verzettelt, verschoben, verworfen. Wolfgang Koeppens Schreibkrisen“
Wolfgang Koeppen: Brief an Hans Werner Richter, 16.3.1966. WKA Greifswald, Signatur: 10088.
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Philip Koch
„Das ist bedrückend, es ist schrecklich, daß es jemanden geben soll, der auf einen Roman von mir wartet, und es ist noch schlimmer, daß man, ohne daß ich daran mitwebe, eine Legende fabriziert. Das wird mich nur noch selbstkritischer, selbstbedenklicher machen, und ich werde mich immer mehr fürchten, überhaupt noch etwas zu veröffentlichen, weil ich dem Anspruch der Legende nie genügen könnte. Es ist eine peinliche Situation.” Wolfgang Koeppen, zit. nach Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Ders.: Gespräche mit Schriftstellern. München 1975, S. 136.
„Aber die Krise, literarisch, privat, zeitbedingt, sozialgebunden, großgeredet, sollte man vom Markt verscheuchen, nicht sie noch verhökern. Die Krise lebt in mir oder im Haus, in dem ich wohne, oder in der Zeitung, die ich lese, auf meiner Bank, wenn mein Konto überzogen ist. Ich muß mit meinen Gespenstern fertig werden, sterben, wenn ich es nicht schaffe.” Wolfgang Koeppen, zit. nach Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Ders.: Gespräche mit Schriftstellern. München 1975, S. 136.
„Verzettelt, verschoben, verworfen. Wolfgang Koeppens Schreibkrisen“
Arbeitszimmer von Wolfgang Koeppen. WKA Greifswald.
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Philip Koch
Wolfgang Koeppen: Brief an Siegfried Unseld, 23.4.1977. WKA Greifswald, Signatur: 1594.
„Verzettelt, verschoben, verworfen. Wolfgang Koeppens Schreibkrisen“
Dritte Station: ‚Beenden‘
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Henry Goverts: Brief an Wolfgang Koeppen, 22.11.1976. WKA/UB Greifswald, Signatur: 3782. Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Greifswald.
Philip Koch
„Verzettelt, verschoben, verworfen. Wolfgang Koeppens Schreibkrisen“
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„Ich glaube nicht recht, und zwar nicht nur für mich, sondern für jeden, der heute schreibt, an die Möglichkeit des wirklich fertigen, des wirklich abgeschlossenen Werkes. Ich glaube, daß immer noch etwas zu sagen wäre und alles, was man gesagt hat – und wenn man es auch auf tausend Seiten geschrieben hätte -, Fragment bleibt und nicht vollendet.” Wolfgang Koeppen, zit. nach Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Ders.: Gespräche mit Schriftstellern. München 1975, S. 138.
Erstausgabe von Wolfgang Koeppens Jugend. Frankfurt/M. 1976.
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Philip Koch
„Zweifel und Verzweiflung. Das ist herausgegeben und gedruckt und als Ware nicht mehr zu ändern. Ein Buch ist nie fertig. Es wäre denkbar, ein Leben lang an einem Buch zu schreiben. Ein Alp- und zugleich ein Wunschtraum, und es bekäme keiner zu lesen! Erschienene Bücher vergesse ich.” Wolfgang Koeppen, zit. nach: Selbstanzeige. Schriftsteller im Gespräch. Wolfgang Koeppen/ Horst Krüger. Hg. von Werner Koch. Frankfurt/M. 1971, S. 59.
Aufgeräumter Schreibtisch mit Manuskriptstapeln. WKA Greifswald.
