Text-Architekturen: Die Baukunst der Literatur 9783110347159, 9783110307627

Literature and architecture are related in a complex way. In this volume, literary, and cultural critics along with art

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German Pages 303 [304] Year 2014

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Literatur und Architektur. Tendenzen, Desiderate, Perspektiven
Space, Time, and Narrative. The Literary Unfolding of Architecture
Der Roman als Transkript der Kathedrale bei Hugo, Huysmans und Proust. Gattungsprofile – Illustrationszyklen – Bucharchitekturen
Wie Figura zeigt. Zur Kritik allegorischer Literaturinterpretationen am Beispiel von Adalbert Stifters Erzählung Die Narrenburg
Die Meereskathedrale. Naturschilderung als Architekturmetaphorik in Victor Hugos Roman Les Travailleurs de la mer
Die verschwundene Sammlung. Leere Räume in Texten des europäischen Realismus
Émile Zola und das neue Paris
Architektur als Antwort. Raabe und Fontane
Von der „herrischen Lust am Gestalten und Umgestalten“. Die „Kunst des Bauens“ in Goethes Wahlverwandtschaften, gelesen mit Hofmannsthal
Flanerie und Architekturbeschreibung. Die Stadtlektüren Franz Hessels
Raumsinn und gewohntes Leben. Walter Benjamins Erkundungen zu Städten und Architekturen
Von Baumeistern, Anti-Architekten und Anarchitektur. Grenzen der Architekturmetapher
Raumwende(n) im Roman. Hermann Burgers Schilten als intermediale Kritik des Spatial Turn
Expeditionen ins Innere des House of Leaves. Mark Z. Danielewskis Erzähl- und Textarchitekturen
„Ein böser, nichtendenwollender Traum“. Architektur in der Prosa W.G. Sebalds
Namensregister
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Text-Architekturen: Die Baukunst der Literatur
 9783110347159, 9783110307627

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Robert Krause und Evi Zemanek (Hrsg.) Text-Architekturen

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Sara Landa

Volume 38

TextArchitekturen Die Baukunst der Literatur

Herausgegeben von Robert Krause und Evi Zemanek

ISBN 978-3-11-030762-7 e-ISBN 978-3-11-034715-9 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Robert Krause und Evi Zemanek Literatur und Architektur. Tendenzen, Desiderate, Perspektiven

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Stephanie A. Glaser Space, Time, and Narrative. The Literary Unfolding of Architecture

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Ulrich Ernst Der Roman als Transkript der Kathedrale bei Hugo, Huysmans und Proust. Gattungsprofile – Illustrationszyklen – Bucharchitekturen 31 Hans-Georg von Arburg Wie Figura zeigt. Zur Kritik allegorischer Literaturinterpretationen am Beispiel von Adalbert Stifters Erzählung Die Narrenburg 65 Stefanie Fricke „The days of England’s glory have their number“. Antizipierte Ruinen in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts Sonia Goldblum Die Meereskathedrale. Naturschilderung als Architekturmetaphorik in Victor Hugos Roman Les Travailleurs de la mer 103 Uta Schürmann Die verschwundene Sammlung. Leere Räume in Texten des europäischen Realismus Thomas Flum Émile Zola und das neue Paris Harald Tausch Architektur als Antwort. Raabe und Fontane 148

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Inhaltsverzeichnis

Robert Krause Von der „herrischen Lust am Gestalten und Umgestalten“. Die „Kunst des Bauens“ in Goethes Wahlverwandtschaften, gelesen mit Hofmannsthal 170 Sabina Becker Flanerie und Architekturbeschreibung. Die Stadtlektüren Franz Hessels 187 Detlev Schöttker Raumsinn und gewohntes Leben. Walter Benjamins Erkundungen zu Städten und Architekturen

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Sarah Pogoda Von Baumeistern, Anti-Architekten und Anarchitektur. Grenzen der Architekturmetapher 223 Anja Gerigk Raumwende(n) im Roman. Hermann Burgers Schilten als intermediale Kritik des Spatial Turn Julia Weber Expeditionen ins Innere des House of Leaves. Mark Z. Danielewskis Erzähl- und Textarchitekturen Cord-Friedrich Berghahn „Ein böser, nichtendenwollender Traum“. Architektur in der Prosa W.G. Sebalds 270 Namensregister

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Robert Krause und Evi Zemanek, Freiburg

Literatur und Architektur Tendenzen, Desiderate, Perspektiven I Architektur ist in unserer Alltagswelt omnipräsent. Seit jeher präfiguriert sie maßgeblich die menschliche Wahrnehmung, Phantasie und soziale Interaktion.1 Unlängst wurde aus soziologischer Sicht gar argumentiert, dass „die Architektur in ihrer Dauerpräsenz und sinnlichen Dominanz allen anderen Medien voraus“ sei.2 Diese Annahme ihres soziokulturellen und wahrnehmungsphysiologischen Primats erscheint in medienkomparatistischer Hinsicht zumindest diskutabel; zumal die Architektur kaum alleine zu betrachten ist, sondern ein kulturelles Leitmedium darstellt, das mit anderen Medien und Künsten wie beispielsweise der Plastik und der Malerei interagiert.3 Auch Literatur und Architektur stehen in einem produktiven Wechselverhältnis. Stilgeschichtliche und strukturelle Parallelen entdeckte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Oskar Walzel, der im Bemühen um Interdisziplinarität unter dem Motto „wechselseitige Erhellung der Künste“ Kategorien aus der Architektur auf die Literatur übertrug – ein vielversprechender Ansatz, der in der Folgezeit nicht weiter entwickelt wurde.4 Mehr Beachtung fand indessen der Rekurs beider Künste bzw. Medien in ihren jeweiligen Entwürfen auf die gleichen Archetypen und Bilder, etwa auf den Turmbau zu Babel, an den unter anderem Franz Kafkas Mythenkon-

1 Zur Begriffs-, Sach- und Forschungsgeschichte vgl. den Lexikonartikel von Christoph Feldtkeller, „Architektur“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bdn., Bd. 1, Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Stuttgart 2000, S. 286–307. 2 Joachim Fischer/Heike Delitz, „Die ‚Architektur der Gesellschaft‘. Einführung“, in: Dies. (Hrsg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 9–17, hier S. 9. 3 Das zeigt die Ausgestaltung architektonischer Innenräume ebenso wie die um 1800 in der Gotikrezeption wesentliche Kategorie des „Malerischen“. Vgl. zu letzterer Klaus Döhmer, „In welchem Style sollen wir bauen?“ Architekturtheorie zwischen Klassizismus und Jugendstil, München 1976, S. 55–58. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden „die herrlichen Werke der christlichromantischen Baukunst des Mittelalters“ (S. 58) explizit auf die „Durchdringung des Plastischen mit dem Malerischen“ zurückgeführt (S. 151). 4 Oskar Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste: Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe, Berlin 1917, bes. Kap. 5, S. 63–74.

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trafakturen5 und zeitgleich entstandene amerikanische Wolkenkratzer erinnern.6 Architekten werden ebenso durch literarische Texte angeregt wie Autoren durch reale Bauwerke. Letztere können in Texten als Handlungsräume oder Hintergrundkulissen neben fiktiven Gebäuden auftauchen, der Figurencharakterisierung und Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre dienen sowie selbst die Struktur eines Werks prägen, ja bisweilen diesem sogar ihre Konturen geben, wie in visuellen Architekturgedichten.7 Obwohl die Bezüge auf die Architektur in der Literatur vielfältig sind, wurden sie von den Philologien geraume Zeit hauptsächlich in historischen und motivgeschichtlichen Einzelstudien, insbesondere zum Stadt- und HausMotiv,8 und weniger aus systematischer Perspektive betrachtet.9 Daran hat erst der spatial turn der Kultur- und Literaturwissenschaften etwas geändert: Das wissenschaftshistorisch relevante, aber zum Teil (zu) abstrakte Raumparadigma wird seit der Jahrtausendwende auch in der deutschsprachigen Forschung durch eine stärkere Berücksichtigung der Architektur ergänzt, so dass gezielt Bauwerke in den Blick kommen und ein veritabler „architectonic turn“ zu

5 In seinen Fragmenten aus Heften und losen Blättern notiert Kafka den einzelnen Satz: „Wir graben den Schacht zu Babel“ (Franz Kafka, Gesammelte Werke, Max Brod [Hrsg.], Frankfurt a.M. 1994, S. 280). Narrativ eingebunden wird der Babelturm in seinen Erzählungen Beim Bau der chinesischen Mauer und Das Stadtwappen, die Gerhard Neumann („Chinesische Mauer und Schacht von Babel. Franz Kafkas Architekturen“, in: DVjs, 83/2009, 3, S. 452–471) und Detlev Schöttker („Der Beobachter des Parterres. Franz Kafka und die Architektur“, in: Merkur, 64/2010, 7, S. 603–612) diesbezüglich untersucht haben. 6 Zahlreiche Abbildungen, Beschreibungen und Traditionslinien dieser „Turmblicke“ präsentiert Christian W. Thomsen, LiterArchitektur. Wechselwirkungen zwischen Architektur, Literatur und Kunst im 20. Jahrhundert, Köln 1989, S. 52–71. 7 Vgl. Gisbert Kranz, Das Architekturgedicht, Köln/Wien 1988. 8 Vgl. Volker Klotz, Die erzählte Stadt, München 1965; Hans Bänziger, Schloss – Haus – Bau: Studien zu einem literarischen Motivkomplex von der deutschen Klassik bis zur Moderne, Bern u.a. 1983; Michael Andermatt, Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raumes bei E. Marlitt, Th. Fontane und F. Kafka, Bern 1987; Heinz Brüggemann, Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt a.M. 1989. Sowohl die ‚Stadt‘ als auch die ‚Architektur‘ hat Sabine Rahmsdorfer untersucht: Stadt und Architektur in der literarischen Utopie der frühen Neuzeit, Heidelberg 1999. Neue, kulturgeschichtliche Zugänge zum ‚Haus‘ vermitteln die Beiträge in DVjs, 85/2011, 2. 9 Wegweisend waren die Studien Gerhard Goebels, Christian W. Thomsons und Philippe Hamons. Vgl. Gerhard Goebel, Poeta faber. Erdichtete Architektur in der italienischen, spanischen und französischen Literatur der Renaissance und des Barock, Heidelberg 1971; Thomsen, LiterArchitektur; Philippe Hamon (Hrsg.), Littératures & architecture, Rennes 1988; ders., Expositions. Littérature et architecture au XIX siècle, Paris 1989. Vgl. außerdem: Laurence Richter (Hrsg.), Littérature et architecture, Lyon 2004.

Literatur und Architektur

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konstatieren ist.10 Erprobt wurde dessen heuristisches Potenzial vor allem hinsichtlich der ästhetischen Debatten der Goethezeit,11 des Historismus12 und der urbanen Moderne des 20. Jahrhunderts.13 So konnten die lange Zeit übersehene Präsenz der Architektur in der Literatur und die mannigfachen diskursiven Zusammenhänge von Literatur- und Architekturästhetik verdeutlicht werden. Die Untersuchung der Architektur in der Literatur ist demnach ein anerkanntes Forschungsfeld geworden, das sich zunehmend ausdifferenziert. Angesichts dieser Entwicklung, der Vielzahl neuerer Studien und des bereits dokumentierten Materials14 erscheint es nun sinnvoll, ein erstes Resümee zu ziehen und dabei an bisherige Schwerpunktsetzungen zu erinnern, gegenwärtige Tendenzen darzulegen und weitere Untersuchungsperspektiven vorzuschlagen.

II Studien zur Architektur in der Literatur bringen „einen Gewinn bei der Aneignung poetischer Welten“,15 denn sie versprechen Aufschluss zu geben über eine

10 Detlev Schöttker, „Das Zimmer im Kopf. Wann kommt eigentlich der ‚architectonic turn‘“?, in: Merkur, 59/2005, 7, S. 1191–1195. 11 Vgl. Jens Bisky, Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann bis Boisserée, Weimar 2000; Harald Tausch, „Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst“. Erdichtete Architekturen und Gärten in der deutschsprachigen Literatur zwischen Frühaufklärung und Romantik, Würzburg 2006; Hans-Georg von Arburg, Alles Fassade. ‚Oberfläche‘ in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770–1870, München 2006; Jan Büchsenschuß, Goethe und die Architekturtheorie, Hamburg 2010. 12 Vgl. Arburg, Alles Fassade; außerdem Saskia Haag, Auf wandelbarem Grund. Haus und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2012, der es weniger um den zeitgenössischen Historismus als um die soziale Institution des Hauses geht. 13 Vgl. Heinz Brüggemann, Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts, Hannover 2002; Margrid Bircken/Heide Hampel (Hrsg.), Architektur und Literatur in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Neubrandenburg 2005; Robert Hodonyi, Herwarth Waldens „Sturm“ und die Architektur. Eine Analyse zur Konvergenz der Künste in der Berliner Moderne, Bielefeld 2010; Ines Lauffer, Poetik des Privatraums. Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit, Bielefeld 2011; Libero Andreotti (Hrsg.), Spielraum. W. Benjamin et L’Architecture, Paris 2011. 14 Vgl. Carlpeter Braegger, Baustellen. Ein enzyklopädisches Glossarium zur Architektur, wie sie im Buch steht, Baden 1991; Winfried Nerdinger (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Salzburg 2006; Roland Innerhofer, Karin Harrasser (Hrsg.), Bauformen der Imagination. Ausschnitte einer Kulturgeschichte der architektonischen Phantasie, Wien 2006. 15 Winfried Nerdinger, „Architektur wie sie im Buche steht“, in: Ders. (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht, S. 9–19, hier S. 11.

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Robert Krause und Evi Zemanek

Vielzahl zentraler Fragen einer kulturgeschichtlich wie medientheoretisch orientierten Literaturwissenschaft, von denen einige Aspekte im Folgenden skizziert seien. Es fällt auf, dass die Architektur und die Literatur bzw. das Bauen und das Schreiben häufig in ein Analogieverhältnis gerückt werden. Einer langen Tradition verpflichtet, ist dieser Topos bis in die Antike zurückzuverfolgen: so etwa zum römischen Architekten Vitruv (1. Jh. v. Chr.), der die Auffassung vertritt, dass Sprache und Architektur gleichzeitig entstanden seien.16 Dem ähnelt die Ursprungslegende, die Victor Hugos Roman Notre Dame de Paris (1831/32) erzählt und zum Ausgangspunkt kultur- und medienkritischer Diagnosen nimmt. Er reflektiert die kaum zu überschätzende Tragweite des medialen Paradigmenwechsels, der mit Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse (um 1440) eingesetzt hat und dazu führe, dass das gedruckte Buch sukzessive die sakralen Bauwerke als Bedeutungsträger ersetze und letztlich die Religion durch die Literatur als neues kulturelles Leitsystem abgelöst werde.17 Hugos Annahme wäre mit Blick auf die zeitgenössischen „Aufschreibesysteme“ zu prüfen und zu kontextualisieren.18 Auch sprachphilosophische Positionen des späten 19. Jahrhunderts gehen davon aus, Bau- und Sprachkunst seien gleichursprünglich und zielten beide auf Symmetrie ab.19 Ihnen entsprechen Friedrich Nietzsches Forderung, ein Buch müsse nach dem Vorbild eines Gebäudes „ein Ganzes“ darstellen,20 und Hugo von Hofmannsthals Überzeugung, die „Form“ gebe „dem Dialog das was die architektonische Form einem Haus gibt – Abschluß gegen die übrige Welt, Ausschluß der übrigen Welt“.21 Eine eminent konstruktive Funktion attestiert der Sprache auch Paul Valéry, in dessen Dialog Eupalinos, ou l’architecte von 1921 es heißt: „Voici donc que le langage est constructeur?“22 Mit seinem Zitat ist zugleich

16 Vgl. Vitruvius, De architectura libri decem/Zehn Bücher über Architektur, Lateinisch und deutsch, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch, Darmstadt 62008, Liber secundus, I, S. 78; erstes Kapitel, Vom Ursprung der Gebäude, S. 79. 17 Vgl. Victor Hugo, Der Glöckner von Notre Dame, aus dem Französischen von Else von Schorn, Frankfurt a.M. 1996, S. 196–205 (Kap. „Dieses wird jenes töten“). 18 Vgl. Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800–1900, 4., vollst. überarb. Neuaufl., München 2003. 19 Vgl. Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst [1871], Bd. 1, Hildesheim 31961, S. 38, S. 109f., S. 118 und S. 128. 20 Friedrich Nietzsche, „Unzeitgemässe Betrachtungen I, David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller [9]“, in: Ders., Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 1, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), München 1988, S. 209. 21 Hugo von Hofmannsthal, Notiz von 1902, zitiert nach: Hofmannsthal-Blätter, 1972, 8/9, S. 109. 22 Paul Valéry, Eupalinos, ou l’architecte, in: Ders., Eupalinos. L’âme et la danse, Dialogue de l’arbre, Paris 1944, S. 9–127, hier S. 66.

Literatur und Architektur

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der Topos einer ‚Sprache der Architektur‘ berührt, dessen metaphorischer und semiotischer Gehalt die Architekturdiskussion und interdisziplinäre Forschung nachhaltig beschäftigt.23 Umgekehrt könnte sie die Architekturzeichnungen vieler Dichter – beispielsweise von Victor Hugo, Gottfried Keller, Theodor Fontane, Émile Zola, Joachim Ringelnatz und Peter Weiss24 – heranziehen, um wesentliche Aspekte der Genese fiktionaler Texte zu rekonstruieren.25 Mit solchen intermedialen Vergleichsmöglichkeiten stellt sich die Frage nach der spezifischen Leistung der jeweiligen Medien bzw. Künste und ihrem Verhältnis zueinander.26 Angesprochen sind wesentliche Aspekte der Ästhetik, denen im Rekurs auf Lessings typologische Trennung von Raum- und Zeitkünsten in der Laokoon-Schrift,27 die Technik der Kunstbeschreibung bzw. Beschreibungskunst (ekphrasis) und den traditionellen paragone der Künste nachzugehen ist. Während der Wettstreit zwischen dem Architekten Friedrich Schinkel und dem Dichter Clemens Brentano (um 1815) vereinzelt Beachtung gefunden hat,28 wurden literarische Architekturbeschreibungen als Form der ekphrasis in der einschlägigen interdisziplinären Forschung bislang wenig berücksichtigt.29 Doch

23 Während sich Feldkeller („Architektur“, S. 290) kritisch zu diesem Topos äußert, unternimmt Markus Dauss den programmatischen Versuch, Architektur als Sprache zu lesen: vgl. ders., „Architektur als Schrift – ‚Architektursprache‘“, in: http://egk.file3.wcms.tu-dresden.de/Markus/ Architektur%20als%20Schrift2.pdf [Stand: 12.02.2013]. Zum Verhältnis von Architektur und Sprache vgl. den gleichnamigen Band von Carlpeter Braegger (Hrsg.), Architektur und Sprache, München 1992. 24 Zahlreiche Exponate versammelt der von Nerdinger herausgegebene Katalog: Architektur wie sie im Buche steht, S. 340–407. 25 Vgl. zu diesem Thema Hilde Strobl, „Die Planung des Raumes in der Zeichnung des Dichters“, in: Nerdinger (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht, S. 146–159. 26 Zur Debatte, ob die Architektur trotz ihres Anwendungsbezugs eine Kunst darstellt, vgl. Feldkeller, „Architektur“, S. 287–289. 27 Gotthold Ephraim Lessing, „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: Ders., Werke und Briefe, 12 Bde, Bd. 5/2:Werke 1766–1769, Wilfried Barner (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1990, S. 11–322, insbes. S. 116f. Durch diese Typologie scheint „die Ausklammerung des Räumlichen aus der Literatur besiegelt zu sein“, bemerkt noch Bruno Hillebrand, Mensch und Raum im Roman. Studien zu Keller, Stifter, Fontane. Mit einem einführenden Essay zur europäischen Literatur, München 1971, S. 37. 28 Vgl. dazu Winfried Nerdinger, „Clemens Brentano/Friedrich Schinkel“, in: Nerdinger (Hrsg.), Architektur, wie sie im Buche steht, S. 481–483; Arburg, Alles Fassade, S. 72. 29 Dies gilt etwa für die ansonsten erhellenden Bände von Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995; Peter Klotz/Christine Lubkoll (Hrsg.), Beschreibend wahrnehmen – wahrnehmend beschreiben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse, Freiburg i.Br./Berlin 2005; sowie Heinz Drügh, Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700–2000), Tübingen 2006.

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auch jenseits der ekphrasis sind die Funktionen von Metaphern und Metonymien bei poetischen Architekturimaginationen zu untersuchen;30 ebenso die Text-Bildrelationen wie im Fall von visueller Poesie oder Buchstabenarchitekturen.31 In besonderer Weise demonstrieren und thematisieren gerade lyrische Texte ihre Anlage. Speziell im romanischen Sonett mit seiner unverkennbaren grafischen Erscheinungsform manifestiert sich die Tendenz zur Proportionalität, Geometrisierung und Räumlichkeit. Namentlich August Wilhelm Schlegel führte diese Form auf numerische Relationen und geometrische Konstruktionsprinzipien zurück und veranschaulicht dies an der Tektonik eines Tempels.32 Er korreliert die Quartette und Terzette mit Quadrat und Dreieck und definiert die Sonett-Tektonik auf der Basis von Symmetrien. Dass diese augenfällige Kongruenzen mit dem Grundriss des vom Stauferkaiser Friedrich II. Mitte des 13. Jahrhunderts errichteten Castel del Monte in Apulien aufweist, erklärt die neuere Forschung mit der beiderseitigen, in Text und Stein zeitgleich realisierten Gestaltung imperialer Bauästhetik – zumal der Ursprung des Sonetts als Gattung im selben historischen und kulturellen Kontext verortet wird wie besagtes Bauwerk.33 In der Folgezeit stellt die lyrische Gattung immer wieder ihre Affinität zur Architektur zur Schau, sei es, indem sie etwa vollkommene Bauwerke als Projektionsfläche für idealschöne Frauen funktionalisiert oder aber in kulturkritischen Sonetten den Zustand einer Nation in Ruinen spiegelt.34 Ebenso wie aus Architektur Literatur werden kann, ist zuweilen auch zu beobachten, dass aus Literatur Architektur entsteht. Zahlreiche Exponenten dieses komplexen künstlerischen Transformationsprozesses wurden 2006/07 im

30 „Architektur als Metapher“ in der Berliner Moderne untersucht Robert Hodonyi, Herwarth Waldens „Sturm“ und die Architektur, S. 212–281. 31 Diesen Textgattungen widmet sich Ulrich Ernst, „Text als Architektur – Architektur als Text“, in: Nerdinger (Hrsg.), Literatur, wie sie im Buche steht, S. 113–127. 32 Vgl. August Wilhelm Schlegel, „Vorlesungen über die romantische Literatur“ [1803–1804], in: Ders., Vorlesungen über Ästhetik [1803–1827] [= Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 2,1], Textzusammenstellung v. Ernst Behler, m. e. Nachbemerkung v. Georg Braungart, Paderborn u.a. 2007, S. 1–194, zum Sonett: S. 159–168. 33 Vgl. dazu Thomas Borgstedt, Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Tübingen 2009, S. 128–175; sowie Ders., „Die Zahl im Sonett als Voraussetzung seiner Transmedialität“, in: Erika Greber/Evi Zemanek (Hrsg.), Sonett-Künste. Mediale Transformationen einer klassischen Gattung, Dozwil 2012, S. 41–59. 34 Vgl. Kirsten Kramer, „Ästhetik des Kalküls. Schrift, Geometrie und Architektur im spanischen Barocksonett“, in: Greber/Zemanek (Hrsg.), Sonett-Künste, S. 151–82, die u.a. den Konnex von Architektur und Sonettistik in Góngoras berühmtem Architektursonett De pura honestidad templo sagrado nachzeichnet. Dieses untersucht neben spanischer und französischer Ruinenpoesie auch Ursula Hennigfeld, Der ruinierte Körper. Petrarkistische Sonette in transkultureller Perspektive, Würzburg 2008.

Literatur und Architektur

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Münchner Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne in Form von Plänen, Entwürfen und Modellen präsentiert: beispielsweise die Burg Lichtenstein (gebaut von Carl Alexander von Heideloff und Johann Georg Rupp; 1840–42), die auf Wilhelm Hauffs Historienroman Lichtenstein (1826) zurückgeht, Tony Garniers architektonische Adaptation von Ideen aus Émile Zolas Roman Travail (1900/01) und Bruno Tauts Umsetzung von Paul Scheerbarts Glasarchitektur (1914).35 Auch die Adalbert Stifter-Rezeption im Zuge des Neuen Bauens der Weimarer Republik zeigt die Bedeutung literarischer Vorlagen für reale Architekturen: Die Pläne Theodor Fischers, der einen Umgebungsplan, einen Grund- und einen Aufriss des Rosenhauses aus dem 1857 erschienenen Nachsommer-Roman erarbeitete, reproduzieren Stifters realistischen Erzählraum in einem anderen Medium. Sie stellen mithin ebenso eine Form der intermedialen Adaptation und Interpretation dar wie Paul Schmitthenners Aufsätze zur möglichen Übertragung von Stifters ‚sanftem Gesetz‘ auf die moderne Architektur.36 Gemäß der Annahme, dass Architektur als eine symbolische Gestalt der Gesellschaft fungiert und „diese in ihren Generationen, Schichten, Milieus und Funktionssystemen erst sicht- und greifbar macht“,37 geben literarische Gebäude ihrerseits Auskunft über die zeitgenössische Gesellschaftsordnung. In diesem Zusammenhang ist zum Beispiel Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel (1892) besonders aufschlussreich, denn die dortige Schilderung der Villa Treibel dient der Milieu- und Figurenzeichnung. Beschrieben hat der Autor das Anwesen mit Blick auf die ihm bekannte Berliner Villa Heckmann, aber wohl auch als Anspielung auf die Villa Hügel des Großindustriellen Krupp.38 Außerhalb der Stadt gelegen, befindet sich die Villa Treibel bereits topografisch genau zwischen dem Milieu des Klein- und Mittelstandes einerseits und dem Adelsmilieu andererseits. Dieser topografischen Positionierung entspricht der soziale Status ihrer Bewohner, der durch das Gebäude absichtsvoll nach außen getragen wird. Es handelt sich um einen einstöckigen Bau, der am Fluss gelegen und durch die Parkanlagen von den Fabrikanlagen abgegrenzt ist. Auch die Zimmeranordnung ist aussagekräftig: Vom Empfangszimmer kommt man ins Esszimmer, das mit Stuck und historischen Reliefs versehen ist und der sozialen Repräsentation bei gesellschaftlichen Zusammenkünften wie dem Diner mit Musik dient. Wenn die Dame des Hauses in dieser Episode bemängelt, dass ein gesonderter Dienstboten-

35 Zu den genannten Beispielen vgl. die Artikel von Winfried Nerdinger, in: Ders. (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht, S. 477–480, S. 491–494, S. 487–490. 36 Vgl. Nerdingers Artikel in: Ebd., S. 242–245. 37 Fischer/Delitz, „Die ‚Architektur der Gesellschaft‘“, S. 9. 38 Vgl. Dirk Mende, „Nachwort“, in: Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel, München 31985, S. 190–217, insbes. S. 196–198 (Kap.: „‚Doppelluft‘ oder Villa und Gelehrtenklause“).

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Robert Krause und Evi Zemanek

eingang fehlt, ist die repräsentative Funktion der Architektur sogar explizit angesprochen.39 All diese Details verdeutlichen, dass bei Fontane über die Beschreibung der Räume und Architektur die Sozialstruktur der wilhelminischen Ära und Gesellschaft zitiert wird.40 Viele der bislang genannten Textbeispiele legen eine besondere Affinität zwischen bestimmten literarischen Gattungen und Genres einerseits und der Architektur andererseits nahe, wobei die Forschung zur Prosaliteratur dominiert. Hier ist u.a. ein auffälliger Zusammenhang von literarischer Utopie bzw. Zukunftsroman und Gebäudeimagination41 sowie von gothic novel bzw. Schauerroman und phantastischer Architektur zu konstatieren.42 Mit Blick auf die realistische Prosa des 19. Jahrhunderts stellt sich ferner die Frage nach dem Verhältnis architektonischer Außen- und Innenräume. Zwar liegen instruktive Studien zum Interieur in der Literatur des bürgerlichen Zeitalters vor, doch blenden diese Analysen die Architektur weitestgehend aus.43 Kaum systematisch untersucht wurde indes auch, welche Rolle Architektur im Drama und in der Lyrik spielt. Anbieten würden sich in diesem Zusammenhang etwa Hendrik

39 Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen findt“, in: Theodor Fontane. Romane und Erzählungen, 8 Bde., Peter Goldammer/Gotthard Erler/Anita Golz/Jürgen Jahn (Hrsg.), Berlin/Weimar 41993, S. 253–440, hier S. 267. 40 Vgl. Reinhard Bentmann/Michael Müller, Die Villa als Herrschaftsarchitektur. Versuch einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse, 2., überarb. u. ergänzte Aufl. Frankfurt a.M. 1971, S. 125–127 (Kap. „Theodor Fontanes ‚Villa Treibel‘“). 41 Vgl. Rahmsdorfer, Stadt und Architektur in der literarischen Utopie der frühen Neuzeit; Andreas Tönnesmann, „Erzählte Idealstädte von Filarete bis Ledoux“, in: Nerdinger (Hrsg.), Architektur, wie sie im Buche steht, S. 57–69; Ingrid Krau, „Utopie und Ideal – in Stadtutopien und Idealstadt“, in: Nerdinger (Hrsg.), Architektur, wie sie im Buche steht, S. 75–82. 42 Vgl. Marianne Kesting, „Negation und Konstruktion. Aspekte der Phantasiearchitektur in der modernen Dichtung“, in: Harald Weinrich (Hrsg.), Positionen der Negativität (=Poetik und Hermeneutik VI), München 1975, S. 367–392; Hans Holländer, „Phantastische Architektur. Texte und Bilder“, in: Nerdinger (Hrsg.), Architektur, wie sie im Buche steht, S. 40–56; Thomas Amos, Architectura cimmeria. Manie und Manier phantastischer Architektur in Jean Rays Malpertuis, Heidelberg 2006; Tausch, „Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst“; Carsten Lange, Architekturen der Psyche. Raumdarstellungen in der Literatur der Romantik, Würzburg 2007; Thomas Le Blanc/Bettina Twrsnick (Hrsg.), Utopische Räume. Phantastik und Architektur, Wetzlar 2008. 43 Vgl. Claudia Becker, Zimmer – Kopf – Welten. Zur Motivgeschichte des Intérieurs im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990; Horst Fritz, „Innerlichkeit und Selbstreferenz. Anmerkungen zum literarischen Interieur des 19. Jahrhunderts“, in: Dietrich von Engelhardt/Horst-Jürgen Gerigk/Guido Pressler/Wolfram Schmitt (Hrsg.), Melancholie in Literatur und Kunst, Stuttgart 1990, S. 89–110; Kirsten Belgum, Interior Meaning. Design of the Bourgeois Home in the Realist Novel, New York u.a. 1991; Norbert Wichard, Erzähltes Wohnen. Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter, Bielefeld 2012. Günter Oesterle, „Zu einer Kulturpoetik des Interieurs im 19. Jahrhundert“, in: ZfGerm, 23/2013, Nr. 3, S. 543–557.

Literatur und Architektur

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Ibsens Baumeister Solness (1892), Sigfried Giedions Arbeit (1917), Alfred Brusts Das Bauspiel (1920)44 sowie die lyrischen Zyklen Charles Baudelaires (Rêve parisien, 1857), Eduard Mörikes (Bilder aus Bebenhausen, 1863) und Stefan Georges (Algabal, 1892). Selbst in gattungspoetischer und literarhistorischer Hinsicht bleiben demnach viele poetische Architekturen noch zu erkunden.

III In Anknüpfung an die skizzierten Forschungstendenzen haben germanistische, romanistische und anglistische Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler sowie Kunsthistoriker auf der im Dezember 2011 im FRIAS veranstalteten Konferenz „Text-Architekturen: Baukunst (in) der Literatur“ neue Perspektiven erprobt und Fallstudien vorgestellt, aus denen die Beiträge des vorliegenden Bandes hervorgingen. Sie konzentrieren sich bewusst auf Texte und Kontexte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Zeit also, in der eine enorme Präsenz der Architektur in der Literatur und komplexe ästhetische Interdependenzen zwischen beiden Künsten festzustellen sind – nicht zuletzt weil die Stilfrage im Zuge des architektonischen Historismus und seiner Überwindung neue Bedeutung erhielt und der Raum sich als eine zentrale Kategorie in der ästhetischen Theorie etablierte.45 Untersucht wird, wie in der europäischen Literatur der Moderne Architekturen thematisiert und repräsentiert werden, welche Funktion ihrer Beschreibung und Imagination für den jeweiligen Text, für seine Form, Struktur und Ästhetik sowie für den Prozess der Narration zukommt.46 Den vielschichtigen Beziehungen zwischen Raum, Zeit und Narration widmet sich zuerst Stephanie Glaser (Copenhagen) in programmatischer Absicht. Mit Blick auf die mittelalterlichen Sakralbauwerke in Victor Hugos Notre Dame de Paris (1831/32), Émile Zolas Le Rêve (1888) und Umberto Ecos Il nome della rosa (1983) wird dabei eine Typologie literarischer Repräsentation von Architektur erarbeitet. Den gleichen Bautyp und seine paradigmatische Funktion für die

44 Zu Giedions und Brusts wenig bekannten Stücken vgl. Robert Hodonyi, „Von Baustelle zu Baustelle. Ein Streifzug durch die Geschichte des Architekturmotivs in der Literatur“, in: Weimarer Beiträge, 54/2008, 4, S. 589–608, hier S. 502f. 45 Vgl. Michaela Ott, „Raum“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bdn., Bd. 5 (2003), S. 113–149, insbes. S. 138–140 und S. 143f.; Heinrich Hübsch, In welchem Style sollen wir bauen? Karlsruhe 1828 [repr. 1984], Heidelberg 2005. 46 Stärker diachron ausgerichtet ist der kürzlich erschienene Sammelband zum Thema ‚Literatur und Architektur‘: Barbara von Orelli-Messerli (Hrsg.), Ein Dialog der Künste. Beschreibungen von Architektur in der Literatur von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Petersberg 2012.

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französische Literatur fokussiert auch Ulrich Ernst (Wuppertal). Er erläutert, inwiefern Hugo, Joris-Karl Huysmans und Marcel Proust ihre enzyklopädischen Romane nach dem Vorbild einer Kathedrale konzipierten und vertritt die These, dass der Roman ähnlich der mittelalterlichen und neuzeitlichen Kathedrale zum Archiv des Wissens seiner Zeit avancierte. Die Bedeutung zeitgenössischer Diskurse akzentuiert ebenfalls Hans-Georg von Arburg (Lausanne), der anhand von Adalbert Stifters Erzählung Die Narrenburg (1842/44) und ihrer allegorischen Interpretation in der modernen Literaturwissenschaft grundlegende hermeneutische Probleme diskutiert. Dabei betont er die Eigenlogik der Architektur und plädiert für die Berücksichtigung ästhetikgeschichtlicher Kontexte. Kulturgeschichtliche Zusammenhänge und architektonische Transformationsprozesse thematisieren die nächsten beiden Beiträge. Stefanie Fricke (München) widmet sich dem Motiv der antizipierten Ruine in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, das den drohenden Untergang Großbritanniens illustriert. Berücksichtigung finden hier vor allem Gedichte von Anna Letita Barbauld und Dante Gabriel Rossetti sowie Zukunftsromane von Richard Jefferies und H.G. Wells, die in Ruinengestalt eine symbolträchtige Verfallsform der Architektur und Kultur allgemein darstellen. Für plastische Übergangsphänomene interessiert sich auch Sonia Goldblum (Mulhouse), die anhand von Hugos Les Travailleurs de la Mer (1866) vorführt, wie literarische Beschreibungen gezielt eine Kontinuität zwischen Natur und Kultur und zwischen dem Organischen und dem Mineralischen suggerieren können. Welche Funktion die zahlreichen Architekturschilderungen für die Poetik des europäischen Realismus haben, zeigen die darauffolgenden Aufsätze. Uta Schürmann (Berlin) fokussiert Darstellungen leerer Räume bei Lewis Carroll und Theodor Fontane. Untersucht wird, was es für eine realistische Erzählung bedeutet, wenn die imaginären Objekte und Dinge, die häufig den fiktionalen Raum in Form der Interieur-Beschreibung konstituieren, aus dem Blick geraten und stattdessen die sie umgebende Architektur in Erscheinung tritt. Sodann geht Thomas Flum (Freiburg) den architekturgeschichtlichen und -theoretischen Kontexten von Zolas La Curée (1871), Le ventre de Paris (1873) und Au Bonheur des Dames (1883) nach. Sein Beitrag erklärt die architektonischen Innovationen der französischen Kaiserzeit und analysiert ihre spezifische Darstellung und Funktionalisierung in Zolas genannten drei Romanen. Die kleinen, unscheinbaren Bauwerke in den realistischen Kriminalgeschichten entdeckt und dechiffriert der Beitrag von Harald Tausch (Gießen). Er liest Wilhelm Raabes Stopfkuchen (1890) als Antwort auf Fontanes Unterm Birnbaum (1885) und argumentiert mit Blick auf Bauzeichnungen und reale architektonische Vorbilder, dass die Architektur und die Literatur der Epoche Realität nicht einfach spiegeln, sondern vielmehr generieren.

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Einer Beobachtung Hugo von Hofmannsthals aus dem Jahr 1892 folgend, geht Robert Krause (Freiburg) der regen Bautätigkeit der Protagonisten in Goethes Wahlverwandtschaften (1810) nach. Der enigmatische Roman und Hofmannsthals Kommentar erhellen sich hierbei wechselseitig und zeigen das verbindende Interesse beider Autoren an der Architektur. Daraufhin erläutert Sabina Becker (Freiburg) am Beispiel von Franz Hessels Prosaskizzen den Zusammenhang von Flanerie und Architekturbeschreibung in der Weimarer Republik. Berlins Bauwerke und Feuilletonartikel erweisen sich dabei gleichermaßen als Erinnerungsmedien. Einem anderen Flaneur wendet sich wiederum Detlev Schöttker (Dresden) zu: Er rekonstruiert Walter Benjamins reges Architekturinteresse und zeigt in einem Durchgang durch dessen Schriften und mit Blick auf Sigfried Giedion, wie eng Bau-, Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Lebensweisen miteinander verbunden sind. Dass sich die Wahrnehmung von Architektur und ihrem Verhältnis zur Literatur nach 1945 nochmals drastisch verschiebt und die traditionelle Vorstellung einer soliden, ‚schönen‘ Konstruktion von Welt zunehmend obsolet wird, verdeutlichen die letzten Beiträge des Bandes. Sarah Pogoda (Sheffield) erörtert die „Grenzen der Architekturmetapher“ für literarische Texte mit Bezug zur Nachkriegszeit und -gesellschaft. Sie vergleicht die Architektenfiguren in Heinrich Bölls Billard um halb zehn (1959), Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand (1974/ 98), Urs Jaeggis Grundrisse (1984) und Christoph Geisers Die Baumeister (1998), um verschieden motivierte Krisen des Erzählens zu erklären und ein Konzept der „Anarchitektur“ zu profilieren. In dezidierter Abgrenzung von anthropologischuniversalistischen Raummodellen in der Tradition von Gaston Bachelards „Topophilie“ akzentuiert daraufhin Anja Gerigk (München) das Raumverständnis im jeweiligen literarischen Werk selbst.47 An Hermann Burgers Roman Schilten (1976) und seinem Neologismus „Estrichdämonie“ führt die Interpretin vor, wie ambivalent poetische Architektur sein kann. Dämonisch und destruktiv erscheint auch das titelgebende Gebäude in Daniel Z. Danielewskis House of Leaves (2000), dessen labyrinthische Anlage Julia Weber (Berlin) erkundet. Dabei zeigt sie, inwieweit dieser postmoderne Roman verschiedene kulturelle und literarische Versatzstücke sowie theoretische Ansätze des spatial und architectonic turn dezidiert aufnimmt, reflektiert und narrativ integriert. Ebenfalls auf erzählerische Strukturen sowie kulturhistorische und -theoretische Aspekte konzentriert sich schließlich der Beitrag Cord-Friedrich Berghahns (Braunschweig), der die Bedeutung und Funktion der Architektur in W. G. Sebalds Prosa untersucht. In Aus-

47 Zum Begriff der „Topophilie“ vgl. Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, aus dem Französischen von Kurt Leonard, Frankfurt a.M. 1987, S. 25.

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einandersetzung mit dem Roman Austerlitz (2001) wird dabei ein signifikantes Wechselverhältnis von narrativer Komplexität einerseits und der Relevanz erzählter bzw. erzählerischer Architektur andererseits nachgewiesen. Allen Autorinnen und Autoren danken wir herzlich für ihr Engagement. Außerdem gilt unser Dank dem FRIAS, insbesondere dem damaligen Team mit Werner Frick als Sprecher des Direktoriums und der Wissenschaftlichen Koordinatorin Gesa von Essen für die finanzielle sowie logistische Unterstützung und Sara Landa für die Redaktion dieses Bandes samt Kommunikation mit dem de Gruyter Verlag.

Stephanie A. Glaser, Copenhagen

Space, Time, and Narrative The Literary Unfolding of Architecture Raymond Carver’s short story Cathedral consists of a deceptively straightforward narrative which seems to stress the inadequacy of words to represent the visible world, yet in so doing it actually probes and dramatizes the complexity of verbal language. Unfolding during an evening where past encounters, memories, and feelings intertwine in an intricate layering of temporalities and emotions, the story takes place in the home of the narrator, a blue-collar worker. He and his wife are to receive an old friend of hers, a blind man, whose own wife has recently died. The narrator feels both jealous at the friendly intimacy shared over the years by his wife and their visitor and uncomfortable with the man’s blindness. As the evening progresses the narrator’s uneasiness heightens until, left alone with the blind man after dinner, he turns on the television to escape conversation, finding only a documentary about medieval cathedrals. When the television reporter stops talking and the camera pans over the architecture, the narrator fills the awkward silence by describing what he sees on the screen: “They’re showing the outside of the cathedral now. Gargoyles. Little statues carved to look like monsters”.1 Slowly it dawns on him that the blind man doesn’t know what a cathedral looks like, and so he proceeds falteringly: “To begin with, they’re very tall. […] They reach way up. Up and up. Toward the sky. They’re so big, some of them, they have to have these supports. To hold them up, so to speak. These supports are called buttresses. They remind me of viaducts, for some reason. […] Sometimes the cathedrals have devils and such carved into the front. Sometimes lords and ladies. Don’t ask me why this is,” I said. […] I tried to think of what else to say. “They’re really big,” I said. “They’re massive. They’re built of stone. Marble, too, sometimes. In those olden days, when they built cathedrals, men wanted to be close to God.”2

Words fail him, falling short of the reality he is trying to express. While his first attempts at describing the “famous [cathedral] in Paris rising above the skyline” with “its spires reaching up to the clouds”3 are pictorial but

1 Raymond Carver, Cathedral [1983], London 2009, p. 209. 2 Ibid., p. 211. 3 Ibid., p. 209.

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lacking in originality, the longer he speaks, the more his efforts in describing cathedral height weaken: “They reach way up. Up and up. Toward the sky”, to fall back on the generic adjectives “tall” and “big”. While these commonplace words and pat phrases reflect the narrator’s background, they also conceal (or reveal, depending on how one looks at it) a process of discovery about Gothic architecture: these most simple words, “tall”, “up”, “big”, and the more descriptive “massive”, mark how the narrator’s focus shifts from a cathedral’s height to its bulk. Likewise, his naming of characteristic Gothic elements follows a pattern which, against the repeated background idea of height, moves from structural and functional elements (flying buttresses), to decorative aspects (statuary), to the building materials (stone and marble), and then beyond the physical realm to that of meaning. These thought processes reflect a gradual self-awakening that remains obscured until the narrator and the blind man draw a cathedral together. Reluctantly and with the blind man’s hand over his, the narrator begins drawing: First I drew a box that looked like a house. It could have been the house I lived in. Then I put a roof on it. At either end of the roof, I drew spires. Crazy. […] I put in windows with arches. I drew flying buttresses. I hung great doors. I couldn’t stop.4

What he could not adequately describe verbally, the narrator expresses pictorially – and passionately – in a manner that the blind man understands. Clearly the drawing represents no specific cathedral. It is a stereotypical image, made up of characteristic Gothic forms: spires, arched windows, flying buttresses, the visual equivalent of the tired phrases discussed above. Yet, as we have seen, Carver not only sets up words as clichés, but offers them as figures which are completed only by experience beyond the linguistic. Even as it is sketched, the edifice is filled in through the shared adventure of drawing. Indeed, the cathedral becomes a potent symbol around which the central themes of the story: community, vision, and language, coalesce and resonate in the act of drawing. What interests me here more than the meaning of the cathedral to the story, however, is the role played by the architectural description on the level of narrative. In the first instance, the verbal description of a Gothic cathedral participates in and furthers the narrative, both by reflecting the gradual and subtle development in the narrator’s thoughts and by carrying the action from a state of passive watching to an experience of actively creating. In the second case, drawing the cathedral, the description creates the narrative. The cathedral takes

4 Ibid., p. 213.

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shape as the act of drawing is narrated. The repetition of the short, simple, subject-verb-object sentences, “I drew spires. […] I put in windows with arches. I drew flying buttresses. I hung great doors. I couldn’t stop”, builds a momentum that reflects the narrator’s excitement and follows the completion of the drawing. Neither the picture as such nor its description can be seen independently from the narrative. Cathedral presents an extraordinary example of architectural description that carries the narrative forward; that is itself narrative. As such it can be likened to descriptions of buildings in travel literature, where the author/narrator guides the reader through a building, describing it in accordance with his movement around and within the architectural space.5 In such texts, architectural description is the point of the narrative, although the itinerary may coincide with personal reflections upon larger themes, as is the case in William Morris’s Shadows of Amiens.6 Nonetheless, Cathedral is not a travelogue. Although the narrator first reproduces verbally what the camera shows on the screen, his own description of a cathedral comes from his memory and, like his description of the drawing, follows a thought itinerary other than the circuit a visitor to a cathedral would take.7 Moreover, as we have seen, both his descriptions (of a cathedral and of his drawing) contain the seeds of, and bring to the surface, underlying meanings and themes which are essential to understanding the text. The difference between a text like Cathedral and a travelogue then is not merely one of genre or quality, for many travelogues are of high literary merit (John Ruskin’s Stones of Venice and Morris’s Shadows of Amiens come readily to mind),8 but one of literary intent.

5 Compare Mieke Bal: “When a space is presented extensively, an interruption of the time sequence is unavoidable, unless the perception of the space takes place gradually (in time) and can therefore be regarded as an event. When a character enters a church to sight-see and the interior of the church is presented ‘during’ its tour, there is no interruption”, Narratology: Introduction to the Theory of Narrative [1985], Toronto 2009, pp. 142–143. 6 William Morris, “Shadows of Amiens” [1856], in: Prose and Poetry (1856–1870) by William Morris, London 1913, pp. 617–631. 7 Traditionally, a visit proceeds from a distant to a proximate view of a building. Initially the conspicuous larger forms of the exterior are described, then the more intricate detail, and finally the interior. See, for example, Friedrich Schlegel at Cologne Cathedral in “Briefe auf einer Reise durch die Niederlande […]” [1804], in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, vol. 4, Hans Eichner (ed.), Munich 1959, pp. 177–185; and William Morris and Walter Pater at Amiens: Morris, “Shadows”, and Pater, “Notre-Dame d’Amiens” [1894] in: Miscellaneous Studies. A Series of Essays, London 1924, pp. 109–125. 8 John Ruskin, “Stones of Venice” [1851, 1853], 3 vols., in: The Works of John Ruskin, vols. 9–11, E. T. Cook/Alexander Wedderburn (eds.), London 1903, 1904.

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In this vein, I am interested in exploring architectural description in prose fiction as a privileged narrative space (which differs from the place described, the building or architectural setting where action occurs),9 what I call the unfolding of architecture, and its capacity to create powerful thematic resonances. In such cases, the description of a building does not suspend or interrupt the narrative flow, as is commonly the case with ekphrasis and other types of descriptions, rather it carries the larger narrative further or joins with it on a thematic level, generating an enclosed narrative that bears meaning of its own and at the same time serves to bring the major themes of a literary work to the fore.10 I will thus examine a number of semantic, lexical, syntactic, and narrative strategies used to verbally represent architecture and its unfolding in narrative, a process which involves the gaze of the beholder/narrator and which implicates both the movement of the eye (focalization) and the beholder’s physical position in relation to the architectural space.11 To better focus on the evocation of spatiotemporal dimensions, I will consider architectural representation through four different temporal layers. My ultimate aim is to create an initial typology of examples that betters our understanding of the kinds of architectural representations in literary texts and of the hows and whys of their depiction. For this, I will delineate three types of relationships that exist between architecture and narrative: where architecture paces the narrative, where its description brings the narrative forward, and where a description constitutes an enclosed narrative resonating with thematic significance.

I Space, Time, and Narrative I will focus on literary representations of medieval architecture as exemplary case studies because medieval edifices present the broadest possible range of archi-

9 In prose fiction it is possible to differentiate between architectural structures as place and as space, place being a site of action and space designating the status of architectural description on the level of narrative. I make this distinction based on Mieke Bal’s differentiation between space as a product of focalization and place as “a category of fabula elements”, Narratology, p. 134. 10 Analyzing the role of architectural description on the level of narrative is not the same as exploring a building’s symbolism (though it may contribute to understanding this), nor does it focus on the connections between a character and an architectural structure (Gothic-novel style), although aspects of such relationships will certainly be illuminated through such analysis. 11 Klaus Niehr has stressed the importance of the “Standort des Betrachters” in Gotikbilder – Gotiktheorien. Studien zur Wahrnehmung und Erforschung mittelalterlicher Architektur in Deutschland zwischen ca. 1750 und 1850, Berlin 1999. For focalization see Bal, Narratology, pp. 140, and pp. 153–165.

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tectural qualities. First, they engage almost all the senses, offering a multiplicity of visual encounters (colors, perspectives, degrees of light), varied acoustic features (reverberating bells and resonating organ music, which René de Chateaubriand so powerfully evoked in 1802),12 tactile (the feel of the stone and their interior coolness), and olfactory experiences (burning candles or incense, or the “cold night smell” that Stephen Dedalus attributes to the chapel at Clongowes Wood College).13 Secondly, from the infinitesimal details of their surface sculpture to their enormous mass, they manifest polar extremities of spatial dimension. Their exterior periphery and interior expansion include vertical ascension from profound depths to vast heights, extensive breadth, and horizontal depth. While these spatial aspects can be measured and presented as facts, they also offer constantly changing perspectives which influence the subjective experience of an edifice and are often depicted in literature. Thirdly, medieval edifices represent an extensive temporal span punctuated by moments of destruction, rebuilding, restoration, and upkeep that are recorded in their very structure. Of course, time is inextricable from space, and verbal representations of architecture construct space through a complex layering of time that is constituted, on the one hand, by duration or transitory moments, and on the other, by facts (such as dates) or subjective impressions, or a combination of the two. There are at least four temporal layers that can be distinguished. 1.) The age of an edifice. This includes the time span of its construction and later periods of restoration, moments which are visibly recorded in the material, style, and building particularities, facts which remain even when only approximate dates are known. Seen in this way, age is durative, stretching from the distant past into the future.14 2.) The time of viewing. This has both a subjective side, in the actual time it takes the beholder to walk around, through, and examine an edifice, and a factual one which is the season or hour of the day in which the visit occurs. This fact, along with weather conditions, determines the fall of light upon an edifice and thus has subjective consequences, for it will influence the experience of an edifice: whether it can be seen clearly or not, the play of light and shadow both inside and outside, and the feelings evoked by radiant luster or gloomy dimness. This category deals with the transitory. 3.) The time of narrating. Occurring at any

12 René de Chateaubriand, Génie du Christianisme [1802], Paris 1966, Vol. I, pp. 388–401. 13 James Joyce, Portrait of the Artist as a Young Man (1916), New York 1984. 14 Marcel Proust stresses this in the description of the church at Combray and in the closing pages of Le Temps Retrouvé. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, 4 vols., Paris 1987–1989, vol. I, pp. 60–66; vol. IV, pp. 623–625. I have elaborated this concept in my forthcoming article “Construire comme une église: À la recherche du temps perdu, et la tradition de l’analogie architecturale”, in: Proust et les „Moyen Âge“, Sophie Duval/Miren Lacassagne (eds.) forthcoming.

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temporal distance from the moment of viewing, this is bound up with memory and vision and results in a subjective “reconstruction” of the experience of beholding. 4.) Mythical, legendary, or visionary time associated with an edifice. This is a subjective category, dependent upon the beholder/narrator for whom a building serves as a springboard or an index to an otherworldly time. While these categories may not be applicable in every instance of architectural description – and there may be more categories than these –, they are part and parcel of most descriptions of medieval architecture. Not all architectural descriptions intend to capture time and space verbally. In some cases architectural time is privileged over the creation of space. In Ken Follett’s Pillars of the Earth (1989) or Ildefonso Falcones’s La catedral del mar (2006) architecture paces the narrative.15 Both are epic historical novels where the incidents narrated correspond to various stages in the construction of a Gothic edifice. Both open at the early stages of building, introducing the main character in connection with the building, and close after the edifice has been completed in all its majesty. Both are teleogical, in the sense that the completion of the edifice is the goal, and setbacks in its construction affect the lives of the characters. Indeed, in both novels, the edifice holds the narrative together, underlying at every juncture the history of a family and the concurrent historical and political events that are followed over generations. Another example of narrative pacing, Umberto Eco’s novel Il nome della rosa (1980) meticulously intertwines space and time. During the early stages of writing Eco studied architectural blueprints and photographs in order to re-create the space of a medieval abbey, establishing, for example, the precise number of stairs in different locations and the distances from one part of the abbey to another. With these measurements, he could then judge how much time it would take, for example, to go from the refectory to the cloister and in consequence, he trimmed the conversations to last as long as the characters walked from one room or building to another.16 This means that when they arrived at their destination, the conversation had to end. Since the time of speaking corresponds exactly to the time of traversing the architectural space, the architecture of the abbey is both inherent to and inseparable from the narrative. It paces the dialogues and much of the action, and, in a more intimate way than Follet’s and Falcones’s novels, it influences the narrative flow.

15 Ken Follet, The Pillars of the Earth, London 1999; Ildefonso Falcones, La catedral del mar, Madrid 2008. 16 Umberto Eco, Postille a “Il nome della rosa” (1983), in: Il nome della rosa (1980), Milano 2010, p. 514; Eco, “Postscript” (1984), in: The Name of the Rose, William Weaver (tr.), London 1994, p. 513.

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II Narrative Unfolding of Space Notre-Dame de Paris (1831/32) illustrates Victor Hugo’s masterful command of verbal structures to create space, such as in his description of cathedral façade early in the novel, which through syntax (the description of the façade constitutes a dependent clause within a larger sentence) and lexical and semantic choices (participles derived from verbs of movement) creates a dynamic space that is both captured through the time it takes for the eye to take it in and yet compressed into the singular moment of the dependent clause.17 In other passages Hugo uses different techniques to portray the spatiotemporal dimension of architectural structures.18 Of particular interest is an ekphrastic passage where Quasimodo’s movements delimit the cathedral space: its vertical ascension, horizontal extension, and its depth.19 In the following passage the description of the cathedral is inseparable from the action and is part of the narrative flow. Personne n’avait encore remarqué, dans la galerie des statues des rois, sculptés immédiatement au-dessus des ogives du portail, un spectateur étrange qui avait tout examiné jusqu’alors avec une telle impassibilité, avec un cou si tendu, avec un visage si difforme, que, sans son accoutrement mi-parti rouge et violet, on eût pu le prendre pour un de ces monstres de pierre par la gueule desquels se dégorgent depuis six cents ans les longues gouttières de la cathédrale. […] Et dès les premiers instants […] il avait fortement attaché à l’une de ces colonnettes de la galerie une grosse corde à nœuds, dont le bout allait traîner en bas sur le perron. […] Tout à coup, […] il enjamba la balustrade de la galerie, saisit la corde des pieds, des genoux et des mains, puis on le vit couler sur la façade, comme une goutte de pluie qui glisse le long d’une vitre, courir vers les deux bourreaux avec la vitesse d’un chat tombé d’un toit, les terrasser sous deux poings énormes, enlever l’égyptienne d’une main, comme un enfant sa poupée, et d’un seul élan rebondir jusque dans l’église en élevant la jeune fille au-dessus de sa tête, et en criant d’une voix formidable : Asile ! [...] Quasimodo s’était arrêté sous le grand portail. Ses larges pieds semblaient aussi solides sur le pavé de l’église que les lourds piliers romans.20

17 Victor Hugo, Notre-Dame de Paris. 1482 [1831/32], Paris 1991, pp. 154–155; Notre-Dame de Paris, Alban Krailsheimer (tr.), Oxford 1999, p. 119–120. 18 For an analysis of these, see Stephanie A. Glaser, “The Gothic Façade in Word and Image: Romantic and Modern Perspectives on Notre-Dame de Paris”, in: Media Inter Media: Essays in Honor of Claus Clüver, Stephanie A. Glaser (ed.), Amsterdam/New York 2009, pp. 59–94, esp. pp. 65–71. 19 I would like to thank Hans Lund, for pointing this passage out to me. 20 Hugo, Notre-Dame, pp. 447–448; Notre-Dame, pp. 375–376: “No one had yet noticed in the gallery of the statues of the kings, carved immediately above the arches of the doorway, a strange spectator who had so far been observing everything impassively, his neck so outstretched, his face so deformed, that but for his costume, half red and half violet, he could have been taken for one of those stone monsters through whose jaws the cathedral had been discharging for six

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The symbiosis between Quasimodo and the cathedral, elaborated upon throughout the novel, is here underscored in two ways. First, he is likened to the gutter statues and to the cathedral’s Romanesque pillars, the former highlighting his grotesquely shaped body, and the latter his bulk and his firmness, both bodily and mental. Inversely, his depiction indirectly describes the statuary and brings out the character of the pillars. Secondly, the lower portion of the façade is described through the presence of Quasimodo in the gallery of kings. Each of his ensuing actions is connected to architectural elements: tying a rope to one of the columns, letting it down over the now vanished stairs at the cathedral’s foot, climbing over the balustrade and slowly sliding down the front of the edifice. Conventionally, ropes and various objects hanging from vaults serve, when observed from below, as indicators of ascending height,21 yet here Hugo focuses on the descent – of the rope and of Quasimodo –, suggesting both the distance between the gallery and the ground, and, with the simile of the raindrop sliding down a window pane, the time it takes him to descend. Just as the cathedral is the space where Quasimodo stands or moves, its age provides a backdrop of durative time, against which his slow descent and then his swift movements are highlighted. The gutter statues are indexes of this time span, for the narrator’s comment about their six-hundred year function underscores a temporal and functional continuity between their sculpting in the thirteenth century and the narrated nineteenth-century present. In this novel, where a major theme contrasts the past with the present and aims to make the past palpable for the reader, these sculptures aid in establishing the long duration of the edifice. After running over to and knocking down the guards, Quasimodo picks up La Esmeralda, then leaps into the church with her and cries “Asylum!” From this point on, the action and the narration speed up simultaneously, paced by the gaze of the excited crowd:

hundred years. This spectator had missed nothing of what had been going on since midday before the portal of Notre-Dame. And from the very first moments, without anyone thinking of watching him, he had firmly secured to one of the colonnets of the gallery a stout knotted rope, its end trailing down on the steps below. With that done, he had been calmly watching […]. Suddenly, at the moment when the executioner’s assistants were preparing to carry out Charmolue’s phlegmatic order, he climbed over the balustrade of the gallery, gripped the rope with feet, knees, and hands, then they saw him slither down the façade, like a raindrop sliding along a window pane, run towards the two executioners as swiftly as a cat fallen from a roof, lay them low with his two huge fists, pick up the gypsy in one hand, like a child with its doll, and in a single bound leap back into the church, lifting the girl over his head and crying in a formidable voice: ‘Asylum!’ [...] Quasimodo had stopped beneath the great portal. His broad feet seemed to stand as solidly on the pavement of the church as the heavy Romanesque pillars”. 21 See for example Morris’s “Shadows of Amiens” or Edgar Allen Poe, “Ligeia” [1838], in: Tales of Mystery and Imagination, London 1995, pp. 167–188, esp. p. 176.

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Cependant, après quelques minutes […] Quasimodo s’était brusquement enfoncé dans l’église avec son fardeau. Le peuple, amoreaux de toute prouesse, le cherchait des yeux sous la sombre nef […]. Tout à coup on le vit reparaître à l’une des extrémités de la galerie des rois de France. Il la traversa en courant comme un insensé, en élevant sa conquête dans ses bras, et en criant : Asile ! La foule éclata de nouveau en applaudissements. La galerie parcourue, il se replongea dans l’intérieur de l’église. Un moment après il reparut sur la plateforme supérieur, toujours l’égyptienne dans ses bras, toujours courant avec folie, toujours criant : Asile ! Et la foule applaudissait. Enfin, il fit une troisième apparition sur le sommet de la tour du bourdon ; de là il sembla montrer avec orgueil à toute la ville celle qu’il avait sauvée et sa voix tonnant […] répéta trois fois avec frénésie jusque dans les nuages : Asile ! asile ! asile !22

Quasimodo’s frenetic running through, up, and across the cathedral demarcates its interior and the exterior spaces. First the crowd sees him disappear into the darkness of the nave, then appear again on the gallery, running across it shouting “Asylum!”, to which they applaud wildly. When Quasimodo dives into the cathedral to re-emerge on the upper platform still crying “Asylum!”, they answer again by clapping. Vanishing once more, he reappears at the top of the bell tower holding the girl and screaming “Asylum!” The narration is punctuated by Quasimodo’s cries and the people’s responsive applause. This visual and aural interaction draws attention to each stage of his ascent of the cathedral, delimiting both its breadth and vertical rise. Silence and Quasimodo’s disappearance evoke the interior, and the adverbial expressions “tout à coup” and “un moment après”, mark the breakneck speed at which he mounts the internal, unseen stairs. While the interior space seems hereby compressed, the external dimensions of the cathedral appear extended by the narration of his running from side to side, his shouting and the crowd’s clapping. In this manner, the narrative of Quasimodo’s triumphal rescue of La Esmeralda, serves to unfold the cathedral in its threedimensional space.

22 Hugo, Notre-Dame, p. 449; Notre-Dame, p. 377: “Meanwhile, after some minutes of triumph, Quasimodo had abruptly plunged into the church with his burden. The people, enthusiastic about any daring deed, tried to spy him in the darkness of the nave […]. Suddenly they saw him reappear at one end of the gallery of the kings of France, he ran along it like a man demented, raising his conquest in his arms and shouting. ‘Asylum!’ The crowd broke into fresh applause. When he reached the end of the gallery, he plunged back inside the church. A moment later, he reappeared on the upper platform with the gypsy still in his arms, still running like a madman, still shouting: ‘Asylum!’ And the crowd applauded. Finally he made a third appearance, on top of the great bell’s tower; from there he seemed to be displaying proudly to the whole town the girl whom he had rescued and his thunderous voice, […] repeated three times, in a frenzy, up into the clouds: ‘Asylum! asylum! asylum!’”.

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III Architectural Description as Narrative Unfolding At all appearances a fairy tale, Émile Zola’s novel Le Rêve (1888), skeptically treats the resurgence of religious ardor and enthusiasm for Christian mysticism coinciding with the Catholic revival at the end of the nineteenth century. Zola’s cynicism comes through in his characterization of the cathedral, which seems to benevolently protect the village, Beaumont-l’Église, and all that seek sanctuary there, but in reality is a kind of dominating and jealous mother, as the omniscient narrator hints at the novel’s opening: “La cathédrale explique tout, a tout enfanté et conserve tout. […] On n’y habite que pour elle et par elle […]. Elle bat au centre [de la ville], chaque rue est une de ses veines, la ville n’a d’autre souffle que le sien.”23 The city exists only to serve the needs of the cathedral, which gives it life – and takes it. It is not by chance that death is thematized at the novel’s beginning and end.24 The omniscient narrator of Le Rêve recounts the story of the orphaned Angélique Rougon, who grows up in the home of her adopted parents in the shadow of the cathedral. Seen through her eyes, the cathedral’s exterior is described early in the novel. While the narrative voice indicates that Angélique is still a child at the time of the description, the time of viewing is not indicated by any other exterior phenomenon, such as sunlight or weather. This serves to present a timeless vision of the cathedral: Mais la cathédrale, à sa droite, la masse énorme qui bouchait le ciel, la surprenait plus encore. Chaque matin, elle s’imaginait la voir pour la première fois, émue de sa découverte, comprenant que ces vieilles pierres aimaient et pensaient comme elle. Cela n’était point raisonné, elle n’avait aucune science, elle s’abandonnait à l’envolée mystique de la géante, dont l’enfantement avait duré trois siècles et où se superposaient les croyances des générations. En bas, elle était agenouillée, écrasée par la prière, avec les chapelles romanes du pourtour, aux fenêtres à plein cintre, nues, ornées seulement de minces colonnettes, sous les archivoltes. Puis, elle se sentait soulevée, la face et les mains au ciel, avec les fenêtres ogivales de la nef, construites quatre-vingts ans plus tard, de hautes fenêtres légères, divisées par des meneaux qui portaient des arcs brisés et des roses. Puis, elle quittait le sol, ravie, toute droite, avec les contreforts et les arcs-boutants du chœur, repris et ornementés deux siècles après, en plein flamboiement du gothique, chargés de clochetons, d’aiguilles et de pinacles. Des gargouilles, au pied des arcs-boutants, déversaient les eaux des toitures.

23 Émile Zola, Le Rêve (1888), Paris 1986, pp. 43–44; The Dream, Eliza E. Chase (tr.), 1893, New York/Berlin 2005, p. 12: “The Cathedral explains everything, has given birth to and preserved everything […]. One lives there simply for it, and only by it. […] The church dominates all; each street is one of its veins; the town has no other breath than its own”. 24 Danielle Chaperon lays out these themes in her article, “L’autre cathédrale, Le Rêve d’Èmile Zola et de Carlos Schwabe”, in: La cathédrale, Joëlle Prungnaud (ed.), Lille 2001, pp. 99–115.

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On avait ajouté une balustrade garnie de trèfles, bordant la terrasse, sur les chapelles absidales. Le comble, également, était orné de fleurons. Et tout l’édifice fleurissait, à mesure qu’il se rapprochait du ciel, dans un élancement continu, délivré de l’antique terreur sacerdotale, allant se perdre au sein d’un Dieu de pardon et d’amour. Elle en avait la sensation physique, elle en était allégée et heureuse, comme d’un cantique qu’elle aurait chanté, très pur, très fin, se perdant très haut.25

The first sentence evokes the cathedral’s height and bulk. From Angélique’s position, the immense edifice blocks any view of the sky. What she can see well, however, are the cathedral’s external forms, which are described both temporally and spatially. The first indication of time is the cliché “vielles pierres”, followed by a time span, three centuries of the cathedral’s creation. As if to explain this duration, time is presented as changes of style and different periods: eighty years after the Romanesque, the Gothic windows were built, and two centuries later the flamboyant Gothic ornaments were carved. These temporal indicators are intertwined with spatial extension as the cathedral’s periphery is circumscribed, with the gaze moving around and up the edifice from the Romanesque chapels and their windows on the lower level, to the openwork tracery of the Gothic windows of the nave’s upper level, and finally to the outermost (because added later) and uppermost elements: the pinnacles crowning the radiating chapels of the chevet and the

25 Zola, Le Rêve, p. 84; The Dream, p. 49: “But the Cathedral at her right, the enormous mass which obstructed the sky, surprised her yet more. Each morning she seemed to see it for the first time; she made constant discoveries in it, and was delighted to think that these old stones lived and had lived like herself. She did not reason at all on the subject, she had very little knowledge, but she gave herself up to the mystic flight of the giant, whose coming into existence had demanded three centuries of time, and where were placed one above the other the faith and the belief of generations. At the foundation, it was kneeling as if crushed by prayer, with the Romanesque chapels of the nave, and with the round arched windows, plain, unornamented, except by slender columns under the archivolts. Then it seemed to rise, lifting its face and hands towards heaven, with the pointed windows of its nave, built eighty years later; high, delicate windows, divided by mullions on which were broken bows and roses. Then again it sprung from the earth as if in ecstasy, erect, with the piers and flying buttresses of the choir finished and ornamented two centuries after in the fullest flamboyant Gothic, charged with its bell-turrets, spires, and pinnacles. A balustrade had been added, ornamented with trefoils, bordering the terrace on the chapels of the apse. Gargoyles at the foot of the flying buttresses carried off the water from the roofs. The top was also decorated with flowery emblems. The whole edifice seemed to burst into blossom in proportion as it approached the sky in a continual upward flight, as if, relieved at being delivered from the ancient sacerdotal terror, it was about to lose itself in the bosom of a God of pardon and of love. It seemed to have a physical sensation which permeated it, made it light and happy, like a sacred hymn it had just heard sung, very pure and holy, as it passed into the upper air”.

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flying buttresses, the vegetal ornamentation of the roof, a veritable soaring floral explosion, “tout l’édifice fleurissat, à mesure qu’il se rapprochait du ciel”. In these architectural details, the passage records the seamless evolution of medieval architecture. Like all French literary descriptions of Gothic cathedrals, the passage is indebted to Hugo’s Notre-Dame de Paris.26 Hugo characterized the Romanesque as a product of priestly mystery, with its heavy pillars and massive structure symbolic of the church weighing down upon the people, and he held the Gothic to be a secularly inspired architecture, with the pointed arch representing the breaking of the ecclesiastical yoke.27 After Hugo, both Jules Michelet and Ernest Renan wrote histories of medieval architecture as narratives, with the Gothic and the worldview it represented triumphing over the Romanesque and eventually degenerating in the fifteenth century as mentality and belief changed.28 Upon this already existing narrative of architectural transformation, Zola (for it is his voice here that underlies that of the narrator), embeds the history of Gothic architecture in a narrative of transformation – from physical heaviness and solidity to soaring lightness, from unornamented mass to decorative multiplicity, and semiotically, from sacerdotal terror to freedom found in God’s love. As such, it recounts a process of mystical transformation. Zola thus ignores the popular, secular interpretations of the Gothic to offer an interpretation of its characteristic forms as human movements. The sentence structure emphasizes this, for the main clause of each sentence describes a movement: “En bas, elle était agenouillée […]. Puis, elle se sentait soulevée […]. Puis, elle quittait le sol […]”, and the stylistic details take a subordinate status in prepositional phrases beginning with “avec”. Zola thus has Angélique personify the cathedral as if it were a medieval mystic or a saint, like the statues of medieval saints whom she admires as heroines and considers her friends: first crushed down to kneel in prayer, then raising her face and hands up to God, and finally standing erect in ecstasy and divine union. The edifice’s vertical spatial extension is exaggerated, ascending higher than the clouds, into the very bosom of God.

26 Hugo describes the Romanesque-Gothic polarity in the chapter “Notre-Dame”. For more on this polarity in the European context, see my Explorations of the Gothic Cathedral in NineteenthCentury France, PhD Diss, Indiana University 2002, Ann Arbor 2002, ATT 3075993, pp. 370–385. For the historical view of the Gothic cathedral in French literature from Hugo to Proust, see my forthcoming article “Construire comme une église”. 27 I discuss this interpretation of the pointed arch in “Lectures de l’ogive au XIXe siècle”, in: Isabelle-Durand-Le Guern (ed.), Images du Moyen Age, Rennes 2006, pp. 333–347. 28 Jules Michelet, “Histoire de France. Moyen Age” [1833], in: Œuvres Complètes, Paul Viallaneix (ed.), vol. 4, Paris 1974; Ernest Renan. “L’Art du moyen âge et les causes de sa décadence”, in: Revue des deux mondes, 1862, pp. 203–228.

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This imposes an otherworldly time upon the cathedral, that of a mystic union with the divine. Such a union can only take place out of time, yet still presents for Angélique a much desired future. Beyond these categories of space and time, the edifice is transformed from an enormous mass to something almost immaterial, like an intangible, floating song. This final transformation encapsulates the larger narrative of the novel in miniature, for it exemplifies one of the novel’s major themes, the Christian battle between the body and the spirit. On another level, in its transformation from physical mass to soaring spirit, the edifice depicts Angélique’s desire to be like the saints and be absorbed into a mystical union with deity. In short, her own trajectory is imprinted in the cathedral. One can read in it her transformation from the orphan dying of cold and seeking refuge in the cathedral’s portals through her experience of family, church, and love, until she dies in ecstasy inside the flowerfilled cathedral during her wedding ceremony, finally achieving pure love and unity with the divine. Not only does she follow the path she saw represented in the cathedral, she becomes engulfed in a mystical way of perceiving reality to be claimed, ultimately by the jealous cathedral.

IV Narrative Unfolding and Closing In of Architectural Space In his Postille a “Il nome della rosa” (1983) Umberto Eco comments how early on the novel began to take the form of an opera buffa, with the narrative alternating between recitative dialogues and arias describing the abbey.29 One of these “arias” is Adso of Melk’s description of the entryway of the abbey church. I would like to look at this “aria” as a narrative, both in its structure and in its role as a passage from one kind of narrative experience to another. To take the musical metaphor further, through the description of the church, its entrance, and the portal sculptures, the text modulates towards a visionary experience. It opens, however, on an objective level, placing the abbey church architecturally within a larger European context: La chiesa non era maestosa come altre che vidi in seguita a Strasburgo, a Chartres, a Bamberga e a Parigi. Assomigliava piuttosto a quelle che già avevo visto in Italia, poco inclini a elevarsi vertiginosamente verso il cielo e saldamente posate a terra, spesso più larghe che alte; se non che a un primo livello essa era sormontata, come une rocca, da una serie di merli quadrati, e sopra a questo piano si elevava una seconda costruzione, più che una torre, una solida seconda chiesa, sovrastata da un tetto a punta e traforata di severe

29 Eco, Postille, p. 517; Postscript, p. 517.

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finestre. Robusta chiesa abbaziale come ne costruivano i nostri antichi in Provenza e Linguadoca, lontana dalle arditezze e dall’eccesso di ricami propri dello stile moderno, che solo in tempi più recenti, credo, si era arricchita, sopra il coro, di una guglia arditamente puntata verso la volta celeste.30

This description constitutes a brief overview of medieval architecture. Differing from the conventional nineteenth-century view which underlies Zola’s description, it does not offer a symbolic interpretation of architectural style, but presents it according to region and time, in keeping with the aged Adso’s standing as man of reason looking back on the events he is narrating. He opens the description by mapping out the central territory of medieval architecture, the Gothic in northern France and southern Germany, naming great cathedrals he has seen in his life, between the time of narration and the events recounted here. His focus then moves to the immediate context of Italy where the edifices contrast in aspect and in proportion with the vertically ascending Gothic, being firmly implanted in the earth and broader than they are high, like the abbey church, whose exterior he then describes. He then broadens the content of the next sentence to the regional and stylistic context of the Romanesque edifices of Provence and the Languedoc, the bastion of Romanesque architecture. Naming the cities and regions associated with medieval architectural, the text circumscribes the geographical space around the abbey church, as if it were the center of this universe. This move is echoed in the syntax, for the opening sentences about the Gothic and the closing one about the Romanesque frame the description of the church exterior, emphasizing its centrality in the paragraph and to the novel. This single-sentence description of the church’s exterior forms follows two literary conventions, the first is the Hugolian method of capturing an architectural whole in the temporal unit of the sentence even as it depicts the incremental act of viewing in its clauses; the second, also used by Hugo – and by Zola –, replicates the gaze as it follows the vertical ascension of the edifice

30 Eco, Il nome della rosa, p. 48; The Name of the Rose, p. 40: “The church was not majestic like others I saw later at Strasbourg, Chartres, Bamberg, and Paris. It resembled, rather, those I had already seen in Italy, with scant inclination to soar dizzyingly toward the heavens, indeed firmly set on the earth, often broader than they were high; but at the first level this one was surmounted, like a fortress, by a sequence of square battlements, and above this story another construction rose, not so much a tower as a solid, second church, capped by a pitched roof and pierced by severe windows. A robust abbatial church such as our forefathers built in Provence and Languedoc, far from the audacity and the excessive tracery characteristic of the modern style, which only in more recent times has been enriched, I believe, above the choir, with a pinnacle boldly pointed toward the roof of the heavens”.

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and is a conventional strategy for emphasizing height.31 Here the upward movement of the horizontal structures is further underscored with verbs of elevation: “sormontare”, “elevarer” and “sovrastare”. Its massive body is topped by crenellated walls, above which its tower ascends, like a second church, perforated with austere windows in openwork tracery and ending in a pointed roof. Normally architectural style is an indicator of the age of an edifice, as we saw with Zola, yet here it also works on the narrative level. The church is described as how it looked at the time the young monk first beheld it.32 This explains why the “modern style” steeple, which was recently added (“solo in tempi più recenti”) is mentioned in the following sentence, for this architectural element points to the time of narration, the late fourteenth-century, rather than to the time of viewing. Thus the church is not only framed syntactically and geographically, but temporally as well, with the description of how it looked at the time of viewing enclosed between two sentences that refer to later time periods. The following paragraph leaves the larger geographical and temporal context and the general aspect of the edifice to focus on the structure of the portal: Due colonne diritte e pulite antistavano l’ingresso, che appariva a prima vista come un solo grande arco: ma dalle colonne si dipartivano due strombature che, sormontate da altri e molteplici archi, conducevano lo sguardo, come nel cuore di un abisso, verso il portale vero e proprio, che si intravvedeva nell’ombra, sovrastato da un gran timpano, retto ai lati da due piedritti e al centro da un pilastro scolpito, che suddivideva l’entrata in due aperture, difese da porte di quercia rinforzate di metallo. In quell’ora del giorno il sole pallido batteva quasi a picco sul tetto e la luce cadeva di sghimbescio sulla facciata senza illuminare il timpano: così che, superate le due colonne, ci trovammo di colpo sotto la volta quasi silvestre delle arcate che si dipartivano dalla sequenza di colonne minori che proporzionalmente rinforzavano i contrafforti. Abituati finalmente gli occhi alla penombra, di colpo il muto discorso della pietra istoriata, accessibile com’era immediatamente alla vista e alla fantasia di chiunque (perché pictura est laicorum literatura), folgorò il mio sguardo e mi immerse in una visione di cui ancor oggi a stento la mia lingua riesce a dire.33

31 Glaser, Gothic Façade, pp. 68–71. 32 Adso states that the events he is recounting took place in the 1320s, Eco, Il nome della Rosa, p. 21; The Name of the Rose, p. 13. 33 Eco, Il nome della Rosa, pp. 48–49; The Name of the Rose, pp. 40–41: “Two straight and unadorned columns stood on either side of the entrance, which opened, at first sight, like a single great arch; but from the columns began two embrasures that, surmounted by other, multiple arches, led the gaze, as if into the heart of an abyss, toward the doorway itself, crowned by a great tympanum, supported on the sides by two imposts and in the center by a carved pillar, which divided the entrance into two apertures protected by oak doors reinforced in metal. At that hour of the day the weak sun was beating almost straight down on the roof and the light fell obliquely on the façade without illuminating the tympanum; so after passing the two columns, we found ourselves abruptly under the almost sylvan vault of the arches that sprang from the series of lesser

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Each of the three sentences of this description represents a stage in Adso’s approach to the doors of the church. The first is the unfolding of the architectural structure; the second marks his step under the tympanum; and the third, his access to the doors. This is not a large space, yet the prolonged description and the emphasis on the movement of the eye into the shadowy area bestows it with an exaggerated depth. Moreover, the incremental movements recorded, and the time it takes to recognize what is being seen makes the time of the viewing seem relatively long. Actually, this description contrasts with all that we have discussed up to this point, for after unfolding the expanse of an edifice, it closes in on the small area to highlight the tiny details of its carved sculptures, which, in turn, open up a dazzling vision. It thus traces a three-staged movement from the outside to the inside to the inmost subjective realm, from a greater space (portal) to a more intimate one (doors) to an uncircumscribable visionary space that marks an otherworldly time. This is a narrative of traversing the threshold and of progressing from weak daylight through murky dimness to brilliant vision. The process of perception (metaphorically speaking, of coming to understanding) is one of the major themes of this paragraph – and of the novel, with its mystery to be solved –, that is to say, getting accustomed to what is before the eye and then understanding what is really there. Not by chance does each sentence bring up the theme of observation in shadowy light, which carries thematic reverberations alluding to the state of ignorance in which Adso and William of Baskerville find themselves at this stage. The words “ombra”, “il sole pallido” and “penombra” function too as temporal indicators. Adso and William visit the church at midday, when the pale sunlight of the end of November barely illuminates the façade, leaving most of the entry in shadow.34 Seen in this light, the church entryway seems to be under one huge arch, but Adso realizes that this arch is actually two embrasures preceding an unfolding of manifold arches. What appears single is actually divided and introduces an ungraspable multiplicity of like forms. Thematically, this can represent the process of attaining knowledge (solving a mystery), or it may symbolize the young monk’s progression from naïve ignorance to

columns that proportionally reinforced the embrasures. When our eyes had finally grown accustomed to the gloom, the silent speech of the carved stone, accessible as it immediately was to the gaze and the imagination of anyone (for images are the literature of the layman), dazzled my eyes and plunged me into a vision that even today my tongue can hardly describe”. 34 The novel is structured according to monastical time, sectioned into chapters representing seven days that are divided into hours of the offices, Prime, Terce, Sext, None, with the seventh chapter taking place at night. Adso comes to the abbey at the end of November and visits the church on the first day at the sixth hour. Eco, Il nome della Rosa, p. 29; The Name of the Rose, p. 21.

