Texte und Tabu: Zur Kultur von Verbot und Übertretung von der Spätantike bis zur Gegenwart [1. Aufl.] 9783839426708

Are we living in a time without taboos? Certainly not! Historical and current taboos expose the ambivalence of repulsion

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German Pages 216 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung. Tabu / Kultur
grüezen statt biligen. Verbale Tabus im Minnesang
Der umgekehrte kategorische Imperativ. Versuch zu einer Typologie von Tabu
Ritter weinen nicht. Warum Mann über Schmerzen nicht spricht
Edippus der virmeinde - der vngetrue iudas. Konfigurationen der Ödipussage im deutschsprachigen Mittelalter
Ein Sprung ins Ungewisse. Tabus und ihre narrative Realisierung im Rappoltsteiner Parzifal
Verbot und Tabu im Märchen
Der Schoß der Königin ist tabu
Erzählakt und Tabu. Zur Narratologie der Übertretung in Clemens Brentanos Märchen vom Haus Staarenberg
arcana verba quae non licet homini loqui. Tabuisierung und visionäre Bezeugung in der Paulusapokalypse
Das strafrechtliche Verbot des Geschwisterinzests im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Autorinnen und Autoren
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Texte und Tabu: Zur Kultur von Verbot und Übertretung von der Spätantike bis zur Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839426708

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Alexander Dingeldein, Matthias Emrich (Hg.) Texte und Tabu

Mainzer Historische Kulturwissenschaften 1 Band 21

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst-und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

ALEXANDER DINGELDEIN, MATTHIAS E M RICH (HG.)

Texte und Tabu Zur Kultur von Verbot und Übertretung von der Spätantike bis zur Gegenwart

[ transcript]

Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2670-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2670-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@ transcript-verlag.de

INHALT

Einleitung. Tabu 1 Kultur

7

MATTHIAS EMRICH

grüezen statt biligen. Verbale Tabus im Minnesang

. ......... .................. ..............

19

Der umgekehrte kategorische Imperativ. Versuch zu einer Typologie von Tabu .................... .........

41

MANUEL BRAUN

JULIA STENZEL

Ritter weinen nicht. Warum Mann über Schmerzen nicht spricht

..... .... ......... 59

DOMTNTK SCHUH

Edippus der virmeinde - der vngetrue iudas. Konfigurationen der Ödipussage im deutschsprachigen Mittelalter .. .. .. .. .. .... .... .. .. .. .... ... .. .. . 75 A LEXANDER DTNGELDEJN

Ein Sprung ins Ungewisse. Tabus und ihre narrative Realisierung im Rappoltsteiner Parzifal .... .. .. ........ .. .............. .. .. ............ NICOLE Ü TTE

91

Verbot und Tabu im Märchen

... ....... .... ........... ........ ..... ..... 105

UTAMIERSCH

Der Schoß der Königin ist tabu

........... ........... .................. 123

PHILIPP GILLER

Erzählakt und Tabu. Zur Narratologie der Übertretung in Clemens Brentanos Märchen vom Haus Staarenberg .. .................. 139 MARCO LEHMANN

arcana verba quae non licet homini loqui. Tabuisierung und visionäre Bezeugung in der Paulusapokalypse ..... ... .......................................... 159 MATTHIAS DÄUMER

Das strafrechtliche Verbot des Geschwisterinzests im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ......................... ... ......... 187 CLAUDIUS GETSLER

Autorinnen und Autoren

...... ......... .... ............ ........... .... ..... 209

Einleitung. Tabu

1

Kultur

MA TTHIAS EMRICH

Dirk Baecker

Tabu

1

1800

Das Tabu hat eine Geschichte und damit einen Auftakt. "Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein, ohne falschen Beigeschmack, durchaus rein zu genießen." 1 ließ Goethe seinen Zuhörer Eckermann am 12. März 1828 wissen und trifft damit den Ausgangspunkt der Geschichte: Die Südsee - um 1800 hatte sich um sie ein Kult formiert, der eng mit der Zivilisationskritik der Aufklärung verbunden ist. 2 Und in eben diesem Klima entstehen im erforschenden Kulturkontakt die ersten Beschreibungen des Phänomens Tabu, womit Europa beginnt einen Begriff zu entdecken, der sein Potential fur die Beobachtung der eigenen europäischen Kultur zur Fundzeit noch kaum erkennen lässt. 3 Tahiti war als ein Prototyp der entdeckten Südseeinseln Ende des 18. Jahrhunderts ein phantastischer Ort, an dem die Zwänge der Zivilisation abwesend waren. Das anthropologische Idealbild des ,edlen Wilden' begegnete hier einer ECKERMANN, 1848, S. 246.

2

3

Zur detaillierten medienhistorischen Kontextualisierung der Begriffsentwickltung vergl. PRZYREMBEL, 2011, auf deren Habilitationsschrift sich die vorliegende Einleitung in Teilen stützt. Zum komplementären Gegenbegriffmana im polynesischen Sprachraum vgl. STEINER, 1999, Kap. , Taboo as Negative Mana' . V gl. zur Begriffsgeschichte überblicksartig MARSCHALL, 1998.

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fabelhaften Projektsiontläche. Das Tabu wurde dabei als ein wesentliches sonderbares Markmal der südpazifischen Bevölkerung beschrieben. Im Nachgang von Rousseau und Diderot konfigurierten diese Südseeprojektionen, die die geistige und körperliche Anmut des Tahitianers berühren, die Figur des ,edlen Wilden' ,4 an der schon wenig später mit der intensivierenden Missionierungstätigkeit Ambivalenzen keimen. Immer häufiger werden von den Südsee-Enthusiasten komplementäre Beobachtungen berichtet, die heidnische Bräuche und animalische Praktiken (wie Kannibalismus und Promiskuität) umfassen. Früh beginnen sich die Anschlüsse zu bilden, die im Laufe des 19. Jahrhunderts das Tabu an die Matrix von Reinheit und Umeinheit koppeln. 5 Captain James Cook war weder der einzige noch der erste Abenteurer, der die Südsee durchschiffte und Tahiti besuchte. Seine Reiseberichte aber lösten insbesondere den europäischen Südsee-Boom aus, vor allem die gemeinsam mit James King verfassten im Zusammenhang seiner letzten Reise, von der er nicht zurückkehrte. Mit den Übersetzungen der Reisejournale Cooks durch Georg Forster sowie dessen eigenen Reiseberichten über die zweite Expedition, an der er zusammen mit seinem Vater teilgenommen hatte, erreichte der Südsee-Kult samt Tabu die deutschen Staaten. Cooks Reisejournale oszillieren zwischen einem Willen zur Klassifizierung des Beobachteten und einer eingenommenen "Pose des lächelnden Beobachters".6 Sie sind orientiert an den Parametern der Naturgeschichte und bewegen sich zugleich im Südsee-Kult um 1800.7 Cook berücksichtigt bei der Produktion auch seines Tabuwissens neue wissenschaftliche Verfahren, wobei die Systematisierung der eigenen Beobachtungen eine entscheidende Rolle spielt. Diese Formen der Beobachtung und Aufzeichnung sollte für Tabubeschreibungen von 1800 bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch bleiben. Zentrale Akteure der weiteren den Kolonialdiskurs überschreitenden Übermittlung des Tabus in den europäischen Sprachraum waren die Missionare der ,London Missionary Society' - eine der wichtigsten protestantischen Missionsgesellschaften des I 9. Jahrhunderts - die dazu beitrugen, dass sich populäres und zunehmend systematisiertes Wissen über die fremde Welt des Südpazifik

4 5 6 7

8

Vgl. dazu die literarischen F01tschreibungen wie die mutmaßliche Autobiographie des Cook begleitenden Tahitianers Omai: Omais Freund ( 1792). Vgl. PRZYREMBEL, 2011, Kap. 5. Ebd., S. 41 Vgl.ebd.

Einleitung durch Zeitschriften, Museen, öffentlichen Veranstaltungen verbreitete. Der religiöse und institutionelle Kontext, in dem die Tabu-Beschreibungen der Londoner Missionare im Kulturkontakt entstehen und rezipiert werden, sind für das Verständnis von Produktion, Distribution und Systematisierung des Tabuwissens von Bedeutung. Gustav Warneck-Gründungsvater der Missionswissenschaft- bezeichnete schon 1880 das 19. Jahrhundert als ,Missionsjahrhundert': 8 Im Fahrwasser der religiösen Erweckungsbewegung im Großbritanniens des 18. Jahrunderts entstanden in den 1790ern die bedeutenden britischen protestantischen Missionsgesellschaften: darunter die ,London Missionary Society'. Die Missionsarbeit der ,London Missionary Society' zielt v.a. auf das Außerhalb Europas und in den ersten Jahren ihres Bestehens dabei besonders auf die Südsee-lnseln.9 Die Gründung der ,Society' im Jahre 1795 lässt sich auf den Südsee-Boom zurückführen, den die Veröffentlichung der Reisejournale Cooks im ausgehenden 18. Jahrhundert in Großbritannien befeuerte. Während für Cook und seine der Aufklärung nahe stehenden Geistesverwandte Tahiti noch Projektionsfläche unerfiillter Sehnsüchte und kühner Visionen war, wird es für die ,London M issionary Society' zum "Zentrum und die Heimat der furchtbarsten Sünden, die die Menschheit erniedrigen können". 10 Auf eine Durchdringung wissenschaftlicher Interessen schon seit der Gründungsgeschichte der Missionsgesellschaft deuten zentrale Figuren wie der bedeutende Naturforscher und Sammler Sir Joseph Banks. Ein entscheidendes strukturelles Moment liegt in der parallelen Entwicklung von sich ständig intensivierender Missionsarbeit im Außereuropäischen und der lokalen Verankerung der Missionsgesellschaften, der Vernetzung in die städtischen und ländlichen Kommunen der Heimat, wobei die Tätigkeit der Londoner Missionare auch außerhalb Großbritanniens rezipiert wurde. Das europäische Wissen über das Tabu ist mit diesen protestantischen transnationalen Kommunikations-Netzwerken unmittelbar verflochten. Die Missionare sammelten nicht

8

Vgl. Gustav Warneck: Warum ist das 19. Jahrhundert ein Missionsjahrhundert? Halle 1880. 9 Zur zentralen Stellung der ,London Missionary Society' in der Entdeckungsgeschichte des europäischen Tabubegriffs vgl. PRZYREMBEL, 2011, Kap. 2; hier S. 57. 10 Richard Lovett: London Missionary Society (1851-1904), zit. n. PRZYREMBEL, 2011, S. 57.

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nur und popularisierten Wissen über außereuropäische Kulturwelten, sie bildeten dabei neue Strategien des Wissenserwerbs heraus, die über die naturkundlichen Methoden von Cook und seinen Begleitern hinausweisen. 11 Konnte man noch mit Cook diagnostizieren, dass die Inselbewohner über eine laszive Sexualität verfügten, weil sie kein Ordnungssystem im Sinne einer christlich-abendländischen Kultur kannten, entwickelten die britischen protestantischen Missionare den Begriffweiter, indem sie das Tabu als ein Charakteristikum des ,sündigen' Südsee-Heiden begreifen und die Ordnungssystematik des Tabus in der Matrix von Reinheit und Unreinheit deuten. 12 Verwickelt in diese diffus intrikaten Migrationsgeschichten findet der Ausdruck Tabu im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Eingang in die Konversationslexika; in der Regel in der Bedeutung eines Repressionssystems, wie es die südpazifischen Inselgruppen angeblich zu verbinden schien. ln Herders Conversations-Lexikon etwa ist nachzuschlagen: Tabu, auf vielen heidnischen Südseeinseln eine Art Weihe, welche die Vornehmen über Plätze, Gebäude, Natur und Kunstgegenstände, auch über Menschen verhängen, wodurch dieselben unantastbar werden; die Vornehmen sind selbst "T." für die niedere Volksklasse und verdanken diesem Umstande größtentheils ihre Macht. 13

Tabu

I 1900

Im ausgehenden 19. Jahrhundert verlieh der sich entfaltende Primitivismus neben der professionalisierenden Ethnologie dem Konzept des Tabus neue Attraktivität. Die Christianisierung der Südsee-Bevölkerung wähnte man als abgeschlossen und damit deren Tabu-Vorstellungen als weitgehend überwunden, da beginnt Europa das Tabu als Möglichkeit im Zusammenhang treibender Selbstbeschreibungsimpulse wiederzuentdecken. Die beiden einflussreichsten Protagonisten dieser Wiederentdeckung waren die kulturanalytischen SchreibtischAbenteurer James Frazer und Sigmund Freud. Der Altphilologe und Ethnologe James Frazer verfasste 1888 für die Encyclopaedica Britannica einen grundlegenden Artikel, der das Lemma ,Tabu' neu II Vgl. PRZYREMBEL, 2011, S. 66. 12 V gl. ebd., S. 139f. 13 Herders, 1857, Bd.5,S.401.

10

Einleitung fassen sollte. Frazer legt hier die Grundlage für sein Magnum Opus The Golden Bough, dessen erste Ausgabe 1890 erschien und zu einem echten Schlager geriet. Der anschauliche und märchenhafte Stil, mit dem Frazer den "Australneger" mit dem polnischen Landarbeiter vergleicht und gleichzeitig die Tiefen des Altertums abschreitet, faszinierte eine breite Zeitgenossenschaft Eine basale Denkfigur, die wir bei Freud wiederfinden, ist schon bei Frazer angedeutet, wenn er den , Wilden ' mit dem Kinde vergleicht und schlussfolgert, dass "die Mehrheit des Volkes in jedem zivilisie11en Land[ ... ] in einem Zustand intellektueller Wildheit" 14 lebe. Das Tabu wird von Frazer als vielseitiges, universelles Konzept beschrieben: Es ordnet Handlungen (wie den Umgang mit Feinden oder mit Trauernden), Dinge (wie Nahrung und Waffen) und Bezeichnungen (wie Namen von Königen und Toten); es steht auch in Verbindung mit der Körpersprache, der Verwendung von Körperteilen (wie abgeschnittene Haare oder Nägel), Speichel und Blut; es geht um Berührung von Körpern toter Menschen oder menstruierender Frauen. 15 Frazers Tabuentwurf ist nicht nur insofern gravierend, als er mit zahlreichen empirischen Beispielen bestückt ist; er konstruiert das Tabu zugleich als eine universeile Kategorie, die prinzipiell auf jede Geseiischaft übertragbar ist. Und das heißt, nicht nur auf andere Gesellschaften und Kulturen im synchronen Vergleich, sondern auch auf andere Kulturen und Gesellschaften in der historischen Dimensionjeder Kulturformation. Frazer hat so über eine implizierte Vergleichbarkeit von Kulturen in ihrer synchronen und diachronen Andersheit das Tabu zu einem kulturanalytischen tertium comparationis, und damit zu einem kulturwissenschaftlichen Begriff im modernen Sinn werden lässt. ln seinem Enzyklopädie-Artikel von 1888 heißt es: Weshall scarcely err in believing that even in advanced societies the moral sentiments, in so fat as they ate merely sentiments and arenot based on an induction tl·om experience, derive much of their force fi·om an original system of taboo. 16

Eben diese Vorstellung, das Tabu wirke als Symptom archaischer Kulturen auch in der modernen Gesellschaft als phylogenetischer Ursprung fort, weist auf Sigmund Freuds Totem und Tabu. Doch der Analytiker beobachtet das Tabu nicht

14 FRAZER: Der goldene Zweig, zit. n. PRZYREM BEL, 20 II, S. 125. 15 V gl. PRZYREMBEL, 20 II, Kap. 4; sowie hier: S. 127. 16 FRAZER, 1888.