Autorinnen und Autoren der Beiträge Stefan Büdenbender ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Retrodigitalisierung, Digitale Editionen, Datenmodellierung in TEI. Wichtige Veröffentlichungen: „Die Auszeichnung von Briefen in XML/TEI. Eine Hinführung.“ (zusammen mit Hans-Werner Bartz.), in: P. Stadler/J. Veit (Hg.): Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung. Musik – Text – Codierung (editio, Beiheft 31), Tübingen 2009, S. 251–263. Thomas Burch ist Geschäftsführer des Kompetenzzentrums für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier und verantwortlich für die informationstechnologischen Konzepte der vom Zentrum durchgeführten Forschungsvorhaben. Wichtige Publikationen: „Inventarisieren, Archivieren und Analysieren vernetzt. Digitalisierung und Edition größerer Briefkorpora mit der virtuellen Editionsplattform ‚Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem (FuD)‘“ (zusammen mit Claudia Bamberg) in: Fontanes Briefe ediert, hg. von Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk, Würzburg 2014. Walter Erhart ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Literaturtheorie, Gender Studies, Reiseliteratur, Wissenschaftsgeschichte. Wichtige Publikationen: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur, Konstanz 2012; Wissen, Erzählen, Tradition: Wielands Spätwerk (Hg. mit Lothar van Laak), Berlin 2010; Hg. von Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart 2004; Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001. Kristina Fink ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Akademienprojekt Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931). Arbeitsschwerpunkte: Editionsphilologie, Arthur Schnitzler, Heinrich von Kleist, Immanuel Kant, Friedrich Schiller, Poetik der griechischen Klassik. Wichtige Veröffentlichungen: Die sogenannte ‚Kantkrise’ Heinrich von Kleists. Ein altes Problem aus neuer Sicht, Würzburg 2012; „Ein fünfter Chor für die ‚wahre’ Kunst? Die Chöre in Schillers ‚Braut von Messina’ und die Geburt einer neuen Tragödiengattung“, in: Wirkendes Wort. Jg. 56, H. 3 (2006). S. 357-385. Vivien Friedrich war von 2012 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Akademienprojekt Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931) an der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte: Editionsphilologie, Arthur Schnitzler, Textgenese zu ‚Liebelei‘. Wichtige Veröffentlichungen: „Schnitzlers Filmskript zu Elskovsleg im Kontext der Textgeschichte von Liebelei“, in:
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Autorinnen und Autoren der Beiträge
A. Aurnhammer/B. Beßlich/R. Denk (Hg.): Arthur Schnitzler und der Film, Würzburg 2010, S. 45–54. Almuth Grésillon ist Directrice de recherche émérite am „Institut des textes et manuscrits modernes“ (ITEM/ENS, CNRS) in Paris und Hauptherausgeberin der Zeitschrift „Genesis“ (Paris,1992 -). Arbeitsschwerpunkt: Theorie und Praxis der „critique génétique“. Wichtige Veröffentlichungen: Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes, Paris 1994 (2. Auflage 2016. Übersetzung ins Deutsche : Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“, Bern 1998); La mise en œuvre. Itinéraires génétiques, Paris 2008; Genèses théâtrales, hg. mit M.-M. Mervant-Roux und D. Budor, Paris 2010; Genèses musicales, hg. mit N. Donin u. J.-L. Lebrave, Paris 2015. Patrick Heck ist Designer und Entwickler am Trier Center for Digital Humanities. Holger Helbig ist Uwe Johnson-Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts an der Universität Rostock und leitet dort das Uwe Johnson-Archiv. Er ist Projekt- und Arbeitsstellenleiter des Akademienvorhabens „Uwe Johnson-Werkausgabe“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie der Arbeitsstelle „Barlach 2020“, an der eine Kritische Studienausgabe der Briefe von Ernst Barlach entsteht. Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur des 20. Jahrhunderts und der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Zuletzt: „Reduktion und Rhetorik. Über die Bedeutung von Dingen in Ausstellungen“, in: Quarks and Letters. Naturwissenschaften in der Literatur und Kultur der Gegenwart, hg. v. Aura Heydenreich u. Klaus Mecke, Berlin/Boston 2015, S. 141–174. Malte Kleinwort ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie, Poetologien des Wissens, Ohnmacht im 19. Jahrhundert, Schreibprozessforschung. Wichtige Publikationen: Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension (hg. mit Joseph Vogl), München 2013; „Schloss“-Topographien. Lektüren zu Kafkas Romanfragment, Bielefeld 2013, Fernweh nach der Romantik. Begriff, Diskurs, Phänomen (hg. mit I. Hnilica u. P. Ramponi), Freiburg i.Br. 2016 (in Vorbereitung). Philip Koch ist derzeit als Junior Online Redakteur in Berlin tätig. Bis Dezember 2015 arbeitete er als Wissenschaftliche Hilfskraft im Wolfgang-Koeppen-Archiv der Universität Greifswald und studierte dort im MA-Studiengang „Germanistische Literaturwissenschaft“. Masterarbeit: Mythopoesie und Mythomotorik bei Friedrich von Hardenberg (Novalis). Veröffentlichung: „Auswahlbibliografie zu Wolfgang Koeppen“, in: Text+Kritik: Wolfgang Koeppen (hg. von Eckhard Schumacher u. Katharina Krüger), München 2014.