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increasing wisdom. Seen in this respect, the church door “aria” is a narrative of coming of age. The first sentence of the description unfolds the structure of the portal. Its intricacy seems to replicate the complexity of the architectural structure and calls attention to how each architectural element acts with and upon the others in the self-sufficient, dynamic whole of the outside entry: the columns stand (“antistavano”); the embrasures depart from the columns (“si dipartivano”) and are surmounted (“sormontante”) by the unfolding arches; the two piers and the central pillar divide (“suddivideva”) the entrance into two openings, which are protected (“difese”) by the oaken doors. This sentence is a narrative of cause and effect that spells out the interrelation of parts in a complex interlacing of syntax, semantics, and vocabulary. Moreover, it traces the movement of the eye upwards and then inwards. This horizontal line, emphasizing the depth of the space, is crucial for its closing in and thus to the narrative import of the passage. Just as the architectural members work with each other, they also act upon the beholders, leading (“concucevano”) their gaze, and indirectly their bodies, into the portals shadows, where they suddenly find themselves beneath the forest-like vault of the arch. Finally, after their eyes adjust to the dimness, Adso examines the sculpture, whose silent speech (“il muto discorso”) forcefully hits him (“folgoró”) and plunges him (“me immerse”) into an apocalyptic vision straight out of the Book of Revelation, which seems to communicate what is happening at the monastery and foreshadow the end of their inquest.35 The vision marks an otherworldly time, which here sets Adso’s near future in parallel with the distant end of the world and the Day of Judgment, when time no longer exists. At this stage Adso does not yet enter the church, instead the portal allows him access to this subjective and timeless realm. The entire two-paragraph description presents the church entrance as a space of passage between two realities. Given that an entrance portal is a luminal space, literally the passage from the outside world to the inner sanctuary of the church and, symbolically speaking, from the earthly realm to the heavenly,36 it is not surprising that the text emphasizes this point on the narrative, symbolic, and structural levels. Just as the first paragraph frames the description of the church exterior between two geographical, temporal, and stylistic worlds, the description of the entrance provides a bridge from the greater world of the first paragraph and

35 Eco, Il nome della Rosa, p. 53; The Name of the Rose, p. 45. 36 For an in-depth discussion of liminality, see Margrete Syrstad Andås, “Art and Ritual in the Liminal Zone”, in: The Medieval Cathedral of Trondheim. Architectural and Ritual Constructions in their European Context, Margrete Syrstad Andås/Øystein Ekroll/Andreas Haug/Nils Holger Petersen (eds.), Turnhout 2007, pp. 47–126.

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the visionary realm of the ensuing paragraphs. The larger structure of the text hereby replicates the function of the portal as passage from the larger outside world to another realm. The unfolding of space becomes a movement that successively closes in on the space to describe narrower and smaller spaces. In closing in the architectural space, the narrative emphasizes physical and symbolic role of the entryway as a passage to a temporally and physically limitless space.

V The Unfolding of Architecture The literary unfolding of architecture constitutes more than describing a place of action or a background for events that forward the plot. It literally folds out within the narrative space, carrying a narrative forward, as we saw with Carver and Hugo, or constituting a narrative of its own, as in the passages by Zola and Eco. In each case we have studied, the architectural representation highlights larger themes of a work by creating, for example, narratives of transformation or trajectories of a character, narratives of passage or of a process of enlightenment, and narratives that replicate thought patterns and/or build up a climactic moment. The study of architectural representation is thus doubly complex, both in the verbal strategies that are used to re-create the spatiotemporal dimension of architecture and in the kinds of thematic repercussions incited by description of a building. While the thematic significance of architecture is a common literary theme, I believe that looking at architectural representation through the kind of typology laid out here alerts us not only to literary craft, but to the many ways in which temporal indicators play their subtle and easily unnoticed role. Besides this, it calls attention to the dynamics of such architectural descriptions, whether through the movements of a character, of the narrating gaze, or of the narrative itself. It enlivens the subject of architectural representation in providing means of accessing and exploring in depth the complex interweaving of space and time within narrative.

Ulrich Ernst, Wuppertal

Der Roman als Transkript der Kathedrale bei Hugo, Huysmans und Proust Gattungsprofile – Illustrationszyklen – Bucharchitekturen I Konzeptionelle Projektionen In dem folgenden Beitrag soll, an frühere Studien anknüpfend,1 die Korrelation zwischen literarischer Gattung, hier dem Roman, und einer Disziplin der bildenden Kunst, hier der bis in die Neuzeit noch als Ars mechanica geltenden Architektur, mit interdisziplinärer Methode fokussiert werden. Die Explorationen konzentrieren sich auf eine Trias von Romanen, die allesamt in Frankreich entstanden sind und deren Genese in die Zeit zwischen Romantik und Belle Époque fällt: 1. Victor Hugos Notre-Dame de Paris 1482 (1831, erweitert 1832, dt.: Der Glöckner von Notre Dame); 2. Joris-Karl Huysmans’ La Cathédrale (1898, dt.: Die Kathedrale. Chartres – ein Roman); 3. Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1913–1927, dt.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; da Proust 1922 verstarb, erschienen die Schlussbände des Romanzyklus postum). Dieser Ternar narrativer Makrotexte bildet die Basis für eine generistische Konzeptualisierung des Kathedralromans als Subspezies des Architekturromans, die sich bis auf mittelalterliche Ursprünge, den Tristan Gottfrieds von Straßburg mit seiner auf einer gotischen Romankonzeption basierenden Minnegrotte2 und den Jüngeren Titurel Albrechts von Scharfenberg mit dem zentralen Thema des in

1 Vgl. u.a. Ulrich Ernst, „Text als Architektur – Architektur als Text“, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Katalog, München 2006, S. 113–127, S. 442–444; übers. ins Spanische: „Texto como Arquitectura – Arquitectura como Texto“, in: Juan Calatrava/Winfried Nerdinger (Hrsg.), Arquitectura Escripta, Madrid 2010, S. 149–161. 2 Zu Raumqualitäten der ‚Minnekathedrale‘ unter der Erde wie Weite und Höhe, Vertikalismus mit Aufwärtsbewegung hin zum Schlussstein des Gewölbes, Lichtinszenierungen und Ausdeutung der Bauteile nach dem Muster der Allegorese des Kirchengebäudes vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 2, Rüdiger Krohn (Hrsg.), Stuttgart 21981, V. 16923–17070; dazu Ulrich Ernst, „Gottfried von Straßburg in komparatistischer Sicht. Form und Funktion der Allegorese im Tristanepos“, in: Euphorion, 70/1976, S. 1–72, hier S. 18–39.

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Ulrich Ernst

Analogie zu einer Kathedrale beschriebenen Gralstempels3 zurückverfolgen lässt. Der gattungshistoriographische Ansatz, der mit einem flexibilisierten Begriffsinstrumentarium arbeitet, verbindet sich zur Initiierung eines neuen Forschungsparadigmas mit buchkünstlerischen Aspekten, die den Roman auch als libristisches Konstrukt, nicht zuletzt: als fiktionales ‚Künstlerbuch‘, in das Blickfeld rücken.4

II Victor Hugo An den Anfang der Untersuchung sei Hugo gestellt, der als Autor ein facettenreiches, fast proteushaftes Erscheinungsbild präsentiert: Er erprobte sich nicht nur in allen literarischen Großgattungen – Lyrik, Dramatik und Epik (inklusive Roman) –, sondern über sein multigenerisches Werk hinaus auch in verschiedenen Künsten, außer in der Literatur ebenfalls in der Malerei, hat er doch z.B. als Repräsentant des Typus ‚Dichtermaler‘,5 der auch Zeichnungen, nicht zuletzt von Bauwerken wie Kirchen, Burgen oder Ruinen, hinterlassen hat,6 seinen Roman Die Arbeiter des Meeres selbst mit Bildern illustriert.7 Im Druck erschien der Roman Les Travailleurs de la Mer allerdings erst 1866 mit professionellen Stichen von Fortuné Louis Méaulle, später 1869 mit Illustrationen von Nicolas-François Chifflart und 1944 in deutscher Übersetzung von Hans Kauders mit Holzschnitten des belgischen Malers und Grafikers Frans Masereel.

3 Zum Gralstempel als Abbild des himmlischen Jerusalems im Jüngeren Titurel und zu Spuren gotischer Architekturvorstellungen in der Gebäudebeschreibung vgl. Ulrich Engelen, Die Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1978, S. 183–206; siehe auch Ulrich Ernst, „Illumination und Transluzidität: Vom mythischen Palast zur christlichen Kathedrale. Zu Lichtinszenierungen in poetischen Architekturekphrasen“, in: Susanne Bürkle/ Ursula Peters (Hrsg.), Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur, Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 128/2009, S. 221–245. 4 Vgl. Ulrich Ernst, „Das Künstlerbuch vor dem Künstlerbuch. Zur Geschichte eines visuellen Mediums von der Antike zur Moderne“, in: Renate Goldmann (Hrsg.), I Hate Paul Klee. Papierarbeiten und Künstlerbücher aus der Sammlung Speck, Köln 2011, S. 181–201. 5 Vgl. Ute Harbusch, „Wort und Bild. Die Zeichnungen zum Text“, in: Nicolas Baerlocher/Martin Bircher (Hrsg.), Auf einem anderen Blatt. Dichter als Maler, Katalog, Zürich 2002, S. 84–100, hier S. 84 und S. 91–93. 6 Vgl. die Zeichnung der Ruine der Werner-Kapelle (Werner von Oberwesel geweiht), Bacharach; in: Victor Hugo, Rheinreise, Frankfurt a.M. 1982, unpag. (nach S. 160); vgl. Baerlocher/Bircher (Hrsg.), Auf einem anderen Blatt, S. 12f., 46f., 90; Roland Mortier, La poétique des ruines en France. Ses origines, ses variations de la Renaissance à Victor Hugo, Genf 1974, S. 211–222. 7 Vgl. Baerlocher/Bircher (Hrsg.), Auf einem anderen Blatt, S. 91f.

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Die Intention zur Überschreitung von Kunstgrenzen in Richtung räumlichfigurierter Visueller Poesie dokumentieren sein Gedicht Les Djinns,8 sein Hieroglyphen-Alphabet,9 sein graphisch ausgeführtes Figurenalphabet sowie sein Spiel mit ineinander geschlungenen Monogrammen.10 Wandlungsfähig, wie er war, gehört sein Œuvre zunächst der Romantik, später partiell aber auch dem Realismus an, und in politischer Hinsicht entwickelte er sich grosso modo vom konservativen Royalisten zum liberalen Republikaner. Von den Zeitgenossen hat vor allem Chateaubriand durch seine Hinwendung zum Katholizismus, seine Verehrung der Gotik und seine Position als Archeget der französischen Romantik Hugos Kathedralroman beeinflusst.11 So frappiert es auch nicht, dass sein Roman Der Glöckner von Notre Dame, der ein Tableau des Spätmittelalters als Krisenzeit mit Inquisition und Hexenverfolgung liefert, ein Hybrid-Konstrukt ist, mit dem Hugo ein transgenerisches Ideal zu realisieren sucht: einen Roman als Mixtur aus Drama und Epos, der einen interartistischen, Architektur und Dichtung synthetisierenden Charakter besitzen soll. Die dramatische, nonchalant gesprochen, um Sex and Crime kreisende Handlung erzählt von dem buckligen und tauben Glöckner Quasimodo, der, eine Inkarnation des mittelalterlichen Ideals der Formosa deformitas,12 die junge Zigeunerin Esmeralda durch Asylgewährung im Turm der Kathedrale vor dem Schafott rettet, am Ende selbst getötet wird und sein Grab neben seinem schließlich als Hexe verbrannten Schützling, einem Opfer des Antiziganismus, findet. Hugos Poetik des Grotesken, die der Figur des Quasimodo zusätzlich einen modernen Zug verleiht, basiert dabei stark auf den fantastischen, wilden und auch libertinistischen Darstellungen an den Portalen und Außenfronten der hochmittelalterlichen Kathedralen, die schon Bernhard von Clairvaux gegeißelt hat: Es [sc. das Groteske] hat mit seiner Wesensart besonders jene wunderbare Architektur durchtränkt, die im Mittelalter alle Künste vertritt. Es setzt der Stirn der Kathedralen sein Stigma auf, umrahmt mit den Spitzbogen der Portale seine Höllen, seine Purgatorien und läßt diese in den Kirchenfenstern aufflammen; seine Ungeheuer, seine Doggen, seine

8 Vgl. Jeremy Adler/Ulrich Ernst, Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim 1987, S. 227. 9 Adler/Ernst, Text als Figur, S. 215f. 10 Vgl. Karlheinrich Biermann, Victor Hugo, Reinbek 1998, S. 84 und S. 88. 11 Vgl. François-René de Chateaubriand, Geist des Christentums oder Schönheiten der christlichen Religion [Paris 1802], Jörg Schenuit (Hrsg.), Berlin 2004; für Hugo wichtig sind die Teile 2,1 (u.a. Bibelpoetik), 3,1 (u.a. Gotik) und 4,5 (u.a. Ruinen). 12 Vgl. Paul Michel, Formosa deformitas. Bewältigungsformen des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur, Bonn 1976.

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Dämonen umschlingen die Kapitelle, wandern die Friese entlang, hocken auf den Dachrändern.13

Wie man aus Hugos poetologischen Reflexionen deduzieren kann, wird das in dem gotischen Kirchengebäude an die Außenfront verlagerte Groteske und Hässliche mit der Einführung der mit einer monströsen Körperlichkeit ausgestatteten Figur des Quasimodo von Hugo dezidiert in das Innere der Kathedrale hineingeholt. Für die hier präferierte gattungstheoretische Klassifizierung von Hugos Werk als Kathedralroman14 sind vier Schlüsseltexte von Relevanz: a) Eine hermeneutische Clavis bietet schon der Titel Notre-Dame de Paris 1482, der programmatisch indiziert, dass der Protagonist des Romans nicht, wie in der deutschen Translation suggeriert, die fiktionale Figur des Glöckners, mag diese auch noch so symbolträchtig sein, sondern die Kathedrale selbst ist, wobei das Toponym Paris und die Datierung 1482 zugleich darauf verweisen, dass das Werk in gewisser Weise auch ein Stadt-Roman15 und vor allem ein Historischer Roman ist. Bezugspunkt für den einen Chronotopos im Sinne Michail Bachtins16 inszenierenden Architekturroman ist trotz der erfundenen Handlung und der artifiziellen Erzählform aufgrund von Mehrsträngigkeit und analytischer Narrativik nicht ein imaginäres, sondern mit Notre-Dame ein faktuales Bauwerk. b) Ein weiterer Schlüsseltext ist die Vorrede des Romans, in welcher der Autor resp. Erzähler berichtet, er habe vor einigen Jahren Notre-Dame besucht und im dunklen Winkel eines der Türme eine geheimnisvolle, in die Mauer eingegrabene Inschrift gefunden, die nur aus einem Wort, griech. ανάγκη (= Notwendigkeit),17

13 Victor Hugo, „Vorrede zu Cromwell (Préface de Cromwell, 1827/1828)“, in: Frank-Rutger Hausmann u.a. (Hrsg.), Französische Poetiken, Teil II, Stuttgart 1978, S. 31–56, hier S. 38. 14 Fritz Peter Kirsch, „Die Struktur von ‚Notre-Dame de Paris‘ im Lichte des Kathedralsymbols“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 78/1968, S. 10–34; W. Wolfgang Holdheim, „The History of Art in Victor Hugo’s Notre Dame de Paris“, in: Nineteenth-Century French Studies, 5/1976–77, 1–2, S. 58–70; Kathryn M. Grossman, „Hugo’s Poetics of Harmony: Transcending Dissonance in Notre Dame de Paris“, in: Nineteenth-Century French Studies, 11/1983, 3–4, S. 205–215; Ilinca M. Zarifopol-Johnston: „Notre-Dame de Paris: The Cathedral in the Book“, in: NineteenthCentury French Studies, 13/1985, S. 22–35. 15 Zum Paris-Bild vgl. Volker Klotz, Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, Hamburg 1987, S. 92–123; Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München 1993, S. 523–544. 16 Vgl. Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Edwald Kowalski/Michael Wegner (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1989. 17 Vgl. H. Schreckenberg, „Ananke“, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, Darmstadt 1971, Sp. 266f.

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Abb. 1: Mauerinschrift; nach: Hugo, Notre-Dame de Paris 1482, illustr. von E. de Beaumont u.a., Paris 1844. (Der Glöckner von Notre-Dame, übers. von E. von Schorn, Frankfurt a.M. 1996, S. 7).

bestand (Abb. 1). Der Autor nimmt die Inskription zum Anlass, um in der Rolle eines in historischer Hinsicht empathischen Archäologen Kritik an dem kontemporären Umgang mit den Kathedralen durch Klerus, Baumeister und Volk zu üben: Seitdem hat man die Mauer abgekratzt oder angestrichen – ich weiß nicht mehr, was von beiden –, und die Inschrift ist verschwunden. So treibt man es seit bald zwei Jahrhunderten mit den wunderbaren Kirchen des Mittelalters. Von allen Seiten drohen ihnen Verstümmelungen, von außen und von innen her. Der Priester streicht sie an, der Architekt kratzt sie ab, und endlich kommt das Volk und reißt sie nieder. (S. 9)18

18 Übersetzung nach Victor Hugo, Der Glöckner von Notre Dame, übers. von Else von Schorn, Berlin 2010; französischer Text nach: Victor Hugo, Notre-Dame de Paris, Marieke Stein (Hrsg.), Paris 2009, S. 57: „Depuis, on a badigeonné ou gratté (je ne sais plus lequel) le mur, et l’inscription a disparu. Car c’est ainsi qu’on agit depuis tantôt deux cents ans avec les merveilleuses églises du Moyen Âge. Les mutilations leur viennent de toutes parts, du dedans comme du dehors. Le prêtre les badigeonne, l’architecte les gratte; puis le peuple survient, qui les démolit.“

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Hugos Zeitklage im Dienste des Denkmalschutzes wider das Kulturbanausentum seiner Zeit bot u.a. den Auftakt für eine breit angelegte Restaurierung der französischen Kathedralen, die aber erst 1845 unter der Leitung des Restaurators Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc19 festere Formen annahm, dessen Maßnahmen sich neben der Kathedrale von Amiens auch auf Notre-Dame erstreckten und der ein vielbeachtetes Wörterbuch der französischen Architektur des 11. bis 16. Jahrhunderts erarbeitet hat.20 Die Sorge um die Kathedralen bewegt später noch als weiteren Vertreter der Gattung Cathedral Novel Marcel Proust, der zu diesem Zweck, angesichts drohender Trennung von Kirche und Staat und zu erwartender Vertreibung der Liturgie aus den Gotteshäusern, ein Manifest über ‚die gemordeten Kathedralen‘ verfasst hat.21 Doch blicke man zurück auf Hugo, der das geheimnisvolle griechische Wort für Notwendigkeit und Schicksal als Keimzelle oder, wenn man auf die Generatorentheorie von Jean Ricardou rekurriert,22 als ‚Generator‘ für seinen Roman nutzt: „Der Mann, der das Wort in die Mauer schrieb, ist vor Jahrhunderten dahingegangen; nun ist auch das Wort an der Mauer der Kirche ausgelöscht, und die Kirche selbst wird bald vom Erdboden verschwinden. Aus diesem Wort aber ist dieses Buch entstanden“ (S. 10).23 So wie die Kathedrale, was im Folgenden noch präziser zu demonstrieren ist, letztlich als Buch konzipiert wird, so erscheint Hugos als Buch gedruckter Roman ganz unmittelbar und materialiter als ein Produkt der Kathedrale. c) Eine einlässliche Ekphrase der Kathedrale liefert das mit Notre-Dame überschriebene erste Kapitel des dritten Buchs, das Notre-Dame als „majestätisches, erhabenes Bauwerk“ (S. 149)24 feiert, welches gleichwohl gegenüber seiner originären Gestalt im 15. Jahrhundert durch Beschädigungen und Verunstaltungen gelitten hat. Später werden die Depravationen auf drei Faktoren zurückgeführt: 1. auf die Zeit als solche, der die Verwitterungen anzulasten sind, 2. auf die

19 Vgl. Bruno Foucart, „Viollet-Le-Duc et la Restauration“, in: Pierre Nora (Hrsg.), Les Lieux de Mémoire II, Paris 1986, S. 612–649. 20 Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle, Paris 1854. 21 Vgl. Reiner Speck, Zum Gedenken an die gemordeten Kathedralen. Über ein kulturpolitisches Engagement Marcel Prousts (= Sur la lecture II), Köln 1986. 22 Vgl. Ulrich Ernst, „Typen des experimentellen Romans in der europäischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur“, in: Arcadia, 27/1992, S. 225–320; wieder abgedruckt in: Ders., Manier als Experiment in der europäischen Literatur, Heidelberg 2009, S. 319–417, hier S. 373. 23 Hugo, Notre-Dame, S. 58: „L’homme qui a écrit ce mot sur ce mur s’est effacé, il y a plusieurs siècles, du milieu des générations, le mot s’est à son tour effacé du mur de l’église, l’église ellemême s’effacera bientôt peut-être de la terre. C’est sur ce mot qu’on a fait ce livre.“ 24 Ebd., S. 187: „[…] un majestueux et sublime édifice […].“

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Zerstörung durch religiöse und politische Aufstände – nota bene den Bildersturm der Hugenotten – und 3. durch die Auswirkungen und Überlagerungen verschiedener Kunststile, durch welche, da ein Stilgemisch, die ursprüngliche Form verschandelt wurde. Nach der exemplarischen Musterung der Fassade mit ihren Bauelementen, den drei Spitzbogenportalen, den 28 Königsnischen, der prächtigen Rosette und den zwei Türmen, formuliert der Dichter eine allgemeine Wertung: Alle Teile verschmelzen harmonisch zum prächtigen Ganzen, dessen fünf gigantische Stockwerke sich dem Auge auf einmal darbieten und sich doch stufenweise vor ihm entfalten, überwältigend durch ihre zahllosen Einzelheiten und doch nicht verwirrend, weil alles durch die ruhige Größe des Ganzen mächtig zusammengefasst wird. Eine ungeheure steinerne Symphonie ist diese Fassade, das Riesenwerk eines Mannes und eines Volkes, einheitlich und doch zusammengesetzt wie die Iliaden und Romanzen, deren Schwester sie ist, ein wunderbares Erzeugnis der gesammelten Kräfte einer Zeit, da sich die Einbildungskraft eines Handwerkers, vom Gehirn eines Künstlers gebändigt, jedem Steine in hundertfältiger Form einprägte; kurz, eine menschliche Schöpfung, die reich und machtvoll ist wie die göttliche Schöpfung selbst, von der sie das Doppelantlitz ‚Vielheit und Einheit‘ entlehnt zu haben scheint. (S. 149f.)25

In der Schilderung kommen, wie stichwortartig notiert sei, verschiedene, Rezeption und Struktur thematisierende Aspekte des gotischen Bauwerkes und seiner inhärenten Ästhetik26 zusammen: der Standpunkt des Betrachters, der sowohl den Gesetzen der Simultanität wie auch denen der Sukzession folgt, die immense Fülle der baulichen Einzelheiten, die dennoch in einer harmonischen Gesamtkonzeption ihren Platz finden, die interartifizielle, den Geist der Romantik atmende Deutung des Gebäudes als „steinerne Symphonie“,27 die Affinität der Kathe25 Ebd., S. 188: „Parties harmonieuses d’un tout magnifique, superposées en cinq étages gigantesques; se développent à œil, en foule et sans trouble, avec leurs innombrables détails de statuaire, de sculpture et de ciselure, ralliés puissamment à la tranquille grandeur de l’ensemble; vaste symphonie en pierre, pour ainsi dire; œuvre colossale d’un homme et d’un peuple, tout ensemble une et complexe comme les Iliades et les romanceros dont elle est sœur; produit prodigieux de la cotisation de toutes les forces d’une époque, où sur chaque pierre on voit saillir en cent façons la fantaisie de l’ouvrier disciplinée par le génie de l’artiste; sorte de création humaine, en un mot, puissante et féconde comme la création divine dont elle semble avoir dérobé le double caractère: variété, éternité.“ 26 Allgemein zur gotischen Kathedrale vgl. die zuerst 1950 erschienene Untersuchung von Hans Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Wiesbaden 2001, mit einem Vorwort von Bernhard Rupprecht (nach der 2. Aufl. 1988); siehe auch Otto von Simsons zuerst 1956 erschienenes Buch Die gotische Kathedrale, übers. aus dem Englischen von Elfriede R. Knauer, Darmstadt 1979; vgl. Georges Duby, Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980–1420, übers. von Grete Osterwald, Frankfurt a.M. 1992; Bernd Nicolai, Gotik, Stuttgart 2007. 27 Zum transartistischen Gebrauch von musikalischen Kategorien vgl. Ulrich Ernst, „Bauformen der Musik als Vorbilder für literarische Tektonik. Zur Ästhetik des Hybriden in der Moderne“, in:

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drale in kompositorischer Hinsicht nicht nur mit einer musikalischen Makroform, sondern auch mit dem antikisierenden Epos (Iliaden)28 und dem höfischen Versroman des Mittelalters (Romanzen), die Klassifizierung der ekklesialen Architektur als glanzvolles Ergebnis eines Teamworks von Künstler und Handwerker und schließlich der Preis des Werkes aufgrund der genialen Verbindung von Vielheit und Einheit als Spiegel göttlicher Schöpfung. Hochkomplex sind auch die verschiedenen, vielfältig verzweigten Traditionen, die in die Kathedrale als Schmelztiegel historischer Kunststile Eingang gefunden haben, sind doch nach Hugo „in Notre-Dame die romanische Abtei, die gelehrte Kirche, die gotische und die sächsische Kunst, der alchimistische Symbolismus des Nicolas Flamel, der Luther vorarbeitete, die ungeteilte Macht des Papsttums und das Schisma vereint und verschmolzen“ (S. 155).29 Dabei ist der Baukörper der Kirche eine prima vista konglomerathafte Mise en abîme – zugleich mythisch überhöhte Chimaira im horazischen Sinne – aller kirchlichen Bauwerke der Stadt Paris: „Diese Haupt- und Mutterkirche von Paris ist eine Art von Fabelwesen. Sie hat von allen alten Kirchen der Stadt etwas entlehnt, den Kopf von der einen, die Glieder von der andern, das Rückgrat von einer dritten“ (S. 155).30 Der zweite Teil des Kapitels bietet in der Tradition der Stadtekphrase dann in der Tat ein Panorama von Paris als Modell mittelalterlicher Urbanisation aus der Vogelperspektive, genauer: von der Plattform des Domes aus. Ähnlich wie andere „Übergangsbauten“, die zyklopischen Mauern der alten Kreter, die ägyptischen Pyramiden und die riesigen chinesischen Tempel, zeigt sich in der universellen, auch mit biblischen und zoomorphen Präfigurationen arbeitenden Optik Hugos, dass die Kathedralen als solche ebenso wie die spezielle romanisch-gotische Kirche Notre-Dame

Achim Hölter (Hrsg.), Comparative Arts. Universelle Ästhetik im Fokus der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 165–176. 28 In seiner Rheinreise geht Victor Hugo von der Erwartung aus, dass der Kölner Dom „in einem oder zwei Jahrhunderten die größte Kathedrale der Welt werden soll und daß diese unvollendete Iliade noch auf ihre Homere wartet“ (Victor Hugo: Rheinreise. Mit einem Nachwort von Friedrich Wolfzettel, Frankfurt a.M. 1982, S. 35). 29 Hugo, Notre-Dame, S. 195: „Ainsi, l’abbaye romane, l’église philosophale, l’art gothique, l’art saxon […], le symbolisme hermétique par lequel Nicolas Flamel préludait à Luther, l’unité papale, le schisme […], tout est fondu, combiné, amalgamé dans Notre-Dame.“ Nicolas Flamel (gest. um 1430 in Paris) war ein bekannter französischer Schriftsteller, der als Produzent von handschriftlichen Zimelien in Erscheinung getreten ist; nach seinem Tod wurde er vor allem als Alchimist verehrt, der angeblich den Stein des Weisen gefunden habe. 30 Ebd., S. 195: „Cette église centrale et génératice est parmi les vieilles églises de Paris une sorte de chimère; elle a la tête de l’une, les membres de celle-là, la croupe de l’autre, quelque chose de toutes.“

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weniger individuelle als soziale Schöpfungen sind, von arbeitenden Völkern geboren, nicht von genialen Männern erdacht, ein Niederschlag von Nationen, eine von Jahrhunderten angehäufte Masse, der Rückstand einer langen Reihe verdunstender Geschlechter, kurz eine Art Naturerzeugnis. Jede Zeitwelle spült neues an, jede Generation häuft eine neue Schicht auf das werdende Denkmal, jeder einzelne Mensch trägt seinen Stein herbei. So machen es die Biber; so machen es die Bienen; so machen es auch die Menschen. Babel, das große Sinnbild der Baukunst, ist ein Bienenstock. (S. 155)31

d) Nachdem bei Hugo schon mehrfach angeklungen ist, dass Kathedrale und Epos in generischer Hinsicht Schwestern sind, bietet das zweite Kapitel des fünften Buches, ausgehend von einem Diktum des Erzdechanten: „Dieses wird jenes töten. Das Buch wird das Gebäude töten.“ (S. 229)32 längere Ausführungen über das Verhältnis von Kathedral-Architektur und Buchdrucker-Kunst, durch die sich das Erzählwerk dem modernen Typus des Diskursromans annähert. Nach dem Erzähler, der prophetisch aus der Sicht des Spätmittelalters spricht,33 verbirgt sich hinter besagter Aussage eine kulturhistorische Medienkonkurrenz, nämlich, „dass das dauerhafte Buch von Stein dem noch dauerhafteren Buch von Papier weichen werde“ (S. 230)34 oder, anders ausgedrückt: „Eine Kunst ist in Gefahr, durch eine andere verdrängt zu werden; die Buchdruckerkunst wird die Baukunst töten“ (S. 230). Statt der fluiden mündlichen Rede und des handschriftlichen Textes, der immer nur in wenigen Apographen vervielfältigt, stets von Zerstörung bedroht ist, fungiert nach Hugo ursprünglich die Baukunst als Speicher der menschlichen Memoria, heißt es doch an späterer Stelle: „Seit Anbeginn der Dinge bis zum fünfzehnten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung war die Baukunst in Wahrheit das Große Buch der Menschheit, das Hauptausdrucksmittel ihrer Kraft und ihres Geistes in den verschiedenen Entwicklungsstadien“ (S. 230).35 Die

31 Ebd., S. 195f.: „[…] que les plus grands produits de l’architecture sont moins des œuvres individuelles que des œuvres sociales; plutôt l’enfantement des peuples en travail que le jet des hommes de génie; le dépôt que laisse une nation; les entassements que font les siècles; le résidu des évaporations successives de la société humaine; en un mot, des espèces de formations. Chaque flot du temps superpose son alluvion, chaque race dépose sa couche sur le monument, chaque individu apporte sa pierre. Ainsi font les castors, ainsi font les abeilles, ainsi font les hommes. Le grand symbole de l’architecture, Babel, est une ruche.“ 32 Ebd., S. 274: „Ceci tuera cela. Le livre tuera l’édifice.“ 33 Zu Hugos Mittelalterrezeption vgl. Patricia A. Ward, The Medievalism of Victor Hugo, Pennsylvania 1975. 34 Hugo, Notre-Dame, S. 275: „[…] que le livre de pierre, si solide et si durable, allait faire place au livre de papier, plus solide et plus durable encore.“ 35 Ebd., S. 275: „En effet, depuis l’origine des choses jusqu’au quinzième siècle de l’ère chrétienne inclusivement, l’architecture est le grand livre de l’humanité, l’expression principale de l’homme à ses divers états de développement, soit comme force, soit comme intelligence.“

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buchorientierte, libristische Deutung der Baukunst macht Hugo schon an einem alttestamentlichen Paradigma fest: „Die schöpferische Idee, die den Gebäuden zugrunde lag, prägte sich auch in ihrer Form aus. Der Salomonische Tempel zum Beispiel war nicht nur der Einband des heiligen Buches, er war das heilige Buch selbst. Jede seiner konzentrischen Hallen war für die Priester das sichtbar gewordene ‚Wort‘.“ (S. 231)36 – ‚Wort‘ im Sinne des paulinischen Logosbegriffs. Die gesamte Architekturgeschichte wird hier unter einem globalen Blickwinkel aus der Perspektive der Schrift- und Buchmetaphorik gesehen, mit der Konsequenz, dass die Historie der Bauwerke von ihren Anfängen bis zum Kölner Dom, für dessen Vollendung sich in dieser Zeit – auch im Geiste Goethes –37 die Brüder Sulpiz und Melchior Boisserée einsetzten, als ein einziger ‚Codex gigas‘ erscheint: So waren die Bauwerke in den ersten sechstausend Jahren der Geschichte, vom allerältesten indischen Götzentempel an bis hinauf zum Kölner Dom, die großen Schriftzüge der Menschheit, und das in des Wortes vollster Bedeutung; denn nicht nur die religiösen Symbole sind darin ausgeschmückt, sondern jeder menschliche Gedanke hat in diesem Riesenbuch seine Seite und sein Denkmal. (S. 232)38

Wie Hugo artikuliert, wurde nach der romanischen Kirche, die noch ganz der Gewalt der Kleriker unterstand, die Kathedrale erstmals zum Besitz der Bürger, und bei der Planung löste der Künstler den Priester ab. Wie auch erotische Darstellungen an den Kapitellen erkennen ließen, so insinuiert Hugo, zeichnete sich im Zeitalter der Kathedrale ein emanzipatorischer Demokratisierungsschub ab: „Die Freiheit, seine Gedanken in Stein zu äußern, war damals ein Vorrecht, das der Pressefreiheit durchaus zu vergleichen ist“ (S. 234).39 Damit erscheint die erstaunlicherweise keineswegs für reaktionär, sondern für progressiv erklärte Institution der Kathedrale als durchaus kompatibel mit den Idealen der französischen Revolution.

36 Ebd., S. 277: „L’idee mère, le verbe, n’était pas seulement au fond de tous ces édifices, mais encore dans la forme. Le temple de Salomon, par exemple, n’était point simplement la reliure du livre saint, il était le livre saint lui-même. Sur chacune de ses enceintes concentriques les prêtres pouvaient lire le verbe traduit et manifesté aux yeux […].“ 37 Vgl. Johann Wolfgang Goethes Schrift Von deutscher Baukunst, Jörg-Ulrich Fechner (Hrsg.), Darmstadt 1989, mit welcher der Autor dem Erbauer des Straßburger Münsters, Erwin von Steinbach, ein Denkmal gesetzt hat. 38 Hugo, Notre-Dame, S. 277: „Ainsi, durant les six mille premières années du monde, depuis la pagode la plus immémoriale de l’Indoustan jusqu’à la cathédrale de Cologne, l’architecture a été la grande écriture du genre humain. Et cela est tellement vrai que non seulement tout symbole religieux, mais encore toute pensée humaine a sa page dans ce livre immense et son monument.“ 39 Ebd., S. 280: „Il existe à cette époque, pour la pensée écrite en pierre, un privilège tout à fait comparable à notre liberté actuelle de la presse.“

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Ständig präsent bleibt bei Hugo die Parallele, ja Äquivalenz zwischen Dichter und Baumeister, Poesie und kirchlicher Architektur, wenn er etwa proklamiert: „Wer damals zum Dichter geboren wurde, der flüchtete sich zur Baukunst. Das im Volke verstreute Genie hatte nur diese Möglichkeit, die Fesseln des Feudalismus zu sprengen. Seine Iliaden formten sich zu Domen“ (S. 235).40 Der Architektur ordneten sich nach seinem Dafürhalten im Hoch- bzw. Spätmittelalter alle Künste unter: die Bildhauerkunst mit ihren Fassaden, die Malerei mit ihren Kirchenfenstern, die Musik mit ihren Glocken und die Poesie mit ihren Hymnen. Die Buchdruckerkunst gewann jedoch trotz dieser grandiosen Konkordanz der Künste in dem medialen Verdrängungswettbewerb die Oberhand, weil sie Wissen unbegrenzt vervielfältigen und es aufgrund dieser Multiplikatorfunktion vor dem Untergang bewahren konnte. Zudem war nach Hugos kulturökonomischer Perspektive die Fabrikation von Büchern einfacher, bequemer und auch billiger als die ungleich aufwendigere Erbauung von Kirchen.41 Das fünfte Buch schließt mit einem gewichtigen Statement, in dem die traditionelle Vorstellung von den zwei Büchern, dem Liber sacrae scripturae und dem Liber naturae, in medialer Hinsicht zu einer neuen Dyade, dem Buch der Architektur und dem Buch der Druckerkunst, transformiert wird: So hat die Menschheit zwei Bücher, zwei Testamente: ein gebautes und ein gedrucktes, eine Bibel aus Stein und eine Bibel aus Papier. Wenn man sich in diese beiden aufgeschlagenen Bibeln vertieft, so ist es gewiss verzeihlich, der majestätischen steinernen Schrift, den Riesenalphabeten der Säulenhallen, Kuppeln und Obelisken nachzutrauern. Es ist gewiss gut, sich auf diesen marmornen Seiten in die Vergangenheit zu vertiefen und das Buch der Baukunst immer wieder bewundernd zu durchblättern. Aber man sollte dadurch nicht die Großartigkeit des Gebäudes leugnen, das die Buchdruckerkunst aufrichtet. (S. 240f.)42

40 Ebd., S. 280f.: „Alors, quiconque naissait poète se faisait architecte. Le génie épars dans les masses, comprimé de toutes parts sous la féodalité comme sous une testudo de boucliers d’airain, ne trouvant issue que du côté de l’architecture, débouchait par cet art, et ses Iliades prenaient la forme de cathédrales.“ 41 Als Panegyrikus auf die Buchdruckerkunst wurden Hugos Ideen später auch rezipiert; vgl. Victor Hugo, Lob der Buchdruckerkunst (Text aus dem V. Buch des Romans Notre-Dame des Paris, 1831), übers. von Silke Pesinell, Zürich 1979. 42 Hugo, Notre-Dame, S. 290: „Ainsi, pour résumer ce que nous avons dit jusqu’ici d’une façon nécessairement incomplète et tronquée, le genre humain a deux livres, deux registres, deux testaments, la maçonnerie et l’imprimerie, la Bible de pierre et la Bible de papier. Sans doute quand on contemple ces deux Bibles, si largement ouvertes dans les siècles, il est permis de regretter la majesté visible de l’écriture de granit, ces gigantesques alphabets formulés en colonnades, en pylônes, en obélisques […]. Il faut relire le passé sur ces pages de marbre. Il faut admirer et refeuilleter sans cesse le livre écrit par l’architecture; mais il ne faut pas nier la grandeur de l’édifice qu’élève à son tour l’imprimerie.“ Diese Neuinterpretation der traditionellen Lehre von den zwei Büchern wurde in der einschlägigen Forschung nicht beachtet; vgl. z.B. Hans

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Die Konklusion aus der parabolischen Engführung des Zwei Bücher-Diskurses ist unabweisbar: So wie die Kathedrale letztlich ein ‚Buch‘ aus Steinen ist, so ist Hugos gedruckter Roman eine ‚Kathedrale‘ aus Worten. Die hegemoniale Stellung der Kathedrale im Zeichenensemble des Romans bestätigen die Illustrationszyklen: So fällt in der erstmals von Tony Johannot u.a. illustrierten Ausgabe von 1836 der Blick des Lesers zunehmend über die melodramatische Bildhandlung hinweg auf die historische Stadtkulisse. Programmatisch erscheint auf dem Titelblatt die Kathedrale NotreDame als ‚Titelheld‘. Ihre feingliedrige gotische Architektur ist in einem äußerst minuziös gearbeiteten Stahlstich in ihrer reichen Vielfalt der plastischen Details nachgebildet.43

Wie stark die Kathedrale Hugos Roman als Strukturmodell beherrscht, demonstriert visuell die von verschiedenen Künstlern illustrierte Ausgabe von 1844 mit Tafelillustrationen, Kathedralbildern, welche frei nach Handlungsstationen gewählt werden konnten, und einer Serie von Holzschnitten, die durch partikulare Kathedralmotive dazu einen stabilen Kontrapunkt bilden. Die Holzstiche sind, wie von Bodemann pointiert wird, auch von Relevanz für die Makroästhethik in der doppelten Bedeutung von Werk- und Buchtektonik: Fest in die Buchgestaltung verankert ist [...] der Holzstichzyklus, der jedes einzelne Kapitel mit gotisierend-figuralen und -ornamentalen Kopfvignetten, Eingangsinitialen und Schlußstücken umrahmt und jedes der acht Bücher mit einer Vorsatzillustration einleitet. Vor allem die Kapitelvignetten geben, indem sie Architekturpartikel der Kathedrale isolierend, aber oft mit Romanfiguren und Handlungsrequisiten verknüpft darstellen, dem Baukörper von Notre-Dame eine leitmotivische Bedeutungsschwere, die sich durch die zahlreichen, vom Panorama zum Detailblick die Kirche von allen Seiten abbildende Architekturansicht der Tafelillustration noch verdichtet. Notre-Dame wird so zum allgegenwärtigen Mit- und Gegenspieler der literarischen Figur stilisiert.44

Die Zentrierung der Illustrationszyklen auf die Kathedrale spiegelt sich ebenfalls in der Ausgabe von Nicolas-François Chifflart, die als Massenszene auch ein Bild vom Sturm der Bettler auf Notre-Dame enthält,45 und später noch in der Ausgabe von Frans Masereel,46 in der jedes der 11 Bücher mit einer ganzseitigen Illustration, am Anfang stets einer Kathedrale, und einer viertelseitigen Abbildung jeweils

Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981 (Verweis hier auf Hugo von St. Victor, nicht aber auf Victor Hugo). 43 Ulrike Bodemann u.a. (Hrsg.), L’Art d’Illustration. Französische Buchillustration des 19. Jahrhunderts zwischen Prachtwerk und Billigbuch, Katalog, Wolfenbüttel 1985, S. 147. 44 Bodemann u.a. (Hrsg.), L’Art d’Illustration, S. 147f. 45 Edition Paris 1876/77; in: Biermann, Victor Hugo, S. 46. 46 Victor Hugo, Notre-Dame de Paris, ins Englische übers. von Jessie Haynes, 2 Bde., Paris 1930.

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Abb. 2: Holzschnitt von Frans Masereel: Sieg des Buchs über die Kathedrale; in: Hugo, Notre-Dame de Paris, Paris 1930, Buch V, Kap. I, S. 217.

vor dem ersten Kapitel eingeleitet wird, wobei auch die zugunsten des Buches entschiedene Medienkonkurrenz eindrucksvoll dargestellt ist (Abb. 2). In der Gegenwart wurden Hugos teilweise schon den Surrealismus vorwegnehmende Zeichnungen von dem österreichischen Maler Arnulf Rainer, wohl nach dem Muster der Appropriation Art, ‚übermalt‘, so dass sich statt der bekannten Form des skripturalen Palimpsests die neue Form des pikturalen Palimpsests konstituiert, die demonstriert, dass der französische Dichter aktuell auch als Maler in der bildenden Kunst im interpikturalen Dialog lebhafte Resonanz findet.47

47 Barbara Catoir (Hrsg.), Schichten der Nacht, Arnulf Rainer – Victor Hugo, Ostfildern 2001; Gérard Audinet u.a. (Hrsg.), Arnulf Rainer – Victor Hugo: Surpeintures, Paris 2011.

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III Joris-Karl Huysmans Nicht nur bei Hugo, sondern auch bei Huysmans dominiert allenthalben ein besonderer Bezug zur bildenden Kunst. War Hugo im Nebenberuf selbst auch Maler und Illustrator, so hat sich Huysmans (1848–1907), Sohn eines Lithographen, ähnlich wie auch Marcel Proust als Kunstkritiker profiliert: Eine Kollektion seiner Salonkritiken bietet der Band L’Art moderne (1883). Das erklärt u.a., dass sich Huysmans in Diskrepanz zu Hugo, für dessen romantisch konnotierte, kollektivistische Kathedraldeutung die Devise „Die Zeit ist der Baumeister, das Volk ist der Maurer“ (S. 156) gilt, gerade auch für den individuellen Künstler interessiert und in seinem Roman dispers an verschiedenen Stellen ca. 50 Künstlernamen erwähnt, was nur durch Proust übertroffen wird, der in seiner Recherche insgesamt auf ca. 100 Maler und 200 Gemälde rekurriert.48 Huysmans’ literarische Entwicklung reflektiert eindrucksvoll den Pluralismus der Kunstströmungen und Stile zu Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst Angehöriger des Naturalistenzirkels um Émile Zola, der auch als Kunstkritiker hervorgetreten ist, schuf er mit seinem Werk À rebours (1884; dt.: Gegen den Strich, 1897) den dekadentistischen ‚Kultroman‘ des Fin de siècle schlechthin. Nach der Konversion zum Katholizismus im Jahr 1892 zeichnet sich jedoch in seinem jetzt stark autobiographisch gefärbten Erzählwerk ein entscheidender Wandel zu religiösen Themen ab: Seine Romane En route (1895; dt.: Durchs Kloster in die Welt zurück, 1910) und L’oblat (1903; dt.: Der Laienbruder), mit La Cathédrale (1898) eine Trilogie, kreisen fast monoman um das Thema der spirituellen Umkehr, die sich nach der Phase der ästhetizistischen Décadence-Ideologie in der unmittelbaren Berührung mit der kontemporären monastischen Kultur vollzieht, was so weit geht, dass Huysmans von 1899–1901 als Laienbruder in einem Kloster nahe Poitiers lebt. In der Zeichnung der religiösen Entwicklung erscheint der Autor in verschiedenen Rollen: als Konvertit und Pönitent, als Neophyt und Proselyt, als Mystiker und Oblate, als Hagiograph, Pilger und Bekenner.49 Dominierten in Hugos Darstellung der Kathedrale kulturhistorische, konservatorische und politische Perspektiven, so steht im Zentrum von Huysmans’ Kathedralroman, in dem die traditionelle Conversio-Legende autobiographisiert wird, die theologisch-spirituelle Deutung der Kathedrale,50 die ihren Ausgang

48 Vgl. Eric Karpeles, Marcel Proust und die Gemälde der verlorenen Zeit, übers. von Edith und Gerhard Binder, Köln 2010. 49 Vgl. Robert Baldick, The Life of J.-K. Huysmans, mit einem Vorwort von Brendan King, Sawtry 2006. 50 Vgl. als theoretischen Beitrag: J. K. Huysmans, „Die Symbolik der Notre-Damekirche“, in: Ders., Geheimnisse der Gotik, übers. von Stefanie Strizek, München 1991, S. 7–30.

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von akribischen Ekphrasen und eruditen Dialogen des Protagonisten Durtal mit dessen Freund Abbé Gévresin nimmt. Durtal hat nach einer religiösen Metanoia dem libertinistischen Großstadtleben in Paris den Rücken gekehrt und versucht in Chartres seinem Leben durch die intensive geistliche Betrachtung der Kathedrale eine neue Richtung zu geben. Von der ästhetischen Analyse der architektonischen, skulpturalen und pikturalen Strukturen vollzieht sich die Entwicklung Schritt für Schritt zu einer graduell-aszendierenden, mystisch-symbolistischen Sehweise.51 Nach seinem Aufenthalt in La Trappe, dem Mutterkloster des Trappistenordens, gelangt der Protagonist Durtal in Chartres mit klerikaler Unterstützung zu einer neuen symbolsichtigen Betrachtungsweise, wie er in der Rolle des IchErzählers bekennt: Ganz ergriffen von der unvergleichbaren Schönheit und Pracht dieser Kathedrale, habe ich unter dem Einfluß eines sehr klugen und sehr gelehrten Priesters mich mit der religiösen Symbolik beschäftigt, habe diese große Wissenschaft des Mittelalters zu erklären versucht, die eine besondere Kirchensprache gebildet hat, die mit Bildern und Zeichen dasselbe wie die Liturgie in Worten ausdrückt. (S. 390)52

Bei der Entzifferung der ekklesialen Symbolik sind für Durtal – letztlich eine Erzählermaske des Autors – seine kunsthistorischen Explorationen von großem Wert und eine höchst willkommene Ergänzung zu seinem literarischen Werk, was er wieder selbst zur Sprache bringt: Füge ich dem meine Studien über religiöse Malerei, die ich in Kirchen und Museen gemacht habe, und meine Arbeit über die verschiedenen Kathedralen, die ich eingehend erforscht habe, hinzu, so habe ich damit das ganze Gebiet der Mystik erschlossen, habe den Extrakt des Mittelalters gewonnen. (S. 391)53

51 Zur hermeneutischen Tradition grundlegend: Günter Bandmann, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951, und Joseph Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters, Münster 1964. 52 Joris-Karl Huysmans, La Cathédrale, Alain Vircondelet (Hrsg.), Paris 1992, S. 435: „Hanté par l’inégalable splendeur de cette cathédrale, j’ai, sous l’impulsion d’un vicaire très intelligent et très instruit, abordé la symbolique religieuse, commenté cette grande science du moyen âge qui constitue un dialecte spécial de l’Église, qui divulgue par des images, par des signes, ce que la liturgie exprime par des mots.“ Dt. Übersetzung nach Joris-Karl Huysmans, Die Kathedrale. Chartres – ein Roman, übers. von Hedda Eulenberg, hrsg. von Susanne und Michael Farin, München 22009. 53 Huysmans, La Cathédrale, S. 436: „En y joignant mes études personnelles sur la peinture religieuse, enlevée des sanctuaires et maintenant réunie dans des musées; en y ajoutant mes remarques sur les diverses cathédrales que j’explorai, j’aurai ainsi parcouru tout le cycle du domaine mystique, extrait l’essence du moyen âge, […].“

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Das gesamte epistemische System kirchlicher Allegorese mit seinen verschiedenen Bildbereichen, das bei der Exegese der Kathedrale im Roman zur Anwendung kommt, konkretisiert der Erzähler in einem geschichtstypologischen Baumdiagramm:54 Diese Wissenschaft wuchs wie ein üppiger Baum empor, dessen Wurzel bis auf den Grund der Bibel reicht. Aus ihr zog er seine Kraft und seinen Saft. Der Stamm war die Symbolik des Alten Testamentes, die Präfiguration der Evangelien. Die Äste waren die Symbollehren der Architektur, der Farben, Edelsteine, der Flora und Fauna, der Zahlen, der Gegenstände und Gewänder der Kirche. Ein kleiner Ast verwies auf die liturgischen Düfte und ein dünner, vertrockneter, halb abgestorbener Zweig auf den Tanz. (S. 391)55

Architektursymbolik, Farballegorese, Bildfelder von allegorischen Lapidarien, Herbarien und Bestiarien, bibelhermeneutische Kataloge von Zahlen, liturgischen Geräten und Paramenten, auch Sinnbilder von Gerüchen und Formen rituellen Tanzes kommen hier zu einem facettenreichen Ganzen zusammen und lassen Huysmans’ Werk zu einem enzyklopädischen Roman werden, durch dessen zahlreiche Ekphrasen und spirituelle Auslegungen die Kathedrale von Chartres als ein universaler Bedeutungskosmos erscheint. Huysmans greift dabei in einer intertextuellen Parforcetour auf zahllose Werke kirchlicher Schriftsteller zurück: angefangen von der spätantiken Patristik, über die frühmittelalterliche Monastik, die hochmittelalterliche Scholastik und die Mittelalter und Neuzeit verbindende Mystik bis zur theologischen und archäologischen Literatur des 19. Jahrhunderts.56

54 Zur Tradition der Diagrammatik vgl. Ulrich Ernst, „Diagramm und Figurengedicht. Betrachtungen zu zwei affinen Formen visueller Kommunikation“, in: Comunicare e significare nell’alto medioevo, Spoleto 2005 (Settimane di studio della fondazione Centro italiano di studi sull’alto medioevo LII), 2 Bde., T. I, S. 539–573; Ders., „Das Diagramm als visueller Text bei Joachim von Fiore. Zu Medialität und Mnemonik des ‚Liber figurarum‘“, in: Alessandro Ghisalberti (Hrsg.), Pensare per figure. Diagrammi e simboli in Gioacchino da Fiore, Rom 2010, S. 159–186. 55 Huysmans, La Cathédrale, S. 436: „Elle jaillissait comme un arbre touffu, dont la racine plongeait dans le sol même de la Bible: elle y puisait en effet sa substance et en tirait son suc; le tronc était la symbolique des Écritures, la préfiguration des Évangiles par l’Ancien Testament; les branches; les allégories de l’architecture, des couleurs, des gemmes, de la flore, de la faune, les hiéroglyphes des nombres, les emblèmes des objets et des vêtements de l’Église; un petit rameau déterminait les odeurs liturgiques et une brindille, desséchée dès sa naissance et quasi morte, la danse.“ 56 Es ist das Verdienst der mediävistischen Bedeutungsforschung, die verschiedenen Allegoriefelder aufgearbeitet zu haben (allerdings aus anderen Voraussetzungen und nicht stimuliert durch Huysmans): Architektursymbolik: Friedrich Ohly, „Die Kathedrale als Zeitenraum“ in: Ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 171–273 – Farballegorese: Christel Meier/Rudolf Suntrup, „Zum Lexikon der Farbbedeutung im Mittelalter“, in:

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Instruktiv ist die Architektursymbolik des der Madonna geweihten Gotteshauses mit der Sancta Camisia-Reliquie (Tunika der Gottesmutter), das im Unterschied zu anderen Kathedralen nicht Beinhaus, sondern Kline Marias57 ist: Nirgends wurde die Jungfrau so verehrt, so angebetet, nirgends war sie so die alleinige Herrscherin des ihr geweihten Ortes. Das beweist schon folgender Umstand: in allen Kathedralen hat man die Könige, die Bischöfe, die Heiligen oder Wohltäter in den unterirdischen Grüften bestattet, nur in Notre-Dame von Chartres nicht. Niemals ruhte dort ein Leichnam, nie ward die Basilika zum Gebeinhaus, denn, so erzählt der alte Geschichtsschreiber Rouillard: ‚Sie hat den Vorrang, als das Lager oder das Bett der Heiligen Jungfrau angesehen zu werden.‘ (S. 333)58

Mit spiritueller Symbolik beladen ist nicht nur in statuarischer Sicht der polymorphe Bau, sondern auch kinetisch der Gang durch die Kathedrale, der paradigmatisch mit der Idee des die religiöse Peregrinatio symbolisierenden Irrgartens59 verknüpft wird, das baulich in Chartres als ellipsoides Paviment-Labyrinth mit elf Umgängen, einem Durchmesser von ca. 12,5 Metern und einer Weglänge von 261,55 Metern erhalten ist:60

Frühmittelalterliche Studien, 21/1987, S. 390–478 – Allegorische Lithologie: Christel Meier, Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, Bd. 1, München 1977; Ulrich Engelen, Die Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1978 – Zahlenallegorese: Heinz Meyer/Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987. 57 Vgl. Karin Lerchner, Lectulus floridus. Zur Bedeutung des Bettes in Literatur und Handschriftenillustration des Mittelalters, Köln 1993, S. 312–321. 58 Huysmans, La Cathédrale, S. 379: „Nulle part, la Vierge n’était ainsi adulée, ainsi choyée, ainsi déclarée maîtresse absolue d’un domaine offert; et un détail le prouvait. Dans toutes les cathédrales, les rois, les évêques, les saints, les bienfaiteurs, gisaient, inhumés dans les caveaux du sol; et à Notre-Dame de Chartres, pas; jamais on n’y avait enterré un cadavre, jamais cette église n’avait été un ossuaire, parce que, dit l’un de ses historiens, le vieux Rouillard, ‚elle a cette prééminence que d’être la couche ou le lit de la Vierge‘.“ 59 Zu literarischen Labyrinthen vgl. Wolfgang Haubrichs, „Error inextricabilis: Form und Funktion der Labyrinthabbildung in mittelalterlichen Handschriften“, in: Christel Meier/Uwe Ruberg (Hrsg.), Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, S. 63–174; Manfred Schmeling, Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt a.M. 1987; Ulrich Ernst, „Labyrinthe aus Lettern. Visuelle Poesie als Konstante europäischer Literatur“, in: Wolfgang Harms (Hrsg.), Text und Bild, Bild und Text, Stuttgart 1990, S. 197–215; Monika Schmitz-Emans, „Das Buch als labyrinthischer Raum: Literarisch-ästhetische Versuchsanordnungen“, in: Gertrud Lehnert (Hrsg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011, S. 276–297. 60 Vgl. Hermann Kern, Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbildes, München 1982, S. 225–227, hier S. 226 (Federzeichnung des Labyrinths nach einem Stich des 18. Jahrhunderts).

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Durtal schritt nun das dunklere Mittelschiff hinunter, dessen Steinboden so abschüssig war wie die gepflasterte Straße, die im Mittelalter jedoch abgewaschen wurde, wenn sich die Volksmenge, die sich dort versammelte, zerstreut hatte. Und er betrachtete auf der Mitte des Bodens das Labyrinth aus weißen Steinlinien und Bändern aus blauem Stein, die sich spiralförmig wie eine Uhrfeder dahinzogen. Diese Meile waren unsere demütigen Vorfahren abgeschritten, hatten während der Stunde, die diese Reise dauerte, besondere Gebete aufgesagt und hatten so eine Art Pilgerfahrt auf geweihter Erde unternommen, um irgendeinen Ablaß zu erlangen. Am Ausgang angekommen, drehte Durtal sich noch einmal um und umfaßte mit einem Blick das strahlende Ganze. (S. 332)61

Im Schlusskapitel, in dem Durtal die Bedeutung der Kathedrale als „Gleichnis des Himmels und der Erde“ (S. 395) exponiert, wird der Weg durch das Gotteshaus im Rückgriff auf ein vor allem auf Dionysios Areopagita zurückgehendes religiöses Schema62 als triadischer asketisch-mystischer Prozess von der Vita purgativa über die Vita illuminativa zur Vita unitiva beschrieben: Sie [sc. die Kathedrale] liefert dem Christen in der Tat eine genaue Wegbeschreibung zum vollkommenen Leben. Er muß, um das Symbol zu verstehen, durch das Hauptportal eintreten, dann das Hauptschiff, das Transept und den Chor, die drei Stufenfolgen der Askese durchschreiten, dann erreicht er auf Höhe des Kreuzes, dort, wo das von den Kapellen und der Apsis gekrönte, geneigte Haupt Christi ruht, den Altar. Und hier hat er die Stufe der Vereinigung erreicht, ist er ganz nahe bei der Jungfrau. (S. 396f.)63

Auch Huysmans geht von der Vorstellung der Kathedrale als Text, sei er Dichtung oder Buch, aus, erklärt der Protagonist doch z.B. gewisse künstlerische Unstimmigkeiten in der Tektonik metaphorisch mit sprachlichen Bildern: „Man hat die Baugeschichte in einem Dialekt angefangen und in einem anderen beendet“

61 Huysmans, La Cathédrale, S. 379: „Durtal redescendait dans la nef plus sombre coulant en pente, avec l’inclinaison de ses pavés qu’on lavait après le départ des foules qui s’y anuitaient, au moyen âge; et il considérait au milieu, tracé sur le sol avec des lignes de pierre blanche et des bandes de pierre bleue se contournant en spirale, ainsi qu’un ressort de montre, le labyrinthe, la lieue que nos pères parcouraient dévotement, récitant, pendant l’heure que durait ce voyage, des prières spéciales, accomplissant ainsi un illusoire pèlerinage en Terre Sainte, pour gagner des indulgences; et revenu au parvis, se retournant il embrassait, avant de partir le radieux ensemble.“ 62 Dionysius Areopagita, De caelesti hierarchia, III, 2f., PL 122, 165B–168A. Vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. I, München 1990, S. 53–58. 63 Huysmans, La Cathédrale, S. 441: „Ils doivent, pour comprendre le symbole, entrer par le portail Royal, franchir la nef, le transept, le chœur, les trois degrés successifs de l’ascèse, gagner le haut de la croix, là où repose ceinte d’une couronne par les chapelles et l’abside, la tête et le col penchés du Christ, que simulent l’autel et l’axe infléchi du chœur. Et ils sont arrivés à la voie unitative, tout près de la Vierge.“

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(S. 194),64 und setzt mit dem Blick auf das speziell marianische Patrozinium des Doms und zugleich aus der Perspektive des Schriftstellers ein Statement hinzu, das sich als eine Poetik der Kathedrale in nuce interpretieren lässt: „Was aber alle diese Abweichungen oder Übereinstimmungen beherrscht, das ist der Grundgedanke des Steingedichtes, der wie ein Refrain nach jeder Steinstrophe zu lesen ist, der Gedanke, daß die Kirche Unserer Mutter gehört“ (S. 194).65 Schließlich kommt er, in die Fußstapfen Hugos tretend, zu einem, die prinzipielle Möglichkeit der Entschlüsselung aufgrund der Lesbarkeit der Architektur betonenden, konzisen Resümee: „Trotz der Abweichungen einiger ihrer Texte, sagte sich Durtal, ist die Kathedrale […] lesbar“ (S. 194).66 Aber die Kathedrale ist nicht nur ein großes lapidares Gedicht, sondern in Erweiterung der lithologischen Poetik auch eine Enzyklopädie, die aus generisch und textsortenspezifisch unterschiedlichen Teilen – biblischen Schriften, Apokryphen, Legenden, Mönchsviten, Lexika und dogmatische Schriften – besteht, insgesamt eine scholastische Summe des Wissens: Sie enthält eine Übersetzung des Alten und Neuen Testaments; sie propft auf die heiligen noch die apokryphen Schriften, die sich auf die Jungfrau und den heiligen Joseph beziehen, die Vitae einiger Heiligen aus der Legenda Aurea von Jacobus von Voragine und die Monographien der Célicoles der Diözese Chartres. Sie ist ein ungeheures Wörterbuch der Wissenschaft des Mittelalters, und gibt Auskunft über Gott, die Jungfrau und die Auserwählten. (S. 194)67

Durtal besinnt sich in diesem Kontext mit kritischen Anmerkungen – er ist hier eine Erzählerfiguration des Romanciers – auf die Auffassung Adolphe-Napoléon Didrons (geb. 1806), der u.a. ein Victor Hugo gewidmetes Manuel d’iconographie chrétienne (Paris 1843) und eine Monographie de la cathédrale de Chartres (Paris 1866) publiziert hat. Der erudite Archäologe vertritt danach die Ansicht, dass die

64 Ebd., S. 240: „Il n’y a donc point, dans ce cas, cumul, mais appoint, histoire commencée dans un dialecte et achevée dans un autre.“ 65 Ebd.: „Enfin, ce qui domine tous ces dissentiments ou ces ententes, c’est l’idée maîtresse du poème, disposée ainsi qu’un refrain après chacune des strophes de pierre, l’idée que la cathédrale appartient à notre Mère; […].“ 66 Ebd.: „En somme, se dit Durtal, malgré les dissidences de quelques-uns de ses textes, la cathédrale est lisible.“ 67 Ebd., S. 240f.: „Elle contient une traduction de l’Ancien et du Nouveau Testament; elle greffe en plus sur les Écritures Saintes les traditions des apocryphes qui ont trait à la Vierge et à saint Joseph, les vies des saints recueillies dans la Légende dorée de Jacques de Voragine et les monographies de Célicoles du diocèse de Chartres. Elle est un immense dictionnaire de la science du moyen âge, sur Dieu, sur la Vierge et les élus.“; vgl. Barbara Fleith/Franco Morenzoni, De la sainteté à l’hagiographie. Genèse et usage de la „Légende dorée“, Genf 2001.

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Kathedrale von Chartres „ein Abdruck der großen Enzyklopädien ist, wie sie im 13. Jahrhundert verfaßt wurden“ (S. 195).68 Durtal zieht zwar die These Didrons in Zweifel, „die Basilika sei […] eine […] Übersetzung des Speculum Universale, des Miroir de monde von Vinzenz von Beauvais“ (S. 195),69 zeigt aber durchaus eine gewisse Sympathie für den Vorschlag Didrons, auf welche Art das Buch der Kathedrale und in welcher Reihenfolge – nach dem heilsgeschichtlichen Ordo – zu lesen sei: Tatsächlich müßte man, wenn man ihm folgt, die steinernen Blätter unseres Buches folgendermaßen wenden: man müßte an dem nördlichen Kapitel beginnen und am südlichen Absatz endigen. Dann findet man seiner Meinung nach erzählt: zuerst die Genesis, die biblische Kosmogonie, die Erschaffung des Mannes und des Weibes, das Paradies, – dann, nach der Vertreibung aus dem Paradies die Geschichte ihrer Erlösung und ihrer Leiden. (S. 195)70

Zudem beeindruckt Durtal und, wie man ergänzen kann, auch den Autor Didrons prinzipielle Einschätzung der Kathedrale als eines Weltbuchs, eines enzyklopädisch-universalen, von Anfang an verschiedenste literarische Gattungen vereinigenden kulturhistorischen Konstrukts: Dieses Nachschlagewerk der Bildhauerkunst umfaßte […] ein Memorial der Naturgeschichte und der Wissenschaftsgeschichte, ein Glossarium der Moral und der Kunst, eine Biographie des menschlichen Wesens, ein Panorama der ganzen Welt. Es wäre also wirklich ein Spiegel der Welt, ein steinerner Abzug des Werkes von Vinzenz von Beauvais. (S. 195)71

68 Huysmans, La Cathédrale, S. 241: „[…] qu’elle est un décalque de ces grandes encyclopédies, telles que la treizième siècle en composa […].“. Zu dem nach 1256 entstandenen und erstmals 1474 gedruckten Speculum maius des Vinzenz von Beauvais (gest. 1264), das vier Teile enthält (Speculum naturale, doctrinale, morale und historiale), vgl. den Sammelband von Serge Lusignan u.a. (Hrsg.), Vincent de Beauvais. Intentions et Réceptions d’une Œuvre Encyclopédique au Moyen-Age, Cahiers d’études médiévales, Cahier spécial, no. 4. Saint-Laurent, Québec 1990; siehe auch M. Paulmier-Foucart, Vincent de Beauvais et le Grand Miroir du monde, Turnhout 2004. 69 Huysmans, La Cathédrale, S. 241: „[…] la basilique est une simple Version du Speculum Universale, du Miroir du monde de Vincent de Beauvais […].“ 70 Ebd., S. 241 „[…] nos feuillets de pierre doivent se tourner de la sorte: s’ouvrir par le chapitre du Nord pour se fermer sur les alinéas du Sud. Alors, l’on y trouve, selon lui, narrés: d’abord la Genèse, la cosmogonie biblique, la création de l’homme et de la femme, l’Éden; ensuite, après l’expulsion du premier couple, le récrit de son rachat et de ses épines.“ 71 Ebd., S. 241f.: „Ce répertoire de sculpture comprendrait donc un mémorial de l’histoire de la nature et de la science, un glossaire de la morale et de l’art, une biographie de l’être humain, un panorama du monde entier. Il serait bien, en conséquence, une image du Miroir du monde, un tirage sur pierre de l’œuvre de Vincent de Beauvais.“

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Doch nicht nur die Kathedrale ist in diesem Konnex ein Universallexikon, das diverse Wissensfelder miteinander vernetzt, sondern diese Proposition gilt mutatis mutandis auch für Huysmans’ Roman, mit dem er sich vom Naturalismus Zolas verabschiedet, Konventionen der Gattung gerade in thematologischer Hinsicht paralysiert und in innovativer Weise Wissenschaft und Kunst miteinander amalgamiert: Es gab viele Dinge, die Zola nicht verstehen konnte; zuerst mein Bedürfnis, die Fenster zu öffnen und der Umgebung, in der ich erstickte, zu entfliehen; dann meine Sehnsucht, Vorurteile abzuwerfen, die Grenzen des Romans zu durchbrechen, Kunst, Wissenschaft, Geschichte in ihm zu verschmelzen, kurz diese Form nur als Rahmen für ernsthaftere Arbeiten zu benutzen. Ich wollte, und das bewegte mich zu jener Zeit ausschließlich, die traditionelle Intrige, sogar die Leidenschaft und die Frau als Themen unterdrücken, den Lichtstrahl auf eine Person konzentrieren, um jeden Preis etwas Neues schaffen.72

Bot sich Hugos aktionsreicher und stark dramatischer Roman für eine opulent illustrierte Ausgabe an, die mit ihren Bildprogrammen bereits auf cineastische Bearbeitungen der Moderne vorausweist – die Illustrationen schlagen gleichsam eine Brücke zwischen Buch und Film –, so passt die Fotographie besser zu der handlungsarmen, auf Gebäudedetails konzentrierten Ekphrastik Huysmans’, deren allegorische Hermeneutik auf diese Weise über die litterale auch noch eine visuelle Dimension gewinnt. So hat Maurice Blanc statt einer konventionellen illustrierten Ausgabe ein Künstlerbuch als Fotobuch produziert, das Ablichtungen der Kathedrale von Chartres enthält, die mit Zitaten aus dem Roman kombiniert werden (Abb. 3).73 Ähnlich wie in der buchkünstlerischen Rezeption von Hugos Roman expandiert die literarische Kathedrale hier zur bildmedialen Kirchenarchitektur, wobei sich schon quantitativ die Anteile von Bild und Text zugunsten der Ikonizität verschoben haben.74

72 Appendix der deutschen Übersetzung: Michael Farin und Susanne Farin, Huysmans’ graues Buch. Notate, S. 413–429, hier S. 413 (nach J-K. Huysmans, Gegen den Strich, übers. von Hans Jacob, Zürich 1981, S. 45). 73 Maurice Blanc/J. K. Huysmans, Chartres, Lausanne 1941; zur weiteren Entwicklung des Buchtyps vgl. Hans Dickel, Künstlerbücher mit Photographie seit 1960, Hamburg 2008. 74 Vgl. auch Maurice Blanc/Francis Ponge, La Seine, Paris 1950.

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Abb. 3: J. K. Huysmans: Chartres. Fotos von Maurice Blanc, S. 74.

IV Marcel Proust Ist Hugos Notre-Dame de Paris der Roman einer Medienrevolution, Huysmans’ La Cathédrale ein Roman der inneren Umkehr, so ist Prousts Recherche ein Roman der künstlerischen Berufung. Erweist sich bei Hugo die Kathedrale als ‚historischer‘ Aktionsraum, so bei Huysmans als religiöser Meditationsraum und bei Proust als ästhetischer Schauraum. Ähnlich wie Huysmans, der in Sachen Malerei fast ein ‚Freak‘ war, 1876 einen Beitrag über Degas verfasste und sich konkret für Maler wie Monet,

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Cézanne, Gauguin und Manet einsetzte – mit letzterem war er eng bekannt –, trat auch Proust als Kunstkritiker hervor und gehörte zum Inventar der französischen Künstlerszene im Ausgang des 19. Jahrhunderts. Während man Hugos und Huysmans’ Romane schon aufgrund ihrer Titel Notre-Dame de Paris und La Cathédrale als Cathedral Novels klassifizieren kann, bedarf es bei Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit allerdings größeren argumentativen Aufwands, wie im Folgenden am Leitfaden generistischer und buchkünstlerischer Fragestellungen darzulegen ist. Nach den Ergebnissen der neueren generistischen Forschung lässt sich Prousts Recherche unbeschadet anderer Klassifikationen als ‚ekphrastischer Roman‘ bestimmen,75 attestiert doch beispielsweise R. Warning dem Dichter einen ‚impressionistischen Stil‘,76 während A. Corbineau-Hoffmann die im Roman dominante deskriptive Technik ästhetisch fundiert sieht77 und P. Becker die Bilder inszenierende Narrativik prononciert.78 In der Recherche stößt der Leser nicht nur häufig auf Ekphrasen von Gemälden aus verschiedensten Kunstepochen, sondern auch auf Beschreibungen oder Erwähnungen von Kathedralen bzw. Kirchen,79 die sich verschiedenen Orten zuordnen: Amiens, Balbec, Chartres, Combray, Reims, Rouen und Venedig, was sich u.a. dadurch erklärt, dass Proust durch seine Kenntnis von John Ruskins Werk The Bible of Amiens (1884), das er selbst übersetzt und kommentiert hat,80 die Vorstellung von der Kathedrale als lesbarem Buch vertraut war, die auch in Details der Schilderungen immer wieder durchschlägt.81 Von einer Begegnung mit dem Maler Elstir wird im zweiten Band der Recherche (Im Schatten junger Mädchenblüte) berichtet, bei welcher der Meister dem jungen und kunsthistorisch noch naiven Marcel die spirituelle Symbolwelt der Kirche von Balbec entschlüsselt. Dem vom Portal des Gotteshauses enttäuschten

75 Ulrich Ernst, „‚Nouveau Roman‘ im Mittelalter? – Generistische Betrachtungen zum ‚ekphrastischen Roman‘“, in: Das Mittelalter, 13/2008, 1, Zur Bildlichkeit mittelalterlicher Texte, S. 107–130. 76 Vgl. Rainer Warning, Proust-Studien, München 2000, S. 51–76. 77 Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann, Beschreibung als Verfahren. Die Ästhetik des Objektes im Werk Marcel Prousts, Stuttgart 1980. 78 Vgl. Pia Becker, Bildkompositorische Techniken als gestaltendes Prinzip des Erzählens in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“, Bonn 1999. 79 Vgl. Luzius Keller, „Texte et architecture chez Proust“, in: Philippe Hamon (Hrsg.), Littérature & architecture, Rennes 1988, S. 109–115. 80 John Ruskin, La Bible d’Amiens, Traduction, notes et préface par M. Proust, Paris 1904; vgl. Rainer Speck: „Proust und Ruskin“, in: Proustiana, XXII, Mitteilungen der Marcel Proust Gesellschaft, R. Speck u.a. (Hrsg.), Frankfurt a.M., S. 11–25. 81 Vgl. die materialreiche Studie von Luc Fraisse, L’Œuvre cathédrale: Proust et l’architecture médiévale, Paris 1990.

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Jüngling eröffnet Elstir auf der Basis der bekannten, von Papst Gregor I. in zwei Briefen an Bischof Serenus von Marseille formulierten Legitimierung kirchlicher Bildwerke als Litteratura laicorum,82 die reliefartigen Darstellungen des Portals seien „die schönste Bilderbibel, die das Volk lesen konnte“.83 Was Prousts Position als Schriftsteller in dieser Frage betrifft, so ist festzuhalten, dass Gregors Stellungnahme eine mnemonische Funktion der Bilder impliziert, die in Differenz zu den Imagines der antiken Mnemotechnik nicht intramental und fiktional, sondern faktual, materiell und Teil des liturgischperformativen Kirchenraumes sind. Sie haben nach Gregor ihre Existenzberechtigung, weil sie den Analphabeten die Kenntnis der Historia im Sinne der christlichen Heils- und Heiligengeschichte vermitteln. Gregors Deklaration hat nicht nur Ruskins Idee von der ‚Bible of Amiens‘ beeinflusst, welche die mittelalterliche Vorstellung vom Buch der Natur neu konfiguriert, sondern bildet auch die Grundlage für Prousts Verständnis seiner Recherche als ‚Kathedrale‘ aus gotischer Architektur und reich bestücktem Bildersaal. Bestimmt man die Recherche darüber hinaus auch als tektonischen Roman, so lässt sich dieses generistische Konzept weniger aus optisch exponierten Werkstrukturen als aus theoretischen Stellungnahmen Prousts erhärten. Stellt man genauer die Frage nach der literarischen Makrostruktur84 der vielbändigen Recherche, so kristallisieren sich bei Proust zwar im Lauf der langen Schaffenszeit Ansätze zu Großgliederungen heraus, doch gebricht es etwa in Diskrepanz zu Hugo an einer ausgeprägt segmentierenden, infrastrukturellen Kapiteleinteilung mit Titelangaben bzw. numerischen Markierungen. In Selbstaussagen zur Tektonik des Romans bedient sich Proust z.B. einer poetologisch etablierten Textilmetaphorik, wenn er seinen Roman mit einem Kleid vergleicht, ohne aber mehr über den inneren Aufbau, sprich: das Webmuster, den Kanevas, zu verraten. Zur Textilmetaphorik tritt bei Proust die primär auf die ‚Stromata‘ des Kirchenvaters Clemens von Alexandrien zurückgehende Teppichmetaphorik,85 wenn es in seinem Autorstatement „Swann von Proust erläutert“ heißt: 82 Vgl. Gabriele K. Sprigath, „Zum Vergleich von scriptura und pictura in den Briefen von Papst Gregor d. Gr. an Serenus Bischof von Marseille“, in: Jahrbuch für internationale Germanistik, 42/2009, 2, S. 69–111. 83 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 2. Im Schatten junger Mädchenblüte, übers. von Eva Rechel-Mertens, revid. von Luzius Keller/Sibylla Laemmel, Frankfurt a.M. 1995, S. 596. 84 Zum methodischen Paradigma vgl. Ulrich Ernst, „Tectonic Turn. Zur numerischen Makroästhetik der Werke Vergils im Spiegel von Viten, Kommentaren und Nachdichtungen“, in: Moritz Wedell (Hrsg.), Was zählt. Ordnungsangebote, Gebrauchsformen und Erfahrungsmodalitäten des „numerus“ im Mittelalter, Köln 2012, S. 345–386. 85 Vgl. Daniela Gretz, „Teppich“, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2008, S. 384f.