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bloß als Ordnungssystem bei den "armen, nackten Kannibalen", sondern bei seinen eigenen Patienten. Er erkennt im Tabu etwas, das unmittelbar wirksam ist im Europa seiner Zeit, das das von Frazer freigelegte universelle Potential analytischer Brauchbarkeit an die eigene Kultur und deren Individuen anschließbar werden lässt. Er verlagert dabei schon von Franzen ausgemachte Momente, wie die Furcht vor Unreinheit, nach innen und integriert das ethnologische Tabu in sein psychoanalytisches Deutungsmodell. 17 Die entscheidende Grundoperation auch hier ist die des Vergleichs. Den ,primitiven' Völkern wird in Anlehnung an die virulenten evolutiven Vorstellungen der Zeit eine Analogie zur Vergangenheit der eigenen Kultur zugeschrieben: Den Menschen der Vorzeit kennen wir in den Entwicklungsstadien, die er durchlaufen hat, durch die unbelebten Denkmäler und Geräte, die er uns hinterlassen, durch die Kunde von seiner Kunst, seiner Religion und Lebensanschauung, die wir entweder direkt oder auf dem Wege der Tradition in Sagen, Mythen und Märchen erhalten haben, durch die Überreste seiner Denkweisen in unseren eigenen Sitten und Gebräuchen. Außerdem aber ist er noch in gewissem Sinne unser Zeitgenosse; es leben Menschen, von denen wir glauben, daß sie den Primitiven noch sehr nahestehen, viel näher als wir, in denen wir daher die direkten Abkömmlinge und Vertreter der früheren Menschen erblicken. Wir urteilen so über die sogenannten Wilden und halbwilden Völker, deren Seelenleben ein besonderes Interesse für uns gewinnt, wenn wir in ihm eine gut erhaltene Vorstufe unserer eigenen Entwicklung erkennen dürfen. Wenn diese Voraussetzung zutreffend ist, so wird eine Vergleichung der »Psychologie der Naturvölker«, wie die Völkerkunde sie lehrt, mit der Psychologie des Neurotikers, wie sie durch die Psychoanalyse bekannt geworden ist, zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen müssen und wird uns gestatten, bereits Bekanntes hier und dort in neuem Lichte zu sehen. 18

Anhand eines nach Frazer zitierten Beispiels vom Maori-Häuptling und der Fallgeschichte einer eigenen Patientin wird der Vergleich konkretisiert. Kulturelle und psychische Beobachtungen plausibilisieren sich funktional eingelassen wechselseitig und machen das Tabu zu einem flir Freud geeigneten Gegenstand

17 Vgl. dazu PRZYREMBEL, 2011; sowie hier: S. 140. 18 FREUD, 1913, S. 47.

12

Einleitung der Verknüpfung von Psycho- und Kulturanalyse. 19 Freud erkennt im Tabu eine Schwingungsmembran, die psychische Ontogenese mit kulturaler Phylogenese kombiniert. Entscheidend sowohl bei Frazers als auch bei Freuds kulturanalytischem Vorgehen ist die Operation des Vergleichs, was sie zu Akteuren im Zeichen eines modernen Kulturbegriffs macht. Erkennt man im komparativen Modus der Betrachtung einen spezifischen Zug eines modernen Kulturbegriffs, gehört in dessen basales Moment der Vergleich der Lebensumstände zwischen Menschen, und dies in regionaler und historischer Hinsicht. 20 Erst mit dieser intellektuellen Praxis des Vergleichens, essayistisch auf den Punkt gebracht von Montaigne und ausgearbeitet von Vico, Herder und vielen anderen, entstehen Historiographie, Anthropologie und Ethnologie im modernen Wortsinn. 21 Die materielle Basis dabei ist zunächst und vor allem die Schrift,22 auf deren Grundlage Regionen oder Zeiten miteinander verglichen werden können: Die Schreiber sind es, als Geschichtsschreiber, Pamphletisten, Buchhalter, Amtsschreiber und Chronisten, die vorführen, wie man mit Hilfe einer einzigen Operation beides kann: etwas festhalten und etwas ändern. Die Schreiber verschieben nicht nur laufend, wie sie worüber schreiben. Sondern sie protokollieren auch, was sie tun.Z3

19 Die Charakteristika, die Freud durch die vergleichende Analyse gewinnt Jistet er auf: "Resümieren wir nun, in welchen Punkten sich die Übereinstimmung der Tabugebräuche mit den Symptomen der Zwangsneurose am deutlichsten äußert: 1. In der Unmotiviertheit der Gebote, 2. in ihrer Befestigung durch eine innere Nötigung, 3. in ihrer Verschiebbarkeit und in der Ansteckungsgefahr durch das Verbotene, 4. in der Verursachung von zeremoniösen Handlungen, Geboten, die von den Verboten ausgehen." (FREUD, 1913, S. 77) 20 BAECKER, 2003, S. 47. Das Tabu tritt als ein Symptom eines modernen Kulturbegriffs auf, ist doch Kultur in einem modernen Verständnis das, was unvergleichbare Lebensweisen vergleichbar macht, und der moderne Kulturbegriff damit das "Ergebnis der intellektuellen Praxis des Vergleichens." 21 Vgl. ebd. 22 Zur Grundlage der Schrift flir die Öffnung von Vergleichungshorizonten vgl. auch ASSMANN, 1995. 23 BAECKER, 2003, S. 68.

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Strenggenommen ist aber aus dieser Perspektive selbst eine Kulthandlung wie das Beten per se (noch) keine Kultur. 24 Zur Kultur wird sie erst als Ergebnis einer bestimmten Betrachtungsweise: der des Vergleichs, dessen Möglichkeiten durch die medienhistorische Entwicklung des Buchdrucks und der globalen Wahrnehmungsexpansion samt Kontakt mit neuweltlichen Kulturen erheblich gefördert worden sind; das Aufschreibesystem 1900 und die Medienkonvergenzen im Zusammenhang mit der Entfaltung des Digitalen potenzieren diese Möglichkeiten zweifellos. Die universale Fassung geht mit der Bedeutung aller Gegenstände einher, die ein Ergebnis der Vergleichspraxis ist: Alles läßt sich vergleichen, alles kann ,interessant' oder ,uninteressant' gemacht werden, von der Frage der Weinbaukunst bis zur Frage der ehelichen Liebe. Alles erscheint doppelt, nämlich einmal als das, was es ist, und einmal al s das, was es im Rahmen eines Vergleichs bedeutet. Und natürlich schlagen die Konjunkturen der Bedeutung zurück auf das, was etwas ,ist' . Schließlich ,ist' nichts mehr etwas, wenn es nicht zugleich etwas ,bedeutet' .25

Die ethnologische und psychoanalytische Mutation des Tabubegriffs im Zeichen des Vergleichs um 1900 impliziert auch eine gesteigerte Ethnologisierung der eigenen Kultur, die auch von Energien durchsetzt ist, eigene Kulturformationen- wie die der Nation-angesichts der Kontingenzzumutungen der universellen Vergleichbarkeit zu behüten. Etwa ein Jahrhundert dauert die Geschichte der Transformation von Beschreibungen eines Komplexes von kulturell spezifischen sozialen Alteritäten, die sich um den polynesischen Ausdruck ,tapu' formierten, hin zu einer abstrahierten Analysekategorie, die einen spezifischen kulturellen Einblick arrangie11,

24 Und hier sind wir ganz nah am Geschäft des Geistes- und Kulturwissenschaftlers, wenn es heißt: " [Es] geht um die scheinbar ganz harmlose intellektuelle Geste, irgend etwas für ,interessant' zu halten und sich mithilfe des Vergleichswissens, das man sich angelesen hat, Gedanken über dieses Interessante zu machen. Man muß sich das vorstellen : Ein Gläubiger kniet nieder und beginnt ein Gebet. Ein Intellektueller stellt sich neben ihn und sagt: , Wie interessant! Weißt Du, daß andere Völker an ganz andere Götter glauben?[ ... ] Natürlich lehnt er [der Gläubige] die Zumutung des Vergleichs ab, hält den Intellektuellen für einen Neunmalklugen und die anderen Völker für ungläubig. Aber in Wahrheit ist er bereits erschüttett. In Wahrheit hat ihn bereits eine Umuhe erfaßt. Wie kann er glauben, wenn andere anders glauben? Wie kann er wissen, wenn andere anderes wissen?" (BAECKER, 2003, S. 48) 25 BAECKER, 2003, S. 67.

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Einleitung um Latentes zu erkennen, das prinzipiell anschließbar ist an das Wissen über zeitlich und regional Verschobenes. Wenn man das Tabu interessant machen kann, bieten sich die hier versammelten Exkursionen in die diachronen und synchronen Alteritäten an, die damit mehr bedeuten als sie sind.

Beiträge Dem performativen Oxymoron, dem Gegenstand des Tabus wissenschaftlich zu begegnen, stellen sich Forscher unterschiedlicher Disziplinen, die 2012 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zusammenfanden, um zusammen mit Uta Störmer-Caysa über das Tabu zu sprechen. Kulturwissenschaftler trafen sich als Philologen, Theaterwissenschaftler, Rechtswissenschaftler, Pädagogen, als Mediävisten, Romantik-, Religions-, Filmforscher. Die folgenden Beiträge basieren auf Vorträgen der Tagung. Mit Tabus gehen Umgehungsstrategien einher, im Falle des mittelalterlichen Minnesangs sind das v.a. Euphemismen. Der Beitrag von MANUEL BRAUN untersucht Sprachtabus einer spezifischen historischen Gattung, die semantischen Verschiebungen implikatierender Rede, die auf Sexualität zielt: Minnesänger sagen Vieles, meinen aber (meistens (auch)) Sexuelles. Der Beitrag schaut dabei nicht durch den Text auf rekonstruierte historische Handlungstabus derjenigen historischen Kulturformationen, die den Text umgeben: Vielmehr interessieren die Kommunikationsstrategien des performativ widersprüchlichen Redens mittelalterlicher Texte über Sexualität. In einem heuristischen Kurzschluss von Kant und Freud beobachtet der Beitrag von JULIA STENZEL als Tabu eine strukturelle Operation, die einen persistenten Zwang generiert, der dem Subjekt als Apriori begegnet. Das totalitäre System in Steven Spielbergs Minority Report etabliert Tabus, die als Inszenierungen entlarvt werden und den entscheidenden Tabu-Akt verdecken: Das Denkverbot als Tabu zweiter Ordnung, das Ambivalenzen ausstreicht, um die Hinterfragung der systemischen Eigenlogik nicht zu ermöglichen. Die Kontrolle von Kontingenz und der Ausschluss von Ambivalenz ermöglichen die Persistenz eines Systems, das auf die Etablierung einer "Hermeneutik mit Letztgültigkeitsanspruch" baut.

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Der mittelalterliche Ritter zeigt öffentlich die Trauer um einen Verstorbenen, die Ergriffenheit beim Anblick einer Reliquie, den Kummer um eine hoffnungslose Liebe: Er weint. Doch wenn der Schmerz ein primär körperlicher ist, zumal im Kampf, beginnt eine paradoxale Gleichzeitigkeit von Thematisierung und Dethematisierung als Tabu wirksam zu werden, die der Beitrag von DOMINIK SCHUH als ein literarisches Symptom beschreibt, das die fur den wahren Ritter unabdingbare Härte darstellbar und erkennbar werden lässt. Der Schmerz des Ritters muss im selben Augenblick seines nicht Ausdrucks erkennbar sein, weil nur durch diese Tabufigur die Härte des Ritters zum Ausdruck findet. Die große Tabugeschichte um König Ödipus ist eine Herausforderung für das literarische Mittelalter. Die Rezeption des Komplexes ist breit und die lntegrationsmodi vielseitig: Der Beitrag von ALEXANDER DINGELDEIN stellt die Spannbreite der literarischen Integrationsversuche der problematischen antiken Tabu-Figur Ödipus vor: zwischen höfischer Kultur und christlicher Heilsgeschichte, zwischen Erzählverweigerung und Stoffexpansion. Die literarische Artuswelt kam1 als Projektionsfläche einer idealisierten Adelswelt verstanden werden, das als stabiles Normsystem die Handlungskontingenz der Figuren bestimmt und die Handlungserwartungen von Rezipienten. Der Beitrag NICOLE ÜTTE beschreibt die Verweigerung eines stabilen und für die handelnde Figur transparenten Normensystems: Die Oszillation von Fremdheitserfahrung als Fehltritte und Selbstverständlichkeit als Vertrautem, die im Rappaltsfeiner Parzifal beobachtet wird, steht in struktureller Analogie zum Tabu und wird erkennbar als Symptom der Beobachtung von Komplexität von Welt und Text. Am Beispiel einiger Märchen der Sammlung der Brüder Grimm zeigt der Beitrag von UTA MIERSCH wie der Bruch eines Tabus als Auslöser narrativer Verstrickungen funktioniert. Das problematische Verhältnis von offenen Verboten und diskreten Tabus wird anband gescheiterter Konstellationen des wechselseitigen Absicherns sichtbar. Das Aushandeln problematischer Bestimmungen zwischen Intimem, Privatem und Öffentlichem gerät als Krise in den Blick: Am Märchenmotiv des verbotenen Zimmers lässt sich zeigen, wie tabuisierte Räume des Privaten durch Handlungsverbote gegenüber Nahen und Nächsten geschützt werden sollen. Das durch die Negationsmarkierungen gerade Interessante fuhrt zu Verbotsübertretungen, deren fur die Aufrechterhaltung des Tabus notwendige Ahndungen das Tabu wiederum intensivieren.