Autorinnen und Autoren der Beiträge
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Katharina Krüger ist Mitarbeiterin im Koordinierungsprojekt einer DFG-Forschergruppe an der Universität Hamburg. Von 2012 bis 2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Wolfgang Koeppens Jugend“ an der Universität Greifswald. Arbeitsschwerpunkte: Wolfgang Koeppen, literarische Archive, Editionsphilologie. Wichtige Veröffentlichung: Text+Kritik: Wolfgang Koeppen (hg. mit Eckhard Schumacher), München 2014. Wolfgang Lukas ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Zusammen mit M. Scheffel Leiter des Akademienprojekts Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931); Leiter des SNF-Projekts C. F. Meyers Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Arbeitsschwerpunkte: Editionswissenschaft, Literatur- und Kultursemiotik, Literarische Anthropologie. Veröffentlichungen u. a.: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation (hg. mit R. Nutt-Kofoth u. M. Podewski), Berlin 2014. Elisabetta Mengaldo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Von 2012 bis 2014 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Wolfgang Koeppens Jugend“ an der Universität Greifswald. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen Lyrik des 20. Jahrhunderts (insbes. Georg Trakl), Literatur und Naturwissenschaft, Editionsphilologie. Wichtige Publikationen: „L‘ultimo oro di stelle cadute“. Strutture e genesi testuale della lirica di Trakl, Pisa 2009; Der Dichter und sein Schatten. Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik (hg. mit U. Degner), München 2014; Wolfgang Koeppen: Jugend. Digitale textgenetische Edition (hg. mit E. Schumacher u. K. Krüger), Berlin 2016. Kathrin Nühlen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Akademienprojekt Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931) an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen Editionsphilologie, Arthur Schnitzler und Filmskripte aus der Zeit des Stummfilms. Wichtige Veröffentlichungen: „Stickluft oben u. Stickluft unten – was soll aus dieser Misere Gutes kommen? Freiligraths Briefe an Levin Schücking aus dem Jahr 1843.“ (Mit Bernd Füllner), in: Grabbe-Jahrbuch 2011/12. 30./31. Jahrgang, hg. v. Lothar Ehrlich u. Detlev Kopp, Bielefeld 2012, S. 166–206. Bodo Plachta ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition und gibt gemeinsam mit Rüdiger Nutt-Kofoth das Jahrbuch „editio“ und die Reihe „Bausteine zur Geschichte der Edition“ heraus. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 18. und 19. Jahrhundert, Zensur, Exil, Oper und Operntext, Literatur und bildende Kunst. Letzte Publikation: Künstlerhäuser. Ateliers und Lebensräume berühmter Maler und Bildhauer, Stuttgart 2014.
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Autorinnen und Autoren der Beiträge