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Ich veröffentliche nur einen Band, Du côté de chez Swann, von einem Roman, der À la recherche du temps perdu als Haupttitel tragen wird: Ich hätte gern alles auf einmal veröffentlicht; doch man verlegt keine mehrbändigen Werke mehr. Ich gleiche jemandem, der einen für heutige Wohnungen zu großen Wandteppich besitzt und genötigt ist, ihn zu zerschneiden.86

Prävalent ist aber nicht Prousts poetologische Textilmetaphorik, sondern sein Vergleich der Recherche mit einer Kathedrale, in der er ein architektonisches Strukturmodell für seinen Roman erblickt.87 Dabei sollten, auch dokumentiert durch Überschriften, bestimmte Stücke der literarischen Komposition Teilen des Kirchengebäudes entsprechen, heißt es doch in einem Brief an seinen Freund, den Komponisten Reynaldo Hahn: Ich wollte den einzelnen Teilen meines Buches Titel geben wie Portalvorbau, Glasfenster der Apsis usw., um von vornherein dem dummen Vorwurf mangelnder Konstruktion zu begegnen […]. Ich habe aber darauf verzichtet, da diese Titel mir zu prätentiös vorkamen.88

Schon die prämoderne Memorialpoetik versteht Texte als räumlich organisierte Gebilde, in denen durch Gliederungssignale bestimmten Gedächtnisinhalten fest umrissene Plätze in Gebäuden zugewiesen werden,89 was sich vom Hochmittelalter an so sehr verstärkt, dass auch christliche Sakralbauten zu Erinnerungsorten avancieren. Somit lässt sich die Kathedrale in ihrer räumlichen Struktur (loci) und ihrer ikonischen Ausstattung (imagines) als memoriales Gebäude mit liturgischer Theatralität deuten. Vor diesem Horizont firmiert die Beschreibung der Kathedrale St. Hilaire von Combray zu Anfang der Recherche, in der sich verschiedene Epochen in stratifizierter Form spiegeln, vielleicht als Entrée der gesamten, auf Formen des Bildgedächtnisses fokussierten Romankonstruktion. Wiewohl Proust

86 Marcel Proust, Essays, Chroniken und andere Schriften, übers. von Henriette Beese u.a., Frankfurt a.M. 21992, S. 351–357, hier S. 351. 87 Vgl. Stephanie A. Moore, „‚Bâtir un livre‘. The Architectural Poetics of À la recherche du temps perdu“, in: Manfred Schmeling/Monika Schmitz-Emans (Hrsg.), Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg 1999, S. 188–203. 88 Zitiert nach Diane Leonard, „Kathedrale“, in: Luzius Keller (Hrsg.), Marcel Proust Enzyklopädie, Hamburg 2009, S. 459–461, hier S. 460. 89 Vgl. Mary Carruthers, „The Poet as Master Builder. Composition and Locational Memory in the Middle Ages“, in: New Literary History, 24/1993, S. 881–904; siehe auch Ulrich Ernst, „‚Memoria‘ und ‚Ars memorativa‘ in der Tradition der Enzyklopädie. Von Plinius zur ‚Encyclopédie française‘“, in: Jörg Jochen Berns/Wolfgang Neuber (Hrsg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien 1999, S. 109–168.

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letztlich auf eine sich in Kapitelüberschriften spiegelnde Großgliederung verzichtete, hat er gleichwohl betont, dass sein kolossales, ‚dogmatisches‘ Erzählwerk ein durchgeplantes ‚Konstrukt‘ sei. Die Poetik der Kathedrale infiltriert in Prousts Umfeld im Kontext mit buchkünstlerischen Kriterien auch noch andere Gattungen, klassifiziert doch z.B. Edward Burne-Jones die illustrierte Chaucer-Ausgabe der Kelmscott-Press von William Morris wegen ihres Bilderschatzes metaphorisch als „Kathedrale im Taschenformat“,90 und auch die zeitgenössische Bucharchitektur mit ihrem hohen ästhetischen Niveau bietet eine Parallele, reüssiert doch nach einer bis auf das Mittelalter zurückgehenden Ornamentierung von Einbänden mit Architekturmotiven im 19. Jahrhundert der ‚Kathedralstil‘ (Abb. 4):91 Durch die bildliche Gestaltung des Einbandes als Kirchenarchitektur wird das Buch optisch und symbolisch zum Abbild der Kathedrale. Doch ist Prousts Recherche nicht nur ein ekphrastischer Roman, in dem Beschreibungen von Kathedralen strukturell einen hohen Stellenwert besitzen, auch nicht nur ein tektonischer Roman, dessen Bauform die Architektur der Kathedrale durch eine analoge literarische Makroästhetik umzusetzen sucht, sondern er ist auch ein dem Ideal des ut pictura poesis verpflichteter visueller Roman. Betrachtet man Marcel Prousts Kathedralroman im Konnex mit der Malerei seiner Zeit,92 so ließ sich der Autor auch durch eine Serie von Kathedralbildern des impressionistischen Malers Claude Monet inspirieren,93 mit dem er eng befreundet war. Wie nicht zuletzt S. Laemmel konstatierte, hat Proust auch selbst Zeichnungen angefertigt, und zwar hat er in seiner Korrespondenz mit dem Komponisten Reynaldo Hahn,94 mit dem ihn eine homophile Beziehung verband, im Rahmen einer Art von Geheimschrift Texte in die Umrisse von Kathedralfenstern und -bögen infiguriert oder darunter bzw. darüber platziert (Abb. 5):

90 Béatrice Hernad/Karin von Maur, Papiergesänge. Buchkunst im zwanzigsten Jahrhundert, München 1992, S. 16 und S. 52. 91 Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller, „Architektureinbände“, in: Severin Corsten u.a. (Hrsg.), Lexikon des gesamten Buchwesens, Bd. I, Stuttgart 21987, S. 129f.; Ders., „Cathedralstil“, Ebd., Bd. II, 1989, S. 80f. 92 Vgl. Ségolène Le Men, La cathédrale illustrée de Hugo à Monet. Regard romantique et modernité, Paris 1998. 93 Vgl. Christoph Heinrich, Claude Monet, Köln 2007, bes. S. 60. 94 Marcel Proust, Lettres à Reynaldo Hahn, Philippe Kolb (Hrsg.), Paris 1956.

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Abb. 4: Gepresster Platten-Einband (um 1820) im Kathedralstil; in: Schmitz-Künsemüller, „Cathedralstil“, S. 81.

Wie in der pseudo-mittelalterlich chiffrierten ‚Geheimsprache‘, die Proust in der schriftlichen Kommunikation mit Reynaldo entwickelt, verwendet er für die zeichnerische Kommunikation mit dem Freund einen Kode. Dieser steht teilweise mit seinen damaligen Interessen (Kathedralen, christliche Ikonographie) im Zusammenhang: Proust chiffriert seine Bildsprache gerne ‚gotisch-prätentiös‘, er schreibt seine zeichnerischen Mitteilungen in medaillonförmige Fenster ein und benutzt – oder profaniert – mit Vorliebe Elemente aus der christlichen Symbolik, wenn es darum geht, Zärtlichkeit und Nähe zu Hahn zu signalisieren.

Darüber hinaus wurde, wie Laemmel weiter anmerkt, die sich kathedraler Chiffren bedienende Visualisierungsstrategie von Proust auch auf den Roman transferiert:

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Die Form des Medaillons oder des ‚gotischen‘, aus eng verbundenen Gestalten gefügten Kirchenfensters findet man übrigens in einigen ganz unsymbolisch anmutenden Kritzeleien von Proust in den Manuskripten zum Werk wieder. Der zeichnerische Raum erscheint in sehr komplexer Weise gegliedert; wir sehen einzelne Medaillons, die auseinander hervorgehen, verschiedene Gestalten annehmen, gleichsam divergierende Episoden bilden und sich schließlich wieder in einer übergeordneten Struktur, in einer ‚synthèse‘, vereinen. Man könnte in solchen Medaillonbildern sehr wohl ein graphisches Pendant zum Konstruktionsprinzip der Recherche erkennen.95

Prousts Vorliebe für Verschlüsselungen, die sich im Briefwechsel auch in einem Spiel mit Decknamen dokumentiert, rückt sein erzählerisches Werk mittelbar in die Tradition des kryptographischen Romans,96 während der zeichnerische Rekurs auf figürliche Kathedralmotive, in welche bestimmte Texte inplantiert werden, das Werk, wenigstens in der handschriftlichen Urfassung, dem Typus des visuellen Romans zuordnet, für den sich schon im 18. Jahrhundert Laurence Sterne mit seinem Tristram Shandy als Paradigma namhaft machen lässt.97 Zum weiteren Bereich der Visuellen Poesie gehört auch das Künstlerbuch, in dessen Entwicklung Marcel Proust ebenfalls involviert ist. So war er schon durch seine von Madeleine Lemaire illustrierte Erzählsammlung Les plaisirs et les jours (1896)98 an einem Malerbuch beteiligt, das nicht nur multimedialen Charakter besaß, sondern auch in Luxusausgaben auf China- und Japanpapier publiziert wurde. In einer Luxusausgabe erschien 1920 in Paris auch der Recherche-Band À l’ombre des jeunes filles en fleurs, begrenzt auf fünfzig Exemplare, mit eingelegten Faltblättern des Manuskripts und der Druckfahnen, gleichsam ein am Muster des Leporellos orientiertes Objektbuch, das im Präkorpus zudem ein Autorbild von Jacques-Emile Blanche zierte. Später wurde Prousts Recherche auch von anderen Buchkünstlern produktiv rezipiert, denkt man nur an die Illustrationen von Kees van Dongen und Hermine

95 Sibylla Laemmel, „Marcel Proust als Zeichner“, in: Reiner Speck/Michael Maar (Hrsg.), Marcel Proust. Zwischen Belle Époque und Moderne, Frankfurt a.M. 1999, S. 155–168, hier S. 156f. 96 Vgl. Ulrich Ernst, „Der Roman als Kryptotext. Geheimschrift in der europäischen Erzählliteratur der Neuzeit“, in: Friedhelm Marx/Andreas Meier (Hrsg.), Der europäische Roman zwischen Aufklärung und Postmoderne. Festschrift für Jürgen C. Jacobs, Weimar 2001, S. 1–33. 97 Vgl. Ulrich Ernst, „Narrativik und Experiment. Laurence Sternes Tristram Shandy als visueller Roman“, in: Beatrice Nickel (Hrsg.), Die Poesie und die Künste als inszenierte Kommunikation. Festschrift für Reinhard Krüger, Tübingen 2011, S. 101–130. 98 Marcel Proust, Freuden und Tage, illustr. von Madeleine Lemaire, Vorwort von Anatole France, vier Stücke für Klavier von Raynaldo Hahn, übers. von Luzius Keller, Frankfurt a.M. 1988.

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Abb. 5: Kathedrale von Amiens; Zeichnung von M. Proust; in: Ders., Lettres à Reynaldo Hahn, S. 117.

David.99 Eine sehr moderne Form der künstlerischen Auseinandersetzung mit Prousts Romanzyklus ist schließlich die Neugestaltung als Graphic Novel von Stéphane Heuet,100 der anlässlich der Reise Marcels an die normannische Kanalküste auch eine Szenenfolge mit Bildern der Kathedrale von Balbec zeichnerisch inszeniert hat (Abb. 6).

99 Vgl. Peter Kropmanns/Carina Schäfer, „Proust illustré. Buchkunst von Hermine David/Kees van Dongen“, in: Speck/Maar (Hrsg.), Marcel Proust, S. 169–177. 100 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Im Schatten junger Mädchenblüte, Teil I, Adaptation: Stanislas Brézet/Stéphane Heuet, Zeichnung und Kolorierung: Stéphane Heuet, dt. Fassung: Kai Wilksen, München 2011; vgl. Achim Hölter, „‚Ich danke Proust dafür, daß er mich dahin geführt hat, solche Zeichnungen zu versuchen‘ – Interview mit Stéphane Heuet“, in: Claudia Hoffmann/Kirsten von Hagen (Hrsg.), Proustiana, XXIV, Sonderband: „Ein unerhörtes Glücksgefühl…“ Von der Kunst des Genießens bei Marcel Proust, Frankfurt a.M. 2006, S. 146–156.

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Abb. 6: Graphic Novel: Begegnung Marcels mit der Kirche von Balbec; in: Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Im Schatten junger Mädchenblüte, Teil I, S. 7f.

V Prospektive: der Kathedralroman nach Proust Auch nach Proust versiegt die von Hugo, Huysmans und ihm selbst inaugurierte Spezies des Kathedralromans nicht. Ein frühes Beispiel liefert der von Henry James und Nathaniel Hawthorne beeinflusste Engländer Hugh Walpole mit seinem Roman The Cathedral (London 1922),101 der vor dem Hintergrund der Kathedrale von

101 Hugh Walpole, Die Kathedrale, übers. von Keti Schmidt, Zürich 1952.

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Polchester einen innerkirchlichen Zwist zwischen dem älteren Archidiakon Adam Brandon und dem jüngeren Kanonikus Frederick Ronder fokussiert. Als Thriller konstruiert ist der 1981 erschienene Roman Cathedral des Amerikaners Nelson DeMille,102 in dem nordirische Revolutionäre, eine Splittergruppe der IRA, unter einem Anführer namens Brian Flynn am Tage ihres Nationalheiligen (17. März) die Kathedrale St. Patrick an der Fifth Avenue in New York besetzen, prominente Geiseln nehmen und, um politische Gefangene frei zu pressen, mit der Sprengung des Gebäudes drohen. Die Postmoderne wird repräsentiert durch einen amerikanischen Roman, der bisherige Verkaufsrekorde überboten hat: nämlich durch Ken Folletts mediävalisierenden Roman The Pillars of the Earth (London 1989),103 der, wiewohl statt einer faktualen eine erfundene und statt einer vollendeten eine als Projekt anvisierte Kathedrale in den Mittelpunkt stellt, flagrant an den generischen Typus der Cathedral Novel anknüpft, was später gattungsgeschichtlich von Jörg Kastner in seinem Roman Im Schatten von Notre-Dame (1999)104 noch dadurch unterstrichen wird, dass im Kontext mit einer fiktionalen Quellenberufung in der Vorrede programmatisch auf Victor Hugo intertextuell Bezug genommen wird. Neben der skizzierten Entwicklung des para-avantgardistischen, ja teilweise der gehobenen Unterhaltungsliteratur angehörenden Kathedralromans bildet die avanciert-experimentelle Rezeption des generistischen Paradigmas eine eigene Traditionslinie. Nicht nur in Frankreich offenbart sich nämlich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine neue Begeisterung für die gotische Kathedrale, vielmehr lässt sich parallel auch im deutschen Expressionismus eine virulente Rezeption der Gotik beobachten,105 die sogar auf die dadaistische Buchkunst ausstrahlt106 und in der Programmatik des Bauhauses mit der Kathedrale als Gesamtkunstwerk im Visier ein Gegenstück findet,107 wodurch Hugos Kathedral-

102 Nelson DeMille, Die Kathedrale, übers. von Susanne Lepsius, Bern 51982. 103 Dt.: Die Säulen der Erde (Titelbild: John Ruskin: Southern Porch of St. Vulfran, Abbeville), Köln 1990. 104 Jörg Kastner, Im Schatten von Notre-Dame. Roman. Nach den Aufzeichnungen des Armand Sauveur de Sablé, München 1999; vgl. auch den vielfach in kirchlichen Gebäuden spielenden postmodernen Roman von Dan Brown, Sakrileg. The Da Vinci Code, ill. Ausgabe, übers. von Piet van Poll, Bergisch Gladbach 2005. 105 Vgl. Magdalena Bushart, Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911–1925, München 1990. 106 Vgl. Kurt Schwitters, Die Kathedrale. 8 Lithos, Hannover 1920; HAB:11.8 698 Malerbücher; vgl. Werner Arnold, Das Malerbuch des 20. Jahrhunderts. Die Künstlerbuchsammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Wiesbaden 2004, S. 365. 107 Vgl. Lyonel Feiningers kubistischen Holzschnitt Kathedrale von 1919, der als Titelblatt für das Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses konzipiert wurde; der Name ‚Bauhaus‘

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roman später sogar in der neoavantgardistischen Gruppe Oulipo Spuren hinterlassen hat.108 Nach der frühen Hochschätzung der Kathedrale in den historischen Avantgarden wird nach dem zweiten Weltkrieg im Nouveau Roman, der die Beschreibung als Mittel erzählerischer Darstellung rehabilitiert, das ekklesiale Bauwerk mit Michel Butors Description de San Marco (Paris 1963)109 zum Generator eines visuellen, multilingualen und inskriptionalen Textes: Auch typographisch getrennt, stehen auf dem engen Raum einer Druckseite, jeweils versetzt angeordnet, die vielstimmigen Idiome der Touristen, die Eindrücke des sprechenden Ich und die Zitate der biblischen Texte, so wie sie sich in den verschiedenen Mosaiken finden, beieinander.110

Die pentadische Architektur (5 Portale, 5 Kuppeln) der im 14. Jahrhundert gotischen Formidealen adaptierten Basilika spiegelnd, weist Butors Prosatext eine kunstvolle Tektonik auf, ist er doch als Buchkonstrukt exakt in 5 Abschnitte (I. Die Fassade; II. Die Vorhalle; III. Das Innere; IV. Das Baptisterium; V. Die Kapellen und Nebenräume) disponiert. Auch die komplexe semiotische Struktur gehorcht durch das Zusammenspiel von Bauformen, Bildern, lateinischen Inschriften, Erzählerkommentaren und Touristenstimmen dem Prinzip der Fünfzahl, für das auch der am Ende des Werkes abgedruckte Grundriss ein Fundament liefert (Abb. 7). Für Butors von Victor Hugo stark inspirierte Ästhetik ist nicht nur die Vernetzung und das Ineinanderblenden der Sphären von Architektur und Dichtung charakteristisch,111 sondern auch die Interferenz von Bild und Text, die der

entstand im Rekurs auf die mittelalterlichen Bauhütten an den Kathedralen. Die Ausstrahlung der mittelalterlichen Kathedrale auf die moderne Malerei (u.a. Picasso, Macke, Lichtenstein und Warhol) wird die Kölner Ausstellung Die Kathedrale. Romantik – Impressionismus – Moderne dokumentieren (Wallraf-Richartz-Museum, 26.09.2014 bis 18.01.2015). 108 Vgl. Raymond Queneau, „Notre-Dame de Paris de Victor Hugo“, in: Ders., Bâtons, chiffres et lettres, Paris 1965, S. 135–142. 109 Michel Butor, Description de San Marco, Paris 1963; Michel Butor, Orte, übers. von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M. 1966, S. 351–452. 110 Angelika Corbineau-Hoffmann, „Architekturen der Vorstellung“, in: Nerdinger (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht, S. 27–39, hier S. 36. 111 Vgl. auch Michel Butors Roman L'Emploi du temps, Paris 1956, in dem eine Kathedrale und deren typologische Glasmalerei eine zentrale Rolle spielt; Vgl. Stephanie Gomolla, „Lesbare Architektur und architektonischer Text. Metaphern und deren Überwindung bei Michel Butor“, in: metaphorik.de, 02/2002, S. 4–19; siehe auch Jean H. Duffy, Signs and Designs. Art and Architecture in the Work of Michel Butor, Liverpool 2003.

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Abb. 7: Bauplan der im späten Mittelalter gotisierten Basilika San Marco (Venedig); in: Butor, Description de San Marco, Faltblatt im Anhang (nach S. 112).

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Franzose unter Berücksichtigung traditioneller Formen der Visuellen Poesie in einer eigenen Schrift analysiert hat.112 Insgesamt handelt es sich bei Butors Text keineswegs um einen unreflektierten, naiv-frommen Panegyrikus auf den Markusdom und die Lagunenstadt, vielmehr sind auch kritische Töne zu vernehmen: z.B. Zweifel an der Echtheit der von Alexandria nach Venedig überführten Markusgebeine oder die Zurückführung der unermesslichen Kirchenschätze auf die Plünderung Konstantinopels durch die christlichen Kreuzfahrer im Jahr 1204. Konstante, diskursive und tropische Parallelführung von materieller Architektur und poetischer Bauform, Anleihen an innovative Formen der Konkreten und Visuellen Poesie, ausgefächerte Polyglossie und Polyphonie sowie Verabschiedung allzu konventioneller und obsoleter Formen der Ekphrastik weisen bei Butor fernab von dem Historismus Hugos, dem Spiritualismus Huysmans’ und dem Ästhetizismus Prousts auf einen experimentellen, traditionelle Narrativik revolutionierenden Grundzug in seiner literarischen Neukonfigurierung des Kathedralromans hin.

112 Michel Butor, Die Wörter und die Malerei, übers. von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M. 1992; vgl. z.B. den Abschnitt über das Rebus, S. 68–70.

Hans-Georg von Arburg, Lausanne

Wie Figura zeigt Zur Kritik allegorischer Literaturinterpretationen am Beispiel von Adalbert Stifters Erzählung Die Narrenburg „Wie Figura zeigt.“ Der Satz stammt aus einer veraltenden Bildungssprache und meint ein Beispiel, welches eine allgemeine Maxime illustriert.1 Die ‚Figur‘, also das Beispiel selbst, hat nicht wirklich etwas zu sagen, sie hat lediglich etwas zu zeigen, von dem man immer schon weiß, dass es stimmt. Die ‚Figura‘ funktioniert dabei allegorisch, weil sie wie die Allegorie etwas anderes sagt als das, worum es ‚eigentlich‘ geht. Die Literaturwissenschaft behandelt ihren Gegenstand traditionell und immer wieder gerne in diesem Sinne allegorisch. Sie greift ein Element aus einem Text heraus und liest es als Hinweis auf ein Anderes, seinen angeblich ‚eigentlichen‘ Sinn. Die Interpretation von Texten nach diesem Muster hat eine lange Geschichte und sie hat ihre guten Gründe. Wer in einem Text alles wörtlich nimmt, der sieht bald einmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Der Sinn verschwindet hinter den gelesenen Realien. Dennoch verkürzen allegorische Interpretationen sowohl die Literatur als auch die Wirklichkeiten, von denen literarische Texte handeln. Das hermeneutische Problem, das sich daraus ergibt, möchte ich in meinem Beitrag an einem exemplarischen Fall aus der Literatur des 19. Jahrhunderts und aus der Literaturwissenschaft unserer Tage zur Diskussion stellen. Im Zentrum steht die Erzählung Die Narrenburg des ‚Realisten‘ Adalbert Stifter, in der sich alles um das Verhältnis von Architektur und Schrift dreht. Eine moderne Interpretin hat dieses Verhältnis allegorisch ausgelegt, indem sie die architektonischen Erzählinhalte als ein Sinnbild für die Erzählweise dieser Schrift liest.2 Zu eben dieser allegorischen Interpretation möchte ich eine Gegenlektüre vorschlagen. Ich glaube nämlich, dass die Beziehungen zwischen der Literatur und den literarisch bearbeiteten – im vorliegenden Fall: architektonischen – Wirklichkeiten komplexer sind, als es das Deutungsmuster der Allegorie zulässt. Durch

1 Das DUDEN Fremdwörterbuch (41982) erklärt das neulat. ‚Figura‘ mit „Bild, Figur“ und den Satz „wie Figura zeigt“ mit „wie klar vor Augen liegt, wie an diesem Beispiel klar zu erkennen ist“ (S. 250). – Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine umgearbeitete und methodisch neu ausgerichtete Fassung eines bereits in anderem Zusammenhang erschienenen Beitrags. Vgl. Hans-Georg von Arburg: „Neues von der Narrenburg? Stifters Architekturen zwischen Historismus und Neuem Bauen“, in: Michael Gamper/Karl Wagner (Hrsg.), Figuren der Übertragung. Adalbert Stifter und das Wissen seiner Zeit, Zürich 2009, S. 109–133. 2 Vgl. dazu Abschnitt III des vorliegenden Beitrags.

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eben diese Komplexität aber gewinnt die Literatur jene Qualität, die sie zum Faszinosum macht. Um meine Gegenlektüre methodisch zu orientieren, greife ich meinerseits auf ein historisches Konkurrenzmodell zur Allegorie zurück, welches schon sehr früh einen komplexen, doppelten Wirklichkeitsbezug von Literatur behauptet hat: auf die mittelalterliche Figuraldeutung. Das historische Wissen über das Auslegen von Texten in dieser Deutungstradition will ich danach versuchsweise auf meine eigene Arbeit am Text beziehen. Dabei geht es mir um die doppelte Wirklichkeit von Stifters Narrenburg: um ihre textimmanente Logik einerseits und um die textexternen Bedingungen ihres Sinnes andererseits. Will man verstehen, was eine thematische Figur wie die Narrenburg in einem Text zeigt, dann muss man sich auch um die Diskurse über dieses Thema kümmern, die außerhalb des Textes geführt werden und die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen.

I Ein hermeneutisches Modell: ‚figura‘ in der mittelalterlichen Schriftauslegung Um zu klären, was ich mit dem Begriff der ‚Textfigur‘ meine und welche Aspekte aus der Deutungstradition solcher ‚Figuren‘ mir dabei wichtig sind, will ich mit ein paar Anmerkungen zur mittelalterlichen Figuraldeutung beginnen. Ich stütze mich dabei auf den bekannten Aufsatz von Erich Auerbach aus dem Jahre 1938, welcher den in meinen Augen zentralen Aspekt des Wirklichkeitsbewusstseins dieser hermeneutischen Tradition deutlich macht.3 Die Figuraldeutung wurde als Methode der Schriftauslegung in der Spätantike vornehmlich zur Interpretation der Heiligen Schrift entwickelt. Auerbach erklärt ihre Entstehung mit dem Bedürfnis frühchristlicher Theoretiker, den Buchstaben des Alten Testaments im Geiste des Neuen Testaments auslegen zu wollen, ohne den Buchstaben dadurch um seinen Eigensinn zu bringen. Das lateinische Wort ‚figura‘ bot hierzu eine willkommene Handhabe. ‚Figura‘ bedeutete ursprünglich ein ‚plastisches Gebilde‘, welches aus einer Gussform als etwas konkret Gestaltetes hervorgeht. In diesem Sinn ließen sich Geschichten und Gestalten aus dem Alten Testament als ‚figurae‘ deuten. Als Verheißungen verwiesen sie gemäß dem göttlichen Heilsplan auf das Neue Testament voraus, aber sie gingen in dieser Verweisfunktion nicht auf und auch nicht unter. Vielmehr erfüllten sie sich in ihren neutestamentarischen Pendants und behaupteten gleichzeitig ihre eigentümliche geschichtliche Realität. So deutete zum Beispiel die Synagoge, das Volk der Juden, auf die Ecclesia, auf die

3 Erich Auerbach, „Figura“, in: Archivum Romanicum, 22/1938, 4, S. 436–489.

Wie Figura zeigt

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Gemeinde der Christen voraus. Ja, die Synagoge erfüllte sich erst in der Ecclesia als ihrer heilsgeschichtlichen Konsequenz. Trotzdem blieb der älteren Synagoge ihre konkrete, ‚plastische‘ Geschichtlichkeit erhalten. Die ‚Figur‘ hat Substanz, sie ist ein Körper und kein Schatten, lehrt Tertullian, einer der wichtigsten Vordenker der Figuraldeutung unter den frühen lateinischen Kirchenvätern.4 Auerbach spricht daher von der Realprophetie der typologischen ‚figura‘ und fasst den hermeneutischen Schluss daraus wie folgt zusammen: Die Figuraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere hingegen das eine einschliesst oder erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen aber beide, als wirkliche Vorgänge oder Gestalten, innerhalb der Zeit; sie sind beide […] in dem fliessenden Strom enthalten, welcher das geschichtliche Leben ist, und nur das Verständnis, der intellectus spiritualis, ist ein geistiger Akt; ein geistiger Akt, der sich bei jedem der beiden Pole mit dem gegebenen oder erhofften Material des vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Geschehens zu befassen hat, nicht mit Begriffen oder Abstraktionen; diese sind durchaus sekundär, da ja auch Verheissung und Erfüllung als wirkliche und innergeschichtliche Ereignisse teils in der Fleischwerdung des Wortes geschehen sind, teils in seiner Wiederkunft geschehen werden.5

Die ‚Figur‘ in der Tradition der mittelalterlichen Typologie verweist also auf etwas Anderes und erzählt gleichwohl ihre ganz eigene Geschichte. Ihre Deutung hat zwar allegorische Züge, da dabei etwas im Hinblick auf etwas Anderes gelesen wird. Im Gegensatz zur Allegorese besteht die figurale Deutungsmethode allerdings auf der Buchstäblichkeit, d.h. auf der konkreten Materialität und dem Eigensinn des Gelesenen. Sie widersetzt sich der Reduktion auf einen geistigen Sinn. Diese ‚realistische‘ Resistenz gegen spirituelle Entsinnlichung und Enteignung ist auch der springende Punkt für mein methodisches Interesse an der figuralen Deutungstradition. Denn anders als bei der Allegorese wird einer Text-Figur bei der typologischen Interpretation ein geschichtlicher Eigensinn, eine eigene Wirklichkeit mit einer genuinen diskursiven Logik zugestanden. Diese realistische Resistenz hat der Kirchenvater Augustinus in das prägnante Bild einer auf Erzählungen aufbauenden Gedankenarchitektur gebracht. Man solle doch, so mahnt er, beim Auslegen der Heiligen Schrift zuerst einmal glauben, dass das, was man gelesen hat, genau so geschehen ist, wie man es gelesen hat, damit man auf diesen Geschichten nicht ohne Fundament in die Luft zu bauen beginnt.6

4 Tertullian, De resurrectione carnis, 19ff., zit. nach: Auerbach, Figura, S. 453. 5 Auerbach, Figura, S. 468. 6 „Ante omnia […] hoc admonemus et praecipimus, ut quando auditis exponi sacramentum scripturae quae gesta sunt, prius illud quod lectum est credatis sic gestum quomodo lectum est;

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II Ein architektonisches „Dichtungschaos“: Adalbert Stifters Narrenburg Augustinus’ Warnung vor den Luftschlössern allegorischer Schriftinterpretation versetzt uns mitten in die Szenerie von Bauten und Schriften hinein, von der auch Stifters Erzählung Die Narrenburg erzählt. Der Text der Narrenburg liegt in zwei Fassungen vor. Die 1842 erschienene Journalfassung fokussiert die narrativen Bedingungen der Texthandlung. Durch die Verbindung mit der gleichzeitig entstandenen Mappe meines Urgroßvaters (1840/42) rückt sie namentlich die mit dem Schreiben verbundenen Angst- und Ermächtigungsphantasien des Autorsubjekts Stifter in den Mittelpunkt.7 1844 folgte dann die Veröffentlichung in Buchform als Teil von Stifters Erzählsammlung Studien. Diese so genannte Buchoder Studienfassung verschleiert die autopoetische Bedeutungsebene und verschiebt den Akzent auf den sachlichen und damit auch auf den architektonischen Kontext der Schreibhandlungen.8 Ich werde mich im Folgenden hauptsächlich auf diese Studienfassung beziehen, an neuralgischen Stellen jedoch auch die Journalfassung mit berücksichtigen, da die genannten Verschiebungen von der ersten zur zweiten Textfassung gerade für die Frage nach der adäquaten Interpretation der architektonischen Textfiguren von entscheidender Bedeutung sind. Die dreiteilige Erzählung spielt im Jahre 1836, am vielzitierten Ende der goethezeitlichen Kunstperiode. Dieser chronologischen Grenzsituation entspricht eine topographische: In beiden Fassungen siedelt Stifter seine Geschichte in

ne substrato fundamento rei gestae quasi in aere quaeratis aedificare“ (Augustinus, Sermones, 2, 6f., zit. nach: Auerbach, Figura, S. 458). 7 Adalbert Stifter, „Die Narrenburg“, in: Iris. Taschenbuch für das Jahr 1843, Pesth 1842, S. 231– 360, zit. nach: Adalbert Stifter, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald (Hrsg.), Stuttgart/Berlin/Köln 1978ff. (= HKG), hier: HKG 1,1, S. 301–403. 8 Adalbert Stifter, „Die Narrenburg“, in: Ders., Studien, 1. Folge, Bd. 2, Pesth 1844, zit. nach: HKG 1,4, S. 319–436. Die Akzentverlagerung verdichtet sich dort, wo die Journalfassung (= J) die nachfolgende Erzählung mit der koketten narratologischen Autoreferenz begründet: „Woher ich das alles weiß. Die Sache trug sich lächerlich zu und war so […]“ (HKG 1,1, S. 305). Die Studienfassung (= S) formuliert hier wie folgt um: „So standen actengemäß die Sachen, als sich das zutrug, was wir in den folgenden Blättern erzählen wollen“ (HKG 1,4, S. 323). Zu dieser und weiteren ‚Verschiebungsoperationen‘ in der Narrenburg vgl. Michael Titzmann, „Text und Kryptotext. Zur Interpretation von Stifters Erzählung Die Narrenburg“, in: Hartmut Laufhütte/Karl Möseneder (Hrsg.), Adalbert Stifter: Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk, Tübingen 1996, S. 335–373, hier S. 337–339.

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Abb. 1: Georg Matthäus Vischer, Ansicht der Burg Scharnstein, Kupferstich, um 1660 (Zentralbibliothek Zürich).

einem Grenzraum zwischen Natur und Kultur an.9 Im ersten Kapitel stößt der junge Sammler und Naturforscher Heinrich im abgelegenen Tal der Fichtau auf die unzugänglich eingemauerte Burg Rothenstein. Vorbild für die fiktive Textarchitektur des Rothenstein war die Burg Scharnstein (Abb. 1) südlich von Stift Kremsmünster, die 1538 durch ein großes Feuer zerstört und deren Ruine seit 1624 im Besitz des Stifts war. Die Geschichten, die sich um den Rothenstein ranken und zu denen auch ein legendäres „grünes Stüberl“ gehört, das in der Architekturhandlung der Narrenburg eine wichtige Rolle spielt, dürften Stifter aus seiner Gymnasialzeit in Kremsmünster bekannt gewesen sein.10 Bei Stifter wird der Rothenstein von den Fichtauern nur die ‚Narrenburg‘ genannt. Dem Testament des ‚Stifters‘ Hanns von Scharnast zufolge musste sich nämlich jeder Burgherr verpflichten, sämtliche im

9 Vgl. neben Titzmann, „Text und Kryptotext“, S. 342–352, insbesondere Christian Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart/Weimar 1995, S. 210–241. 10 Vgl. dazu den Kommentar in: HKG 1,9, S. 204–206.

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Burgarchiv lagernden Lebensbeschreibungen seiner Vorbesitzer auszulesen und seine eigene Autobiographie ebenfalls dort zu deponieren. Die Scharnasts aber waren allesamt Narren. Daran lässt auch der Erzähler in einem einführenden Kommentar zu den historischen und genealogischen Voraussetzungen der nachfolgend erzählten Begebenheit aus jüngster Zeit keinen Zweifel. Statt durch die Arbeit an ihrer Biographie gebessert zu werden, offenbart sich ihre Narrheit darin nur umso deutlicher. Denn Stifter Hanns von Scharnast habe „das Unglück“ gehabt, das schnurgerade Gegentheil von dem zu erreichen, was er erzielen wollte. Es mußte nämlich von ihrem Ahnherrn her so viel tolles Blut, und so viel Ansatz zur Narrheit in den Scharnasts gelegen haben, daß sie, statt durch die Lebensbeschreibungen abgeschreckt zu werden, sich ordentlich daran ein Exempel nahmen, und so viel verrücktes Zeugs thaten, als nur immer in eine Lebensgeschichte hineingeht – ja selbst Die [!], welche bisher ein stilles und manierliches Leben geführt hatten, schlugen in dem Augenblicke um, als sie in den Besitz der verwetterten Burg kamen, und die Sache wurde immer ärger, je mehr Besitzer bereits gewesen waren, und mit je mehr Wust sich der neue den Kopf anfüllen mußte.11

Nun entdeckt Heinrich im Gespräch mit Erasmus, dem Wirt der grünen Fichtau, dass er selbst ein rechtmäßiger Erbe dieser närrischen Stiftung ist. Diese Entdeckung begünstigt Heinrichs Liebe für die Wirtstochter Anna und belastet sie zugleich. Denn Heinrich muss sich sein Erbe allererst erwerben: Er verschafft sich durch seinen Freund, den Juristen Robert, Zutritt zur Narrenburg, nimmt die Herausforderung des Testaments an und rettet die Ruine durch umfangreiche Restaurationsarbeiten. Dabei restauriert er allerdings nur und baut nichts Eigenes. Am Ende heiratet Heinrich Anna, und das glückliche Paar zieht als neue Herrschaft auf den Rothenstein. Dieses Erzähldispositiv thematisiert nicht nur Stifters eigenes Schreiben, indem die wiederholte Bezeichnung des Ahnherrn Hanns von Scharnast als „Stifter“ der närrischen Familiengeschichte unverhohlen auf den eigenen Familiennamen des Autors anspielt, der seine Initialen „A. St.“ darüber hinaus auch noch der poetischen Verwandlung des historischen Scharnstein in das fiktive Scharnast einschreibt. Es nimmt auch ganz direkt auf den Architekturdiskurs der Zeit Bezug. Von Heinrich erfährt der Leser, der Rothenstein sei „so gut, als in gar keinem Style gebaut“.12 Dem widerspricht Erasmus mit dem Argument, Heinrich könnte darin „Style genug sehen“, wenn ihn der alte Kastellan Ruprecht nur „einmal hineinließe“.13 Jeder einigermaßen informierte Leser der Zeit musste

11 HKG 1,4, S. 322f. 12 Ebd., S. 328, vgl. auch S. 332. 13 Ebd., S. 328.

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darin die Gretchenfrage des Historismus wiedererkennen: „In welchem Style sollen wir bauen?“, so lautete das Stichwort zur Stildebatte des Historismus, welches der Karlsruher Architekt und großherzogliche badische Baudirektor Heinrich Hübsch mit seinem gleichnamigen Manifest 1828 geliefert hatte.14 Tatsächlich versammelt der Architekturkomplex der Narrenburg fast alle wichtigen Epochenstile der neueren Kunstgeschichte: Der griechische Bau war der des Grafen Jodok, dessen der Vater Erasmus erwähnt hatte: ein edles Geschlecht weißer schlanker Säulen. – Und um sie herum war es so grün, als zöge sich ein jonischer Garten sanft von ihnen gegen die andern barbarischen Werke hinan. Weit davon weg stand der Thurm des Prokopus, ein seltsamer Gegensatz zu dem Vorigen; denn wie ein verdichteter zusammengebundener Blitz sprang er zackig und gothisch von seinem Felsen empor; der Felsen selbst ragte aus einem Fichtenwalde, der, durch den Borkenkäfer abgestorben, wie ein weißes Gegitter da stand. Hinten auf einer breiten glatten Wiese lag der sogenannte Sixtusbau: breit, bleifarben, massiv, ohne die geringste Verzierung mit noch vollständig erhaltenem grünem Kupferdache. Die Fenster, ohne Simse und flach, standen so glatt in der Quadermauer, wie Glimmertafeln, die im Granite kleben. Die neuesten Gebäude auf der auslaufenden Bergzunge waren die Wohnung Graf Christophs, des letzten Besitzers, gewesen. Lange Terrassen und Gartenbauten trennten sie von den oben genannten, und ein Gartenhaus, allerlei Ruhesitze und Lusthäuschen umgaben es, mit und ohne Geschmack erbaut, und bereits wieder im Verfalle begriffen. Von hier aus sah man deutlich die Ruine um den Eichenbestand herüber blicken, einen Bau voll Balkonen, Giebel und Erker, aber gräßlich zerfallen – es war das Haus des alten Julian gewesen.15

Unschwer lassen sich in dieser Beschreibung der Reihe nach die Baustile des Klassizismus (Jodok), der Gotik (Prokopus), der Romanik (Sixtus), der frühhistoristischen Landschaftsarchitektur (Christoph) und des Spätbarock (Julian) identifizieren.16 Aber es geht Stifter ganz offensichtlich nicht einfach um den aktualisierenden Verweis auf die Stildebatte aus dem Architekturdiskurs seiner Zeit. Er richtet das Interesse des Lesers viel spezifischer auf die Frage aus, wie sich dieser textexterne Diskurs zu Diskurstraditionen aus der Literatur selbst verhält. Diese

14 Heinrich Hübsch, In welchem Style sollen wir bauen?, Karlsruhe 1828. Vgl. dazu Klaus Döhmer, „In welchem Style sollen wir bauen?“ Architekturtheorie zwischen Klassizismus und Jugendstil, München 1976. 15 HKG 1,4, S. 367f. Eine ähnliche historistische Stil-Synopse folgt später noch einmal, vgl. S. 396. 16 Vgl. Katharina Grätz, „Traditionsschwund und Rekonstruktion von Vergangenheit im Zeichen des Historismus. Zu Adalbert Stifters Narrenburg“, in: DVjs, 71/1997, 4, S. 607–634, hier S. 612f. Zum Landschaftspark als Retorte des architektonischen Historismus vgl. Wolfgang Schepers, „Zu den Anfängen des Stilpluralismus im Landschaftsgarten und dessen theoretischer Begründung in Deutschland“, in: Michael Brix/Monika Steinhauser (Hrsg.), Geschichte allein ist zeitgemäß. Historismus in Deutschland, Gießen/Lahn 1978, S. 73–92.

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Frage stellt die Journalfassung entschieden deutlicher als die spätere Studienfassung. Die Studienfassung lässt es bei der Gegenüberstellung von „einer solchen Menge von Gebäuden auf diesem Berge“ und der „schönste[n] Landschaftsdichtung zwischen ihnen und um sie“ herum bewenden.17 Die Journalfassung dagegen erklärt das Architekturcapriccio selbst zum „Dichtungschaos“ und setzt die Besucher kurzerhand in einen Vergleich mit allegorischen Figuren. Im „Complex [der] Bauwerke, Gärten und Wälder“ auf dem Rothenstein steht Heinrich „wie die Dichtung“ da, sein Freund, der Jurist Robert, nimmt sich daneben „wie der Nutzen“ aus, „die Sage, der alte Ruprecht“ steht „märchenhaft und mythisch hinter ihnen“. Und von einer prophetischen Stimmung ergriffen, nimmt sich der künftige Burgherr Heinrich die Bearbeitung dieses „Dichtungschaos“ in seiner „arbeitende[n] närrische[n] Phantasie“ durch ein „Getümmel von Plänen und Gedanken“ vor, „die sich schoben und drehten und noch keine Gestalt hatten“.18

III „Poetik der Geschlossenheit“: ein allegorischer Interpretationsansatz Gestützt auf diese Allegoriesignale im Text, die wie gesagt in der Journalfassung noch einmal stärker akzentuiert sind als in der Studienfassung, hat Jutta MüllerTamm unlängst eine bündige Interpretation der Narrenburg vorgeschlagen.19 Die Erzählung, so argumentiert sie, stamme von Heinrich selber, und die Architektur des Rothenstein fungiere als Allegorie dieser Erzählung. Die „klafterdicke hohe graue Eisenmauer“ um das „höchst merkwürdige Gebäude“, an der Heinrich „herumklettert“, ohne „durchaus einen Eingang entdecken“ zu können,20 wird dabei als Sinnbild für eine „Poetik der Geschlossenheit“ gedeutet. Wie ästhetische ‚Geschlossenheit‘ jedes autonome Kunstwerk beherrsche, so bestimme sie auch Heinrichs alias Stifters Dichtung. Das Happy End der Narrenburg inszeniere das Autonomieprinzip der Literatur und halte es dem Authentizitätsprinzip der Scharnastischen Autobiographien entgegen. Als ein „Medium gelingenden Lebens“ komme die Dichtung hier zum schönen Abschluss, während die Autobiographien von lauter Katastrophen erzählten und, durch den Tod ihrer Autoren unterbrochen, notwendigerweise fragmentarisch blieben. Das Autonomieprinzip der Narrenburg aber behaupte sich am Ende als das „Wirklichkeitsprinzip der 17 HKG 1,4, S. 368. 18 HKG 1,1, S. 350f. 19 Jutta Müller-Tamm, „‚Alles nicht zu Ende, alles falsch…‘. Allegorie und Erzählstruktur in Stifters Narrenburg“, in: Zeitschrift für Germanistik N.F., 17/2007, 3, S. 561–574, hier S. 566–568. 20 HKG 1,4, S. 326 und 367 (B).

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Dichtung“ schlechthin. Und im Zeichen dieses ‚Wirklichkeitsprinzips‘ entwerfe Stifter auch eine Utopie der eigenen literarischen Fiktion.21 Meine Kritik an diesem Ansatz richtet sich nicht gegen die in sich schlüssige Gesamtdeutung. Anfechtbar und damit methodisch interessant finde ich nur, wie hier ein thematischer Aspekt – die Architektur – auf ein Anderes, ‚Eigentliches‘ – das Erzählen und die Struktur dieses Erzählens – bezogen wird. Problematisch finde ich eine solche ‚Allegory of Writing‘ aus drei Gründen: Erstens stützt sich die Interpretation ausschließlich auf die poetologischen Bezüge der Journalfassung. Gerade diese Bezüge aber treten in der Studienfassung zurück. Zweitens legitimiert sich die These von der autonomieästhetischen ‚Poetik der Geschlossenheit‘ allein durch den hermetischen Abschluss der Narrenburg gegen außen. Aber eben das zugemauerte Burgtor wird durch Heinrichs Restauration am Ende wieder geöffnet, also dort, wo es der Autonomiethese zufolge unbedingt geschlossen bleiben müsste. Und drittens verweist dieser Umstand auf die Notwendigkeit, den Gegenstand der allegorischen Deutung, die Architektur, nicht nur an einer Textstelle zu beobachten, sondern durch den gesamten Text hindurch zu verfolgen. Will man mit dem ‚Wirklichkeitsprinzip der Dichtung‘ argumentieren, dann muss man auch und gerade nach den textimmanenten Konsequenzen einzelner Textdeutungen fragen. Diese Frage will ich im Folgenden stellen und sie um die Frage ergänzen, wie sich die textexternen Wirklichkeiten, die Stifter in der Narrenburg verarbeitet, zu diesem immanenten ‚Wirklichkeitsprinzip‘ verhalten.

IV Die Architekturen der Narrenburg im ästhetikgeschichtlichen Kontext: eine Gegenlektüre Betrachtet man die Architekturen genauer, die Stifter in der Narrenburg beschreibt, dann stößt man allenthalben auf Unzusammenhängendes und Unfertiges. Auf die Identitäts- und Totalitätsphantasien goethezeitlicher Autonomieästhetik lässt sich, wenn überhaupt, die hermetische Umfassungsmauer des Rothenstein beziehen, nicht aber dessen heterogener innerer Bebauungsplan. Tatsächlich erweisen sich die Prinzipien von ‚Autonomie‘ und ‚Identität‘ gerade als die neuralgischen Punkte von Stifters ästhetischer Konstruktion. Der Rothenstein ist nämlich streng genommen gar keine Burg, sondern „eine Sammlung von Schlössern“, ja „eine halbe Stadt von Schlössern“.22 Wenn diese ‚Stadt von Schlössern‘ wenig später als „Stadt des

21 Müller-Tamm, „‚Alles nicht zu Ende, alles falsch…‘“, S. 568f. und S. 572–574. 22 HKG 1,4, S. 328.

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alten Geschlechtes“23 derer von Scharnast präzisiert wird, dann unterstreicht diese Präzisierung gleichzeitig die Unschärfe der Definitionslage: Aus einer architektonischen ‚Sammlung‘ wird eine imaginäre ‚Stadt‘ und aus dieser wiederum ein urbaner Gesellschaftskörper. So nah die einzelnen Bestimmungen auch beieinander sind und so logisch sie auch miteinander zusammenhängen, das Bestimmungszentrum wird doch vom einen Ansatz zum nächsten unmerklich verschoben. Nach dieser Logik minimaler Verschiebungen von Rationalitäten und Semiotiken verfährt die Beschreibung des Baubestandes in der Narrenburg durchwegs.24 Indem Heinrich und sein Freund Robert vom Burgkastellan Ruprecht durch die unübersichtliche Burganlage geführt werden, verwirrt sich auch im Leser die Vorstellung der konkret beschriebenen Architekturdetails. Mit der verunsichernden Bewegung der Figuren durch die Narrenburg werden nämlich auch die architektonischen Textzeichen mobilisiert. Gewiss, man kann die verschiedenen nach ihren Erbauern benannten Bauten der Burg stilgeschichtlich inventarisieren und auf die Psyche ihrer Bauherren hochrechnen. Jodoks ‚Parthenon‘ verweist auf einen abgeklärten Klassizismus, der Turm des Prokopus auf eine exzentrische Gotik, der Bau des alten Sixtus auf eine asketische Romanik, der Christophbau auf die orientierungslose Gegenwartsarchitektur und das Julianhaus auf ein verschwenderisches Barock.25 Sobald man aber die Rechnung über dieses Inventar abschließen möchte, geht sie nirgends mehr auf. Ist nun der Juliansbau oder der Christophbau am stärksten ruiniert? Wird jener in der oben zitierten Gesamtaufnahme als „gräßlich zerfallen“ beschrieben, so erinnert man sich schon zuvor über diesen gelesen zu haben, er sei, kaum „aufgeführt“, bereits nach wenigen Jahren teilweise „wieder eingestürzt“.26 – Befindet sich der legen-

23 Ebd., S. 364. 24 Genealogie und Architektur werden im Text systematisch überblendet. So spricht der Erzähler zum Beispiel vom „Geschlecht zerstreuten Mauerwerkes“ (HKG 1,4, S. 365, vgl. HKG 1,1, S. 347) oder vom „Geschlecht weißer, schlanker Säulen“ (HKG 1,4, S. 367, vgl. HKG 1,1, S. 349), und Heinrich erscheint „all das Mauerwerk“ auf dem „ganze[n] Berg […] wie eine Tradition“, wovon er „selbst ein Glied“ ist (HKG 1,1, S. 352). Zur Ableitung von Identität aus verschriftlichter ‚Genealogie‘ als einem literarischen Prinzip von Stifter und seinen Zeitgenossen vgl. Gerhard Neumann, „Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays“, in: Jahrbuch der KarlMay-Gesellschaft, 1987, S. 69–100, hier S. 86–92; zur Polysemie des ‚Geschlechts‘ in der Narrenburg als Index für eine begriffs- und mentalitätsgeschichtliche Umbruchstelle vgl. Sigrid Weigel, „Zur Dialektik von Geschlecht und Generation um 1800. Stifters ‚Narrenburg‘ als Schauplatz von Umbrüchen im genealogischen Denken“, in: Ohad Parnes/Sigrid Weigel/Ulrike Vedder/Stefan Willer (Hrsg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München 2005, S. 109–124. 25 HKG 1,4, S. 367f. und S. 396. 26 Ebd., S. 368 und S. 333.

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däre grüne Saal mit der Scharnastischen Porträtgalerie wirklich im Sixtusbau oder nicht doch im Christophbau mit den großen Spiegelglasfenstern und den wiederholt erwähnten grünen Vorhängen? Ruprecht führt Heinrich und Robert zwar ausdrücklich durch den Sixtusbau in den grünen Saal und auf demselben Weg auch wieder aus diesem heraus. Gleichwohl führt der Weg zum Eingang in den Saal aus einem Vorsaal „plötzlich um eine Ecke“.27 Und die „riesengroßen Fenster“ im dunkelgrün ausgeschlagenen Saal mit den „Fenstervorhängen“, die eine ausgeklügelte Lichtregie zur Inszenierung der Gemälde erlauben, gehören vollends zu den Insignien des Christophbaus.28 – Ist das Pförtnerhäuschen beim geheimen Eingang zur Burg jenes niedere breite Haus, das der Kastellan mit seiner Enkelin Pia bewohnt, oder jenes kleine, steinerne Haus, das sich Graf Jodok bauen ließ, nachdem er seinen ‚Parthenon‘ niederbrannte? Direkt nach ihrem Eintritt in die Burg stoßen Heinrich und Robert auf „ein kleines Häuschen“, in dem sie „wahrscheinlich die Wohnung des Pförtners“ vermuten und das später als ein „an einer Sandlehne“ gelegenes „niederes breites Haus“ näher bestimmt wird. Aber auch Jodok bewohnte nach seiner Burgvernichtung „unten am Berge“ der Rothensteiner Anlagen „ein kleines, steinernes Haus mit zwei Zimmern“.29 – Nicht obwohl, sondern gerade weil diese Gebäude en détail identifiziert werden, de-identifizieren die vielen Requisitverschiebungen die markanten Einzelbauten. Die Zeichenordnungen, die der Text inszeniert, desorganisieren die Szene. Die unterschwelligen Austauschbewegungen provozieren eine gleitende Textsemiose.30 Der allgemeine Zerfall zersetzt Identitäten also nicht schlechthin, er verschiebt sie vielmehr in neue, heterogene Formationen. Und im Kopf des Lesers entsteht das Bild eines Architekturcapriccios, wie es die Gemüter um die Mitte des 19. Jahrhunderts in zahllosen populären Varianten emblematisch für die epochale Stilverwirrung der Zeit erregt hatte (Abb. 2).

27 Ebd., S. 378, S. 395 und S. 382. 28 Ebd., S. 382, S. 384 und S. 369. 29 Ebd., S. 365, S. 397 und S. 333. 30 Zu schematisch verfährt hier Heidrun Ehrke, Die Funktion der Farben in Adalbert Stifters „Studien“, Frankfurt a.M./Bern/Las Vegas 1979. Vgl. dazu auch die Kritik Begemanns, Die Welt der Zeichen, S. 237f. – Erika Tunner, „Farb-, Klang- und Raumsymbolik in Stifters Narrenburg“, in: Recherches Germaniques, 7/1977, S. 113–127, weist zwar auf die Verzahnung der Komplementärfarben Grün und Rot hin, interpretiert diese dann aber wiederum zu statisch im Sinne einer „Versöhnung der Gegensätze“ (S. 125).

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Abb. 2: Kritik auf den Stilpluralismus des Historismus, in: Fliegende Blätter, Bd. XXV, 1856, aus: Michael Brix/Monika Steinhauser (Hrsg.), Geschichte allein ist zeitgemäß. Historismus in Deutschland, Gießen/Lahn 1978, S. 261.

Nun gibt es aber auf der Narrenburg zwei Architekturen, die von der heillosen Stilfrage ausgenommen sind: den um 1800 errichteten Christophbau und die auf dem ganzen Rothenstein verstreuten Glasarchitekturen. Interessanterweise wird diese Stilindifferenz in beiden Fällen durch die Journalfassung näher bestimmt, die ansonsten ja architektonische Details dem dominanten Interesse an autopoetischen Allegorien opfert. Der Christophbau, obwohl neu, war doch nicht in neuem Style gebaut, aber auch nicht im alten – und einen ganz sonderbaren Eindruck machte der Umstand, daß, obschon das Aeußere allerorts von innerer Pracht redete, doch das Ziegeldach in einem Zustande war, wie das einer verwitternden Ritterburg.31

Das bedeutendste Glashaus der Narrenburg lehnt sich, an exponierter Stelle platziert, bezeichnenderweise an diese stilneutrale Bauruine an: „Auch auf dieser äußersten Spitze war ein Bauwerk, aber nur ein länglich rundes Dach von Säulen getragen, zwischen welche man im Winter Glasfenster schieben kann.“32 Die Journalfassung präzisiert, dass es sich bei diesem verglasten Gartenhaus um

31 HGK 1,1, S. 353. 32 HGK 1,4, S. 368.

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einen Wintergarten im maurischen Stil handelt, welcher dem Bedürfnis des bürgerlichen Zeitalters nach Exotischem und Orientalischem so ganz entspricht. Ruprecht führt seine Gäste hier „vorwärts auf die Spitze der Landzunge bis an den äußersten Punkt […] – und dort war auch ein Bauwerk zur Aussicht aufgeführt, fast wie eine Moschee aussehend, aber statt der Wände waren nur schlanke Säulen mit breiten Zwischenräumen zur Umsicht, und mit umlaufenden Sitzen von dem rothen Landesmarmor gehauen“.33 Eben dieses außerordentliche Architekturensemble wählt Stifter zum Schauplatz für eine Grundsatzreflexion über das Hauptthema der Narrenburg: das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit. Für diese Zentralidee schwenkt die Studienfassung wieder fast wörtlich auf die Formulierung der Journalfassung ein: Wohl war das Land noch, wie gestern: grün und weich und ruhig lag die ganze Fichtau in der Sommervormittagsluft unten, ein sanftes Hinausschwellen von Hügeln und Bergen, bis wo der blaue Hauch der Ferne weht, und mitten drinnen der glänzende Faden der Pernitz – alles bekannt und vertraut, eine holde Gegenwart, herumliegend um die unklare Vergangenheit, auf der sie standen.34

Wenn Heinrich und Robert jetzt auf der Bergzunge vor dem Gartenhaus am Christophbau stehen und über den Rothenstein in die Fichtau zurückblicken, aus der sie gestern gekommen sind, so behauptet der Text stracks dagegen, sie stünden hier auf einer „unklare[n] Vergangenheit“ und blickten dort in die „holde Gegenwart“. Die Begriffe von Gegenwart und Vergangenheit verkehren sich ihnen also geradewegs.35 Und derselben Begriffsverwirrung verfällt auch der Erzähler, wenn er für die Verfugung von Fichtau- und Rothenstein-Handlung die Metapher von Bild und Rahmen wählt. Noch erfüllt vom „heiteren Fichtauer Leben“ verspricht er dem Leser vor dem Aufstieg zum Rothenstein am „Ende […] wieder in die Gegenwart einzulenken, und so ein dämmerndes, düsteres Bild in einen heitern freundlichen Rahmen gestellt zur Ansicht zu bringen.“36 Und nur wenig später lässt er die beiden Burgbesucher von der Glasmoschee vor dem Christophbau herab „das heitere Bild zu ihren Füßen betrachte[n]“.37

33 HKG 1,1, S. 352. 34 HKG 1,4, S. 368f. Vgl. die Journalfassung, HKG 1,1, S. 352: „Freilich lag das Land unten, wie gestern: ein sanftes Hinausschwellen von Hügeln und Bergen, in der ruhigen Mittagsbläue der Luft schwimmend, mitten drinnen der glänzende Faden der Pernitz, alles bekannt und vertraut, eine milde Gegenwart, hold herumliegend um die unklare Vergangenheit, auf der sie standen.“ 35 HKG 1,4, S. 368f. 36 Ebd., S. 361 (Hervorhebung von mir, HGvA). 37 Ebd., S. 369.

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Das als Wintergarten beschriebene Gartenhaus markiert damit an topographisch exponierter Stelle einen doppelten Umschlagspunkt der Erzählung. Semiotisch verschränken sich in ihm die beiden Gegenräume des Textes, der Naturraum der Fichtau und der Kulturraum der Narrenburg.38 Und chronologisch verwirren sich hier Gegenwart und Vergangenheit, indem die gefühlte Zeit der Historie die gelesene Zeit der Narration durchkreuzt. Im Zeichen dieser doppelten Verwirrung wird das Gesamtprojekt der Narrenburg, die Überwindung der Tradition durch Restauration, suspekt. Eben dies macht das verglaste Gartenhaus auf dem Rothenstein ästhetikgeschichtlich bedeutsam. Denn es greift die zentrale Frage des Historismus auf: In welchem Style sollen wir bauen? Mit anderen Worten: Mit welchen modernen Mitteln kann man die Tradition bewahren und sich dennoch von ihr emanzipieren, um eine eigene Gegenwart zu gewinnen? Ein probates Mittel zur Lösung dieses epochalen Stilproblems hatten schon die frühen Theoretiker des Historismus im Bautyp des Gewächshauses erkannt. Der englische Garteningenieur John Claudius Loudon etwa experimentierte bereits 1818 mit krummflächigen Eisen- und Glaskonstruktionen, weil sich nach seinem Verständnis sphärische Körper mit dem Stil historischer Bauten am organischsten verbinden ließen und der Gegenwart so die dringend benötigten „höheren Ideen“ am sichersten zu liefern vermochten. Die architektonische Situation, die sich daraus ergibt und die Loudon auf seinem Landsitz in Bayswater im Westen Londons modellhaft nachgebaut hatte (Abb. 3), lässt sich unschwer in die Narrenburg hineindenken. Denn ganz wie Loudons Treibhäuser an die zinnenbewehrte Mauer von Bayswater House so schmiegt sich auch der orientalische Wintergarten an die „verwitternde Ritterburg“ des Christophbaus an.39 Aber auch die zünftige Architekturtheorie reagierte. Unter dem Eindruck der monumentalen Weiterentwicklung von Loudons Ideen in Joseph Paxtons Crystal Palace auf der Londoner Weltausstellung von 1851 (Abb. 4) formulierte Gottfried Semper, einer der führenden Architekturtheoretiker seiner Zeit, eine höchst bemerkenswerte These.

38 Die systematische Unterminierung der Raumopposition durch eine wechselseitige Implikation des jeweiligen Gegenraumes und dessen Prinzip (Natur/Kultur) unterstreicht vor allem Begemann, Die Welt der Zeichen, S. 225–233. 39 John Claudius Loudon, Sketches of Curvilinear Hothouses, London 1818, zit. nach: Georg Kohlmaier/Barna von Sartory, Das Glashaus. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, Münschen 1981, S. 230f.

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Abb. 3: John Claudius Loudon, „Sketches of Curvilinear Hothouses“, London 1818, in: Georg Kohlmaier/Barna von Sartory, Das Glashaus. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, München 1981, S. 241, Abb. 140.

Abb. 4: Joseph Paxton, Blick von Norden ins ‚Transept‘ des Crystal Palace, in: The Art-Journal Illustrated Catalogue of The Industries of All Nations, dedicated to His Royal Highness Prince Albert, London 1851, S. xviii.

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Semper behauptet nämlich, dass gerade die moderne, ökonomisch und ästhetisch deregulierte Kunstindustrie mit ihren massenhaft in allen möglichen Stilen produzierten Waren das gegenwärtige Stilwirrwarr in ein Extrem treibe, aus dem schließlich die ursprünglichen Stile wieder durch einen quasi-chemischen Prozess in elementarer Form ausfallen müssten: Während aber unsere Kunstindustrie richtungslos fortwirthschaften wird, erfüllt sie unbewusst ein hehres Werk, das der Zersetzung traditioneller Typen durch ihre ornamentale Behandlung. […] Diesen Process der Zersetzung der vorhandenen Kunsttypen muss die Industrie, die Speculation und die auf das Leben angewendete Wissenschaft vorher vollenden, ehe etwas Gutes und Neues erfolgen kann.40

Semper präzisiert, dass dabei „auf den Werken der Industrie die zum Theil fremden, zum Theil heimischen Formen zuerst zusammengeschmolzen“ würden, um so „zu einem dritten Neuen vorbereitet“ zu werden. Der unbewusste und überindividuelle Zersetzungsprozess schafft also durch die Massenproduktion der Kunstindustrie allererst die Voraussetzungen für die Amalgamierung eines neuen, spezifisch modernen Stils.41 Semper denkt diese These freilich nicht konsequent zu Ende. Statt der Industrie der Gegenwart zu vertrauen, erklärt er wenig später die Kunstindustrie der alten Griechen zum Modellfall. Bei den Griechen wurden die Gegensätze in einer höheren Idee zu neuer freier Gestaltung vereinigt […]. Als dieses geschah, hatte griechische Weisheit, griechische Wissenschaft den construirenden Standpunkt erreicht. Nicht blindlings, sondern sich ihrer selbst wohl bewusst fand die Idee ihren Ausdruck. […] Wir sind auf dem neuen Cyklus etwa dort angelangt, wo auf dem alten die Griechen vor der Zeit der ionischen Dichter waren.42

Um die Tradition für die Gegenwart retten und sie gleichzeitig überwinden zu können, muss die moderne Industrie für Semper zuletzt also doch durch individuelle und mit sich selbst identische ‚Ideen‘ kontrolliert sein.

40 Gottfried Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühles, Braunschweig 1852, S. 27 und S. 31. Sempers Formulierung von der „Zersetzung traditioneller Typen“ ist missverständlich. Der ‚Zersetzungsprozess‘ bezieht sich nicht auf die ursprünglichen Kunstformen oder -typen, sondern auf ihre historisch tradierten Varianten. Diese sollen durch die Industrie ‚zersetzt‘ und in einer Weise semantisch neutralisiert werden, dass sie in der Reduktionsform der ursprünglichen Grundtypen als Ausgangsmaterial für neue Gestaltungen verfügbar werden. 41 Ebd., S. 33. Vgl. dazu Hans-Georg von Arburg, Alles Fassade. ‚Oberfläche‘ in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770–1870, München 2008, S. 317–321. 42 Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst, S. 32–35, hier S. 34f.

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Auch diese Ideen aus der zeitgenössischen Architekturtheorie hallen in Stifters Narrenburg wider. Was bei Semper indes ein latenter Widerspruch ist, das wird bei Stifter zum offenen Problem. Denn eben die Prinzipien von Individualität und Identität verheeren das Schreiben und Bauen der Scharnasts auf dem Rothenstein. Statt seine Erben durch die eigene Lebensgeschichte zu bessern, bewirkt jeder Burgherr bei diesen allein wieder „so viel verrücktes Zeugs […], als nur immer in eine Lebensbeschreibung hineingeht“.43 Er erschreibt sich dadurch aber auch nicht seine eigene Identität, sondern agiert, wie alle Scharnasts vor ihm auch schon agiert hatten. Das Individualitätsprinzip auf dem Rothenstein steht unter einem Identitätsdruck. Wie unausweichlich diese Konstruktion ist, beweist der „Dämon der Thaten“ der Scharnasts, der die Szene beherrscht. Dieser Dämon geht als ein gespenstisches es auf dem Rothenstein um. Dass sich die Gespenster des Rothensteins längst auch in Heinrichs Tun und Treiben eingenistet haben, beweist der Beginn des Restaurationsberichts. Wo anfänglich noch die von Heinrich angestellten Arbeitskräfte schaffen, rührt sich bald der ganze Berg, und die Hände legen selbst Hand an. Die Werktätigen changieren zum selbsttätigen es: [W]ährend Arbeitsleute aller Art auf dem Rothensteine beschäftigt waren, so daß es schien, als rühre sich nun der ganze Berg, […]: während kein Weg auf dem Berge war, auf dem nicht ein Karren quiekte, kein Busch, hinter dem es sich nicht rührte, kein Dach, auf dem es nicht ging, kein Zimmer, in dem es nicht scheuerte […], ging Heinrich langsam […] in das einzige Bauwerk, in welchem keine Hand sich regte.44

Heinrich tritt seinen Gang ins Rothensteiner Familienarchiv also von Anfang an im Geleit der väterlichen Gespenster an. Und das gespenstische es holt schließlich auch seinen Versuch zum Wiederaufbau des Erbsitzes ein.45 Im unterirdischen Archiv angekommen, liest Heinrich einzig die Autobiographie seines Großonkels Jodok und bricht dann sein Lektürepensum entgeistert ab. Dabei ist er unfähig, die Rollen im roten Saal zu verbrennen und das Familienarchiv in die Luft zu sprengen, wie ihm Jodok in seiner Lebensbeschreibung rät: „Wenn es dein Gewissen zuläßt, später Enkel, so verbrenne die Rollen, und sprenge den Saal in die Luft. Ich thäte es selber, aber mir schaudert vor meinem Eide. Kannst es aber auch du nicht thun, so vergiß doch augenblicklich das Gelesene, daß sich die Gespenster all ihres Thuns nicht in dein Leben mischen und es trüben“, warnt Jodok jeglichen Leser seiner düsteren Memoiren.46 Stattdessen versucht Heinrich 43 44 45 46

HKG 1,4, S. 322. Vgl. oben, Anm. 10. Ebd., S. 408f. (Hervorhebungen von mir, HGvA). Ebd., S. 410. Ebd., S. 411f.

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den unglückseeligen Dämon seiner Ahnen durch einen Trick zu bannen: Er baut nichts Eigenes und will die unheilvolle Geschichte der Scharnasts durch seine Restauration stillstellen und so abschließen. Aber gerade dadurch verschafft sich Heinrichs Individualismus umso rücksichtsloser Geltung. Heinrich wirkt stetig „bis es war, wie er es wollte“.47 Und so baut er ausgerechnet dort weiter, wo schon Jodok die Katastrophe seines Lebens erfahren hatte: auf dem Fundament von Jodoks Glashäusern.48 In den Glashäusern Jodoks war es einst zum Ehebruch zwischen Chelion, die der egoistische Bauherr aus Indien nach Europa umgesiedelt hatte, und dessen Bruder Sixtus gekommen, dem Heinrich zum Verwechseln ähnlich sieht.49 Und auf den „Grundfesten“ eben dieser Glashäuser errichtet Heinrich nun die Treibhäuser für seine Naturaliensammlung.50 Wie Jodok in seinem künstlichen Paradies die ehemalige Paria Chelion von ihrem Heimweh zu heilen versucht hatte, so macht Heinrich im Klima seiner Treibhäuser aus der „einstige[n] Anna aus der grünen Fichtau […] fast ein halbes Wunderwerk“.51 Heinrich tut also alles, wie es ihm Jodok von Scharnast vorgemacht hat, nur unter geänderten Vorzeichen.52 Diese Vorzeichen stehen ausdrücklich auf Glück, aber dieses Glück ist ebenso unmissverständlich gefährdet. Der vorletzte Satz des Textes wünscht den Segen Gottes über Heinrich und Anna bezeichnenderweise „empor“ und nicht herab: „Und so, du glückliches Paar, lebe wohl! Gott der Herr segne dich, und führe noch unzählige glückliche Tage über deinen Berg und die Herzen der Deinen empor.“53 Die irritierende Umkehrung des naturgemäß von oben nach unten wirkenden göttlichen Segens zu einer nicht ganz geheuren Bewegung von unten nach oben schreibt noch dem Glücksversprechen selbst seinen Gegensinn ein. Und nicht weniger unheilschwanger ist der letzte Satz der Erzählung, der die Veröffentlichung weiterer Autobiographien aus dem Scharnastischen Familienarchiv in Aussicht stellt: „Wenn von den andern Schriften des rothen Felsensaales von Julian, Christoph, Prokop, etwas bekannt wird, so wird

47 Ebd., S. 430f. (Hervorhebungen von mir, HGvA). 48 Ebd., S. 429f. 49 Ebd., S. 419–423. 50 „Die Grundfesten der alten Glashäuser des Jodokus waren bei Wegräumungen wieder entdeckt worden, und man hatte darauf weiter gebaut“ (ebd., S. 428). Dass Jodoks Biographie anfänglich durchaus glücklich verlief, ist der Bemerkung zu entnehmen, „alles, was [er] in den vielen Blättern oben geschrieben habe“ sei „so heiter und so freundlich“ gewesen (S. 411). Von dieser Biographie erfährt der Leser freilich nur den düsteren Abschluss, da er mit Heinrich diese „Blätter“ erst von „einem eingelegten Zeichen“ an weiter liest (S. 410). 51 Ebd., S. 435. Die Parallele zwischen Anna und Chelion wird wiederholt explizit gezogen (vgl. S. 432 und S. 434). 52 Vgl. Begemann, Die Welt der Zeichen, S. 222f. 53 HKG 1,4, S. 436.

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es dereinst vorgelegt werden.“54 Denn dass die Lebensbeschreibungen im Felsensaal dem Rothenstein als Sprengsatz eingebaut sind, beweist nichts schlagender als der grimmige Prokopus (1847/48), der einzige Text aus dem Scharnast-Komplex, den Stifter nach der Narrenburg später tatsächlich noch publiziert hat.

V Schluss: die zwei Wirklichkeiten des literarischen Textes Was zeigt uns die Figura der Narrenburg in Stifters gleichnamiger Erzählung? Gesteht man den Fiktionen eines literarischen Textes eine eigene Wirklichkeit zu, dann lässt sich die These von der in der Narrenburg beschriebenen Architektur als Allegorie dieser Wirklichkeit im Sinne der Autonomieästhetik nicht halten. Zu deutlich hat Stifter den Abschluss dieser Architektur in Frage gestellt: durch die Öffnung der hermetischen Außenmauer, durch den architektonischen ‚Complex‘ im Inneren und durch die Unterminierung dieses Komplexes im Archiv des ‚rothen Steins‘. Diese komplexe Wirklichkeit der Erzählung steht in einem nicht weniger vertrackten Austauschverhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit. Das zeigen die Anspielungen auf den Architekturdiskurs der Zeit. In den literarisierten Architekturen der Narrenburg handelt Stifter das Kardinalproblem des Historismus ab: die Regulierung des Vergangenheitsbezugs als Motor einer genuin modernen Ästhetik. Um eine neue Tradition zu begründen, setzte der Architekturtheoretiker Semper auf den Bruch mit dieser Tradition durch industrielle Prozesse. Im Gegensatz dazu führt Stifter eine Restaurationsphantasie vor, die die Tradition einfrieren will, um die Macht dieser Tradition zu brechen. Beide Versuche müssen scheitern, weil sie individuelle und mit sich selbst identische Elemente in widersprüchlicher oder unzulänglicher Weise in ihr Modernisierungskalkül einbeziehen. Dieses ist die Wirklichkeit des ästhetischen Programms, um das es in Stifters Narrenburg geht. Es sind – wenn schon – zwei Wirklichkeiten, die hier am Werk sind: eine literarische und eine außerliterarische, in diesem Fall eine architektonische Wirklichkeit. Die Literatur aber handelt sich die Eigenlogik der Architektur unweigerlich mit ein, wenn sie sie als Thema in ihren Dienst nimmt. Das kann nur erkennen, wer die Architekturen des Textes als ‚figurae‘ ernst nimmt: als literarische Realien, die wohl auf das Problem fiktionalen Erzählens bezogen sind, die aber doch auch eine ganz eigene Geschichte erzählen. Was diese Textfiguren zeigen, kann nur sehen, wer auch hören will, was sie sagen.

54 Ebd.

Stefanie Fricke, München

„The days of England’s glory have their number“ Antizipierte Ruinen in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts I Empire has hitherto rolled westward: when we contemplate the dominions of Great Britain, and its wide-extended power, we may without presumption imagine that it now hovers over Great Britain; but it is still on the wing; and whether it be destined to retrace its steps to the East, or to continue its flight to Transatlantic regions, the days of England’s glory have their number, and the period of her decline will at length arrive. The inhabitants of these islands may, like the sons of Greece and Italy, lie prostrate at the feet of a victorious enemy, and claim his compassion as a tribute due to the greatness of their ancestors.1

John Eustace stellt in dieser Passage aus seinem populären Reisebericht A Classical Tour through Italy (1812) einen Bezug zwischen den untergegangenen Reichen der Antike und Großbritannien her. Für ihn scheint ein ähnliches Schicksal des Britischen Empires unabwendbar, auf imperiale Größe folgt Nieder- und Untergang. Eustace greift damit eine Vorstellung auf, die im Großbritannien des 19. Jahrhunderts immer wieder in den unterschiedlichsten Diskursen auftaucht und die sich aus dem Geschichtsverständnis und der Inszenierung Großbritanniens als Nachfolger der alten Reiche, vor allem des Römischen Imperiums, ergab:2 Je intensiver die Identifikation mit den früheren Hochkulturen war, desto stärker musste auch die Angst vor dem scheinbar unvermeidbaren Niedergang sein, denn die Geschichte schien zu zeigen, dass politische und kulturelle Vormachtstellung nie fest an ein Volk gebunden war, sondern in einem Akt der translatio imperii immer wieder auf neue Völker und Staaten überging. Der Untergang der antiken Reiche wurde somit als Vorausdeutung des Schicksals des Britischen Empires gesehen. Ausgelöst wurde die Kontemplation des zukünftigen Niedergangs Großbritanniens häufig durch die Konfrontation mit noch vorhandenen Ruinen der alten Hochkulturen. Sie verkörperten die ruhmreiche Vergangenheit, gaben zugleich

1 John Chetwode Eustace, A Classical Tour through Italy: An. MDCCCII [1812], Bd. 1, London 1815, S. 23f. 2 Vgl. hierzu Norman Vance, The Victorians and Ancient Rome, Oxford 1997.

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jedoch auch Zeugnis von Niedergang, Zerstörung und Vergessen, und konnten somit ebenfalls als Zeichen der eigenen Vergänglichkeit gedeutet werden. Ruinen als literarische und künstlerische Symbole hatten im 19. Jahrhundert bereits eine lange Tradition.3 Gerade die Tatsache, dass eine Ruine (außer es handelt sich um künstlich geschaffene) per Definition nicht mehr das ist, was sie ursprünglich war, sondern die originäre Form und Funktion des architektonischen Gebildes durch natürlichen Verfall, kriegerische Auseinandersetzungen oder Naturkatastrophen verloren sind, machte sie zu einem wertvollen und versatilen Symbol. Ruinen stehen zwischen Sein und Nicht-mehr-Sein, Innen- und Außenraum, Kultur und Natur und müssen auf Grund ihrer Fragment-Natur immer vom Betrachter ergänzt und interpretiert werden. Somit können Ruinen – je nach Kontext und Haltung des Rezipienten – beispielsweise traditionell als Symbol der vanitas mundi rezipiert werden, sie können aber auch konkret vor Entwicklungen warnen, die die Zerstörung hervorgerufen haben. Steht der Betrachter dem ursprünglichen Bauwerk und dem dahinterstehenden politischideologischen System negativ gegenüber, kann die Ruine hingegen positiv, als Zeichen der Überwindung jenes Systems und des Beginns einer neuen Ordnung interpretiert werden. Eine weitere Deutungsmöglichkeit wird in einem Zitat von Goethe aus dem Jahr 1787 deutlich: Diese Tage war ich einigemal bei dem grossen Obelisk, der noch zerbrochen zwischen Schutt und Kot in einem Hofe liegt. Es war der Obelisk des Sesostris, in Rom zu Ehren des Augusts aufgerichtet, und stand als Zeiger der grossen Sonnenuhr, die auf dem Boden des Campus Martius gezeichnet war. Dieses aelteste und herrlichste vieler Monumente liegt nun da zerbrochen, einige Seiten (wahrscheinlich durchs Feuer) verunstaltet. Und doch liegt es noch da, und die unzerstoerten Seiten sind noch frisch, wie gestern gemacht und von der schoensten Arbeit (in ihrer Art).4

Ruinen können folglich auch frühere, in die Gegenwart fortwirkende Größe symbolisieren. Denn selbst wenn sie sich nun in einem Zustand des Verfalls befinden, zeugen sie doch immer noch vom Können und der einstigen Macht der Erbauer. Auch zur Konstruktion nationaler Identitäten können Ruinen beitragen, scheinen sie doch Zugang zur und Kontinuität mit der Vergangenheit zu schaffen.

3 Zur Ruine als Motiv in Kunst und Literatur vgl. beispielsweise Christopher Woodward, In Ruins, London 2001; Reinhard Zimmermann, Künstliche Ruinen: Studien zu ihrer Bedeutung und Form, Wiesbaden 1989; Paul Zucker, Fascination of Decay: Ruins: Relic-Symbol-Ornament, Ridgewood, NJ 1968; und Hartmut Böhme, „Die Ästhetik der Ruinen“, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989, S. 287–304. 4 Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise [1816/17, 1829], Herbert von Einem (Hrsg.), München 1998, S. 393 (Brief vom 03.09.1787).

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Zudem symbolisieren berühmte Ruinen wie die Jerusalemer Klagemauer, das Alamo oder die Berliner Mauer wichtige Ereignisse der nationalen Geschichte und bieten nationale Erinnerungsorte. Dieser weite Deutungsraum machte das Ruinenmotiv auch für die Auseinandersetzung mit dem möglichen Untergang Großbritanniens wertvoll. Dabei wurden nicht nur Ruinen der Vergangenheit als Ausgangspunkt für Meditationen über die eigene Vergänglichkeit herangezogen, sondern häufig ausgehend von antiken Ruinen auch die Zerstörung von Gebäuden der eigenen Gegenwart, also quasi „antizipierte“ Ruinen, visualisiert. Die Beziehung zwischen antiken und antizipierten Ruinen wird beispielsweise in einem Bild des Architekten John Gandy unter dem Titel Cut away perspective drawing of the Bank of England as a ruin aus dem Jahr 1830 deutlich.

Abb. 1: John Gandy, Cut away perspective drawing of the Bank of England as a ruin (1830). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Kuratoriums des Sir John Soane’s Museum.

Hier imaginierte John Gandy, ein Mitarbeiter von John Soane, der von 1788 bis 1833 für den Bau der Bank of England verantwortlich war, diese als Ruine. Sein Bild erinnert dabei an Darstellungen von Pompeji, die Ruine der eigenen Gegenwart wird also in Anlehnung an antike Ruinen konstruiert.5

5 Vgl. Werner Oechslin, „Die Bank of England – und ihre Darstellung als Ruine“, in: Archithese, 2/1981, S. 19–25, insbes. S. 19 und S. 23–25.