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Einleitung

In die Rolle eines Tabubrechers gerät lther, der Rote Ritter, durch eine Ungeschicklichkeit gegen die Königin und so an die prekären Ränder der arturischen Kulturgemeinschaft, um dann aus ihr ausgeschlossen zu werden. Am Tabu vom Schoß der Königin und seinen metonymischen Verwicklungen zeigt der Beitrag PHILLIP GILLERs, wie der mittelalterliche Text um Parzival die Regeln des eigenen Erzählens reflektiert, und damit auch die Bedingungen der Identität von Gemeinschaften wie der des Artushofs. Insofern das arthurisehe Erzählen dabei in das Graviationsfeld des paradoxen Imperativs der Thematisierung/Dethematisierung gerät und sich daran abarbeitet, wird das Tabu zu einem ,Gesetz der Gattung'. Davon ausgehend, dass die Literatur der Romantik in einem Verhältnis zur zeitgenössischen Anstrengung um die Erkundung fremder Kulturen und damit der Faszination auch am Phänomen des Tabus steht, macht MARCO LEHMANNs Beitrag den Versuch, die Texte der Romantik als eine Art "Proto-Ethnologie des Eigenen" zu verstehen, die das Vertraute phantastisch verfremdet und so dessen Ritualcharakter konturiert. Dabei liefe11 Freuds epistemische Erzählung, die in Totem und Tabu entfaltet wird, den analytischen Hintergrund fiir eine Lektüre von Brentanos Rheinmärchen vom Hause Staarenberg, das als Nebeneffekt auch eine Illustration von Friedrich Kittlers These, der Antrieb romanti scher Poesie sei das Bestreben, unter Ausblendung der flir sie grundlegenden skripturalen Medialität den Ursprung der mütterlichen Stimme wiederzugewinnen. Der Beitrag von MATTHIAS DÄUMER wendet sich einer Tabu-Formation zu, die in paradoxer Überblendung von absolutem und relativem Tabu auf die Kontingenzsteuerung von Unmöglichkeiten zielt. Die aufwendigen Autorisierungsstrategien der Paulusapokalypse arbeiten sich daran ab: Um kulturelle Relevanz zu erlangen und diese zu sichern, muss der Text als Akt der Bezeugung das paulinische Tabu der Jenseitsbeschreibung brechen, um sich mit der selbst hergestellten Sakralisierung durch ein "Ersatz-Tabu" die Aufnahme in das religiöse Archiv zu ermöglichen. Vor allem aufgrund der tabuisierenden und tabubrechenden Aktionen des den Visionär leitenden Engels (Angelus lnterpres) stellt sich eine mediale Selbstreflexion ein, welche die Paulusapokalypse zwischen Glaubenstext und Fiktion wanken lässt. Wenn das Tabu prinzipiell der Sphäre offener gesellschaftlicher Aushandlung und rationaler Kritik entzogen ist, ist die Einpassung in öffentliche Kommunikationszusammenhänge rational kritischer Anlage problematisch. Spannungen, die bei einer solchen Einspeisung entstehen können, legt der Beitrag von CLAUDIUS GEISLER am Beispiel des Inzest-Tabus in der zeitgenössischen

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Matthias Emrich

deutschen Rechtsprechung frei. Die Begründung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - nicht zuletzt das enthaltene Sondervotum Winfried Hassemers - von 2008 zum strafrechtlichen Verbot des Geschwisterinzests lassen die argumentativen Herausforderungen erkennen, die die Transformation eines Tabus in ein modernes strafrechtliches Verbot bedeutet.

Literatur ASSMANN, JAN, Text und Kommentar, in: Text und Kommentar, hg. von dems., München 1995, S. 9-34. BAECKER, DIRK, Wozu Kultur? Berlin 32003. DERS., Kuklturkalkül, Berlin 2014. BASSLER, MORITZ, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005. ECKERMANN, JOHANN PETER, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritter Theil, Magdeburg 1848. FRAZER, JAMES GEORGE, Taboo, in: Encyclopaedia Britannica. A Dictionary of Arts, Sciences, and General Literature, Bd. 23, Edinburgh 9 1888, S. 15-18. FREUD, SIGMUND, Totem und Tabu. Eine Übereinstimmung im Seelenleben der Wilden undder Neurotiker, Wien 1913. FRIETSCH, UTE, Der Wille zum Tabu als Wille zum Wissen, in: Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht, hg. von ders. u.a., Bielefeld 2008, S. 9-16. Herders Conversations-Lexikon. Kurze aber deutliche Erklärung von allem Wissenswertben aus dem Gebiete der Religion, Philosophie, Geschichte, Geographie, Sprache, Literatur, Kunst, Natur- und Gewerbekunde, Handel der Fremdwörter und ihrer Aussprache, Freiburg im Breisgau 1854-1857 MARSCHALL, W., Tabu, [Art.] in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel/Darmstadt 1998, Sp. 877-879. PRZYREMBEL, ALEXANDRA, Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Modeme, Frankfurt a.M. 2011. STEINER, FRANZ BAERMANN, Taboo, Truth and Religion, Selected Writings, N ew Y ork/Oxford 1999.

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grüezen statt biligen Verbale Tabus im Minnesang MANDEL BRAUN

Die Rede des Minnesängers zielt auf Sexualität, sie sagt das aber nicht, sondern spricht stattdessen von etwas anderem, beispielsweise von dem Wunsch, die Dame möge ihn doch einmal grüßen. 1 Der Sang unterliegt also, um es gleich auf den Begriff zu bringen, einem Tabu- so könnte man eine der basalen Annahmen der Minnesangforschung formulieren, um die freilich kein großes Aufhebens gemacht wird (ihre Selbstverständlichkeit zeigt sich unter anderem im Fehlen einschlägiger Forschungsbeiträge). Aber warum sind die Mediävisten überhaupt so fest davon überzeugt, dass der Werbende eines Liedes, der vom grüezen singt, eigentlich auf das biligen abzielt? Anders und grundsätzlicher gefragt: Wie kann man eigentlich Tabus einer vergangeneu Kultur fassen? - eine Frage, die deswegen schwierig ist, wei I Tabus ja nicht ausdrücklich verhängt werden und sich Tabugrenzen ständig verschieben (wofür die Gegenwartskultur- von Feuchtgebiete bis zu Shades ofGrey- genug schlagende Beispiele bereithält). Im Folgenden werde ich die Fragestellung, wie man das sexuelle Tabu des Minnesangs plausibel machen und wie man es erklären kann, in vier Schritten bearbeiten: Der erste sucht aus der reichen interdisziplinären Literatur zum Thema Tabu diejenigen Ansätze herauszufiltern, die sich eignen, ein Verständnis des Gegenstands Sex ualtabus im Minnesang anzuleiten (1). In einem zweiten Schritt werden Belege für die wichtigsten derjenigen Wörter des klassischen Minnesangs zusammengetragen, von denen zu vermuten steht, dass es sich bei ihnen um Euphemismen handelt (11). Der dritte Schritt entwickelt Argumente Etwa HüBNER, 1999, S. 323, 326, 334; KROHN, 1988, S. 132, 135f.; MILNES, 1949, S. 3-6, 175-180. 19

Manuel Braun dafür, dass die fraglichen Wörter neben ihrer eigentlichen noch eine uneigentliche, und zwar eine sexuelle Bedeutung haben, dass es sich bei ihnen also tatsächlich um Euphemismen handelt (III). Der abschließende vierte Schritt stellt einige vorläufige Überlegungen dazu an, ob und wie sich das Sexualtabu des Minnesangs erklären lässt (IV). Dieses fasse ich, das ist zu betonen, als ein verbales Tabu auf, nicht als ein Verhaltens- beziehungsweise Handlungstabu, 2 d. h. ich mache keine Aussagen über Sexualität im Mittelalter, sondern beschäftige mich ausschließlich damit, wie Texte einer bestimmten Gattung zu einer bestimmten Zeit, nämlich Minnelieder des späten 12. und des frühen 13. Jahrhunderts, über Sexualität sprechen.

I. Die Geschichte des Begriffs Tabu3 illustriert, wie der Erfolg auch die Kinder der Wissenschaft frisst: Seine Dissemination in die Alltagssprache hat dazu geführt, dass er seine Konturen zu verlieren droht. 4 Er ist also wieder zu schärfen, und da es im Folgenden um verbale Tabus geht, beziehe ich mich dazu auf die Linguistik. Diese unterscheidet zunächst einmal Kommunikations- und Sprachtabus.5 Mit Kommunikationstabus meint sie verbotene oder zumindest stark regulierte Themen, mit Sprachtabus Wörter, die nur eingeschränkt oder gar nicht gebraucht werden dürfen und die so zu Tabuwörtern werden. 6 Weiterhin geht die Linguistik davon aus, dass alle Sprachen Tabus kennen, 7 und sie vermag die Themen anzugeben, die diesen besonders häufig unterliegen, nämlich solche aus dem Bereich "der menschlichen biologischen Existenz'', 8 also Geburt, Tod, Schwangerschaft, Krankheit, Behinderung, Menstruation, Ausscheidung und eben Sexualität. 9 Letztere wird noch heute zuerst genannt, wenn man Leute nach

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Diese Unterscheidung nach SCHRÖDER, 1995, S. 19, den Zusammenhang beider betont BALLE, 1990, S. 15. Skizziert bei BALLE, 1990, S. 17-21; MUSOLFF, 1987, S. lOf.; SCHRÖDER, 2003, S. 308f; ausfuhrlieh PRZYREMBEL, 2011 , S. 27-141. Anhand von Lexikonbeiträgen nachgezeichnet von SCHRÖDER, 1995, S. 17f V gl. SCHRÖDER, 2003, s. 310. Vgl. GüNTHER, 1992, s. 42f; KELLER, 1987, s. 2; SCHRÖDER, 2003, s. 3 10. V gl. BALLE, 1990, S. 28; SCHRÖDER, 1995, S. 22f. SCHRÖDER, 1995,8.22. Vgl. BALLE, 1990; DANNINGER, 1982, S. 241-243 .

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verbalen Tabus befragt, 10 und eine genauere Analyse des entsprechenden Wortschatzes zeigt zudem, welcher Aspekt des Themas dem Tabu in besonderer Weise unterliegt: der öffentliche "Ausdruck sexueller Begierde" . 11 Die Wissenschaft erklärt Tabus damit, dass die genmmten Phänomene Angst erregen und dass das Tabu diese Angst bannen soll; in einem späteren Stadium der kulturellen Entwicklung können auch Takt und Anstand sowie ideologische Einstellungen Tabus verursachen. 12 Sexuelles etwa unterliegt dann einem Anstandstabu, was nicht etwa heißt, dass über es gar nicht mehr gesprochen wird. 13 Vielmehr gehen mit Tabus stets Strategien einher, die es ermöglichen, sie zu umgehen. 14 Denn das Bezeichnungsbedürfnis verschwindet ja nicht, bloß weil man die Wörter verbannt, die es am unmittelbarsten erfullen. 15 So stehen dem tabuisierten Wort der Euphemismus und der Fachbegriff als Ausweichlösungen gegenüber, ohne dass diese genau dieselbe Bedeutung hätten. 16 Auch Vagheit ermöglicht es, über Tabuthemen zu sprechen. 17 Dazu werden Wörter verwendet, die neben solchen Bedeutungen, die einen festen und unstrittigen Kern bilden, noch weitere Bedeutungen haben, bei denen sich die Sprecher nicht sicher sind, ob sie sie ihnen zuschreiben sollen. Anders gesagt: Vagheit arbeitet mit Konnotationen.18 Eine weitere Strategie, das Unsagbare sagbar zu machen, stellen Agensbetonung und Agensaussparung dar; auch die Redewiedergabe und die Rollenspezifikation sind hier zu nennen. 19 Und es gibt Gattungen wie den Witz,

I 0 V gl. GüNTHER, 1992, S. I; H ELMBR ECHT, 199 1, S. 175; K ELLER, 1987, S. 7; SCHRÖDER, 1995, S. 26, 28. Gründe für das Fortbestehen von Sexualtabus in liberalen westlichen Gesellschaften sucht DANNI NGER, 1982, S. 241 f II KELLER, 1987, S. 9. 12 V gl. DIMOVA, 2009, S. 94, und SCHRÖDE~ 2003, S. 311, in Anlehnung an Stephen Ullmann. Bei den ideologisch bedingten Tabus handelt es sich um eine Ergänzung von dessen Modell, vgl. dazu ZöLLNER, 1997, S. 52f. 13 Das ist festzuhalten, weil sich diese Auffassung verschiedentlich in der Mediävistik tindet, etwa bei ZEYEN, 1996, S. 216f. (mit weiterer Literatur). Sie bemht auf einem Missverständnis, das seinen Ausgangspunkt im ,starken' Tabubegriff der Ethno logie haben mag, wohingegen die Linguistik mit einem verg leichsweise ,schw achen' arbeitet, der aufReguliemngen und deren Effekte abstellt. 14 Vgl. SCHRÖDER, 1995, S. 22. 15 Vgl. SCHRÖDER, 2003, S. 311. 16 Vgl. DIMOVA, 2009, S. 95; KELLER, 1987, S. 8f.; SCHRÖDER, 1995, S. 21. 17 Hierzu und zum Folgenden DIMOVA, 2009, S. 95; Günther, 1992, S. 4-26. 18 Das Konzept der Konnotation verwendet HELMBRECHT, 1991, um den Umgang mit Sexualtabus ling uistisch zu beschreiben. 19 Vgl. SCHRÖDER, 2003, S. 312.

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die die Tabuverletzung zu ihrem Proprium machen. 20 Schließlich bleibt noch der Rückzug auf die Metasprache: ,Darüber spricht man nicht' oder ,Darüber spricht man nur aufbestimmte Weise'. Die Wahl der jeweiligen Strategie hängt unter anderem davon ab, ob der Sprecher über ein Tabuthema sprechen will oder ob er über es sprechen muss. 21 ln jedem Fall fördern Tabus die Kreativität der Sprache. 22 Von den verschiedenen Möglichkeiten, aufverbale Tabus zu reagieren, bevorzugt der Minnesang eindeutig den Euphemismus. Dieser kann "als verhüllender sprachlicher Ausdruck mit mildernder und/oder beschönigender Wirkung verstanden" 23 werden. Aus Sicht der Rhetorik zählt der Euphemismus zu den Formen der uneigentlichen Rede, also zu den Tropen. Wie andere Tropen können auch Euphemismen konventionalisiert werden. Während einige Definitionen den Euphemismus der Periphrase, der Umschreibung, unterordnen, sehen andere in ihm einen Überbegriff flir alle die Tropen, die aus Tabugründen gebraucht werden. Damit wird aus dem Euphemismus ein Funktionsbegriff Als solcher betrachtet, übernimmt er neben der verhüllenden auch eine schmückende Funktion und gehört also zum ornatus bzw. zur amplificatio. Das gilt gerade für die obszöne Rede. Wenn man den Euphemismus von seiner Funktion her definiert, sind- und hier versuche ich die rhetorische Tradition zu präzisieren- Euphemismen im engeren und im weiteren Sinn zu unterscheiden. Im engeren Sinn - und nur in diesem verstehe ich den Begriff künftig - sind Euphemismen Wörter, die verwendet werden, um Tabuwörter zu vermeiden, ohne dass deswegen zu. diesen oder den von ihnen bezeichneten Sachverhalten eine irgendwie geartete Beziehung bestände. Zu denken ist hier an allgemeine, an vage oder an abstrakte Ausdrücke. Ihnen stehen mit den Euphemismen im weiteren Sinne die Metaphern und Metonymien gegenüber, die, wenn sie in euphemistischer Absicht gebraucht werden, eine Ähnlichkeits- oder Kontaktbeziehung zum Tabuwort eingehen.