Frank Queens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Akademienprojekt Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931) an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkt ist die Anwendungsentwicklung im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften. Thorsten Ries ist Postdoc Researcher (FWO) am Institut für deutsche Literatur der Universität Gent, Belgien. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen deutsche Literatur des 18., 20. und 21. Jahrhunderts, Editionswissenschaft, Textgenese, Digital Humanities, Geschichte der Germanistik und Methodologie und Theorie der Literaturwissenschaft. Wichtige Veröffentlichungen: Verwandlung als anthropologisches Motiv in der Lyrik Gottfried Benns. Textgenetische Edition ausgewählter Gedichte aus den Jahren 1935 bis 1953, Berlin et al. 2014: „‚die geräte klüger als ihre besitzer‘. Philologische Durchblicke hinter die Schreibszene des Graphical User Interface. Überlegungen zur digitalen Quellenphilologie, mit einer textgenetischen Studie zu Michael Speiers ‚ausfahrt st. nazaire‘“, in: Editio 24 (2010), S. 149–199. Jörgen Schäfer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Elektronische Literatur, Pop-Literatur, Medien der Literatur, Dada. Wichtige Publikationen: Dada total. Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder (hg. mit K. Riha), Stuttgart 2015; Handbuch Medien der Literatur (hg. mit N. Binczek u. T. Dembeck), Berlin 2013; Beyond the Screen. Transformations of Literary Structures, Interfaces and Genres (hg. mit P. Gendolla), Bielefeld 2010. Michael Scheffel ist Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Zusammen mit W. Lukas Leiter des Akademienprojekts Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931). Arbeitsschwerpunkte: Erzählforschung, Literatur um 1900. Wichtige Veröffentlichungen: Arthur Schnitzler: Erzählungen und Romane, Berlin 2015; Schnitzler-Handbuch (hg. mit C. Jürgensen u. W. Lukas), Stuttgart 2015; Einführung in die Erzähltheorie (zus. mit M. Martínez), 10. Aufl., München 2016. Eckhard Schumacher ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie und Leiter des Wolfgang-Koeppen-Archivs an der Universität Greifswald. Von 2012 bis 2015 war er Leiter des DFG-Forschungsprojektes „Wolfgang Koeppens Jugend“. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Literatur- und Medientheorie, Romantik, Gegenwartsliteratur, Pop. Wichtige Veröffentlichungen: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt/M. 2003; Text+Kritik: Wolfgang Koeppen (hg. mit K. Krüger), München 2014; Hg. von Wolfgang Koeppen: Jugend (= Werke, Bd. 7), Berlin 2016. Joshgun Sirajzade ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Digitale Editionsphilologie; Computergestützte Kollationierung – Algorithmen und Heuristiken;
Autorinnen und Autoren der Beiträge
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Historische Korpuslinguistik; Programmier- und Scriptsprachen sowie Datenbanken in Digital Humanities. Wichtige Veröffentlichungen: „Das luxemburgischsprachige Oeuvre von Michel Rodange (1827-1876). Editionsphilologische und korpuslinguistische Analyse. Trier 2015; Die Erstellung sprach- und literaturwissenschaftlicher Tools für das Historisch-kritische Michel-Rodange-Portal“, in: Peter Gilles u. a. (Hg.): Linguistische und soziolinguistische Bausteine der Luxemburgistik, Frankfurt/M. u. a. 2011, S. 297–308. Jonas Wolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Akademienprojekt Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931). Arbeitsschwerpunkte: Editionsphilologie, Arthur Schnitzler, Jean Paul, Anthropologie und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts.
Personenregister