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Der Bezug auf die Vergangenheit, wie er in dem Bild von John Gandy und vielen weiteren Beispielen aus dem 19. Jahrhundert deutlich wird, zeigt, dass die Zukunft vor der Folie der Vergangenheit, vor allem der Antike und dem Mittelalter, entworfen wurde. Der eigene Untergang schien überhaupt erst durch den Rückgriff auf allgemein bekannte Bilder früheren Niedergangs darstellbar. Dieser Rekurs auf die Vergangenheit konnte zudem das verstörende Potenzial der Zukunftsvisionen abmildern, wurde die eigene Gegenwart durch den Vergleich mit der Antike doch nobilitiert. Es wurde nicht nur impliziert, dass die Ruinen der eigenen Gegenwart ähnlich fortwirken würden wie die des Altertums, sondern dass Großbritannien selbst eine entsprechende Bedeutung habe und der legitime Nachfolger der alten Reiche sei. Die Imagination der eigenen Gegenwart in Ruinen ist nicht spezifisch für das Großbritannien des 19. Jahrhunderts,6 erhielt dort durch die Inszenierung des Britischen Empires als Nachfolger der antiken Reiche sowie durch kulturgeschichtliche und politische Entwicklungen jedoch eine besondere Dimension und Dringlichkeit. So stand beispielsweise zu Beginn des 19. Jahrhunderts lange nicht fest, ob Großbritannien die internationale Bedeutung, die es im 18. Jahrhundert unter anderem durch den Gewinn des Siebenjährigen Krieges erreicht hatte, würde halten können.7 Der Verlust der USA am Ende des 18. Jahrhunderts und die Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich von 1793 bis 1815, während denen Großbritannien wiederholt von einer französischen Invasion bedroht war, führten zu Ängsten um das Empire und Großbritannien selbst. Auf den Sieg bei Waterloo folgten Jahrzehnte innenpolitischer Auseinandersetzungen, und am Ende des 19. Jahrhunderts sah sich Großbritannien neuen 6 Beispiele aus dem 18. Jahrhundert finden sich in David Skilton, „Tourists at the Ruins of London: The Metropolis and the Struggle for Empire“, in: Cercles, 17/2007, S. 93–119. Auch in Frankreich gab es ähnliche Untergangsvisionen, beispielsweise in C. N. Cochins Fouilles de Sainte-Geneviève en 2355 (1757), Sébastien Merciers L’an deux mille quatre cent quarante (1771) und Tableau de Paris (1781), Victor Hugos Le temps et les cités (1817) und A l’arc de triomphe (1837), Joseph Mérys Les ruines de Paris l’an de J. C. 3844 (1843) und A. Franklins Les ruines de Paris en 4875 (1875). Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum sind Franz Grillparzers Schreiben des jungen Tomes Dikson an seinen Vater in Philadelphia (1826/1830) und Anastasius Grüns Die Ruinen in Spaziergänge eines Wiener Poeten (1831) (vgl. Philippe Junod, „Ruines anticipées ou l’histoire au futur antérieur“, in: L’homme face à son historie: cours géneral public 1982–1983, Lausanne 1983, S. 23–47, S. 37f., Günter Metken, „Les Ruines Anticipées“, in: Anne Poirier/Patrick Poirier [Hrsg.], Domus Aurea: Fascination des Ruines, Paris 1978, S. 17–24, S. 22, und Christiane Zintzen, Von Pompeji nach Troja: Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, Wien 1998, S. 242f.). 7 Einen guten Überblick über die britische Geschichte des 19. Jahrhunderts bieten Stephen J. Lee, Aspects of British Political History, 1815–1914, London 1994, und Lawrence James, The Rise and Fall of the British Empire, London 1994.

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außenpolitischen Konkurrenten wie dem Deutschen Kaiserreich, Russland und den USA gegenüber. Zur politischen Unsicherheit kamen tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen durch die Industrialisierung. Wissenschaftliche Entdeckungen und neue Theorien im Bereich der Geologie und Biologie stellten zudem das durch die Bibel geprägte Weltbild früherer Jahrhunderte und die Rolle des Menschen darin fundamental in Frage. Vor diesem politischen und kulturgeschichtlichen Hintergrund bot die Auseinandersetzung mit Ruinen – antiken und antizipierten – britischen Autoren die Möglichkeit, in einem literarischen und dadurch ‚sicheren‘ Experimentalraum zeitgenössische Ängste bezüglich der Zukunft Großbritanniens durchzuspielen. Im Folgenden sollen einige Beispiele für antizipierte Ruinen in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts vorgestellt und der unterschiedliche Umgang mit diesem Motiv analysiert werden.8

II Ein berühmtes Beispiel für einen Text, in dem die Darstellung des verfallenen Großbritanniens mit der zeitgenössischen politischen Situation verbunden wird, ist das lange Gedicht Eighteen Hundred and Eleven von Anna Letita Barbauld, das Anfang des Jahres 1812 veröffentlicht wurde.9 Die Situation Großbritanniens war damals durchaus besorgniserregend: 1811 stand es seit 17 Jahren im Krieg mit Frankreich. Außer Portugal wurde ganz Kontinentaleuropa von Napoleon kontrolliert und es schien fraglich, ob der Krieg gegen Frankreich jemals zu einem britischen Sieg führen könne. Innenpolitisch verursachte der Streit darum, wie der Krieg zu führen sei, eine Regierungskrise, und 1811 musste König George III., der bereits seit 1788 an einer Geisteskrankheit litt, die Regentschaft an seinen ältesten Sohn, den späteren George IV., übergeben. Die britische Zivilbevölkerung litt unter den Auswirkungen der Kontinentalsperre, Inflation und Arbeitslosigkeit und 1810–11 entlud sich die Spannung in Unruhen und Hungerrevolten.10

8 Eine ausführliche Darstellung dieses Phänomens im Großbritannien des 19. Jahrhunderts findet sich in Stefanie Fricke, Memento Mori: Ruinen alter Hochkulturen und die Furcht vor dem eigenen Untergang in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Trier 2009. 9 Vgl. Anna Letitia Barbauld, The Poems of Anna Letitia Barbauld, William McCarthy/Elizabeth Kraft (Hrsg.), Athens, GA 1994, S. 309. 10 Vgl. ebd., S. 309, Maggie Favretti, „The Politics of Vision: Anna Barbauld’s ‚Eighteen Hundred and Eleven‘“, in: Isobel Armstrong/Virginia Blain (Hrsg.), Women’s Poetry in the Enlightenment: The Making of a Canon, 1730–1820, Basingstoke 1999, S. 99–110, S. 102f.

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Diese Krisensituation ist der Ausgangspunkt von Eighteen Hundred and Eleven, das mit einer eindringlichen Beschreibung des unter dem Krieg leidenden Europas beginnt.11 Barbauld kritisiert, dass Großbritannien selbst durch seine Politik zum Elend des Krieges beitrage, und warnt vor den Auswirkungen des Konflikts und dem ökonomischen Niedergang.12 Sie schildert den unvermeidlichen Zyklus vom Aufstieg und Fall großer Reiche und das unaufhaltsame Weiterziehen des Geistes der Zivilisation, der zwar momentan auf Großbritannien ruhe, aber schließlich auf eine andere Nation übergehen werde.13 Der Niedergang Großbritanniens in einer temporal nicht näher verorteten Zukunft ist für sie unausweichlich, doch stellt sie dem das Fortleben der britischen Kultur gegenüber: If westward streams the light that leaves thy shores, Still from thy lamp the streaming radiance pours. Wide spreads thy race from Ganges to the pole, O’er half the western world thy accents roll: Nations beyond the Apalachian hills Thy hand has planted and thy spirit fills: Soon as their gradual progress shall impart The finer sense of morals and of art, Thy stores of knowledge the new states shall know, And think thy thoughts, and with thy fancy glow; Thy Lockes, thy Paleys shall instruct their youth, Thy leading star direct their search for truth;14

Das britische Weltreich garantiert laut Barbauld das Überleben des britischen Volkes, seiner Sprache und Kultur. Sie schildert, wie Bewohner der Kolonien als Touristen nach Großbritannien kommen und in einer Art Grand Tour wichtige Orte der britischen Kultur besuchen.15 Höhepunkt ist schließlich ein Besuch im verfallenen London: Pensive and thoughtful shall the wanderers greet Each splendid square, and still, untrodden street; Or of some crumbling turret, mined by time, The broken stair with perilous step shall climb,16

11 Vgl. Anna Letitia Barbauld, „Eighteen Hundred and Eleven“ [1812], in: The Poems of Anna Letitia Barbauld, McCarthy/ Kraft (Hrsg.), S. 152–161, V. 11–38. 12 Vgl. ebd., V. 4, V. 43–66. 13 Vgl. ebd., V. 215–274, V. 282–291, V. 313–320. 14 Ebd., V. 79–90. 15 Vgl. ebd., V. 127–138. 16 Ebd., V. 169–172.

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Die britische Kultur, die Barbauld ihre amerikanischen Besucher in der Zukunft rezipieren lässt, ist in auffälliger Weise die ihrer eigenen Gegenwart, sprich vor allem Künstler, Denker und politische Figuren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Samuel Johnson, Horatio Nelson und Joseph Priestley.17 Diese postulierte Kontinuität schließt die antizipierte Zukunft stärker an die Welt ihrer Leser an und macht Barbaulds Vision eindringlicher. Da keinerlei Zwischenetappe zwischen der eigenen Zeit und der Vision des untergegangenen Großbritanniens geschildert wird, wird die von Barbauld entworfene Zukunft als direktes Resultat der Gegenwart dargestellt. Die enge Anbindung an die Welt ihrer Leser ist für diese jedoch potenziell auch tröstlich, wird dadurch doch betont, dass die kulturellen Errungenschaften des frühen 19. Jahrhunderts trotz des Niedergangs Großbritanniens auch in der Zukunft fortbestehen werden. Trotz dieser Abschwächung der Untergangsvision war die Reaktion auf Barbaulds Gedicht äußerst ablehnend und heftig. John Wilson Croker schrieb in der konservativen Quarterly Review: Our old acquaintance Mrs. Barbauld turned satirist! The last thing we should have expected, and, now that we have seen her satire, the last thing that we could have desired. […] But she must excuse us if we think that she has wandered from the course in which she was respectable and useful, and miserably mistaken both her powers and her duty […]. We had hoped, indeed, that the empire might have been saved without the intervention of a ladyauthor: […]. Not such, however, is her opinion; an irresistible impulse of public duty – a confident sense of commanding talents – have induced her to dash down her shagreen spectacles and her knitting needles, and to sally forth […] in the magnanimous resolution of saving a sinking state […]. Mrs. Barbauld’s former works […] though they display not much of either taste or talents, are yet something better than harmless: but we must take the liberty of warning her to desist from satire, which indeed is satire on herself alone;18

Vor dem Hintergrund der außen- und innenpolitischen Krisen wurde die in Eighteen Hundred and Eleven ausgesprochene Kritik und Warnung als unangemessen aufgefasst. Anscheinend war Barbaulds Vision eines zum Niedergang verurteilten Großbritanniens zu verstörend, gab es doch eine reale Chance, dass es tatsächlich dazu kommen könnte. Die heftige Kritik an Eighteen Hundred and Eleven entzündete sich jedoch nicht nur an dessen Inhalt, sondern auch an der Person der Autorin. Anne Letitia Barbauld, die 1812 bereits 68 Jahre alt war, konnte auf eine lange und erfolgreiche literarische Karriere zurückblicken und hatte eine hohe öffentliche Reputation. Die Tatsache, dass Barbauld als Frau eine derartig

17 Vgl. ebd., V. 97, V. 101–112, V. 143, V. 146, V. 185, V. 191–198, V. 203. 18 John Wilson Croker, „Eighteen Hundred and Eleven“, in: The Quarterly Review, 14/1812, S. 309–313, hier S. 309, S. 313.

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düstere Vision entwarf, verstärkte die allgemeine Entrüstung und lag im Fokus vieler der negativen Rezensionen. Die Kritiker empfanden die kühle, distanziertkritische Autorität, die Barbauld in ihrem Gedicht zeigt, als unweiblich. Wie in Crokers Besprechung deutlich wird, sollte sie bei Frauen angemessenen Themen und ihren Haushaltspflichten bleiben und sich nicht weiter in die Politik einmischen.19

III War es Anfang des 19. Jahrhunderts der Kampf gegen Frankreich, der Visionen eines untergegangenen Großbritanniens auslöste, so kamen im Laufe des Jahrhunderts neue Ängste hinzu. Richard Jefferies nimmt in seinem Zukunftsroman After London aus dem Jahr 1885 das Problem der viktorianischen Umweltverschmutzung auf und verbindet es mit der Darstellung Londons in Ruinen. After London spielt in einem zukünftigen Großbritannien, das durch eine nicht genau bekannte Katastrophe einen Großteil seiner Bevölkerung verloren hat. Dadurch kommt es nicht nur zur zunehmenden Verwilderung des nunmehr lediglich dünn besiedelten Landes, sondern es geht auch wertvolles Wissen verloren. Letztendlich entwickelt sich Großbritannien zu einer mittelalterlichen Gesellschaft zurück, die durch soziale Ungerechtigkeit und Gewalt gekennzeichnet ist. Die Darstellung des Niedergangs Großbritanniens kulminiert in der surrealalbtraumhaft anmutenden Beschreibung Londons. London steht hier, wie bereits der Titel des Romans andeutet, stellvertretend für das alte Großbritannien. Der Untergang von „Ancient London“, der „marvellous city, of which such legends are related“,20 wird zum Symbol des Endes der modernen Gesellschaft. London hat sich jedoch nicht in eine romantisch-renaturierte Ruinenstadt verwandelt, die – wie bei Barbauld – zumindest noch von staunenden Besuchern gewürdigt werden kann, sondern ist nun ein tödlicher Sumpf.21 Als der Protagonist des Romans unabsichtlich auf die Ruinen Londons stößt, kostet ihn dies fast das Leben. Er findet sich in einer apokalyptischen Umgebung in der Land und Wasser gleichermaßen schwarz und leblos sind und alles von einem gelblich-leuchtenden, die Sinne betäubenden Nebel eingehüllt ist.22 Die Ruinen Londons selbst zerfallen unter seiner Berührung:

19 Vgl. Favretti, „The Politics of Vision“, S. 100–102, S. 107f., und Jon Mee, Romanticism, Enthusiasm, and Regulation: Poetics and the Policing of Culture in the Romantic Period, Oxford 2003, S. 175f., S. 209–213. 20 Richard Jefferies, After London or Wild England, London 1885, S. 65, S. 67. 21 Vgl. ebd., S. 68f. 22 Vgl. ebd., S. 365–372.

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He carefully avoided touching them, for they seemed as brittle as glass, and merely a white powder having no consistency at all. As he advanced these remnants of buildings increased in number, so that he had to wind in and out round them. […] Whether the walls had been of bricks or stone or other material he could not tell; they were now like salt.23

Als Auslöser für diesen Zustand werden die großen Mengen an Abfall und giftigen Stoffen sowie die Überreste der Bevölkerung selbst, die sich im Laufe der Jahrhunderte in London angesammelt haben, aufgeführt: The earth on which he walked, the black earth, leaving phosphoric footmarks behind him, was composed of the mouldered bodies of millions of men who had passed away in the centuries during which the city existed.24

London ist in Jefferies’ Roman im wahrsten Sinne des Wortes zur Totenstadt geworden, zum leblosen und giftigen Abfallhaufen der britischen Zivilisation, dessen Ruinen nicht mehr rezipiert werden können. Jefferies greift hier zwei Motive aus dem zeitgenössischen Diskurs über die Hauptstadt auf: Zum einen die moralische ‚Verschmutzung‘ Londons, für die Verbrechen, Prostitution und die Zustände in den Elendsquartieren der Großstadt verantwortlich gemacht wurden, zum anderen die ganz reale Umweltverschmutzung, die in den Städten Großbritanniens immer mehr zunahm.25 1883 klagte William Morris: Not only are London and our other great commercial cities mere masses of sordidness, filth, and squalor […] not only have whole counties of England, and the heavens that hang over them, disappeared beneath a crust of unutterable grime, but the disease, which, to a visitor coming from the times of art, reason, and order, would seem to be a love of dirt and ugliness for its own sake, spreads all over the country, and every little market-town seizes the opportunity to imitate, as far as it can, the majesty of the hell of London and Manchester.26

23 Ebd., S. 375f. 24 Ebd., S. 379; auch S. 69. Da der Platz auf den Londoner Friedhöfen sehr begrenzt war, wurden die Toten dort tatsächlich häufig bis knapp unter die Oberfläche geradezu aufeinandergestapelt (vgl. Derek Jarrett, The Sleep of Reason: Fantasy and Reality from the Victorian Age to the First World War, New York 1989, S. 22). 25 Vgl. Barbara Korte, „After London – Die Metropole als Zukunftsruine bei Richard Jefferies (1885) und Ronald Wright (1997)“, in: Julika Griem/Hans Ulrich Seeber (Hrsg.), Raum- und Zeitreisen: Studien zur Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Tübingen 2003, S. 139–155, hier S. 151. 26 William Morris, „Art Under Plutocracy“ [1883], in: Political Writings of William Morris, A. L. Morton (Hrsg.), London 1973, S. 57–85, hier S. 64.

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In Jefferies’ Darstellung von London spiegeln sich außerdem zeitgenössische Ängste vor der Verseuchung des Bodens durch undichte Gasleitungen. Das Gas, das in teils bedeutenden Mengen austrat, färbte die Erde schwarz, verursachte übelriechende Ausdünstungen und verpestete das Wasser.27 Barbara Korte weist zudem darauf hin, dass auch die allgegenwärtigen städtischen Umbaumaßnahmen, die immer neue Ruinen schufen und den Londonern damit die Endlichkeit ihrer Metropole bewusst machten, als Einfluss auf Jefferies’ Darstellung des zukünftigen Londons gesehen werden können.28

IV Während Richard Jefferies in seinem Zukunftsroman die Auswirkungen der Verschmutzung der Großstädte auf die zukünftigen Ruinen Londons projizierte, nahm H. G. Wells in The Time Machine aus dem Jahr 1895 die Angst vor biologischer Degeneration auf. Als der Protagonist des Romans, ein namenloser spätviktorianischer Zeitreisender, im Jahr 802.701 ankommt, findet er dort eine stark veränderte Umwelt vor. London existiert nicht mehr, die Großstadt hat sich in einer akkadische Landschaft aufgelöst, in der der Zeitreisende keinerlei Spuren der eigenen Gegenwart mehr entdecken kann. Stattdessen wird die Parklandschaft von großen Gebäuden, offenbar Überreste einer Hochzivilisation, durchbrochen. Diese befinden sich jedoch in mehr oder weniger fortgeschrittenen Stadien des Verfalls: As I walked I was watchful for every impression that could possibly help to explain the condition of ruinous splendour in which I found the world – for ruinous it was. A little way up the hill, for instance, was a great heap of granite, bound together by masses of aluminium, a vast labyrinth of precipitous walls and crumpled heaps, amidst which were thick heaps of very beautiful pagoda-like plants […]. It was evidently the derelict remains of some vast structure, to what end built I could not determine.29

Interessanterweise erinnern die halb verfallenen Gebäude und Statuen, auf die der Zeitreisende trifft, ihn wiederum an die eigene Antike.30 Die Überreste der

27 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke: Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983, S. 44 (auch S. 38–43). Vgl. hierzu auch After London, S. 378f., sowie Jefferies’ Text Nightingale Road von 1893. 28 Vgl. Korte, „After London“, S. 140f. 29 H. G. Wells, The Time Machine [1895], John Lawton (Hrsg.), London 1995, S. 25 (vgl. auch S. 23f.). 30 Vgl. ebd., S. 19, S. 22f., S. 27, S. 54.

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zukünftigen britischen Hochkultur sind wieder nur Echos der Vergangenheit, beziehungsweise können vom Zeitreisenden nur im Rückgriff auf vertraute, antike Muster gedeutet werden. Wie er bald erkennen muss, steht der Verfall der Gebäude symptomatisch für den Niedergang der britischen Zivilisation. H. G. Wells, der selbst Biologie bei Thomas Huxley, dem großen Verfechter der Theorien von Charles Darwin, studierte,31 lässt seinen Reisenden auf zwei Menschenrassen treffen, die beide auf unterschiedliche Art degeneriert sind: Die schönen, kleinen und zarten, aber auch erschreckend dummen Eloi, die in der Parklandschaft ein scheinbar sorgenfreies Leben führen, und die kaum noch menschenähnlichen Morlocks, die unter der Erdoberfläche leben und von denen der Zeitreisende glaubt, dass sie sich von den Eloi ernähren. Der Reisende interpretiert diese Aufspaltung der Menschheit als Resultat sozialer Entwicklungen, die er aus seiner eigenen Zeit kennt, unter anderem die Verbannung der Arbeiterklasse in unterirdische Wohnungen und Arbeitsräume. Laut seiner Deutung haben sich die Eloi und Morlocks perfekt an ihre jeweilige Umwelt angepasst und sind dadurch auf unterschiedliche Art und Weise degeneriert.32 Wells rekurrierte hiermit auf zeitgenössische Ängste und Theorien und projizierte sie in die ferne Zukunft. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts untersuchten Wissenschaftler unterschiedlichster Fachbereiche das Phänomen der ‚Degeneration‘, das europaweit auf großes Interesse stieß. 1895 erschien Max Nordaus Entartung (1892) in Großbritannien und wurde im gleichen Jahr sieben Mal aufgelegt. Da der Begriff der Degeneration nicht klar definiert war, sondern auf biologische, ästhetische und politische Entwicklungen angewandt wurde, bot er einen Überbegriff und eine scheinbare Erklärung für eine Vielzahl zeitgenössischer Ängste.33 Unter anderem wurde dem städtischen Proletariat Degeneration unterstellt, was auf die teilweise katastrophalen Lebensumstände in den Großstädten zurückgeführt wurde: It is simply impossible that the English men and women of the future generations can equal or approach the famous race that has overspread the globe, if they are to be bred in towns

31 Der Einfluss Huxleys auf Wells war groß, so schrieb er in seiner Autobiografie: „That year I spent in Huxley’s class was, beyond all questions, the most educational year of my life.“ (H. G. Wells, Experiment in Autobiography: Discoveries and Conclusions of a very ordinary Brain (since 1866), Bd. 1, London 1934, S. 201. 32 Vgl. Wells, The Time Machine, S. 27–30, S. 43–45, S. 55f., S. 69f. 33 Zum Phänomen der Degeneration vgl. Stephen Arata, Fictions of Loss in the Victorian Fin de Siècle: Identity and Empire, Cambridge 1996, und Daniel Pick, Faces of Degeneration: A European Disorder, c. 1848–c. 1918, Cambridge 1989.

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such as Birmingham and Glasgow now are, and to rear their families under the conditions which now prevail in those places. Morally and physically they must and will decline.34

Der schlechte körperliche Zustand vieler Rekruten sowie militärische Niederlagen am Ende des 19. Jahrhunderts in den Konflikten mit den südafrikanischen Buren schienen derartige Ängste um das Britische Empire zu bestätigen.35 Wells griff diesen zeitgenössischen Diskurs auf und stellt in seinem Roman eine Zukunft dar, in der soziale in biologische Segregation gemündet ist. Die degenerierten Nachkommen der Briten leben in den Ruinen ihrer einstigen Hochkultur, haben jedoch keinerlei Interesse an der Vergangenheit und lassen deren Zeugnisse verfallen. Eindrucksvolles Symbol für diesen Niedergang ist ein Museum, das der Reisende in der Hoffnung auf Antworten aufsucht, nachdem er von den Bewohnern der Zukunft kaum Informationen über ihre eigene Kultur und Vergangenheit erhalten hat. Auch das Museum befindet sich jedoch in einem Zustand des Verfalls: I found the Palace of Green Porcelain […] deserted and falling into ruin. Only ragged vestiges of glass remained in its windows, and great sheets of the green facing had fallen away from the corroded metallic framework. […] along the face of it I saw an inscription in some unknown character. I thought, rather foolishly, that Weena [seine Eloi-Begleiterin] might help me to interpret this, but I only learned that the bare idea of writing had never entered her head.36

Doch die Hoffnungen des Zeitreisenden, im Museum Informationen zu finden, werden enttäuscht. Er kann die dort ausgestellten Gegenstände und technischen Geräte kaum deuten, und als er auf eine Bibliothek stößt, muss er feststellen, dass die Bücher bereits völlig zerfallen sind.37 Wells zeigt hier, dass Wissen, Kunst und Literatur nur so lange bestehen wie ihr Medium, beziehungsweise solange sie von der Nachwelt rezipiert werden. Seine Darstellung der Zukunft unterscheidet sich somit fundamental von Barbaulds: Zwar gibt es auch hier einen Besucher, der an den Ruinen und der Kultur, die sie symbolisieren, interessiert ist. Doch anders als bei Barbauld, in deren Gedicht die britische Kultur ungebrochen weiterlebt, ist hier einfach zu viel Zeit vergangen. Die eigene Kultur und Identität ist in der Zukunft verloren und der Zeitreisende kann die Ruinen der zukünftigen Hochkultur nicht deuten.

34 James Anthony Froude, Oceana: or England and Her Colonies [1886], Leipzig 1887, S. 342. 35 Vgl. William Greenslade, „Fitness and the Fin de Siècle“, in: John Stokes (Hrsg.), Fin de Siècle/ Fin du Globe: Fears and Fantasies of the Late Nineteenth Century, New York 1992, S. 37–51, hier S. 48. 36 Wells, The Time Machine, S. 57. 37 Vgl. ebd., S. 60.

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V Wie die Texte von Barbauld und Wells deutlich machen, benötigen antizipierte Ruinen Rezipienten, die bereit sind, diese zu interpretieren und sich von ihnen beeindrucken zu lassen. So ist das Bild des zukünftigen Besuchers wichtiger Bestandteil der Darstellung von antizipierten Ruinen. Waren die Vorstellungen von diesen zukünftigen Touristen zunächst noch sehr unterschiedlich, konkretisierten sie sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem bestimmten Bild, dem Neuseeländer. Diese Figur geht auf einen Text des berühmten viktorianischen Historikers Thomas Babbington Macaulay zurück. Im Oktober 1840 erschien in der Edinburgh Review eine Besprechung von Leopold von Rankes Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten (1834–36), in der Macaulay die Beständigkeit der katholischen Kirche darstellt: No other institution is left standing which carries the mind back to the times when the smoke of sacrifice rose from the Pantheon, and when camelopards and tigers bounded in the Flavian amphitheatre. […]. She saw the commencement of all the governments and of all the ecclesiastical establishments that now exist in the world; and we feel no assurance that she is not destined to see the end of them all. She was great and respected before the Saxon had set foot on Britain, before the Frank had passed the Rhine, when Grecian eloquence still flourished in Antioch, when idols were still worshipped in the temple of Mecca. And she may still exist in undiminished vigour when some traveller from New Zealand shall, in the midst of a vast solitude, take his stand on a broken arch of London Bridge to sketch the ruins of St. Paul’s.38

1840 war Neuseeland, das in diesem Jahr zur britischen Kolonie erklärt wurde, gerade ein aktuelles Thema. Die Wahl eines Neuseeländers als Touristen machte außerdem das Bild umso eindringlicher, stand Neuseeland doch für ein weit entferntes und unzivilisiertes Land, was die Wirkung des Rollentausches – nun bereist ein scheinbar gebildeter Neuseeländer das untergegangene Großbritannien – noch verstärkte. Zugleich implizierte es jedoch auch, dass diese Zukunft noch weit entfernt sei.39

38 Thomas Babbington Macaulay, „Von Ranke [1840]“, in: Miscellaneous Works of Lord Macaulay, Bd. 2, Lady Trevelyan (Hrsg.), New York 1895, S. 614–654, hier S. 614–616. Macaulay war anscheinend von der Idee eines zukünftigen Touristen in den Ruinen Londons fasziniert, hatte er ähnliche Bilder doch bereits früher mehrfach verwendet (vgl. seinen Artikel über William Mitfords History of Greece von 1824, die Rezension zu James Mills Essays on Government, Jurisprudence, the Liberty of the Press, Prisons, and Prison Discipline, Colonies, the Law of Nations, and Education von 1829 und einen Tagebucheintrag vom 22.11.1838). 39 Vgl. Michael Bright, „Macaulay’s New Zealander“, in: The Arnoldian, 10/1982, 1, S. 8–27, hier S. 14–16.

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Mit seiner Figur des Neuseeländers hatte Macaulay anscheinend einen Nerv der Zeit getroffen. Obwohl er nur kurz in der oben zitierten Rezension auftauchte, wurde der Neuseeländer für den Rest des 19. Jahrhunderts zum bestimmenden Bild des zukünftigen Touristen und tauchte immer wieder in unterschiedlichsten Kontexten auf.40 So berichtete beispielsweise Frances Trollope in A Visit to Italy (1842) von der Predigt eines englischen katholischen Geistlichen in Rom im Dezember 1841, in der er auf Macaulays Figur Bezug nahm. Auch eine Zeitkapsel, die Bürger von Nottingham 1871 unter dem Grundstein einer Kirche versenkten, enthielt eine Postkarte „To Macaulay’s New Zealander, or any other person it may interest, in or about A.D. 2960 […]“. Er wurde außerdem in einer Reihe von Romanen, Sachtexten und Zeitungsartikeln erwähnt.41 Die dunklen Implikationen der Figur wurden in diesen Texten abgeschwächt, der Neuseeländer war hier vor allem ein Symbol, das die Zukunft markiert. Als Warnung diente Macaulays Figur hingegen vor allem in politischen Reden und Zeitungsartikeln, deren Autoren sein Kommen aufführten, um vor zukünftigen Folgen zeitgenössischer Entwicklungen zu warnen. So nannte beispielsweise Anthony Trollope ein unveröffentlichtes, an Thomas Carlyles gesellschaftskritische Schriften erinnerndes Werk, das 1855–56 vor dem Hintergrund des Krimkrieges entstand, The New Zealander, und nahm auch im Text immer wieder Bezug auf dieses Motiv.42 Die berühmteste Manifestation des Neuseeländers ist jedoch eine Darstellung des französischen Künstlers Gustave Doré.

40 Vgl. Robert Dingley, „The Ruins of the Future: Macaulay’s New Zealander and the Spirit of the Age“, in: Ders./Alan Sandison (Hrsg.), Histories of the Future: Studies in Fact, Fantasy and Science Fiction, Basingstoke 2000, S. 15–33, hier S. 16. Zur Wirkungsgeschichte des New Zealanders vgl. Dingley, Bright und David Skilton, „Contemplating the Ruins of London: Macaulay’s New Zealander and Others“, in: Literary London: Interdisciplinary Studies in the Representation of London, 2/2004, 1, http://www.literarylondon.org/london-journal/march2004/skilton.html [Stand: 20.02.2012]. 41 In Nathaniel Hawthornes Our Old Home (1863), Mary Braddons Aurora Floyd (1862–63) und Henry Dunbar (1864), Hawley Smarts Bound to Win: a Tale of the Turf (1877), George Augustus Salas Twice Round the Clock or the Hours of the Day and Night in London (1858), James Anthony Froudes Oceana (1886) und in Chamber’s Book of Days (1864). 42 Vgl. Skilton, „Contemplating the Ruins of London“, Absatz 5, 7, Anthony Trollope, The New Zealander [1855–56], N. John Hall (Hrsg.), Oxford 1972, S. xi–xiv, S. xvi f.

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Abb. 2: Gustave Doré, The New Zealander (1872).

Für das von dem Journalisten Blanchard Jerrold verfasste, 1872 erschienene Werk London: A Pilgrimage schuf Doré 180 Illustrationen, darunter eine des Neuseeländers.43 London: A Pilgrimage gehört zum Genre der London-Erkundungsliteratur44 und beschreibt eine Reise durch die Großstadt, in der deren extreme Gegensätze, der große Reichtum und das nicht weniger große Elend, immer wieder gegenübergestellt werden. Dorés New Zealander ist die letzte seitenfüllende Illustration in diesem Werk, eine Zukunft, die sich durch die dargestellte Gegenwart ergeben kann. Diese Implikationen werden im Text selbst jedoch nicht aufgenommen, hier erscheint der Neuseeländer vielmehr im Kontext der Gewissheit, dass die zukünftigen Ruinen Londons denen der Antike ebenbürtig sein werden: Concluding our Pilgrimage […] we took at last to the river and the bridges. It is from the bridges that London wears her noblest aspect […]. Now we have watched the fleets into noisy Billingsgate; and now gossiped looking towards Wren’s grand dome, shaping Macau-

43 Vgl. John Coolidge, Gustave Doré’s London: A Study of the City in the Age of Confidence 1848–1873, Dublin, NH 1994, S. 19. 44 Vgl. Korte, „After London“, S. 141.

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lay’s dream of the far future, with the tourist New Zealander upon the broken parapets, contemplating something matching– „The glory that was Greece– The grandeur that was Rome.“45

In diesen unterschiedlichen Texten und Darstellungen verkörpert der Neuseeländer zwar den zukünftigen Untergang Großbritanniens, doch wird impliziert, dass er um die glorreiche Vergangenheit weiß und die Ruinen Londons in angemessener Weise rezipiert. Er verhält sich dabei in London genau so, wie britische Archäologen und Touristen in Italien, Griechenland und dem Orient: Er rezipiert die Ruinen, zeichnet sie und unterwirft sie dadurch in gewisser Weise seiner Interpretation und Bewertung.46 Solange der Neuseeländer als Nachkomme britischer Siedler dargestellt wurde, der selbst das Fortleben der britischen Kultur symbolisierte, war dies nicht problematisch, sondern eher versöhnlich. Macaulays Ursprungstext lässt jedoch offen, ob es sich bei dem Touristen um einen Nachfahren weißer Siedler handelt oder um einen Maori, was die Rezeption der Ruinen Londons zu einem verstörenden Akt der reverse colonisation – also der kolonialen Aneignung Großbritanniens durch fremde Völker – machen würde. Die Darstellung zukünftiger Touristen beinhaltete somit auch immer die Möglichkeit, dass diese eben nicht mehr der britischen Kultur angehören, und die eigene Gegenwart und deren Ruinen in der Zukunft folglich der Deutung durch Fremde unterliegen, die diese ‚falsch‘ beziehungsweise auf eine unerwünschte Art und Weise interpretieren könnten.

VI Ein Beispiel für diese beunruhigende Vorstellung findet sich in dem Gedicht The Burden of Nineveh des Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti von 1870.47

45 Gustave Doré/Blanchard Jerrold, London: A Pilgrimage, London 1872, S. 190. 46 Vgl. hierzu auch Mary Louise Pratt, Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation [1992], London 2008. 47 Eine erste Fassung des Gedichts entstand bereits 1850. Im August 1856 erschien The Burden of Nineveh in The Oxford and Cambridge Magazine, für seine Gedicht-Gesamtausgabe Poems von 1870 revidierte Rossetti es jedoch noch einmal grundlegend: vgl. Florence Saunders Boos, The Poetry of Dante G. Rossetti: A Critical Reading and Source Study, Den Haag 1976, S. 207. Meine Analyse bezieht sich auf die spätere Version von 1870, da diese weniger satirisch ist als die von 1856 und die geschilderte Zukunftsvision durch die Änderungen eine größere Dringlichkeit erhält.

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Mitte des 19. Jahrhunderts geriet das alte Reich der Assyrer immer mehr in den Fokus der britischen Öffentlichkeit. Grund dafür waren die Ausgrabungen des britischen Diplomaten und Archäologen Austen Henry Layard in Mesopotamien von 1845 bis 1851.48 Als die Funde Layards in London eintrafen, war das Interesse so groß, dass das Britische Museum dem Ansturm der Besucher kaum gewachsen war. Bücher über Ninive, vor allem Layards eigene Beschreibungen seiner Ausgrabungen in Nineveh and Its Remains (1849) und Discoveries in the Ruins of Nineveh and Babylon (1853), wurden zu Bestsellern.49 Der wohl bekannteste nach London transportierte assyrische Fund war die über drei Meter hohe und ca. 12 Tonnen schwere Statue eines geflügelten Stieres mit einem Menschenkopf. Als sie im Oktober 1850 London erreichte, wurde der Stier schnell zu einem Symbol für das alte Assyrien. Er konnte jedoch nicht nur als Sinnbild Assyriens, sondern auch als Warnung für Großbritannien verwendet werden, denn trotz aller offensichtlicher Unterschiede wurde Assyrien im damaligen Diskurs auch immer wieder als imperialer Vorläufer des Britischen Empires, das gerade in der Mitte des 19. Jahrhunderts große Gebietszuwächse verzeichnete, entworfen.50 Auch Rossettis The Burden of Nineveh postuliert anhand des geflügelten Stieres eine Verbindung zwischen dem modernen London und dem antiken Assyrien.51 In Rossettis Gedicht beobachtet das lyrische Ich beim Verlassen des Britischen Museums die Ankunft des assyrischen Stieres und wird dadurch zu einer Reihe von Reflexionen über das Kunstwerk, dessen Vergangenheit, seine Entdeckung durch Layard und seine Zukunft angeregt. Mit der Statue bricht die weit entfernte assyrische Vergangenheit in den Londoner Alltag herein und der Stier wirft nun denselben Schatten auf London wie einst auf Ninive.52 Bezüge auf die Bibel, vor allem auf die Geschichte des Propheten Jona, schaffen eine weitere Verbindung zu einer Vergangenheit, die von den Briten als Teil ihrer eigenen Kultur gesehen werden konnte, und implizieren eine ähnliche Warnung für London wie sie Jona an Ninive richtete.53

48 Zu Layard vgl. Arnold C. Brackman, The Luck of Nineveh: Archaeology’s Great Adventure, New York 1978. 49 Vgl. ebd., S. 224f., S. 270–272, Edward Miller, That Noble Cabinet: A History of the British Museum, London 1973, S. 218f. 50 Vgl. Andrew M. Stauffer, „Dante Gabriel Rossetti and the Burdens of Nineveh“, in: Victorian Literature and Culture, 33/2005, 2, S. 369–394, hier S. 370–372. 51 Vgl. auch den kurzen Text The Nineveh Bull, der im Februar 1851 anonym in Charles Dickens’ Zeitschrift Household Words erschien. 52 Vgl. Dante Gabriel Rossetti, „The Burden of Nineveh“ [1870], in: Dante Gabriel Rossetti: Poems, Oswald Doughty (Hrsg.), London 1957, S. 14–19, V. 41–70, V. 74f. 53 Vgl. ebd., V. 51–53, V. 61–63, V. 126–140.

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Rossetti beschreibt außerdem, wie es im Britischen Museum, dieser großen Sammlung von Relikten aus allen Epochen und Kulturen, zu einem Kollaps der Zeitebenen kommt: Die Besucher unterscheiden trotz aller Klassifizierungen und Ordnung kaum zwischen den einzelnen Kulturen, für sie ist alles eine amorphe Vergangenheit.54 Anhand des geflügelten Stieres macht Rossetti deutlich, dass Imperien und Religionen vergehen und nur Kunstwerke wie der Stier der Zeit widerstehen können. Doch wie bei Wells ist Kunst hier nicht per se unsterblich, sondern an die Materialität des Mediums gebunden, denn viele der assyrischen Fundstücke zerfielen bei ihrer Entdeckung zu Staub.55 Dies bedeutet auch, dass die Rekonstruktion vergangener Kulturen, die sich nur auf das stützen kann, was noch erhalten ist, automatisch immer selektiv und ungenau sein muss. Als der Betrachter am Ende des Gedichts von der Vergangenheit wieder in die Gegenwart zurückkehrt, überlagern sich die beiden Zeitebenen für ihn: And as I turned, my sense half shut Still saw the crowds of kerb and rut Go past as marshalled to the strut Of ranks in gypsum quaintly cut. It seemed in one same pageantry They followed forms which had been erst; To pass, till on my sight should burst That future of the best or worst When some may question which was first, Of London or of Nineveh.56

Die Londoner Passanten erscheinen ihm wie Figuren eines antiken Reliefs, die Unterschiede zwischen London und Ninive verschwimmen. Schließlich imaginiert das lyrische Ich eine Zukunft, in der Großbritannien wie Ninive untergegangen sein wird, und die Unterschiede zwischen den einzelnen untergegangenen Kulturen, die sowieso nur selektiv aus den erhaltenen Fundstücken rekonstruiert werden können, für zukünftige Touristen ähnlich wie für die Besucher des Britischen Museums kaum bedeutsam sein werden: For as that Bull-god once did stand And watched the burial-clouds of sand, Till these at last without a hand Rose o’er his eyes, another land,

54 Vgl. ebd., V. 101–110. 55 Vgl. ebd., V. 111–120. 56 Ebd., V. 161–170.

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And blinded him with destiny:– So may he stand again; till now, In ships of unknown sail and prow, Some tribe of the Australian plough Bear him afar,–a relic now Of London, not of Nineveh! […] Who, finding in this desert place This form, shall hold us for some race That walked not in Christ’s lowly ways, But bowed its pride and vowed its praise Unto the God of Nineveh.57

Wie bei Macaulay sind es hier Archäologen aus dem australisch-neuseeländischen Raum (potenziell Eingeborene, vgl. „Some tribe“), die London ausgraben und, wie die Briten selbst, Fundstücke mit nach Hause nehmen. Allerdings wählen sie ironischerweise kein britisches Kunstwerk, sondern rezipieren den assyrischen Stier als Relikt des untergegangenen Londons. Die britische Identität wird durch die assyrische überlagert und von den zukünftigen Besuchern nicht mehr als distinkt wahrgenommen. Der assyrische Stier wird somit in Rossettis Gedicht zum Auslöser existenzieller Fragen nach der zukünftigen Wahrnehmung der eigenen Kultur durch fremde Archäologen.

VII Die hier vorgestellten unterschiedlichen Beispiele für das Motiv der antizipierten Ruine zeigen, dass die zukünftigen Wirkmöglichkeiten architektonischer Fragmente höchst ambivalent entworfen wurden. Nur in Barbaulds Gedicht und überwiegend bei der Figur des Neuseeländers werden die zukünftigen Ruinen auch so rezipiert, wie sich die Gegenwart das wünscht. Trotz des postulierten zukünftigen Niedergangs bleibt den Lesern hier also der Trost, dass der Ruhm Großbritanniens, wie der des antiken Roms, auch in der Zukunft fortleben wird. Die Texte von Jefferies, Wells und Rossetti hingegen demonstrieren, dass eine ‚richtige‘ Deutung der antizipierten Ruinen nicht festschreibbar und damit das Weiterleben der eigenen Kultur nicht garantierbar ist. Die Gegenwart ist der Interpretation der fremden Zukunft ausgeliefert.

57 Ebd., V. 171–190.

Sonia Goldblum, Mulhouse

Die Meereskathedrale Naturschilderung als Architekturmetaphorik in Victor Hugos Roman Les Travailleurs de la mer Aus seinem Exil auf den Kanalinseln Jersey und Guernsey hat Victor Hugo einige Meisterwerke zurückgebracht, zu denen ihn durchaus die dortigen Landschaften und Witterungen inspiriert haben.1 Les Travailleurs de la mer, Roman zu einem Außenseiter, einem Genie des Meeres und der Navigation, aber auch Roman der Verzweiflung und der vergeblichen Hoffnungen, trägt die Züge der tiefen Depression, in der der Autor in diesen Jahren befangen ist.2 Die Romanhandlung spielt auf der Insel Guernsey. Der Schiffsverfrachter Mess Lethierry hat seinen Dampfer in den Felsenklippen der Douvres verloren und hiermit den Sinn seines Lebens. Er verspricht also die Hand seiner Tochter Déruchette demjenigen, der sein Schiff zurückbringen wird. Aus Liebe zu Déruchette lässt sich Gilliatt, ein am Rand der Gesellschaft lebender Meereskenner, auf das Angebot ein und schickt sich an, das Schiff zu holen. Der Roman ist zwischen 1864–1865 in Guernsey entstanden, wo Hugo seit 1855 lebte. Begleitet wurde die schriftstellerische Arbeit von der Anfertigung zahlreicher Zeichnungen, die funktional sowohl zur Erarbeitung der Charaktere und der Szenerie des Romans gedient haben als auch illustrativ zu verstehen sind.3 Die Wahl eines Romans für eine Untersuchung zum Thema „Textarchitektur“, in dem die Architektur nicht im Vordergrund steht, kann geradezu als Provokation verstanden werden, besonders wenn Notre-Dame de Paris als großer Architekturroman Victor Hugos zur Auswahl steht.4 Was durch diese auf den ersten Blick nicht ganz naheliegende Entscheidung herausgearbeitet werden soll, ist, wie Hugo eine Art ‚Architektur zweiten Grades‘5 im Roman schafft, indem er die

1 Vgl. dazu Yves Gohins Stellenkommentar zu den Travailleurs de la mer. Yves Gohin, „Les Travailleurs de la mer. Introduction, notes et variantes“, in: Victor Hugo, Notre Dame de Paris 1482. Les Travailleurs de la mer, Jacques Seebacher/Yves Gohin (Hrsg.), Paris 1975, S. 1257–1656, hier S. 1261. 2 Ebd., S. 1273–1276. 3 Alle Zeichnungen, die Victor Hugos Arbeit am Roman begleitet haben, wurden in einem Ausstellungskatalog gesammelt: Pierre Georgel (Hrsg.), Les dessins de Victor Hugo pour „Les Travailleurs de la mer“. Conservés à la Bibliotheque Nationale à Paris, Paris 1985. 4 Zu Victor Hugos Beschäftigung mit der Architektur-Thematik vgl. Jean Mallion, Victor Hugo et l’art architectural, Paris 1962, insb. S. 328–332. 5 Dieser Ausdruck ist eine abgewandte Entlehnung des Untertitels von Gérard Genettes Essay zum Palimpsest: Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1992.

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Architektur zum Maßstab der Naturschilderung werden lässt. Dabei wird zu zeigen sein, wie Hugo durch seine Beschreibungen eine Kontinuität zwischen Natur und Kultur und zwischen dem Organischen und dem Mineralischen suggeriert. Victor Hugos Architekturmetaphorik ist demnach, so die hier zu vertretende Hypothese, auf das Engste mit seiner Kunst der Ekphrasis verbunden. Vorweg ist zu erklären, wie Hugo den Raum im Roman konstruiert. Dabei geht er von realen Orten aus, wie Guernsey und den vorgelagerten Klippen, und sucht Wege, um Spielraum für seine Fantasie zu schaffen. Exemplarisch für diesen Prozess erscheint die Art, wie der Erzähler Gilliatts Haus am Anfang des Romans einführt: Ce serait vainement qu’on chercherait aujourd’hui, dans l’anse du Houmet, la maison de Gilliatt, son jardin, et la crique où il abritait la panse. Le Bû de la Rue n’existe plus. La petite presqu’île qui portait cette maison est tombée sous le pic des démolisseurs de falaises et a été chargée, charretée à charretée, sur les navires des brocanteurs de rochers et des marchands de granit. Elle est devenue quai, église et palais, dans la capitale. Toute cette crête d’écueils est depuis longtemps partie pour Londres.6

Diese Passage deutet auf eine reale Begebenheit hin, nämlich, dass der Granit der Küste Guernseys für große Bauarbeiten in England benutzt wurde.7 Einige der Felsbrocken, von denen hier die Rede sein wird, sollen nämlich zu tatsächlichen Gebäuden geworden sein, indem sie Stück für Stück nach England zwecks Umbauarbeiten befördert wurden.8 Diese historische Tatsache eignet sich Hugo an, um ganze Stücke der Landschaft in eine reale Szenerie einzubetten und sie zugleich neu zu erfinden, ohne dass man es ihm nachweisen kann. Somit wird 6 Victor Hugo, „Les Travailleurs de la mer“, in: Notre Dame de Paris 1482. Les Travailleurs de la mer, Seebacher/Gohin (Hrsg.), S. 619–1017, hier S. 649. Victor Hugo, Die Arbeiter des Meeres, aus dem Französischen übersetzt von Rainer G. Schmidt. Hamburg 2003, S. 45: „Vergebens wird man heute in der Bucht von Houmet Gilliatts Haus, seinen Garten und die Lände suchen, in der seine Schaluppe vor Wind und Wetter geschützt lag. Die kleine Halbinsel, die dieses Haus trug, ist durch die Spitzhacken der Felsenabräumer gefallen und wurde, Karren um Karren, auf die Schiffe der Steinhökerer und Granithändler geladen. Die Landzunge verwandelte sich in Kai, Kirche und Palast in der Hauptstadt. Dieser ganze Klippenkamm ist seit langem schon nach London gewandert.“ 7 Vgl. dazu Yves Gohins Stellenkommentar zu den Travailleurs de la mer: Gohin, „Introduction, notes et variantes“, S. 1395. 8 Durch diese Evokation geographischer Räume und Gebäude, die nicht mehr bestehen, verwandelt Hugo seinen Roman in ein Denkmal, was die Travailleurs de la mer in die Verwandtschaft von Notre-Dame de Paris rückt, wo das vergangene Paris in der Form eines ubi sunt gefeiert wird. Vgl. dazu José Manuel Losada Goya, „Victor Hugo ou les paradoxes de l’architecture: du livre de pierre au livre de papier“, in: Madeleine Bertaud (Hrsg.), Architectes et architecture dans la littérature française, Paris 1999, S. 163–171, hier S. 163.

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der imaginäre Raum mit einem Authentizitätssiegel versehen, was Hugo offensichtlich nicht unwichtig war, zumal, wie Chantal Brière zu Recht betont, die attestierte Authentizität einiger Orte als Garant für andere, aus Hugos Fantasie entsprungene, fungiert.9 Es ergibt sich eine Verschränkung von Realem und Imaginärem, die für die Romanszenerie charakteristisch ist. Auch die permanente Anlehnung der Hugoschen Felsendarstellung an architektonische Kategorien dürfte mit diesem schöpferischen Verfahren zu tun haben.

I Die menschlich-organische Dimension der Architektur in den Travailleurs de la mer Genuine Häuser gibt es wenige in Victor Hugos Roman. Aber diejenigen, die beschrieben werden, sind mit der Figurenkonstellation verschränkt. Eine Beschreibung ist hier besonders ausschlaggebend, obwohl sie nur einen Nebenschauplatz des Romans betrifft. Es handelt sich um ein zwielichtiges Haus in Saint-Malo, „le logis de ceux qui ne logent pas“,10 in dem Clubin, eine der Romanfiguren, sich eine Waffe besorgt: Ces vieilles baraques du moyen âge normand ont des profils presque humains. De masure à sorcière il n’y a pas loin. Les étages rentrants, leurs surplombs, leurs auvents circonflexes et leurs broussailles de ferrailles simulent des lèvres, des mentons, des nez et des sourcils. La lucarne est l’œil, borgne. La joue c’est la muraille, ridée et dartreuse. Elles se touchent du front comme si elles complotaient un mauvais coup.11

Diese Passage veranschaulicht die Verschiebung, die Hugos Metaphorik durchzieht. Es geht um ein ominöses Haus, das durch die Beschreibung in die Nähe eines Hexenhauses gerückt wird. Über das Wort „profil“ – „Physiognomie“ in der deutschen Übersetzung –, das die Konturen des Gesichtes bezeichnet und hier die Umrisse des Hauses meint, wird letzteres folgendermaßen personifiziert: „De 9 Vgl. Chantal Brière, „Le langage architectural dans les romans de Victor Hugo “, communication au Groupe Hugo du 22 janvier 2000, http://groupugo.div.jussieu.fr/groupugo/00-01-22briere. htm#_ftn2 [Stand: 17.04.2012], S. 3. 10 Hugo, Travailleurs, p. 735 ; Arbeiter, S. 152: „das Obdach der Obdachlosen“. 11 Hugo, Travailleurs, p. 734 ; Arbeiter, S. 152: „Diese alten Baracken aus dem normannischen Mittelalter haben fast menschliche Physiognomien und lassen einen an Hexenhäuschen denken. Ihre eingezogenen Stockwerke, ihre Vorsprünge, ihre gekrümmten Wetterdächer und ihre struppigen Eisengeflechte geben sich den Anschein von Lippen, Kinn, Nase und Augenbrauen. Die Dachluke ist das Auge, das einzige. Die Wände stellen die runzligen und warzenbesäten Wangen dar. Die Häuser stecken die Köpfe zusammen, als wollten sie einen schlimmen Streich aushecken.“

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masure à sorcière il n’y a pas loin“, was wortwörtlich übersetzt heißt: Bruchbude und Hexe liegen nah beisammen. Von da an werden das Haus und die Hexe in einer einzigen Beschreibung vereinigt, die komplett auf einem Vergleichssystem und auf Termini beruht, die beide Gebiete verbinden. Das Adjektiv „struppig“ wird sowohl für Eisengeflechte als auch für Augenbrauen verwendet, die Dachlucke wird zum Auge, denn das verwendete Wort „borgne“ kann ‚einäugig‘ oder auch ‚zwielichtig‘ bedeuten: Die einäugige Hexe und das zwielichtige Haus werden durch die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks zu einer einzigen Figur. Auf diese Weise wird das Haus sowohl mit den ästhetischen als auch mit den ethischen Charakteristika eines Hexenhauses versehen, wobei der letzte Satz des Abschnittes besonders aufschlussreich ist: „Elles [les maisons] se touchent du front comme si elles complotaient un mauvais coup.“ Hier sind die Anthropomorphisierung des Hauses und dessen Verschmelzung mit der dort verkehrenden zwielichtigen Gesellschaft vollzogen, indem die Häuser nicht nur Zeuge von den „bösen Streichen“ sind, sondern selbst zu Akteuren werden. Schlussendlich kann die ganze Passage durch die Identifizierung des Hauses mit seinen vermeintlichen Bewohnern als eine Art metonymisches Ensemble verstanden werden, das dazu beiträgt, die Beschreibung eindrucksvoll zu gestalten. Der bereits erwähnte Abschnitt liefert gleichsam die Grundform der Architekturbeschreibung bei Victor Hugo. Zieht man zeitgleich das Bild heran, das Victor Hugo zum alten Saint-Malo angefertigt hat, sieht man, wie er sich wahrscheinlich diese krummen, verwinkelten Häuser vorgestellt hat.12 Die Figur, die den Torbogen schließt und eine Furcht einflößende Fratze darstellt, macht die Vereinigung des Menschlichen und des Architektonischen deutlich, da sie das Gesicht in das steinige Gewölbe vollkommen integriert. Somit stellt sich Victor Hugo (wie andere Autoren seiner Generation auch) in der Tradition der Lavaterschen Physiognomik, die in der „Fertigkeit durch das Äußerliche eines Menschen sein Inneres zu erkennen“ besteht.13 Der Begriff des Äußerlichen wird aber in diesem Fall dahingehend erweitert, dass er auch das Umfeld des Menschen umfasst. Es geht nicht mehr nur darum, psychologische Charakterzüge durch die Physiognomie zu erklären, sondern auch um eine Schilderung des Charakters durch die architektonischen oder dekorativen Artefakte, die ihn umgeben. Ähnliches findet man bei der Beschreibung der Pension Vauquer am Anfang von Balzacs Père Goriot oder bei den Interieurschilderungen in Zolas Roman La Fortune des Rougon.14 Diese

12 Vgl. Georgel (Hrsg.), Les dessins de Victor Hugo, S. 79. 13 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Nachdruck der Ausgabe Leipzig und Winterthur 1775, Hildesheim 2002, Bd. 1, S. 13. 14 Zu Balzac und Lavater vgl. Alain Montandon, „Balzac et Lavater“, in: Revue de littérature comparée, 74/2000, 4, S. 471–491.

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Bewegung, die durch Lavaters Theorie zu einer Verwissenschaftlichung der Literatur führen sollte, schlägt aber durch die Erweiterung auf die Architektur einen neuen Kurs ein, da die Äquivalenzen nicht mehr gefestigt sind und somit der Fantasie des jeweiligen Autors eine größere Bedeutung zukommt.15 Die Architekturschilderung ersetzt und übernimmt teilweise die Funktion der Figurenbeschreibung oder erlaubt, wie es hier bei der Jacressarde der Fall ist, eine Form der Kollektivdarstellung. Statt alle Bewohner des Hauses individuell zu magischen, niederträchtigen Fratzen zu erklären, werden diese Charakterzüge an der Beschreibung des Hauses erarbeitet, was eine besondere Stimmung schafft, die sowohl Gebäude als auch Personen betrifft und auf plastische Weise zeigt, dass in Romanen sowohl die Figuren als auch die Szenerie zu einer besonderen Atmosphäre beitragen. Eine zweite Form der Verschränkung zwischen dem Gebäude und der Figur erfolgt über die Lokalisierung der Bauten. Als Paradebeispiel kann das von der Hauptfigur Gilliatt bewohnte Haus gelten. Der Ort heißt „le bû de la rue“, also „Weges-Ende“.16 Es handelt sich um ein vermeintliches Spukhaus, das vom Rest der insularen Gesellschaft gemieden wird. Noch bevor der Protagonist wirklich vom Erzähler eingeführt wird, erfährt man, dass er in einem solchen Spukhaus am Ende einer Landzunge wohnt, was bereits ein bestimmtes Licht auf seinen Charakter wirft. Dazu liefert Victor Hugo ein poetologisches Urteil: „La maison comme l’homme peut devenir cadavre. Il suffit qu’une superstition la tue.“17 Hier weist er auf die Macht des Aberglaubens hin, der dazu führt, dass das Haus und sein Bewohner unter das Zeichen des Todes gestellt werden. Die erste Erkenntnis, die dem Leser über Haus und Figur geliefert wird, kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Es geht um ein abgelegenes Haus, das genauso gemieden wird wie sein Bewohner und das sich beinahe im Meer befindet, mithin auf dem Verbindungsstück zwischen Meer und Gesellschaft, das die äußere Grenze letzterer markiert. Gebäude und Figur entstehen in Victor Hugos Roman gleichzeitig. Die Beschreibung des einen evoziert und prägt die andere, so dass nicht mehr zu entscheiden ist, was ausschlaggebend ist und wie die Richtung des Einflusses zu

15 Zur Aneignung der Lavaterschen Theorie durch die Architektur vgl. Detlev Schöttker, „Auge und Gedächtnis. Für eine Ästhetik der Architektur“, in: Merkur, 56/2002, 633–644, S. 494–507, hier S. 501f. 16 So lautet auch der Titel des zweiten Kapitels des Romans: Hugo, Travailleurs, S. 625; Arbeiter, S. 13. 17 Hugo, Travailleurs, S. 625; Arbeiter, S. 14: „Ein Haus kann, wie ein Mensch, zum Leichnam werden. Ein Aberglaube reicht schon aus, um es zu töten.“

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bestimmen ist.18 Diese Aspekte der Metaphorik, die für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts von der Spätromantik bis zum Realismus weitgehend charakteristisch erscheinen, sind auch von großer Bedeutung für die architektonische Dimension der Naturbeschreibung in Les Travailleurs de la mer.

II Natur und Architektur in den Travailleurs de la mer Der Roman ist vom Mineralischen beherrscht, wobei eher Meeresfelsen als Gebäude im Vordergrund stehen. Doch die zahlreichen Felsendarstellungen weisen ähnliche Verschränkungen auf wie die genuinen Architekturbeschreibungen, da metaphorisch verschiedene Bereiche angesprochen werden, die den jeweiligen Textpassagen ihre eigene Stimmung verleihen. Besonders fällt dabei auf, dass Hugo die Felsen- und Klippenschilderungen wie Architekturbeschreibungen angeht, was zur Personifizierung der Landschaft beiträgt. Um diese Hypothese zu erhärten, sollen hier drei herausragende Felsenbeschreibungen in den Blick genommen werden, nämlich der Felsenstuhl Gild-Holm-’Ur, die Felsenklippe der Douvres und schließlich die Höhle, die dem Kraken als Versteck dient. Denn sie sind nicht nur durch ihre Beschreibungen, sondern auch durch die Einbettung letzterer im diegetischen Romanablauf bemerkenswert. Der Felsenstuhl: Die Stuhl-ähnliche Felsenkonstruktion wird unmittelbar nach der Erwähnung von Gilliatts Haus eingeführt, da sie das Ende der Landeszunge bildet, auf der es sich befindet: À l’extrêmité de la banque du Bû de la Rue, il y avait une grande roche que les pêcheurs du Houmet appelaient la Corne de la Bête […]. La curiosité de ce rocher, c’était du côté de la mer, une sorte de chaise naturelle creusée par la vague et polie par la pluie. Cette chaise était traître.19

18 Ein ähnlicher Mechanismus der plastischen Affinität zwischen Mensch und Gebäude findet sich auch in Notre-Dame de Paris, in dem Quasimodo beinahe als Auswuchs der Kathedrale inszeniert wird und somit sowohl organischer als mineralischer Natur zu sein scheint. Vgl. Brière, „Le langage architectural dans les romans de Victor Hugo“, S. 8: „Le personnage et l’édifice se façonnent mutuellement : le corps de Quasimodo a été comme modelé par la cathédrale qui l’a vu grandir […].“ 19 Hugo, Travailleurs, S. 650; Arbeiter, S. 46: „An der äußersten Spitze der Bank, auf der das Haus Weges-Ende lag, gab es einen Felsen, den die Fischer von Houmet das Kuhhorn nannten […]. Von der Meeresseite her bot dieser Felsenkoloß einen besonderen Anblick: er bildete eine Art natürlichen Stuhl, der von den Wellen ausgehöhlt und vom Regen poliert worden war. Dieser Stuhl hatte seine Tücken.“

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Von vorherein wird der Stuhl durch die Beschreibung in Einklang mit dem Protagonisten und seinem Haus gebracht: Gilliatt ist der durchtriebene Bewohner – wie die Überschrift des zweiten Romanteils lautet – eines Spukhauses, dessen Dependance ein tückischer Stuhl ist. Hier wird wieder ein anorganisches Element mit einem Charakteristikum versehen, das Mensch und Gegenstand verbindet. In dieser Verschränkung spielt auch der Name des Stuhles, der dem Kapitel seinen Titel verleiht, eine bedeutende Rolle: Gild-Holm-’Ur. Die ersten Buchstaben dieses Namens, GIL, weisen auf Gilliatt hin, während die Anfangsbuchstaben ein Anagramm des Namens Hugo verbergen.20 Dies deutet auf eine unterschwellige Verwandtschaft zwischen dem Felsenstuhl, der Figur und dem Autor hin. Dieser Stuhl, der bei Flut unter dem Wasser verschwindet, bringt den Träumer, der dort sitzend die Zeit vergisst, zu einem sicheren Tod. Das Tückische besteht eben darin, dass dieser Felsen von den Menschen als Stuhl interpretiert wird, also als geborgener Ruheplatz und nicht als von der Flut bedrohter Naturgegenstand. Interieur und Exterieur vertauschen die Plätze, sodass der Stuhl sich nicht mehr im nah gelegenen Haus sondern außerhalb befindet. Somit steht er von Anfang des Romans an unter einem tragischen Vorzeichen, was Hugo in folgender Passage explizit reflektiert: „En de certains lieux, à de certaines heures, regarder la mer est un poison. C’est comme, quelquefois, regarder une femme.“21 Durch diesen doppelten Vergleich des Blickes auf das Meer mit einem Gift und mit dem Blick auf eine Frau nimmt der Erzähler bereits die Diegese vorweg. In der Tat hat der Blick Deruchettes Gilliatt in das Abenteuer gestürzt, zudem stürzt er ihn am Ende in den Tod, den der Protagonist beim Anblick Deruchettes findet, die gerade mit ihrem Ehemann auf einem Schiff die Insel verlässt. Die tödliche Dimension des Felsen wird auch noch von Hugo selbst in dem (höchst wahrscheinlich imaginären) Namen verankert, den er ausgesucht hat und durch zweifelhafte Etymologien zu belegen versucht. Gild Holm’Ur soll „Qui dort meurt“ bedeuten, also „wer schläft, stirbt“. Gilliatt ist der kundige Hauptbesucher dieses Stuhls. Trotzdem wird er dort am Ende des Romans dem selbstgewählten Tod entgegen sehen. Sowohl der Felsenstuhl als auch Gilliatts Haus markieren also wortwörtlich das Ende des Weges, nämlich den Tod der Hauptfigur. Die Douvresfelsen: Die Douvresfelsen sind der Ort des Schiffbruchs, den Mess Lethierrys Dampfschiff erlitten hat. Außerdem bilden sie beinahe den Hauptschauplatz der Romanhandlung, in der erzählt wird, wie Gilliatt die Dampfmaschine retten und nach Guernsey zurückbringen wird. „Ce lieu est funeste“,22 20 Vgl. Gohin, „Introduction, notes et variantes “, S. 1397. 21 Hugo, Travailleurs, S. 651; Arbeiter, S. 47: „An gewissen Stellen und zu gewissen Stunden das Meer anzuschauen, ist tödlich wie ein Gift und wie, mitunter, der Blick ins Auge einer Frau.“ 22 Hugo, Travailleurs, S. 758; Arbeiter, S. 180: „Dieser Ort ist unheilvoll.“

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heißt es von vornherein über diese Klippen, was in der syntaktischen Knappheit – Demonstrativpronomen, Substantiv, Kopula und Prädikat – an den sentenzartigen Satz „Cette chaise était traître“ erinnert, durch den der Felsenstuhl charakterisiert wurde. Diese prägnanten Urteile der Erzählerinstanz schaffen eine Korrelation zwischen den unterschiedlichen Passagen und den verschiedenen unheilvollen Orten und fügen somit die Handlungsschauplätze in eine schicksalhafte Ordnung ein. Die Douvresklippen werden vielfach im Roman geschildert, wobei Hugos ebenso vielfältige Phantasie in der architektonischen Beschreibung der Natur deutlich wird. In die Erzählung werden sie folgendermaßen eingeführt: C’est une sorte de vaste madrépore sous-marin, c’est un labyrinthe noyé. Il y a là, à une profondeur où les plongeurs atteignent difficilement, des antres, des caves, des repaires, des entre-croisements de rues ténébreuses. Les espèces monstrueuses y pullulent. On s’entredévore.23

Die doppelte oder dreifache Natur der Felsenklippe wird bereits in diesen ersten Zeilen deutlich. Denn „Madrepore“ sind Korallenformationen und als solche halb dem Mineralischen, halb dem Organischen zuzuordnen. Die Metapher des Labyrinths schlägt die erste Brücke zwischen menschlicher und natürlicher Architektur und deutet darauf hin, dass letztere die höchste Raffinesse ersterer in mancherlei Hinsicht erreicht oder gar übersteigt. Die unheilvolle, schicksalhafte Dimension des Labyrinths klingt selbstverständlich hier auch mit. Bemerkenswert sind in der Beschreibung außerdem die vom Erzähler angegebenen Koordinaten, es wird nämlich zunächst nicht die vertikale, in die Höhe ragende Dimension der Klippe betont, sondern ihre Fläche (mit dem Labyrinth) und ihre Tiefe, mit ihrer unterseeischen Struktur. Dabei spielt die französische Originalfassung des Textes mit der Doppeldeutigkeit der Ausdrücke: „Caves“ und „repaires“ können sowohl auf natürliche als auch auf architektonische Elemente hinweisen. „Repaires“ hat außerdem eine moralische Konnotation, da es üblicherweise den Schlupfwinkel von Verbrechern bezeichnet. Verschiedene Kategorien werden also von Victor Hugo genutzt, um seinem Leser ein angemessenes Bild der Klippe zu liefern, wobei die architektonische Metaphorik dazu dient, die Naturkonstruktion moralisch zu bestimmen. Angewendet wird ein ähnliches Verfahren wie bei der Beschreibung der „Jacressarde“, nur dass Hugo hier offensichtlich den Umweg über die Architektur braucht, um die Klippe zu personifizieren. Nicht zuletzt deutet die Anwendung der Architekturmetaphorik darauf hin, dass diese Naturelemente als 23 Hugo, Travailleurs, S. 759; Arbeiter, S. 182: „Sie ist ein riesiges unterseeisches Madrepore, ein geflutetes Labyrinth. In einer Tiefe, die Taucher nur mit Mühe erreichen, gibt es Grotten, Kavernen, Schlupflöcher, verschlungene Gänge und finstere Gassen. Es wimmelt hier von ungeheuerlichen Tieren. Man verschlingt sich gegenseitig.“

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literarische und schriftliche Konstrukte, die Victor Hugos Feder entsprungen sind, tatsächlich Menschenwerke darstellen.24 Unterschwellig wird also der Topos des Autors als Architekt, also als Poeta Faber, bemüht, wenngleich er in diesem Roman im Unterschied zu Notre-Dame de Paris nur diskret angedeutet bleibt. Erst in einem zweiten Teil der Beschreibung wird auf die vertikale Dimension der Klippe hingewiesen: Il y a quarante ans, deux roches d’une forme extraordinaire signalaient de loin l’écueil Douvres aux passants de l’Océan. C’étaient deux pointes verticales, aiguës et recourbées, se touchant presque par le sommet. On croyait voir sortir de la mer les deux défenses d’un éléphant englouti. Seulement c’étaient les défenses, hautes comme des tours, d’un éléphant grand comme une montagne. Ces deux tours naturelles de l’obscure ville des monstres ne laissaient entre elles qu’un étroit passage où se ruait la lame. Ce passage, tortueux et ayant dans sa longueur plusieurs coudes, ressemblait à un tronçon entre deux murs.25

Die Großanlage der Beschreibung verweist auf das Meer wie auf eine Stadt, in der es „Passanten“, die „Passants de l’Océan“, gibt. Nur über diese Passanten wird die Stadt als Ganzheit evoziert; die Ungeheuer verweisen ihrerseits auf die im ersten Teil der Beschreibung aufgerufenen „ungeheuerlichen Tiere“, die die Einheit des Bildes trotz der leichten Verschiebung der Metaphorik garantieren. Was die Granittürme angeht, ist die Schilderung vielschichtig und von einer tödlichen, tragischen Dimension beherrscht. Die Metapher des Elefanten ist hier besonders aufschlussreich. Die Stoßzähne des Tieres bilden die Felsen, wobei hier wieder die Grenzen zwischen dem Mineralischen und dem Organischen auf eine skurrile Art verschwimmen und Hugos Vorliebe für die Hyperbel zum Tragen kommt. Der ertrunkene Elefant, der als Bildspender dient, deutet zugleich auf die tödliche Gefahr hin, die diese Felsen bergen, da er in den Klippen ertrunken sein soll. Er wird mit einem Berg verglichen und jeder seiner Stoßzähne mit einem Turm. Was zunächst nur eine Idee der Größe der Klippe geben sollte, wird zur Drehangel der Metaphorik, die dem Erzähler erlaubt, zur anfänglichen Metapher der Stadt zurückzukehren, da die Felsen zu „naturwüchsige[n] Türme[n] der finsteren Stadt“

24 Vgl. Brière, „Le langage architectural dans les romans de Victor Hugo “, S. 3 und S. 7f. 25 Hugo, Travailleurs, S. 760; Arbeiter, S. 182f.: „Vor vierzig Jahren zeigten zwei Felsen von sonderbarer Form den Vorüberfahrenden von weitem die Douvresklippen an. Das waren zwei senkrecht aufragende Spitzen, die sich oben krümmten und zuneigten, so daß sie sich fast berührten. Man hätte meinen können, zwei Stoßzähne eines ertrunkenen Elefanten aus dem Meer ragen zu sehen. Allein diese Hauer waren turmhoch, als gehörten sie zu einem Tier von der Größe eines Berges. Diese beiden naturwüchsigen Türme der finsteren Stadt der Ungeheuer boten nur einem schmalen Durchlaß Raum, worin die Sturzseen sich brachen. Er glich, mit seinen Windungen und Krümmungen, einem zwischen zwei Mauern eingeengten Stück Straße.“

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werden. Hier ist die zirkuläre Struktur der Beschreibung bemerkenswert: Die Passanten deuten auf die Stadt hin, die Form der Klippe führt zu der tierischen Metapher mit der Evokation des Elefanten, dessen Stoßzähne zu Türmen werden, die den Eingang der Stadt bilden. Das Zirkuläre erfolgt eben durch eine Zirkulation der Metaphorik zwischen verschiedenen anorganischen und organischen Bereichen, die jeweils zur Betonung unterschiedlicher Aspekte des zu beschreibenden Objekts dienen. In einer dritten Stufe der Beschreibung, sobald Gilliatt bei der Felsenklippe eintrifft und das eingeklemmte Schiff erblickt, werden diese Türme als Wahrzeichen der unterseeischen Meeresstadt zum Tor. Das Schiff wurde nämlich durch die Flut in die Höhe getragen und ist nun zwischen den zwei Felsen gefangen. Bei Ebbe zeigt sich eine Lücke zwischen der Durande und dem Meer, die als Konstrukt einem Tor ähnelt und als nächstes Element der Hugoschen Metaphorik mit dem Thema der Ankunft korrespondiert.26 Deux hauts piliers soutenaient hors des flots dans le vide une sorte de traverse horizontale qui était comme un pont entre leurs sommets. La traverse si informe de loin qu’il était impossible de deviner ce que c’était, faisait corps avec les deux jambages. Cela ressemblait à une porte. A quoi bon une porte dans cette ouverture de toutes parts qu’est la mer ? On eût dit un dolmen titanique planté là, en plein océan, par une fantaisie magistrale, et bâti par des mains qui ont l’habitude de proportionner leurs constructions à l’abîme. Cette silhouette farouche se dressait sur le clair du ciel.27

In diesem Textabschnitt ist das Wortfeld der Architektur allgegenwärtig: „Querbalken“, „Brücke“, „Strebe“, „Grundpfeiler“, „Bauten“ … Das Bizarre der Konstruktion wird dadurch hervorgehoben, dass erst am Ende der Passage die Durande – das verlorene Schiff – als Architrav zu erkennen gegeben wird. Hier ist die Kombination der architektonischen und der organischen Metaphorik diskreter, zu erwähnen bleibt höchstens der französische Ausdruck „silhouette farouche“, der in erster Linie die menschliche Gestalt bezeichnet und bei dem das Adjektiv „farouche“ die wilde Dimension der Klippe betont. Das Schiff und die

26 Vgl. Georgel (Hrsg.), Les dessins de Victor Hugo, S. 91. 27 Hugo, Travailleurs, S. 814; Arbeiter, S. 253: „Zwei hohe Pfeiler hoben eine Art waagrechten Querbalken in die Luft, gleichsam als eine Brücke zwischen den beiden Klippenspitzen. Diese Querstrebe, die aus der Ferne gesehen so unförmig war, daß man nicht erkennen konnte, was sie vorstellte, bildete mit den beiden Grundpfeilern ein Ganzes, das einem Tor glich. Aber wozu ein Tor mitten auf dem Meer, diesem überall weithin offenen Seeraum? Man hätte es für einen riesigen Dolmen halten können, von Titanen hier aufgepflanzt oder von einer herrischen Phantasie, von Händen errichtet, die ihre Bauten an die Maße des Abgrunds anzupassen pflegen. Diese ungebärdige Silhouette erhob sich gegen die Himmelshelle.“

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Felsen werden als ein Kontinuum beschrieben, als ob sie Teil eines einzigen Ensembles wären, womit der Unterschied zwischen mineralischer und menschlicher Konstruktion erneut aufgehoben scheint. Hier dürfte die Architekturmetaphorik vor allem die eine Funktion haben, der maßlosen Dimension der Szenerie menschliche Maße zu geben, wobei dies unmittelbar dadurch zurückgenommen wird, dass die Figur des Architekten eingeführt wird, eine titanische oder göttliche Gestalt, deren Maßstäbe nicht für den Menschen bestimmt sind. Diese Maßstäbe deuten auf die vertikale Ausrichtung hin, die die ganze Meeresszenerie des Romans prägt, da die besagte Konstruktion an den Abgrund angepasst wird. Doch warum sucht sich Victor Hugo den Abgrund als Maß aus, wenn im Text auch der Himmel und die riesige Fläche des Meeres erwähnt werden, die dafür ebenso geeignet wären? Zwei Antworten erscheinen diesbezüglich plausibel. Zum einen wird durch das Leitmotiv des Abgrunds erneut betont, dass die Klippe als vertikales Kontinuum sowohl in die Tiefe als auch in die Höhe ragt. Zum anderen trägt es dazu bei, der Klippe ihre unheimliche, unerkennbare Dimension zu verleihen. Darüber hinaus zählt „abîme“, Abgrund, zu den Lieblingswörtern Victor Hugos und gehört allgemein zum gängigen Vokabular der französischen Romantik. Nicht zuletzt wurde „L’Abîme“ von Victor Hugo als möglicher Titel für den Roman erwogen.28 Hinzu kommt nun, wie bei den bereits erwähnten genuin architektonischen Elementen des Romans, die ethische Dimension der Klippe. Sie wird vom Erzähler folgendermaßen eingeführt: „Les oxydes de la roche mettaient sur l’escarpement, çà et là, des rougeurs imitant des plaques de sang caillé. C’était quelque chose comme l’exsudation saignante d’un caveau de boucherie. Il y avait du charnier dans cet écueil.“29 Die erwähnte blutige Farbe der Klippe findet auch eine Entsprechung in dem von Hugo für seine Zeichnungen gewählten Farbton; ein Großteil davon ist mit Rötel angefertigt worden, der alle Exponate geradezu blutig erscheinen lässt. Alle sind dunkelrot und suggerieren eine gewisse Form der Gewalt. So wird die Klippe gleichsam als Schauplatz eines Gemetzels dargestellt, obgleich diese schreckliche, blutrünstige Klippe im Roman niemanden tötet, da die Passagiere des Schiffes alle entkommen wie Gilliatt selbst, der seinen Kampf gegen die Elemente am Ende gewinnt. Nur der Bösewicht, der das Schiff absichtlich in die Douvres-Klippen geführt hat, wird sterben, wenn auch durch den Kraken ermordet. Die Beschreibung findet also keinerlei konkrete Entsprechung auf der diegetischen Ebene, trägt aber zu einer atmosphärischen Komponente bei, 28 Vgl. Gohin, „Introduction, notes et variantes“, S. 1359. 29 Hugo, Travailleurs, S. 824; Arbeiter, S. 267: „Die Oxydation des Gesteins hatte auf den Steilwänden rote Flecken hinterlassen, die an geronnenes Blut gemahnten. Das hätten Ausschwitzungen in einem Metzgerkeller sein können. In dieser Klippe gab es eine Fleischkammer.“

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welche einerseits die übermenschliche Dimension von Gilliatts Leistung unterstreicht und andererseits etwas Unheilvolles über dem Romangeschehen schweben lässt. Die häufig festzustellende ethisch-menschliche Dimension dieser Beschreibungen bildet an sich ein Paradox. Als Symbol für eine gewisse Form der Ordnung wird Architektur mit schrecklichen Formen der Unmoral verbunden, als Kunst der Konstruktion wird sie auch als Metapher für zerstörerische Kräfte angewandt, wie Pierre-André Rieben zu Recht anmerkt.30 Aus der Verbindung solcher konträrer Bilder speisen sich sowohl die Hugosche Sprache als auch die Struktur seiner Texte. Sie finden ihren theoretischen Niederschlag im Vorwort zum Cromwell-Drama von 1827, in dem Hugo seine Auffassung des Erhabenen und des Grotesken entwickelt, die seiner Ansicht nach für das romantische Drama grundlegend sind.31 Exemplifiziert werden solche Gegensätze in den Arbeitern des Meeres durch folgende Sentenz über die Douvres-Klippen: „L’horrible est là, idéal.“32 Außerdem weisen sowohl die architektonische Metaphorik als auch die ethische Beurteilung der Naturelemente in die Richtung einer Personifizierung. Diese erhebt die Felsen zu Figuren des Romans, wie in Notre-Dame de Paris die Kathedrale auch zur Figurenkonstellation gehört und ihre Rolle als gleichberechtigter Akteur in der Romanhandlung spielen kann.

III Religiöse Dimension der Architekturmetapher Abschließend soll ein letzter Repräsentant der Architekturmetaphorik im Roman erwähnt und somit eine weitere Dimension erörtert werden, nämlich die religiöse. Hier ist die Beschreibung der Höhle, in der die Begegnung zwischen Gilliatt und dem Kraken stattfindet, ausschlaggebend. Der Ort wird als eine Krypta in Form eines Totenkopfes dargestellt, in der der Krake als Todesgott erscheint und, auf dieselbe Art wie Gilliatt seinem Haus, der Höhle angepasst ist:33 Gilliatt voyait en face de lui sous la vague une sorte d’arche noyée. Cette arche, ogive naturelle façonnée par le flot, était éclatante entre ses deux jambages profonds et noirs. […]

30 Pierre-André Rieben, Délires romantiques, Paris 1989, S. 154–156. 31 Victor Hugo, „Préface de Cromwell“, in: Ders., Critique, Jean-Pierre Reynaud (Hrsg.), Paris 1985, S. 3–39, hier S. XX: „[…] tout dans la création n’est pas humainement beau, que le laid y existe à côté du beau, le difforme près du gracieux, le grotesque au revers du sublime, le mal avec le bien, l’ombre avec la lumière.“ 32 Hugo, Travailleurs, S. 760; Arbeiter, S. 182: „Das Abscheuliche ist dort das Ideal.“ 33 Vgl. dazu Lise Revol-Marzouk, Le Sphinx et l’Abîme. Sphinx maritimes et énigmes romanesques dans „Moby Dick“ et „Les Travailleurs de la mer“, Grenoble 2008, S. 179.