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Vgl. DIMOVA, 2009, S. 94. Vgl. SCHRÖDER, 2003, s. 312. Vgl. BALLE, 1990, S. 27. ZöLLNER, 1997, S. 54. Das Folgende nach ebd., S. 94-108, 130-138, sowie nach DIETL, 1996.

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Schon die Rhetorik verweist auf die Pragmatik, doch ist diese auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil verbale Tabus nur in bestimmten sozio-kulturellen Kontexten gelten. 24 So entscheidet die Kommunikationssituation darüber mit, ob sie beachtet werden oder nicht. In dyadischen Situationen, in denen die Gesprächspartner das Risiko des Tabubruchs teilen, weil ihr Gespräch auf Reziprozität basiert, werden Tabus leichter verletzt als in Situationen mit mehreren Kommunikationsteilnehmern. 25 Zur sozio-kulturellen Seite der Sprachtabus gehört es, dass Euphemismen nur für bestimmte Rezipientengruppen überhaupt als solche erkennbar sein können. 26 Anders als Verbote, die immer ausgesprochen und oft auch begründet werden müssen, sind verbale Tabus in der Regel nicht explizit markiert, ja sie können, wenn das Tabu wirkt, auch gar nicht formuliert werden. 27 Vielmehr liegt ihnen ein Wissen zugrunde, das im sozialen Umgang -besonders dem von Kindern mit ihren Eltern - erworben und dann vom Einzelnen internalisiert wird. 28 Das macht es auch so schwierig, verbale Tabus ex post zu fassen. Manche Tabus treten in diachronen Schnitten hervor. So können Euphemismen "an die Stelle des Tabuworts" treten und "nicht-euphemistischen Charakter" annehmen, sie können überflüssig werden und aus der Sprache verschwinden, oder sie können selbst zu Tabuwörtern werden und müssen dann ihrerseits durch Euphemismen ersetzt werden. 29 Auf der synchronen Ebene kann man darauf achten, ob der Satz- oder der Äußerungskontext erkennen lässt, dass ein Wort euphemistisch gebraucht wird. 30 Trotzdem lässt sich der situative Kontext bei der Rekonstruktion von Tabus nur schwer ersetzen,31 und insofern ist durchaus damit zu 24 V gl. BALLE, 1990, S. 41 ; KUHN, 1987' S. 31 ; SCHRÖDER, 2003, S. 3 12; ZöLLNER, 1997, S. 108-114. 25 V gl. BALLE, 1990, S. 31 f 26 Vgl. ebd., S. 145. 27 Vgl. DIMOVA, 2009, S. 93; GüNTHER, 1992, S. 40f.; KELLER, 1987, S. 2f; KUHN, 1987, S. 24-26; SCHRÖDER, 2003, S. 3 I 0. Dass das Vermeiden , vulgären' Sprechens in der höfischen Dichtung thematisiert wird, ist für HüBNER, 1999, S. 342f. dementsprechend auch ein Argument gegen die Verwendung des Tabubegriffs. Ich kenne allerdings keine derartigen Aussagen aus dem deutschen Minnesang. Dass Tabus in anderen Diskursen rationalisiert werden, ist hingegen ein bekanntes Phänomen, und so würde ich auch die von Hübner erwähnten Äußerungen der Kleriker einordnen. 28 Vgl. KUHN, 1987, S. 29f; SCHRÖDER, 2003, S. 307f, 310. 29 Vgl. ZöLLNER, 1997, S. 54f, das ZitatS. 54; genauer zum Zusammenhang von Euphemismus und Bedeutungswandel ebd., S. 121-124. 30 Vgl. ebd., S. 112. 31 V gl. entsprechend ZEYEN, 1996, S. 220-222, zur Problematik des Verstehens erotischer Metaphern ohne V Ortragskontext

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rechnen, dass dem Verständnis von Euphemismen in historisch fernen Texten Grenzen gesteckt sind.

II. Dennoch möchte ich es unternehmen, den Minnesang auf verbale Tabus hin zu untersuchen. Dass man der Interpretation auch dann nicht entkommt, wenn man sich an vermeintlich exaktere Wissenschaften wie die Linguistik anlehnt, ist ja eine Erfahrung, die hermeneutische Disziplinen regelmäßig machen. Die Untersuchung setzt im Zentrum der Gattung an, also bei den Werbeliedern des ldassischen Minnesangs; ausgewertet sind die Korpora Friedrichs von Hausen, Heinrichs von Veldeke, Ulrichs von Gutenburg, Rudolfs von Fenis, Albrechts von Johansdorf, Heinrichs von Rugge, Semgers von Horheim, Hartwigs von Rute, Bliggers von Steinach, Heinrichs von Morungen, Engelharts von Adelnburg, Reinmars des Alten, Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach.32 In ihren Liedern spricht ein männliches Ich über die minne33 zu einer Frau. Bislang ist seiner Werbungjeder Erfolg versagt geblieben, durch die Fortsetzung des Dienstes aber hofft es, sie doch noch umzustimmen und von ihr im Gegenzug auch etwas zu erhalten- was, das ist der Gegenstand der folgenden Ausführungen. Es sind nur wenige Wörter- das entspricht der lexikalischen Armut des Minnesangs-, die das Ziel des Mannes ausdrücken, nämlich geniezen, gnade, gruoz,

32 Zitiert wird Des Minnesangs Frühling, 1988, der Nachweis erfolgt im Text durch Sigle und Stellenangabe. 33 Dass auch minne bzw. minnen Euphemismen sein können, zeigt MI LNES, 1949, S. 73-78. Ich berücksichtige sie nicht, weil der klassische Minnesang sie programmatisch anders besetzt, nämlich als hohe minne, und weil meine Untersuchung zunächst ja von dieser Voraussetzung ausgeht. Diese Umbesetzung übersieht W ILLMS, 1990, S. 163-176, wenn sie aus Belegen aus der Epik folgert, dass minne/minnen auch in der Lyrik schlicht sexuelle Bedeutung haben.

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l6n, tr6st? 4 Ich bleibe bei der alphabetischen Reihenfolge und beginne die Sichtung ausgewählter Belege 35 mit dem Verb geniezen: des so/ si mich geniezen !an (MF 44,21). Im Mittelhochdeutschen heißt geniezen ,Nutzen/Vorteil haben von', ,Dank/Lolm erhalten für', ,sich erfreuen (an)', ,genießen', ,erreichen', in der Wendung geniezen lazen ,zugutekommen lassen', ,profitieren von ' .36 Wenn der Sänger also die Dame auffordert, ihn etwas geniezen zu lassen, strebt er nach einem ,Nutzen', einem ,Lohn' oder einem ,Genuss'. Worin dieser bestehen könnte, bleibt offen. 37 Dafür wird geniezendurch Objekte näher bestimmt: daz ich genieze ir güete (MF 53,2) oderunde daz ich mfnes sanges iht genieze (MF 81,1 ). Das erste Beispiel bezieht den ,Genuss' auf die güete der Dame und damit auf eine Qualität, die neben einem moralischen Kern auch Bedeutungen wie ,Freundlichkeit' und ,Gunst' aufruft; das zweite führt ihn auf den sanc des Mannes zurück, womit dieser eine Gegengabe von seinem weiblichen Gegenüber einfordert. Auch das Substantiv gnade ist Teil von Formulierungen, mit denen der Mann etwas von der Frau erbittet: gnade, vrowe, mir (MF 58,20) oder Ist, daz diu schoene ir genade an mir tuot, I so ist mir gelungen noch baz danne wol (MF 83,7f.). Das Bedeutungsspektrum von mittelhochdeutsch gnade ist weit. Es reicht von christlich geprägten Gehalten wie ,Gnade', , Segen', , Erbarmen' und ,Barmherzigkeit' bis hin zu feudalen wie ,Huld' und ,Gunst' . Weitere Bedeutungen sind ,Neigung zu etwas', ,Erhörung' und ,Zuneigung' sowie ,Glück' und ,Hilfe'. Sie alle schwingen im Gebrauch des Minnesangs mit, der die Dame als summum bonum preist, sie in die Position der Feudalherrin versetzt und von ihr ,Erbarmen', ,Gunst', ,Zuneigung' und ,Glück' erhofft. Das zweite Beispiel entwirft auch die Folgen der gnade, indem sie sie in ein Konditionalgefüge einbindet: Wenn sich die Dame gnädig erweist, hat der Sprecher flir sich alles Wünschenswerte erreicht. Die gnade wirkt also auf ihn zurück, was impliziert, dass 34 Zweifelsohne verwendet der Millliesang noch weitere Wörter euphemistisch (vgl. dazu die Studie von MILNES, 1949), doch kommen sie zum Teil deutlich seltener vor als die von mir ausgewählten (zum Beispiel gelingen), zum Teil ist bei ihnen weniger deutlich, dass es sich um Euphemismen handelt (zum Beispiel vröide). Meine Auswahl ist also auf den Kernbestand der Euphemismen des Minnesangs gerichtet, nicht auf die (breiten) Randzonen. 35 Zugang zu weiteren Fundstellen eröffnet das Register bei EHLERT, 1980, S. 265f. (geno.de), 268 (gruoz), 274f. (,Lohn ' ), 283 (tr6st). 36 Diese und die folgenden Bedeutungsangaben stützen sich auf BENECKE u. a., 18541866; HENNIG, 1998; LEX ER, 1872-1878. Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf Einzelnachweise verzichtet. 37 Vgl. MILNES, 1949, S. 49.

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sie zu einer Handlung fuhrt- oder sogar selbst eine ist, da sie ja getan wird. Als Synonym zu gnade hat das seltener gebrauchte hulde zu gelten, wie sich in den Strophen MF 43,28 und 63,9 zeigt, die beide Wörter verwenden, um jeweils eine verwandte Aussage zu formulieren. Was den gruoz angeht, so wird vor allem beklagt, dass die Frau ihn verweigert: Wafena, waz habe ich getan so ze uneren, I daz mir diu guote ir gruozes niht engunde? (MF 53,7f.) Das Versagen des Grußes ist nicht nur Anlass zur Klage (Wafena), sondern führt auch dazu, dass der Sprecher nach einem möglichen Ehrverlust forscht. Selbst wenn man die Frage für eine rhetorische hält, ist zu notieren, dass ein ausbleibender Gruß radikale Selbstzweifel auslöst. Auch Heinrich von Morungen wartet auf den gruoz der Umworbenen : Ich sihe wo!, daz m/n vrouwe mir ist vif gehaz. doch versuoche ichz baz, in verdiene ir werden gruoz. (MF 124,20-23)

Zunächst einmal ist der Gruß ein Zeichen dafur, dass die Dame den Sänger überhaupt zur Kenntnis nimmt. Des Weiteren würdeer-und das macht ihn so wertvoll- für eine positive Haltung stehen, die sie ihm gegenüber einnimmt. Mittelhochdeutsch gruoz meint neben ,Gruß' nämlich auch das, wofür er steht: ,Zuneigung', ,Wohlwollen', ,Huld', ,Freundschaft'. Genauso heftig wie nach dem gruoz verlangt es den Sänger nach dem lon: dar ich han gedienet, da ist min Ion vif kranc (MF 89, 12). Der ,Lohn' bzw. die ,Belohnung', die die Dame gewähren soll, sind also unmittelbar auf den Dienst des Sängers bezogen. Das entspricht dem feudalen Dienstmodell einer wechselseitigen Verpflichtung von Lehensherr und Lehensmann. Während dort festgelegt ist, was als Lohn zu gelten hat - nämlich das Lehen - , lässt der Minnesang diese Frage in der Schwebe. 38 Diese Unbestimmtheit teilt er mit dem trost, der ebenfalls dringend eingefordert wird: uf ir tr6st ich wflent sanc, I si hat mich missetroestet, des ist lanc (MF 66,30f.). Wie wichtig der trost ist, zeigt sich nicht zuletzt an den schrecklichen Folgen seines Ausbleibens: Ir stüende baz, daz si mich troste, I danneich durch si gelige tot. (MF 66,32f.) Für mittelhochdeutsch trost verzeichnen die

38 Umstandslos vereindeutigt wird der Sinn von Ion dagegen bei 180f., die damit die Pointe minnesängerischer Rede verpasst.

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1990, S.

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Wörterbücher wieder ein breites Spektrum an Bedeutungen, von denen die folgenden hier relevant sind: neben , Trost' auch , Schutz', ,Rettung', ,Heil' , ,Zuversicht', ,Freude', ,Glück' sowie ,Liebe'. Ähnlich sieht es beim Verb troesten aus: ,trösten (mit)', ,retten', ,helfen', ,erfreuen' und ,erhören' . Auch hier wird man sich nicht auf eine Bedeutung festlegen , doch führe.n die jeweils letztgenannten- ,Liebe' und ,erhören'- ins Zentrum des Minnesangs als Liebesdichtung.39 Sie sind freilich auch schon mit Blick auf ihn eruiert, womit ein Problem auftaucht, das ich bislang ausgeblendet habe: das der Bedeutungserhebung durch die Wörterbücher. Dennjene Angaben, die besonders aufden Minnesang zugeschnitten sind, finden sich ausnahmslos im Kleinen Mittelhochdeutschen Wörterbuch, während sich das BMZ und der Lexer auf die basalen Bedeutungen beschränken. 40 Beide lexikographischen Konzepte haben ihre Vor- und Nachteile, hier kommt es auf den Effekt an, den sie produzieren: Die Euphemismen des Mirmesangs erscheinen umso weniger als Euphemismen, je mehr man ihre Bedeutung im Blick auf den Mirmesang hin spezifiziert. Das heißt freilich nicht, dass sie nicht mehr als solche anzusprechen wären.