Adamzik, Kirsten 177 Adorno, Theodor W. 42, 162, 167 Albrecht, Andrea 167 Antos, Gerd 177 Anz, Thomas 158 Aragon, Louis 12 Arnold, Heinz Ludwig 132, 133, 147, 205, 212, 217 Aspetsberger, Friedbert 31 Bachmann, Ingeborg 119 Bacon, Francis 30 Barck, Karlheinz 28 Barthes, Roland 190 Baßler, Moritz 133, 137 Baumgart, Reinhard 116, 117 Beard, Georg M. 158 Becker, Sabina 158 Becker, Silke 59 Begemann, Christian 44 Bein, Thomas 21, 176 Beniston, Judith 88 Benn, Gottfried 33 Benne, Christian 65, 68 Berger, Helmut 144 Bernays, Michael 23, 24 Bessing, Joachim 131, 132, 134–140, 142, 143, 145, 149–152 Bienek, Horst 208 Binczek, Natalie 135 Bockelkamp, Marianne 57 Bögel, Cornelia 107 Bohnenkamp-Renken, Anne 5 Böhnke, Alexander 145 Bonacker, Thorsten 160 Boulez, Pierre 15, 16 Bourget, Paul 162, 163 Brancusi, Constantin 30 Brandlhuber, Margot Th. 24 Braungart, Georg 111 Braunwarth, Peter Michael 88, 91 Brecht, Bertolt 33, 108, 109, 120 Breda, Adrian 5 Briel, Dagmar von 157, 181, 183, 192
Briese, Olaf 48, 50 Broder, Henryk M. 144 Büchner, Georg 32, 124 Buhrs, Michael 24 Burch, Thomas 4 Bush, Vannevar 70 Campe, Rüdiger 138 Carrier, Brian 60 Chandler, Daniel 71, 72 Chaouli, Michel 147 Charcot, Jean-Martin 158 Cher 134 Ciccoricco, David 63 Claudel, Paul 9 Clouzot, Henri-Georges 30 Cohen, Fred 79 Colli, Giorgio 197 Conzen, Ina 30 Crombez, Thomas 62, 71 Davis, Lennard J. 196 Degas, Edgar 27 Deighton, Len 61 Delabar, Walter 32 Delekat, Thomas 141 Deppermann, Arnulf 149 Dick, Ricarda 70 Diederichsen, Diedrich 131 Döring, Jörg 4, 5, 134–139, 143, 161, 162 Duranti, Luciana 58, 59 Dürer, Albrecht 30 Dürrenmatt, Friedrich 9 Edwards, John 30 Ehrenberg, Alain 159 Eibl, Karl 31, 127 Eisenstadt, Shmuel N. 160 Ellissen, Adolf 23 Enderlein, Anne 136, 137 Endicott-Popovsky, Barbara 59 Enge, Jürgen 62, 63 Enzensberger, Hans Magnus 121, 122 Epping-Jäger, Cornelia 135
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Personenregister
Erhart, Walter 4, 11, 159, 160, 168, 178, 183, 187, 189, 192, 202 Ernst, Thomas 133 Estermann, Alfred 1, 163, 188, 189
Grumach, Ernst 20 Gumbrecht, Hans Ulrich 138 Günther, Wolfgang 41 Gutzkow, Karl 3, 39–54
Fahlke, Eberhard 116, 118, 119, 121 Fetscher, Justus 28 Filthaut, Jörg 62 Flanders, Julia 59, 69 Flaubert, Gustave 12 Flusser, Vilém 61 Fontane, Theodor 123 Forest, Marie-Cécile 24, 26 Frank, Dirk 133 Frank, Gustav 44 Freiling, Felix 71 Freistat, Neil 59, 69 Freud, Sigmund 158, 167 Fried, Ina 61, 74 Fries, Ulrich 107 Frisé, Adolf 16, 31 Frühwald, Wolfgang 144 Fuhrmann, Manfred 134 Füllner, Bernd 46
Habermas, Jürgen 166 Hamminger, Julia 92 Häntzschel, Günter 177 Häntzschel, Hiltrud 177 Hay, Louis 11, 12 Hecht, Werner 109 Heck, Patrick 5 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 167 Heine, Heinrich 10–13 Heintz, Günter 43 Helbig, Holger 4, 126 Herder, Johann Gottfried 22 Hielscher, Martin 187 Hiller, Moritz 63 Hitler, Adolf 123, 195 Hölderlin, Friedrich 32, 92 Honnefelder, Gottfried 134 Honneth, Axel 165–167 Horkheimer, Max 162, 167 Horn, Sebastian 116–118 Horrocks, David 41 Horváth, Ödön von 92 Hugo, Victor 12 Hülk, Walburga 135 Hummel, Siri 5 Hundt, Irina 48 Hurlebusch, Klaus 20, 23, 31, 32, 88 Hutzelmann, Konrad 19