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Cette cave figurait le dedans d’une tête de mort énorme et splendide; la voûte était le crâne, et l’arche était la bouche; les trous des yeux manquaient.34

Die sakrale Metaphorik ist von vornherein durch die Bögen und vor allem durch den Glanz, dessen Quelle nicht zu erkennen ist, allgegenwärtig, wobei Hugo hier die Motive einer Ästhetik des Abscheulichen bedient, die an die Tradition der schwarzen Romantik erinnert. Alle diese Themen finden sich bei Gilliatts zweitem Besuch in der Höhle in gesteigerter Form wieder: „Il retrouvait cet extraordinaire palais de l’ombre, cette voûte, ces piliers, ces sangs ou ses pourpres, cette végétation à pierreries, et au fond, cette crypte, presque sanctuaire, et cette pierre, presque autel.“35 An beiden Beschreibungen ist die Faszination auffällig, die von dieser Meereskonstruktion ausgeht. Durch die religiöse Konnotation des Unterbaus scheint die ganze Klippe zum Sakralbau zu werden, so dass die Douvresklippen auf einmal Kirchentürme sein können, nachdem die Höhle unter ihnen zur Krypta erklärt wurde. Tertium comparationis der Klippen und der Höhle ist die rote Farbe, die beide Konstruktionen, die überirdische und die unterirdische, unter das Zeichen des Todes setzt.36 Vor diesem Hintergrund mag es erstaunen, dass Gaston Bachelard in seinen Ausführungen zum Thema der Höhle den Text der Travailleurs de la mer nicht in Betracht gezogen hat, obwohl er andere Texte von Hugo mehrfach zitiert. Umso bemerkenswerter ist dieser blinde Fleck –, der sich vielleicht auch eben dadurch erklären lässt – als Hugo ein ganz gegenläufiges Bild der Höhle liefert. Für Bachelard gilt: „la grotte est un refuge dont on rêve sans fin. […] Passé un certain seuil de mystère et d’effroi, le rêveur entré dans la caverne sent qu’il pourrait vivre là.“37 Gilliatts Erfahrung angesichts der Höhle ist eine vollkommen andere: Zuerst locken ihn der Hunger und die Faszination hinein, die im Nachhinein, bei der Begegnung mit dem Kraken, zu purer Angst werden. Diese Höhle kann also keineswegs als Geborgenheit versprechender Ort

34 Hugo, Travailleurs, S. 852f.; Arbeiter, S. 304: „Vor sich unter dem Wasser sah Gilliatt eine Art versunkenen Bogen, einen von den Wellen geformten natürlichen Spitzbogen; zwischen seinen beiden schwarzen und tief herabreichenden Grundpfeilern drang ein Glanz hervor. […] Diese Höhle stellte das Innere eines riesigen und prächtigen Totenschädels dar; die Deckenwölbung bildete das Schädeldach und der Bogen war der Mund; nur die Augenhöhlen fehlten.“ 35 Hugo, Travailleurs, S. 928; Arbeiter, S. 404: „Er traf diesen erstaunlichen Schattenpalast wieder, dieses Gewölbe, diese Pfeiler, diese Blut und Purpurfarben, diesen mit bunten Steinen durchsetzten Pflanzenwuchs und, in der Tiefe, diese Krypta, beinahe Allerheiligstes, und diesen Stein, beinahe Altar.“ 36 Vgl. Gohin, „Introduction, notes et variantes“, S. 1265. 37 Gaston Bachelard, „La grotte“, in: Ders., La terre et les rêveries du repos. Paris 1948, S. 183–209, hier S. 185.

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Sonia Goldblum

gedeutet werden, eher als Versteck von Urängsten, die in einer monströsen Form Gestalt annehmen. Zu bilanzieren ist, dass Hugo eine vollkommene Kontinuität zwischen architektonischer Konstruktion und Naturkonstrukten schafft, was er in der den Roman begleitenden Abhandlung „L’Archipel de la Manche“ als „l’ordre profond du grand désordre naturel“ bezeichnet.38 Er vertritt mithin eine Form des Theismus, bei der Gott mal (wie bei Voltaire) als Uhrmacher bezeichnet wird, mal auch als Architekt. Diese Vorstellung bedingt eine ungebrochene Kontinuität zwischen dem Werk Gottes und dem Werk des Menschen, die bei den verschiedenen Beschreibungen hier besonders zum Tragen kommt. Auch erlaubt sie Hugo, sich selbst im Roman als Demiurg zu inszenieren, eine Tendenz, die bereits im annagrammatischen Spiel mit dem Namen des Felsenstuhls zu beobachten war und sich in Hugos Zeichnung des Kraken wiederfindet, in dessen Tentakel er seine Initialen versteckt hat.39 Explizit und verständlich wird auch die Allgegenwärtigkeit der Architekturmetaphorik in Victor Hugos Travailleurs de la mer durch eine auf den Dichter Pierre Gringoire aus Notre-Dame de Paris angewandte Charakterisierung. Ihm wird nämlich „un goût violent pour l’architecture“ attestiert,40 eine gewaltige Vorliebe für Architektur also, die ebenso bei Hugo selbst vorzuliegen scheint und vielleicht dazu führt, dass Naturlandschaften mithilfe der architektonischen Grammatik ausbuchstabiert werden.

38 Hugo, Travailleurs, S. 568; Arbeiter, S. 531: „die unergründliche Ordnung der großen natürlichen Unordnung“. 39 Vgl. Georgel (Hrsg.), Les dessins de Victor Hugo, S. 101. Zur Rolle des Kraken in Victor Hugos Roman vgl. Roger Caillois, La pieuvre. Essai sur la logique de l’imaginaire. Paris 1973, S. 75–87. 40 Victor Hugo, „Notre-Dame de Paris“, in: Ders., Notre Dame de Paris 1482. Les Travailleurs de la mer, Seebacher/Gohin (Hrsg.), S. 1–500, hier S. 385.

Uta Schürmann, Berlin

Die verschwundene Sammlung Leere Räume in Texten des europäischen Realismus

I Horror Vacui Das 19. Jahrhundert ist die Epoche des Interieurs.1 Der erstmalige Rückzug ins Private erzeugt eine regelrechte Wohnsucht, die zur Folge hat, dass der Innenraum zum eigenständigen Sujet sowohl der Bildenden Kunst als auch der Literatur aufsteigt. Der architektonische Raum erscheint dabei zunächst nur als reines Behältnis, das mit Dingen angefüllt werden muss. Jacob von Falke schildert 1871 in einer seiner zahlreichen kunstgewerblichen Publikationen das sich oftmals bis zum Zwang steigernde Bedürfnis, dekorative Gegenstände anzusammeln, als Folge des horror vacui: […] so werden wir wohl darin einig sein, daß der einfache, farbige Anstrich allein künstlerischen Ansprüchen in keinem Falle genügt. Ob die Wand weiß oder roth ist, so werden wir doch vom horror vacui erfaßt, es starrt uns die Fläche mit ihrer Leerheit an; sie bedarf des Schmuckes […].2

Die kahle Wand erzeugt eine Angst vor der Leere, die den Betrachter in der Art eines heftigen körperlichen Affekts ergreift. Zahllose schriftliche und bildliche Interieurdarstellungen dokumentieren das Ergebnis der nun einsetzenden Dekorationswut, wie das Pariser Interieur des ungarischen Malers Mihály von Munkácsy.

1 Vgl. folgende programmatische Sätze: „Unter Louis-Philippe betritt der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz. […] Für den Privatmann tritt erstmals der Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte. Der erste konstituiert sich im Interieur. […] Es stellt für den Privatmann das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine Loge im Welttheater.“ (Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk, Exposés: Paris, die Hauptstadt des XІX. Jahrhunderts“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V/1, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1982, S. 45–59, hier S. 52); „Das 19. Jahrhundert ist das des Interieurs“ (Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984, S. 86). 2 Jacob von Falke, Die Kunst im Hause. Geschichtliche und kritisch-ästhetische Studien über die Decoration und Ausstattung der Wohnung, Wien 1871, S. 226.

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Abb. 1: Mihály von Munkácsy, Pariser Interieur, 1877, Öl auf Leinwand, 40 x 101,8 cm, Budapest, Magyar Nemzeti Galéria.

Es zeigt uns einen Raum, in dem Teppiche, Draperien und Mobiliar dessen architektonisches Gerüst verhüllen und bedecken, bis nichts mehr von Wänden, Boden und Decke zu sehen ist. Der kulturhistorische Befund zum Einrichtungsstil des 19. Jahrhunderts, der bei Munkácsy visualisiert ist, findet in der Literatur seine Entsprechung in den narrativen Strategien, mit denen Texte Innenräume produzieren. Diese Strategien gründen auf der Beschreibung von Objekten und Spuren und einer gewissen, daraus resultierenden ‚Stofflichkeit‘3 des Erzählens. Die für den Realismus so entscheidende Detailfülle arbeitet sich an den Oberflächen der Alltagsgegenstände ab, verleiht ihnen eigene Physiognomien und deutet die Spuren, die auf ihnen hinterlassen wurden.

3 Bill Brown spricht in diesem Zusammenhang von „Dinglichkeit“ (thingness) oder auch „Materialität“ (materiality), die im Umgang und der Inszenierung von Dingen evoziert werden. Vgl. z.B. Bill Brown, „Thing Theory“, in: Bill Brown (Hrsg.), Things, Chicago 2004, S. 1–16; Bärbel Tischleder, „Objekttücke, Sachzwänge und die fremde Welt amerikanischer Dinge. Zu Dingtheorie und Literatur“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1/2007, S. 61–71. Da gerade der Begriff der „Materialität“ aber schon mit einer weiten Spannbreite an theoretischen Bedeutungsdimensionen besetzt ist, führe ich hier den Begriff der „Stofflichkeit“ an.

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Das alles bedeutet, dass der Innenraum in der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht durch seine ihn umgebenden Wände, sondern durch die Dinge, die sich in ihm befinden, konstituiert wird: Überspitzt formuliert existieren Wände innerhalb der Diegese nicht. Damit entspricht die literarische Inszenierung des bürgerlichen Interieurs der tatsächlichen Präsentation von Objekten im musealen Raum, wie Brian O’Doherty in seinem Essay Inside the White Cube für das 19. Jahrhundert konstatiert: „Die Wand selbst hat keinen eigenen ästhetischen Wert; sie ist eine schiere Notwendigkeit für ein aufrecht gehendes Wesen.“4 Was aber passiert, wenn die Dinge verschwinden? Wenn der Raum plötzlich leer ist? Und der Autor gezwungen ist, die Wände zu beschreiben? Im Folgenden möchte ich mich mit solchen leeren Räumen beschäftigen. Das sind zum einen Interieurs, aus denen die Dinge entfernt wurden, ganze Sammlungen verschwunden sind. Zum anderen spielen in diesem Zusammenhang Zwischen- oder Transferräume5 eine wichtige Rolle, also Räume, die zwischen zwei klar definierten Räumen liegen, an sich leer sind und doch beschrieben werden, da sie offenbar innerhalb eines Textes eine bestimmte Funktion übernehmen. Im Zentrum meines Interesses liegen Texte des 19. Jahrhunderts, die realistisch erzählen – ein besonderes Augenmerk wird auf den Texten des deutschen Realisten Theodor Fontane liegen. Beginnen möchte ich aber mit einem fiktionalen Transferraum, der etwas außerhalb dieses Erzählspektrums liegt.

II Sturz durch den Schacht 1865 folgt die Protagonistin aus Alice’s Adventures in Wonderland einem weißen Kaninchen und stürzt dabei in einen sehr tiefen Schacht: Either the well was very deep, or she fell very slowly, for she had plenty of time as she went down to look about her, and to wonder what was going to happen next. First, she tried to look down and make out what she was coming to, but it was too dark to see anything; then she looked at the sides of the well, and noticed that they were filled with cupboards and book-shelves: here and there she saw maps and pictures hung upon pegs. She took down a

4 Brian O’Doherty, In der weißen Zelle. Inside the White Cube, Wolfgang Kemp (Hrsg.), mit einem Nachwort von Markus Brüderlin, Berlin 1996, S. 12. 5 Zum Transferraum im Sinne des „Nicht-Orts“ vgl. natürlich grundlegend Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1994.

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jar from one of the shelves as she passed; it was labelled “ORANGE MARMALADE”, but to her great disappointment it was empty […].6

Der tiefe Schacht, in den Alice stürzt, ist ein Übergangsraum im doppelten Sinne. Er transferiert nicht nur eine Figur von A nach B, sondern markiert auch den Anfang des Traums – oder: den Sturz ins Unterbewusstsein –, wo sich die Geschichte nun abspielen wird. Der Schacht transportiert also Protagonistin und Leser von der ‚echten Welt‘ in die ‚Traumwelt‘, beziehungsweise von der Rahmenin die Binnenerzählung. Auffällig ist, dass der Schacht – eigentlich eine zweckmäßige Konstruktion, deren einzige Funktion das Bewältigen einer Strecke ist – sich in eine wohnliche Diele verwandelt. Die Wände sind bedeckt mit Regalen, Schränken und Bildern. Der Effekt des horror vacui steht hier im Mittelpunkt, die einzelnen Objekte sind funktionslos: So ist das Marmeladenglas trotz seiner eindeutigen Beschriftung leer, die Landkarten sind reine Referenzobjekte aus der Sphäre der Reise und fungieren lediglich als Dekoration. Alice kann das Ende des Schachts nicht sehen, und obwohl Gegenstände an ihr vorbeiziehen, kann sie nicht entscheiden, ob der Schacht sehr tief ist oder sie einfach nur langsam fällt. Der Raum erzeugt eine Desorientierung ihres Körpergefühls. Alice kann die Geschwindigkeit ihres eigenen fallenden Körpers nicht bestimmen, während sie sich in einem Raum befindet, der zuallererst auf Bewegung ausgerichtet ist; ich werde später auf diesen Punkt zurückkommen. Nach dem langen Sturz kommt Alice unvermittelt am Ende des Schachts an: […] she found herself in a long, low hall, which was lit up by a row of lamps hanging from the roof. There were doors all round the hall, but they were all locked; […]. Suddenly she came upon a little three-legged table, all made of solid glass; there was nothing on it but a tiny golden key, […].7

Wie es weitergeht, ist allgemein bekannt: Alice entdeckt eine kleine Tür, in die der Schlüssel passt und die in einen wunderschönen Garten führt. Leider passt sie nicht durch die Tür. Auf diese Entdeckung hin formuliert sie den Wunsch: „‚[…] Oh, how I wish I could shut up like a telescope! […]‘“8 Als sie sich wieder dem kleinen gläsernen Tisch zuwendet, findet sie dort zunächst eine Flasche, deren

6 Lewis Carroll, The Annotated Alice. Alice’s Adventures in Wonderland & Through the Looking Glass, Illustrated by John Tenniel, with an Introduction and Notes by Martin Gardner, New York 1960, S. 26f. 7 Ebd., S. 29. 8 Ebd., S. 30.

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Inhalt sie kleiner macht, vergisst aber den Schlüssel auf dem Tisch und kann ihn nicht mehr erreichen. Daraufhin findet sie eine winzige gläserne Box, in der sich ein Kuchen befindet, der sie größer macht. Nun kann sie den Schlüssel vom Tisch nehmen, ist aber wieder zu groß, um durch die kleine Tür zu passen, und so geht es noch eine Weile weiter. Zwei Aspekte sind in unserem Zusammenhang an dieser Szene bemerkenswert. Erstens: Eine Figur befindet sich in einem leeren Zwischenraum, den zu verlassen ihr eigener Körper unmöglich macht. Zweitens werden die wenigen Objekte, die sich in dem leeren Gang finden, auf eine ganz bestimmte Art präsentiert. Betrachten wir zunächst noch einmal den Raum: Er wird als „long, low hall“ bezeichnet, mit einer „row of lamps“, die von der Decke hängen. Türen befinden sich „all round the hall“. Der Raum ist reduziert auf sein innenarchitektonisches Gerüst und stellt gleichzeitig eine besonders betonte Funktionalität aus. Der Raum wirkt klar vermessen und schmucklos, sein Zweck als Übergangsraum ist durch die Türen, die sich die Wände entlang ziehen, überdeutlich markiert, die Reihe oder Linie der Lampen verstärkt als weiteres Element den Charakter einer strengen Raumgeometrie. Nachdem dieses Bild entwickelt wurde, präsentieren sich dem Leser nun verschiedene Objekte, die aus dem Nichts auftauchen. Zunächst eine mit „DRINK ME“9 beschriftete Flasche, die auf einem gläsernen Tisch steht (der übrigens nur drei Beine hat und damit wohl auf den Spiritismus und die Praxis des Tischrückens anspielt). Dann ein Kuchen, ebenfalls beschriftet, diesmal mit „EAT ME“, der in einer „little glass box“10 unter dem Glastisch platziert ist. Wir befinden uns also in einem großen schmucklosen Raum, in dessen Zentrum sich jeweils ein einzelnes Objekt auf einem Glastisch beziehungsweise in einem gläsernen Behältnis zeigt. Beide Objekte – die Flasche und der Kuchen – werden inszeniert und ausgestellt wie in einem Museum. Der Glastisch, noch deutlicher die gläserne Box, rufen Assoziationen mit Vitrinen auf. Die Stücke sind einzeln in diesen Vitrinen aufgebaut, werden ganz klar als bedeutsam herausgestellt und sind mit kleinen Schildern beschriftet. Die Vitrinen präsentieren sich in einem ansonsten völlig leeren und funktionalen Raum mit künstlichen Lichtquellen: Man könnte meinen, wir befänden uns in einem modernen White Cube. Also in jener „weißen Zelle“, die mit ihren reduzierten weißen Wänden jeden Gegenstand zum auratischen musealen Objekt werden lässt.11

9 Ebd., S. 31. 10 Ebd., S. 33. 11 Vgl. O’Doherty, In der weißen Zelle, S. 9: „Das Bild eines weißen, idealen Raumes entsteht, das mehr als jedes einzelne Gemälde als das archetypische Bild der Kunst des 20. Jahrhunderts gelten darf. […] Die ideale Galerie hält vom Kunstwerk alle Hinweise fern, welche die Tatsache, dass es

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In einem solchen White Cube findet sich nicht nur Alice wieder. Eine weitere prominente junge Protagonistin des 19. Jahrhunderts wird ebenfalls mit einem solchen Raumkonzept konfrontiert.

III Effi Briest im White Cube Am ersten Tag nach Effi Briests (1895) Ankunft in Kessin, nach der ersten nächtlichen Begegnung mit Innstettens exotischer Sammlung maritimer Dinge, führt der Erzähler den Leser durch das gesamte Haus, und zwar aus der retrospektiven Sicht Effis, deren „Phantasie […] noch immer bei den wunderlichen Dingen [war], die sie, kurz vorher, während ihrer Umschau haltenden Musterung im Hause gesehen hatte“:12 […] und dann [hatte Innstetten] eine mit ihren Flügeln etwas schief hängende Doppelthür geöffnet, die nach rechts hin in den sogenannten Saal führte. Dieser lief durch die ganze Etage; Vorder- und Hinterfenster standen auf, und die mehr erwähnten langen Gardinen bewegten sich in dem starken Luftzuge hin und her. In der Mitte der einen Längswand sprang ein Kamin vor mit einer großen Steinplatte, während an der Wand gegenüber ein paar blecherne Leuchter hingen, jeder mit zwei Lichtöffnungen, ganz so wie unten im Flur, aber alles stumpf und ungepflegt. Effi war einigermaßen enttäuscht, sprach es auch aus und erklärte, statt des öden und ärmlichen Saals, doch lieber die Zimmer an der gegenübergelegenen Flurseite sehen zu wollen. „Da ist nun eigentlich vollends nichts“, hatte Innstetten geantwortet, aber doch die Thüren geöffnet. Es befanden sich hier vier einfenstrige Zimmer, alle gelb getüncht, gerade wie der Saal, und ebenfalls ganz leer. Nur in einem standen drei Binsenstühle, die durchgesessen waren, und an die Lehne des einen war ein kleines, nur einen halben Finger langes Bildchen geklebt, das einen Chinesen darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen Hut auf dem Kopf.13

Das Detail der Leuchter, deren Aussehen identisch mit denen im Untergeschoss ist, nur „stumpf und ungepflegt“, stellt eine Verbindung zwischen den beiden Etagen her. Die Parallelisierung weist darauf hin, dass die völlig unterschiedlichen Räume in dasselbe Haus gehören und betont dadurch den Gegensatz zwischen Sammlung und Leere, die aufgrund des übergangslosen Kontrasts zum Rest des Hauses fast irreal wirkt. Dies sind keine Abstellräume, in denen ver-

‚Kunst‘ ist, stören könnten. Sie schirmt das Werk von allem ab, was seiner Selbstbestimmung hinderlich in den Weg tritt. Dies verleiht dem Raum eine gesteigerte Präsenz […]“ [Hvh. i. O.]. 12 Theodor Fontane, Effi Briest, in: Ders., GBA, Das erzählerische Werk, Bd. 15, Christine Hehle (Hrsg.), Berlin 1998, S. 68. 13 Ebd., S. 69.

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staubte Erinnerungsstücke angesammelt sind, sondern funktionslose räumliche Gegenstücke zur Sammlung, eine Art ‚Anti-Sammlung‘. Während der erste Blick in die untere Etage geprägt von der „Fülle von Licht“ war – und zwar von künstlichem Licht, das die sonderbaren Dinge der Sammlung in Szene setzt – ist das herausgestellte Charakteristikum des leeren Saals der starke Luftzug, der die langen Vorhänge hin- und herbewegt. Die äußeren Einflüsse bestimmen hier den wesentlichen Teil der Raumatmosphäre: Der leere Raum präsentiert sich auch als Transferraum zur Außenwelt. Die Konstruktion der Zimmer sowie ihr spärliches Inventar werden, wie wir es schon bei Alice’s Adventures In Wonderland gesehen haben, in einer gewissen strengen Geometrie beschrieben, dieser Eindruck entsteht vor allem durch die Nennung präziser Zahlen: „[…] Leuchter […] mit zwei Lichtöffnungen, […] vier einfenstrige Zimmer, […] drei Binsenstühle […].“14 Was hier betont wird, ist der Rahmencharakter eines architektonischen Systems. Tatsächlich gibt es keine gläsernen Vitrinen. Vielmehr entsteht schnell der Eindruck, dass die Räume selbst Vitrinen sind. Diesen Eindruck legt vor allem das eine der vier „einfenstrigen“ Zimmer nahe, in dem die drei durchgesessenen Binsenstühle stehen. Diese Stühle sind in der Art einer modernen Installation in einem leeren Raum angeordnet, dessen kahle Wände das Arrangement rahmen und aufwerten. O’Doherty beschreibt diesen Effekt anhand postmoderner Objekte: In dieser Umgebung [des White Cube] wird ein Standaschenbecher fast zu einem sakralen Gegenstand, ebenso wie der Feuerlöscher in einem modernen Museum einfach nicht mehr wie ein Feuerlöscher aussieht, sondern wie ein ästhetisches Scherzrätsel.15

Durch die radikale Reduktion der Dinge steht das einzelne Objekt im Mittelpunkt und gewinnt beinahe sakralen Charakter – zumindest wird es zum unberührbaren musealen Artefakt. Die Binsenstühle verweisen auf das Motiv der Spur. Der durchgesessene Stuhl, in dem der Abdruck eines Körpers sichtbar ist, stellt einen eigenen Topos des 19. Jahrhunderts dar. Es gibt unzählige literarische Beispiele – von Balzac, Flaubert, Fontane bis Thackeray –,16 in denen dieser spurenbehaftete

14 Ebd. [Hvh. U. S.] 15 O’Doherty, In der weißen Zelle, S. 10. 16 Vgl. z.B. Honoré de Balzac, La Peau de chagrin, introduction, notes et relevé de variantes par Maurice Allem, Paris 1967, S. 175: „Le confortable fauteuil à ressorts dans lequel j’étais plongé portrait des cicatrices comme un vieux soldat, il offrait aux regards ses bras déchirés, et montrait incrustées sur son dossier la pommade et l’huile antique apportées par toutes les têtes d’amis.“ ; Theodor Fontane, „Vor dem Sturm“, in: Ders., Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 3, Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Darmstadt 2002, S. 86: „[…] darin hatten sie recht,

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Stuhl auftaucht, ganz im Sinne Walter Benjamins, der im Passagen-Werk beschreibt, wie der Bewohner des bürgerlichen Interieurs alles mit Polstern und weichen Stoffen überzieht, um überall die Abdrücke seiner eigenen Hände und Füße sichtbar zu machen und sich damit seiner eigenen Existenz zu versichern.17 Durch die Leere des Raums ist dieser Effekt anders akzentuiert: Die Spuren in den Stühlen erzeugen eine Präsenz von Abwesenheit, gleichzeitig rücken sie aber wie Objekte in der Vitrine in eine diffuse Ferne. Die Bewegung entspricht damit der des Konzepts der Benjamin’schen Aura.18 Die arrangierten Stühle wiederum rahmen das Detail, das hier als der eigentliche Mittelpunkt des gesamten Raums inszeniert wird, nämlich das kleine „Chinesenbildchen“. Das kleine Bild verweist bekanntermaßen auf einen Hauptstrang des Romans, den exotistischen Spuk, der die Protagonistin in wohl kalkulierten Schrecken versetzt. Im leergeräumten Interieur wird Effi mit diesem Spuk konfrontiert, in einer eigentümlichen Klammer aus Distanz und Unmittelbarkeit. Man halte sich vor Augen: Das untere Stockwerk erzeugt den Effekt des Staunens und der Sensation durch einen Exzess der Objekte, der eine visuelle und haptische Überreizung zur Folge hat, die die Protagonistin schlicht untergehen lässt. Trotzdem befindet sie sich in diesem Umfeld in einem Dialog mit den Objekten. Effi berührt sie und umgibt sich mit ihnen, sie lebt nicht in einer musealen Distanz zu den Dingen, sondern versammelt sie um sich und wohnt zwischen ihnen. In der Szene mit den Stühlen und dem Bildchen dagegen wird jede Schilderung von Berührung oder Annäherung demonstrativ ausgespart. Effi und Innstetten kommentieren das Bild, nachdem die Erzählstimme das Setting beschrieben hat, aber wir bekommen keine Information über die Positionierung oder

daß nicht nur der in der archäologischen Abteilung stehende Lehnstuhl viel tiefer eingesessen, sondern daß auch der ganze, diesseits der Fensternischen verbliebene Rest des Zimmers ein heidnisches Museum, eine bloße Fortsetzung alles dessen war, was schon der Flur geboten hatte.“ 17 „Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie betont. Man ersinnt Überzüge und Schoner, Futterals und Etuis in Fülle, in denen die Spuren der alltäglichsten Gebrauchsgegenstände sich abdrücken“ (Benjamin, „Paris, die Hauptstadt des XІX. Jahrhunderts“, S. 53); „Es [das Bürgertum] bevorzugt Sammet- und Plüschbezüge, die den Abdruck jeder Berührung bewahren“ (Walter Benjamin, „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. І/2, Rolf Tiedemann/Herrmann Schweppenhäuser [Hrsg.], Frankfurt a.M. 1991, S. 509–690, hier S. 548). 18 Vgl. seine berühmte Definition der „Aura“ in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, erste Fassung“, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. І/2, Rolf Tiedemann/Herrmann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1974, S. 431–469, hier S. 440: „Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“

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Bewegung der Figuren im Raum. Der leere Raum in seiner Funktion als Vitrine bleibt, so legt es die literarische Inszenierung hier nahe, von den Betrachtern unberührt und konserviert stattdessen seinen Inhalt. Da hier plötzlich den Wänden, also dem Raum an sich, eine Funktion zukommt – nämlich die des Rahmens oder der Vitrine –, wird dieser Raum in einer zweiten Bewegung selbst zum Objekt. Einen weiteren leeren Vitrinenraum beschreibt Fontane in Cécile (1887). Eine kleine Reisegruppe besucht ein Schloss bei Quedlinburg, aus dem die gesamte ehemals vorhandene Sammlung verschwunden ist: Was es [das Schloss] vordem an Kostbarkeiten besessen hatte, war längst fort, und so lag ihm [dem Kastellan], dem Hüter ehemaliger Herrlichkeit, nur ob, über Dinge zu sprechen, die nicht mehr da waren. Eine nicht leichte Pflicht. Er unterzog sich derselben aber mit vielem Geschick, indem er den herkömmlichen, an vorhandene Sehenswürdigkeiten anknüpfenden Kastellans-Vortrag in einen umgekehrt sich mit dem Verschwundenen beschäftigenden Geschichts-Vortrag umwandelte. […] Und damit traten alle, von einem kleinen, bis dahin besichtigten Vorzimmer her, in den großen Thronsaal ein, in welchem, neben der so ruhmvoll erwähnten Damasttapete, nur noch der getäfelte Fußboden an die frühere Herrlichkeit erinnerte. Rosa sah sich verlegen um, was dem Führer nicht entging, weshalb er seinen Vortrag rasch wieder aufnahm, um durch Erzählungskunst den absoluten Mangel an Sehenswürdigkeiten auszugleichen. „Also, der Thronsaal, gnädige Frau“, hob er an. „Und hier, wo die Tapete fehlt, genau hier stand der Thron selbst […].“ „Und hier,“ fuhr der Kastellan, während er auf einen großen aber leeren Goldrahmen zeigte, mit einer immer volltönender und beinah feierlich werdenden Stimme fort, „hier in diesem Goldrahmen befand sich die Hauptsehenswürdigkeit des Schlosses: der Spiegel aus Bergkrystall. Der Spiegel aus Bergkrystall, sag’ ich, der sich zur Zeit in den skandinavischen Reichen und zwar in dem Königreiche Schweden befindet.“19

Zunächst einmal fällt auf, dass wir es hier tatsächlich mit einem Beispiel zu tun haben, in dem das architektonische Gerüst eines Raums – seine Wände und Böden – beschrieben werden. Der Raum an sich ist das letzte Objekt, das noch „an die frühere Herrlichkeit“ erinnert, und zwar aufgrund des Schmucks, der seine Oberflächen bedeckt: Der Fußboden ist getäfelt, die „ruhmvoll erwähnte Damasttapete“ wird noch zuvor als „die roten Damasttapeten“ beschrieben: „Es ist Damast von Arras“.20 Die Tapete, oder: die Haut der Wand, wird besonders hervorgehoben, vor allem, weil sie ein großes Loch an der Stelle aufweist, wo vorher ein spektakuläres Objekt gestanden hat: Dieses Objekt, der Thron, hat seine Spur im Raum hinterlassen. Während in Effi Briest noch das einzelne Objekt

19 Theodor Fontane, Cécile, in: Ders., GBA, Das erzählerische Werk, Bd. 9, Hans Joachim Funke/ Christine Hehle (Hrsg.), Berlin 2000, S. 48f. [Hvh. i. O.]. 20 Ebd., S. 49.

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als Auslöser für die Imagination fungiert hat, wird hier die Vorstellungskraft durch die Lücke gefördert, welche die Objekte nach ihrem Verschwinden hinterlassen haben. Das Loch in der Damasttapete und der leere Goldrahmen bezeugen, dass die Gegenstände einst in diesem Raum gewesen sind. Die sichtbare Existenz der Spuren ist dabei der entscheidende Anknüpfungspunkt für die Entwicklung der jeweiligen Exponate in den Köpfen der Besucher. Diese Spuren sind immer noch von der Aura der früher enthaltenen Originale ‚aufgeladen‘; dies zeigt die spektakuläre Art, mit welcher der Kastellan den leeren Rahmen – als letztes, aber leeres Objekt – anpreist, der im Folgenden gebührend von den Besuchern bewundert wird. Keine Exponate, die Erinnerungen in sich tragen, befinden sich in dieser unsichtbaren Sammlung, sondern nur noch Erinnerungen an die Exponate selbst. Das Interieur wird zur Projektionsfläche für das Ferne und das Vergangene, die durch die Hinweise im Dekor und die Anekdoten des Kastellans näher bestimmt werden. Die hier stattfindende Projektion ist dabei in keinster Weise eine diffuse. Sie ist die mentale Erschaffung präziser Details und Gegenstände. Dieses Verfahren kennzeichnet das Grundprinzip des realistischen Erzählens an sich – und damit wird auch der Leser zum Besucher, der die ‚unsichtbaren Sehenswürdigkeiten‘ tatsächlich vor seinem inneren Auge zu sehen beginnt.

IV Transferräume – Zwischenräume Als der junge Waldemar von Haldern seinen Onkel in dessen Wohnung besuchen möchte, um ihm mitzuteilen, dass er eine unstandesgemäße Verbindung mit der Näherin Stine (1890) eingehen will, stößt er auf einen komplizierten Durchgangsraum: Portiersleute fehlten, statt ihrer aber war ein ganzes System von Gitterthüren da, das, wenn man unten – oder was dasselbe sagen wollte, vor einem mit allerhand unleserlichen Blechschildern reich ausgestatteten Parterre-Verhau – klingelte, mitunter wie durch einen räthselhaften Federdruck in seiner Gesamtheit aufsprang, mitunter aber auch nicht, in welch letzterem Falle die nun von Etage zu Etage nötig werdende Einzel-Klingelei gar kein Ende nahm und bei jedem neuen Gitter zu dem Erscheinen eulenartiger alter Köchinnen führte, deren Examinationsverfahren um so peinlicher und eindringlicher war, als nur ihr Auge die Fragen stellte. Waldemar war zu lang und zu gut mit dieser altberlinischen Haus- und Treppeneinrichtung bekannt, um für gewöhnlich Anstoß daran zu nehmen, heute jedoch hatte dieses Absperrungssystem eine gewisse Bedeutung für ihn und jede neu zu passierende Gitterthür erschien ihm wie eine Mahnung „es lieber nicht versuchen zu wollen“.21

21 Theodor Fontane, Stine, in: Ders., GBA, Das erzählerische Werk, Bd. 11, Christine Hehle (Hrsg.), Berlin 2000, S. 70f. [Hvh. i. O.].

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Die Glieder des ersten Satzes dieser Passage stehen in solch verschachtelter Stellung zueinander und sind dabei so angefüllt mit Informationen und Bildern, dass die komplizierte Begehung der ansteigenden Etagen auch sprachlich demonstriert wird. Bereits die Beispiele leerer Räume aus Effi Briest und Cécile wichen von Fontanes üblicher Vorgehensweise, den Interieurbeschreibungen einen bewusst ‚neutralen‘ und dokumentarischen Tonfall zu verleihen, ab; die erste Etage des Kessiner Hauses wird aus Effis Sicht beschrieben, die ‚verschwundene Sammlung‘ in Cécile entsteht erzählerisch aus einem Wechselspiel von wertender Erzählerstimme und den Dialogen der Figuren. In Stine nun wird die Übertragung des Seelenzustands auf den Innenraum ausdrücklich formuliert: Das Absperrungssystem habe eine „gewisse Bedeutung“ für Waldemar, jede zu überwindende Tür fungiert als Mahnung. Das Betreten eines ‚nackten Raumes‘, welcher im Fall Stines auch noch über Barrieren verfügt, ist grundsätzlich eine Konfrontation. Offenbar fügen sich die vielen Objekte, die normalerweise im Interieur zu finden sind, zu einer Art Teppich zusammen, der die Emotionen dämpft. Das schwer zu passierende Treppenhaus dagegen erinnert viel eher an die wohl berühmtesten Stiche düsterer Treppenkonstruktionen: Piranesis Carceri aus den 1760er Jahren. Diese Kerker sind zwar unter der Erde verortet, während das Treppenhaus in Stine den Verbindungsraum zwischen unten und oben markiert. Aber die Verliese Piranesis sind letztendlich nichts anderes als monumentale Treppenräume, die über Sperrkonstruktionen verfügen, die das Entkommen erschweren, und außerdem sakrale und mythische Assoziationen hervorrufen. Auch Fontanes Raum produziert derartige Verknüpfungen; der „rästhselhafte Federdruck“ und die „eulenartigen alten Köchinnen“, als ein weiblicher Archetypus des Märchens, verweisen auf das Irrationale und Geheimnisvolle. Neben der mythischen Komponente ist das Treppenhaus mit den automatischen Gittertüren ein technischer Raum. Fontane verwendet hier, wie er es auch in anderen Texten tut, eine ‚Folie‘ – nämlich den geheimnisvollen, verwinkelten Raum mit Treppen und Absperrungen, dazu märchenartige Türhüterinnen – auf deren Hintergrund ein technischer Fortschritt gezeigt wird. Der Blick in die funktionale Konstruktion des Treppenraums ist wie ein Blick in das innere Wesen, den Organismus, des Hauses. Das Treppenhaus erinnert damit an den Raumtypus des Dachbodens, wie ihn Gaston Bachelard beschreibt: „Im Dachboden sieht man mit Vergnügen das starre Gerippe des Balkenwerks bloßgelegt. Man hat teil an der soliden Geometrie des Zimmermanns.“22

22 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Kurt May/Walter Höllerer (Hrsg.), München 1960, S. 50.

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Abb. 2: Giovanni Battista Piranesi, Carceri, Blatt VІІ, um 1760, Radierung, 550 x 410 mm, Paris, Bibliothèque Nationale.

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In Meine Kinderjahre (1894) beschreibt Fontane den Dachboden seines Elternhauses in Swinemünde, der ebenfalls eine Konstruktion aus Aufgängen, Technik und Barrieren ist: Unser nächstes Ziel waren die Böden, deren sich nicht weniger als fünf unter dem Riesendache befanden. Der erste Boden, zu dem eine knarrende Treppe mit abgelaufenen Stufen hinaufführte, war ein Prachtstück in seiner Art, hoch und frisch und zugleich mit einer Welt von Dingen ausgestattet, die mich sofort für sich einnahmen: Schornsteine von beinah lächerlich mächtigem Umfang, eingegitterte Verschläge mit Vorlegeschlössern, gezogene Leinen, daran Wäsche hing, und dazu, an diesem ersten Morgen wenigstens, Schwalben und Schmetterlinge, die durch die vielen Fenster und Gucklöcher beständig aus und ein flogen. In verhältnismäßiger Nähe des umfangreichsten Schornsteins aber stieg eine zweite Treppe, eigentlich bloß eine geradlinige Leiter, zunächst bis auf den zweiten Boden und von diesem in unmittelbarer Fortsetzung bis auf den dritten hinauf. Zur Seite hing ein geteertes Tau, daran man sich festhielt.23

Die Räume, die sich unter dem Dach, das alles bedeckt und schützt, befinden, eröffnen den Blick auf funktionale Konstruktionen wie die Schornsteine, die im Rest des Hauses hinter den Wänden verborgen sind. Das Haus ist nach Bachelard ein „vertikales Wesen“,24 das sich aus der Polarität von Keller und Dachboden ergibt und von unten nach oben gedacht wird; die Bewegung durch den Dachboden ist immer der Aufstieg, wie er auch bei Fontane beschrieben wird. Demnach ist das Treppenhaus ein vertikales Interieur, das von unten nach oben alle Ebenen des Hauses durchläuft. Treppenhaus, Kerker und Dachboden sind Raumtypen, die über Aufgänge, Türen und Hindernisse verfügen. Sie sind leere, nackte Räume ohne Dekor, in denen das Verhältnis von Raum, Konstruktion, Technik und Körper betont wird. Dieses leere Interieur muss immer zunächst in der Bewegung des Aufstiegs begangen werden. Es handelt sich hier nicht um die Choreographie des Salons, die ein kurzes Schreiten in den nächsten Raum, in dem man sich wieder für einige Zeit setzt, zur Folge hat. Im ‚Treppenzimmer‘ gerät der Körper in Bewegung, er durchläuft unterschiedliche Stockwerke und muss Barrieren überwinden. Was sich hier mit den Figuren vollzieht, ist etwas, das bei Fontane sonst nur auf Landpartien geschieht: Die Lockerung der Konvention des Salons durch Bewegung, Begegnung mit dem Irrationalen (groteske Schornsteine, monumentale Treppen, geheimnisvolle Mechanismen, unheimliche Köchinnen) und der Kraft des Zufalls (so funktioniert der „räthselhafte Federdruck“ der Gittertüren nach dem Prinzip der Willkür). Das leere, vertikale Interieur also erzeugt durch das Fehlen des Schutzschildes aus Mobiliar und Dekor eine emotionale Konfrontati-

23 Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, Herbert Roch (Hrsg.), Frankfurt a.M. u.a. 1964, S. 35. 24 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, S. 50.

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on, außerdem durchbricht es die ruhige, beschauliche Salonbewegung. Oben angekommen wird Waldemar in seinem Vorhaben scheitern – der Raum mit den hinderlichen Gittertüren hat dies bereits vorausgedeutet.

V Körper – Architekturen – Texte: Fazit Fontane schilderte Figuren, die sich von unten nach oben durch einen Raum bewegen, Alice stürzte von oben nach unten durch einen Schacht: Wir hatten es mit Räumen zu tun, durch die sich Körper auf einer vertikalen Linie bewegen, immer auf einer Strecke zwischen zwei Punkten. Transferräume sind keine Orte zum Verharren, sie verbinden zwei Räume miteinander. Der leere Zwischenraum markiert dabei den Punkt, an dem die Konstruktion des gesamten architektonischen Gerüsts sichtbar wird. Dieses Gerüst, von O’Doherty als „aufrecht gehendes“, von Bachelard als „vertikales Wesen“ bezeichnet,25 wird im Text immer durch die Bewegung eines Körpers durch den Raum evoziert. Die Metapher vom „Wesen“ verweist außerdem darauf, dass die Raumgerüste über eine weitere Bedeutungsdimension verfügen, innerhalb derer ein architektonisches Gesamtgefüge als ein Organismus verstanden wird, also als ein eigener Körper, durch den sich wiederum die Körper der Figuren bewegen. Der Aspekt der Körperlichkeit wird somit noch ein weiteres Mal betont. Wir haben gesehen, dass einige Räume – der Dachboden in Meine Kinderjahre, das erste Stockwerk in Effi Briest – sich deutlich zur Außenwelt öffnen. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass sich das bürgerliche Interieur in dieser Zeit programmatisch von der Außenwelt abschottet.26 Hier zeigt sich, dass das Verschwinden der Dinge die Räume durchlässig macht. Gleichzeitig passiert einiges mit den wenigen Dingen, die in den leeren Räumen noch übrig bleiben. Das vereinzelte Objekt wird übermäßig betont und es entstehen Szenen der Objektpräsentation, die in einer Umkehrbewegung den Gestus der Vitrine überspitzen: Das leere Zimmer wird zur Vitrine, der Raum selbst zu einem Objekt, dessen Oberflächen über eine eigene Semantik verfügen. Als Alice in der ersten Szene durch den Schacht stürzt, kann sie die Geschwindigkeit ihres eigenen Körpers nicht bestimmen, und zwar deswegen, weil

25 O’Doherty, In der weißen Zelle, S. 12; Bachelard, Poetik des Raumes, S. 50. 26 Vgl. eines der vielen programmatischen Zitate aus einem zeitgenössischen Wohnratgeber: „Das grosse Fenster verband das Zimmer zu sehr mit der Aussenwelt […] auch unsere gewöhnlichen grossen Fenster nehmen dem Raum die innere Ruhe, setzen ihn zu sehr in Beziehung mit der Aussenwelt“ (Cornelius Gurlitt, Im Bürgerhause. Plaudereien über Kunst, Kunstgewerbe und Wohnungs-Ausstattung, Dresden 1888, S. 165f.).

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das Interieur mit seinen Dingen nach vorne drängt. Ansehen und Anfassen sind die beiden Begegnungsweisen mit dem Raum und seinen versammelten Objekten, die die zeitgenössische Literatur vorgibt, nicht aber die reine Bewegung ohne Kontemplation und Betrachten. Das bürgerliche Interieur des 19. Jahrhunderts ist immer ein Schaukasten, in dem die Dinge in ihrer Fülle ein zeichenhaftes System bilden. Diese Tatsache wird paradoxerweise erst richtig sichtbar, wenn die Dinge verschwinden. In dem Augenblick, in dem kein ‚Teppich‘ aus Zeichenträgern mehr zu beschreiben ist, kann der Text konfrontieren, und zwar mit einer räumlichen Durchlässigkeit, also einem Verlust des Schutzraums, mit einem prekären Körpergefühl und dem Verlust der Dinge als Körperextension und Träger von Abdrücken: In einer weiteren paradoxen Bewegung verschwindet der Körper mit den Dingen, während seine Bewegung betont wird.

Thomas Flum, Freiburg

Émile Zola und das neue Paris Zwischen 1870 und 1893 erschien Émile Zolas Romanzyklus Les RougonMacquart – Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second empire. In zwanzig Romanen schildert der Autor das Schicksal einer Familie im Zweiten Kaiserreich. Die Erzählung beginnt mit dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851, der Napoléon III. an die Macht brachte (La Fortune des Rougon), und endet in den Jahren zwischen 1872 und 1874 mit einem Rückblick (Le docteur Pascal). An zwanzig Jahre Kaiserreich schließen sich somit zwanzig Jahre der literarischen Verarbeitung durch Zola an. Die architektonische Neugestaltung der Stadt Paris durch Baron Haussmann ist dabei ein regelmäßig wiederkehrendes Thema. In der wissenschaftlichen Kommentierung liegt der Schwerpunkt auf soziologischen, ökonomischen oder literarischen Aspekten.1 Literaturwissenschaftliche Beiträge zeichnen sich zudem häufig durch ein metaphorisches Verständnis der Architektur aus.2 Der vorliegende Aufsatz befasst sich hingegen mit dem architekturgeschichtlichen und -theoretischen Kontext der Romane La Curée (Die Beute), Le ventre de Paris (Der Bauch von Paris) und Au Bonheur des Dames (Das Paradies der Damen).

1 Pierre Pinon, Atlas du Paris haussmannien. La ville en héritage du Second Empire à nos jours, Paris 2002; Michel Carmona, Haussmann, Paris 2001; Jean Des Cars, Haussmann. La gloire du second empire, Paris 2001; David P. Jordan, Transforming Paris. The Life and Labors of Baron Haussmann, New York 1995; Margret Kampmeyer-Käding, Paris unter dem Zweiten Kaiserreich. Das Bild der Stadt in Presse, Guidenliteratur und populärer Graphik, Marburg 1990. Grundsätzlich mit (französischer) Literatur und Architektur befassen sich: Élise Hugueney-Léger, „Littérature et architecture: construction, mémoire et imaginaires“, in: Études littéraires, 42/2011, S. 7–12; Pierre Hyppolite (Hrsg.), Littérature et architecture. Lieux et objets d’une rencontre, Revue des Sciences Humaines, 300 (2010) (zwölf Beiträge); Antoine Leygonie, „Architecture et Littérature: phénoménologie d’une rencontre“, in: Ebd., S. 149–161; Laurence Richer (Hrsg.), Littérature et architecture, Actes de la Journée d’Études du 18 juin 2003, Lyon 2004; Madeleine Bertaud (Hrsg.), Architectes et architecture dans la littérature française, Actes du colloque international, 23–25 octobre 1997, Paris 1999. 2 Olivier Lumbroso, Zola – La plume et le compas. La construction de l’espace dans „Les RougonMacquart“ d’Emile Zola (Romantisme et modernités 78), Paris 2004; Philippe Hamon, „Texte, architecture, récit“, in: Ders. (Hrsg.), Littérature & architecture [… à l’occasion d’un colloque qui s’est tenu à Rennes les 12 et 13 mai 1986], Rennes 1988, S. 5–13; Stefan Max, Les métamorphoses de la grande ville dans „Les Rougon-Macquart“, Paris 1966, S. 43–86.

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I La Curée – Die Beute (1871) La Curée ist 1871 erschienen. Im Mittelpunkt stehen die Grundstückspekulationen, die die Neubaupläne Napoleons III. und George-Eugène Haussmanns ausgelöst haben. Die Handlung beginnt im Jahr 1861, wobei die Chronologie der Erzählung nicht immer mit den historischen Begebenheiten übereinstimmt.3 Der Leser erhält einen Einblick in das Milieu der Neureichen, der Parvenus, die ihr Vermögen mit betrügerischer Immobilien-Spekulation erlangt haben, und in das zugehörige Ambiente.4 Zola erläutert das System des Betrugs, das im Wesentlichen darauf basiert, vorab von den geplanten Straßendurchbrüchen zu erfahren: die Spekulanten erwerben baufällige Häuser in entsprechender Lage und treiben deren Preis über Strohmänner in die Höhe. Sobald die Stadt die Immobilien ankauft, streichen sie hohe Gewinne ein.5 Zugleich wird beschrieben, welche Art von Wohnhäusern sich die neureiche Gesellschaft errichten lässt. Zola konzentriert sich dabei weniger auf strukturelle Merkmale wie Grund- und Aufrisse, die für eine architekturgeschichtliche Betrachtungsweise grundlegend wären, sondern hebt konsequent die bildhaften und dekorativen Elemente der Bauten hervor. Gleich im ersten Kapitel, das mit einem Vorgriff beginnt, wird das Hôtel des betrügerischen Spekulanten Saccard, der Hauptperson des Romans, vorgestellt. Eine Kalesche fährt in den Hof, worauf die Beschreibung der reich gegliederten und mit plastischem Schmuck überladenen Architektur folgt. Nach einem kurzen Überblick heißt es: C’était un étalage, une profusion, un écrasement de richesses. L’hôtel disparaissait sous les sculptures. Autour des fenêtres, le long des corniches, couraient des enroulements de rameaux de fleurs; […] A mesure que l’œil montait, l’hôtel fleurissait davantage. Autour du toit, régnait une balustrade sur laquelle étaient posées, de distance en distance, des urnes où des flammes de pierre flambaient. Et là, entre les œils-de-bœuf des mansardes, qui s’ouvraient dans un fouillis incroyable de fruits et de feuillages, s’épanouissaient les pièces capitales de cette décoration étonnante, les frontons des pavillons, au milieu desquels reparaissaient les grandes femmes nues, jouant avec des pommes, prenant des poses, parmi des poignées de joncs. Le toit, chargé de ces ornements, surmonté encore de galeries de

3 Vgl. z.B. Max, Métamorphoses, S. 45–48. 4 Vgl. Émile Zola, La Curée (Collection folio classique), Henri Mitterand (Hrsg.), Paris 2011, Kommentar S. 353f.; Jean-Claude Cassaing, „Les Parvenus d’Émile Zola, un manuscrit inédit“, in: Les Cahiers naturalistes, 52/1978, S. 135–165; Roddey Reid, „Perverse Commerce, Familial Pathology and National Decline in La Curée“, in: ders., Families in Jeopardy. Regulating the Social Body in France, 1750–1910, Stanford 1993, S. 240–277. 5 Dieses ruinöse System führte unter anderem dazu, dass der für die Finanzierung der Bauarbeiten eingerichtete Fonds 1867 zusammenbrach. Einen parodistischen Kommentar lieferte: Jules Ferry, Les Comptes fantastiques d’Haussmann, Paris 1868.

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plomb découpées, de deux paratonnerres et de quatre énormes cheminées symétriques, sculptées comme le reste, semblait être le bouquet de ce feu d’artifice architectural.6

Der Dekor scheint sich unaufhaltsam, pflanzenartig zu vermehren. Der erstaunlichen Vielfalt wird nur eine längere Aufzählung gerecht, wobei alles auf die Maßlosigkeit des architektonischen Entwurfs verweist. Selbst die nackten weiblichen Figuren scheinen zu posieren. Das abschließende Urteil fällt vernichtend aus: „C’était une réduction du nouveau Louvre, un des échantillons les plus caractéristiques du style Napoléon III, ce bâtard opulent de tous les styles.“7 Für Zola ist der dekadente Parvenu somit an seinem schlechten Geschmack zu erkennen, an einem opulenten, von dekorativem Überfluss gekennzeichneten Baustil. Kritisiert wird die typisch späthistoristische Manier, in der nach Ansicht vieler Zeitgenossen zu vieles und Unpassendes miteinander vermengt wird und es an Originalität mangelt. Zu den Beispielen dieses Stils zählen neben dem Louvre (Abb. 1) die Opéra Garnier, der neue Justizpalast und viele Hôtels im Viertel um den Parc Monceau, wo sich auch das Anwesen Saccards in Zolas Roman befindet. Mit dem Hôtel Menier hat sich hier ein Gebäude erhalten, das dem von Zola beschriebenen ähnelt (Abb. 2). Es stammt aus den Jahren 1872–74 und liegt in der Avenue van Dyck, die den Park mit der Place d’Étoile verbindet. Auch diese Straße ist im Rahmen der Neugestaltung von Paris zwischen 1848 und 1857 entstanden.8 Kritik an dieser Art von Architektur war verbreitet. Gottfried Semper, der sich intensiv mit Stilfragen befasste und dem Werk Haussmanns nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstand, äußerte sich bereits 1869 unmissverständlich zur Pariser Architektur des Zweiten Kaiserreichs: Waren wir nicht alle Zeugen, wie Louis Napoleon mit Beihülfe seines getreuen Seinepräfekten Haus[s]mann die alte erinnerungsvolle Hauptstadt Frankreichs von Grund aus umstürzte, um sie nach neuem Plane wieder aufzubauen, und solcherweise, mit der Vergangenheit Frankreichs abschließend, dessen Zukunft an seinen Namen und an seine Dynastie zu fesseln? […] Ob er seinen dynastischen Absichten wirklich damit diente, darüber kann die Zukunft allein Aufschluss gewähren, aber es ist schon heute erlaubt daran zu zweifeln, ob seine Milliarden verschlingenden Bauunternehmungen die Architektur als solche auch nur um einen einzigen Schritt gefördert haben, – da von einer neuen und eigenen Richtung dieser Kunst während jener Umsturzzeit und infolge derselben nichts wahrzunehmen ist und bei aller Neuerungssucht, die sie verraten, gänzlicher Mangel an Originalität, an befruchtenden neuen Motiven sie kennzeichnet. […] Die Plattheiten und nüchternen Zierereien der Neogriechen, die falsche kokette Romantik der Neogoten und andere erstrebte Neuerungen gleichen Gehalts haben sich an Ort und Stelle in kürzester Zeit überlebt, finden

6 Zola, La Curée, S. 52f. 7 Ebd., S. 53. 8 Pierre Pinon, Atlas du Paris haussmannien, S. 169 u. 201.

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Abb. 1: Louvre, Pavillon Denon, Westfassade, in: Paris dans sa splendeur, 1866.

Abb. 2: Hôtel Émile Menier, 1872–74, 5 Avenue van Dyck, Parc Monceau.

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nur noch unter Fremden nachahmende Bewunderer. Das neue Opernhaus mit seiner prahlerischen Ausstattung, wofür schon 30 oder gar 40 Millionen verausgabt wurden, der nicht minder verwerfliche neue Justizpalast mit seinem gespreizten, manierirten und lügnerischen Façadenbau – sie sind schon lange dem Charivari verfallen. Keine Vorbilder, sondern Künstlern und Laien als Schreckbilder bezeichnet, wie nicht zu bauen ist.9

Dieser Einschätzung folgt auch der Erzähler in Zolas Roman. Wenn er darüber hinaus vom Baustil auf die Moral der Bewohner schließt, in der dekorativen Fülle der Architektur ein Symptom für die Verkommenheit des Parvenus sieht, bedient er Vorstellungen, die in der Architekturtheorie eine lange Tradition haben. Schon bei Alberti ist zu lesen, dass die Schönheit dem schönen Körper angeboren sei und ihn durchdringe, „der Schmuck (ornamentum) aber mehr die Natur erdichteten Scheines und äußerer Zutat habe, als innerlicher Art sei“ (De re aed. VI, 2).10 Zwischen dem Baukörper, der eigentlichen Substanz, und dem Ornament, einer beliebigen Zutat, ist demnach zu unterscheiden. Architektonische Schmuckformen können daher einen heuchlerischen Charakter haben und dem Bauwerk schaden. Unter den Zeitgenossen Zolas ist es insbesondere der Architekt und Restaurator Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, der architektonische Strukturen nach ihrem Wahrheitsgehalt befragt und es ablehnt, Formen der Vergangenheit einfach nur zu imitieren. Vielmehr geht es ihm darum, den Geist eines historischen Baustils zu erfassen und diesen auf die eigene Zeit zu übertragen. So sieht er in den konstruktiven Vorteilen der gotischen Architektur ein wahres Prinzip (principe vrai) walten, das den modernen Anforderungen an Bauten besser entspricht als das Architektursystem der Griechen, das statisch und strukturell nicht geeignet ist und folglich unwahre Architektur hervorbringt.11 Den Eklektizismus seiner Zeit geißelt er, weil er nicht vernunftgemäß sei, keine Eigengesetzlichkeit habe, die sich aus den Bauaufgaben, der lokalen Bautradition und dem Material ergebe: „L’éclecticisme est un mal; car, dans ce cas, il exclut nécessairement le style.“12 Keinen Stil zu haben, das war es auch, was die Kaiserin dem jungen und weitgehend unerfahrenen Architekten Garnier nach Begutachtung der Pläne für die neue Pariser Oper vorwarf. Dieser

9 Gottfried Semper, „Über Baustile“, in: Ders., Kleine Schriften, Hans Semper/Manfred Semper (Hrsg.), Mittenwald 1979, S. 398f. 10 Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, Max Theuer (Hrsg.), Wien/Leipzig 1912, S. 294. 11 „L’Art ne consiste pas dans telle ou telle forme, mais dans un principe, dans une methode logique“, zit. nach: Louis Hautecoeur, L’architecture française. De la Renaissance à nos jours, Paris 1941, S. 84. 12 Zit. nach: Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 1986 [1985], S. 324.

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antwortete bekanntlich, dass es sich um den neuen „Stil Napoléons III.“ handle, womit er diese Bezeichnung gleichsam einführte.13 Die Suche nach dem richtigen Stil bestimmte die architekturtheoretische Debatte des 19. Jahrhunderts von Anfang an.14 In den 1860er Jahren erlebte diese Diskussion einen neuen Höhepunkt, als es um die Reformierung der Ausbildung der Architekten an der École des Beaux-Arts ging. In dieser weltweit angesehenen Institution stritten sich Klassizisten und Neogotiker über Methoden und Schwerpunkte des künftigen Lehrkonzepts, wobei die 1863 von Viollet-le-Duc maßgeblich propagierten Neuerungen (unter anderem die stärkere Unabhängigkeit der École bei der Auswahl des Lehrpersonals sowie die Ausweitung des Lehrprogramms auf die gotische Baukunst Frankreichs) kurze Zeit später wieder durch traditionelle, klassizistisch orientierte Elemente ersetzt wurden. Entscheidend war jedoch, dass dieser Streit nicht hinter verschlossenen Türen, sondern öffentlich ausgetragen wurde. Die Stellungnahmen der Kontrahenten waren in renommierten Fachzeitschriften wie den Annales archéologiques oder der Gazette des Beaux-Arts nachzulesen.15 Dem an bildender Kunst lebhaft interessierten Zola kann dies nicht entgangen sein, und es ist anzunehmen, dass die Kritik am Stil Napoleons III., wie sie in La Curée zum Ausdruck gebracht wird, diese aktuellen architekturtheoretischen Debatten reflektiert. Wie sehr die Architektur und ihre Bewohner in diesem Roman als Einheit betrachtet werden, zeigt der Vergleich mit dem alten Paris, das keinesfalls als Idylle geschildert wird. Das Elternhaus von Saccards junger Gattin Renée befindet sich auf der Ile-Saint-Louis, die aufgrund ihrer abseitigen Lage von Umbauten durch Haussmann verschont geblieben ist. Renées Vater, Monsieur Béraud du Châtel, wird als stattlicher Sechzigjähriger beschrieben: Le dernier représentant d’une ancienne famille bourgeoise, dont les titres remontaient plus que de certaines familles nobles. Un de ses ancêtres était le compagnon d’Etienne Marcel. En 93, son père mourait sur l’échafaud, après avoir salué la République de tous ses enthousiasmes de bourgeois de Paris, dans les veines duquel coulait le sang révolutionnaire de la cité. Lui-même était un de ces républicains de Sparte, rêvant un gouvernement d’entière justice et de sage liberté.16

Er repräsentiert die alte Bourgeoisie, deren Vorfahren sich bis in die ruhmreiche Zeit Karls V. zurückverfolgen lassen und maßgeblich zum Gelingen der Revolution

13 Jean-Marie Pérouse de Montclos, Le guide du patrimoine: Paris, Paris 1995, S. 366. 14 Vgl. v.a. Heinrich Hübsch, In welchem Style sollen wir bauen?, Karlsruhe 1984 [1828]. 15 Richard A. Moore, „Academic Dessin Theory in France after the Reorganization of 1863“, in: Journal of the Society of Architectural Historians, 36/1977, S. 145–150. 16 Zola, La Curée, S. 103.

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beigetragen haben, ihre Ideale aber von den Parvenus verraten sehen. Auch die Beschreibung der Architektur bringt den tiefen Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen Paris deutlich zum Ausdruck. Das nur dreistöckige Gebäude aus dem 17. Jahrhundert wird als dunkel, eng und feucht beschrieben, das Viertel als still und verschlafen. An der Wohnstätte der alten Bourgeoisie lässt sich erkennen, dass ihre Zeit vorüber ist: „Là, au fond de cette cour fraîche et muette comme un puits, éclairée d’un jour blanc d’hiver, on se serait cru à mille lieues de ce nouveau Paris où flambaient toutes les chaudes jouissances, dans le vacarme des millions.“17 Die Architektur und ihre Bewohner erscheinen in La Curée insofern wesensverwandt, als sie vergleichbare Eigenschaften und – vor allem – Defizite aufweisen. Der Begriff des nouveau Paris, wie er im letzten Zitat anklingt, wurde seit der Weltausstellung von 1855 sowohl von den Befürwortern als auch von den Kritikern verwendet, um die tiefgreifenden baulichen und gesellschaftlichen Veränderungen mit einem Schlagwort zu bezeichnen.18 Bei Zola stehen sich die Vertreter der alten und neuen Zeit unversöhnlich gegenüber, die Architektur versinnbildlicht diesen Gegensatz.

II Le Ventre de Paris – Der Bauch von Paris (1873) In Le ventre de Paris, 1873 erschienen, spielt ein Großteil der Handlung in der neuen Glas-Eisenarchitektur der Hallen von Victor Baltard (Abb. 3). Dieses legendäre Bauwerk erhält hier ein literarisches Denkmal. Ging es in La Curée um das Milieu der Parvenus, stehen nun die sogenannten Honnêtes gens im Mittelpunkt. So bezeichnete sich das kleine und mittlere Bürgertum gerne selbst in Abgrenzung zu den Neureichen. Zola entlarvt dieses Selbstverständnis im Laufe seines Romans, der mit den Worten schließt: „Quels gredins que les honnêtes gens“ – Was sind sie doch für Schurken, die anständigen Leute.19 Zu Beginn der Erzählung, im September 1858, waren erst sechs der zehn neuen Pavillons, aus denen sich die Hallen zusammensetzten, fertiggestellt. Auch in diesem Roman findet sich die entscheidende, Aussehen und Charakter des Bauwerks bestimmende Beschreibung im ersten Kapitel. Geschildert wird der erste Eindruck des jungen Florent, der nach längerer Abwesenheit am frühen Morgen in Paris eintrifft:

17 Ebd., S. 125. 18 Kampmeyer-Käding, Paris, S. 23–30. 19 Émile Zola, Le Ventre de Paris (Collection folio classique), Henri Mitterand (Hrsg.), Paris 2011, S. 424.

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Abb. 3: Les Halles. Mais ce qui le surprenait, c’était, aux deux bords de la rue, de gigantesques pavillons, dont les toits superposés lui semblaient grandir, s’étendre, se perdre, au fond d’un poudroiement de lueurs. Il rêvait, l’esprit affaibli, à une suite de palais, énormes et réguliers, d’une légèreté de cristal, allumant sur leurs façades les mille raies de flamme de persiennes continues et sans fin. Entre les arêtes fines des piliers, ces minces barres jaunes mettaient des échelles de lumière, qui montaient jusqu’à la ligne sombre des premiers toits, qui gravissaient l’entassement des toits supérieurs, posant dans leur carrure les grandes carcasses à jour de salles immenses, où traînaient, sous le jaunissement du gaz, un pêle-mêle de formes grises, effacées et dormantes. Il tourna la tête, fâché d’ignorer où il était, inquiété par cette vision colossale et fragile ; et, comme il levait les yeux, il aperçut le cadran lumineux de SaintEustache, avec la masse grise de l’église. Cela l’étonna profondément. Il était à la pointe Saint-Eustache.20

Erneut geht es nicht darum, Architektur sachlich zu beschreiben. Grund- und Aufrisse spielen auch hier keine Rolle. Im Gegensatz zu La Curée werden jedoch das Erstaunen, das Befremden und die Orientierungslosigkeit betont, die die Hallen bei dem Neuankömmling auslösen. Wenig später ist von einem forêt de fonte die Rede, der diesen Eindruck verstärkt.21 Es werden keine architektonischen Details aufgezählt oder gar einer Wertung unterzogen, wie dies bei den

20 Ebd., S. 39. 21 Ebd., S. 61.

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Wohnhäusern der Neureichen im vorigen Roman der Fall war. Auch erscheint die Architektur nicht als Sinnbild der unter ihrem Dach wirkenden Personen. Der Erzähler hebt vielmehr das ästhetische Erlebnis hervor, den von Raumwirkung und Licht bestimmten Charakter der Hallen. Die Pariser Hallen von Victor Baltard sind architekturgeschichtlich gleichermaßen von Bedeutung für die Kaiserzeit wie die Prachtbauten im sogenannten „Stil Napoleons III.“ oder „Beaux-Arts-Stil“, wie er in Anlehnung an die École des Beaux-Arts genannt wurde.22 In ihrer konsequenten Reduktion auf die Materialien Eisen und Glas bilden sie einen Gegenpol zu Garniers neuer Oper. Ihre Funktionalität orientiert sich unter anderem an der Empfangshalle des neuen Pariser Bahnhofs Saint-Lazare. Baltards ursprünglicher Entwurf aus dem Jahr 1844 sah einen massiven Steinbau mit Glasdach vor, dem jedoch der Spott der Pariser Bevölkerung und das Entsetzen des Kaisers entgegenstand. Allein dem diplomatischen Geschick und der Protektion Haussmanns hatte es Baltard zu verdanken, dass er (anonym) einen neuen Entwurf liefern durfte, der dann zur Ausführung gelangte.23 Die strenge Vorgabe des Kaisers („ce sont de vastes parapluies, qu’il me faut, rien de plus“) belegt, dass dieser eher den Industriebauten als den traditionellen Erzeugnissen der Beaux-Arts-Schüler zugeneigt war. Auch wenn die Hallen in diesem Roman keine soziale Gruppierung repräsentieren, ist ihr Baustil von Bedeutung. Der Autor verweist auf die Nachbarschaft zur Kirche Saint-Eustache aus dem 16. Jahrhundert, deren Gestalt noch weitgehend den gotischen Kathedralen verpflichtet ist. Ob Zola wusste, dass SaintEustache 1844 von Victor Baltard restauriert worden war, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Es war jedoch allgemein bekannt, dass die gotische Architektur von vielen Zeitgenossen – allen voran von Viollet-le-Duc – als der nationale Baustil schlechthin angesehen wurde. Ästhetisch und funktional galt er als vorbildlich. Gerade die Gliederbauweise und die großen Fensterflächen schienen Bestrebungen der eigenen Zeit vorwegzunehmen. Die Gegenüberstellung der beiden Bauten in Zolas Roman ruft diesen Zusammenhang unwillkürlich in Erinnerung. Erneut stehen sich damit Bauwerke des alten und des neuen Paris gegenüber, handelte es sich in La Curée um die privaten Hôtels, sind es nun zwei öffentliche Bauten.

22 Vgl. Richard Chafee, „The Teaching of Architecture at the École des Beaux-Arts“, in: Arthur Drexler (Hrsg.), The Architecture of the École des Beaux-Arts, New York 1977, S. 61–109; Joseph Rykwert, „The École des Beaux-Arts and the classical tradition“, in: Robin Middleton (Hrsg.), The Beaux-Arts and Nineteenth-Century French Architecture, Cambridge, Mass. 1982, S. 8–17; Jörn Garleff, Die École des Beaux-Arts in Paris. Ein gebautes Architekturtraktat des 19. Jahrhunderts, Tübingen [u.a.] 2003. 23 Michel Carmona, Haussmann, Paris 2000, S. 296–299.

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Der Bezug zur gotischen Architektur klingt auch an anderer Stelle an. Émile Zola selbst gibt in seinen Aufzeichnungen den Hinweis auf Victor Hugos NotreDame de Paris, indem er beabsichtigte, aus der Figur des Marjolin den „Quasimodo der Hallen“ zu machen.24 Architekturgeschichtlich liegt der Vergleich nahe, denn wie die Hallen in der Mitte des 19. Jahrhunderts war Notre-Dame ein vorbildliches, stilprägendes Bauwerk des 13. Jahrhunderts. Nicht zu vergleichen sind hingegen die architekturtheoretischen Positionen der beiden Autoren. Während sich Hugo intensiv mit der Geschichte und dem Wesen der gotischen Baukunst befasst und in seinem Roman theoretisch und denkmalpflegerisch Stellung bezieht, lässt sich Zola auf keinen vergleichbaren Diskurs ein. Die Architektur bleibt hier Staffage. Dass auch die offene, vermeintlich funktionale Skelettbauweise der Hallen nicht alle Probleme der Vergangenheit löst, ist den Passagen über die Geruchsentwicklung in den verschiedenen Jahreszeiten zu entnehmen. Denn obwohl die Pavillons sehr hoch waren und man die Dächer zur besseren Belüftung teilweise öffnen konnte, durchdrang die Hallen für Fisch und Fleisch in den Sommermonaten ein Gestank der Verwesung. Um dem Geruch zu entfliehen, zieht sich Florent in Zolas Roman daher immer wieder in den kühleren Keller zurück.25 Jede massivere architektonische Form hätte diese Unannehmlichkeiten wohl verstärkt. Im Gegensatz zum modernen Kaufhaus, das im folgenden Abschnitt behandelt wird, erscheint die neue Architektur jedoch nicht als Ideallösung eines architektonischen Problems. Die Hallen werden vom Erzähler des Romans vor allem in ihrer Funktion, ihren Farben und Gerüchen wahrgenommen. Sie haben die Nahrung für das neue Paris bereitzuhalten, eine Aufgabe, der die alten Holzbauten nicht mehr gerecht wurden. Schon im Titel des Romans vergleicht Zola die Hallen daher mit einem Bauch. Die Architektur wird – untypisch – zu etwas Organischem stilisiert, das sich rhythmisch bewegt. Im Text wird dies anschaulich mit dem pulsierenden Leben und der Allgegenwart von Lebensmitteln evoziert. In den Aufzeichnungen des Autors heißt es: „L’idée générale est: le ventre […], le ventre de l’humanité […]; la bourgeoisie digérant, ruminant, cuvant en paix ses joies. […] Les Halles jettent à Paris la nourriture à la pelle, pour que la bête reste tranquille dans sa cage.“26 Am Ende ist dann sogar vom „triomphe du ventre“ die Rede.27

24 „Il y demeurera, n’en sortira jamais, en sera le génie familier.“ Zitiert nach Zola, Le Ventre, 2002, Anm. 13, S. 461. 25 Vgl. Zola, Le Ventre, S. 200. 26 Ebd., S. 12 und 16 (Kommentar). 27 Ebd., S. 424.

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III Au Bonheur des Dames – Das Paradies der Damen (1883) In Au Bonheur des Dames stehen die neuen Kaufhäuser der sogenannten ersten und zweiten Generation im Mittelpunkt, für die vor allem die noch heute existierenden Häuser Le Bon Marché und Le Printemps das Vorbild abgeben.28 Der Autor verfolgt drei inhaltliche Stränge: Im Vordergrund steht die Liebesgeschichte zwischen der armen Verkäuferin (Denise Baudut) und dem Besitzer des Kaufhauses (Octave Mouret), der irritiert erkennen muss, dass die Geliebte sich nichts aus seinem Geld macht. Die Liebe triumphiert über Intrigen. Daneben wird der ökonomische Wandel geschildert, der mit der Einführung des modernen Warenhauses einhergeht. Der alteingesessene Einzelhandel in den umliegenden Straßen und Vierteln kommt allmählich zum Erliegen. Ein monumentales, allegorisches Skulpturenpaar über dem Haupteingang des neuen Kaufhauses, das eine Allianz von Commerce und Industrie zeigt, symbolisiert die Grundlagen der neuen ökonomischen Macht.29 Schließlich widmet sich Zola den Veränderungen der Architektur, die das wirtschaftliche Wachstum veranschaulichen. Beschreibungen des alten und des neuen Kaufhauses (Kapitel 1 und 14) rahmen die Handlung. Geschildert wird der Übergang vom nur großen, letztendlich aber noch unausgereiften ersten Kaufhaus zur perfekten „Verkaufsmaschine“ aus Stein, Eisen und Glas, die ein ganzes Viertel einnimmt. Die Beschreibung eines Kaufhauses der ersten Generation vermittelt dem Leser zu Beginn des Romans etwas von dem Erstaunen, das diese Bauten durch ihre Dimension und das Überangebot an Waren hervorgerufen haben. Es handelt sich jedoch um kein Meisterwerk, das durch architektonischen Glanz oder Finesse besticht: […] un magasin de nouveautés dont les étalages éclataient en notes vives, dans la douce et pâle journée d’octobre. […] ce magasin rencontré brusquement, cette maison énorme pour elle, lui gonflait le cœur, la retenait, émue, intéressée, oublieuse du reste. […] C’était un développement qui lui semblait sans fin, dans la fuite de la perspective, avec les étalages du rez-de-chaussée et les glaces sans tain de l’entresol, derrière lesquelles on voyait toute la vie intérieure des comptoirs. […] C’était un déballage géant de foire, le magasin semblait crever et jeter son trop-plein à la rue.30

28 Émile Zola, Au Bonheur des Dames (Collection folio classique), Henri Mitterand (Hrsg.), Paris 2010, S. 9–12 (Kommentar). Zu Émile Zola und dem modernen Kaufhaus vgl.: Véronique Cnockaert, Au Bonheur des Dames d’Émile Zola, Kommentar, Paris 2007; Michèle Sacquin/Marie Michelet (Hrsg.), Le cahier Zola et autour d’une œuvre: Au Bonheur des Dames, Paris 2002; Jean Des Cars/ Pierre Pinon, Paris Haussmann. „Le Pari d’Haussmann“, Paris 1991, S. 169–173; Michael B. Miller, The Bon Marché. Bourgeois Culture and the Department Store, 1869–1920, Princeton 1981. 29 Vgl. Zola, Au Bonheur, S. 280. 30 Ebd., S. 29–31.

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Diesem stil- und gesichtslosen Bauwerk, dessen formale Gestalt sich beinahe zufällig aus den verfügbaren Grundstücken und angekauften Immobilien ergibt, steht das prachtvolle, neu errichtete Kaufhaus der zweiten Generation im letzten Kapitel des Romans gegenüber: C’était, dans sa fraîcheur gaie, un vaste développement d’architecture polychrome, rehaussée d’or, annonçant le vacarme et l’éclat du commerce intérieur, accrochant les yeux comme un gigantesque étalage qui aurait flambé des couleurs les plus vives. […] la porte centrale, d’une hauteur d’arc de triomphe, décorée elle aussi d’une profusion de mosaïques, de faïences, de terres cuites, surmontée d’un groupe allégorique dont l’or neuf rayonnait, […] Le palais était construit, le temple élevé à la folie dépensière de la mode.31

Die subtile Steigerung der architektonischen Vergleiche versinnbildlicht den Aufstieg des Kaufhauses: Mit dem Triumphbogen spielt Zola auf den wirtschaftlichen Siegesszug an, der Palast steht für gesellschaftliche Dominanz, der Tempel schließlich verweist auf eine Überhöhung ins Religiöse. Auch baulich hat das neue Kaufhaus das Viertel erobert, in dem es sich befindet, und markiert die Grenzen durch eine geschlossene Blockrandbebauung: „[…] les quatre façades filaient le long des quatre rues, sans une lacune, dans leur isolement superbe.“ (Abb. 4)

Abb. 4: Souvenir of the Bon Marché, Paris 1896, S. 12f.

31 Ebd., S. 449f.

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Zola attestiert der Architektur sogar den Charakter eines Parvenu, in seinen Eigenschaften dem gierigen Immobilienspekulanten Saccard aus La Curée ähnlich: On eût dit que le colosse, après ses agrandissements successifs, pris de honte et de répugnance pour le quartier noir, où il était né modestement, et qu’il avait plus tard égorgé, venait de lui tourner le dos, laissant la boue des rues étroites sur ses derrières, présentant sa face de parvenu à la voie tapageuse et ensoleillée du nouveau Paris.32

Diese Art der Personalisierung von Architektur findet sich in keinem der zuvor untersuchten Romane. Das Kaufhaus bildet damit nicht mehr allein den baulichen Rahmen der Handlung, sondern tritt nahezu als Akteur auf. In jedem Falle ist es als monumentales Sinnbild der prosperierenden, neureichen Pariser Bevölkerung zu verstehen. Typologisch handelt es sich bei den großen Kaufhäusern der Kaiserzeit um Bauten, die architektonische Elemente älterer Typen verbinden. Während die steinerne Hülle in Aufbau und Gliederung häufig an den urbanen Wohn- und Palastbau erinnert, kommen im Inneren die Vorzüge der unverkleideten Eisenund Glaskonstruktionen zum Tragen, wie sie von Ausstellungsbauten, den Pariser Hallen oder Bahnhöfen her bekannt waren (Abb. 5).

Abb. 5: Louis-Charles Boileau, Bon Marché, Erweiterungsbau, Haupttreppe, 1872–74.

32 Ebd.

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Der prächtige Beaux-Arts-Stil mondäner bürgerlicher Fassaden aus La Curée und die lichte Eisen-Glas-Konstruktion der Hallen aus Le Ventre finden hier zusammen. In Zolas Au Bonheur des Dames ist die Situation jedoch schwieriger. Während die Handlung in den 1860er Jahren spielt, berücksichtigt Zola in dem 1883 erschienenen Roman bekanntlich den neuesten Stand der Entwicklung, wie zum Beispiel die farbige Gestaltung der Fassaden. Der Roman endet im Jahr 1869 mit der Eröffnung des Kaufhauses Les Quatre Saisons, die beschriebene Architektur weist jedoch Merkmale auf, wie sie erst um 1880 zu finden waren.33 Dieser Anachronismus, den Zola in Kauf nahm, belegt erneut, dass es dem Autor nicht darum ging, Baugeschichte zu schreiben. Die Verwandlung des Kaufhauses vom monumentalen Zweckbau zur verführerischen Attraktion ist sein Thema. Diese Tendenz hatte sich in den 1870er Jahren fortgesetzt, so dass Zola hier eine Möglichkeit sah, den Kontrast zwischen der alten und der neuen Kaufhausarchitektur noch zu steigern. Ein wichtiges gestalterisches Element der Kaufhäuser – in der Wirklichkeit wie im Roman – waren Skulpturen. Im 9. Kapitel wird von der Eröffnung des erneuerten und erweiterten Kaufhauses Au Bonheur berichtet. Über dem Portal geben sich zwei monumentale Allegorien der Industrie und des Handels (Commerce) die Hand.34 Das gleiche Figurenpaar schmückte wahrscheinlich das Kaufhaus Bon Marché, wie ältere Abbildungen vermuten lassen.35 Industrie und Commerce als allegorisches Figurenpaar waren im späten 19. Jahrhundert geläufig, wie ihre Aufstellung vor dem Hauptgebäude der Pariser Weltausstellung von 1889 belegt. Dort flankierten die sieben Meter hohen Allegorien aus Bronze den Haupteingang.36 Während der Handel hier in traditioneller Weise als Götterbote Merkur erschien, präsentierte sich die Industrie als Neuschöpfung, deren Attribute auf die moderne Schwerindustrie verweisen und nur noch entfernt an die klassische Industria (den Fleiß) erinnern. In der französischen Bearbeitung von Cesare Ripas Iconologia aus dem Jahr 1766 waren sowohl Commerce als auch Industrie ent-

33 Vgl. Jeanne Gaillard, „Vorwort“, in: Zola, Au Bonheur, 1980, S. 10–12. 34 Vgl. Zola, Au Bonheur, S. 280. 35 Vgl. den Kupferstich des Eingangs zur Rue de Sèvres in der Revue générale de l’architecture et des travaux publics (1873), reproduziert in: Jean-Marie Pérouse de Montclos, Le guide du patrimoine: Paris, Paris 1995, S. 137. Noch heute sind an der Fassade des Pariser Printemps Allegorien der vier Jahreszeiten zu sehen. Es war im Übrigen das Printemps, das das Vorbild für Zolas Kaufhaus Les Quatres Saisons abgegeben hat und dessen allegorische Figuren dem Pseudonym offenbar zugrunde liegen. 36 Vgl. die Abbildung in: Paris – Belle Epoque: 1880–1914, Ausst.-Kat., Villa Hügel, Essen 1994, S. 195.