111. Dafür, dass geniezen, gnade, gruoz, l6n und tr6st im Kontext des Minnesangs Euphemismen darstellen, die für die sexuelle Hingabe der Dame einstehen, möchte ich sieben Argumente vortragen. Das erste besteht darin, dass die fünf fraglichen Wörter sämtlich unbestimmt und damit auf eine Erläuterung hin angelegt sind. So legt geniezenFragen wie die nahe, welchen ,Nutzen ' der Mann aus der Frau zieht oder welchen ,Dank' sie ihm abstattet. Mit gnade (bzw. huld) ist eine Haltung gemeint, die auf eine Handlung hinführt - besonders deutlich wird das in Fügungen mit Verben wie geschehen (MF 116,21) oder began (MF 196,38) - ,womit sich die Frage stellt, worin diese wohl bestehen könnte. Ebenso handelt es sich bei l6n und tr6st um Platzhalter für ein aktives Tun der Dame: das Belohnen und das Trösten. Deutlich wird das, wenn der Sänger die Dame auffordert: Vröwe mit rede daz herze mfn, I troeste mir den lip (MF 190,36f.). 39 Zu diesen Bedeutungen auch MILN ES, 1949, S. 112-114. 40 Ebd., S. 6-8, legt die Vermutung nahe, dass diese Beschränkung auch auf die Verklemmtheit des viktorianischen Zeitalters zurückgeht, in dem diese erarbeitet worden sind.

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Die Rede zielt auf das Herz, der Trost auf den Körper. Auf den ersten Blick scheint der gruoz aus diesem Rahmen zu fallen, weil er als Geste bereits Handlung ist. Als solche hat er aber zeichenhaften Charakter, er steht für ein entgegenkommendes, freundschaftliches Verhalten, das seinerseits zu füllen ist. Die fraglichen Wörter sind also alle vage, und Vagheit ist wiederum ein Mittel, um über Tabuthemen sprechen zu können. Das zweite Argument erwächst aus den unmittelbaren Kontexten, die an den Tag bringen, was die Euphemismen eigentlich bedeuten. 41 So lädt Reinmar den gruoz erotisch auf, wenn er sagt: vernaem ich ir gruoz, I als ich ir nahen laege (MF 156,5f. nach E). Zumindest im Irrealis des Wunsches werden Gruß und Sex hier unmittelbar eng geführt. Aufähnliche Art verknüpft Heinrichs von Veldeke Konditional Lonet mirs diu guote, I wir zwei betriegen unser huote! (MF 68,4f.) Lohn und Liebe: Wenn die Frau den Mann belohnt, bedeutet das, dass beide gemeinsam die huote und damit jene Instanz täuschen, die in der Welt des Minnesangs jedes unschickliche Zusammensein der Geschlechter unterbinden will. Auch in dem Wunsch, daz sf [ ... ] sanfte lone (MF 77,5), schiebt das Adverb sanfte den Sinn des Verbs Zonen in Richtung Sexualität, indem es eine körperlich-taktile Komponente einbringt. 42 Und wenn ein Trost als wunneclicher (MF 125,31) apostrophiert wird, legen Bedeutungen des Adjektivs wie , beglückend' und ,erquickend' ebenfalls eine sexuelle Auffassung nahe, zumal wunne ja auch ,Lust' meinen kann. Der folgende Satz kodiert den trost in doppelter Weise erotisch: Ich gelebte noch den lieben abent gerne, I daz si sich her nider mir ze froste walte !an (MF 135,3f.). Zum einen wünscht das Ich nicht den Tag herbei, an dem ihm Gutes widerfährt, sondern den Abend. Indem die Redewendung umbesetzt wird, tritt jene Tageszeit hervor, zu der auch nach mittelalterlicher Vorstellung erotische Aktivitäten üblicherweise statthaben. 43 Zum anderen bewegt sich die Dame zum Sänger herab, um ihn zu trösten, was impliziert, dass dieser (im Bett) liegt. Drittens stehen neben den Euphemismen im engeren Sinn uneigentliche Ausdrücke- überwiegend handelt es sich bei ihnen um Metaphern-, die in verhüllender Weise verwendet werden und ebenfalls erotische Bedeutung besitzen

41 Vgl. ZEYEN, 1996, S. 131. 42 Weitere Kontexte, die die sexuelle Bedeutung von Ion offenlegen, sammelt MILNES, 1949, S. 82-84. 43 Vgl. ZEYEN, 1996, S. 138.

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wie das Blumenbrechen und der Blumenkranz.44 Der späte Minnesang erweitert dieses Repertoire bedeutend, 45 aber schon im klassischen können solche Bilder den Kontext erotisch aufladen. Denn bei den genannten Metaphern dürfte für keinen mittelalterlichen Rezipienten zweifelhaft gewesen sein, was sie ausdrücken. Traditionen des Bildgebrauchs und kulturelles Wissen, etwa über Hochzeitsbräuche, sichern ihr Verständnis auch dort, wo die Beziehung der Ähnlichkeit brüchig ist. Wenn der Kontext auf diese Weise ein sexueller ist, wird das auch das Verständnis der in ihm enthaltenen Euphemismen in diese Richtung lenken. Noch direkter tun das- viertens- jene versprengten Aussagen der Werbelieder, die Sexuelles direkt benennen. 46 So heißt es bei Albrecht von Johansdorf: Undsold ich iemer daz geleben, daz ich si umbevienge, so müese mfn herze in vröiden sweben. (MF 92,28-30)

Nur im Optativ, als Zukunftshoffnung, äußert der Sprecher den Wunsch nach einer Umarmung. Entsprechend überhöht er diese zum Ziel seines Lebens und zum Gipfel seines Glücks. Die Berührung stellt also den Endzweck der Werbung dar. Außerdem handelt es sich bei der Umarmung ihrerseits um einen Euphemismus, denn Umarmungen sind in verschiedenen Intensitätsgraden denkbar. 47 Das führt Hartwig von Rute vor, wenn er seinerseits eine Umarmung ausphantasiert: Als ich sihe daz beste wfp, wie kume ich daz verbir, daz ich niht umbevähe irreinen lfp und twinge si ze mir. (MF 117,26-29)

Der Sänger möchte die Frau umarmen und unterdrückt diesen Impuls nur schwer. Dass die Umarmung gegen den Willen der Dame e1folgte und also auf eine Vergewaltigung hinausliefe, zeigt die Fortsetzung des Satzes mit und twinge si ze mir.

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Vgl. ebd., S. 31-48; vgl. auch MILN ES, 1949, S. 133-139. Vgl. dazu ZEYEN, 1996, S. 49-168. Vgl. HüBNER, 1999, S. 328. Vgl. FRIISCH, 1976, S. 58; MILNES, 1949, S. 65-69; ZEYEN, 1996, S. 169f.

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Morungen wie Reinmar verwenden schließlich auch das Tabuwort biligen. Dass es sich um ein solches handelt, erhellt nicht zuletzt daraus, dass der Beischlaf bei ihnen nie als Faktum vorkommt, sondern nur als Mangel oder als Wunsch erscheint. 48 Reinmar erklärt zweideutig, wenn die Dame ihm Treue erweise, gehe es ihm so gut wie demjenigen, der bi vrouwen ist gelegen (MF 152,24a). An anderer Stellte bietet er ihr frech ein Beilager auf Probe an (MF 167,8), bei Nichtgefallen- ironischerweise als Verlust der hulde (MF 167,11) umschrieben- werde er einfach den Mantel des Schweigens über das Geschehene breiten. Demgegenüber äußert sich Morungen deutlich defensiver: Tch han sorgen vil gepflegen und den vrouwen selten bi gelegen,

owe, wan daz ich si gerne an sach und in ie daz beste sprach. mir entwarf ir nie niht me. (MF 128,29-34)

Der Sprecher verknüpft seine sorgen hier unmittelbar mit dem Fehlen des Beischlafs und spricht so mit seltener Deutlichkeit aus, dass das Leid des Werbenden im hohen Sang aus sexueller Frustration resultiert. Die im selben Lied vorkommenden konventionellen Minnesangwörter wie genade (MF 128,4; 129,7), geniezen (MF 129,2) und hulde (MF 129,5) werden so als Euphemismen entblößt. Ursprünglich mag biligen auch einen dargestellt haben; um 1200 ist es aber derart konventionalisiert, dass es als solcher kaum mehr wahrgenommen worden sein dürfte.49 Im Minnesang gibt es also eine Stufung von Euphemismen. Euphemismen ersten Grades wären solche, bei denen die sexuelle Bedeutung nicht (mehr) infrage steht. 50 Euphemismen zweiten Grades wären Wörter wie geniezen, gnade, gruoz, l6n und tr6st, die nur deshalb als Euphemismen

48 Mit Blick auf Reinmar FRITSCH, 1976, S. 66: "nur als Andeutung des Möglichen". 49 V gl. auch die Einschätzung als lexikalisierte Metapher bei ZEYEN, 1996, S. 169, weitere BelegeS. 171f Vorsichtiger ist MILNES, 1949, S. 54-62, der aber zeigt, dass es schon im Hochmittelalter durchaus eindeutige Verwendungsweisen des Wortes biligen gibt, und darauf hinweist, dass sich seine Bedeutung im Spätmittelalter völlig auf diese verengt. Strittig ist demnach nur, wann diese Vereindeutigung gerrau anzusetzen ist. 50 Zu diesen vgl. ZEYEN, 1996, S. 169-179.

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erkannt werden, weil das Thema Sexualitätmomenthaft am Horizont des hohen Sangs auftaucht. Diesen Horizont bilden- fünftes Argument- auch jene Gattungen, die an der Peripherie des Minnesangs angesiedelt sind. Denn das Werbelied ist zwar das wichtigste, aber nicht das einzige Genre des Minnesangs, und die übrigen Gattungen verfugen über größere Lizenzen in Sachen Sexualität. 51 Unmittelbar auf die männliche Werberede beziehen sich die Frauenstrophen und Frauenlieder und führen vor, was die Frau ,eigentlich' denkt. 5 2 Bei Heinrich von Veldeke hält sie den Mann für unverschämt: Wie mohte ich dat vür guot entstiin, dat he mich darpellehe baete, dat he muoste al umbeviin? (MF 57,30-32 nach A)

Das unziemliche Ansinnen, das die Dame mit ihrer rhetorisch gemeinten Frage missbilligt, besteht in einer Umarmung. Damit tritt erneut der Körperkontakt als Inhalt der Werbung hervor. Zugleich zeigt sich aber, wie wichtig Tabus fur das Sprachspiel ,Minnesang' sind. Wer sie verletzt, macht sich zum doerper. Ähnlich und doch anders verhält es sich in Friedrichs von Hausen Frauenlied Wo! ir, si ist ein saelic wfp (MF 54,1) in der Handschrift F. In der zweiten Strophe stellt die Sprecherin ihre Situation als unauflösliches Dilemma dar: Owe, tuo ich, des er gert, da von mac ich gewinnen feit und ungemach. liiz aber ich in ungewert, daz ist ein Ion, der guoten mannen nie geschach, Mich riuwet erst nu, daz ich in und er mich ie gesach. (MF 54, 19-23)

Wenn die Frau dem Mann nachgibt, gerät sie in ernste Schwierigkeiten. Wenn sie es nicht tut, enthält sie ihm den verdienten Lohn vor. Unschwer lässt sich hinter diesen Formulierungen erkennen, was der Mann einfordert und was die Frau nur schwer geben kann: ihre Hingabe. Denn gern heißt eben nicht nur, ver-

51 Vgl.l(ROHN, 1988, S. 138f. 52 Die einschlägigen Stellen trägt zusammen WILLMS, 1990, S. 178-180, um aus ihnen (zu) unmittelbar auf den sexuellen Gehalt des Minnesangs insgesamt zu schließen.

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langen', ,wünschen' , ,wollen', sondern auch ,begehren', und das Reimwort ungewert geht auf gewern zurück, das neben ,zufriedenstellen' und ,belohnen' auch ,erhören' bedeutet. 53 Und die schlimmen Konsequenzen ftlr die Frau lassen sich näher bestimmen, wenn man sie auf die erste Strophe mit ihrer Klage über die tftsent ougen (M F 54,8) bezieht, die jedes Treffen der Liebenden beobachten. Noch deutlicher wird das Gemeinte, wenn man den Schluss der fünften Strophe berücksichtigt: des ist gewert, wes sin herze von mir begert, und solt ez kosten mir den lfp. (MF 55,3-5)

Wieder zwingt der Reim die Gewährung durch die Frau und das Begehren des Mannes zusammen, und wieder sieht sich die Frau bedroht, dieses Mal sogar mit dem Tod. Das legt es nahe, einen sexuellen Normbruch als Ursache anzunehmen. Dazu passt es, dass die Sprecherirr in der dritten Strophe auf ein Rendezvous zurückblickt: Er solgedenken an die stat mit vreuden alle tage,

da ich in rehter liebe gar in umbevienc, unde er mich wider. da lac alle sorge nider, unser wille d6 volgienc. (MF 54, 14-18)

Die Umarmung, die in ,wahrer Liebe' geschehen und die eine wechselseitige gewesen ist, hat seinerzeit das Leid der Liebenden beendet. Sie hat das auch deswegen getan, weil sie den willen beider Partner erfüllt hat, was sie als eine sexuelle ausweist. Der Beginn der vierten Strophe schließt unmittelbar hieran an, wenn die Frau erklärt: Ich wil tuon den willen sin, I und waer ez al den vriunden feit, die ich ie gewan (MF 54,28f.). Sie möchte also den sexuellen Wünschen des Mannes erneut entsprechen und sich dabei über den Widerstand ihrer Umwelt hinwegsetzen. Friedrichs von Hausen Frauenlied ist für die Frage nach den Euphemismen im Minnesang besonders aufschlussreich, und zwar in zweifacher Hinsicht: einerseits, indem sich die Frau klar zu einer sexuellen Beziehung mit dem Mann bekennt und damit demonstriert, was das eigentliche Ziel von dessen Werbung 53 Zur erotischen Konnotation von gern und gewern vgl. ZEYEN, 1996, S. 137.