Gellhaus, Axel 30 Genette, Gérard 192 Gensel, Reinhold 53 Gerlach, Reiner 117 Gillett, Robert 113, 116, 118 Gitelman, Lisa 64, 69, 70 Giuriato, Davide 49, 138 Goedeke, Karl 22, 23 Goethe, Johann Wolfgang von 19–24, 30, 183, 193 Goethe, Walther Wolfgang von 19 Golz, Jochen 19, 21, 22 Gómez Rodríguez, Sonia 62 Göpfert, Herbert 161 Goverts, Henry 163, 188, 205, 216 Graebig, Klaus 64 Graf, Karin 141, 142 Grass, Günter 120, 123 Greiner, Ulrich 162 Grésillon, Almuth 2, 3, 10, 13, 41, 89, 91, 111, 135, 177, 188 Groddeck, Wolfram 197 Grubinger, Judith 139
Illetschko, Marcel 22 Jäger, Ludwig 135 Jakobs, Eva-Maria 177 Jannidis, Fotis 127 Jansohn, Christa 20 John, Jeremy Leighton 59, 60, 62 Johnson, Uwe 4, 107, 110–129 Joyce, James 10, 12, 165, 169, 171 Juan-Cantavella, Robert 62 Jünger, Ernst 143 Kafka, Franz 32, 120 Kamzelak, Roland S. 23
227
Personenregister
Kanzog, Klaus 35, 144 Karl der Große 157 Kaßner, Fabian 107 Kastberger, Klaus 92 Kay, Alan 69 Keller, Gottfried 32, 40 Keller, Luzius 25 Kennedy, John F. 168–170 Kenzler, Michel 5 Kiesel, Helmuth 158 Kim, Jisung 122 King, Martina 158 Kirschenbaum, Matthew 59–62, 64, 66–69, 81, 135 Kischel, André 107 Kittler, Friedrich A. 62, 63 Kleiman, Dave 67 Kleinwort, Malte 3 Kling, Thomas 3, 57, 70, 72–77, 79, 81 Klopstock, Friedrich Gottlieb 89 Knöbl, Wolfgang 160 Knorr, Katharina 148 Koch, Philip 5 Koch, Werner 218 Koeppen, Wolfgang 1–5, 11, 157, 159–165, 167–169, 171, 175–178, 180, 181, 183–185, 187–190, 192–200, 202, 205, 207–209, 211–214, 216–218 Köhler, Reinhold 23 Kopp, Detlev 44 Kottwitz, Katja 5 Kracht, Christian 131–133, 136, 137, 139, 142, 143, 149, 151, 152 Kraft, Herbert 22, 35, 144 Kramberg, Heinz 125 Kramski, Heinz Werner 62, 63 Kraus, Kari 59 Kröger, Claus 122 Krüger, Horst 216 Krüger, Katharina 2, 4, 5, 11, 175, 176, 187, 189 Kunz, Marco 62 Kureishi, Hanif 62 Kußmann, Matthias 176, 194 Lacambre, Geneviève 25, 27 Langanky, Ute 70, 72 Larson, Jonathan 62, 76
Lauer, Gerhard 127 Laurel, Brenda 69 Lauster, Martina 41, 47, 53 Lebrave, Jean-Louis 62 Lee, Christopher A. 61 Lejeune, Philippe 192 Leuchtenberger, Katja 107, 119 Licklider, Joseph Carl Robnett 70 Light, Michelle 62 Luck, Rätus 28 Lüdeke, Roger 91 Lukács, Georg 167 Lukas, Wolfgang 4, 13, 46 Mailer, Norman 62 Mandelkow, Karl Robert 20 Mann, Katja 207 Mann, Thomas 31, 157 Manovich, Lev 68, 69 Maravilla, Dorle 137, 141 Marmulla, Henning 122 Martens, Gunter 32, 35, 88, 91 Martinez, Matias 127 Martus, Steffen 21, 49 Mathieu, Pierre-Louis 25, 27 Mathijsen, Marita 72 Matt, Peter von 32 Mayer, Hans 119, 120 McGann, Jerome 69 Mengaldo, Elisabetta 2, 4, 5, 11, 175, 178, 189 Menzel, Theodor 46 Meyer, Conrad Ferdinand 90 Miklin, Richard 88 Mitterauer, Gertraud 72 Mohr, Reinhard 144 Montinari, Mazzino 197 Moreau, Gustave 24–27, 30, 31 Morgenthaler, Walter 40 Müldener, Wilhelm 23 Müller, Friedrich von 20 Müller, Günther 22 Müller, Jan-Dirk 111 Müller-Seidel, Walter 144, 158 Müller-Waldeck, Gunnar 165 Musil, Robert 10, 16, 19, 32 Neisser, M. 158
228
Personenregister
Nelson, Ted 71 Neumann, Annja 88 Neumann, Bernd 115 Nickel, Eckhart 131, 136, 139, 142, 143, 149, 151, 152 Nietzsche, Friedrich 197 Nordau, Max 159–161 Nottscheid, Mirko 22 Nutt-Kofoth, Rüdiger 11, 13, 20–24, 31, 32, 34, 88, 89
Riordans, Colin 122 Robbe-Grillet, Alain 193 Röcken, Per 23 Rockmore, Dan 61, 62 Rodin, Auguste 24, 27–31 Rosenthal, Daniel 141 Rothenberg, Jeff 147 Rother, Frauke 41 Ruprechter, Walter 88 Rushdie, Salman 61, 62