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halten.37 Bereits in dieser Ausgabe wird „le lucre“, der Gewinn, als vorrangiges Ziel der Industrie genannt, die hier auf einer Seilwinde sitzend dargestellt ist. Dieses Verständnis kommt jenem des späten 19. Jahrhunderts bereits nahe. Sowohl für das alte als auch das neue Kaufhaus gilt, dass Zola es explizit mit der gotischen Kathedrale vergleicht, womit er zugleich andeutet, dass auch hier einem Gott gehuldigt wird.38 Der Eingang des Kaufhauses gleiche dem einer Kirche („Cette porte, haute et profonde, comme une porche d’église […]“), das Gebäude insgesamt wird als „cathédrale du commerce moderne“ bezeichnet, ein Konsumtempel, mit Mittelschiff, Seitenschiffen und Emporen.39 Der Vergleich mit Sakralarchitektur beinhaltet nicht nur eine Kritik an der ungebührlichen Wertschätzung, die dem neuen Gebäude entgegengebracht wird, sondern unterstreicht zugleich dessen gesellschaftlichen Rang. Diese Überhöhung ins Religiöse erfährt eine Steigerung in jenen Zeilen, die die Eröffnung des Kaufhauses mit der Ausstellung Le blanc schildern. Das Innere präsentiert sich den Besuchern mit weißem Dekor und weißen Waren, die Farbsymbolik mit Weiß als Farbe der Unschuld wird gezielt ad absurdum geführt: Ce qui arrêtait ces dames, c’était le spectacle prodigieux de la grande exposition de blanc. […] On retrouvait le blanc des vitrines du dehors, mais avivé, colossal, brûlant d’un bout à l’autre de l’énorme vaisseau, avec la flambée blanche d’un incendie en plein feu. Rien que du blanc, tous les articles blancs de chaque rayon, une débauche de blanc, un astre blanc dont le rayonnement fixe aveuglait d’abord, sans qu’on pût distinguer les détails, au milieu de cette blancheur unique.40

So verwandelt sich die Architektur in Au Bonheur des Dames in ein perfektes, ebenso effizientes wie gefühlloses Gebilde, das den Menschen im goldglänzenden oder weißunschuldigen Gewand eines Kultbaus entgegentritt.

IV Fazit In den besprochenen Romanen werden gezielt architektonische Neuerungen der Kaiserzeit aufgegriffen. Im Mittelpunkt stehen das großbürgerliche Wohnhaus im Beaux-Arts-Stil (La Curée), die funktionale Eisenarchitektur der Hallen (Le Ventre)

37 Jean-Baptiste Boudard, Iconologie: Vienna, 1766 (The Renaissance and the Gods), New York 1976, Nr. 97 u. 118. 38 Vgl. Elizabeth Emery, Romancing the Cathedral. Gothic Architecture in Fin-de-siècle French Culture, Albany 2001, S. 86f. 39 Zola, Au Bonheur, S. 107, S. 280f., S. 456. 40 Ebd., S. 456.

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und das mondäne Kaufhaus (Au Bonheur). Es rücken damit jene Bauten oder Bautypen ins Zentrum, die die Epoche architekturgeschichtlich geprägt haben. Zugleich wird aber deutlich, dass es Zola nicht darum ging, Baugeschichte zu schreiben. Weder zielen seine Beschreibung und Analysen darauf ab, die Werke sachlich oder möglichst vollständig zu erfassen, noch ist er um historische Präzision bemüht – ein Vorwurf, der ihm auch hinsichtlich anderer historischer Angaben gemacht wurde. Der Romancier erlaubt sich demgegenüber einen flexiblen Zugriff auf die Architektur, die mal symbolhaft zu verstehen ist (La Curée), ein anderes Mal lediglich als Staffage dient (Le Ventre), die aber auch im Vordergrund stehen und einen Roman prägen kann (Au Bonheur). Diese, den Belangen der Erzählung untergeordnete Betrachtungsweise der Architektur, unterscheidet sich beispielsweise deutlich von den architekturtheoretischen Passagen in Victor Hugos Notre-Dame de Paris. Dort unterbrechen die Gedanken zur gotischen Architektur die Handlung nicht nur, sie können sogar unabhängig vom Roman als selbständige Teile bestehen. Dies ist bei Zola nicht der Fall. So geschieht es, dass selbst Meilensteine der modernen Architektur, wie zum Beispiel der Glas-Eisenbau, nur sehr einseitig beleuchtet werden. Zwar beschreibt Zola deren neuartige Wirkung treffend (Licht-Paläste), ihm ist aber nicht daran gelegen, ihre architekturgeschichtliche Bedeutung – nach Jahrhunderten, die vom Steinbau dominiert waren – zu ergründen. Ähnliches gilt für den urbanistischen Wandel unter Haussmann, der sich nicht auf sozio-ökonomische Aspekte reduzieren lässt und nicht nur der Bereicherung einiger Skrupelloser diente, sondern auch pragmatische – zum Beispiel hygienische und verkehrstechnische – Gründe hatte. Im Übrigen konnte Zola darauf vertrauen, dass die Wirkung seiner Architekturbeschreibungen über den Text hinausging, denn der Boulevard Haussmann, die Hallen, Bon Marché und Printemps sind Bauten und Ensembles, die jedem Pariser (und vielen Fremden) aus eigener Anschauung vertraut sind.

Harald Tausch, Gießen

Architektur als Antwort Raabe und Fontane

I In seiner Einführung in die Analyse von Architektur hat Wolfgang Kemp vorgeschlagen, die Orientierung an der historischen Traktatistik aufzugeben und stattdessen zur phänomenologischen Analyse der Architektur zurückzukehren – selbst gehen und sehen, ist sein Motto.1 So wichtig dieser Hinweis auf die Notwendigkeit von Einzelanalysen auch ist, tendiert er doch dazu, den Begriff der Architektur auf das ausgeführte, zudem kunsthistorisch bedeutende Bauwerk zu reduzieren. Ad acta gelegt würden so die nach wie vor gültigen Einsichten von Carl Linfert und Josef Ponten, dass Architektur immer auch ein Entwurf und ein Baukunstwerk immer auch eine Ruine des im Entwurf Gewollten ist.2 Die Architekturzeichnung hingegen, die eben nicht nur Werkzeichnung und Bauaufnahme, sondern auch Architekturphantasie sein kann, steht in einem Zwischenraum zwischen Bauwerk und Text, indem sie einerseits auf die Lebenswelt hin orientiert, andererseits von deren Zwängen entlastet ist.3 Dieser Hybridcharakter ist vermutlich ein Grund, warum Architekturzeichnungen erfundenen Architekturen in Texten oft sogar näher stehen als dem spektakulär ausgeführten Bauwerk. Erfundene Architekturen gehen sehr selten in Ekphrasen bedeutender Baukunstwerke auf. Was die Literatur gerade auch des Realismus interessiert, sind hingegen die kleinen, unscheinbaren Bauwerke, mit denen der Mensch sich seine Wirklichkeit selbst definiert. Und es interessiert erzählende Literatur aus diesem Interesse am gelebten Raum oft auch der Begleitdiskurs hierzu – von der ausgearbeiteten Architekturtheorie bis hinunter zum öffentlich kursierenden Witz-

1 Vgl. Wolfgang Kemp, Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009, S. 15. 2 Vgl. Carl Linfert, „Die Grundlagen der Architekturzeichnung“, in: Kunstwissenschaftliche Forschungen, 1/1931, S. 133–246; Josef Ponten, Architektur die nicht gebaut wurde, 2 Bde., Stuttgart/ Berlin/Leipzig 1925 (Nd: Stuttgart 1987). 3 Vgl. Dagobert Frey, „Architekturzeichnung“, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1937, Sp. 992–1013, hier Sp. 999.

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wort über Bauten und Bauvorhaben.4 In diesem Sinn ist die Beschäftigung mit kontextualisierender Theoriegeschichte notwendig, um Einzelwerke – vielleicht nicht nur der erzählenden Literatur – in ihrem Antwortcharakter zu verstehen: in ihrem Antwortcharakter auf lebensweltliche Herausforderungen ebenso wie auf die Antworten, die andere Texte zuvor auf diese Herausforderungen gegeben haben. In methodischer Hinsicht favorisiert mein Beitrag daher im Allgemeinen eine Verbindung aus Intertextualitäts- und Intermedialitätsforschung, die fallengelassene Impulse der Rezeptionsästhetik mit problemgeschichtlichen Fragestellungen verknüpfen will. Der gewählte Aufsatztitel „Architektur als Antwort“ zielt im Besonderen darauf, dass Wilhelm Raabe in dem von ihm selbst besonders hoch eingeschätzten Roman Stopfkuchen (1891) den Paragone mit dem zuvor erschienenen Roman Unterm Birnbaum (1885) von Theodor Fontane suchte. Da diese intertextuelle Beziehung bislang nicht erkannt wurde, werden die wichtigsten Zitate, die Raabes Verfahren belegen, kurz herauszuheben sein. Es wird sich sodann zeigen, dass die Frage, warum Raabe sich derartig intensiv auf Fontane einließ, weder mit den Methoden der literarischen Raum- oder auch Hausforschung im weiteren Sinn5, noch mit den Methoden der Intermedialitätsforschung im engeren Sinn zu beantworten ist. Eine Analyse der von beiden Autoren jeweils als zentral ausgewiesenen Textarchitekturen hingegen wird neue Aufschlüsse bieten. Als Kontext hierfür muss nach dem Wissen der beiden Autoren voneinander sowie nach ihrem Wissen und Verständnis von Architektur gefragt werden, doch ist dieses Wissen zugleich in seiner Begrenztheit zu bedenken. Architektur ist nämlich – von Raabe her gesehen – eine Antwort im doppelten Sinn: eine Antwort auf Fontane zunächst, der Versuch einer Antwort auf die von Fontane aufgeworfenen Fragen sodann.

II Da der idealtypische Vergleich zwischen Raabe und Fontane nicht erst seit HansHeinrich Reuters Biographie Fontane (1968) und Hubert Ohls einflussreicher Untersuchung Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes (1968) eines der beliebtesten Verfahren der literaturhistorischen Realismus-For-

4 Vgl. Detlev Schöttker, „Architektur als Literatur. Zu Geschichte und Theorie eines ästhetischen Dispositivs“, in: Urs Meyer/Roberto Simanowski/Christoph Zeller (Hrsg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006, S. 131–151. 5 Vgl. z.B. Nacim Ghanbari/Saskia Haag/Marcus Twellmann, „Einleitung. Das Haus nach seinem Ende“, in: DVjs, 85/2011, 2, S. 155–160.

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schung ist, verwundert es, dass die entscheidende intertextuelle Bezugnahme Raabes auf einen Roman Fontanes bisher nicht gesehen wurde.6 Der dicke Heinrich Schaumann in Wilhelm Raabes Roman Stopfkuchen, neuer Herr auf der sogenannten Roten Schanze, einem angeblich aus dem Siebenjährigen Krieg stammenden, tatsächlich aber älteren und auf einer Anhöhe vor der Stadt gelegenen Kriegsschanzwerk, das seit geraumer Zeit als Bauernhof genutzt wird,7 fragt seinen in Afrika zu Geld gekommenen und erstmals wieder in der Heimat weilenden Jugendfreund Eduard im Verlauf seiner geradezu quälend langsam fortschreitenden Ausführungen, die anfangs Jugenderinnerungen geben, sodann aber zur Aufklärung eines lange zurückliegenden Mords übergehen: „Nun, wo waren wir denn stehengeblieben, Herr Eduard?“ (S. 89).8 Und der atemlos lauschende Zuhörer Eduard antwortet: „Unter dem Birnbaum. Wahrscheinlich unter jenem dort.“ Und er fügt an diese in direkter Rede wiedergegebene Antwort an: „Wir sahen alle drei nach der Richtung hin, und Frau Valentine nickte nachdrücklich“ (S. 89). Das ‚Hinsehen‘ gleich dreier Figuren ist an dieser Stelle handlungsimmanent betrachtet derartig unmotiviert, dass der Leser geradezu darauf aufmerksam gemacht wird, inwiefern ein genaueres Hinsehen sich auch in einem zweiten Sinn lohnen könnte. Raabe zitiert an dieser Stelle nämlich wörtlich einen Romantitel Fontanes und er belässt es nicht dabei. Heinrich Schaumann – wie Stopfkuchen bürgerlich heißt – fordert den Ich-Erzähler Eduard nachdrücklich auf, sich die gerüchteumwitterte Mordbude des verstorbenen Bauern Quakatz – also die besagte rote Schanze – genau anzusehen und deren Verschönerung zu würdigen: „‚Was? Hast du’s? Schön himmelblau die Mauern, schön zinnoberrot das Dach, Fenster und Tür kohlpechrabenschwarz, nur der Schornstein schön weiß‘“ (S. 75). Himmelblaue Mauern, weißer Schornstein, ‚zinnoberrotes‘ Dach? Raabe spielt hier wohl

6 Hanns Martin Elster, der bald nach Raabes Tod damit in einer bis heute wirkungsmächtigen Weise begann, bezog sich darauf, dass „in der Kunstwissenschaft […] die vergleichende Methode häufig zur Anwendung“ komme, er berief sich also auf Heinrich Wölfflins Grundbegriffe; Hanns Martin Elster, „Raabe und Fontane. Ein Vergleich“, in: Wilhelm-Raabe-Kalender, 1913, S. 182–198, hier S. 182. 7 Herbert Blume ist der wichtige Hinweis zu verdanken, dass die rote Schanze in Raabes Roman eben nicht aus dem Siebenjährigen Krieg stammt, wie die Figur Stopfkuchen unablässig versichert, sondern weitaus älter ist, wie eine beiläufige Bemerkung des alten Quakatz nahelegt. Vgl. Herbert Blume, „Literarisch transformierte Realität. Wolfenbüttel in Wilhelm Raabes Roman ‚Stopfkuchen‘“, in: Søren R. Fauth/Rolf Parr/Eberhard Rohse (Hrsg.), „Die besten Bissen vom Kuchen“. Wilhelm Raabes Erzählwerk: Kontexte, Subtexte, Anschlüsse, Göttingen 2009, S. 241–282, hier S. 244f. 8 Seitenangaben im Text beziehen sich auf: Wilhelm Raabe, „Stopfkuchen“, in: Ders., Sämtliche Werke, Karl Hoppe (Hrsg.), Bd. 18, Göttingen ²1969, S. 5–207.

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eher auf die auffälligsten Farbangaben aus Fontanes Roman Unterm Birnbaum an, statt einen Bauernhof des 19. Jahrhunderts ‚realistisch‘ vor Augen zu stellen. Denn in Unterm Birnbaum zieht Ursel, die Gattin und Komplizin des Gastwirts und Mörders Abel Hradscheck, im Verlauf der Erzählung in ein unterm Dach neu eingerichtetes Zimmer, dessen Wände „hellblau tapezirt“9 sind und das mit einem der neuen „Oefen mit weißen Kacheln“10 ausgestattet ist: himmelblaue Wände, weiße Rauchfänger und übrigens ein neugedecktes – also doch wohl rotes – Dach also auch hier. Ursels soziales Distinktionsbedürfnis wird zudem gleich eingangs vom Erzähler dadurch markiert, dass dieser die „hellblauen Atlas-Sophas“11 besonders hervorhebt, die bezeichnenderweise aus der Konkursmasse eines nahegelegenen Schlosses übernommen werden. Fast penetrant verknüpft die Farbsymbolik das anfängliche Vornehmtun Ursels mit ihrem späteren Versuch, ihre Mitschuld am Mord unter himmelblauen Tapeten verschwinden zu lassen. Wem diese Zitate noch nicht reichen, um den einen Text als Intertext des anderen auszuweisen, dem sei noch genannt, dass Fontanes Bauer Quaas mit seiner „Kätzchen“12 genannten Frau sich bei Raabe als Mordbauer Quakatz wiederfindet, dass Fontanes aus dem „benachbarten Kienitz“13 herüberkommender „Landpostbote“14 einen Kollegen in Raabes Landpostboten Störzer findet, der gemeinsam mit dem jungen Eduard immer wieder die Frage erörterte, „wer Kienbaums Mörder gewesen ist“ (S. 93). Sogar das „Oberwasser“15, das ein Bauer den Bauern Quaas bei Fontane in einer Wirtshausszene kurz gewinnen sieht, findet sich als Lehrer „Doktor Oberwasser“ (S. 143) personifiziert in der philiströsen Gasthausgesellschaft bei Raabe wieder. Soweit also eine Fülle von Allusionen bei Raabe, die zwar eindeutig, doch auf versteckte Weise auf Fontanes Roman Unterm Birnbaum hindeuten. Kurz darauf heißt es bei Raabe zudem ebenso unmotiviert: „das Wetterglas schien auf Sturm zu weisen“ (S. 90) – eine Situation vor dem Sturm (1878) sozusagen, die Fontanes Romanerstling zitiert. Diese Allusionen zu erkennen bedarf es des genauen Hinsehens, so, wie das erste der angeführten Zitate es anzudeuten scheint. Der Leser soll hinsehen und vergleichen. Doch bevor wir das tun, ist als ein erster Kontext die Beziehung zwischen Raabe und Fontane kurz zu skizzieren.

9 Theodor Fontane, „Unterm Birnbaum“, in: Theodor Fontane, Große Brandenburger Ausgabe, Gotthard Erler (Hrsg.), Das Erzählerische Werk, Bd. 8, Christine Hehle (Hrsg.), Berlin 1997, S. 91. 10 Fontane, Unterm Birnbaum, S. 81. 11 Ebd., S. 17; vgl. auch S. 8. 12 Ebd., S. 5, S. 27 u.ö. 13 Ebd., S. 23. 14 Ebd., S. 24. 15 Ebd., S. 39.

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III Kurt Schreinert und Horst Denkler haben die distanzierte Nähe zwischen den beiden Autoren beschrieben und sich dabei auf die spärliche Überlieferung in Briefen bezogen.16 Denkler zufolge war es eher Raabe, der sich Fontane entzogen hat, und dies aus politischen Gründen. Allerdings beklagte Denkler, nicht nachweisen zu können, dass Raabe Fontanes Werke überhaupt zur Kenntnis genommen habe: Raabe besaß kein einziges Buch von Fontane und sein Tagebuch verzeichnet keine Fontane-Lektüre. Geht man davon aus, dass das bisher Ausgeführte nicht nur diesen Nachweis erbringt, sondern vor allem auch den Zeitpunkt bestimmt, dann ergibt sich folgendes Bild, das ich hier nur sehr abgekürzt darstellen kann: Es war zuerst, nämlich im März 1881, der Berliner Fontane, der sich für den Braunschweiger Raabe interessierte, ja sogar für den Sommer dieses Jahres ein Treffen im Harz vorschlug. Lässt man die Details beiseite, ist dies der Zeitpunkt, als der alte Fontane sich vom Reisebuchschreiber und Balladendichter zum Romanschriftsteller, wie er einem größeren Lesepublikum vertraut ist, überhaupt erst entwickelt. Seine anonyme Rezension von Raabes Roman Fabian und Sebastian zeigt jedoch, dass er bei aller Bewunderung vor allem andere Vorstellungen von der Rolle der Ich-Erzähler im Roman hegte. Raabe spiele sich durch das Einmischen der seinen zu sehr in den Vordergrund, auch in ethischer Hinsicht, statt die Sache selbst zu geben – so Fontane.17 Raabe, der durch Mittelsmänner – wie insbesondere dem sowohl mit Fontane aufs Genauste bekannten, als auch mit ihm selbst im September 1882 in Kontakt tretenden Kulturphilosophen und Völkerpsychologen Moritz Lazarus18 – vermutlich wusste, wer ihn da rezensiert

16 Horst Denkler, „Distanzierte Nähe. Zum Verhältnis zwischen Wilhelm Raabe und Theodor Fontane“, in: Ders., Neues über Wilhelm Raabe. Zehn Annäherungsversuche an einen verkannten Schriftsteller, Tübingen 1988, S. 105–120; Kurt Schreinert, „Theodor Fontane über Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1962, S. 182–190. Eine Zusammenstellung wichtiger Dokumente verdankt sich Karl Hoppe, Wilhelm Raabe im Urteil bedeutender Zeitgenossen. Briefe von und an Wilhelm Raabe, Braunschweig 1960, S. 21–28. 17 Adolf Hermes [d.i.: Theodor Fontane], „,Fabian und Sebastian‘. Eine Erzählung von Wilhelm Raabe. Braunschweig, G. Westermann, 1882“, in: Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes. Organ des Allgemeinen Deutschen Schriftstellerverbandes, 51. Jg., Leipzig, den 17. Juni 1882, Nr. 25, S. 339f. 18 Weder Horst Denkler noch Kurt Schreinert gehen auf diese Vermittlerrolle von Moritz Lazarus ein. Die Bedeutung des gedanklichen Austausches mit Lazarus für Raabes Humor-, Sprach- und Zitatverständnis habe ich in einem Aufsatz über Pfisters Mühle untersucht; Harald Tausch, „Wasser auf Pfisters Mühle. Zu Raabes humoristischem Erinnern der Dinge“, in: Sabine Schneider/Barbara Hunfeld (Hrsg.), Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der

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hatte, wusste jedenfalls nachweislich von Fontanes lebhaftem Interesse an seinen Romanen. Den Umstand, dass bereits Fontanes Ellernklipp (1881) in Braunschweig bei Westermann erschien, sozusagen in Raabes Hauszeitschrift, wird Raabe 1881 wohl mißtrauisch beäugt haben, auch wenn sich dies nicht belegen lässt. Unterm Birnbaum, nach Ellernklipp und Schach von Wuthenow (1883) Fontanes neue Produktion des Jahres 1885, wird sich daher seiner aufmerksamen Lektüre besonders angeboten haben. Wichtig ist diese Chronologie nicht zuletzt, weil Raabe seinerseits längst nicht mehr nur der Autor der frühen Erfolgsbücher Chronik der Sperlingsgasse (1856, datiert: 1857) und des Hungerpastors (1863/64) war: Der dem Jahrgang nach Ältere, Fontane, wurde auf den Jüngeren mithin zu einem Zeitpunkt aufmerksam, als dieser längst alle Rücksichten auf die Marktgängigkeit seiner Bücher über Bord geworfen hatte. Umgekehrt gelang es Fontane erst mit den in diesem Zeitraum entstehenden Werken, insbesondere mit Schach von Wuthenow, die metaphysische Prädestinationsgläubigkeit seiner frühen Werke zu überwinden.19

IV Warum versuchte Raabe mit Stopfkuchen, Fontane gleichsam umzuschreiben? Nahe liegt die Vermutung, dass Raabe das literarische Können des gewissermaßen auf sein Terrain vordrängenden Fontane sah, dass er indessen Bedenken gegen etwas hatte, was er wohl als eine Tendenz des Fontaneschen Erzählens empfunden haben wird, die dieses Erzählen den Standards der marktgängigen

Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, Würzburg 2008, S. 175–211. Soweit ich sehe, hat zuvor allein Margarete Bönneken auf die Bedeutung von Lazarus für Raabe hingewiesen: Margarete Bönneken, Wilhelm Raabes Roman ‚Die Akten des Vogelsangs‘, Marburg 1918, S. 23 und S. 33. Vgl. jetzt auch Susanne Illmer, „‚Wilde Schwächlinge‘ auf dem Weg ‚zu den Müttern‘.“ Die Ordnung des Matriarchats und die Politik der Provinz in Wilhelm Raabes Roman ‚Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge‘“, in: Dirk Göttsche/Ulf-Michael Schneider (Hrsg.), Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes. Anlässlich des 100. Todestages, Würzburg 2010, S. 137–156. Seitens der Fontane-Forschung hat insbesondere Hans-Heinrich Reuter die Rolle von Lazarus mehrfach thematisiert; Hans-Heinrich Reuter, Fontane, 2 Bde., Darmstadt 1970, S. 139, S. 152, S. 279, S. 448, S. 553, S. 754, S. 761, S. 937f. Aus den Tagebüchern geht darüber hinaus hervor, dass Fontane gerade in dem Jahr, als die Lektüre der Bücher Raabes von eminenter Bedeutung für sein Selbstverständnis als Schriftsteller wurde, zugleich in intensivem Kontakt mit Moritz Lazarus stand; man vergleiche nur die Tagebucheinträge vom 12., 17. und 19. März 1881: Theodor Fontane, Große Brandenburger Ausgabe, Gotthard Erler (Hrsg.), Tage- und Reisetagebücher, Bd. 2, Tagebücher 1866–1882, 1884–1898, Gotthard Erler/Therese Erler (Hrsg.), Berlin 1994, S. 100f. 19 Vgl. Dietrich Sommer, Studien zu Romanen von Theodor Fontane, Leipzig 2011, S. 61f. und S. 71.

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Zeitschrift Gartenlaube anpasste.20 Dieser Befund lässt sich aus den handgreiflicheren Allusionen auf Fontane zwar nicht mehr ablesen, doch geht er aus der genauen Lektüre der Texte hervor, in welchen es die jeweiligen Textarchitekturen sind, die die Differenzen am klarsten zutage treten lassen. Fragt man sich, was den Stoff von Fontanes kurzem Roman Unterm Birnbaum eigentlich vom Stoff einer jener Balladen unterscheidet, für die Fontane bis dahin vor allem bekannt war, wird man schnell erkennen, dass es die Erfindung einer Architektur ist, die hier die denkbar größte Rolle spielt: das Haus und der Hausgarten des Dorfwirts Abel Hradscheck.21 An sich ließe sich die Geschichte des perfekt geplanten Verbrechens,22 das dann doch an den Tag kommt, gut als Ballade komponieren, samt dem fast moritatenhaften Schluß, den Fontane – oder zumindest der Erzähler von Fontanes Roman – dem Dorfgeistlichen Eccelius in den Mund legt: „‚Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen.‘“:23 Ein hochverschuldeter Dorfwirt ermordet zusammen mit seiner Frau einen durchreisenden polnischen Gast, der bei ihm Schulden eintreiben will, und entzieht sich dem alsbald aufkommenden, auf Gerüchten basierenden Mordverdacht, indem er einer polizeilichen Ortsbegehung nicht etwa ausweicht, sondern dieser eine falsche Spur legt, die in der Tat zur Ausgrabung eines Toten führt: nur eben nicht des von Abel Ermordeten, sondern vielmehr eines seit Kriegstagen ‚unterm Birnbaum‘ im Garten verscharrten französischen Soldaten, von dem außer Abel keiner weiß. Durch die polizeiliche Untersuchung in seiner Ehre wiederhergestellt, kann Abel indessen nicht verhindern, dass zunächst seine Frau Ursel, eine konvertierte Katholikin, von ihrem schlechten Gewissen heimgesucht wird und sich auf auffällige Weise aus dem Dorfleben zurückzieht – bis sie unter nicht geklärten Umständen stirbt –, und dass schließlich er selbst in seiner Unruhe beim Versuch, die Leiche des ermordeten Polen im Keller des Wirtshauses

20 Vgl. den Zeitschriftenvorabdruck vor der ersten Buchausgabe (Berlin, G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, 1885): „,Unterm Birnbaum‘. Von Th. Fontane“, in: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, Leipzig, Jg. 1885, Nr. 33–41 (August/September 1885). 21 Auf die balladeske Struktur des Texts hat Eda Sagarra hingewiesen: „Die unerhörte Gewöhnlichkeit. Theodor Fontane: ‚Unterm Birnbaum‘ (1885)“, in: Winfried Freund (Hrsg.), Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart, München 1993, S. 175–186, hier S. 182. Vgl. auch Eda Sagarra, „Unterm Birnbaum“, in: Christian Grawe/Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 554–563, hier S. 558. 22 Christian Grawe, „Unterm Birnbaum“, in: Frank Rainer Max/Christine Ruhrberg (Hrsg.), Reclams Romanlexikon, Bd. 2, Stuttgart 1999, S. 362–364, hier S. 362. 23 Fontane, Unterm Birnbaum, S. 127 [im Original kursiv]. Vgl. zur Konjunktur der Geschichtsballade Winfried Woesler (Hrsg.), Ballade und Historismus. Die Geschichtsballade des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2000.

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umzubetten bzw. noch einmal zu begraben, durch einen Unfall ums Leben kommt. Sein Tod bringt seine Schuld ans Licht. Fontanes Text gewinnt seine Spezifik nun daher, dass sowohl die nahegelegene Stadt, aus welcher die Untersuchungsbeamten in das Dorf kommen, als auch das Oderbruchdorf, in welchem das Verbrechen stattfindet und in welchem es immerhin auch die – wie Abels Gasthaus vor einer Umbaumaßnahme stehende – Kirche des Pastors Eccelius sowie weitere stattliche Häuser gibt, letztlich kaum in den Blick kommen.24 Er konzentriert sich ganz auf die enge Welt des Abel Hradscheck, gewinnt aber gerade in der Beschränkung des Raums die Freiheit, über die kleinsten Details ein Motivgeflecht zu legen, dessen Engmaschigkeit eine Suggestion von Räumlichkeit erzeugt, die alles Balladenhafte klar hinter sich läßt. Es ist die Spielhagensche Poetik des unverstellten Blicks auf den Schauplatz, die Fontane erstrebt und durch architektonische Detaillierung erzielt, nicht also etwa das personale Erzählen, das schon Otto Ludwig in seinem dem Setting nach durchaus zum Vergleich heranzuziehenden Roman Zwischen Himmel und Erde (1856) erprobte,25 oder gar das Raabesche Erzählen, das zeitgleich mit Fontane eine neue Wendung in Richtung Moderne nahm, wie noch gezeigt wird.26 Fontanes Erzähler führt den Blick des Lesers mit den ersten Sätzen des Texts von der Eingangstür des Wirtshauses und Materialwarengeschäfts in den Hausflur, von dort in Vorflur und Wohnzimmer sowie zum Verkaufsladen – eine Technik der Blickführung, die lebhaft an Gustav Freytags Darstellung des Kaufmannskontors in Soll und Haben (1855) und somit wiederum an Spielhagen

24 Die Rolle von Eccelius als Repräsentant der evangelischen Kirche hat Wulf Wülfing analysiert. Wülfing ist zu dem für das Oderbruchdorf und seine Obrigkeiten aufschlussreichen Schluss gelangt: „Sie stecken alle unter einer Decke, damit alles unter der Decke bleibt, vor allem das eigene Fehlverhalten.“ Wulf Wülfing, „,Inhumane Obrigkeitsreligion‘. Zur Rolle von Kirche und Staat in Fontanes ‚Unterm Birnbaum‘“, in: Hanna Delf von Wolzogen/Hubertus Fischer (Hrsg.), Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Fontanes, Würzburg 2006, S. 121–134, hier S. 129. Auch das von Wülfing nur en passant erwähnte „Bauvorhaben“ (ebd., S. 126) von Eccelius lässt sich als ein Argument verbuchen, den evangelischen Pastor und den Dorfwirt Abel als Brüder im Geiste anzusehen, jedenfalls auf einer für Fontanes Erzählstrategien typischen, ‚symbolischen‘ Ebene. Von dem nur trocken gegebenen geistlichen Rat an Ursel geht der Pastor nämlich schnell zu „ihm wichtiger dünkenden Dingen“ über und fragt Ursel unmittelbar darauf: „‚wie weit der Bau sei?‘“ – derjenige Abels nämlich; Fontane, Unterm Birnbaum, S. 89. 25 W. J. Lillyman, „The Interior Monologue in James Joyce and Otto Ludwig“, in: Comparative Literature, 23/1971, S. 45–54. 26 Eine ähnliche Konstellation an einem anderen Motiv – Amerika – untersucht Jeffrey L. Sammons, „Representing America Sight Unseen: Comparative Observations on Spielhagen, Raabe, and Fontane“, in: Dirk Göttsche/Florian Krobb (Hrsg.), Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspectives, Göttingen 2009, S. 87–99.

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erinnert.27 Auch die Eheprobleme Abels mit seiner „zum Vornehmthun geneigte[n] Frau“28 werden dadurch verdeutlicht, dass eine innere Umgestaltung des Hauses nachgezeichnet wird, deren Ziel es war, „eine gewisse Herrschaftlichkeit“29 auszustellen, wiewohl es doch am Geld fehlte und fehlt. Jetzt, in der Erzählgegenwart, führt der Streit der Eheleute, der Abels Spielsucht zum Gegenstand hat, dazu, dass dieser und mit ihm der Erzähler in den Garten ausweicht: ein Garten, der insbesondere durch einen alten Birnbaum ausgezeichnet ist und dadurch, dass er an das Grundstück der alten Mutter Jeschke grenzt, die jeden Schritt Abels scharf beobachtet. Diese enge Architektur, wenn man das Wort Architektur überhaupt auf das alte, von Abel zudem nur übernommene Gasthaus mit seinem Bauerngarten anwenden darf, ist nun im Verlauf der Erzählung Ort des Verbrechens, sie ist aber auch und vor allem der Ort, an dem „Geklätsch“30 verschiedenster Art laut wird, da die Dorfbewohner ebenso gerne bei dem Bonvivant Abel zu Gast sind, wie sie ihn, den Fremdling mit dem tschechischen Namen, schnell als vermeintlichen Täter zu verleumden und ebenso schnell als vermeintlich vom Verdacht Entlasteten wiederum zu entschuldigen bereit sind. Welt ist also letztlich nur als Gerede, Gerücht und Geklätsch präsent, das der Realist Fontane in einer Mimesis der Rede zwar tatsächlich abbildet, aber in der Beschränkung auf den engen Raum einer Dorfschänke auch ironisch in seiner Begrenztheit vorführt, und zwar, indem die Autosuggestionen der Dorfbewohner als Motor der Gerüchteküche kenntlich werden. Von einer ‚Architektur‘ darf man mit Blick auf das Gasthaus im Verlauf des Textes jedoch mit zunehmendem Recht insofern sprechen, als das Hin und Her der Gerüchte, das Auf und Ab der Verdachtsmomente den Wirt zum Innenarchitekten werden lassen. Als Beweis für eine angebliche Erbschaft baut Abel nach dem Mord das Haus vor den Augen der neidischen Gäste um; er läßt das Dach des Hauses abtragen und ein Stockwerk aufsetzen. Tut er dies wirklich nur mit Rücksicht auf Ursel, die nur noch an diesem Um-Bau Interesse zeigt und sich freut, endlich an Stelle des von dem Polen in der Mordnacht bewohnten Gastzimmers eines, das „hellblau tapezirt“31 ist, vorzufinden und selbst beziehen zu können? Oder tut er dies doch auch, um die eigene Erinnerung an den Ort des Verbrechens verdrängen zu können?32 Eine

27 Vgl. auch den in methodischer Hinsicht von Gaston Bachelards La Poétique de l’Espace (1957) angeregten Abschnitt „Aufbau des Raumes vom Detail her: Haus und Zimmer“ in: Bruno Hillebrand, Mensch und Raum im Roman. Studien zu Keller, Stifter, Fontane, München 1971, S. 252–256. 28 Fontane, Unterm Birnbaum, S. 6. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 15. 31 Ebd., S. 91. 32 Ebd., S. 80f.

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etwaige Begründung bleibt unausgesprochen – Fontanes Leser bleibt auf das Beobachten der Umbaumaßnahmen verwiesen. Kein Wunder also, dass Fontane vor der Ausarbeitung seines Texts eine detaillierte Grundrisszeichnung anfertigte (vgl. Abb. 1), die es ihm vor allem ermöglichte, die Kontakte zwischen den Zimmern, den in Raumwechseln sich materialisierenden Handlungsspielraum seiner Figuren, das Mit- und Ineinander von Privatem und Gesellschaftlichem im halböffentlichen Haus des Gastwirts – Stichwort Gerüchteküche, Stichwort Verdacht – genauestens zu planen.33

Abb. 1: Theodor Fontane: Schauplatzskizze zu „Unterm Birnbaum“ mit Haus und Garten des Abel Hradschek sowie dem Nachbarhaus. Abbildung nach: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Salzburg 2006, S. 348.

Die Tatsache, dass der in Neuruppin geborene Berliner Theodor Fontane ein intimer Kenner der Bauten des ebenda geborenen Karl Friedrich Schinkel war, spielt für diese Art des Umgangs mit Architektur im Text jedoch – noch, könnte man mit Blick auf das späte Meisterwerk Unwiederbringlich sagen – keine Rolle. Mit mehr Recht könnte man in methodischer Hinsicht an Robin Evans Ansatz

33 Vgl. zu dieser Zeichnung die Ausführungen Hilde Strobls, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, München/Salzburg 2006, S. 345–348, hier S. 348.

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denken, „Figures, Doors, Passages“34 aus Grundrissen wenig reputierlicher Bauten abzulesen. Letztlich aber zählt – und zählte wohl auch für Raabe als Leser Fontanes –, dass der architektonisch detaillierte Schauplatz im Verlauf der Erzählung immer stärker als Detektiv agiert – die als Detektive bestellten Beamten versagen demgegenüber auf ganzer Linie:35 Es ist das Haus, das von sich aus das Verbrechen aufklärt: Nur im Dachgeschoß ist Abel mit seinen innenarchitektonischen Umbauten erfolgreich darin, den Tatort, wo das Verbrechen stattfand, auszulöschen – der Keller hingegen widersetzt sich nicht nur allen bewußt gestalterischen Intentionen, sondern er bringt auch die Leiche des Mannes an den Tag, den Abel erschlug und hier vergrub. Trotz dieser Rede von Keller und Dach spielt Psychologie eine untergeordnete Rolle; letztlich greift das Schicksal ein, und es tut dies, indem es sich des Hauses als eines vergleichsweise unauffälligen Agenten bedient.36 Von Raabe her gelesen könnte man sagen: Das anfängliche Gerücht, Abel habe einen Mann erschlagen, hatte also doch recht; den „Fremdlingen“37 innerhalb der Dorfgemeinschaft war eben doch nicht zu trauen; ihre innenarchitektonischen Anstrengungen waren nur Anzeichen ihrer ethischen Außengeleitetheit, und die Architektur des Hauses brachte dies an den Tag, nein: mußte es an den Tag bringen, weil ein deterministisch gedachtes Schicksal dafür sorgt, dass die Wahrheit sich durchsetzt und der Schuldige – der sein Schicksal immer wieder herausfordernde und dadurch zum Schicksal überhaupt erst erhebende ‚Spieler‘38 Abel – sich selbst richtet. Wie Konstantin Imm und Joachim Linder betont

34 Robin Evans, „Figures, Doors, and Passages [1978]“, in: Ders., Translations from Drawing to Building, Cambridge, Mass. 1997, S. 55–91. 35 Der Frage, „was wußte die Wissenschaft dieser Zeit vom Verbrechen“, widmet sich Klaus Lüderssen, „Literatur und Kriminologie. Bemerkungen zu Theodor Fontanes Erzählung ‚Unterm Birnbaum‘“, in: Neue Rundschau, 97/1986, S. 112–136, hier S. 119. Im Sinne einer „Allegorie des Lesens“ sieht dagegen Steffen Martus die kriminalistische Beobachtungsanordnung des Textes stehen: Steffen Martus, „Der Autor als Verbrecher“, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002, S. 406–425, hier S. 423. 36 Immer wieder wurde Fontane vom Vorwurf, in Unterm Birnbaum dem ‚Schicksalsmodell‘ verhaftet zu bleiben, entlastet, so etwa von Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart ²1980, S. 225. Vgl. aber zum inneren Zusammenhang des Frühwerks weiterhin: Heinz Schlaffer, Das Schicksalsmodell in Fontanes Romanwerk, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 16/1966, S. 392–409; sowie zu Unterm Birnbaum im Besonderen Irene Ruttmann, „Nachwort“, in: Theodor Fontane, Unterm Birnbaum, Kurt Schreinert/Irene Ruttmann (Hrsg.), Stuttgart 2002 u.ö., S. 129–136, hier S. 133. 37 Fontane, Unterm Birnbaum, S. 75 [im Original kursiv]. 38 Abels tschechischer Nachname Hradscheck bedeutet ‚kleiner Spieler‘. Auffällig ist, wie viele Spiele Fontane namentlich erwähnt, so neben dem Kegeln, dem Kartenspiel, der Lotterie auch das „Knöcheln und Tempeln“ (Fontane, Unterm Birnbaum, S. 9). Wiewohl die Fontane-Forschung

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haben, hat Fontane mit dieser ‚Kriminalerzählung‘ den Höhe- und Endpunkt einer ungemein populären Gattung erreicht, in welcher die Frage zentral ist: „war der Verdächtige der Täter?“39

V Der Roman Stopfkuchen aus der Feder Wilhelm Raabes lässt sich fast Punkt für Punkt als ein Gegenentwurf hierzu lesen. Das Gerücht, der Bauer Quakatz habe Kienbaum erschlagen, wird von Stopfkuchens analytisch-langsamer ‚Aufklärung‘ des Falls widerlegt; nicht der vom gesamten Dorf zum Außenseiter Gestempelte, der Bauer der Roten Schanze, sondern der als Landpostbote tätige Störzer, der niemand anderem als dem jungen Ich-Erzähler mit seinen geographisch weit ausgreifenden Fluchtphantasien den Wunsch zur Ausreise in die Kolonien einimpfte, sei der wahre Mörder gewesen. Quakatz und seine Tochter, die einstigen Außenseiter, werden damit als vermeintliche Täter entlastet. Da sowohl der alte Quakatz als auch Störzer bereits verstorben sind, agiert Stopfkuchen mit seiner Aufklärung des Falls eher als Historiker aus der Schule des alten Schwartner, für den vermutlich Raabes Freund Ludwig Hänselmann mit seinen Werkstücken (1887) das Vorbild abgab, denn als Detektiv.40 Doch die herangezogenen Quellen

immer wieder die „Psychologie eines Spielers“ (Rudolf Schäfer, Unterm Birnbaum, München 1991, S. 52) mit Blick auf Abel thematisiert hat und zu kontextualisieren suchte, ist ihr m.W. bisher entgangen, dass Fontanes Berliner Bekannter Lazarus eine Spieltheorie ausarbeitete und publizierte, die – neben künstlerisch-ästhetischen Fragen – gerade auch auf die Glücksspiele, den Hazard und die Kartenspiele einging. Vgl. M[oritz] Lazarus, Über die Reize des Spiels, Berlin 1883, insbes. S. 74: „Dies nun ist es, was die Phantasie, vom Selbstgefühl des Menschen getrieben, in der Seele des Spielers vollzieht, daß sie die Macht, die ihm gegenübersteht, vom Zufall zum Schicksal erhebt, vom Niedrigsten zum Höchsten“. 39 Konstantin Imm/Joachim Linder, „Verdächtige und Täter. Zuschreibung von Kriminalität in Texten der ‚schönen Literatur‘ am Beispiel des Feuilletons der ‚Berliner Gerichts-Zeitung‘, der Romanreihe ‚Eisenbahn-Unterhaltungen‘ und Wilhelm Raabes ‚Horacker‘ und ‚Stopfkuchen‘“, in: Günter Häntzschel/John Ormrod/Karl N. Renner (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende, Tübingen 1985, S. 21–96, hier S. 30. 40 Ludwig Hänselmann, „Braunschweig im täglichen Kriege des Mittelalters“, in: ders., Werkstücke. Gesammelte Studien und Vorträge zur Braunschweigischen Geschichte, 2 Bde., Wolfenbüttel 1887. Hänselmann nimmt in seiner Charakteristik der Figur des Reichsritters Züge der Figur Stopfkuchens vorweg. Er versucht nämlich, den aus seiner Sicht unaufhaltsamen Prozess der Marginalisierung des alten bodensässigen Adels durch die Kapitalbildung des Bürgertums aus der Sicht der Unterlegenen zu beschreiben und fühlt sich auf diese Weise in jene Söhne ein, die „aufgrund der Schmalheit des Erbes keine Versorgung finden“ (S. 69). Der Ritter agiert aus Hänselmanns Sicht daher nicht militärisch-aktiv, wenn er sich in einer Art dauerndem schlafen-

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belegen Schaumanns Fallrekonstruktion nicht zweifelsfrei. Mit Blick auf Fontane könnte man sagen: die Außenseiter haben die Tat eben nicht zu verantworten, alle Gerüchte haben diesen – wie schon der Figur Horacker in der gleichnamigen Erzählung – lediglich das Leben schwer gemacht. Die Aufklärung des Verbrechens ihrerseits kann jedoch vom empirischen Leser in Frage gestellt werden: Schaumanns kriminalpsychologische Aufklärung, für die Raabe sich womöglich auf Johann Christian Gottlieb Schaumann Ideen zu einer Kriminalpsychologie (Halle 1792) stützte, trifft am Ende womöglich wiederum nur einen Unschuldigen, wiederum nur einen Außenseiter und stigmatisiert diesen bzw. dessen nun wirklich unschuldige Familie, indem das Problem Gerüchteküche nur verlagert, nicht gelöst wird.41 Das spezifisch Moderne des späten Raabeschen Erzählens besteht nun in einer Umkehr von Peripherie und Zentrum, die zunehmend diese Differenz als solche einzieht. Statt Spielhagens Ideal einer sich selbst vermittelnden Erzählung auch nur anzustreben, führt Raabe konsequent Ich-Erzähler ein, die sich im Verlauf des von ihnen Erzählten oder Erinnerten zunehmend als peripher, ja sogar als inkompetent, wenn nicht gar als unzuverlässig erweisen. Diese Relativierung

den Krieg mit der Stadt befindet, sondern ist in der Situation, dass er sich notgedrungen seiner Haut wehren muß. „Jahr aus, Jahr ein die nämlichen Plackereien, Raub, Brand, Mißhandlung, Mord und Totschlag hinüber und herüber: das ist der ‚tägliche Krieg‘“ (S. 119). Auch die „Schanze“ (S. 119) kommt in diesem Kontext metaphorisch vor. Vgl. zu Raabes Freundschaft mit dem Droysen-Schüler Hänselmann: Heinrich Mack, „Wilhelm Raabe und Ludwig Hänselmann im Briefwechsel“, in: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft, 19/1929, 1, S. 9–18; Gabriele Henkel, Raabe und Braunschweig 1870–1910. Lebenszeugnisse und Werke des Schriftstellers und Zeichners aus den Beständen der Stadt Braunschweig, Braunschweig 1998, S. 78, sowie Tausch, Wasser auf Pfisters Mühle, S. 177. 41 Johann Christian Gottlieb Schaumann, Ideen zu einer Kriminalpsychologie, Halle 1792. Vgl. zur neueren Stopfkuchen-Forschung die sehr stark von aktuellen kulturwissenschaftlichen Theoriebildungen im Anschluss an Bachtin abhängige Studie von Harald Neumeyer, „Rederaum Gasthaus. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Theodor Storms ‚Der Schimmelreiter‘ und Wilhelm Raabes ‚Stopfkuchen‘“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2011, S. 87–103. Neumeyers scharfe Kritik am Begriff des ‚Gerüchts‘, wie ihn zuvor Brigitte Dörrlamm versteht (Gasthäuser und Gerüchte. Zur integrativen Polyphonie im Werk Wilhelm Raabes, Frankfurt a.M. 2003), ist angesichts der fast identischen Fragestellung indessen nicht nur ungerecht, sondern auch mit Blick auf die Sache unplausibel; vgl. Neumeyer, Rederaum Gasthaus, S. 99. Denn wie bereits Imm und Linder in ihrer an Foucault geschulten Studie nachgewiesen haben, ist es die Pointe schon von Raabes Roman Horacker, den „Zuschreibungsvorgang als folgenreiches Handeln des Zuschreibenden zum Thema der Literatur“ zu machen und damit auf vorgängige Praktiken der Kriminalwissenschaft einerseits und der populären Kriminalliteratur andererseits zu antworten (Imm/ Linder, Verdächtige und Täter, S. 91). Stopfkuchen setzt diesen Impetus noch fort, indem Raabe hier das Stammtischgespräch im Wirtshaus strukturell dem „‚Wirklichkeitsmodell‘“ entsprechen lässt, „das von den verbreiteten Kriminalromanen entworfen wird“ (ebd., S. 91).

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der Selbstdarstellung seiner Ich-Erzähler betrifft jedoch immer auch die im Zentrum ihrer Erinnerungen stehenden Helden. Statt dass diese im Umkehrverfahren nun aufgewertet würden oder sich wie in Grillparzers Der arme Spielmann (1848) immer mehr in den Vordergrund spielen würden, läßt das Sich-Selbst-Problematisch-Werden der Ich-Erzähler in Raabes späten Werken je länger, je mehr erkennen, in welchem Ausmaß deren ‚Helden‘ ihren Heldenstatus reinen Zuschreibungen und Projektionen verdanken, die erkennbar immer stärker der Fundierung in der Sache entbehren. Da der Ich-Erzähler Eduard sogar dies ahnt, aber nicht wahrhaben will, wird der Kraftaufwand, sich der Erzählungen Stopfkuchens erinnernd zu vergewissern, immer größer und führt in eine Erinnerungssituation hinein, die erzähltechnisch betrachtet fast als innerer Monolog beschrieben werden könnte – gäbe es nicht doch gleichsam das Papier, auf dem Eduard seine Erinnerungen niederschreibt, und das als Medium zwischen Heute und Gestern klarer zu unterscheiden erlaubt, als es der assoziativer ‚springende‘ innere Monolog zumindest später bei Arthur Schnitzler tun wird.42

42 Hubert Ohl sieht Raabes ‚Humor‘ bekanntlich als eine der Lösungen an, die dem nachgoetheschen und nachhegelschen Erzählen im 19. Jahrhundert noch zur Verfügung gestanden hätten, bezieht diesen ‚Humor‘ jedoch fast umstandslos auf Traditionen des 18. Jahrhunderts – insbesondere auf den humoristischen Roman in Sterne’scher und Jean Paul’scher Tradition –, so dass Raabe ihm als ein im Vergleich mit Fontane altmodischer Schriftsteller gilt; Ohl, Bild und Wirklichkeit, S. 92–116. Dass Raabes späte Ich-Erzähler zum inneren Monolog tendieren (und: dass noch der innere Monolog in seiner modernsten Ausformung eine Erzählhaltung ist, die wesentlich mit dem Ich-Erzählen zu tun hat) entgeht ihm gänzlich, da seine Leitfrage die nach dem Zusammenhang von ‚Bild‘ und ‚Wirklichkeit‘, sein Untersuchungsgegenstand primär der frühe Raabe, sein Telos aber der sprachskeptische Symbolismus der Jahrhundertwende ist. Als wichtiges Korrektiv dieser Sicht hat Eckhardt Meyer-Krentler das Perspektivistische des späten Raabe mit kommunikationstheoretischen Begriffen herausgearbeitet. Wiewohl ich Meyer-Krentlers Sicht in vieler Hinsicht teile, bin ich doch nicht der Ansicht, dass Thomas Manns Doktor Faustus die einzig mögliche Anknüpfung an das darstellt, was Raabe in seinen letzten Texten versuchte. Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler, Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, München 1984. Schon der oben erbrachte Nachweis, dass der späte Raabe sich direkt und kritisch auf den – cum grano salis – frühen Fontane bezog, dürfte sowohl für Ohls als auch für Meyer-Krentlers Sicht ein Korrektiv darstellen. Wichtiger aber scheint mir, in Erwägung zu ziehen, in welchem Ausmaß ein so komplexes Modell des inneren Monologs, wie es in dem für das Thema der Textarchitekturen zentralen Werk Michel Butors vorliegt, auf Ansätzen des 19. Jahrhunderts aufruht, die Butor als Literaturwissenschaftler zudem auch historisch untersucht hat; vgl. hierzu etwa Erika Höhnisch, Das gefangene Ich. Studien zum inneren Monolog in modernen französischen Romanen, Heidelberg 1967. Dass die Anfänge des inneren Monologs just in die 1880er Jahre fallen, hat Mario Gomes durch die Wissenschaftsentwicklung dieser Jahre erklären können; auf diese Weise wird plausibel, warum neben Eduard Dujardin in Frankreich z.B. auch Fedor Dostojewski in Russland oder Knut Hamsun in Skandinavien fast zeitgleich mit Raabe erzählerische Experimente anstellten, von denen man von

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Im Zuge dieser modernen Wendung tendiert der späte Raabe nun dazu – so meine These –, die idyllischen Topoi des Frühwerks, die für ein geschichtsenthobenes Bei-Sich der Helden einstehen (z.B. die Katzenmühle aus [Abu Telfan oder:] Die Heimkehr vom Mondgebirge, 1867), durch erfundene Architekturen zu ersetzen; in Stopfkuchen wird die Gattung „Idylle“ (S. 97) daher zwar thematisiert, doch eben aus einer nicht-idyllischen Sicht heraus. Von Meister Autor, oder die Geschichten vom versunkenen Garten (1874) an, wo das Verschwinden eines alten Rokokogartens zugunsten der modernen Stadterweiterung noch vergleichsweise sentimentalisch bedauert wird, über den Steinhof in Alte Nester (1879) bis hin zum Vaterhaus in den Akten des Vogelsangs (1896) rücken zwar erfundene, doch als Bauwerke vorstellbare Architekturen in die Systemstelle ‚Idylle‘ ein, die im übrigen der Vergangenheit des Helden bzw. der erinnerten gemeinsamen Vergangenheit von Held und Ich-Erzähler zugeordnet werden. Der Grund hierfür dürfte sein, dass an ihnen die Interdependenz der je spezifischen Projektionswünsche der Ich-Erzähler mit ihren eigenen Handlungs- und Denkspielräumen sowie denen ihrer erträumten Helden aufgezeigt werden kann. Anders als der aus Raum und Zeit herausfallende, exemte Ort der Idylle hat Architektur immer auch an der Wirklichkeit teil, von der aus die Ich-Erzähler in ihren inneren Dialogen relativiert werden, und sie speichert doch das ganze utopische Potential ihrer Tagträume und Rückerinnerungen an Wunschintentionen, denen eine Realisierung versagt blieb. Architektur wird hierdurch zwischen ‚Realität‘ und ‚Imagination‘ hybridisiert. Die „rote Schanze“ in Stopfkuchen belegt diese Zwischenstellung musterhaft. Wie Herbert Blume zeigen konnte, bezog Raabe sich in seinem Roman auf ein im Südwesten Wolfenbüttels gelegenes, reales Bauwerk namens Weiße Schanze. Blume zufolge ‚transformiert‘ Raabe dieses Bauwerk jedoch dergestalt, dass es „sowohl toponymisch als auch chronologisch ins Ungefähre“43 transponiert wird. Man könnte auch sagen: Indem Raabe aus der nachweislichen, von der Kunstund Architekturgeschichte jedoch kaum beachteten und daher auch im allgemeinen Bewusstsein der Leser nicht als bekannt vorauszusetzenden Weißen Schanze eine „rote Schanze“ werden lässt, die nie genau genug beschrieben wird, dass man sich als Leser ein genaues Bild von ihr machen könnte, ‚erfindet‘ er ein real vorhandenes Bauwerk neu und so, dass es wie ein fiktives Bauwerk wirkt. Hierfür

heute aus betrachtet vielleicht sagen kann, dass sie im Inneren Monolog in seiner strengen Ausformung kulminierten. Vgl. Mario Gomes, Gedankenlesemaschinen. Modelle für eine Poetologie des Inneren Monologs, Freiburg i.Br. 2008, sowie Jörg Pottbeckers, Stumme Sprache. Innerer Monolog und erzählerischer Diskurs in Knut Hamsuns frühen Romanen im Kontext von Dostojewski, Schnitzler und Joyce, Frankfurt a.M. 2008. 43 Blume, Transformierte Realität, S. 243.

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entscheidend ist, dass sie einst Gegenstand der Tagträume sowohl von Heinrich Schaumann als auch des Erzählers Eduard war – sie war „unser Jungensideal“ (S. 23), heißt es an einer für diese ‚erträumte‘ und doch reale Architektur zentralen Stelle –, und dass ihr ein klein wenig davon noch immer anhängt. Beide wollten einst die rote Schanze im Sturm nehmen – und, wie man leicht errät, mit ihr die rothaarige Valentine Quakatz. Aus der Erinnerungsperspektive hier Stopfkuchens, dort Eduards zeichnet der Roman nicht nur nach, in welcher Weise die Wege der beiden sich schieden, sondern auch, auf welche Weise sie beide ihren früheren Traum verrieten. Eduard, der Erzähler, ließ sich von seinem Jungensideal demzufolge abbringen, weil er aufgrund der kulturraumgeographisch weit ausgreifenden Ersatzphantasien eines in seinem Bewegungsradius auf das Gehen der immer gleichen Wege festgelegten Landpostboten tatsächlich auswanderte und in den Kolonien in Afrika neu zu errichten suchte, was er wohlgemerkt bei den Philistern im Brummersumm eher denn in der Schule gelernt zu haben sich einbildet. Schaumann hingegen sitzt nun mit seiner dicken, an die Kanonenkugel in seines Vaters Hausgiebel erinnernden Gestalt an eben dem Ort, von dem zuvor die Stadt aus bombardiert wurde (S. 68), weil er es vermochte, trotz Studienabbruch, Rauswurf zu Hause und dem Getuschel der ganzen Stadt über die Mörderschanze, den Spieß umzudrehen – wie man mit einer Formulierung Eduards sagen könnte (S. 12, vgl. S. 134) – das heißt, sich das Gerede um die Frage, wie es eigentlich beim Tod Kienbaums zugegangen sei, in einer Art Fehlaneignung zunutze zu machen und nun, jetzt, da Eduard ihm zuhört, mit dem „Humor der Verzweiflung“ (S. 134) gegen die Stadt zu wenden, d.h.: gegen die Gerüchteküche des Brummersumm, gegen das Haus des eigenen Vaters und gegen das Provinzialgefängnis, in dem eine Unrechtsjustiz den alten Quakatz vorübergehend festhielt, wiewohl ihm ein Mord nicht angelastet werden konnte. Hat der Erzähler seine Wunschintention also – wie ihm jetzt bei der Niederschrift zu erkennen schwer wird – für ein Leben in den Kolonien aufgegeben, weil ihm der wahre Mörder – der Briefträger – zu Hause den Wunsch zur raumgreifenden Besitznahme der Welt einpflanzte, so scheint Schaumann seinem Traum treuer geblieben zu sein, da er nun – denkt man vergleichend an Oblomows Haustraum in Iwan Gontscharows Roman Oblomow (1859), der ein echtes Bewohnen des erträumten und niemals bis zum Entwurf gedeihenden Hauses je länger, je mehr verhindert – tatsächlich am einst erträumten Ort zu finden ist. Doch auch dieser Schein trügt, denn – wie eine Fülle von hier nicht zu behandelnden Anzeichen klar zeigt – aus Stopfkuchens ehemaligem Wunsch auf ein selbstbestimmtes Leben ist der vergangenheitsfixierte Wunsch geworden, an der philiströsen Stadt zumindest verbal, das heißt mit einer womöglich recht freien, poetisch ausgeschmückten Rekonstruktion des alten Mordfalls, Rache zu nehmen. Zu diesem Zweck scheut er nicht einmal davor

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zurück, dem mindestens bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurück zu datierenden Bauwerk der roten Schanze eine neue, jüngere Vergangenheit im aufgeklärten 18. Jahrhundert anzudichten.44 Schaumann verwandelt sich mit seiner Schein-Aufklärung tatsächlich in einen jener Ritter aus der wahren Vorgeschichte der roten Schanze, die die Stadt mit Krieg überzogen, doch trifft sein Spieß heute lediglich die arme Familie eines jener Außenseiter, denen er selbst als „Stopfkuchen“, wie man ihn nannte, zugehörte. Dies zu erkennen, sieht Eduard sich hingegen nicht mehr in der Lage; allein der Leser kann diese Frage stellen und sich damit in das Amt eines Prüfers aller Umstände versetzen lassen, von welchem der historische Schaumann schrieb: „Sie haben ein wichtiges Amt Übernommen, das Amt eines Prüfers, Beurtheilers und Richters Ihrer Brüder! – Freund, was übernahmen Sie? Von Ihrem Urteil hängt es nun ab, ob Tod, Gefangenschaft, Marter und Schande an die Handlungen von Menschen geknüpft werden sollen!“45

Wiederum, wie bei Fontane, sind es erfundene Architekturen, die beim späten Raabe eine gewichtige Rolle in der Erzählökonomie zugesprochen bekommen. Anders als bei Fontane ist es aber nicht ‚ein Haus‘, das auf einem wie eine Theaterbühne einsichtigen Spielraum der Erzählung als Schicksalsmacht determinierend agieren würde, sondern eine mit Projektionen befrachtete Architektur wie die rote Schanze oder wie die Mühle in Pfisters Mühle ist es, die den gerade noch ‚stabilen‘ Rahmen für die zu größtmöglicher Unsicherheit führende wechselseitige Relativierung von peripherem Ich-Erzähler und ‚Held‘ schafft. Und allein dem Leser wird es aufgebürdet, das Amt eines Prüfers, Beurteilers und Richters zu übernehmen.

VI Den Kontext für Raabes Wissen von Architektur stellte der von ihm frequentierte Künstlerzirkel „Der feuchte Pinsel“46 dar, der innerhalb der Braunschweiger Kulturszene eine fast subversiv zu nennende Gegengründung gegen den sich

44 Blume, Transformierte Realität, S. 244, Anmerkung 8. 45 Schaumann, Kriminalpsychologie, S. 16. Vgl. zu seiner bedeutenden Rolle im 19. Jahrhundert Ylva Greve, Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der „Criminalpsychologie“ im 19. Jahrhundert, Köln/Wien/Weimar 2004, S. 129–133. 46 Vgl. Hans Martin Schultz, „Wilhelm Raabe und der ‚Feuchte Pinsel‘“, in: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft, 17/1927, 4, S. 178–192; Wolfgang Schlegel, „Der ‚Feuchte Pinsel‘ bei Wilhelm Raabe“, in: Wilhelm-Raabe-Kalender [Goslar] 1948, S. 138–154.

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elitär gebenden, seit geraumer Zeit jedoch nur noch als gesellschaftliche Einrichtung fungierenden Verein der Ehrlichen Kleiderseller war, den Raabe – bezeichnend für seinen Perspektivismus – ebenfalls aufzusuchen zumindest nicht verschmähte. Raabe wurde von Constantin Uhde und Johannes Leitzen als Mitglied dieses Zirkels geworben und er saß dort alsbald regelmäßig neben Gustav Bohnsack: drei Architekten, die ihm viel zu bieten hatten: a. Mit dem Leiter der Städtischen Gewerbeschule Johannes Leitzen teilte Raabe die Abneigung gegen die Anschauung, dass Architektur lediglich die Kunst ausgeführter hoher Baukunstwerke sei. Widmete Leitzen sich lehrend dem Kunstgewerbe – und Raabes Tochter Margarethe –, so stattete Raabe etwa die Entwurfsabteilung der Schokoladenfabrik in seinem von Fontane kritisch rezensierten Roman Fabian und Sebastian mit einem künstlerischen Genius aus, der seine Stoffe und Formen buchstäblich auf der Straße findet, aus ihnen indessen Kunstwerke in Serie herstellt, die nicht nur die Kinder mehr entzücken als die Fassade eines erhabenen Bauwerks (und an solchen kommt in diesem Roman genau genommen nur das städtische Gefängnis vor).47 b. Mit dem angesehenen Professor für Architektur am Collegium Carolinum Constantin Uhde teilte Raabe ein auch im architekturhistorischen Vergleich sehr frühes Verständnis von Architektur als gebautem Raum, als Raumgebilde, das für den Menschen zu entwerfen und vom Menschen her zu denken ist. Diese freilich nur ansatzweise greifbare Auffassung Uhdes, die 1881 etwa die ersten Sätze der Publikation der von ihm entworfenen TH Braunschweig prägt, sollte ja – vermittelt über August Schmarsow – einer der zentralen Punkte für die Überwindung des historistischen Architekturverständnisses im frühen 20. Jahrhundert sein.48 Den Konnex mit der allgemeinen Raumauffassung Raabes zu untersuchen, kann hier freilich nicht geleistet werden. c. Am interessantesten für unser Thema ist der lange Jahre ohne angemessene Anstellung als Baukondukteur arbeitende Architekt Gustav Bohnsack. Mit ihm teilte Raabe eine Ironie, die sich nicht nur gegen klar Abzulehnendes – wie z.B. das elitäre Banausentum des vornehmen Braunschweiger Kunstvereins – richtete, sondern gerade auch gegen das, was man selbst noch bis vor kurzem überaus schätzte und damit vielleicht in seiner Bedeutung überschätzte. Ein Beispiel aus dem bislang unpublizierten, im Jahr 1886 beginnenden Briefwechsel mit dem Freund ist der Umgang mit Schopenhauer: Bohnsack zeichnete 1890, also zur Zeit der Publikation von Stopfkuchen, ein Selbstporträt als Icarus, die Namen von 47 Vgl. zu diesem selten interpretierten Roman Raabes Gabriele Henkel, Geräuschwelten im deutschen Zeitroman. Epische Darstellung und poetologische Bedeutung von der Romantik bis zum Naturalismus, Wiesbaden 1996, S. 193–243. 48 Kemp, Architektur analysieren, S. 145.

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Raabes Werken auf den Flügeln, während Dädalus-Raabe ihn mit Schopenhauer als Fluggepäck ausstattet. Diese in der Künstlervereinigung „Feuchter Pinsel“ von mehreren Mitgliedern kultivierte Ironie bildet in bildtechnischer Hinsicht karikierende Verfahren aus, die in ihrer Eigenart, ein herbeizitiertes Vorbild in eine neue Umgebung einzufügen oder umgekehrt das Bildnis Raabes in wiedererkennbare Bildformeln aus der Kunstgeschichte einzufügen, fast schon an moderne Collagen erinnert. Mit Blick auf unser Thema ist festzustellen: Raabe und Bohnsack liebten die Parodie mittels des Zitats.49 Um ein architekturhistorisch relevanteres Beispiel zu geben: Bohnsacks gezeichnete Persiflage auf Max Klingers Pläne zu einem monumentalen Beethoven-Denkmal, von denen Bohnsack offenbar schon früh – nämlich während der Ausstellung des Modells in Wien 1902 – wußte, mit einem halbnackt-heroisierten Raabe anstelle Beethovens (vgl. Abb. 2). Bedenkt man, dass die zeitgleiche Malerei – der Impressionismus oder auch die Berliner Sezession – keine Kunst war, die für solche fast-schon-Zitatcollagen Anregungen liefern konnte, könnte man auf die Idee kommen, dass eine solche Anregung weit eher aus dem letztlich uralten, im Zeitalter des Historismus freilich historisch spezifische Formen annehmenden produktiven Umgang der Baukunst mit Spolien zu erwarten ist, dass es also möglicherweise Anregungen ausgerechnet der späthistoristischen Baukunst waren, die in der späten Phase des literarischen Realismus auch für die Romankunst erste Ansätze für den Einbezug collagierender Verfahren boten. Wie modern jedenfalls Raabes diesbezüglicher Umgang mit ‚seinem‘ Material dem Architekten Bohnsack erschien, deutet eine seiner letzten Zeichnungen für den Schriftsteller a.D. an: Raabe wird hier als Automat dargestellt, dessen gänzlich ‚unorganische‘ Funktionsweise die Beischrift erläutert: „Nach dem Hineinwerfen eines Zehnpfennigstückes fällt ein Roman heraus, in welchem die Lebensbeschreibung des Hineinwerfers hineinverwebt ist.“ (Abb. 3)

VII Als Ergebnis dieser Studie kann man Folgendes festhalten: Wie die Genauigkeit der von ihm angefertigten Architekturzeichnung im Brouillon zu Unterm Birnbaum nahelegt, erfindet der Schriftsteller Theodor Fontane vor der Niederschrift

49 Vgl. Gustav Bohnsack, „Heitere Postkarten Raabes aus dem ‚Feuchten Pinsel‘“, in: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft, 13/1923, 1, S. 7–12. Vgl. zu Raabes eigenen Architekturzeichnungen Gabriele Henkel (Hrsg.), Wilhelm Raabe. Das zeichnerische Werk, Hildesheim/Zürich/New York 2010.

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Abb. 2: Gustav Bohnsack: Kolorierte Federzeichnung zu einem – nicht ganz ernst gemeinten – Denkmal „Wilh: der Raabe vor der St. Johanniskirche zu Braunschweig. Gewidmet vom Cultusminister“, 1902 [Ausschnitt: untere Hälfte]. Abbildung nach: Stadtarchiv Braunschweig, Briefwechsel Bohnsack – Raabe, H III 10 28 VIII (Foto: Stadtarchiv Braunschweig).

seines Texts eine Architektur – Abel Hradschecks Gasthaus –, die sodann im Rahmen der Diegese jedoch gerade nicht erfunden sein will, sondern vielmehr als ein von Hand zu Hand weitergegebener Altbau eingeführt wird. Fontanes Erzähltext verdankt den Realitätseffekt seines Texts somit zu einem nicht geringem Maß dem Umstand, dass die für ihn zentrale Textarchitektur als ein Traditionsbau eingeführt wird, dessen Konstruktcharakter durch den gewählten ‚Stil‘ des Texts nur verborgen wird. Er wirkt ‚anschaulich‘, als ob die Erzählung sich im Sinne Spielhagens selbst vermitteln würde; er kann daher sogar als Agent des Schicksals tätig werden (indem er den ‚Fall‘ aufdeckt), ohne dass der Widerspruch dieses providentiellen Eingreifens zum literaturtheoretischen Programm des poetischen Realismus, der an sich allenfalls ‚Verschönerung‘ zulässt, auf Anhieb spürbar wird. Raabes Roman Stopfkuchen hingegen bezieht sich auf eine als architektonischer Überrest vergangener Zeiten bis heute ‚real‘ nachweisliche Architektur

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Abb. 3: Gustav Bohnsack: Federzeichnung „Neuster Automat!“, 1904. Abbildung nach: Stadtarchiv Braunschweig, Briefwechsel Bohnsack – Raabe, H III 10 6 (Foto: Stadtarchiv Braunschweig).

(die Weiße Schanze bei Wolfenbüttel), die aus zwei Gründen wie eine erfundene Architektur wirkt: Erstens, weil Raabes narratives Modell der wechselseitigen Relativierung eines peripheren Ich-Erzählers und eines projektiv überformten ‚Helden‘ dazu tendiert, eine Architektur wie die rote Schanze nur noch als Außenhalt für Innenwelt zu benötigen bzw. der Tendenz zur Verselbständigung der Ich-Erzähler-Erinnerungen zum Inneren Monolog den gleichwohl als unabdingbar betrachteten Außenhalt zu verschaffen (wodurch Raabe gewissermaßen Schnitzlers späterer Erzählung Fräulein Else näher steht als dem früheren Leutnant Gustl).50 Zweitens, weil die auf diese Weise verzeitlichte (weil in den inneren Monolog eingesponnene) Architektur der roten Schanze bewusst und für

50 Paul Zucker hat in diesem Sinne erstmals systematisch Architektur als Zeitkunst zu erfassen gesucht: Paul Zucker, „Der Begriff der Zeit in der Architektur“, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 44/1924, S. 237–245.

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jeden Leser erkennbar auf einen Prätext ‚antwortet‘ (nämlich: auf Fontanes Unterm Birnbaum Bezug nimmt), indem sie dessen Widersprüchlichkeit, ja sogar Fragwürdigkeit als ein mimetisch sein-sollendes Konstrukt offen benennt („schön himmelblau die Mauern“) und durch ein Konkurrenzmodell zu ersetzen sucht, das den eigenen Konstruktcharakter geradezu ausstellt. Paradoxerweise widersetzt Raabe sich dem Postulat der realistischen Literaturprogrammatik, dass Texte maßvoll verschönernd Wirklichkeit abbilden sollen, indem er an einer ‚halbrealistischen‘, will sagen: in einschlägigen Handbüchern als existent nachschlagbaren Architektur aufzeigt, dass Architektur ebenso wie Literatur nicht ohne die sie in Gespräche, Gerüchte, Hoffnungen und Erinnerungen einspinnenden Menschen gedacht werden kann und dass beide ‚Künste‘ in diesem Sinn Wirklichkeit entwerfen, statt sie zu spiegeln.

Robert Krause, Freiburg

Von der „herrischen Lust am Gestalten und Umgestalten“ Die „Kunst des Bauens“ in Goethes Wahlverwandtschaften, gelesen mit Hofmannsthal I Eine Spur: Hofmannsthals Lektüre der Wahlverwandtschaften „[E]in Leben im Stil der ‚Wahlverwandtschaften‘“, so Hugo von Hofmannsthal, basiere auf der „königlichen Kunst des Bauens, der herrischen Lust am Gestalten und Umgestalten“.1 Ursprünglich in einer Rezension als beiläufiger Vergleich formuliert, macht seine Äußerung aus dem Jahr 1892 doch auf einen zentralen Aspekt von Goethes Roman aufmerksam: In den Wahlverwandtschaften sind die Bautätigkeit und der Wille zur architektonischen Veränderung des geschilderten Anwesens, das den dominanten Handlungsschauplatz bildet, semantisch, motivisch und sprachlich tatsächlich omnipräsent. Ständig wird die Anlage, deren Teile in ihrer „engen Beziehung zu den Protagonisten“ ähnlich profiliert sind wie die Figuren und daher selbst als „dramatis personae“ gelten können,2 aus- und umgebaut. Auch vom „bauen“ wird vielfach gesprochen.3 Diese rege Bautätigkeit der Protagonisten ist im Folgenden anhand je eines Beispiels aus beiden Roman-

1 Hugo von Hofmannstahl, „Ferdinand von Saar, ‚Schloss Kostenitz‘“ [zuerst in: Deutsche Zeitung, Wien 1892], in: Ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa I, Herbert Steiner (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1956, S. 83–86, hier S. 85. 2 Keith A. Dickson, „Raumverdichtung“, in: Ewald Rösch (Hrsg.), Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, Darmstadt 1975, S. 325–349, hier S. 330. Als reales geografisches Vorbild für das im Roman geschilderte Anwesen hat vermutlich Ortenberg in der Wetterau gedient, wie Harald Tausch („Das unsichtbare Labyrinth. Zur Parkgestaltung und Architektur in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Helmut Hühn, unter Mitarbeit von Stefan Blechschmidt [Hrsg.], Goethes „Wahlverwandtschaften“. Werk und Forschung, Berlin/New York 2012, S. 89–136, hier S. 120f.) rekonstruiert. Zu einem aufgefundenen Plan des Anwesens vgl. Stefan Blechschmidt, „Der Schauplatz von Goethes Die Wahlverwandtschaften. Kartographischer Zugang und modellhafte Vergegenwärtigung“, in: Ernst-Gerhard Güse/Stefan Blechschmidt/Helmut Hühn/Kochen Klauß (Hrsg.), „Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft“. Goethes „Wahlverwandtschaften“. Ausstellungskatalog, Weimar 2008, S. 28–35, hier S. 31. 3 Vgl. beispielsweise Goethe, „Die Wahlverwandtschaften“, in: Ders., Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6: Romane und Novellen I, Erich Trunz (Hrsg.), München 1981, S. 242–490, hier S. 247. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe unter Verwendung der Sigle WV und Angabe der betreffenden Seite im Fließtext zitiert.

Goethes „Wahlverwandtschaften“, gelesen mit Hofmannsthal

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teilen zu analysieren. Wenngleich dabei Hofmannsthals zitierte Beobachtung den Fokus vorgibt, soll seine intensive jahrzehntelange Goethe-Rezeption keineswegs neu aufgearbeitet werden.4 Selbst die ausführlichen Aufzeichnungen, die er 1916 zu den Wahlverwandtschaften anfertigte,5 können hier unberücksichtigt bleiben, denn sie folgen anderen Prämissen als seine prägnante Äußerung aus dem Frühwerk.6 Von ihr auszugehen, akzentuiert hingegen nur einen überschaubaren Aspekt aus Goethes enigmatischem Roman und verspricht mithin im Anschluss an Studien jüngeren Datums zu dortigen Rolle der Architektur einen tieferen Einblick in die Welt der ‚Wahlverwandten‘ und die Mentalität der Zeit.7

II Grundsteinlegung oder wie die „Kunst des Bauens“ untergraben wird Gleich zu Anfang des Romans steht die Erwähnung eines Bauprojekts: Die Handlung der Wahlverwandtschaften beginnt damit, dass der Protagonist Eduard über die Fertigstellung der „Mooshütte“ benachrichtigt wird, an der seine Frau schon länger „gebaut hat“ (WV, 242). Diese Hütte, die nach dem zeitgenössischen Vorbild der Eremitage in englischen Landschaftsgärten gestaltet ist, liegt „in den neuen Anlagen […] an der Felswand“ und gewährt „einen vortrefflichen Anblick“ des Schauplatzes der weiteren Handlung, zu dem „unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche“ sowie „gegenüber das Schloß und die Gärten“ gehören (WV, 242). Tür und Fenster der Hütte zeigen „die Landschaft gleichsam im Rahmen“, wie ein Gemälde also, und exemplifizieren mithin, dass die Beschrei4 Zu dieser vgl. den Ausstellungskatalog des Freien Deutschen Hochstifts, den Joachim Seng unter Mitwirkung von Renate Moering und Christoph Perels herausgegeben hat: Leuchtendes Zauberschloß aus unvergänglichem Material. Hofmannsthal und Goethe, Eggingen 2001. 5 Hofmannsthal, „Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien“ [1916], in: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Reden und Aufsätze II: 1914–1924, Bernd Schoeller, in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1979, S. 28–42, hier S. 37–40. 6 Zu den unterschiedlichen Phasen und Prämissen von Hofmannsthals Goethe-Rezeption vgl. Christoph Perels, „Zur Einführung“, in: Seng (Hrsg.), Leuchtendes Zauberschloß aus unvergänglichem Material. Hofmannsthal und Goethe, S. 9–18, insbes. S. 11f. 7 Auf die heuristische Funktion einer solchen Beschränkung hat bereits Michael Mandelartz hingewiesen. Seines Erachtens stellt der „Versuch einer gültigen Gesamtinterpretation“ ein „geradezu aussichtslose[s] Unterfangen“ dar. Indes könne jeder Themenbereich „als ein in sich gegliedertes Ganzes analysiert werden“ (Michael Mandelartz, „Bauen, Erhalten, Zerstören, Versiegeln. Architektur als Kunst in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 118 [1999], S. 500–517, hier S. 500). Vgl. außerdem Hans-Georg von Arburg, Alles Fassade. ‚Oberfläche‘ in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770–1870, München 2008, S. 228–237; Tausch, „Das unsichtbare Labyrinth“.