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ist; andererseits, indem es Euphemismen ersten Grades wie umbevangen oder den willen tuon neben solche zweiten Grades wie Ion (MF 54,22) und geniezen (MF 54,37) stellt und auf diese Weise verdeutlicht, wie letztere für erstere eintreten. Egal, ob die Frau die Werbung des Mannes annimmt oder ob sie sie abweist: Sie macht deren sexuellen Gehalt bewusst. 54 Das tut auch die wichtigste erzählende Gattung des Minnesangs, das Tagelied. Es stellt die Liebenden in eine Situation, in der sie nicht nur auf eine Liebesnacht zurückblicken, sondern- jedenfalls ist das bei Wolfram von Eschenbach so - das Liebesspiel nochmals wiederholen: sus kunden si d6 vlehten I ir munde, ir bruste, ir arme, ir blankiu bein. (MF 3,27f.) Die Umarmung, die sonst nur als Ziel benannt wird, wird hier in körperlich-konkreten Details entworfen. Auch andere Tagelieder Wolframs erwähnen, mal mehr, mal weniger verhüllend, die Vereinigung, die die Liebenden vollziehen, bevor sie sich trennen. 55 Was im Werbe-, aber auch im Frauenlied nur als Wunsch für die Zukunft geäußert werden kann, erzählt das Tagelied als bereits stattgehabt und als statthabend. 56 Damit werden aber auch die Euphemismen, die sich in Tageliedern finden, erotisch aufgeladen. 57 Sechstens enthüllt auch eine Bewegung auf der Zeitachse, also zurück zum frühen und vor zum späten Minnesang, die Euphemismen als Euphemismen. So besetzt der frühe Minnesang die Systemstelle ,Sexualität' noch mit Euphemismen ersten Grades und bestätigt damit deren Existenz. 58 Eine im Niune-Korpus überlieferte, formal aber auf die Frühzeit der Gattung verweisende Frauenstrophe (MF 6,5) hebt mit einer Reflexion darüber an, dass der Dienst des Mannes zu belohnen sei. Dieser Euphemismus zweiten Grades wird im Fortgang aber durch zwei Euphemismen ersten Grades expliziert. Die Sprecherirr fahrt nämlich fort, indem sie ihre Freude am umbevangen (MF 6, 11) ausdrückt und dann versichert: und waerz al der weite Zeit, I s6 muoz sin wille an mir ergan. (MF 6, 12f.) Beim Kaiser Heinrich ist es hingegen die männliche Stimme, die wie selbstverständlich das Beilager erwähnt (MF 4,20; 5,8). Ebenfalls dem Mann legt Meinloh den Preis einer Frau in den Mund, die ihm das eigentliche Glück freilich noch versagt: daz ich ie mit ir geredete oder nahe bi si gelegen (MF 15,4). Der

54 55 56 57 58

V gl. dazu auch die weiteren eindeutigen Stellen bei LEA, 1967, S. 262-266, 269-271. Zusammengestellt ist das Material bei ZEYEN, 1996, S. 178f. Dazu etwa MERTENS, 1983. Beispiele bei ZEYEN, 1996, S. 133f. V gl. FRIISCH, 1976, S. 65.

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Langvers stellt, ausgewogen verteilt auf An- und Abvers, Gespräch und Beischlaf nebeneinander; offenbar gelten ihm beide als gleichermaßen legitime Ziele der Werbung. Am Schluss derselben Strophe wird die Frau dann noch als tr6st (l'YIF 36,32) apostrophiert, sodass auch hier Euphemismen ersten und zweiten Grades kombiniert sind. Insgesamt erscheint Sexualität im frühen Minnesang noch als selbstverständlicher Bestandteil der Minnebindung. Zwar kann der späte Minnesang zu dieser Position nicht zurück- Unschuld ist unwiederbringlich-, doch findet er einen spielerischen Umgang mit dem sexuellen Kommunikationstabu. Zu denken ist etwa an Walthers von der Vogelweide Lindenlied, in dem die Sprecherin in verhüllend-enthüllender Weise von einem Schäferstündchen berichtet, 59 oder an einige Lieder Ulrichs von Liechtenstein, die das verbale Tabu lockern, indem sie sich verstärkt des Optativs bedienen und also die sexuelle Vereinigung imaginieren oder in konstativer Sprache phantasieren. 60 Vor allem aber sind es Neidhart und seine Nachfolger, die die Folie der hohen Minne zwar aufrufen, ihre Lieder aber mit eindeutigen Zweideutigkeiten durchsetzen und so deren euphemistischen Charakter freilegen. 61 Das siebte und letzte Argument setzt auf einer übergeordneten Ebene, bei der Struktur der Liebessprache, an. Unstrittig handelt es sich beim Minnesang um Liebeslyrik, und ebenso unstrittig ist er Werberede. Wenn ein Mann aber um die Liebe einer Frau wirbt, dann kommuniziert er immer auch, dass er mit ihr schlafen möchte. Der Liebescode unterscheidet sich nämlich, das hat Niklas Luhmann herausgearbeitet, dadurch von anderen Mustern der Vergesellschaftung, etwa dem der Freundschaft, dass er auf dem symbiotischen Mechanismus der Sexualität aufbaut. 62 Wie eng Liebe und Sexualität aneinander gekoppelt sind, zeigt sich, um nur ein Beispiel aus der mittelalterlichen Literatur anzuführen, an der Mystik. Die Liebesgemeinschaft von Seele und Gott kann - so irritierend das ist - nur als sexuelle Vereinigung versprachlicht werden, und die mystischen Texte müssen dann einen erheblichen Aufwand treiben, um klarzustellen, dass das nur metaphorisch gemeint ist. Einen solchen Aufwand betreibt der Minnesang gerade nicht. Vielmehr beschränkt er sich darauf, die sexuelle 59 V gl. EHRISMANN, 1987, S. 49f. 60 V gl. dazu genauer HÜBNER, 1999, S. 325-333. 61 Die einschlägige Forschung stellt zusammen ZEYEN, 1996, S. 14f., der, passim, immer wieder auf Lieder Neidhartsund der Neidhart-Traditioneingeht und sie aufihre erotischen Metaphern hin auswertet und der damit deren überragende Bedeutung für das Thema Erotik im späten Minnesang illustriert. Umfassend untersucht werden diese auch bei fRrrsCH, 1976. 62 Vgl. LUHMANN, 1984, S. 31-34.

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Seite der Liebe zu verhüllen. Die entsprechenden Euphemismen als solche zu begreifen, liegt aber nahe, weil zwischen Liebe und Sexualität ein Verweisungsverhältnis besteht, das immer dann greift, wenn es nicht geblockt wird. Keines dieser Argumente könnte für sich bestehen, zusammengenommen legen sie aber den Schluss nahe, dass die Wörter geniezen, gnade, gruoz, l6n und tr6st im Minnesang Euphemismen darstellen und also erotisch konnotiert sein können. Die Voraussetzung für diese Deutung liegt im Strukturmerkmal der Vagheit, durch das die genannten Wörter auf Ergänzungen angelegt erscheinen. Welcher Art diese Ergänzungen sind, darüber entscheidet der jeweilige Kontext. Wenn dieser nun Wörter enthält, deren wörtliche oder übe1tragene Bedeutung eine sexuelle ist, wird diese auf die Euphemismen abfärben. Dabei gibt es engere und weitere Kontexte: zuerst das Satzgefüge, sodann die Strophe, das Lied und das ffiuvre, schließlich das System Minnesang, welches das euphemistische Werbelied mit den sehr viel expliziteren Gattungen des Frauen- und des Tageliedes konfrontiert. Vermittelter sind jene Argumente, die die Geschichte des Minnesangs und die Struktur der Liebessprache liefern. Ersteres besteht darin, dass die Systemstelle, die im klassischen Minnesang die Euphemi smen einnehmen, im frühen und späten Minnesang durch explizitere Formulierungen besetzt wird. Letzteres begründet die Existenz dieser Systemstelle Sexualität damit, dass das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Liebe den symbiotischen Mechanismus Sexualität mitlaufen lässt. Eine erotische Aufladung der fraglichen Wörter erscheint demnach möglich, keinesfalls ist sie aber- das wäre ein Missverständnis - für jedes Lied und ftir jede Rezeption zwingend. Die Lieder sind auf Mehrdeutigkeit angelegt, 63 und der Begriff des Euphemismus bildet genau diese Faktur ab, da er einen Zustand der Latenz ausdrückt, bei dem ein Rückzug auf die Ebene der wörtlichen Bedeutungjederzeit möglich ist.

IV. Zum Schluss ist zu überlegen, ob und wie sich das eben beschriebene verbale Tabu des klassischen Minnesangs deuten lässt. Ist es überhaupt, das wäre die erste Frage, auffällig? Die Linguisten gehen ja davon aus, dass Sexualität epochen-und kulturübergreifend mit einem Tabu belegt ist. Selbst im 2 1. Jahrhundert, dem Zeitalter der medialen Dauererregung, lässt sich das ansatzweise noch

63 Vgl.

FRIISCH,

1976, S. 123.

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nachvollziehen. Setzt man eine allumfassende Tabu-Konstante an, kommt man aber schnell in Schwierigkeiten. Denn es gibt sowohl im Mittelalter als auch in der Gegenwart Genres, die durchaus über Sexualität sprechen. 64 Die Beispiele für die Gegenwart mag sich jeder selbst zusammensuchen, flir das Mittelalter sei nur an das obszöne Märe erinnert. 65 Und wie sich gezeigt hat, gibt es ja selbst im Minnesang Gattungen, die freizügiger sind als andere. Es ist also nicht so einfach, mit der Konstante eines Sexualtabus zu arbeiten. Gleichsam am anderen Ende setzte eine Erklärung an, die über die Kultur des Mittelalters liefe. Man könnte etwa mit Ulrich Müller den Minnesang als Ausdruck einer ,ekklesiogenen Kollektivneurose' begreifen und das Tabu auf die christliche Sexualmoral zurückführen. 66 Abgesehen davon, dass man letztere verzeichnet, wenn man sie als nur lustfeindlich einstuft, 67 gibt es eine Reihe weiterer Gegenargumente. So ist zu fragen , wie wahrscheinlich es ist, dass der Hochadel, der den Minnesang zunächst ja trägt, sich derart von der Kirche dominieren lässt. Schon wenn man an Wilhelm IX., den ersten Troubadour denkt, erscheint das zumindest zweifelhaft. 68 Sieht man die Kultur des Mittelalters insgesamt von der christlichen Moral imprägniert, stellt sich überhaupt die Frage, wie man dann den Minnesang eigentlich erklären soll, der ja unzweifelhaft außerhalb der Ehemoral steht. Die Erklärung, die ich anbieten möchte, scheut die Kulturtheorie wie die Kulturgeschichte und sucht stattdessen die Dynamik der Literatur selbst zu erfassen. Dabei geht sie von einem Verständnis des Minnesangs als Spiel aus,69 das an der Beobachtung ansetzt, dass die hohe Minne die mittelalterliche Realität der Geschlechterverhältnisse distanziert, 70 indem sie die Hierarchie von Mann und Frau verkehrt. Wie diese Verkehrung wäre auch das verdeckte Sprechen über Sexualität eine spezifische Sprach- bzw. Spielregel des Minnesangs, die dazu diente, diesen vom gewöhnlich Geltenden abzusetzen und ihn so interessant zu machen. Sie ist freilich, anders als andere Regeln, nicht einfach frei gewählt, sondern beruht darauf, dass das Sprechen über Sexualität immer etwas 64 Zum Verhältnis von Gattung und Tabu im Mittelalter vgl. KRoHN, 1988, S. 133. 65 V gl. HOVEN, 1978. 66 V gl. M üLLER, 1986; differenzierend hierzu KROHN, 1988, S. 135f. 67 Zusammenfassend SCHNELL, 2013, S. 68-76. 68 Vgl. GUMBRECHT, 1990. 69 Gerrauer entfaltet in BRAUN, 2007. 70 Etwa KROHN, 1988, S. 132, 134f.

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Heikles hat. Erst recht gilt das für den Minnesang, der eine Liebe jenseits der Ehe entwirft und der Teil einer höfischen Kultur ist, die sich nicht zuletzt durch ihre Reserve gegenüber dem ,Grob-Sinnlichen' konstituiert. 7 1 Die Differenzen zwischen den Gattungen wiederum würde ich mit der unterschiedlichen Gestaltung der Sprecherinstanz erklären.72 Das Werbelied ist Ich-Rede, was heißt, dass ein Vortragender unmittelbar als Person für sie einstehen muss. 73 Frauen- wie Tagelieder haben hingegen eine Vermittlung eingebaut, der Sänger sagt hier, was andere sagen, oder er erzählt, was andere getan haben. Der Satz ,Ich will mit dir schlafen' ist, zumal wenn er in der Öffentlichkeit geäußert wird, 74 heikler als der Satz ,X sagt, sie wolle mit Y schlafen' oder ,X hat mit Y geschlafen ' .75 Entsprechend ist es nicht erstaunlich, dass die Werbeliedereher auf Euphemismen ausweichen als die Frauen- oder Tagelieder. Abschließend wäre noch der Effekt zu bedenken, den das Sprachtabu für den Minnesang hat. Der Satz ,Ich will mit dir schlafen' verliert, wenn das Tabu einmal verletzt ist, mit jeder Wiederholung an Interesse. Nun ist der Minnesang eben keiner Ästhetik der Innovation, sondern einer der Variation verpflichtet, zu der ein Sprachtabu ausgezeichnet passt. So können nämlich an die Stelle einer direkten Äußerung verschiedene Euphemismen treten, die es ermöglichen, die immer gleiche Aussage abzuwandeln. Außerdem hält ein Euphemismus die Rede in der Schwebe und lädt sie so immer neu mit Interesse auf- ein Interesse, auf das ein literarisches System angewiesen ist, das dasselbe ständig anders sagt. 76 Die nie aufgelöste Mehrdeutigkeit der Euphemismen trägt zum ästhetischen Reiz der Lieder Entscheidendes bei. Auch in dieser Hinsicht passt das verbale Tabu zur Kunstform Minnesang.

71 Das zeigt bereits die Studie von MlLNES, 1949; vgl. auch H ÜBNER, 1999, S. 335-338, und SCHNELL, 1985, S. 396-409. 72 Dazu auch HÜBNER, 1999, S. 332-335. 73 Linguistische Forschungen belegen, dass es mehr Überwindung kostet, ein Tabuwort auszusprechen als aufzuschreiben, vgl. KELLER, 1987, S. 6. 74 Die öffentliche Artikulation von Begierde ist ja in besonderer Weise verpönt, vgl. Anm. II. Dass die Literatur als öffentliche Rede in gewissem Umfang auf gesellschaftlich geltende Tabus verpflichtet ist, zeigt ZMEGAC, 1993, S. I 04. 75 Ebd. legt es nahe, an dieser Stelle auf die Eigenschaft der Fiktionalität zu rekurrieren, die es literarischen Texten erleichtett, Sprachtabus zu verletzen. 76 EHRISMANN, 1987, S. 48 spricht "von einem sich perfektionierenden Tabuisierungsspiel".

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Der umgekehrte kategorische Imperativ Versuch zu einer Typologie von Tabu JULIA STENZEL

" Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden." ' Ein Notizzettel mit nichts als dieser kryptischen Aufschrift fand sich im Nachlass Immanuel Kants. Bei Matt in Lampe handelt es sich bekanntlich um den langjährigen Diener des Königsberger Philosophen, der im Alteraufgrund einer Ungehörigkeit entlassen wurde- möglicherweise nicht auf Kants eigene Initiative, sondern auf Betreiben des späteren Kant-Biographen Ehregott Andreas Christoph Wasianski. Der alternde Kant konnte sich (so will es sein Biograph wissen) nicht so recht mit Lampes Nachfolger anfreunden, und so erkläre sich die seltsame Notiz.2 Harald Weinrich berichtet in seinem Buch über das Vergessen, dem die folgenden Überlegungen viel verdanken, dass sich Wasianski als Kants Nachlassverwalter "aufs höchste verwundert" habe und in der schriftlichen Aufforderung zum Vergessen "ein sonderbares Zeichen von Kants Schwäche" - seiner Altersdemenz - sah. 3 Denn das Aufschreiben diene doch gemeinhin dazu, das Vergessen eben zu verhindern und nicht zu. befördern. Weinrich untersucht im Anschluss an die Lampe-Anekdote "das Schreiben im Dienst des Vergessens, ancilla oblivionis"; und zwar eines Vergessens, das nicht (im Sinne einer Memorialkunst) Platz fiir Neues in einem als endlich gedachten zerebralen Archiv schaffen soll, sondern

1804, S. 122; abgedr. auch in ÜROSS, 1993, S. 189-271. V gl. WEINRICH, 1997, s. 92. Vgl. ebd., S. 120f., allgemein zu den Biographen Kants M ALTER, 1993; W EINRICH, 1997, S. 92. WEINRICH, 1997, S. 94.