Oellers, Norbert 21 Oesterley, Hermann 23 Ogden, Perry 30 Ott, Ulrich 34
Sachsen-Weimar-Eisenach, Sophie von 19 Sahle, Patrick 58, 64, 110 Sartre, Paul 12 Sattler, Dietrich E. 92 Sauppe, Hermann 23 Schäfer, Jörgen 4, 132, 133, 135, 136, 145 Schaukal, Richard 139 Scheffel, Michael 4 Scheibe, Siegfried 91 Scheuring, Cathrin 5 Schiller, Friedrich 22, 23 Schlesinger, Claus-Michael 5 Schmid, Gerhard 22 Schmidt-Radefeldt, Jürgen 39 Schmidt, Harald 132 Schmidt, Rainer 132 Schneider, Ute 46 Schnitzler, Arthur 4, 87–98, 100 Schönburg, Alexander von 131, 136, 138, 139, 142, 143, 149, 151, 152 Schopf, Wolfgang 1, 163, 188 Schröter, Jens 145 Schubert, Gotthilf Heinrich von 199 Schubert, Martin 65 Schultz, Uwe 183 Schumacher, Eckhard 133, 175, 189 Schwab-Felisch, Hans 162 Seidel, Gerhard 33, 34 Seiffert, Hans Werner 88, 91 Seiler, Sascha 133 Selting, Margret 148 Senger, Gerhard 35 Shillingsburg, Peter 64, 92 Simanowski, Roberto 147 Simon, Claude 15 Sina, Kai 20 Sontag, Susan 158
Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 51–53 Pautzke, Anja 107 Pertlik, Susanne 88, 91 Pfeiffer, K. Ludwig 138 Philippi, Anne 132 Pierazzo, Elena 58, 81 Plachta, Bodo 3, 11, 20–23, 25, 30, 32, 144, 176 Podewski, Madleen 13 Pöppel, Nicole 135 Prater, Donald A. 28 Prince 139, 141 Proust, Marcel 3, 9–13, 25, 192 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 14 Raabe, Paul 21 Radkau, Joachim 157 Ransom, Harry 62 Rasch, Wolfgang 41, 45, 47 Reckwitz, Andreas 160 Redwine, Gabriela 59 Reich-Ranicki, Michel 1, 2, 4, 131, 157, 162, 181, 183, 187, 192, 207, 208 Reimann, Kerstin 92 Reside, Doug 59, 61, 62, 64, 76 Reuß, Roland 32, 40, 42, 58, 65, 91, 145, 148 Richter, Hans Werner 211 Richter, Matthias 117 Ricklefs, Ulfert 23, 144 Ries, Thorsten 3, 5, 13, 33, 58, 60, 61, 63, 65, 67, 72, 80, 135 Rilke, Rainer Maria 28, 29, 31, 157, 158
229
Personenregister
Speier, Michael 72 Spoerhase, Carlos 20, 40, 43 Staengle, Peter 32 Stahl, Enno 133 Stahnke, Susan 134 Stanitzek, Georg 135 Steinhilper, Ulrich 61 Stern, Martin 197 Stieglitz, Charlotte 48, 50 Stieglitz, Heinrich 48 Stingelin, Martin 49, 138 Stuckrad-Barre, Benjamin v. 131–133, 136, 139, 143, 149, 151, 152 Suhm, Christian 5 Sundhar, Shyaam R. 67 Suphan, Bernhard 22 Süselbeck, Jan 5, 135, 136 Tacke, Alexandra 135 Theimer, Kate 62 Thomas, Susan 59 Thomé, Horst 111 Thurn und Taxis, Gloria von 131 Trakl, Georg 32 Treichel, Hans-Ulrich 2, 157, 161, 168, 181, 183, 192 Triolet, Elsa 12 Ulbricht, Justus H. 21 Ullmaier, Johannes 133 Unseld, Siegfried 1, 115, 116, 163, 188, 189, 207, 211, 214 Urbach, Reinhard 87, 88, 91
Valéry, Paul 12, 15, 27, 39, 187 Van Hulle, Dirk 64 Vanhoutte, Edward 64 Vauthier, Bénédicte 62 Vejvar, Martin 92 Verdi, Giuseppe 168, 170 Vilain, Robert 88 Vinci, Leonardo da 39 Vollmer, Wilhelm 23 Vonhoff, Gert 44, 53 Wabnegger, Erwin 45 Wagner-Egelhaaf, Martina 192 Wahl, Volker 21 Walser, Martin 123 Warning, Rainer 10 Webber, Andrew 88 Weber, Ulrich 5 Weinrich, Harald 190 Westhoff, Clara 28 Weyand, Björn 135 Williams, Robbie 134 Winkler, Tanja 107 Wizisla, Erdmut 24 Woesler, Winfried 5 Wright, Craig 67 Zäch, Alfred 90 Zaimoglu, Feridun 144 Zanetti, Sandro 49, 52, 138 Zeller, Hans 14, 32, 34, 90, 91 Zola, Émile 12 Zweig, Stefan 28