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bung der Umgebung sowie die gesamte Erzählweise primär visuell konfiguriert sind (WV, 243). Anzunehmen ist hier eine Beeinflussung Goethes durch die Landschaftsmalerei und durch neue optische Medien wie die Camera obscura, von der er mehrere Exemplare besaß.8 Paradigmatisch ablesbar wird die Visualisierung des Erzählten an der neu erstellten „topographischen Karte […], auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen […] dargestellt war“ (WV, 266). Der Lageplan eröffnet erst ein Betätigungsfeld für die systematische bauliche Veränderung, die zur fiktiven Topografie und visuellen Konfiguration des Romans gehört. Denn in der medialen Veranschaulichung nimmt Eduard die Parkanlagen umfassender als früher wahr und beurteilt nun die vereinzelten Gestaltungsversuche seiner Frau Charlotte kritisch. Ihre Mooshütte, die ihm zuerst nur „etwas zu eng“ erschien (WV, 243), wird durch ein geplantes „Lustgebäude“ schlichtweg obsolet (WV, 288), zu dem man bald den hochgradig symbolischen Grundstein legt. Die ausführlich beschriebene Grundsteinlegung zu diesem neuen Haus ist insofern signifikant, als sie in nuce die Figurenkonstellationen sowie -motivationen reflektiert und auf das weitere Romangeschehen vorausdeutet: Bereits in der Planungsphase bemerkt der Hauptmann gegenüber Eduard, dass „durch Legung des Grundsteins“ der Geburtstag von dessen Frau Charlotte „zu feiern“ sei, an welcher der Hausgast zunehmend Gefallen findet (WV, 296). Wenn daraufhin Charlotte „die neuen Anlagen, und was deshalb geschehen sollte, bedeutend, ernstlich, ja fast bedenklich“ vorkommen, erweist sich ihre Intuition als zutreffend (WV, 296). Unverzüglich fällt es ihrem Mann Eduard ein, „Ottiliens Geburtstag […] gleichfalls recht feierlich zu begehen“ und seiner heimlichen Liebe zu dem jungen Mädchen durch die baldige Fertigstellung des Hauses ein unvergängliches Denkmal zu setzen (WV, 296). Hinsichtlich dieser divergierenden persönlichen Motive erscheint es von Beginn an fraglich, inwieweit das geplante „Lustgebäude“ den erotischen Sehnsüchten der Figuren zu entsprechen und diese zu repräsentieren vermag. Tatsächlich kann es weder den genannten Phantasmen genügen noch den elementaren baulichen Anforderungen standhalten, die ein Maurer zu Anfang des neunten Kapitels programmatisch festlegt: Seine Forderung, dass ein Gebäude „am rechten Fleck stehe, daß es wohl gegründet, daß es vollkommen ausgeführt sei“ (WV, 299), entspricht der antiken Lehre des römischen Architekten Vitruv (1. Jh. v. Chr.). Maßgeblich erscheint insbesondere dessen zentraler Begriff der „Festigkeit“ („firmitas“), den er zu Anfang seiner Zehn 8 Vgl. Sabina Becker, „Das Erzählen der ‚topographischen Charte‘. Zur Poetik des Visuellen in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Hee-Ju Kim (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Sebastian Kaufmann, Wechselleben der Weltgegenstände. Beiträge zu Goethes kunsttheoretischem und literarischem Werk, Heidelberg 2010, S. 353–374, insbes. S. 358; Tausch: „Das unsichtbare Labyrinth“, S. 136.

Goethes „Wahlverwandtschaften“, gelesen mit Hofmannsthal

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Bücher über Architektur (De architectura libri decem) einführt.9 Die Stabilität einer Anlage basiert demnach auf der Wahl des Baugrunds, der „Baustoffe“ und „Fundamente“: „Auf Festigkeit wird Rücksicht genommen, wenn die Einsenkung der Fundamente bis zum festen Grund reicht und die Baustoffe, welcher Art sie auch sind, sorgfältig ohne Knauserei ausgesucht werden“, so Vitruv.10 Mit seiner Bauanweisung korrespondiert in den Wahlverwandtschaften die zuvor zitierte Rede des Maurers, der ja ebenfalls an die Bedeutung des Baugrunds und der Fundamente erinnert. Diese sachliche Übereinstimmung zwischen beiden Texten wirft die Frage auf, ob Vitruvs Traktat zu den Prätexten von Goethes Roman gehört. Immerhin kannte der Dichter die genannte Abhandlung, wie seine 1797 niedergeschriebene Aufzählung derjenigen Werke beweist, die ihm für Architekten wie für Liebhaber der Baukunst empfehlenswert erscheinen.11 Goethe besaß in seiner Bibliothek sogar eine italienische Ausgabe des Traktats, auf den er bereits bei der Verarbeitung seiner Eindrücke der Italienischen Reise zurückgriff. Eine intertextuelle Referenz auf Vitruvs Lehre ist daher auch in den Wahlverwandtschaften durchaus möglich, angesichts der dort ganz ähnlich formulierten Bauprinzipien mutet eine solche Bezugnahme sogar wahrscheinlich an. Vitruvianistische Vorgaben für die Festigkeit eines Bauwerks werden im Roman zwar reformuliert, aber bei der tatsächlichen Konstruktion des Lusthauses nicht realisiert. Diese Abweichung wäre sicherlich ideen- und architekturgeschichtlich zu kontextualisieren und ließe sich als Allusion auf den rapiden Bedeutungsverlust interpretieren, den der Vitruvianismus seit dem 18. Jahrhundert erfuhr.12 Aber bereits werkimmanent ist die Diskrepanz zwischen der Architekturtheorie und Baupraxis der Wahlverwandtschaften erklärbar, sofern man sie in Zusammenhang mit den weiteren Regeln des Maurers sieht, gegen die ebenfalls verstoßen wird. Dabei zeigt sich ein „künstlerisch-tyrannischer Zug“ fast aller Akteure, auf den schon Hofmannsthal hingewiesen hat.13 Die Wahl des Grundstücks, die traditionell dem Bauherrn obliegt, trifft an seiner Stelle Ottilie,

9 Vitruv, De architectura libri decem/Zehn Bücher über Architektur, Lateinisch und deutsch, übers. und mit Anm. vers. von Curt Fensterbusch, 6., unveränd. Aufl., Darmstadt 2008, 1. Buch, 3. Kapitel, S. 45: „Diese Anlagen müssen aber so gebaut werden, daß auf Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut Rücksicht genommen wird.“ 10 Ebd. 11 Vgl. Goethe, „Die zum Studium der Baukunst erforderlichen Texte“, Goethe an Gabriel Johannes Schleusner, Brief vom 22. Februar 1797, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 18: Ästhetische Schriften, 1771–1805, Friedmar Apel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1996, S. 404–409, hier S. 406f. Dort erwähnt er Vitruvs wirkungsmächtigen Traktat De architectura libri decem beiläufig. 12 Vgl. dazu die Ausführungen Jens Biskys, Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann bis Boisserée, Weimar 2000, S. 3. 13 Hofmannstahl, „Ferdinand von Saar, Schloss Kostenitz“, S. 85.

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als sie gegen die ursprünglichen Pläne votiert und die Anhöhe als adäquateren Sitz des Lustgebäudes vorschlägt. Mit der Entscheidung für den exponierten Bauplatz auf der „höchsten Fläche“ (WV, 295) entfernen sich die Protagonisten aber von dem zweckmäßigen Wohnsitz der Vorfahren im Tal. An die Stelle des althergebrachten Wohnens im Schloss tritt in Form des Neubaus die „herrische Lust am Gestalten und Umgestalten“.14 Die Sphären des Reizvollen und des Nützlichen zu trennen,15 verspricht ein veritables Lustgebäude von außergewöhnlicher Schönheit, impliziert jedoch zwangsläufig einen Verlust an Erfahrung, der im zweiten Teil des Romans schließlich lebensgefährliche Konsequenzen zeitigt. Die fatalen Folgen deuten sich bereits vor und während der Grundsteinlegung des neuen Hauses an, wenn man erfährt, dass das Bauprojekt von verschiedenen Seiten mit übermäßiger Eile und gegen alle ökonomische Vernunft betrieben wird. Eduard und der Hauptmann forcieren nacheinander den Hausbau, damit sein jeweiliger Abschnitt auch ja rechtzeitig zum Geburtstag der heimlich geliebten Frau vollendet sei. Von einer solchen Koinzidenz versprechen sie sich nicht nur ein angemessenes Geschenk für Charlotte und Ottilie; vielmehr soll die Verkettung der Ereignisse auch die ‚Wahlverwandtschaften‘ symbolisch artikulieren und die begehrten Paarkonstellationen de facto herbeiführen. Die übereilte Grundsteinlegung sprengt aber den ursprünglichen Finanzierungsplan und schadet der notwendigen Sorgfalt: Schon frühzeitig ist zwar „ein schöner Grundstein mit Fächern und Deckplatten zugehauen“, jedoch „der Keller mehr gebrochen als gegraben“ (WV, 298). Zwischen dem ästhetisch ansprechenden Stein einerseits und dem grob angelegten Keller andererseits besteht ein eklatantes Missverhältnis. Wie zuvor bei der Wahl des Bauplatzes wird abermals das Schöne gewählt, darüber aber das Nützliche vernachlässigt. Indem die Protagonisten die Autonomie beider Bereiche zulassen, wenn nicht gar durch ihren „künstlerisch-tyrannischen Zug“ absichtlich herbeiführen, drohen sie in einen lebensfeindlichen Ästhetizismus zu verfallen, der in Goethes Roman immer wieder kritisiert wird und aufgrund ähnlich gelagerter epochaler Problemstellungen das besondere Interesse des jungen Hofmannsthal geweckt haben dürfte.16 „[U]m mit dem Bau vorwärtszukommen“, hat man im Wahlverwandtschaften-Roman „bereits an der entgegengesetzten Ecke den Grund völlig herausgeschlagen, ja schon angefangen, die Mauern aufzuführen“ (WV, 303). Die Grundsteinlegung bildet somit nicht mehr den Baubeginn, wie es traditionell üblich ist. Angesichts der bereits errichteten Mauern wirkt sie bei 14 Ebd. 15 Man „überlässt sich widerstandslos dem Dämonischen, indem das Schöne sich vom Nützlichen abspaltet“, argumentiert Michael Mandelartz („Bauen“, S. 503). 16 Hofmannsthal, „Ferdinand von Saar, Schloss Kostenitz“, S. 485.

Goethes „Wahlverwandtschaften“, gelesen mit Hofmannsthal

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näherem Hinsehen deplatziert und hat nur noch die Funktion eines symbolischen Festakts, der zu spät begangen wird und damit unausgesprochen auf etwas ganz anderes, nämlich auf die Konstituierung neuer erotischer Beziehungen verweist. Um einen architektonischen Grundstein handelt es sich also genau genommen nicht mehr; der Stein ist angesichts des schon fortgeschrittenen Bauprozesses ein ebenso dekoratives wie leeres Symbol. Entsprechend absurd wirkt die feierliche Geste des herausgeputzten Maurers, der die Grundsteinlegung neben den bereits begonnenen Mauern als baulichen und sozialen Gründungsakt zelebriert. Auch fehlt es dem jungen Mann für dieses Amt an der notwendigen Berechtigung und Kenntnis. Als „Geselle“ (WV, 301) ist er noch gar nicht befugt, sein Handwerk selbstständig auszuüben, seine exponierte Rede kennzeichnet ihn jedoch als Verantwortlichen. Diese Diskrepanz zwischen der Aufgabe beziehungsweise dem Anspruch einerseits und der nicht vorhandenen Legitimation andererseits schlägt sich konkret in der mangelhaften Fundamentierung des Hauses nieder. Offenkundig wurde versäumt, den Baugrund komplett zu ebnen, liegt doch „der Grundstein, an einer Seite unterstützt, eben zum Niederlassen bereit“ in der Grube, statt wie angekündigt „wohl auf seiner eignen Schwere“ zu ruhen (WV, 299).17 Seine einseitige Stütze widerspricht der vom Maurer erwähnten „wasser- und senkrechten Lage“, und weil die Position des Steins wiederum „Lot und Waage aller Mauern und Wände bezeichnet“, werden auch diese schief errichtet (WV, 300). Winkel, Maße und sogar eine Ecke des neuen Hauses sind durch den Grundstein vorgegeben, darüber informiert die Rede des Maurers, die auf seine Zuhörer beruhigend wirken mag, weil diese glauben, dass alles wohl bedacht sei und man den Stein also „ohne weiteres niederlegen“ könne (WV, 300). Der aufmerksame Leser hingegen wird die Äußerungen hinterfragen und erhält so Einblick in die missliche Lage des Grundsteins und des darauf aufbauenden neuen Hauses. Die „königliche Kunst des Bauens“ verliert in den Händen eines illegitimen Handwerkers nicht nur jene Exklusivität, die Hofmannsthal ihr zubilligt, sondern wird zugunsten der ästhetizistischen „Lust“ am schönen Schein schlichtweg preisgegeben.18 Besonders deutlich zeigt sich die hypostasierte Lust anhand der Fundamentierung, bei der die mit Kalk bewirkte Verkittung der Steine explizit auf die Institution der Ehe bezogen wird (vgl. WV, 300). Der Maurer vergleicht die Verbindung von Grundstein und Felsboden, deren Auflageflächen passgenau bearbeitet sein sollten, es aber in Wirklichkeit nicht sind, mit erotischen Neigungen und postuliert, dass die jeweils entstehenden Beziehungen durch einen Katalysa-

17 Vgl. Mandelartz, „Bauen“, S. 504. 18 Hofmannsthal, „Ferdinand von Saar, Schloss Kostenitz“, S. 485.

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tor zu intensivieren seien. Zwei unterschiedliche, aber eng zusammengehörende Lebensbereiche, der Hausbau und die Ehe, werden mithin analogisiert.19 Dass ausgerechnet Kalk als bauliches Pendant zum gesetzlichen Eheschluss dienen soll, muss vor dem Hintergrund der chemischen „Gleichnisrede“ aus dem vierten Kapitel jedoch als fataler Fehlgriff erscheinen (WV, 270): Denn dort erklärt der Hauptmann Charlotte die Natur der „Wahlverwandtschaften“ gerade am Beispiel des Kalks, der „zu allen Säuren eine große Neigung, eine entschiedene Vereinigungslust äußert“ (WV, 273). Ebenso wie der Kalk verhält sich auch Eduard, der im weiteren Handlungsverlauf seine eheliche Verbindung mit Charlotte auflösen und sich mit Ottilie vereinigen will. Daher ist es bittere Ironie, dass Charlotte selbst bei der Grundsteinlegung mit der Kelle des Maurers „Kalk unter den Stein“ wirft und dessen Hammer nimmt, „um durch ein dreimaliges Pochen die Verbindung des Steins mit dem Grunde ausdrücklich zu segnen“ (WV, 300). Die folgende Evokation des Vanitas-Gedankens, bei dem „an die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge“ erinnert wird (WV, 302), besitzt prognostischen Charakter, denn der Ehefrieden von Eduard und Charlotte ist durch die Anwesenheit Ottilies und des Hauptmanns irreversibel gestört. Alsbald kommt es zum „doppelten Ehebruch“ und zur temporären Trennung des Paars (WV, 455), infolge derer die Frauen das neue Gebäude allein bewohnen. Das erhoffte Glück eines dauerhaften Hausfriedens muss ausbleiben. Zu übermächtig äußert sich die „Neigung“ des Kalks, dessen „Vereinigungslust“ zwar semantisch und terminologisch mit dem Charakter des Hauses als Lustgebäude korrespondiert, jedoch mit dem darunter liegenden Felsboden keine feste Verbindung ermöglichen kann (WV, 273). Immerhin ist schon seit der Antike bekannt, dass Kalk nur „dann das Mauerwerk“ bindet, „wenn er Wasser und Sand aufnimmt“.20 Von Baubeginn an ist also deutlich, dass es sich bei dem neuen Haus um einen Tatort handelt, an dem etwas Heimliches, ja sogar Unrechtes stattfindet: „Des Maurers Arbeit“ geschieht „zum Verborgnen“, denn der „regelmäßig aufgeführte Grund wird verschüttet, und sogar bei den Mauern […] ist man unser am Ende kaum eingedenk“, erklärt der Geselle seinen Zuhörern (WV, 301). Bei einer heimlichen Handlung, egal ob sie übel oder gut ist, müsse man aber stets erwarten, dass sie irgendwann „ans Licht kommen werde“ (WV, 301). Der hier angesprochenen Dialektik des Verbergens und Entdeckens folgt auch Goethes Poetologie. So teilt er seinem engen Freund Zelter in einem Brief

19 Diesen sozialgeschichtlichen Zusammenhang hat Otto Brunner aufgearbeitet: „Das ‚ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘“, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 21968, S. 103–127. 20 Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, Liber secundus, V, S. 92; Fünftes Kapitel, Vom Kalk, S. 93.

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vom 1. Juni 1809 mit, in die Wahlverwandtschaften „viel hineingelegt, manches hinein versteckt“ zu haben: „Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.“21 Die von Goethe charakterisierte poetische Praxis zeigt sich exemplarisch im neunten Kapitel des Romans. Mit der Grundsteinlegung wird nach Auffassung des Maurergesellen „insgeheim das Gute getan“, da er dem Haus eine feste Basis sichern soll, die nach Fortschreiten des Baues nicht mehr sichtbar sein wird. Dennoch kann auch der Stein später nochmals „ans Licht kommen“; daher soll der „Grundstein sogleich zum Denkstein“ gemacht und „verschiedenes eingesenkt werden zum Zeugnis für eine entfernte Nachwelt“ (WV, 301).22 Anstatt sich auf den gegenwärtigen Bau oder die kommende Nutzung des Lustgebäudes zu konzentrieren, wird es bereits vor seiner Fertigstellung historisiert. Eduard hat als ‚königlich‘ auftretender Bauherr zu diesem Zweck mehrere Behälter gespendet, die „schriftliche Nachrichten“, „alten Wein“ und „Münzen verschiedener Art, in diesem Jahr geprägt“, enthalten (WV, 301). Diese Praxis lässt die eigene Generation und das erhoffte zukünftige Glück bereits als Vergangenheit erscheinen und dokumentiert insofern die Unfähigkeit der ‚Wahlverwandten‘, in der Gegenwart zu leben. Darüber hinaus erinnert sie an ein „Bauopfer“,23 wobei Eduards unterschiedliche Gaben mit den jeweiligen Traditionen aus der Antike und insbesondere aus dem Mittelalter und der Moderne korrespondieren,24 von denen etwa Heinrich Heine berichtet. Herrschte noch im Mittelalter „unter dem Volke die Meinung“, man müsse „etwas Lebendiges schlachten und auf dem Blute desselben den Grundstein legen“, damit ein „Gebäude fest und unerschütterlich stehen bleiben“ werde, glaubt man in der Moderne „nicht mehr an die Wunderkraft des Blutes“.25 Die „Leute glauben nur an Geld“, „und wenn sie ein Gebäude zu errichten haben, so tragen sie große Sorge, dass unter den Grundstein einige Geldstücke, eine Kapsel mit allerlei

21 Goethe an Carl-Friedrich Zelter, Brief vom 1. Juni 1809, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 33/ Abt. 2, Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis zum 6. Juni 1816, Rose Unterberger (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 459f., hier S. 459. 22 Indem der Maurergeselle sich nicht nur auf sein eigenes Handwerk, sondern auch auf die „Nachwelt“ bezieht (WV, S. 301), wird neben der „produktions- auch die rezeptionsästhetische Seite des Kunstwerks verhandelt“ (Mandelartz, „Bauen“, S. 501). 23 Walter Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/1, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1974, S. 123–201, hier S. 136. 24 Dass die Gaben zuerst auch als Anspielung „auf die mediterrane Antike“ erscheinen mögen, ihr Alter aber im Textverlauf relativiert wird, bemerkt Tausch, „Das unsichtbare Labyrinth“, S. 106, Fußnote 60. Schon Vitruv erwähnt die „Opferung von Tieren, die an den Stellen weideten, an denen Städte oder Standlager errichtet wurden“ (Zehn Bücher über Architektur, S. 51). 25 Heinrich Heine, „Die romantische Schule“, in: Ders., Werke, Bd. 4: Schriften über Deutschland, Helmut Schanze (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1968, S. 166–298, hier S. 269.

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Münzen, gelegt werden“.26 Auf diese beiden Überzeugungen und Rituale verweisen die Gaben im Wahlverwandtschaften-Roman. Während die Münzen der zeitgenössischen Praxis bei Grundsteinlegungen entsprechen, repräsentiert der Wein das mittelalterliche „Blutopfer“,27 wird doch das Blut in der christlichen Eucharistie-Feier durch Rotwein repräsentiert. Versteht man die Gaben als Opfer, so zeigen sie, dass irrationale Überzeugungen bei der Grundsteinlegung handlungsleitend sind. Insbesondere der Wein ist von symbolischer Bedeutung, denn er evoziert das ‚Blutopfer‘ eines Lebewesens, wie Ottilie es am Schluss der Diegese durch ihr suizidales Fasten vollziehen wird.28 Schon ihre Gabe beim offiziellen Baubeginn komplettiert die Vorstellung, dass es sich bei dem Denkstein um ein Grab handelt. Der Vanitas-Gedanke kulminiert in einem memento mori, denn deutlich ist „eine Gräbermahnung in den freimaurerisch gestimmten Worten der Grundsteinlegung enthalten“,29 wenn der Mauergeselle doppeldeutig verkündet: „Es ist ein ernstes Geschäft und unsere Einladung ist ernsthaft: denn diese Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen. Hier innerhalb dieses engen ausgegrabenen Raumes erweise Sie uns die Ehre, als Zeugen unsers geheimnisvollen Geschäftes zu erscheinen“ (WV, S. 300). Tatsächlich wird sich das gerade erst entstehende Gebäude als veritables „Totenhaus“ erweisen,30 nachdem das Kind im See nebenan tödlich verunglückt ist. Angelegt ist diese unheilvolle Entwicklung bereits in der Bautätigkeit, denn „Grundsteinlegung, Richtfest und Bewohnung bezeichnen ebensoviele Stufen des Untergangs“, wie dies Walter Benjamin rekonstruiert.31 Sein Wahlverwandtschaften-Essay kreist um den religiösen Mythos und Artikulationen von Goethes biografischer Todesangst im Roman. Jenseits dieser esoterischen Deutung meint Benjamin jedoch mit 26 Ebd. Inwiefern Heines zitierte Äußerungen auf „flüssige Fundamente“ der kapitalistischen Gesellschaftsordnung hindeuten und die „Unmöglichkeit jeder Gründung in der Moderne“ exponieren, hat kürzlich Saskia Haag erörtert: Auf wandelbarem Grund. Haus und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2012, S. 25–29, hier S. 25 und S. 27. Auf der dahinter stehenden Annahme einer „Desintegration symbolischer Ordnungen im Zeichen des Grundsteins“ basiert auch ihre instruktive Parallellektüre von Goethes Wahlverwandtschaften und Stifters Erzählungen: vgl. ebd., S. 53–60. 27 Der Begriff „Blutopfer“ findet sich bei Heine, „Die romantische Schule“, S. 269. 28 Genau dieses Opfer thematisiert Hofmannsthals spätere Interpretation der Wahlverwandtschaften, in der er argumentiert, Ottilie hebe „durch Eingehen in das Gesetz die angeborene schmerzliche Spannung zwischen der Person und dem Überpersönlichen auf (– dies sein, was es wolle: Gott oder Welt, Sitte oder Fatum, Natur oder Staat). Sie wird bewusst eins mit ihm“ (Hofmannsthal, „Aufzeichnungen“ [1916], S. 39). 29 Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 136. 30 Wolfgang Staroste, „Raumgestaltung und Raumsymbolik in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Études Germaniques, Nr. 3 (1961), S. 209–222, hier S. 220. 31 Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 139.

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Hofmannsthal, in dessen Zeitschrift Neue deutsche Beiträge sein Artikel 1924/25 erscheint, eine wesentliche „Überzeugung“ zu „teilen“: „Jene Überzeugung nämlich, daß jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat“.32 In der Architekturmetaphorik dieser Wahrheitskonzeption wird die Sprache zum ursprünglichen Ort der Wahrheit. Diese Metapher ähnelt nicht nur dem Bild vom „Haus der Sprache“, das etwa Karl Kraus und später Martin Heidegger verwenden;33 sie erinnert auch an die erwähnte Dialektik des Verbergens und Entdeckens aus Goethes hochartifiziellem Roman, der just fertig gestellt wurde, nachdem er Alois Hirts „großes Werk über die Baukunst“ erhalten hatte und in dem er erklärtermaßen manches „versteckt“ hat.34 Um etwas davon wieder zu bergen, gilt es nun, die im zweiten Romanteil geschilderten Restaurierungsarbeiten zu untersuchen und ebenso wie bei diesen verborgene Schichten freizulegen.

III Restaurierung: Die „Lust am Gestalten und Umgestalten“ im Zeichen des Historismus Mit dem zweiten Teil von Goethes Wahlverwandtschaften geht eine zeitliche und räumliche Verschiebung einher. Erstreckte sich die Handlung bislang auf die Sommermonate und auf die Außenbezirke des Landguts, ereignet sich der Fortgang der Geschichte nunmehr während der Herbst- und Wintermonate und bevorzugt in Interieurs.35 Einen wichtigen Schauplatz bildet dabei die neu entdeckte Kapelle, deren Umgestaltung im Zuge der Restaurierungsarbeiten ausführlich geschildert wird. Epochen- und stilgeschichtlich handelt es sich um eine mittelalterliche Kirche gotischer Bauweise,36 die „nach deutscher Art und Kunst in guten Maßen errichtet und auf eine glückliche Weise verziert“ ist (WV, 366). Dass Goethe die

32 Benjamin an Hofmannsthal, Brief vom 13. Januar 1924, in: Benjamin: Briefe, Bd. II: 1919–1924, Christoph Gödde/Henri Lonitz (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1996, S. 409–412, hier S. 409. 33 Vgl. das Gedicht Bekenntnis [1916] von Karl Kraus: „Ich bin nur einer von den alten Epigonen / die in dem alten Haus der Sprache wohnen“ (ders., Die Fackel [443–44, 28], zitiert nach: Karl Kraus-Lesebuch, Hans Wollschläger [Hrsg.], Frankfurt a.M. 1987, S. 244). Zu Heideggers Annahme, das Sein sei das „Haus der Sprache“ vgl. ders., Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947, S. 53. 34 Goethe an Zelter, Brief vom 1. Juni 1809, S. 459. Gemeint ist Hirts Studie Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten, die 1809 in Berlin erschien. 35 Vgl. Michael Niedermeier, Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, ‚Gartenrevolution‘ in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, Berlin u.a. 1992, S. 64. 36 Vgl. ebd.: „alte gotische Kirche“.

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Gotik meint, wenn er von „deutscher Art und Kunst“ spricht, den Gotik-Begriff jedoch als genealogisch irreführend ablehnt und durch Synonyme ersetzt, zeigt bereits sein 1772/73 publizierter Aufsatz Von deutscher Baukunst, der in Herders gleichnamiger Sammlung erschien und auf den er hier anspielt.37 Ähnlich wie das dort behandelte Straßburger Münster den vor Ort eintreffenden Goethe zu quasireligiösen Gaben und existenziellen Einsichten inspirierte,38 die seinem „Enthusiasmus“ aus der „Gefühlsepoche“ entsprechen,39 wirkt auch die in den Wahlverwandtschaften beschriebene Kirche „noch immer ernst und angenehm auf den Betrachter“ (WV, 366). Beschränkte sich die hymnische Schilderung des Münsters jedoch auf dessen Fassade,40 wird in Goethes Roman die Innenarchitektur der Sakralbauten thematisiert. Obwohl es ursprünglich der Plan des Architekten war, „das Äußere sowohl als das Innere im altertümlichen Stil herzustellen“, konzentriert er sich nach der Entdeckung der kleinen „Seitenkapelle“ darauf, „besonders diesen engen Raum als ein Denkmal voriger Zeiten und ihres Geschmacks wiederherzustellen“ (WV, 366).41 Auch die Figur des Architekten,42 der als Stellvertreter des abwesenden Hausherren Eduard und des Hauptmanns agiert, frönt mithin der „Lust am Gestalten und Umgestalten“.43 Doch im Unterschied zu ihnen ist sein Interesse an dem Innenraum der gotischen Kirche dezidiert geschichtlich motiviert und hat sowohl ästhetische als auch religiöse Implikationen. So findet er noch „manchen geschnitzten und gemalten Rest jenes älteren Gottesdienstes“, des Katholizismus, der, wie es

37 Goethe, „Von deutscher Baukunst“, in: Frankfurter Ausgabe, Bd. 18, S. 110–118. Vgl. dazu meinen Aufsatz: „Die Architektur des Genies. Zu Goethes Essay Von deutscher Baukunst“, in: Goethe-Jahrbuch, Bd. 127 (2010), S. 95–106. 38 Vgl. Goethe: „Von deutscher Baukunst“, S. 111. 39 So charakterisiert Hofmannsthal die erste Schaffensphase Goethes, wie aus den frühen Notizen zum Deutschen Lesebuch (hrsg. von Hugo von Hofmannsthal, München [1922], 2., vermehrte Ausg. 1926) hervorgeht. Zitiert nach: Lorenz Jäger, „Tradition und Krise. Goethes Präsenz in Hofmannsthals Reden und herausgegebenen Werken nach 1912“, in: Seng (Hrsg.), Leuchtendes Zauberschloß aus unvergänglichem Material. Hofmannsthal und Goethe, S. 327–337, hier S. 330. 40 Zur Fassadenästhetik in Goethes Baukunst-Aufsatz vgl. Arburg, Alles Fassade, S. 187–199. 41 Es bedarf hier keiner weiteren Erläuterungen, um die Kontinuitäten und Differenzen zwischen beiden Texten Goethes und seinen divergierenden Einschätzungen der gotischen Architektur zu rekonstruieren. Schließlich ist in der Goethe-Philologie bereits hinlänglich dargestellt worden, wie aus seiner Sturm und Drang-Begeisterung im Kontext der italienischen Reise eine heftige Ablehnung und nach 1800 schließlich eine Akzeptanz der Gotik wird: Vgl. dazu jüngst Elena Pankova, „Goethes Wahrnehmung der Gotik in Theorie und Fiktion“, in: Kim (Hrsg.), Wechselleben der Weltgegenstände, S. 41–56. 42 Dafür, dass der Hanauer Calvinist Helfrich Bernhard Hundeshagen das reale Vorbild abgab, findet Tausch zahlreiche Indizien: Vgl. „Das unsichtbare Labyrinth“, S. 113–115 und S. 126. 43 Hofmannsthal, „Ferdinand von Saar, Schloss Kostenitz“, S. 485.

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anerkennend heißt, „mit mancherlei Gebild und Gerätschaft die verschiedenen Feste zu bezeichnen und jedes auf seine eigene Weise zu feiern wußte“ (WV, S. 366). Mit seiner Präferenz der Kunst aus vorreformatorischer Zeit orientiert sich der Architekt am Mittelalter, an derjenigen Epoche also, die auch bei seinen realen Zeitgenossen, den jungen Romantikern, auf besonderes Interesse stößt.44 Ihnen steht Goethes Roman, trotz anderweitiger Differenzen und Antipathien,45 durchaus nahe, wenn er die Möglichkeit evoziert, auch um 1800 noch an die mittelalterlich-kirchliche Vorstellungs- und Lebenswelt anzuknüpfen. Allerdings sollten auch die religionspolitischen und konfessionellen Implikationen der Restaurierung nicht vernachlässigt werden. Immerhin handelt es sich um den offensichtlichen Versuch, „die gotische Kirche in dieser protestantischen Gegend wenigstens weitgehend katholisch umzurüsten“, wie Michael Niedermeier bemerkt.46 Dieses Anliegen antizipiert das reale religiöse Erstarken, zu dem es vor allem nach dem Jahr 1815 kommt, wenn die architektonische Restaurierung häufig als Mittel der kirchlichen Restauration dient. Über die Reanimierung mittelalterlicher Stile möchte man der protestantischen Konkurrenz oder gar der drohenden Säkularisierung entgegenwirken und „jene altertümlich-sakrale Stimmung erzeugen, ohne welche die Kirche machtlos ist“.47 Der historische Baubestand interessiert hier als komplexer „Bedeutungsträger“, er erscheint nicht nur als „Symbol“ für Religion und Geschichte,48 sondern fungiert auch als Medium für das konkrete religiöse, ästhetische und historische Erlebnis. Dementsprechend speist sich die Lust des Architekten an der Restaurierung aus einer gedanklichen Rückprojektion in die Vergangenheit. Durch seine Sammlung, aus der er Charlotte und Ottilie „jeden Abend“ im Gespräch mittelalterliche Exponate präsentiert, wird „die Einbildungskraft gegen die ältere Zeit hin [gerichtet]“ (WV, 367). Weil zugleich „die Kirche täglich […] an Farbe und sonstiger Auszierung gleichsam der Vergangenheit entgegen“ zu wachsen scheint, fragt der auktoriale Erzähler, „ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sei, daß man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten, Lebensweisen und Überzeugungen verweile“ (WV, 367). Indem er die allseits herrschende temporale

44 Vgl. von Wiese, „Kommentar“, S. 722. 45 Vgl. zu diesem Themenkomplex: Walter Hinderer (Hrsg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik, Würzburg 2002. 46 Niedermeier, Ende der Idylle, S. 65. 47 Gustav Friedrich Hartlaub, „Zur Sozialpsychologie des Historismus in der Baukunst“, in: Ders., Fragen an die Kunst. Studien zu Grenzproblemen, Stuttgart 1953, S. 45–65, hier S. 61. Vgl. dazu auch Klaus Döhmer, „In welchem Style sollen wir bauen?“ Architekturtheorie zwischen Klassizismus und Jugendstil, München 1976, S. 98. 48 Dieter Dolgner, Historismus. Deutsche Baukunst 1815–1900, Leipzig 1993, S. 75.

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Verwirrung anspricht, werden das bereits vom Denkstein bekannte Motiv einander durchdringender Zeitebenen und Charlottes analoger Eindruck, „wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren“, reformuliert (WV, 365). Im Zuge des rückwärtsgewandten Blicks vermischen sich in den Wahlverwandtschaften offensichtlich Vergangenheit und Gegenwart.49 Diese „Gegenwart des Vergangenen“50 ist charakteristisch für den Historismus des langen 19. Jahrhunderts.51 Als „Denkform“52 stellt er die entscheidende mentalitätsgeschichtliche Voraussetzung für die Restaurierungsarbeiten im Roman dar und wird zugleich zur architektonischen Herausforderung, da es gilt, in Übereinstimmung mit vergangenen Zeiten und Stilen auch in der Gegenwart künstlerisch wertvolle Bauten zu schaffen. In diesem Kontext sind die geschilderten Restaurierungsarbeiten kulturgeschichtlich innovativ. Denn die Ausgestaltung der Kapelle antizipiert diejenige „ästhetische Kategorie“, die ab 1810 immer mehr „Einfluss auf die deutsche Bauszene“ gewinnt und von Kunsthistorikern retrospektiv mit dem Terminus des „Malerischen“ bezeichnet wird.53 Seit den 1820er Jahren bildet das ‚Malerische‘ einen wesentlichen Bestandteil des Gotikbegriffs;54 man führte „die herrlichen Werke der christlich-romantischen Baukunst des Mittelalters“ explizit auf die „Durchdringung des Plastischen mit dem Malerischen“ zurück.55 Um eine solche Verbindung bemüht sich auch Goethes Architekt, der die gotische Kapelle ausmalt und auf diesem Weg wiederherstellen möchte. Anstatt als ästhetische Kategorie zu fungieren und neue architektonische Formen zu generieren, wird das Malerische hier allerdings wörtlich genommen und den Restaurierungsarbeiten praktisch zugrunde gelegt. Getrieben von der „Lust am Gestalten und Umgestalten“ überschreitet der Architekt dabei seinen unmittelbaren Zuständigkeits-

49 Vgl. Niedermeiers analoge Beobachtung, Ende der Idylle, S. 65, und ebd., S. 66: „Die beiden Phasen der Zeitvergessenheit – die südlich-idyllische und die nordisch-gotische, stehen sich im Roman – wie auch die Kunst- und Baustile im zeitgenössischen Deutschland – nicht unvereinbar gegenüber. Sie schmelzen in dem Maße zusammen, wie auf dem Gut mehr und mehr eine idealisierte Vergangenheit nachgelebt wird, die eigene Zeit und mit ihr die sozialen Verhältnisse scheinbar außer Kraft gesetzt werden.“ 50 Katharina Grätz, Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe, Heidelberg 2006. 51 Vgl. Franz J. Bauer, Das „lange“ 19. Jahrhundert (1789–1917). Profil einer Epoche, Stuttgart 2004. 52 Friedrich Jäger, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, S. 21. 53 Döhmer, „In welchem Style sollen wir bauen?“, S. 56. 54 Vgl. ebd., S. 55f. Erst durch Viollet-Le-Ducs Gotikstudien Dictionaire raisonné de l’architecture française (1854–68) findet eine Neubewertung der Epoche statt und das Malerische wird als Konnotation der Gotik verabschiedet. 55 Döhmer, „In welchem Style“, S. 58 und S. 151.

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bereich und wird zum Dilettanten.56 Von anderswo mitgebracht hat er Umrisszeichnungen, die mittelalterliche Heiligenfiguren darstellen und ihm „als Vorlagen“ für das Ausmalen der Kapelle dienen. Obwohl dort also ursprünglich keine Figuren zu sehen waren, paust der Architekt nun mithilfe seiner Kartons Heiligenbilder ab und koloriert diese.57 Folglich geht es ihm weder um eine authentische Rekonstruktion der Innenarchitektur noch um künstlerische Innovation; seine ausschließliche Motivation besteht darin, den Kapellenraum „geschmackvoll auszuzieren“ (WV, 370), was ihm vor allem mithilfe der effektvoll gewählten Grundierung glückt. Seine Vorgehensweise zeugt speziell mit Blick auf Ottilie, die sukzessive zum Vorbild der gemalten Engelsfiguren gerät, von bemerkenswerter ästhetischer Subjektivität, ja geradezu von Unbekümmertheit im Umgang mit den Überresten der Vergangenheit. Bei der malerischen Ausgestaltung der Kapelle folgen das Mädchen und er eigenen geschmacklichen Vorlieben, sie intendieren farbliche Kontrastwirkungen der baulichen Bestandteile, wobei bestehende Pläne zugunsten spontaner Eingebungen revidiert werden (vgl. WV, 372). Ihre Restaurierungsarbeiten verdeutlichen ganz ähnlich wie der zuvor erörterte Ritus der Grundsteinlegung die unartikulierten zwischenmenschlichen Beziehungen der Figuren und die Omnipräsenz des Todes im Roman: Denn die entstehenden individuellen Physiognomien der Engelsgesichter illustrieren die heimliche Liebe des Architekten zu Ottilie und deuten auf ihren Tod in der Kapelle voraus. Angesichts der subjektiven Freiheiten, persönlichen Farbpräferenzen und scheinbar willkürlichen Planänderungen bei der Ausmalung mögen sich aus heutiger Perspektive berechtigte Zweifel einstellen, ob „das noch Wiederherstellung [ist]“.58 Die damit aufgerufene Frage der Authentizität erscheint indes mit Blick auf den zeitgenössischen Kontext von Goethes Roman inadäquat und anachronistisch, gab es doch um 1800 noch keine einschlägigen Erfahrungen im Umgang mit mittelalterlicher Architektur.59 Vielmehr gingen „Restaurierung und historisch lediglich inspirierte Nach- und Neuschöpfung […] fließend ineinander über“.60 Diese kreative denkmalpflegerische Praxis erklärt sich aus dem Primat, den der ästhetische Historismus gegenüber dem streng wissenschaftlichen Um-

56 Hofmannsthal, „Ferdinand von Saar, Schloss Kostenitz“, S. 485. Zum Dilettantismus-Problem, das für den Wahlverwandtschaften-Roman wie auch für Goethes Schaffen um 1800 allgemein von großer Bedeutung ist, vgl. Hans Rudolf Vaget, Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe. Praxis, Theorie, Zeitkritik, München 1971, insbes. S. 135–137 und S. 147–152. 57 Vgl. Wiese, „Kommentar“, S. 721. 58 Ebd., S. 721. 59 Zu einem ähnlichen Urteil kommt von Wiese in seinem Kommentar: vgl. Bd. 6, S. 721f. 60 Dolgner, Historismus, S. 74.

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gang mit den geschichtlichen Artefakten einnahm: „Historische Authentizität und archäologisches ‚in-situ‘-Denken sind – wenn schon bekannt – so doch dem ästhetischen unbedingt untergeordnet.“61 Nicht um Echtheit und historische Korrektheit, sondern um die Faszination des Vergangenen und die ästhetische Wirkung seiner Restaurierung geht es dem Architekten aus den Wahlverwandtschaften.62 Im Motiv der Kapelle und ihrer kreativen Wiederherstellung werden verschiedene Aspekte der Romanhandlung gebündelt, die auch Goethes publizistisch-essayistisches Œuvre nach 1800 durchziehen63 und die für den ästhetischen Historismus der Epoche wesentlich waren. Dessen Fixierung auf die Vergangenheit führte zu einem gesteigerten Interesse an historischen Bauwerken und ihrer Bewahrung, die Restaurierung alter Gebäude und Kunstgegenstände war dabei ein beliebter, wenn nicht gar der paradigmatische Modus, mit der allgegenwärtigen Geschichte praktisch umzugehen. Konkrete Fragen zur stilgerechten Wiederherstellung vermischten sich indes mit wirkungsästhetischen und kunstpädagogischen Absichten, so dass in der Restauration architekturtheoretische und handwerkliche, kunsthistorische und künstlerische, mentalitätsgeschichtliche und religiöse Implikationen in einer ebenso brisanten wie aufschlussreichen Gemengelage kulminieren. In den Wahlverwandtschaften veranschaulicht Goethe diese epistemologische Konstellation am Beispiel der Malerarbeiten in der Seitenkapelle, deren unsachgemäß anmutende Ausführung auch die ihm wichtige Problematik des Dilettantismus evoziert. Außerdem deutet der Roman bereits auf Goethes persönliches Engagement für die Erhaltung mittelalterlicher Bauwerke hin, dem er in den folgenden Jahren in Kontakt mit Sulpiz Boisserée nachgeht.

61 Döhner, „In welchem Style sollen wir bauen?“, S. 77. 62 Seine Absicht deckt sich durchaus mit der Wirkungsästhetik und historistischen Gesinnung, die Goethe selbst zum Zeitpunkt der Romanabfassung vertritt: Vgl. diesbezüglich seine euphorische Rezension der 1808 erschienenen Lithografien von Randzeichnungen Albrecht Dürers zum Gebetsbuch des Kaisers Maximilian (Goethes Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814, Christoph Siegrist u.a. [Hrsg.], München 1987, S. 603). 63 Vgl. zu diesen Aufsätzen und Essays: Bisky, Poesie der Baukunst, insbes. S. 291f.; Arburg, Alles Fassade, S. 199–206; Jan Büchsenschuß, Goethe und die Architekturtheorie, Hamburg 2010, S. 133–194.

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IV Goethe, Hofmannsthal und die Architektur Architektur hat Goethe nahezu lebenslang beschäftigt und verschiedentlich Eingang in sein Werk gefunden. Die publizistisch-essayistischen Texte mit expliziten Äußerungen zur Baukunst und zu konkreten Bauwerken wurden bereits mehrfach in kulturgeschichtlichen und philologischen Einzelanalysen erschlossen und auf eine Architekturtheorie Goethes hin untersucht.64 Sein im engeren Sinne literarisches Œuvre hingegen harrt noch einer solchen Erschließung und interpretatorischen Durchdringung, die als Desiderat der Forschung gelten müssen, wenn man der Hypothese folgt, dass sich der Schriftsteller Goethe vor allem „für die Funktion interessiert haben dürfte, die die Architektur für seine Poetik übernehmen könnte“.65 Dazu gehört die Bautätigkeit der Romanfiguren, ihre „herrische Lust am Gestalten und Umgestalten“, die hier im Ausgang von Hofmannsthals Bemerkung zu den Wahlverwandtschaften exponiert, kontextualisiert und analysiert wurde.66 ‚Gestalten und Umgestalten‘, Bauen und Restaurieren, erwiesen sich dabei als komplementäre Modi, um das im Roman und seiner Epoche dominante Thema der Zeitlichkeit zu veranschaulichen. Über seine Goethe-Rezeption hinaus dürfte das Zitat indirekt auch auf Hofmannsthals eigenes Frühwerk verweisen und einen Schlüssel zu diesem bieten. Denn nur ein Jahr nach seiner Äußerung über „ein Leben im Stil der ‚Wahlverwandtschaften‘“67 notiert er im Tagebuch: „Eine naive Kosmogonie schreiben: der Demiurgos (Platon, Timäus) als Handwerker, wie er in das Gerüste der Himmel die Welt einbaut.“68 Diese Bemerkung ist durchaus als poetologisches Programm zu verstehen. Auch der junge Hofmannsthal will „die Welt der Worte“ in die bestehende Ordnung baulich integrieren, wie ein Brief an Richard BeerHofmann zeigt, dem er am 15. Mai 1895 schreibt: „Ich glaub’ immer noch, dass ich imstand sein werde, mir meine Welt in die Welt hineinzubauen.“69 Inwiefern ihm diese demiurgische Anstrengung gelungen ist, wäre anhand von Hofmannsthals

64 Mit systematisch-werkübergreifendem Anspruch zuletzt von Büchsenschuß, Goethe und die Architekturtheorie. 65 So Hans-Georg von Arburg in seiner Rezension der zuvor genannten architekturtheoretischen Studie von Büchsenschuß, in: Goethe-Jahrbuch, 127/2010, S. 313–315, hier S. 315. 66 Hofmannsthal, „Ferdinand von Saar, Schloss Kostenitz“, S. 485 67 Ebd. 68 Hofmannsthal, Tagebuch, März 1893, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10: Reden und Aufsätze III (1925–1929), Aufzeichnungen, S. 356. 69 Hofmannsthal an Richard Beer-Hofmann, Brief vom 15. Mai 1895, in: Hofmannsthal, Briefe 1890–1901, Berlin 1935, S. 130f., hier S. 130.

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Œuvre zu untersuchen, für das Architektur ähnlich wie für Goethes Werk von immenser Bedeutung erscheint.70

70 Zu Hofmannsthals Interesse an der Architektur und zu ihrer Präsenz vom Früh- bis zum Spätwerk fehlt eine systematisch-monografische Studie. Instruktive, aber verstreute Hinweise bieten derzeit Carlpeter Braeggers Dissertation (Das Visuelle und das Plastische. Hugo von Hofmannsthal und die bildende Kunst, Bern/München 1979, S. 61–86) und sein enzyklopädisches Glossarium zur Architektur, wie sie im Buch steht (Baden 1991). Anregungen und thematische Einblicke geben ferner seine Aufsätze: „Palladio und der Kaiser von China. Die ‚Rotonda‘ im Hermetismus der Jahrhundertwende“, in: Katharina Medici-Mall (Hrsg.), Fünf Punkte in der Architekturgeschichte, Stuttgart 1985, S. 10–33; „Die höchste Terrasse. Bau-Metaphorik und Architektur-Fiktion bei Hugo von Hofmannsthal“, in: Ders. (Hrsg.), Architektur und Sprache, München 1992, S. 49–78. Weitere Studien zu Teilaspekten liegen meines Wissens nur vor von: Uwe Henning: „Die Torsi der Rotonda – Symbole natürlichen Zerfalls oder Denkmale des Risorgimento? Überlegungen zu Hugo von Hofmannsthals capriccio palladiano Sommerreise/Die Rotonda des Palladio (1903/1919)“, in: Ursula Renner/G. Bärbel Schmid (Hrsg.), Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen, Würzburg 1991, S. 261–283; Ursula Renner, „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten, Freiburg i.Br. 2000, S. 326–337 (Kap. „Palladios Traumbühne“).

Sabina Becker, Freiburg

Flanerie und Architekturbeschreibung Die Stadtlektüren Franz Hessels Architektur ist in vielen Fällen Stadtarchitektur und Stadtbebauung; daher liegt es nahe, sich der Wechselseitigkeit von Literatur und Architektur über den Zusammenhang von Literatur und Stadt zu nähern, wird letztere doch entscheidend durch die städtische Baukunst bestimmt. Die Verbindung von literarischer und städtischer Moderne oder, anders formuliert, die Auswirkungen der Urbanisierung auf den Prozess der ästhetischen Modernisierung sind gut erforscht – hier sei u.a. an die Arbeiten von Karl Riha, Volker Klotz, Michael Bienert und auch an meine eigene Studie zu Urbanität und Moderne erinnert.1 Allerdings hat die Relevanz von Architektur wie auch der Architektonik der Städte für die Literatur und speziell für eine Ästhetik der Moderne innerhalb des Forschungsfeldes ‚Stadt und Literatur‘ zu wenig Beachtung gefunden, Städte jedoch konstituieren sich über ihre Architektur und ihre gesamte städtebauliche Planung. Und geht man von der Vorstellung der „Stadt als Text“2 aus, so ist Architektur innerhalb des städtischen Textes ohnehin als Zeichen oder Schrift zu lesen und mit dem literarischen Text in Bezug zu setzen. Dieser Idee von der Lesbarkeit der Stadt über ihre architektonische Physiognomie kommt in den 1920er Jahren vor allem in der Praxis und Literatur der städtischen Flanerie eine herausgehobene Bedeutung zu, besitzt sie nicht gar eine signifikante, epochenprägende Relevanz. Denn im Umfeld der Neuen Sachlichkeit wird nicht nur jene von Heinrich Heine eröffnete Tradition einer gesellschaftsanalytischen Flanerie fortgeführt, sondern zugleich die auf eine Formel Victor

1 Karl Riha, Die Beschreibung der ‚Großen Stadt‘. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur (ca. 1750–1850), Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970; Volker Klotz, Die erzählte Stadt, München 1968; Michael Bienert, Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Stuttgart 1992; Sabina Becker, Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930, St. Ingbert 1993. – Nahezu alle Arbeiten knüpfen an Charles Baudelaire, den Vater der Moderne an: Im Paris der 1860er Jahre auf der Schwelle der Moderne stehend erkennt Baudelaire, dessen literarisches Werk heute als Beginn der Moderne angesehen wird, dass „une poesie ‚moderne‘ ne peut être en effet […] qu’une poésie ‚urbaine‘, directement issue de la Fréquentation des villes énormes dont se XIXème siècle a vu le développement monstrueux aller s’accélérant“ (Suzanne Bernard, Le poème en prose de Baudelaire jusqu’à nos jours, Paris 1959, S. 105). 2 Manfred Smuda (Hrsg.), Die Stadt als Text, München 1992.

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Hugos zurückgehende Metapher vom Lesen der Stadt aktualisiert.3 In seinen Prosaskizzen Spazieren in Berlin von 1929 erklärt z.B. der in Paris und Berlin beheimatete Autor Franz Hessel, wie beim Flanieren die Straße, die Stadt und damit auch die Architektur der Stadt zur Lektüre werden.4 Die Flanerie definiert er als eine ‚Straßenlektüre‘; in ihr wird die Stadt zu einem Text, der mannigfaltige Lesarten zulässt. Der Hesselsche Flaneur liest „die Straße wie ein Buch“, heißt es im Feuilleton Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen, und die Architektur wie dessen Buchstaben: „er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut“.5 Die städtischen Texte bzw. Stadt-Bücher werden im Zuge des Flanierens konzipiert und verfertigt, es entsteht ein „Dreiklang“ aus „Gehen-Sehen-Schreiben“:6 Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.7

Folgt man dieser Analyse Franz Hessels, so lässt sich der Zusammenhang zwischen Literatur und Architektur, zwischen Buchkunst und Baukunst, zumindest für das 19. und frühe 20. Jahrhundert sinnvoll über die städtische Flanerie nachweisen: Der Flanerie im urbanen Raum, verstanden als soziokulturelle Praxis wie

3 Als einer der ersten beschrieb Victor Hugo Architektur und Baukunst als eine besondere Form von Schrift, als eine Art ‚Einschreibung‘ des Menschen in den Raum. Die Kathedrale von „NotreDame“ will Hugo als ein Buch der Geschichte und der Kultur einer Gesellschaft verstanden wissen, als eine „Chronik aus Stein“ – so seine Formulierung, die die später wirkende Vorstellung von der Lektüre der Stadt und der sprechenden Architektur bereits umriss. Vgl. Victor Hugo, Notre-Dame de Paris [1482], Paris 1967, S. 155: „Ce n’était pas alors seulement une belle ville; c’était une ville homogène, un produit architectural et historique du moyen âge, une chronique der pierre.“ – Vgl. hierzu auch den Beitrag von Sonia Goldblum in diesem Band. – Doch es sind im 19. und 20. Jahrhundert vor allem der Flaneur und das von ihm etablierte Genre der literarischen Flanerie, mit dem die Idee von der Lesbarkeit der Stadt über ihre architektonische Physiognomie an Bedeutung gewinnt. 4 Vgl. Franz Hessel, Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. III: Städte und Porträts, Hartmut Vollmer (Hrsg.), Oldenburg 1999. 5 Franz Hessel, „Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen“, in: Die Horen, 45/2000, 4, (= Themenheft: Der Flaneur und die Memoiren der Augenblicke), S. 46–49, hier S. 47. 6 Lothar Müller, „Peripathetische Stadtlektüre. Franz Hessels ‚Spazieren in Berlin‘“, in: Michael Opitz/Jörg Plath (Hrsg.), ‚Genieße froh, was du nicht hast‘. Der Flaneur Franz Hessel, Würzburg 1997, S. 75–104, hier S. 78. – Vgl. auch Stefanie Proske (Hrsg.), Flaneure. Begegnungen auf dem Trottoir (mit Texten von Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire, Walter Benjamin, Franz Hessel, Christoph Bauer und Cees Nooteboom u.a.), Frankfurt a.M. 2010. 7 Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Leipzig/Wien 1929. Zitiert nach der Ausgabe Franz Hessel, Spazieren in Berlin. Mit einem Nachwort von Janos Frecot und 24 Photographien der Zeit, München 1968, S. 131 (Berlins Boulevards). Im Folgenden im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert.

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als literarische Ästhetik gleichermaßen, ist ein Bezug zur architektonischen Anlage und Beschaffenheit der Stadt immanent. Die städtischen, auch baulichen Zeichen offenbaren sich dem Flaneur mit einem steten urbanen, historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der Moderne und lassen sich genau darüber als eine Art Geschichte eben dieser städtischen Moderne lesen. Der Flaneur begibt sich in die städtische Zeichenwelt, als eine genuin urbane Figur ist er daher längst als ein paradigmatischer Typus der Moderne beschrieben,8 noch für gegenwärtige Urbanitäts-Debatten, die die Wiederkehr der Flaneure bzw. der Flanerie diagnostizieren, besitzt er Bedeutung.9 Neben dem Proust-Übersetzer Hessel schreiben u.a. Joseph Roth, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Gabriele Tergit, letztere als eine der wenigen Vertreterinnen einer weiblichen Flanerie, so genannte „Straßentexte“,10 die von der Idee der ‚Lesbarkeit der Stadt‘ und dem Lesen des städtischen Zeichenraums ihren Ausgang nehmen:11 Alltagsbegebenheiten und -gegenstände werden beobachtet, Weihnachtsbuden, Kaufhäuser, Zirkusvorstellungen, Lunaparks, Cafés, aber eben auch U-Bahnhöfe, Straßen (bei Kracauer), Eisenbahnunterführungen (Roths Gleisdreieck), Gebäude, Bauwerke, Orte (Benjamins Tiergarten; Kracauers Lindenpassage oder Wärmehallen) und Denkmäler (Hessels und Benjamins Siegessäule), sind in ihnen beschrieben, kurz: die architektonische Physiognomie einer Stadt wird flanierend und beobachtend erfasst, oder – so die neusachliche Terminologie Kracauers, die Epoche wird über ihre „Oberflächenerscheinungen“12

8 So etwa in der Studie von Harald Neumeyer, Der Flaneur. Konzeption der Moderne, Würzburg 1999. 9 Vgl. dazu etwa Sylvia Stöbe, Der Flaneur und die Architektur der Großstadt. Der Flaneur als Mythos und als Phantasmagorie der Moderne. http://www.uni-kassel.de/fb6/stoebe/Flaneur.pdf [Stand: 17.02.2013]; Peter Sprengel (Hrsg.), Berlin-Flaneure. Stadt-Lektüre in Roman und Feuilleton 1910–1930, Berlin 1998; Rolf J. Goebel, Benjamin heute. Großstadtdiskurs und Flanerie zwischen den Kulturen, München 2001; Matthias Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion, Würzburg 2006. 10 Vgl. auch Franz Hessel, „Die Kunst spazieren zu gehen“, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 68–73; Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt a.M. 2009; Ders., Berliner Nebeneinander. Ausgewählte Feuilletons 1930–1933, Andreas Volk (Hrsg.), Zürich 1996. 11 Vgl. Smuda, Die Stadt als Text. – Zu denken wäre aber auch an die Stadt als Zeichenraum im Sinne Roland Barthes’. Zugleich ist auch der Flaneurtext ein Textraum. Vgl. hierzu: Andreas Mahler, „Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg 1999, S. 11–36; Stephanie Gomolla, Distanz und Nähe. Der Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne, Würzburg 2009; Dies., Lesbare Architektur und architektonischer Text. http://www. metaphorik.de/02/gomolla.pdf. (Stand: 17.02.2013). 12 Siegfried Kracauer, „Das Ornament der Masse“ [1927], in: Ders., Schriften, Bd. 5/2: Aufsätze 1927–1931, Inka Mülder-Bach/Ingrid Belke (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1990, S. 57–67, hier S. 57: „Der

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charakterisiert, essentielle Aussagen über Gesellschaft und Epoche werden ihrer Oberfläche abgelesen, werden also über optisch-visuell Erfassbares und so vor allem über bauliche Attraktionen statt über erzählte Geschichte und fiktionale Geschichten nachgezeichnet.13 Der Flaneur verlässt sich auf seine Eindrücke und auf Gesehenes, als eine Art Katalog sind immer wiederkehrende Bilder und architektonische Fixpunkte zu lesen, die zusammengenommen ein „Bilderbuch in Worten“ ergeben – so der Ankündigungstext der Erstausgabe von Hessels Spazieren in Berlin.14 Die Flaneurliteratur der Weimarer Republik ist daher eine dezidiert optische Kunst, vor allem Hessel hat diesen Aspekt in seiner Vorschule des Journalismus hervorgehoben: „Nur was uns anschaut, sehen wir“, heißt es in diesem Pariser Tagebuch.15 Primär mit der Etablierung der Stadt als literarischem Motiv wie auch über die kulturelle und literarische Aneignung des städtischen Raums im Zuge der Flanerie werden die optisch codierte Orientierung im Raum sowie die visuelle Aneignung des Raums betrieben: Dieser Prozess trug wesentlich zur spezifischen Kontur der ästhetischen Moderne bei, die Moderne im 20. Jahrhundert ist visualisiert, sie ist visuell, der Bedeutung von Film und Fotografie, aber eben auch der der Architektur ist dieser Prozess der Visualisierung ablesbar. In der (literarischen) Flanerie wird der Raum optisch erfasst, aus einer solchen visuellen Dimension erklärt sich die gemeinsame Basis von (Flaneur)-Literatur und Architektur, geht es doch beiden Kulturformen oder Medien der Moderne um die Oberfläche. In der Literatur der 1920er Jahre wird diese Konzentration auf die Oberfläche aus neusachlichen Postulaten wie Bericht, Beobachtung, gesellschaftliche Relevanz und soziale Präsenz oder Aktualität von Literatur erklärbar, Vergleichbares ließe sich über die funktionale Idee des ‚Neuen Bauens‘ und über die Bauhausarchitektur der Weimarer Republik sagen.16

Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenerscheinungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“ 13 Vgl. hierzu Gert Ueding, „Franz Hessel“, in: Ders., Die anderen Klassiker. Literarische Portraits aus zwei Jahrhunderten, München 1986, S. 226–240. 14 Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Leipzig/Wien 1929, Erstausgabe Schutzumschlag: „Ein Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehen, ganz nah dem Zauber der Stadt, von dem sie selbst kaum weiß. Ein Bilderbuch in Worten.“ – In der Ausgabe von 1968 ist die Bezeichnung als Bilderbuch im Klappentext zitiert. 15 Franz Hessel, „Vorschule des Journalismus. Ein Pariser Tagebuch“, in: Ders., Nachfeier, [Berlin 1929]. Zitiert nach: Franz Hessel, nur was uns anschaut, sehen wir. Ausstellungsbuch, Ernest Wichner (Hrsg.), Berlin 1998, S. 101. 16 Vgl. hierzu Norbert Huse, Neues Bauen 1918 bis 1933. Moderne Architektur in der Weimarer Republik, 2., überarbeitete u. erweiterte Auflage, Berlin 1985.

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Entstanden ist der Flaneurtypus bekanntlich in Paris, in der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“,17 diese „schuf“ laut Benjamin den „Typus des Flaneurs“.18 Und er ist dort vor allem mit den Passagen verbunden, sie sind ihm seine „Wohnung“19 bzw. seine „Stube“.20 Bleiben in Paris allerdings Flaneurkunst und literarische Flanerie an das 19. Jahrhundert und an die Welt der überdachten Ladengalerien gebunden, so ist deren Bedeutung für die Berliner Flanerie eher sekundär. Der fundamentale, bislang zu wenig herausgearbeitete Wandel zwischen Paris und Berlin ist nun gerade an diesem gänzlich verschiedenen Stellenwert der Passagen aufzuzeigen – im Übrigen wäre dabei zugleich auf die abweichende Flaneurkonzeption im Werk Benjamins selbst hinzuweisen, und zwar auf den Unterschied zwischen den Flaneurtexten der Berliner Kindheit und der Einbahnstrasse auf der einen und dem Paris zugewandten Werk über die Pariser Passagen auf der anderen. Die Differenz Paris – Berlin ist sinnvoll über die Kategorien des Außen- und Innenraums, des Öffentlichen und Privaten zu benennen. Der Flaneur im Stil Charles Baudelaires, wie Benjamin ihn im Passagenwerk zu fassen suchte, eignet sich den Außen- als Innenraum an. Dabei ist er vornehmlich auf die Passage angewiesen, auf einen hybriden Zwischenraumtypus oder auf eine hybride Konstruktion zwischen Außen und Innen, zwischen öffentlichem und privatem und nicht zuletzt zwischen Muße-Raum und verdichtetem Warenumschlagsplatz, in dem doch die Langsamkeit dominieren soll. Die Passagen sind ein halböffentlicher Ort, ein, wie Benjamin es bezeichnete, „Mittelding zwischen Straße und Interieur“.21 Sie sind auf privatem Grund gebaut, sind Eigentum von Privatleuten, und sie wurden zwecks der Vermarktung von Waren öffentlich zugänglich gemacht. Sie sind, wie der Flaneur, eine Art Paradox, weder öffentlich noch privat, weder ganz Straße noch abgeschlossener Innenraum, doch gefangen im sich selbst spiegelnden Rückzugsort. Benjamin wollte diese Hybridität über die Spiegelmetapher erfassen:

17 Walter Benjamin, „Paris – die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ [Exposé zum Passagenwerk], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V/I: Das Passagen-Werk, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1982, S. 45–59. 18 Walter Benjamin, „Die Wiederkehr des Flaneurs. Rezension zu Franz Hessels Spazieren in Berlin [1929]“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, Hella Tiedemann-Bartels (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1972, S. 194–199, hier S. 195. 19 Ebd., S. 194. 20 Benjamin, Das Passagenwerk, S. 53 und S. 525. 21 Walter Benjamin, „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1974, S. 509–690, hier S. 539.

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Wie Spiegel den freien Raum, die Straße, in das Café hineinnehmen, auch das gehört zur Verschränkung der Räume – dem Schauspiel, dem der Flaneur unentrinnbar verfallen ist. […] Paris ist die Spiegelstadt. Spiegelglatter Asphalt seiner Autostraßen, vor allen Bistros gläserne Verschläge. Ein Überfluß von Scheiben und Spiegeln in den Cafes um sie innen heller zu machen […].22

Trifft Benjamins Diagnose zu, so ergibt sich wiederum ein fundamentaler Unterschied zwischen Paris und Berlin, zwischen der Moderne im bürgerlichen Zeitalter und der des 20. Jahrhunderts, zwischen Spiegel und Visualität, zwischen ‚Gesehen werden‘ und Wahrnehmen. Benjamin beschäftigte sich erstmals in Zusammenhang mit seiner Lektüre von Louis Aragons Roman Un paysan de Paris von 1926 mit der Flaneurthematik, hierbei stößt er zugleich auf das Passagenthema, das ihn fortan bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen wird. Allerdings kam die ursprüngliche Anregung offenbar von seinem Freund Franz Hessel: Zusammen haben Benjamin und Hessel sich jedenfalls dem Passagen-Projekt zugewandt, gemeinsam verfassten sie einen ersten Entwurf für einen Essay zu den Pariser Passagen für den Querschnitt; erschienen ist dieser Aufsatz nie, doch er war der Ausgangspunkt für Benjamins Passagenwerk.23 Aber eben auch für den Hesselschen Flaneur in Berlin. In der im 19. Jahrhundert zu spät gekommenen Metropole spielen die für den Pariser Flaneur wichtigen Passagen keine allzu große Rolle mehr. Denn zwar verläuft die Entwicklung Berlins zur Großstadt vor 1900 schleppend und verzögert; doch spätestens nach 1900 wächst sie und verändert sich mit einer beispiellosen Geschwindigkeit. In den 1920er Jahren war das Gesicht der ehemaligen preußischen Residenzstadt bis auf einige Baudenkmäler und Wohnhäuser fast vollkommen verschwunden. Zusammen mit einer amerikanisch motivierten Traditionslosigkeit und einer bis dahin nicht gekannten Beschleunigung des städtischen Betriebs prägt die umfassende architektonische Veränderung der Stadt die literarische Flanerie: Das Verschwinden und die Neuentstehung großer Teile der Stadt bleiben nicht ohne Einfluss auf das Genre. Indem sich vor allem die neuen Kaufhäuser in der Gegend um den Alexanderplatz und die Leipzigerstraße ansiedelten, verschiebt sich im Zuge dieses Wandels von der preußischen Hauptstadt zur Reichshauptstadt, Industriemetropole und größten Mietskasernenstadt der Welt das Zentrum Berlins vom Tiergartenviertel, dem ‚Alten Westen‘ – in dem Benjamin und Hessel ihre Kindheit verbrachten – in den sogenannten ‚Neuen Westen‘; diese Verschiebungen und die für sie paradigmatischen Orte sind so-

22 Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. V/2, S. 666f. 23 Ein Abdruck findet sich in Benjamin, Das Passagenwerk, Bd. IV/2: Kleine Prosa. BaudelaireÜbertragungen, S. 1041–1048.

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dann die zentralen Themen ihrer Großstadtfeuilletons, wie ein roter Faden zieht sich durch die Flaneurtexte Hessels und Benjamins zudem die Spurensuche nach der Vergangenheit, nach der Kindheit in Berlin eben. Diese Erinnerung des Vergangenen nimmt in ihrer Funktion einer Vergegenwärtigung der städtischen Gegenwart stets von architektonischen Versatzstücken ihren Ausgang.24 Solchen markanten räumlichen und architektonischen Veränderungen entsprechend variiert die Berliner Flanerie der 1920er Jahre die Raumgebundenheit der Pariser Flaneurkunst. Hessel, Kracauer und auch der Benjamin der Berliner Kindheit und Berliner Chronik erweitern den räumlichen Radius ihrer Flaneure und flanierenden Erzählerfiguren. Berlin ist die, so heißt es in den 1920er Jahren, „schnellste Stadt der Welt“,25 sie zeichnet sich durch eine Dynamik und Präsenz aus, die die geringe Bedeutung der Passagen zur Folge hatte, vor allem, weil der Flaneur nun im Unterschied zu Baudelaires die Beschleunigung akzeptiert: die Flanerie findet in Berlin im städtischen Außenraum ihre eigentliche topografische Realisation. Im Zuge dieser Verortung der Flanerie inmitten des metropolitanen, öffentlichen Raums kommt es zum einen zur Dynamisierung der Figur selbst, der Flaneur setzt sich in Bewegung, die Flaneurtexte sind sodann bestimmt durch das städtische Prinzip der Bewegung, der Dynamik, des Fragmentarischen und entsprechend durch Reihung und eine lockere Struktur; zum andern ist eine Aufwertung der Architektur der Stadt zu konstatieren, die etwa der markanten Bedeutung des Stadtplans wie auch der engen Verzahnung der städtischen Struktur mit der Textstruktur bei Kracauer und Hessel ablesbar ist: Die Stadtarchitektur wird zum Gliederungsprinzip ihrer Stadtbücher.26 Die Flaneure Hessel, Kracauer, Roth und auch Benjamin, verstanden als Autorentypen wie als literarische Figuren, nehmen die Stadt als urbanen und öffentlichen Außenraum wahr, folglich sind sie nicht mehr auf die Passage angewiesen; diese ist, so die Formulierung Hessels und Benjamins, bereits „raumgewordene Vergangenheit“.27 Mit Blick auf derartige Verschiebungen ist die Flanerie der beiden europäischen Metropolen also kontrastiv zu untersuchen: Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, ist die Geburtsstadt des Flaneurs,

24 Der Konnex von Architektur und Erinnerung ist für Benjamins und Hessels Schreiben konstitutiv, er kann hier aber nicht weiterverfolgt werden. 25 Vgl. Bodo-Michael Baumunk, „Die schnellste Stadt der Welt“, in: Gottfried Korff/Reinhard Rürup (Hrsg.), Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt, Berlin 1987, S. 459–472, hier S. 459. 26 Hierbei wäre sicherlich der theoretische Zugang des sogenannten ‚mental mapping‘ für eine Analyse fruchtbar zu machen. – Vgl. stellvertretend Roger M. Downs/David Stea, Maps in Minds – Reflections on Cognitive Mapping, New York 1977. 27 Benjamin, Passagenwerk, Bd. V/2, S. 1041.

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Abb. 1: Innenansicht der Kaisergalerie, Berlin, Fotografie von Hermann Rückwardt, 1881.

doch Berlin als die Metropole des 20. Jahrhunderts, ist der Ort, an dem die Flanerie sich neu erfindet. Dabei verlässt der Flaneur den Kosmos der Passagen und macht sich auf in die Weite der Metropole, die nun in ihrer Gesamtheit wahrgenommen wird.28 Nicht nur die Stadt, auch die Architektur bestimmt seine Flanerie, die architektonisch markanten Punkte lenken seinen Gang durch die

28 Siegfried Kracauer etwa, als Flaneur in Paris unterwegs, macht sich auf in die städtische Welt außerhalb der überdachten und geschützten Ladenstraßen: „Straßen gibt es in allen Städten. Während sie aber sonstwo aus Trottoirs, Häuserreihen und leicht gewölbten Asphaltflächen bestehen, spotten sie in Paris der Zerlegung in die verschiedenen Elemente. Was immer sie seien: enge Schluchten, die in den Himmel einmünden, ausgetrocknete Flußläufe und blühende Steintäler – ihre Bestandteile sind ineinandergewachsen wie Glieder von Lebewesen. Oft fließen die Seitenwände und Pflasterböden unmerklich zusammen, und ehe er sich’s versieht, gerät der Träumende wie zu ebener Erde über senkrechte Mauern bis zu den Dächern und weiter, immer weiter ins Dickicht der Schornsteine hinein“ (Siegfried Kracauer, „Erinnerung an eine Pariser Straße“, in: Ders., Straßen in Berlin und anderswo, S. 9–16, hier S. 9f.).

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Metropole. Mit Franz Hessel betritt im Jahr 1927, nach seiner Rückkehr aus Paris, erstmals der Typus des durch die französische Kultur geprägten Flaneurs Berliner Terrain. Umgekehrt betritt er eine „Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden, ist“, wie es in Hessels Buch Spazieren in Berlin heißt (S. 14: „Ich lerne“). Hessels Flaneur formuliert ein entsprechendes Programm: Er möchte die Vergangenheit und die Zukunft Berlins gleichermaßen im Blick behalten. Mit diesem Vorsatz gewinnen Architektur und die architektonische Gestaltung der Stadt an Bedeutung, die Passage spielt dabei lediglich noch eine sekundäre Rolle. Hessels Flaneur ist die nach „dem Vorbild der Pariser Passagen erbaute Kaisergalerie“ in der Friedrichstraße „jedenfalls schon“ „[h]istorisch“ (S. 221). Sie wird dem Abriss preisgegeben, Flanieren ist in ihr nicht mehr möglich, vielmehr führen die Berliner Ladengassen den Untergang des 19. Jahrhunderts plastisch vor Augen, „die Gläser dieser Galerie verdüstert der Staub der Zeiten“ (S. 222), die in der Passage ausgelegte Ware ist veraltet, die Allianz von Trödel, Pornographie und Prostitution versinnbildlicht diesen Untergang: Leer ist die ganze Mitte der Galerie. Rasch eile ich dem Ausgang zu und spüre gespenstisch gedrängte Menschenmassen vergangener Tage, die alle Wände entlang mit lüsternen Blicken am Similischmuck, Wäsche, Photos und lockender Lektüre früherer Basare hängen. Bei den Fenstern des großen Reisebüros am Ausgang atme ich auf: Straße, Freiheit, Gegenwart! (S. 224)

Mit dem Verlassen der Passagen gewinnt einerseits der Flaneur also Bewegungsfreiheit im städtischen Raum, die Stadt insgesamt wird der Ort seiner Flanerie. Andererseits generiert die Flanerie bzw. der Flaneur architektonische Räume, das sich ganz der Architektur überlassende Flanieren ist sozusagen die Ausführung und Ausübung der Architektonik der Stadt. So ist der in den Straßen beheimatete Flaneur nicht nur die ideale Besetzung inmitten der städtischen Szenerie oder des „Schauspiels der Flanerie“29 – von dem Benjamin in seiner Rezension von Hessels Buch spricht –, sondern zugleich derjenige, der sich die architektonische Dimension von Stadträumen zunutze und so zugleich bewusst macht. Der Flaneur durchstreift die Stadt, er folgt damit jenem Muster der „promenade architecturale“,30 von der Le Corbusier gesprochen hat, und wird so zugleich von der städtischen Topografie und Architektur gelenkt. Ähnlich wie bei Kracauer verfolgt auch Hessels

29 Benjamin, Die Wiederkehr des Flaneurs, S. 194. 30 Le Corbusier, 1942. Zitiert nach: Flora Samuel, Le Corbusier and The Architectural Promenade, Basel 2010: „Architecture is experienced as one roams about in it and walks through it […] So true is this that architectural works can be divided into dead and living ones depending on whether the law of roaming through has not been observed or whether on the contrary it has been brilliantly obeyed.“

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Flaneur die „Analyse eines Stadtplans“31 und betreibt zugleich eine „urbane Ethnographie“ bzw. „Ethnographie des Städtischen“.32 Über eine sich an der Architektur und architektonischen Beschaffenheit der Stadt orientierende Flanerie taucht der Flaneur in die „Welt der Wirklichkeit“ ein, über die „Instanzen am unerwarteten Ort“ hält er stets den Kontakt zur Gegenwart,33 die (im Sinne der neusachlichen Programmatik gedachte) soziologische Konzentration auf die Oberfläche verpflichtet ihn zugleich auf die architektonische Fläche und Fassade. Das, wie Kracauer sagt, „Photographiergesicht“34 der Moderne erfordert diesen Oberflächenblick und die Oberflächenanalyse. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Architektur ohnehin in den 1920er Jahren eine Vorbildfunktion übernimmt, die Gesellschaft dieses Jahrzehnts folgt in vielem den architektonischen Modernisierungsansätzen, die innovative Kultur von Weimar wird maßgeblich von den Ideen des neuen Bauens beeinflusst. Sie orientiert sich an den Innovationen der Städteplaner und Architekten, ebenso die Literatur. Gerade die Ausrichtung der neuen respektive neusachlichen Bauhausarchitektur und die Ideen eines sachlichen, ornamentfreien Baustils wie auch die Forderung nach der Orientierung am Material und der Funktionalität – so die Postulate des Architekten Hermann Muthesius35 – finden sich in der neusachlichen Forderung nach einer „Materialästhetik“, wie sie etwa Erik Reger perspektivierte;36 weiterhin in Kracauers Versuchen einer materialen Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit,37 den Materialisierungstendenzen von Literatur und Kunst im Sinne Bertolt Brechts oder in Walter Benjamins

31 Kracauer, „Analyse eines Stadtplans“, in: Ders., Straßen in Berlin und anderswo, S. 16–19. 32 Vgl. Philippe Despoix, „Zwischen urbaner Ethnographie und Heuristik des Films. Kracauers kinematographischer Blick auf die Stadt“, in: Christine Holste (Hrsg.), Siegfried Kracauers Blick. Anstöße zu einer Ethnographie des Städtischen, Hamburg 2006, S. 63–80. 33 Ernst Bloch, Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews, Frankfurt a.M. 1977, S. 57. 34 Siegfried Kracauer, „Die Photographie“ [1927], in: Ders., Schriften, Bd. 5/2: Aufsätze 1927–1931, Inka Mülder-Bach (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1990, S. 83–98, hier S. 94. 35 Vgl. Hermann Muthesius, „Die moderne Umbildung unserer ästhetischen Anschauungen“, in: Ders., Kultur und Kunst. Gesammelte Aufsätze über künstlerische Fragen der Gegenwart, Jena 1904, S. 39–75; vgl. weiter ders., „Kultur und Kunst“, in: Ebd., S. 1–38. Muthesius benutzte hier vor allem die Begriffe ‚Material‘ und ‚Sachlichkeit‘ im Sinne ästhetischer Kategorien und zur Kennzeichnung einer funktionalistischen Architektur. 36 Walter Enkenbach [= Erik Reger], „Die Erneuerung des Menschen durch den technischen Geist oder: Das genau gebohrte Loch“, in: Ders., Kleine Schriften, 2 Bde, Erhard Schütz (Hrsg.), Berlin 1993, hier Bd. 1, S. 61–65, hier S. 62. – Vgl. hierzu auch Erhard Schütz/ Matthias Uecker, „‚Präzisionsästhetik‘? Erik Regers ‚Union der festen Hand‘ – Publizistik im Roman“, in: Becker/Weiß (Hrsg.), Neue Sachlichkeit im Roman, S. 89–111. 37 Vgl. Inka Mülder-Bach, „Nachwort der Herausgeberin“, in: Kracauer, Schriften, Bd. V/3, S. 366f.