WASIANSKI,

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eines Vergessens, das eine entlastende Funktion für den Affekthaushalt des bewusst und aktiv vergessenden Subjekts hat: Denke daran, dass Du vergessen musst! 4 Dass dies ein performativer Selbstwiderspruch ist, ist schnell erkannt; Weinrichs Überlegungen bieten aber auch andere Perspektivierungen an. Man könnte sie, ausgehend von Kants Notizzettel, weiterverfolgen und ein solches Schreiben des Vergessensgebots als perfonnativen Akt begreifen, der ein Tabu generiert: Ein Tabu des Daran-Denkens. Diese Form des Tabus ist im Fall der zitierten Kant-Anekdote höchst subjektiv und quasi absolut. Wenn ein Akt des TabuSetzens solcherart aber funktionieren kann, dann kann er über einen bloß subjektiven Akt hinaus zum totalitären Instrument werden. Diese These soll die folgenden Überlegungen leiten. Dazu werde ich den heuristischen Kurzschluss von Kant und Freud zu begründen und schließlich für eine Typologie von Tabu fruchtbar zu machen versuchen. Den deskriptiv-analytischen Wert und die hermeneutische Produktivität einer solchen Typologie erprobe ich dann an einem Beispiel der jüngeren Filmgeschichte, für das vorderhand gerade das Moment des Nicht-Vergessen-Könnens zentral ist: An dem Science-Fiction-Thriller Minority Report. 5

I. Wie die Eingangs-Anekdote ahnen lässt, sollen im Folgenden als Tabu weder ausschließlich Ordnungssysteme ,primordialer' Gemeinschaften, noch auch psychoanalytisch gewendet- Ordnungssysteme im Geist Zwangskranker rubriziert werden, obgleich die Freudsche Begriffsprägung den gedanklichen Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet. Vielmehr möchte ich eine Fonn des sekundären Tabus beschreiben, die innerhalb einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft den Primat eines spezifischen Subsystems und sein Machtmonopol zu sichern hilft. Denn in einer solchen Gesellschaft können Mechanismen von Tabu, die in Teilsystemen Gültigkeit besitzen, von je anderen Teilsystemen aus beobachtbar sein. Insofern konstituiert Tabu Macht und gefährdet sie zugleich.

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Vgl. ebd., S. 93f., zit. S. 94. Vgl. auch ebd., S. 104f.; hier fiihrt Weinrich den Gedanken des Vergessen-Müssens allerdings in ganz anderer Weise weiter, als ich das im Folgenden versuche. V gl. SPIELBERG, 2002.

Der umgekehrte kategorische Imperativ

Um weitere Überlegungen zu diesem Zusammenhang vorzubereiten und plausibel zu machen, muss ich jedoch zunächst einen Umweg über die Begriffsfmdung bei Freud gehen. Der Begriff Tabu- das Heilig-Umeine, konzeptuell nicht allzu weit entfernt vom tremendum Rudolf Ottos6 - bezeichnet bei Freud zunächst die Berührungsfurcht aufgrund eines unbewussten Berühnmgsverbots; dann aber auch die Benennungsfurcht. Diese Furcht geht auf eine verdrängte Ambivalenz der Gefühlsregungen gegenüber dem Tabuisierten zurück. 7 Mit meinem Beispiel aus Kants Biographie könnte man nun die Furcht vor der nicht physischen oder sprachlichen, sondern schon der gedanklichen Berührung hinzusetzen: ,Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.' Dieser letzte Typ von Tabu lässt einen Aspekt von Freuds Konzept in den Fokus rücken, der für die avisierte Typologie eine nicht zu unterschätzende Relevanz besitzt: Das Tabu in seiner (typologisch) reinsten Form wirkt kategorisch, unbewusst und unbedingt. Es bedarf keiner Benennung und keiner normativen Fixierung, auch keiner Fixierung der Sanktionen, die sein Bruch nach sich zieht: Denn diese (etwa das Tabu-Werden oder gar der Tod des Tabubrechers) ergeben sich scheinbar natürlich, unhinterfragt und unhinterfragbar. Das Tabu wirkt automatisch und erklärt sich sozusagen selbst. 8 Freud stützt sich in seinen Ausführungen auf die Studien des Mediziners und Kulturpsychologen Wilhelm Wundt. Wundt hatte das Tabu als kulturelles Phänomen ethnologisch beschrieben und im Rahmen seiner evolutionären Psychologie einem frühen Stadium menschlicher Geistesentwicklung zugeordnet. 9 Diese evolutionspsychologische Wendung des Topos vom phylogenetischen Kindheitsstadium der sogenannten, Wilden ' greift Freud auf. Er analogisiert das Seelenleben der ,Wilden' und das der ,Neurotiker' und beschreibt ,primitive' Reste auch für die Gesellschaften Mitteleuropas.10 Im Sinne einer Typologie möchte ich das Konzept Tabu formulieren und von der evolutionistischen Begründung Freuds lösen. Dazu folge ich einer aphoristischen Formulierung im Vorwort zum Band Totem und Tabu, verfasst im September 1913. Dort heißt es: "[O]bwohl negativ gefaßt und auf andere Inhalte 6 7 8 9

V gl. ÜTTO, 2004. Vgl. FREUD, 1961b, bes. S. 34f.; 40-45. V gl. ebd., bes. S. 26-29; 35. Vgl. WUNDT, 1900-1920. Freud verweist in Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen (1961 b) ausschließlich auf Bd. 2 (Mythus und Religion, 1906). 10 Vgl. FREUD, 196lb, S. 35-46.

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gerichtet, ist es [das Tabu; J.St.] seiner Natur nach doch nichts anderes als der ,kategorische Imperativ' Kants, der zwangsartig wirken will und jede bewußte Motivierung ablehnt." 11 Meine Überlegungen setzen hier, bei einer auf den ersten Blick bloß aphoristischen und wenig präzisen Formel Freuds an, die bei näherer Betrachtung jedoch einige interessante Aspekte in den Blick rückt: Für die Benennung von etwas als Tabu scheint hier nicht (wie in der Tabu-Schrift) der Inhalt entscheidend, auf den das Tabu gerichtet ist- also Inzest, Vater- oder Brudermord. 12 Es geht vielmehr um eine strukturelle Operation, die einen unhintergehbaren, dem Subjekt als apriorisch begegnenden Zwang generiert und zugleich flir die Persistenz dieses Zwangs sorgt. Denn wie sonst wäre der kategorische Imperativ umzukehren? Dem Folgenden sei eines vorweggeschickt Die zu entwickelnde Typologie von Tabu ist nicht als Kant- und noch weniger als Freud-Exegese zu verstehen. Der vorgestellte Versuch zielt vielmehr darauf, ein formalisiertes Verständnis von Tabu als nicht notwendig psychoanalytische Kategorie zu begründen und in einem zweiten Schritt dann als analytisches Tool fur die historischen Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen.

II. Bekanntlich gibt es bei Kant keine fixierbare Formel, die als kategorischer Imperativ überschrieben wäre. Vielmehr taucht dieses umfassende moralische Gesetz in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernurift mehrfach, mit unterschiedlicher Akzentsetzung auf- und diese unterschiedlichen Formulierungen eröffnen durchaus auch unterschiedliche Spielräume für die Lektüre. 13 Ich folge dem kritischen Forschungsbericht des

II FREUD, 1961a, S. 4. 12 V gl. FREUD, 1961 b, S. 42; vgl. zur Inzestscheu auch FREUD, 1961 c. 13 Vgl. MELNIC~ 2002; GEISMANN, 2002: Karrt präsentiert in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine allgemeine (KANT 1968a, S. 421, GMS BA52) ,Universalisierungsformel' und drei besondere Formeln des kategorischen Imperativs, das sind die Formel der Naturgesetzlichkeit (ebd., S. 421 , GMS BA52; ebd., S. 437, GMS BASlf.), die Formel der Menschheit als Zwecks an sich selbst (ebd., S. 429, GMS BA66; ebd., S. 433, GMS BA74f.) und die Formel des Reichs der Zwecke als eines Reichs der Natur (ebd., S. 438, GMS BA83). "Die drei besonderen Formeln

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Philosophen und Kant-Exegeten Georg Geismann in der dort referierten und weiter belegten Auffassung von einer allgemeinen und drei besonderen Formen des kategorischen Imperativs, 14 und ich beschränke mich zunächst heuristisch auf die dritte, wahrscheinlich meistzitie11e Variante der Uni versalformel, die aus der Kritik der praktischen Vernunft stammt, das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." 15 Das allgemeine Sittengesetz soll denmach unwillkürlich, in jeder Alltagshandlung wirksam sein -aber durch den bewussten Willen des handelnden Subjekts, das durch Abstraktion seine Handlungsmaxime jederzeit mit diesem allgemeinen Sittengesetz abgleichen kann. Der Konjunktiv des könne ist entsprechend als Direktivum weniger Befehl, als vielmehr Wunsch und Möglichkeit. Aber aus dieser Formulierung resultiert mitnichten eine Relativierung oder Arbitrarität. 16 Vielmehr ist nach Kant davon auszugehen, dass der Mensch dem im kategorischen Imperativ formulierten Wunsch als einem Befehl folgt, das heißt: dass er qua seiner Qualität als vernünftiges Wesen nichts anderes wollen kann als das, was der kategorische Imperativ impliziert. 17 Denn es ist gerade das Wesen des kategorischen Imperativs, dass er aus der Verfasstheit des Menschen als "empirico-transzendentale Doublette" 18 die Verschränkung von individuellem und generellem Gesetz, also von Wollen und Sollen ableitet: "Alle Formulierungen [des kategorischen Imperativs, J.St.] basieren auf der Voraussetzung, dass die Selbstidentität des individuellen Willens, insofern er sich als einen geistigen Akt versteht, zugleich dessen Erhebung zu einem allgemeinen Willen in sich schließe." 19 Daraus

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dienen allein der Veranschaulichung des Sittengesetzes, und sie gelten nur durch ihr systematisch begründetes Verhältnis zur allgemeinen Formel und unter den dogmatisch-metaphysischen Voraussetzungen des zweiten Abschnitts der Grundlegung." (GEISMANN, 2002, S. 383) Vgl. GEISMANN, 2002. KANT, 1968b, S. 30 (KpV A54,§7). Vgl. dazu GEISMANN, 2002, S. 383. Zum Unterschied des kategorischen zu (rein auf den subjektiven Wunsch bezogenen) hypothetischen Imperativen s. etwa KANT 1968a, S. 414 (GMS B); vgl. STAEGE, 2002, S. 48f. KANT, 1968a, S. 438: "Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes GI ied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre." (GMS BA83) Vgl. zu den zunächst kontraintuitiven Tmplikationen dieser Annahme MELINCK, 2002. Begriffnach FOUCAULT, 1971, S. 384. lRRLITZ, 2002, S. 284.

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erhellt denn auch jene Formulierung in der Metaphysik der Sitten, die den individuellen Willen mit Naturgesetzlichkeit scheinbar kurzschließt: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte." 20 Und in dieser Verschränkung von Gebot und subjektivem Willen kann eine freilich anachronistische Lektüre, in Analogie zur Lektüre Freuds, einen unbewussten Zwang sehen Y Wie könnte man nun aber eine Umkehrung dieser komplexen Formel versuchen? - Für Freud wirkt das Tabu, wie oben ausgeführt, als innerpsychischer Zwang, der den äußeren Zwang überflüssig macht, und es funktioniere damit analog zu Kants kategorischem Imperativ, den Freud im Sinne des nicht bewussten Zwangs des allgemeinen Sittengesetzes reformuliert: Als einen Zwang also, der zum Wunsch des Subjekts wird. Psychologische Grundlage des Tabus ist fur Freud nun der " Ambivalenzkontlikt" 22 - der Konflikt also zwischen dem Begehren, die tabuisierte Handlung auszuführen und dem internalisierten V erbot ebendieser tabuisierten Handlung. Ursprung des Prinzips Tabu ist der Vatermord durch die Urhorde, eine Handlung also, die, als Umkehrung und Außerkraftsetzung der präkulturellen Ordnungsprinzipien von Familie und Sippe, zum Ursprung von Kultur wird. Das Tabu schützt vor einer Handlung, die bestehende Ordnungen destabilisiert - einer Handlung mithin, die zutiefst begehrenswert ist, denn ohne das Begehren bedürfte es keines Verbots. 23 In der Tabugesellschaft, der primordialen Gesellschaft nach Freud also, gewinnt das Tabu als Berührungsfurcht und Ansteckungsangst die psychische und soziale Oberhand in dem Sinne, dass eine Seite seiner Ambivalenz die andere überlagert: Es versteht sich nicht nur von selbst, das tabuisierte Ding oder die tabuisierte Person nicht zu berühren, sondern wer das Tabu bricht, wird selbst tabu. 24 Und hier lässt sich der Bogen schlagen zu Kant und zur Universalformel des kategorischen Imperativs: Die Verschränkung von optativisch und imperativisch der Kautischen Formel wird, in Freuds Lektüre, zum Symptom des internalisierten Verbots. Dieselbe Verschränkungkönnte man nun in eine Tabu-For-

20 KANT, 1968a, S. 421 (GMS B). 21 Kant selbst spricht von der "Heteronomie des Willens" als "Quell aller unächten Principien der Sittlichkeit"; ein unbewusster Zwang kann in diesem Sinne gerade nicht Grundlage des kategorischen, sondern nur hypothetischer Imperative sein (KANT, 1968a, S. 441 , GMS B). 22 FREUD, 196lb, S.43. 23 V gl. ebd., bes. S. 43f 24 Vgl. ebd., S. 43.

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mel gießen: , Unterlasse das Handeln, dessen Maxime jederzeit Prinzipien allgemeiner Gesetzgebung ausstreichen könnte. ' Der Optativische Rest wird dann in seiner Umkehrung als ein zu Vermeidendes reformuliert, als Möglichkeitsform nämlich, die eine unbestimmte Bedrohung benennt: Eine fundamentale Bedrohung und Destabilisienmg der bestehenden Ordnungsstrukturen.

111. Ich möchte - ganz holzschnittatiig und vorläufig - die drei Typen von Tabu unterscheiden, die ich oben (1.) kurz benannt habe und die kulturhistorisch sicherlich selten in Reinform, sondern meist als Misch- und Kombinationsformen auftreten. Die typologisch, aber nicht notwendig historisch erste Form ist die des Berührungsverbots, das sich auf alle Spielarten konkret-physischen als nur sinnlich vermittelten Kontakts mit dem Tabuisierten bezieht. Freud nennt exemplarisch den sexuellen Kontakt mit Mitgliedern der Totemfamilie, die Berührung von Herrschern, Priestern, menstruierenden Frauen, Toten oder auch von verbotenen Tieren, Früchten oder Pflanzen. 25 Der zweite Typ, und auch diesen beschreibt Freud in seinem Tabu-Aufsatz, ist der des Benennungsverbots. Er leitet sich aus der ersten Form ab und kann sich aufalle genannten Personengruppen, Lebewesen und Gegen stände beziehen. Er macht das Tabuisierte in seiner physischen Abwesenheit präsent - oder phänomenologisch gesprochen: es erzeugt seine leibhafte Abwesenheit. Der dritte Typ lässt sich nur indirekt aus der Darstellung Freuds ableiten: Man könnte hier von einem Andenkverbot sprechen, und diese Form ist so etwas wie eine internalisierte damnatio memoriae, die des Auslöschens sichtbarer Erinnerungszeichen gar nicht bedarf. Dabei soll es nicht um Vergessen im Sinne eines Verdrängungsprozesses gehen, das vornehmlich für die beiden ersten Typen von Tabu eine Rolle spielt. Freud zufolge sind beim Berührungs- oder Benennungsverbot Verdrängen und Verschieben ja gerade das, was im Bewusstsein als eine Spur das konkrete Tabu hinterlässt. 26 Das Andenkverbot nun ist sozusagen ein Speicherverbot, das den typologisch weniger komplexen Tabubruch der Benennung unmöglich macht.

25 Ebd., S. 32f.; ausf. S. 47-80. 26 Freud geht gar so weit, die Dokumentation klinischer Fälle von Zwangsstörungen heuristisch analog zu setzen zu ethnologischen Beschreibungen von Tabuwirkungen

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Freud interessiert sich in seinem Tabu-Aufsatz nicht so sehr für jene Formen des Tabus, die mit Normsystemen verschränkt und in diesem Sinne sekundär sind: Tabus, die möglicherweise aufprimordialen Formen basieren, aber funktionalisierbar geworden sind zur Generierung, Affirmation oder Modifikation hegemonialer Strukturen. 27 Es sind aber gerade solche Spielarten von Tabu, die mit der dritten Form in der vorgeschlagenen Typologie, dem Andenkverbot, korreliert sein können .28 Und dieses Andenkverbot, so möchte ich argumentieren, bedarf einer überaus mächtigen ancilla oblivionis, jener totalitären Form des Tabus, die sich aus dem Andenkverbot ableitet, dieses aber auch allererst in Kraft setzen muss. Denn das Denken ist nichts, was jederzeit und beliebig zu steuern und zu kontrollieren wäre; nicht, wenn es um das Erinnern, und erst recht nicht, wenn es um das Vergessen geht.

IV. Und hier komme ich zu meiner Anfangs-Anekdote um Kant und seinen alten Diener Lampe zurück, und damit zur Schrift, die speichert, um ein V ergessensgebot vor dem Vergessen zu bewahren. Dieses scheinbare Paradox ist, vor einem weiteren kulturhistorischen Hintergrund betrachtet, alles andere als neu, ist das Aufschreiben doch seit Platos Phaidros mit dem Vergessen korreliert: Was aufgeschrieben ist, bedarf der kognitiven Speicherung nicht mehr. Trotz Versu-

- freilich nicht ohne die Problematik eines solchen Vorgehens zu explizieren. Vgl. ebd., S. 35-46, bes. S. 36. 27 Vgl. ebd., etwaS. 40. 28 ln diesem Zusammenhang liegt zunächst der Gedanke an die damnatio memoriae nahe, und die Auslöschungs- und Zerstörungsprozesse, die mit ihr verbunden sind. Doch in diesem Sinne ist das Denkverbot hier nicht zu verstehen, beziehen sich die vielfältigen historischen Ausformungen der damnatio memoriae doch nicht so sehr auf innersubjektive Prozesse als vielmehr auf ein kollektives Gedächtnis. V gl. zur Historizität des Vergessensund von Formen des Vergessens BUTZER/GüNTER, 2004. Butzerund Günter formulieren die These, "dass die Unmöglichkeit des Vergessens in der Moderne ihren Grund in deren Verfasstheit als Schriftkultur hat" (ebd., S. 235); eine Unmöglichkeit freilich, die immer schon und immer wieder diskutiert und -vor dem Hintergrund der anthropologischen Notwendigkeit, vergessen zu können - beklagt werde.

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chen der jüngeren Forschung, Platos Schrift differenzierter zu lesen, besteht seitdem der Topos von der Schrift als Feindirr des Gedächtnisses.29 Und die Form des Tabus, um die es mir hier geht, nutzt diese alte Feindschaft und instrumentalisiert die Schrift als Verbündete des Vergessens -im Sinne einer anderen Form von damnatio memoriae, die immer wieder neu vom Subjekt zu initiieren ist, die aber gleichwohl auf die Perpetuierung von Machtstrukturen zielt. Sie setzt das Schreiben, das Konkretisieren als ancilla oblivionis; eine Setzung, von der ausgehend sich ganz verschiedene Strategien der Umsetzung ansbuchstabieren lassen: Das Aufschreiben als ancilla oblivionis kennt man in Form des alltagspsychologischen Ratschlags, man solle belastende Gedanken aufschreiben und das Papier wegwerfen, verbrennen oder einfach irgendwo wegschließen (ähnlich funktionieren Vergessens-Strategien der klassischen Gedächtniskunst).30 Und ähnlich verstehe ich- erneut mit Weinrich- Kants Lampe-Notiz: Das zu V ergessende wird notiert, der Schrift als der natürlichen F eindin des Gedächtnisses zur Vernichtung überlassenY Auch Strategien des innerpsychischen Überschreibens von Gedächtnisinhalten sind denkbar- etwa im Sinne von Ovids Ratschlägen in der Ars amatoria: Das nachhaltigsteremediumgegen Liebeskummer ist eine neue Liebe. 32 In dem Filmbeispiel, das nun in den Fokus rücken soll, interessiert noch eine andere, dritte ancilla oblivionis; auch sie hat mit Narrativierung zu tun- aber weder mit dem Hinausschreiben noch mit dem Überschreiben, sondern mit dem interpretierenden Wieder-Schreiben. Denn das Tabu, um das es in diesem Beispiel geht, ist kein inhaltliches, sondern ein strukturelles. Entsteht bei Freud das Tabu aus der Ambivalenz der Gefühlsregungen von Begehren und Abscheu, ist hier die semantische Ambivalenz selbst das Tabu. Die Gedankenfigur lässt sich unter Rekurs auf die etymologische Bedeutung des griechischen Worts für Wahrheit weiter spezifizieren, von der Weinrich den Titel für seinen Band über das Vergessen ableitet: Das Wort a-letheia ist eine Negation, nämlich die von A.cBoc; (lethos ): , verborgen, vergessen', und sie steht in Zusammenhang mit der Bezeichnung für den Fluss des Vergessens: Lethe. Das alpha privativum konstituiert einen Binarismus: Aletheia, Wahrheit, kann man also auch lesen als die

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V gl. WEINRICH, 2002, S. 99f. Vgl. grundlegend dazu noch immer YATES, 2001. Vgl. W EINRICH, 2002, S. 99f. Vgl. auch hier ebd., S. 30-34.

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Verneinung von Lethe, also das nicht zu Vergessende, als das, was nicht vergessen werden darf, soll oder kann. Was nicht aletheios ist, das ist- umgekehrtzu vergessen. Ambivalenz und Möglichkeitsformen sind somit ausgestrichen. Und denkt man diese Etymologie zu Ende, ist Wahrheit/Erinnern in der spezifisch markierten Form des Negierten das per se weniger Wahrscheinliche, auf das es eigens hinzuweisen gilt. 33

V. Minority Report von Steven Spielberg kam 2002 in die Kinos und spielt im Jahre 2054: In Washington, D.C., gibt es keine Morde mehr. Mittelsdreier hellseherisch begabter Mutanten, der sogenannten Precogs, kann jedes Tötungsdelikt vorhergesagt und, durch die Internierung der zukünftigen Täter, auch verhindert werden. Dieses System der vorausschauenden Justiz und Exekutive wird von einer Organisationnamens Precrime koordiniert, deren Officer die bruchstückhaften und unscharfen Visionen der Precogs in eine narrative Ordnung bringen. Als einer dieser Pre-Polizisten sich selbst des zukünftigen Mordes überfuhrt, versucht er, seine Unschuld zu beweisen- das System wird zuletzt kollabieren und auch fiktionsintern scheitern. 34 Und im Grunde dekonstruiert sich der Film schon durch seine Anlage selbst, endet er doch im sprichwörtlichen GroßmutterParadox.35 Doch gerade vor diesem Hintergrund macht es Sinn, ihn auf Akte der Tabuisierung, vor allem auf solche des dritten Typs, abzuklopfen; denn obgleich das Problem der Manipulation einer bekannten Zukunft im Film angesprochen wird, funktioniert die Narration flktionsintern. Der Film bietet hierzu schon bei oberflächlicher Betrachtung Ansatzpunkte: Zunächst wird vorgefuhrt, wie das Tabu, das Freud fur von ihm so genannte primitive Kulturen nachweist, unter den epistemologischen und in stitutionellen Bedingungen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft funktionieren kann. Mit Freud könnte man das System Precrime als Ausdruck der Regression einer Kultur bezeichnen: Die Precogs sind Menschen mit einem angeborenen

33 Vgl.ebd.,S.16. 34 Der Film basiert auf der g leichnamigen Kurzgeschichte des US-amerikanischen Science-Fiction-Autors PHILIP K. DICK ( 1956). Da es hier nicht um Probleme der Literaturverfilmung gehen soll, sei nur erwähnt, dass die Erzählung hinsichtlich des Umgehens mit Aletheia ganz anderen Prämissen folgt. 35 V gl. GOTT, 2001, S. 11-20; DA VI ES, 2002; NAHIN, 1993; LEWIS, 1976.

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Himschaden, der aufmütterlichen Drogenabusus während der Schwangerschaft zurückgeführt wird. Ihnen wird die Fähigkeit zugeschrieben, die Zukunft vorherzusehen, und so werden sie zu einer Art Priesterkönigen. Denn die Precogs sind tabu, ganz im Sinne des ethnologischen Begriffs, von dem Freud ausgeht. Selbst diejenigen, die ihre Botschafte.n deuten, dürfen sie nicht berühren. Es gibt jedoch eine Person, die keine andere Aufgabe hat, als für das Wohlergehen der Precogs zu sorgen (und die ihrerseits nicht berührt werden darf). Das Berührungsverbot wird mit der existenziellen Gefahr für das System Precrime und für die Gesellschaft begründet, die das Aufwecken der Precogs aus ihrem künstlichen Schlaf bedeuten würde. Denn Precrime schützt die Gesellschaft vor dem Kapitalverbrechen Mord: Es errichtet ein höchst wirksames System des Gedankenlesens, das die Rate nicht nur von Morden, sondern von Tötungsdelikten allgemein gegen Null gehen lässt, indem es schon einen noch nicht geschehenen, bloß imaginierten Tötungsakt oder gar den unbewussten Wunsch zu töten unter Strafe stellt. Es ersetzt also im Idealfall einen brüchig gewordenen Gesellschaftsvertrag durch ein totalitäres Tabu, indem es das Verdrängen des Impulses, des Wunsches oder des Plans zu töten induziert. 36 Oder, im Sinne von Freuds Kant-Lektüre: Als Umkehrung des kategorischen Imperativs und mit dessen totalitärer Reichweite ersetzt das Tabu dessen Funktionsstelle in der Psyche des (nach-)modernen Subjekts. Das Berührungsverbot steht jedoch in Zusammenhang mit einem weiteren Verbot; und dieses Verbot finde ich weitaus interessanter. Bei Freud basiert das Tabu auf der Ambivalenz von Gefühlsregungen (also: Begehren des Mordes vs. Abscheu vor dem Mord) und stärkt das Verbot des Begehrten. Ich meine, man kann am Beispiel von Minority Report ein Tabu auf zweiter Stufe beschreiben: Ein V erbot, das sich auf das Prinzip von Ambivalenz bezieht - ein Denkverbot, 36 Streng genommen handelt es sich bei der Behauptung, das System bemächtige sich quasi-totalitär der Psyche zukünftiger Täter, um eine Unterstellung, die durch den Filmtext nahegelegt, aber nicht vollständig gestützt ist; hier bleibt das Verhältnis von individuellem Wollen und der von den Precogs vorhergesehenen Zukunft im Vagen. Einerseits- so könnte man argumentieren- geht Minority Report (im Sinne popularisierter Annahmen gegenwärtiger Neurowissenschaft) davon aus, dass der Freie Wille des Menschen lediglich Konstruktcharakter habe, Konzepte von Verbrechen und Strafe somit ins Leere liefen. Dem widerspricht es auch nicht, dass er das übliche rechtsstaatliche System (zumindest als Zitat) intakt lässt. Andererseits schreibt er aber auch dem Moment der individuellen Entscheidung eine (vor allem in den letzten Sequenzen) emphatisch, ja fast mythisch überhöhte Position zu. Man könnte diese logische Inkonsequenz als Schwäche des Films lesen- oder als performative Wiederholung und Explikation des erwähnten Zeitmaschinen-Paradox.

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das ein totalitäres, nach Hegemonie strebendes System schützt, indem es Ambivalenzen ausstreicht. Um dies zu begründen, sind einige Bemerkungen zum Prozess der Verbrechens-Identifikation angebracht, wie sie der Film vorführt: Die Visionen der Precogs benennen zunächst ein Opfer und einen Täter; der Tathergang wird in schattenhaften Traumbildern auf einem Bildschirm sichtbar- und natürlich wird er von den Precogs nicht kommentiert oder erläutert. Nun beginnt die Tätigkeit der Officer von Precrime, die eigentlich eine hermeneutische ist. Aus den schemenhaften Bildern konstruieren sie - freilich nach spezifischen Regeln - einen als zweifelsfrei geltenden Tathergang; sie bringen also die Trauminhalte der Precogs in eine narrative Ordnung. Diese narrative Ordnung erlaubt es, den (nach klassischem Verständnis noch nicht schuldig gewordenen) Täter zu fassen. Ohne Prozess wird dieser zukünftige Täter verhaftet und in einem schlafähnlichen Zustand >sicherungsverwahrt