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Prämisse, die „Rekonstruktion des Lebens lieg[e] im Augenblick weit mehr in der Gewalt der Fakten als von Überlegungen“.38 Auch Franz Hessel folgt dieser materialisierten, phänomenologischen Beobachtungskunst. Zwar ist sein die Stadt über die Flanerie sich aneignender Erzähler weniger auf die soziologische Analyse fixiert; doch auch ihm geht es um den architektonischen Wandel Berlins von der preußischen Hauptstadt zur Großstadtmetropole, an dem sich zugleich soziale und soziokulturelle Verschiebungen ablesen lassen. Geht man von der These einer in Analogie zur architektonischen Erneuerung der Stadt modernisierten Form der Flanerie in den 1920er Jahren aus, so überrascht es kaum, dass der Flaneur des neusachlichen Berlins anfangs nicht zu Fuß geht; vielmehr fährt er Bus, S-Bahn und Auto, oder seine Fortbewegungsart lässt sich gar nicht eruieren. Etwa in der Mitte des Buches verlegt er sich ganz aufs Flanieren. Zu diesem Zeitpunkt und an der Stelle aber weiß der Leser schon: Die Größe der Stadt zwingt den Flaneur zur motorisierten Fortbewegung und Flanerie – und zwar nicht nur den Hesselschen, auch in Flaneur-Texten von Walther Kiaulehn, Max Osborn, Alfons Paquet, Heinrich Hauser, Bernard von Brentano oder Karl Scheffler wird die Autofahrt empfohlen; „das neue Berlin“,39 das zeitgenössische Architekten und Stadtplaner diskutieren und entwerfen, ist erst an ausgewählten Orten zu besichtigen, nur mit „Mühe […] aufzufinden und […] nicht leicht als ein Ganzes zu übersehen“, schreibt der Stadthistoriker Karl Scheffler in seiner 1931 erschienenen Studie Berlin. Wandlungen einer Stadt.40 Auch Hessels Flaneur lässt sich die neue Architektur gleich von einem motorisierten Architekten zeigen und erklären. Dem Besuch des „weite[n], lichte[n] Atelier[s]“ folgt die schnelle Fahrt in dessen Automobil des Architekten („Hinunter auf die Straße und in sein wartendes Auto. Wir sausen den Kurfürstendamm entlang an alten architektonischen Schrecken und neuen ‚Lösungen‘ und Erlösungen“ [S. 15]) zu aktuellen, repräsentativen Baustellen des Architektenteams, und das heißt zu den architektonischen Neuerungen, zu den markanten Neubauten und Baustellen der Berliner Metropole und städtischen Moderne, zu den Projekten des Neuen Bauen[s], die Berlin auf den Weg zur Weltstadt bringen sollen.41 Der die

38 Walter Benjamin, „Einbahnstraße“ [1928], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1972, S. 83–148, hier S. 84 („Tankstelle“). 39 Vgl. Martin Wagner, „Das neue Berlin – die Weltstadt Berlin“, in: Das Neue Berlin, Nr. 1, Martin Wagner/Adolf Behne (Hrsg.), S. 4f. (Editorial). 40 Karl Scheffler, Berlin. Wandlungen einer Stadt, Berlin 1931, S. 172. – Einen ähnlichen Ansatz hatte Scheffer in seinem viel beachteten Buch Berlin. Ein Stadtschicksal (Berlin 1910) gewählt. 41 Vgl. hierzu auch: Berlins Aufstieg zur Weltstadt. Ein Gedenkbuch. Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (Hrsg.) aus Anlaß seines 50jährigen Bestehens, mit Beiträgen von Max Osborn, Adolph

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Abb. 2: László Moholy-Nagy, Blick vom Berliner Funkturm, vor 1928. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Stadtführung übernehmende Architekt ist ein Anhänger des neuen Baustils; die wesentlichen Ideen dieser neuen Architektur, hier vor allem die Wagners, die Neugestaltung des Alexanderplatzes betreffend, gibt Hessel nun in einer Zusammenfassung wieder und bezieht sich dabei offensichtlich auf Ausführungen, die 1929 mit ähnlichem Inhalt von Wagner und Behne in der Zeitschrift Das neue Berlin vorgestellt worden waren.42 Die Fahrt im Automobil führt wie zitiert am oberen Kurfürstendamm vorbei an Erich Mendelsohns zwischen 1926 und 1928 entstandenem Gebäudekomplex um das Universum Kino, der heutigen Berliner Schaubühne, weiter nach Westen in Richtung Messegelände und Reichskanzlerplatz, mithin ins Zentrum des neuen Berlins und so Benjamins Diktum zuwiderhandelnd: Den Flanierenden leitet die Straße „durch eine entschwundene

Donath/Franz M. Feldhaus, Berlin 1929; Akademie der Künste (Hrsg.), Martin Wagner 1885–1957. Wohnungsbau und Weltstadtplanung. Die Rationalisierung des Glücks, Berlin 1985, S. 78f. Ein in der programmatisch Das Neue Berlin genannten Zeitschrift – herausgegeben von Berlins Stadtbaurat Martin Wagner und dem Architekt und Architekturkritiker Adolf Behne – abgedruckter Plan Berlins verzeichnet die neuen Bauten (vgl.: Das Neue Berlin. Großstadtprobleme, Martin Wagner/Adolf Behne [Hrsg.]. Reprint der Ausgabe von 1929, Basel/Berlin/Boston 1988, S. 160). 42 Vgl. hierzu Müller, Peripatetische Stadtlektüre, S. 86f.

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Zeit“.43 Vielmehr vollzieht der Flaneur im Gefolge des Architekten und im Automobil unterwegs den Zug der städtebaulichen Entwicklung nach Westen mit, seine Beschreibung und seine Textinhalte und -anordnung folgen dem architektonischen Trend der Stadtplanung und -entwicklung der Metropole Berlin nach 1900. Das heißt weg vom Alten Westen südlich des Tiergartens und des Landwehrkanals hin zum Neuen Westen um den Nollendorfplatz und dem Kurfürstendamm, ins westliche Charlottenburg zum 1929 errichteten Funkturm in der Nähe des Messegeländes, dem Wahrzeichen des neusachlichen Bauens, von Laszlo Moholy-Nagy eindrucksvoll fotografiert (vgl. Abbildung 2), und weiter zu dem von Hans Poelzig zwischen 1929 und 1931 entworfenen ‚Haus des Rundfunks‘; als Ausgleich zu diesem neuen Zentrum, mit dem Berlin seinen Weltstadtstatus dokumentieren wollte, plante man, in der alten Mitte am Alexanderplatz mit dessen Neugestaltung eine „neue Welt“ (S. 14) zu schaffen. Mit seiner Beschreibung des Messegeländes greift Hessels Flaneur wiederum auf einen Bericht der maßgeblichen Architekten Wagner und Poelzig zurück: Auf dem Messegelände soll die Ausstellungsstadt die Form eines riesigen Eies bekommen, mit einem Innen- und Außenring von Hallen, einem neuen Sportforum und einem Kanal, an dessen Endpunkt zwischen Gartenterrassen ein Wasserrestaurant liegt. (S. 15)

Sieht es zunächst so auch, als folge der Flaneur bei seinen städtischen Spaziergängen keinem bestimmten Plan und keiner vorher festgelegten Route, folge also dem Benjaminschen Prinzip des Sich-Verirrens und Sich-Treiben-Lassens, so lässt die genauere Analyse einen anderen Vorsatz und Aufbau erkennen:44 Den Kapitelüberschriften („Berlins Boulevard“, „Alter Westen“, „Tiergarten“, „Der Landwehrkanal“, „Der Kreuzberg“, „Tempelhof“, „Hasenheide“, „Über Neukölln nach Britz“, „Nach Osten“, „Norden“, „Nordwesten“, „Friedrichstadt“, „Dönhoffplatz“, „Zeitungsviertel“, „Südwesten“) und aufgesuchten Örtlichkeiten ist ein

43 Benjamin, Das Passagenwerk, Bd. V/2, S. 1052. 44 Letztlich übernimmt er das architektonische Prinzip als formale Struktur: Sein Flaneur-Buch enthält 22 in sich geschlossene Texte der kleinen Form (der Umfang der einzelnen Kapitel übersteigt kaum 10 Seiten, lediglich das 6. Kapitel „Rundfahrt“, in der der Flaneur sich zu einer offiziellen „Sight-Seeing“-Tour durch Berlin mit einem der „Riesenautos“ des „Unternehmen[s] Elite“ entschließt, umfasst 75 Textseiten): die Kapitel fügen sich einer „übergreifenden, gewissermaßen topographischen Anordnung; nach sechs Eingangskapiteln wird in jeweils auf einen Stadtteil bezogenen Kapiteln das Ganze der Stadtlandschaft darzustellen versucht“ (Eckhardt Köhn, Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs von 1830–1933, Berlin 1989, S. 178), ein Detail, mit dem letztlich das Verfahren des Mapping bzw. der Kartierung zitiert ist, das im Zuge des spatial turn als eine zentrale Fragestellung der Literaturund Kulturwissenschaften reklamiert wird.

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Abb. 3: Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Verlagsanzeige, Die literarische Welt, 10. Mai 1929, S. 4.

der städtischen Topografie analoger Aufbau abzulesen, der sich vom alten Westen um Charlottenburg über die alte Mitte um den Gendarmenmarkt hin nach Osten zieht. Der Flaneur „wander[t]“ (S. 202), heißt es, – „Nach Osten“ – so betitelt er eines seiner Feuilletons in Spazieren in Berlin; er flaniert mithin Richtung Alexanderplatz, der, wie erwähnt, ein Ort des Neuen Bauens, ein Realisationsobjekt der neusachlichen Bauhaus-Architektur war.45

45 Der genaue Weg führt über Berlins Boulevard und am Tiergarten-Landwehrkanal vorbei; es folgt ein Rundgang durch den Süden, durch die Stadtteile Kreuzberg, Tempelhof, Hasenheide, von Neukölln nach Britz; danach geht es vom Alexanderplatz aus über den Osten und Norden, sodann zurück ins Zentrum, in die Friedrichsstadt über den Dönhoffplatz und durch das Zeitungsviertel; ein Besuch im Sportpalast schließt sich an, danach ein Spaziergang vom Kleist-Park über das Bayrische Viertel in Richtung Steglitz. Ein Ausflug zum Wannsee und der Besuch des vornehmen Südwestens runden die Unternehmungen des Flaneurs ab.

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Kaum ein anderer Ort Berlins steht so paradigmatisch für den Wandel dieser Stadt nach 1919 wie die Gegend um den Alexanderplatz. Zudem stießen hier das alte und das neue Berlin aufeinander. Ende 1928 hatte Wagner den Wettbewerb um die Neugestaltung des Alexanderplatzes ausgeschrieben. Seit diesem Jahr wurde in Zeitschriften – vor allem in der bereits genannten Architekturzeitschrift Das neue Berlin – um die Neubebauung diskutiert und um das Verschwinden des alten Berlins im neuen neusachlichen Berlin gestritten. Wie aktuell das Thema war, zeigen zum einen die Tatsache, dass das Kapitel Nach Osten im März 1929 in Willy Haas’ Literarischer Welt vorabgedruckt wurde, versehen mit neusachlichen Fotografien aus Mario von Bucovichs Das Gesicht der Stadt, 1928 mit einem Vorwort von Alfred Döblin erschienen, und zum anderen Adolf Behnes ein Jahr später publizierter Band Berlin in Bildern. Dieser Vorabdruck brachte Hessels Buch also mit der forcierten Modernisierung und dem radikalen Umbau des Stadtbildes insgesamt und der Stadtmitte um den Alexanderplatz in Verbindung. Dazu passt, dass der Verlag Dr. Hans Epstein, in dem Hessels Buch erschienen war, in der Literarischen Welt, in den 1920er Jahren ohnehin ein Forum der neusachlichen Ästhetik, für Hessels Buch mehrfach warb, und zwar in einer in Bauhaus-Typografie gehaltenen Anzeige (s. Abbildung 3). Die Architektur des Neuen Bauens konzentrierte sich in den 1920er Jahren auf die Stadtteile außerhalb des Alten Westens, der – in der Gründerzeit entstanden – vornehmlich durch eine klassizistische Architektur oder, wie es bei Hessel polemisch heißt, durch „letzte Reste des preußischen Griechenwesens“ (S. 141) geprägt war. Im Kapitel Über Neukölln nach Britz wird die zwischen 1925 bis 1933 in Berlin-Britz im Bezirk Neukölln nach Plänen von Bruno Taut und Martin Wagner entstandene Hufeisensiedlung vorgestellt – die Namen der Architekten werden allerdings nicht erwähnt. Die Wohnanlage war eines der ersten Projekte des sozialen Wohnungsbaus und Teil der Großsiedlung Britz/Fritz-Reuter-Stadt ebenso wie ein Beispiel für das „neue, werdende Berlin“, wie es bei Hessel heißt (S. 175). Ein vornehmlich nüchterner Stil, der Teil und Motor des sich wandelnden Stadtbildes ist, findet die Zustimmung seines beobachtenden Flaneurs, zumal er als ästhetisches Schreibprinzip seinen, wie er selbst sagt, ‚Schilderungen‘ (S. 175: „Dieses neue, werdende Berlin vermag ich noch nicht zu schildern“) zugrundeliegt. Auch Hessels Flaneur ist gegen das Ornamentale, gegen den Ornamentstil der wilhelminischen Gebäude und gegen die eklektizistische Repräsentationsarchitektur bzw. den Historismus der Gründerzeit insgesamt: „Wir betreten ein Haus. Auch innen ist es bunt, aber kein überflüssiger Zierat, alles schmucklos und doch schmuck. Das ist eine der vielen Siedlungen, die den stärksten Vorstoß in das Chaos der Zwischenwelt, die Stadt und Land trennt, bedeuten“ (ebd.). Um seiner Zustimmung zum Konzept des ‚Neuen Bauens‘ Ausdruck zu verleihen, werden von Hessel zudem jene nach 1900 wirkenden Architekten nament-

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lich genannt, ja gepriesen, die die Tradition eines ornamentfreien, sachlichen Baustils vorbereitet haben: Ludwig Hoffmann, Alfred Messel oder Peter Behrens: Diese wirkten im Umfeld des ‚Werkbundes‘, der bekanntlich für die Ausbildung der Sachlichkeitskultur der 1920er Jahre von kaum zu überschätzender Bedeutung war.46 Auch die Urteile des Hesselschen Flaneurs über die neue Architektur folgen ihren architektonischen Vorstellungen, die vor allem mit Blick auf die Idee einer wenn zwar nicht ornamentfreien, so doch über eine moderne Materialität, strenge Linearität und klare Form betonende Ästhetik die Funktionalität von Architektur exponierende Programmatik des Bauhauses vorwegnahmen: Es wachse einstweilen noch hinter hoher plakatbedeckter Wand – etwas ganz Neues herauf, ein Warenhaus mit einem Pariser Namen. Ob es so schön werden wird, wie das drüben hinter dem Laub des Leipziger Platzes Messels Meisterwerk, das Haus Wertheim? (S. 56)

Die von Peter Behrens im Jahr 1909 entworfene Moabiter Turbinenhalle der AEG, eine Industriekathedrale im Stil der Eisen- und Glasarchitektur, wird von Hessels Flaneur gleichfalls ausdrücklich als architektonischer Meilenstein hervorgehoben: „Es gibt kein schöneres Gebäude als die monumentale Halle aus Glas und Eisenbeton, die Peter Behrens für die Turbinenfabrik in der Huttenstraße geschaffen hat“ (S. 21).

Abb. 4: Alfred Messel, Kaufhaus Wertheim, Leipziger Platz, Berlin, 1896–1903.

46 Vgl. Sabina Becker, Neue Sachlichkeit, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 2000, Bd. 1, S. 78–91.

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Abb. 5: Peter Behrens, Turbinenhalle, Berlin, 1908/09.

Entscheidend in Hessels Plädoyer ist, wie im Falle der städtischen Architekturbeschreibungen Kracauers, der vor allem in seinen zwischen 1920 und 1930 entstandenen Straßen-Feuilletons vergleichbare Ideen entwickelte,47 die Ornamentkritik, die ein zentraler Ausgangspunkt der Bauhausarchitektur der 1920er Jahre war. So heißt es etwa bei Hessel: Da ergeben sich für Glas, Metall und Holz neue Aufgaben und in das frühere Berliner Grau und Fahlgelb kommt Farbe. Und sobald eines der Häuser baufällig oder wenigstens reparaturbedürftig wird, schneidet ihm die junge Architektur den Bubenkopf einer einfachen linienklaren Fassade und entfernt alles Gezöpfte. (S. 132)

Den historischen Prunk möchte Hessels Flaneur „in einem zu gründenden Museum der neowilhelminischen Architektur und Plastik unterbringen“ (S. 57), auch begrüßt er es, wenn Leuchtreklamebänder den gründerzeitlichen Fassadenstuck verdecken oder die Avantgardisten den „Geschwürhäusern“ und „schrecklichen Eilbauten aus der Zeit nach 1870 im Bauunternehmer- und Maurermeistergeschmack“ (S. 166) die glatte Fläche und klare Linie entgegensetzen. Die dabei verwendeten neuen Materialien („das neue Baumaterial“: Beton und vor allem Glas an Stelle von Ziegel und Marmor“, S. 15) und das neue Bauen insgesamt stehen für Transparenz – zu erwähnen wäre darüber hinaus das Licht: Neben der Beschreibung Berlins als Metropole des ‚Neuen Bauens‘ erfasst Hessel die Licht-

47 Vgl. beispielsweise die in dem Band Frankfurter Turmhäuser gesammelten Texte: Siegfried Kracauer, Frankfurter Turmhäuser. Ausgewählte Feuilletons 1906–1930, Andreas Volk (Hrsg.), Zürich 1997.

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stadt Berlin:48 Die neuen Materialien wertet er, ebenso wie das ‚Neue Bauen‘, als architektonische und städtebauliche Maßnahmen, die einen anderen, neuen Blick auf die kollektive Stadtgeschichte wie auf die individuelle Geschichte ermöglichen. Die ‚Lichtstadt‘ Berlin nimmt „Abschied von ihrer überholten, ja unbequem gewordenen Vergangenheit“.49 Sicherlich findet sein Flaneur in der beschleunigten Stadtgestalt auch eine „Leer[e]“ (S. 224) vor, die Stadt ist dabei, ihr Gedächtnis und Vergangenheit zu verlieren, auch Hessel geht wie Brentano, Bloch oder Kracauer von einem für Berlin typischen gestörten Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart aus.50 Entsprechend ist Hessels Flaneur in Berlin unterwegs, um die Vergangenheit der Stadt und seine eigene Berliner Vergangenheit zu rekonstruieren. In der beschleunigten Moderne, deren Substrat die Großstadt ist, wird er zu jenem ‚Archäologen‘, der im Motto von Spazieren in Berlin ebenso wie in der Bezugnahme auf den antiken Dichter Pausanias (S. 63) zitiert ist.51 Um das vertraute Berlin seiner Kindheit wiederzufinden, versucht der Flaneur, den „Ersten Blick auf die Stadt“ (S. 9), mit dem nur Fremde sehen, wiederzuerlangen; realisieren möchte er dies über die ihm aus Kindertagen vertraute Architektur und vertrauten Requisiten. Doch zugleich geht es ihm darum, die neue Zeit über ihre neue Architektur, über ihre neue architektonische Physiognomie zu verstehen. Architektur dient so auch der Selbstvergewisserung des Subjekts, des Wahrnehmenden, sie ist Katalysator der Erinnerung und der Vergewisserung der eigenen Vergangenheit und der eigenen Biografie. Mit Blick auf diese Funktion scheint Hessels Text zweigeteilt: Bleibt eine Hälfte seines „Bilderbuch[s]“ dem „Spazieren“ in der Berliner Gegenwart vorbehalten, so zeigen die Texte im zweiten Teil einen Flaneur, der die Spuren des Wohnens in der nach Westen gewanderten Stadt topografisch und historisch rückwärts verfolgt; die Stadtgeschichte wird – wie bei Walter Benjamin in der Berliner Kindheit – als Geschichte des Wohnens wie

48 Vgl. Müller, Peripathetische Stadtlektüre, S. 90–92. 49 Eva Banchelli, „Zwischen Erinnerung und Entdeckung. Strategien der Großstadterfahrung bei Franz Hessel“, in: Opitz/Plath (Hrsg.), ‚Genieße froh, was du nicht hast‘. Der Flaneur Franz Hessel, S. 105–116, hier S. 109. 50 Vgl. Siegfried Kracauer, „Straße ohne Erinnerung“, in: Ders., Schriften, Bd. 5/3, S. 170–174, hier S. 173: „Man hat vielen Häusern die Ornamente abgeschlagen, die eine Art Brücke zum Gestern bildeten. Jetzt stehen die beraubten Fassaden ohne Halt in der Zeit und sind das Sinnbild des geschichtslosen Wandels, der sich hinter ihnen vollzieht. Nur die marmornen Treppenhäuser, die durch die Portale schimmern, bewahren Erinnerungen: die an die Vorkriegswelt erster Klasse.“ 51 „Man findet Herculaneum unter der Asche wieder; aber einige Jahre verschütten die Sitten einer Gesellschaft besser als aller Staub der Vulkane.“ – Vergleichbares wird für Siegfried Kracauer diagnostiziert: Vgl. z.B.: Martin Hofmann/Tobias Korta, Siegfried Kracauer – Fragmente einer Archäologie der Moderne, Sinsheim 1997.

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als Individualgeschichte gleichermaßen nachgezeichnet. Damit zerfällt Berlin und mit ihm der Hesselsche Text in ein modernes Berlin, in der die Architektur des ‚Neuen Bauens‘ dominiert und die „Zukunft“ (S. 14) Einzug gehalten hat, sowie in die „Kleinstädte von Berlin“ (S. 201), in der die Vergangenheit der Stadt, ihrer Bewohner und auch die des Flaneurs beheimatet und zu finden ist. Hessels Flaneur sucht beide Zeitsphären und Topografien auf, das wilhelminische Berlin einer alten Zeit, den, wie es heißt, „alten Stadtkörper“ (S. 14), der in der Regel in Innenräumen aufzuspüren ist, und das neue Berlin der modernen Gegenwart, das sich zumeist als Außenraum fassen lässt;52 entsprechend eignet sich der Flaneur die unterschiedlichen Stadträume sowohl mit unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln als auch über verschiedene Wahrnehmungsweisen an. Ziel seiner Streifzüge in die Stadt, in die Vergangenheit und die Gegenwart bzw. Zukunft – er müsse sich, so heißt es, „um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern“ (S. 14) –, ist nun aber die Verschränkung beider Hälften und Welten. Bezeichnenderweise wird das Flanieren, nach einleitenden Bemerkungen, erst in der Buchmitte definiert (vgl. S. 131), diese Reflexionen signalisieren so den Anspruch, die zwei Teile der Stadt wieder zu einer Einheit zu verbinden. Mithin soll die Stadt dem Flaneur das werden, was sie dem Kind war: eine ‚Heimat‘ (Hessel spricht von „Heimatkunde“, S. 14).53 Dies kann funktionieren, weil die Stadt nicht nur, um mit Hessels Freund Walter Benjamin zu sprechen, die „Stube“54 des Flaneurs ist, sondern zugleich ein „mnemotechnischer Behelf des einsam Spazierenden“55 – so Benjamin in seiner Rezension von Hessels Flaneur-Buch. Es existiert ein „Gedächtnis der Stadt“,56 Berlin ist also Vergangenheit und Gegenwart zugleich, die Architektur wird zum Garanten einer Synthese zumindest in Literatur.

52 In Ich lerne, Von der Lebenslust und Etwas von der Arbeit etwa wechselt der Flaneur von den Bauten des ‚Neuen Berlins‘ in ein Haus im ‚Alten Berliner Westen‘, sucht mithin die Welt „der älteren Berliner Interieurs“, mitsamt ihren „Erinnerungstücke[n]“ (S. 18f.), Einrichtungsgegenständen, Wohn- und Austattungsassecoirs und Kuriosita auf. 53 Vgl. hierzu auch Ueding, Die anderen Klassiker, S. 235: „Hessel ist ein Fremder in der Stadt, in der er lebt, doch er ist auch kein Besucher von außerhalb, kein Tourist […] Er ist der Einheimische, der sich distanziert hat, um die Physiognomie der Stadt durch das Medium der Ferne aus der Nähe zu sehen – das ist die eigentümliche Dialektik des Standpunkts, den Hessel mit seiner Suche nach dem ‚Ersten Blick‘ meint.“ 54 Benjamin, Das Passagenwerk, S. 53 und S. 525. 55 Ebd., S. 194. 56 Michael Bohm, Architektur und Stadtkörper. Zur Kontinuität des Urbanen in Raum und Zeit, Berlin 1998, S. 10.

Detlev Schöttker, Dresden

Raumsinn und gewohntes Leben Walter Benjamins Erkundungen zu Städten und Architekturen Für Gerwin Zohlen Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwachte die Architektur aus einem langen Schlaf, in den sie vom Historismus hineingezogen worden war. Begleitet von Manifesten wurde sie zum Motor der Moderne.1 Kunstwissenschaft und Philosophie, die sich seit der Jahrhundertwende mit Raumerfahrungen beschäftigt haben, ignorierten allerdings die Nutzung von Eisen und Beton als Baustoffe. So prägte Karlfried von Dürckheim 1932 den wegweisenden Begriff des „gelebten Raumes“, doch spielt der umbaute Raum in seinen phänomenologischen Überlegungen keine Rolle.2 Erst Sigfried Giedion hat den Zusammenhang zwischen den neuen Gestaltungs- und Wahrnehmungsformen in seinem Buch Space, Time and Architecture (1941) umfassend dargestellt, nachdem er in Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton (1928) erste Überlegungen formuliert hatte. Zu den wenigen Philosophen, die sich mit Raumerfahrungen und ihrem Wandel in der Moderne beschäftigt haben, gehörte Walter Benjamin.3 Seit Mitte der zwanziger Jahre schrieb er eine Reihe von Beiträgen über Städte und städtische Interieurs, die einen gedanklichen Zusammenhang haben: Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Bau- und Gestaltungsweisen das Denken und Verhalten von Menschen prägen und zugleich repräsentieren. Vertieft wurden die Überlegungen im sogenannten Passagen-Werk, an dem Benjamin zwischen 1927 und 1940 arbeitete. Dabei machte er Anleihen bei der Physiognomik, die nach Motiven hinter der sichtbaren Oberfläche fragt. Benjamin hat damit den Schwerpunkt der Architekturbetrachtung von der Materialität des umbauten Raums auf das erlebende und deutende Subjekt verlagert. Obwohl die Überlegungen fragmentarisch

1 Vgl. Ulrich Conrads (Hrsg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig/Wiesbaden 1975. 2 Vgl. Graf Karlfried von Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, Jürgen Hasse (Hrsg.), Mit Einführungen, Frankfurt a.M. 2005. Die umfangreiche Abhandlung erschien 1932 in einem Band der Neuen Psychologischen Studien. 3 Die Texte werden unter der Sigle GS mit Band- und Seitenzahl zitiert nach Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, 7 Bde., Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1972–89.

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geblieben sind, liefern sie Einsichten über den Zusammenhang von Bau-, Lebensund Denkweisen, die in architekturanalytischen Arbeiten vernachlässigt wurden.4

I Werkzusammenhang: Texte und Methoden Benjamins Überlegungen zur Architekturerfahrung sind unbeachtet geblieben. Eine Ursache liegt in der – auch von ihm selbst beklagten – Zerstückelung und Zerstreutheit seiner Arbeiten.5 Postum gab es einen vielversprechenden Anfang mit dem Band Städtebilder, den Peter Szondi und Siegfried Unseld 1963 für die edition suhrkamp zusammengestellt haben. Hier sind einschlägige Texte versammelt und um ein Nachwort von Szondi ergänzt, in dem es allerdings nicht um Benjamins Architekturbetrachtung, sondern das Erinnern an Städte geht. In den Gesammelten Schriften, die zwischen 1972 und 1989 in sieben Bänden erschienen sind, wurde die Zahl der einschlägigen Texte nochmals erweitert. Doch sind die Städteporträts hier zusammen mit anderen Texten unter der unzutreffenden Überschrift „Denkbilder“ gedruckt (GS IV, 305–438), so dass der innere Zusammenhang der Städte- und Architekturbetrachtungen verlorenging.6 Mit der Edition der Texte zu den Pariser Passagen, die Rolf Tiedemann 1983 im Rahmen der Gesammelten Schriften unter dem Titel Passagen-Werk vorgelegte, wurde eine neue Grundlage geschaffen, um Benjamins Architekturanalysen zu würdigen. Doch war die Rezeption von anderen Themen wie Sprachtheorie, Kultursoziologie und Geschichtsphilosophie geprägt, wenn man von wenigen Architekten und Architekturhistorikern absieht, die sich an Benjamin orientierten.7 Selbst Bilder zu Gebäuden und Räumen, die Benjamin neben anderen für das Passagen-Projekt gesammelt hatte – sie sind im Anhang der Edition in kleiner Auswahl gedruckt –, fanden kaum Beachtung, obwohl er darauf großen Wert legte, wie ein Brief an seinen Freund Alfred Cohn vom Juli 1935 zeigt, in dem er

4 Vgl. Wolfgang Kemp, Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009. 5 Vgl. Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1999, S. 19ff. 6 Ausdruck der Verbindung uneinheitlicher Texte ist der ansonsten kenntnisreiche Überblick von Roger W. Müller Farguell, „Städtebilder, Reisebilder, Denkbilder“, in: Burkhardt Lindner (Hrsg.), Benjamin-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2006, S. 626–642. 7 Vgl. Gerwin Zohlen, „Benjamins Rezeption in Architektur und Architekturtheorie. Erkundungen zu einem unerledigten Berliner Thema“, in: Detlev Schöttker (Hrsg.), Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt a.M./Berlin 2004, S. 94–109.

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über entsprechende Recherchen im Cabinet des Estampes der Bibliothèque nationale berichtet hat.8 Neben graphischen Arbeiten können Photographien und Ansichtskarten die architektonischen Voraussetzungen veranschaulichen, auf die sich Benjamin in Texten bezog. Doch zeigen diejenigen, die sich im Nachlass erhalten haben, meist unbelebte Orte und Architekturen.9 Benjamin interessierte sich allerdings neben dem sozial „gelebten“ auch für den individuell „erlebten Raum“, um einen Begriff aufzugreifen, den Otto Friedrich Bollnow in seinem Buch Mensch und Raum (1963) in direktem Anschluss an Dürckheim verwendete. Benjamin selbst prägte für dieses Erleben 1927 in einer Rezension zu Franz Hessels Roman Heimliches Berlin den Begriff „Raumsinn“ und schreibt dazu: „Jede Architektur, die den Namen verdient, läßt ihr Bestes nicht bloßen Blicken, sondern dem Raumsinn zugute kommen“ (GS III, 82). Vorrausetzung für die Vergegenwärtigung des Raumerlebens ist die sprachliche Darstellung.10 Der Begriff „Raumsinn“ ist das Ergebnis einer Beschäftigung mit der Phänomenologie, die nach den Besonderheiten der Wahrnehmung und Erfahrung fragt. Schon in seinem frühen Aufsatz Über das Programm einer kommenden Philosophie (1918) wollte Benjamin Kants pragmatische Theorie der Erfahrung um eine metaphysische Komponente erweitern.11 Doch ist er auf der mentalen Ebene nicht stehen geblieben, sondern bemühte sich seit Beginn der zwanziger Jahre um eine anthropologische und später auch eine soziologische Fundierung der Phänomenologie. Für diese Verbindung zwischen geistigen, körperlichen und gesellschaftlichen Erfahrungsformen steht der Begriff „anthropologischer Materialismus“, den Benjamin 1929 in seinen Aufsatz Der Sürrealismus und zugleich als Überschrift für ein Konvolut von Aufzeichnungen im Passagen-Werk verwendete (GS II, 309f.; V, 971ff.).12 Die Idee kommt auch in Überlegungen zur Architektur zum Ausdruck, wie der Begriff „gewohntes Leben“ zeigt, der ebenfalls im Passagen-Werk zu finden ist. Er

8 Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, 6 Bde., Christoph Gödde/Henri Lonitz (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1995–2000, Bd. 5, S. 128. 9 Vgl. Walter Benjamin Archiv (Hrsg.), Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte, Zeichen, Berlin 2006, S. 143–161. 10 Vgl. Wilfried Nerdinger/Juan Barja (Hrsg.), Walter Benjamin – eine Reflexion in Bildern, München 2011 (hier werden Texte Benjamins mit Bildern, meist Photographien, konfrontiert). 11 Vgl. Uwe Steiner, „‚Zu den Sachen selbst …‘ Phänomenologie und Anthropologie bei Walter Benjamin“, in: Carolin Duttlinger/Ben Morgan/Anthony Phelan (Hrsg.), Walter Benjamins anthropologisches Denken, Freiburg i.Br. 2012, S. 59–94. 12 Vgl. Detlev Schöttker, „Aphoristik und Anthropologie. Von der Einbahnstraße zu den Texten der Nachtragsliste“, in: Walter Benjamin, Einbahnstraße, Detlev Schöttker (Hrsg.) unter Mitarbeit von Steffen Haug, Frankfurt a.M. 2009 (= Werke und Nachlass, Bd. 8), S. 554–571, hier S. 565–571.

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geht vom Wohnen als Lebensform aus, wird also konkret und nicht metaphorisch verwendet. Im „gewohnten Leben“ hat der „Raumsinn“ zum Beispiel in Form von Einrichtungsgegenständen ein materiales Fundament: „Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht im Haus sondern im Gehäuse. Dies trägt den Abdruck seines Bewohners“ (GS V, 292). Die Begriffsexplikation lässt zugleich Benjamins Vorliebe für physiognomische Erkenntnisformen deutlich werden, die durch das entsprechende Konvolut des Passagen-Werks – es trägt die Überschrift „Das Interieur, die Spur“ – bestätigt wird. Im Interieur finden sich Spuren des „gewohnten Lebens“, die es zu entschlüsseln gilt, um Denk- und Vorstellungsweisen zu erklären. Grundlagen für die Methode hatte Johann Caspar Lavater in den Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe geschaffen (4 Bde., 1775–1778). Während es hier darum ging, von körperlichen Merkmalen des Menschen auf Charaktereigenschaften zu schließen, interessierte sich die neuere Physiognomik seit Beginn des 20. Jahrhunderts für Artefakte wie Gebrauchsgegenstände oder Filme, um nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Vorstellungen ihrer Produzenten oder Betrachter zu ermitteln.13 Die Idee hat ihren Ursprung in der anonym erschienenen Schrift Untersuchungen über den Charakter der Gebäude (1788), in der ein unbekannter, aber ästhetisch versierter Verfasser Grundzüge einer physiognomischen Architekturtheorie darlegt.14 Dass diese Idee in der zeitgenössischen Literatur bekannt war, zeigt E.T.A. Hoffmanns Erzählung Das öde Haus, die 1817 im zweiten Band der Nachtstücke erschienen ist. „Denkt euch“, so heißt es hier, „ein niedriges, vier Fenster breites, von zwei hohen schönen Gebäuden eingeklemmtes Haus […], dessen farblose Mauern von gänzlicher Verwahrlosung des Eigentümers zeugen“.15 Benjamin hat Hoffmanns Erzählung 1930 unter dem Titel Das dämonische Berlin zur Grundlage einer Rundfunksendung für Kinder gemacht. „Physiognomiker“, so erklärt er hier, nenne man „Leute, die andern Menschen am Gesicht, oder am Gang, oder an den Händen, oder an der Kopfform ihren Charakter oder ihren Beruf oder ihr Schicksal ansehen“. Hoffmanns Interesse reiche allerdings darüber hinaus, da er sich auch mit „Dingen, Häusern, Gegenständen, Straßen“ beschäftigt habe (GS VI, 89). Als „Physiognomiker der Dingwelt“ bezeichnete Benjamin selbst den Typus des „Sammlers“ (GS III, 217), mit dem er sich in mehreren Beiträgen seit 1931

13 Vgl. Claudia Schmölders (Hrsg.), Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin 1996; dies./Sander L. Gilman (Hrsg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000. 14 Untersuchungen über den Charakter der Gebäude. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Leipzig 1788. Mit einer Einführung von Hanno-Walter Kruft, Nördlingen 1986. 15 E.T.A. Hoffmann, Nachtstücke, Berlin/Weimar 1994 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3), S. 168.

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eingehend beschäftigte. Es geht hier um Spielwaren und Bücher, zu denen in den Städteporträts und Aufzeichnungen des Passagen-Projekts Gebäude, Plätze und Interieurs hinzukommen. Nicht selten sind es architektonische Elemente wie Fensterbretter oder Einrichtungsgegenstände, die Benjamins Deutungslust wecken. Das Verfahren lässt sich auf Leibniz’ Monadenlehre zurückführen, auf die er sich in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ seines Buches Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), im Konvolut „N“ des Passagen-Werks und in den Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) bezog, um seine Methode zu erläutern. Danach enthält die Monade das „Bild der Welt“ (GS I, 228), so dass die Analyse des prägnanten Details einen Beitrag zur Erklärung des großen Ganzen liefern kann.16 Auf Grundfragen der Architekturanalyse ist Benjamin allerdings nur in fragmentarischen Überlegungen eingegangen. Ein herausragendes Beispiel ist der Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/ 39), in dem er eine Theorie der zerstreuten Erfahrungsformen in der Moderne am Beispiel des Films entworfen und mit Blick auf die Architektur in eine historische Perspektive gerückt hat: Die Architektur bot von jeher den Prototyp eines Kunstwerks, dessen Rezeption in der Zerstreuung und durch das Kollektivum erfolgte. Die Gesetze ihrer Rezeption sind die lehrreichsten. Bauten begleiten die Menschheit seit ihrer Urgeschichte. […] Die Baukunst hat niemals brach gelegen. Ihre Geschichte ist länger als die jeder anderen Kunst und ihre Wirkung sich zu vergegenwärtigen von Bedeutung für jeden Versuch, vom Verhältnis der Massen zum Kunstwerk sich Rechenschaft abzulegen. Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und Wahrnehmung. Oder besser: taktil und optisch. (GS I, 504)

Solch weitreichende Einsichten sind nicht zuletzt das Ergebnis von Lektüren zur Architekturgeschichte und -theorie, die die Arbeit am Passagen-Projekt begleitet haben. Im Falle des Kunstwerk-Aufsatzes, der ebenfalls aus dem Material erwachsen ist, hatte Alois Riegls Buch Spätrömische Kunstindustrie (1901), das mit einem Kapitel zur Architektur einsetzt, Einfluss auf Benjamins wahrnehmungspsychologische Begrifflichkeit.17 Schon 1929 bezeichnete er in einem Zeitungsartikel über „lebendig gebliebene Bücher“ Alfred Gotthold Meyers Eisenbauten (1907) – neben den Darstellungen von Riegl und Giedion – als „Prolegomena“ zu einer „historischmaterialistischen Theorie der Architektur“. Zur Begründung heißt es, dass hier „Gesetzlichkeiten der technischen Konstruktion, die durch das Wohnhaus zu Gesetzlichkeiten des Lebens“ geworden seien, deutlich dargelegt werden (GS III, 170).

16 Vgl. Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, S. 279–286. 17 Vgl. Franz Joachim Verspohl, „‚Optische‘ und ‚taktile‘ Funktion von Kunst. Der Wandel des Kunstbegriffs im Zeitalter der massenhaften Rezeption“, in: Kritische Berichte, 3/1975, 1, S. 25–43.

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Alle drei Bücher hat Benjamin in den Aufzeichnungen des Passagen-Werks exzerpiert und kommentiert, so dass man aus den Hinweisen auf seine Konzeption der Architekturanalyse schließen kann: die Ermittlung von Konstituenten der räumlichen Erfahrung.

II Schwellenkunde: Häuser und Straßen In den frühen, philosophisch orientierten Schriften spielt die Idee noch keine Rolle. Selbst in der umfangreichen Abhandlung Goethes Wahlverwandtschaften (1924/25) hat Benjamin Haus- und Landschaftsbau, die die Romanhandlung bestimmen, nicht behandelt. Doch veränderte sich die Interessenlage um 1923, wofür es zwei Anhaltspunkte gibt: Im selben Jahr erschien Benjamins Übersetzung der Tableaux Parisiens aus Baudelaires Fleurs du mal, in denen die städtische Architektur einen Hintergrund bildet; zugleich las er Paul Scheerbarts Roman Münchhausen und Clarissa (vgl. GS VII, 452; Nr. 851), in dem es um den Einfluss der Architektur auf Kunst- und Lebensformen geht. Benjamin hat dazu folgende Notiz festgehalten: „Die ewig (durch schöpferische Ausbildung) in Atem haltende Architektur wird der Kanon aller Hervorbringungen“ (GS VI, 148; Hervorh. im Orig.). In der Tat entwarf Scheerbart in Münchhausen und Clarissa ebenso wie in einigen weiteren Romanen, die Benjamin kannte, Visionen zu einer neuen Architektur und übte damit großen Einfluss auf die zeitgenössischen Bauvorstellungen aus.18 So lässt er die Figur des Lügenbarons aus Anlass einer Weltausstellung in Australien sagen: In Melbourne will der Architekt nicht nur Gebieter in der Außen- und Innenarchitektur sein; er will auch gleich die ganze Lebensführung der Bauherrschaft beeinflussen; er zwingt den Hausbesitzern gleich insbesondere künstlerische Stimmungen und besondere künstlerische und auch literarische Beschäftigung auf.19

Von solchen Ideen sind auch Benjamins Städteporträts inspiriert. Am Anfang steht der Artikel Neapel, der 1925 in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde.20

18 Vgl. Ralph Musielski, Bau-Gespräche. Architekturvisionen von Paul Scheerbart, Bruno Taut und die „Gläserne Kette“, Berlin 2003. 19 Paul Scheerbart, Münchhausen und Clarissa. Ein Berliner Roman, in: Ders., Dichterische Hauptwerke, Stuttgart 1962, S. 379–489, hier S. 403. 20 Als Mitverfasserin wird die lettische Regisseurin Asja Lacis genannt, die Benjamin auf Capri kennen gelernt hatte. Allerdings beherrschte sie, wie ihre Briefe zeigen, die deutsche Schriftsprache nur unzureichend.

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Benjamin hatte die Stadt im April 1924 auf dem Weg nach Capri besucht, war während eines mehrmonatigen Insel-Aufenthalts mehrere Male dort und kam 1925 nochmals hierher. Im Mittelpunkt des Artikels steht der Begriff des „Porösen“, der nicht nur die vulkanische Gesteinsformation, sondern auch die soziale „Durchdringung“ des umbauten Raums charakterisieren soll: Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden. […] So kommt die Architektur, dieses bündigste Stück der Gemeinschaftsrhythmik, hier zustande. Zivilisiert, privat und rangiert nur in den großen Hotel- und Speicherbauten der Kais – anarchisch, verschlungen, dörflerisch im Zentrum, in das man vor vierzig Jahren große Straßenzüge erst hineingehauen hat. Und nur in diesen ist das Haus im nordischen Sinne die Zelle der Stadtarchitektur. [...] Porosität begegnet sich nicht allein mit der Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor allem mit der Leidenschaft für Improvisieren. Dem muß Raum und Gelegenheit auf alle Fälle gewahrt bleiben. Bauten werden als Volksbühne genutzt. Alle teilen sie sich in eine Unzahl simultan belebter Spielflächen. Balkon, Vorplatz, Fenster, Torweg, Treppe, Dach sind Schauplatz und Loge zugleich. […] Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens. (GS IV, 309–311)

Benjamin vergegenwärtigt den umbauten Raum als gelebten Raum. Davon zeugt nicht zuletzt die ungewöhnliche Definition der „Architektur“ als „bündigstes Stück der Gemeinschaftsrhythmik“. Auch der Essay Moskau, der 1927 in der Zeitschrift Die Kreatur veröffentlicht wurde, ist von der Idee geprägt. Benjamin verarbeitet hier Erfahrungen eines zweimonatigen Aufenthalts in der russischen Metropole Anfang Dezember 1926 bis Ende Januar 1927, der dem Zweck diente, in der Nähe von Asja Lacis zu sein, die er auf Capri kennengelernt hatte. Allerdings nutzte Benjamin zugleich Sprachkenntnisse und Kontakte seiner Gastgeberin und ihres Ehemannes, um Autoren, Theater und Lebensformen der Stadt kennenzulernen, in der sich die Avantgarde etabliert hatte, wie das Moskauer Tagebuch zeigt (GS VI, 292–409). Die Künste spielen im Stadtporträt selbst keine Rolle. Benjamin behandelt hier vielmehr Lebensformen wie die öffentliche Präsenz der privaten Ökonomie, die er eindringlich vergegenwärtigt: In Moskau drängt die Ware überall aus den Häusern, sie hängt an Zäunen, lehnt an Gattern, liegt auf dem Pflaster. Alle fünfzig Schritt stehen Weiber mit Zigaretten, Weiber mit Obst, Weiber mit Zuckerwerk […]. Das ist die wilde Mannigfaltigkeit des Straßenhandels. Schuhkrem und Schreibzeug, Handtücher, Puppenschlitten, Schaukeln für Kinder, Damenwäsche, ausgestopfte Vögel, Kleiderbügel – alles drängt auf die offene Straße, als wären nicht 25° unter Null, sondern voller neapolitanischer Sommer. (GS IV, 317f. und 320).

„Gewohntes Leben“ findet also selbst in der Kälte des Moskauer Winters zwischen Haus und Straße statt. Um diesen Übergang geht es auch in anderen Städtepor-

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träts. In dem Artikel San Gimignano, der 1929 in der Frankfurter Zeitung gedruckt wurde, schreibt Benjamin: Überall wo man stehen kann, kann man auch sitzen. Nicht Kinder allein, sondern alle Frauen haben ihren Platz auf der Schwelle, ganz körpernah am Grund und Boden, seinen Sitten und vielleicht seinen Göttern. Der Stuhl vor der Haustür ist schon Wahrzeichen städtischer Neuerungen. (GS IV, 365)

Nicht die ungewöhnliche Architektur der Stadt, sondern das Leben auf der Straße weckt Benjamins Interesse und seine Deutungslust. In Norwegen beobachtete er andere Verhaltensweisen. Über Bergen, das er bei einer Schiffsreise zum Nordkap im Juli 1930 besuchte, schreibt er in seinem Artikel Nordische See, der im selben Jahr in der Frankfurter Zeitung erschien, dass das Haus hier „noch strenge Grenzen“ habe und „Muße im Freien nirgendwo vorgesehen“ sei. Deshalb komme es bei „Mädchen“ zu besonderen Körperhaltungen, die „hier auf der Schwelle zu stehen, in der Türe zu lehnen“ wüßten „wie kaum im Süden“ (GS IV, 383). In Oslo interessieren Benjamin nicht die beiden restaurierten Wikingerschiffe, die als Attraktionen nur erwähnt werden, sondern – neben den Galionsfiguren im Schifffahrtsmuseum – Schauräume mit Zimmereinrichtungen im Museum für Volkskunde. Hier hätten nicht „bildende Künste“, sondern „bauender Geist“ den „Hausrat“ bestimmt (ebd., 385). Einen einschneidenden Wandel der Lebensformen durch Bauweisen konstatiert Benjamin vor allem für die Passagen, wie der 1937 verfasste Aufsatz Das Paris des Second Empire bei Baudelaire zeigt, dessen Publikation in der Zeitschrift für Sozialforschung von Theodor W. Adorno wegen der Dominanz der faktischen Darstellung abgelehnt worden war. Die Passagen, so Benjamin, bildeten nicht nur „ein Mittelding zwischen Straße und Interieur“, sondern hätten auch einen neuen Sozialtypus, den Flaneur, hervorgebracht, der hier sein Zuhause gefunden habe. In diesem Fall ist Benjamins Phantasie allerdings stärker ins Kraut geschossen als die Exzerpte im Passagen-Werk hergeben, so dass der Typus poetisiert wird: Die Straße wird zur Wohnung für den Flaneur, der zwischen Häuserfronten wie der Bürger in seinen vier Wänden zuhause ist. Ihm sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde; Mauern sind das Schreibpult, gegen das er seinen Notizblock stemmt; Zeitungskioske sind seine Bibliotheken und die Caféterrassen Erker, von denen aus er nach getaner Arbeit auf sein Hauswesen heruntersieht. (GS I, 535)

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III Einbahnstraße: Konstruktion und Phantasie Architektonische „Schwellenkunde“ betreibt Benjamin bereits in der 1928 erschienenen Einbahnstraße. Gleich zu Anfang macht er in einigen Prosatexten wie Frühstückstube und Nr. 113 Übergänge zwischen Räumen und Träumen zum Thema (GS IV, 85–87), die im Passagen-Projekt große Bedeutung bekommen werden. In anderen Texten geht es um Städte, die Benjamin bis dahin gesehen und erlebt hatte. Sie werden in Kurzessays behandelt (Berlin, Weimar, Riga und Lucca) oder mit knapper Geste skizziert wie in der Aphorismen-Gruppe Reiseandenken (Atrani, Versailles, Heidelberg, Marseille, Sevilla, Freiburg, Moskau, Neapel und Florenz). „Raumsinn“ ist hier eine Leitidee. „Eine Architektur“, so heißt es zum Beispiel über den Palast Alcazar in Sevilla, „die dem ersten Zuge der Phantasie folgt“ (GS IV, 123). Detailliert behandelt Benjamin die phantasiebildende Funktion des Interieurs in dem Text Hochherrschaftlich möblierte Zehnzimmerwohnung. Er beschreibt den „Möbelstil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, mit dem er, wie die Berliner Chronik zeigt, durch Wohnungen von Verwandten seit Kindertagen vertraut war (GS VI, 500f.), und veranschaulicht daran die Atmosphäre des zeitgleich entstandenen Kriminalromans, in deren „dynamischem Zentrum“ der „Schrecken der Wohnung“ stehe: Das bürgerliche Interieur der sechziger bis neunziger Jahre mit seinen riesigen, von Schnitzereien überquollenen Büfetts, den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht, dem Erker, den die Balustrade verschanzt und den langen Korridoren mit der singenden Gasflamme wird adäquat allein der Leiche zur Behausung. (GS IV, 89)

Eine Photographie von Sasha Stone, die sich in Benjamins Nachlass erhalten hat, veranschaulicht die Beschreibung. Stone hat auch die Fotomontage für den Umschlag der Einbahnstraße gestaltet. Zwei Straßenszenen im Zentrum Berlins bilden die Grundlage. Die Vorderseite dominiert das Verkehrsschild „Einbahnstraße“, das 1928 durch eine städtische Verordnung eingeführt wurde. Im Mittelpunkt der Rückseite steht ein doppelstöckiger Schnauzenbus, der 1925 in Betrieb genommen wurde. Beide Straßen gehen nicht ineinander über, sondern überlagern sich, so dass das Bild die Komplexität urbaner Wahrnehmungen widerspiegelt, die Stone auch in anderen Fotomontagen zum modernen Berlin vergegenwärtigt hat.21 Stone gehörte zur Gruppe der Berliner Konstruktivisten, mit der auch Benjamin in Kontakt stand.22 1924 übersetzte dieser für das dritte Heft der konstruktivis-

21 Vgl. Eckhardt Köhn (Hrsg.), Sasha Stone. Fotografien 1925–1939, Berlin 1990, S. 32–37. 22 Vgl. Eckhardt Köhn, „Konstruktion des Lebens. Zum Urbanismus der Berliner Avantgarde“, in: AvantGarde, 1988, 1, S. 33–72.

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tischen Zeitschrift G Tristan Tzaras Beitrag Die Kehrseite der Photographie, in der es um eine photographische Technik Man Rays geht. Im selben Heft finden sich Artikel von Mies van der Rohe über Industrielles Bauen und Ludwig Hilbersheimer über Konstruktion und Form, die durch Beiträge in der vierten Ausgabe von 1926 mit Architektur-Schwerpunkt fortgesetzt wurden.23 Durch die Zeitschrift lernte Benjamin die kunsttheoretischen Auffassungen der Konstruktivisten kennen, die trotz unterschiedlicher Ausdrucksformen ein gemeinsames Anliegen verband, nämlich die Verbindung von Kunst und Technik.24 Dazu gehören neben der Architektur und den Medienkünsten auch ästhetische Verfahren wie Reduktion, Konstruktion und Montage, die vom Eisenbau auf die Kunstproduktion übertragen wurde. Im Passagen-Werk hat Benjamin diese Übernahmeidee mit Bezug auf den Eiffelturm skizziert: Nie zuvor hat der Maßstab des ‚Kleinsten‘ solche Bedeutung gehabt. Auch des Kleinsten der Menge, des ‚Wenigen‘. Das sind Maßstäbe, die schon lange in den Konstruktionen der Technik und Architektur zur Geltung gekommen sind, ehe die Literatur Miene macht, ihnen sich anzupassen. Im Prinzip handelt es sich um die früheste Erscheinungsform des Prinzips der Montage. (GS V, 223)25

In der Einbahnstraße sind die Ideen des Konstruktivismus inhaltlich und formal umgesetzt. Im Eingangstext Tankstelle macht sich Benjamin eine politische Lesart zu eigen, die er in Moskau kennengelernt hatte und auch von Teilen der deutschen Linken vertreten wurde: Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen. […] Die bedeutende literarische Wirksamkeit kann nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen; sie muß die unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die universelle Geste des Buches in Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftenartikeln und Plakaten ausbilden. Nur diese prompte Sprache zeigt sich dem Augenblick wirkend gewachsen. (GS IV, 85)

Benjamin versuchte der Idee zumindest in einigen Texten über das Schreiben wie Ankleben verboten! gerecht zu werden, während andere Formulierungen trotz

23 Vgl. G. Material zur elementaren Gestaltung, Reprint, Marion von Hofacker (Hrsg.), München 1986; G. An Avant-garde Journal of Art, Architecture, Design and Film, 1923–1926, Detlef Mertins/ Michael W. Jennings (Hrsg.), Los Angeles 2010. 24 Vgl. Bernd Finkeldey u.a. (Hrsg.), Konstruktivistische Internationale, 1922–1927, Düsseldorf 1992. 25 In seinem Aufsatz Neue Dichtung in Russland, den Benjamin 1927 in der konstruktivistischen Zeitschrift i 10 veröffentlichte, hat er das Verfahren des literarischen Konstruktivismus in diesem Sinne erläutert (vgl. GS II, 758).

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ihrer Prägnanz rätselhaft bleiben oder philosophische Ansprüche haben. Eindeutig konstruktivistisch aber ist die Typographie des Buches.26 Unterschiedliche Schriftarten und -größen führen zu einer klaren Gliederung des Textes. Gestalterische Elemente sind kein Schmuck, sondern haben eine Funktion: Linien symbolisieren Straßenbegrenzungen, leere Flächen Hausumgebungen. Die Texte werden damit zu Häusern einer Straße, sind also nach einem konstruktiven Prinzip verbunden. Dadurch ändert sich der Modus der Lektüre: Der Leser folgt nicht der Linearität der Schrift, sondern bewegt sich zwischen Texten wie ein Flaneur, indem er sich lesend in sie hinein begibt und sie anschließend wieder verlässt, um neue aufzusuchen. Benjamin hat also in der Einbahnstraße jene beiden Bereiche zusammengeführt, die seine Beschäftigung mit Architektur bestimmten: die phantasiebildende Funktion und die konstruktive Gestaltung.

IV Spiegelungen: Architektur und Erinnerung In mehreren Städteporträts, die der Einbahnstraße folgen, stellte Benjamin im Sinne seiner Monadologie dar, dass urbane Kultur- und Gestaltungsformen auch in überschaubaren Einheiten präsent sind. Der Artikel Weimar, der 1928 in der Neuen Schweizer Rundschau erschien und für eine erweiterte Ausgabe der Einbahnstraße vorgesehen war,27 zeigt dies für den Bereich der Interieurs, also das „gewohnte Leben“. Im ersten Teil weist Benjamin auf die Fensterbretter des Hotels Elefant hin, die „das Zimmer zur Loge“ und das Markttreiben auf dem Platz davor zur städtischen „Bühne“ werden lassen. Im zweiten Teil stehen die Vitrinen des Goethe-Schiller-Archivs im Mittelpunkt, in denen Handschriften „wie Kranke in Hospitälern“ lägen. Und im dritten geht es um die Ausstattung des Arbeitszimmers in Goethes Haus am Frauenplan, bei der „ein Wille“ gewirkt habe, um „Figur und Formen in Schranken“ zu halten. Der Vergegenwärtigung des prallen Lebens folgt der Hinweis auf die Erstarrung der Klassiker-Reliquien, die im Gegensatz zur Modernität der Dichterklause steht.28 In dem Artikel Paris, die Stadt im Spiegel, der 1929 in Vogue gedruckt wurde, zeigt Benjamin, dass Architekturen in Bild- und Schriftmedien gegenwärtig sind und dadurch über ihren Standort hinausweisen. Er beginnt mit der Poesie: „Kein

26 Vgl. die Beispiele in Lothar Lang, Konstruktivismus und Buchkunst, Leipzig 1990. 27 Vgl. Benjamin, Einbahnstraße, S. 121–123. 28 Hier findet sich auch ein Hinweis auf die Methode einer neuen Goethe-Philologie, über die Benjamin in mehreren Beiträgen berichtet hat: „Noch warten wir auf eine Philologie, die diese nächste, bestimmendste Umwelt – die wahrhafte Antike des Dichters – vor uns eröffnete“ (GS IV, 353f.).

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Monument in dieser Stadt, an dem sich nicht ein Meisterwerk der Dichtung inspiriert hätte“ (GS IV, 356). Anschließend werden dann „Photo und Stadtplan“ erwähnt, die „das genaueste Wissen vom Einzelnen und vom Ganzen“ der Architektur geben könnten (ebd., 357). Erweitert wird das Spektrum durch Hinweise auf Spiegelflächen unterschiedlicher Art: in Bistros, auf dem Asphalt der Straßen und auf dem Wasser der Seine.29 Am Ende steht wiederum das Buch: in diesem Fall Marcel Prousts Roman A la Recherche du temps perdu, in dem die Erinnerungen des Erzählers nicht nur vom Geschmacksinn (wie in der anfänglichen Madeleine-Episode), sondern auch vom „Raumsinn“ inspiriert werden, wie Benjamin durch seine Übersetzung des zweiten und drittes Bandes wusste, die er gemeinsam mit Franz Hessel seit Mitte der zwanziger Jahre unternommen und 1927 bzw. 1930 publiziert hatte. In der Besprechung von Hessels Buch Spazieren in Berlin, die 1929 in der Literarischen Welt unter dem Titel Die Wiederkehr des Flaneurs erschienen ist, hat Benjamin auf das Prinzip der Mnemotechnik in der antiken Rhetorik hingewiesen, bei dem Erinnerungen durch die Imagination von Architekturen hervorgerufen werden: „Die Stadt als mnemotechnischer Behelf des einsam Spazierenden, sie ruft mehr herauf als dessen Kindheit und Jugend, mehr als ihre eigene Geschichte. Was sie eröffnet, ist das unabsehbare Schauspiel der Flanerie, das wir endgültig abgesetzt glaubten.“ (GS III, 194) Die Texte der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, die zwischen 1932 und 1934 entstanden sind, folgen dem mnemotechnischen Prinzip: Erinnerungen an das eigene Leben nehmen über konkrete Bildzeichen ihren Ausgang von Räumen des Elternhauses und der Stadt. Autobiographie wird Topographie und umgekehrt.30 Auch hier spielen Interieurs und ihr Einfluss auf die Erfahrungsbildung eine zentrale Rolle. Eindringlich hat Benjamin dies in einem Text mit der Überschrift „Loggien“ dargestellt, in dem es über die „Erinnerung an die Kindheit“ heißt: Nichts kräftigte die meinige inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurden, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. […] und es ist eben diese Luft, in der die Bilder und Allegorien stehen, die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens. (GS IV, 294)

29 Benjamin hat die Idee wiederholt formuliert: In Café Creme heißt es, dass das „petit déjeuner selber ein Hohlspiegel“ sei, in dem „das kleinste Bild dieser Stadt“ erscheine (GS IV, 375). Im Passagen-Werk schreibt er: „Wie Spiegel den freien Raum, die Straße, in das Café hineinnehmen, auch das gehört zur Verschränkung der Räume“ (GS V, 666). 30 Vgl. Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, S. 223–243.

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Eine Prägung der Erfahrung durch Interieurs behauptet Benjamin aber nicht nur für die Stadtvillen des wohlhabenden Bürgertums, in denen er selbst aufwuchs, sondern auch für Mietskasernen, die er nur von außen kannte. In einer Besprechung von Werner Hegemanns Buch Das steinerne Berlin, die 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienen ist, kritisiert er an der vielfach gelobten Darstellung nur eines, nämlich die Vernachlässigung von Architekturerfahrungen der Bewohner: Das ist ihm fremd, daß die Mietskaserne, so fürchterlich sie als Behausung ist, Straßen geschaffen hat, in deren Fenstern nicht nur Leid und Verbrechen, sondern auch Morgen- und Abendsonne sich in einer traurigen Größe gespiegelt haben, wie nirgend sonst, und daß aus Treppenhaus und Asphalt die Kindheit des Städters seit jeher so unverlierbare Substanzen gezogen hat wie der Bauernjunge aus Stall und Acker. Eine historische Darstellung hat all dies zu umfassen. Wäre es nicht um der Wahrheit, dann um der Wirkung willen. (GS III, 265)

V Passagen: Architekturen und Träume In diesen Formulierungen ist die Konzeption einer wahrnehmungsgeschichtlichen Theorie der Architektur avisiert, die dem Passagen-Projekt zugrunde liegt. Sie muss freilich jenen Tausenden von Fragmenten und Zitaten entnommen werden, die den Fundus des Werkes bilden. Die Arbeitsstufen sind in der Edition von Tiedemann nachvollziehbar. Bei der Grundidee allerdings gibt es keine gravierenden Veränderungen: Benjamin wollte die Präsentation von Luxuswaren in den Passagen als kollektiven Traum des kapitalistischen Zeitalters entschlüsseln.31 Ein Zitat, das er selbst als „locus classicus für die Darstellung der Passagen“ bezeichnete, lässt die Idee anschaulich werden. Es ist einem Reiseführer von 1852 entnommen und findet sich in allen Texten auf, die Benjamin zwischen 1928 und 1939 zu seinem Gegenstand verfasste. Die Passage repräsentiert danach nicht nur Paris, sondern die kapitalistische Kultur insgesamt, so dass die Idee der Monade aufscheint: Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasbedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist, in der der Kauflustige alles finden wird, dessen er benötigt. (GS V, 83; vgl. ebd., 45)

31 Vgl. Susann Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 1993.

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Nach der Lektüre von Giedions Buch Bauen in Frankreich beschäftigte sich Benjamin intensiver mit der Bauweise der Passagen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Hilfe von Eisenkonstruktionen als glasüberdachte Durchgänge zwischen den großen Boulevards entstanden waren, so dass sich sein Interesse von den Waren auf ihre räumliche Präsentation verlagerte (GS V, 1060ff.). Nachdem er das Buch vom Verfasser erhalten hatte, brachte er seine Begeisterung in einem Brief vom 15. Februar 1928 zum Ausdruck, ohne dies inhaltlich zu erläutern: Als ich Ihr Buch bekam, elektrisierten mich die wenigen Stellen die ich las derart, daß ich mir vornehmen mußte, nicht eher an die Lektüre zu gehen als bis ich den Kontakt mit meinen ihm verschränkten Untersuchungen in höherem Maße besäße als im Zeitpunkt seines Eintreffens, äußerer Umstände wegen, der Fall war. Seit einigen Tagen sind nun bei mir die Dinge wieder in Fluß gekommen und ich verbringe Stunden über Ihrem Buch, in Bewunderung.32

Dass Bauform und Interieur der Passagen in Benjamins Projekt eine zentrale Rolle spielen sollten, zeigen die Aufzeichnungen in verschiedenen Konvoluten mit Überschriften wie „F Eisenkonstruktion“ oder „L Traumhaus, Museum, Brunnhalle“, in denen sich auch Exzerpte zu Architekturbüchern finden. Verarbeitet sind die Notate in einem Text mit dem Titel Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, den Benjamin im Mai 1935 in einem Brief an Adorno als „Exposé“ bezeichnete, um ein Stipendium des Instituts für Sozialforschung zu bekommen.33 Doch ist der Text mehr als ein Antrag, nämlich eine theoretisch anspruchsvolle, konzis formulierte und zugleich präzise komponierte Gesamtdarstellung des Themas, die die einzige zu Lebzeiten geblieben ist, wenn man von einer gekürzten französischen Übersetzung von 1939 absieht. Im ersten Abschnitt hat Benjamin die Fakten zur Bauweise der Passagen zusammengefasst: „Erstmals in der Geschichte der Architektur tritt mit dem Eisen ein künstlicher Baustoff aus. […] Man vermeidet das Eisen bei Wohnbauten und verwendet es bei Passagen, Ausstellungshallen, Bahnhöfen – Bauten, die transitorischen Zwecken dienen.“ Dann folgen Eckpfeiler der Theorie, für die Ideen des Marxismus und der Psychoanalyse verbunden werden: Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die

32 Benjamin, Gesammelte Briefe, 6 Bde., Christoph Gödde/Henri Lonitz (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1995–2000, Bd. 3, S. 443f. 33 Benjamin, Gesammelte Briefe, Bd. 5, S. 95.

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Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. (GS V, 46f.)

Die Raumform der Passagen und die Ideologie des Kapitalismus sollten demnach in einen Zusammenhang gebracht werden. Die theoretische Formulierung bereitete Benjamin allerdings große Schwierigkeiten, da weder der Marxismus noch die Psychoanalyse Vorarbeiten geleistet hatten. Vielmehr hatten beide – ebenso wie Ästhetik und Psychologie – die Architektur nicht berücksichtigt.34 Anregungen lieferte allein Giedions Buch.35 Beeinflusst waren seine Ideen von den architekturpsychologischen Überlegungen seines Doktorvaters Heinrich Wölfflin, der 1886 in seiner Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur die Erfahrung des Subjekts in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Gebäuden gestellt hatte. Doch führte er die Überlegungen nicht weiter, sondern konzentrierte sich auf die Geschichte der bildnerischen Formen, worauf Benjamin 1932 in einer Besprechung mit dem Titel Strenge Kunstwissenschaft eingegangen ist (GS III, 363–369). Auch in Giedions Dissertation Spätbarocker und romantischer Klassizismus (1922) spielt Wölfflins Architekturpsychologie keine Rolle, bis er sie in Bauen in Frankreich für die Moderne fruchtbar zu machen versuchte.36 Eine Notiz zu Giedion im Passagen-Werk spiegelt Benjamins Bemühungen um Theoriebildung wider: Versuch, von Giedions These aus weiterzukommen. Er sagt: „Die Konstruktion hat im 19. Jahrhundert die Rolle des Unterbewußtseins.“ Setzt man nicht besser ein: „die Rolle des körperlichen Vorgangs“, um den sich dann die „künstlerischen“ Architekturen wie Träume um das Gerüst des physiologischen Vorgangs legen? (V, 1027; vgl. 494)

Die Frage zeigt zwar, wie unsicher Benjamin war, doch deutet die Formel „Architekturen wie Träume“ auf die architekturanalytisch erweiterte Grundidee des Passagen-Werks. Hier sollten die räumlichen Errungenschaften, die der Eisenbau im 19. Jahrhundert hervorgebracht hatte, als „Zeugnis eines Kollektivtraums“

34 Vgl. Detlev Schöttker, „Auge und Gedächtnis. Für eine Ästhetik der Architektur“, in: Merkur, 56/2002, 6, S. 494–507. 35 Vgl. Heinz Brüggemann, „Walter Benjamin und Siegfried Giedion oder Die Wege der Modernität“, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hrsg.), global benjamin. Internationaler Walter BenjaminKongreß 1992, München 1999, Bd. 2, S. 717–744; Philipp Ekardt, „Passage als Modell. Zu Walter Benjamins Architekturtheorie“, in: Poetica, 37/2005, 3/4, S. 429–462. 36 Vgl. Detlev Schöttker, „Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis. Die Architektur der Gesellschaft aus Sicht der historisch-soziologischen Wahrnehmungstheorie: Giedion, Benjamin, Kracauer“, in: Joachim Fischer/Heike Delitz (Hrsg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 137–162.

Raumsinn und gewohntes Leben

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(GS V, 213) bzw. „Traumhäuser des Kollektivs“ gedeutet werden, zu denen Benjamin auch „Wintergärten, Panoramen, Fabriken, Wachsfigurenkabinette, Kasinos, Bahnhöfe“ rechnete (GS V, 511). Es ging ihm also um jene kollektiven Traumvorstellungen, die die Eisenbauten, die frühe Medienindustrie und die Warenwelt des Kapitalismus hervorgerufen haben. Im Passagen-Exposé bezeichnet Benjamin diese als „Phantasmagorie“ eines „Schlaraffenlands“ (GS IV, 47) und vergleicht sie mit religiösen Vorstellungen. Die Formel „Kapitalismus als Religion“ findet sich bereits in einem Fragment der frühen zwanziger Jahre; hier setzt sich Benjamin mit Webers Schrift Die protestantische Ethik auseinander, die ebenfalls auf eine historische Theorie des Kapitalismus zielte.37 Im Passagen-Werk hat er die frühe Idee aufgenommen und weitergeführt.38 1935 heißt es dazu im Exposé: In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat. (GS V, 47)

Giedions Ansprüche und Thesen waren im Vergleich zu Benjamin zurückhaltender. In Bauen in Frankreich schreibt er zum Einfluss des Eisenbaus auf die Erfahrung, dass „das neue Bauen seinen Ursprung im Augenblick der Industriebildung um 1830“ habe, um dann festzustellen: „Wie die Konstruktion ist die Industrie ein innerer Ausdruck unseres Lebensprozesses.“39 Allerdings wollte auch er die mentalen Folgen der Industrialisierung in einem Buch behandeln, an dem er zwischen 1936 und 1937 in der Pariser Nationalbibliothek arbeitete. Das Projekt blieb wie die Passagenarbeit unabgeschlossen, doch gibt es Notizen und Materialien im Nachlass, aus denen die Idee hervorgeht.40 Dass Benjamin zur selben Zeit und am selben Ort wie Giedion am Passagen-Projekt gearbeitet hat, ohne dass es zu nachweisbaren Kontakten zwischen den ehemaligen Briefpart-

37 Vgl. Dirk Baecker (Hrsg.), Kapitalismus als Religion, Berlin 2003. 38 Vgl. Detlev Schöttker, „Kapitalismus als Religion und seine Folgen. Benjamins Deutung der kapitalistischen Moderne zwischen Weber, Nietzsche und Blanqui“, in: Bernd Witte/Mauro Ponzi (Hrsg.), Theologie und Politik. Walter Benjamin und ein Paradigma der Moderne, Berlin 2005, S. 70–81. 39 Sigfried Giedion, Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton, Leipzig/Berlin 1928, S. 2 und 4. 40 Vgl. Sokratis Georgiadis, „Giedions Versuch einer ästhetischen Theorie der Moderne“, in: Ders./Verena Rentsch (Hrsg.), Sigfried Giedion 1888–1968. Der Entwurf einer modernen Tradition, Zürich 1989, S. 17–29.

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nern kam, gehört zu den irritierenden Vorgängen der neueren Wissenschaftsgeschichte. Giedion hat seine Recherchen in zwei Werken weitergeführt, an denen er seit 1938, dem Jahr seiner Emigration in die USA, arbeitete und die zu Standardwerken geworden sind: 1941 erschien Space, Time and Architecture über die Vorgeschichte des neuen Bauens und deren Folgen für die Wahrnehmung. 1948 folgte Mechanisation Takes Command über die Vorgeschichte der Industrialisierung und deren Folgen für das Alltagsleben. Beide Bücher liefern Beiträge zu einer sozialpsychologisch orientierten Architektur- und Technikgeschichte, die auch Benjamin vorschwebte, lassen aber auch deutlich werden, wie groß die Lücke ist, die die unvollendete Passagenarbeit hinterlassen hat.

Sarah Pogoda, Berlin

Von Baumeistern, Anti-Architekten und Anarchitektur Grenzen der Architekturmetapher

Es ist interessant, Bölls Architektur zu verfolgen: wie da die Elemente miteinander verflochten sind; nichts sticht leer in den Raum, nichts hängt über, die Schicksale sind verknüpft und spitzen sich zu auf den Punkt der Katharsis. Das ist bewußte Arbeit, und Böll hat uns einiges von seiner Arbeit berichtet, von den farbigen Tabellen, die er sich anfertigt und auf denen die drei Schichten erscheinen, die er in seinen Romanen hat: die reale, das heißt die Gegenwart; die Reflektiv- oder Erinnerungsebene; die Ebene der Motive.1

Es ist Stefan Heym, der hier 1968 Heinrich Bölls Schreibverfahren als Architektur beschreibt. Jene „farbigen Tabellen“ hat sein Sohn und Nachlassverwalter René Böll jüngst in einem großformatigen Bildband den Archiven enthoben. Böll hat mit den „Grundrissen“2 – wie er die Tabellen und Zeichnungen nannte – seine Romane nicht nur skizziert, sondern er hat – wie ein Architekt mit Bauplänen – während des Schreibprozesses mit und an ihnen gearbeitet, er hat sie mit Heftzwecken an die Wand seines Arbeitszimmers geheftet, hat die Texte anhand der Baupläne überprüft und korrigiert.3 Der Architektenvergleich Heyms liegt in Bezug auf Bölls Arbeitsweise also durchaus nahe.

I Fundamente Ohnehin ist die Vorstellung, Schriftsteller seien Wortbaumeister, ja gar Demiurgen ihrer diegetischen Welten, weit verbreitet. Und für Autoren wie Marcel Proust, Joris-Karl Huysmans und Victor Hugo ist der Vergleich durchaus angemessen, konzipierten sie ihre Romane doch dem Bau einer Kathedrale gleich, proklamier-

1 Stefan Heym, „Das Establishment und die Verantwortung“, in: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.), In Sachen Böll, Köln 1968, S. 195–198, hier S. 196. 2 Jochen Schubert, „Die Romanskizzen Heinrich Bölls“, in: Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.), Ansichten. Die Romanskizzen Heinrich Bölls./In View: Heinrich Böll’s Novel Sketches, Berlin 2010, S. 12–17, hier S. 12. In dem abgedruckten kurzen Gespräch mit Ekkehart Rudolph sagt Böll, dass diese Pläne ihm helfen, „Überblick zu gewinnen“ und sie ihm erlaubten, „Einblick in eine gewisse Harmonie“ zu bekommen; „Protokoll zur Person (1971). Gespräch mit Ekkehart Rudolph“, in: Ebd., S. 17. 3 Siehe dazu: René Böll, „Schemenhaft“, in: Ebd., S. 8–10, hier S. 9.

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ten sich damit gar selbst zum Baumeister und die Dichtung zur neuen Baukunst.4 Ähnliche Gleichsetzungen finden sich, wenn Schriftsteller reale oder imaginäre Architekturen beschreiben oder etwa ihre Poetologien mit architektonischen Metaphern umschreiben (wie Edgar Allan Poe in Landor’s Cottage). Was aber evoziert eigentlich die Analogie zwischen Literatur und Architektur? Christoph Feldtkeller vermutet: Sie [die Architekturmetapher] beinhaltet im allgemeinen wohl eine Anspielung auf den geordneten, gewisse Regeln oder Gesetze folgenden Aufbau oder auf die innere Kohärenz, evt. auch auf den Aspekt des Intrikaten, nicht ohne weiteres Durchschaubaren. So […] in der Wendung ,architecture of complexity‘. Es ist offensichtlich – und es würde noch deutlicher, wenn man das Wort ,Architektur‘ ausgesprochen hörte –, daß […] die Distanz zum gemeinen Begriff des Baus oder des Aufbaus mit von Bedeutung ist, daß auch hier die Aura des Großartigen, des genannten Adels der Architektur mit im Spiel ist – was auch der Grund sein dürfte dafür, daß wir beim metaphorischen Gebrauch nur selten die adjektivische Form finden.5

Und tatsächlich ist es gerade die gestaltete Materie, die auch Heym im Falle Bölls hervorhebt: Die Grundrisse seiner Romane evozieren für Heym eine gewisse Herrschaft des Autors über seinen Stoff: Da hat jemand „bewusst gearbeitet“, „nichts sticht leer in den Raum, nichts hängt über“. Wie einst der Demiurg in Platons Timaios „als Baumeister die Welt gebildet“ hat (T 28c),6 stiftet auch der Dichter als Architekt eine durchgestaltete Ordnung, auch seine poiēsis ist arché.7 Der Architekturvergleich suggeriert – auch schon bei Platon –, dass das Werk von einem souverän planenden und konstruierenden Geist zu einer harmonischen Totalität geformt und durchgestaltet wurde, und zwar nach festgelegten, klaren Ordnungsprinzipien und Gesetzmäßigkeiten.8 Wird ein literarischer Text auf diese Weise als

4 Siehe dazu die Beiträge von Ulrich Ernst und Sonia Goldblum in diesem Band. 5 Christoph Feldtkeller, „Architektur“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bdn, Bd. 1, Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Stuttgart/Weimar 2000, S. 286–307, hier S. 292. 6 Platon, „Timaios“, in: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 3, Erich Loewenthal (Hrsg.), Köln 1969, 17a–92c (nach der Stephanus-Paginierung), hier 39e–41a. 7 arché (gr.) ist abgeleitet aus archein, was soviel heißt wie „anfangen“, „herrschen“. Zu den mythologischen Implikationen von Architektur siehe auch: Mircea Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Darmstadt 1976, S. 415–437. 8 Die Bestimmung von Architektur als ein metaphysisch begründetes Ordnungsprinzip findet sich bereits bei Aristoteles und wurde über Vitruvs Proportionslehre bis heute tradiert, wie ein Zitat Franz Xavier Baiers zeigt: „Architektur ist an eine höhere Macht und eine höhere Ordnung gebunden, und die Schönheit der Architektur ist nichts weiter als das Scheinen dieser Ordnung und dieser Macht.“ Franz Xaver Baier, „Neuer Architektentypus – neue Räume? Die Organisation des Unsichtbaren“, in: Ursula Baus (Hrsg.), Architekten: Apocalypse now? Die Veränderungen eines Berufsbildes, Stuttgart 1997, S. 62–65, hier S. 63.

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ein geplanter Bau nach intelligiblen Gesetzen vorgestellt, so muss es per Vernunft möglich sein, diese Konstruktion zu rekonstruieren. Das literarische Kunstwerk wird somit zu einem legitimen Gegenstand der Wissenschaft und die Architekturanalogie zur Legitimation literaturwissenschaftlicher Deutungsmethoden. Inzwischen hat sich eine stimmige Architektur literarischer Texte sogar zu einem weitverbreiteten sanktionierten Bewertungskriterium der Literaturkritik etabliert, ohne dass sein Erkenntniswert je ernsthaft hinterfragt worden wäre. Einen solchen kann die Literaturwissenschaft aus Architekturmetaphern dort ziehen, wo sie zur Selbstbeschreibung von Dichtern und Dichtung fungiert, wie im Falle der oben genannten Franzosen. Schon Johann Wolfgang von Goethes Apotheose des Baumeisters Erwin von Steinbach in Von deutscher Baukunst (1773) zielte vor allem auf die Selbstaufwertung des dichterischen Genies, dem der Architekt nur eine Projektionsfigur war, und ist zugleich dem Bemühen jener Zeit zuzurechnen, die privilegierte Position des Architekten als sogenannten secundus deus, als welcher er gegenüber den bildenden und nachahmenden Künsten in der Ästhetik lange galt, zu usurpieren.9 Der Vergleich mit dem allmächtigen Architekten zielte außerdem auf eine Nobilitierung der eigenen dichterischen Leistungen. Offensichtlich eine erfolgreiche Strategie, gelten Titel wie Wortbaumeister oder Romanarchitekt doch bis heute als Auszeichnung.10 Wo der Architekt mit Steinen baut, baut der Schriftsteller mit Worten, wo der Architekt Raum stiftet, stiftet der Dichter Zeit.11 Deshalb verweisen Metaphern wie „Romanarchitektur“ oder „Textarchitekturen“ – Lessings Unterscheidung von Malerei und Poesie in der „Laokoon-Schrift“ folgend – meist auf die strukturellen Eigenschaften der Kunstwerke. So untersucht zum Beispiel Ute von Kahlden unter dem Programm „Romanarchitektur“ nichts anderes als die Zeitstrukturen komplex gebauter literarischer Texte mit dem Ziel, „die Zeit- und Erzählstrukturen in Romanen (und in Erzähltexten allgemein) durch die Erstellung von Schaubildern

9 Zur Stellung der Architektur in der Ästhetik siehe: Feldkeller, „Architektur“, S. 293; einschlägig zur Tradition des secundus deus siehe Vinzenz Rüfner, „Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum“, in: Philosophisches Jahrbuch der GörresGesellschaft, 63/1955, S. 248–291. 10 So wurde zum Beispiel jüngst der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa anlässlich der Verleihung des Nobelpreises im Deutschlandradio als „[e]iner der größten Romanarchitekten der Weltliteratur“ gewürdigt. Deutschlandradio, „Einer der größten Romanarchitekten der Weltliteratur“. Lateinamerika-Expertin über Mario Vargas Llosa. Michi Strausfeld im Gespräch mit Joachim Scholl, 07.10.2010. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1290957/ [Stand: 21.03.2012]. 11 Mit dem spatial turn freilich hat die Literaturwissenschaft ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf Raumgenesen (in) der Literatur gelenkt. In diesem Zuge entstanden Arbeiten wie Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin u.a. 2009.

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sichtbar“ zu machen.12 Auch andere literaturwissenschaftliche Arbeiten wie Beate Schnepps „Die Architektur des Romans. Zur Komposition von Heinrich Bölls Wo warst du, Adam?“13 fokussieren auf Zeitstrukturen. In eben diesem Sinne wurde auch Bölls Roman Billard um halb zehn (1959)14 als seine wohl ambitionierteste Bauleistung apostrophiert. Hier hatte sich der Schriftsteller als ein Architekt der Zeit profiliert, der über die narrative Konstruktion einer multiperspektivischen Simultanität – gemeistert mit Hilfe der anfangs erwähnten farbigen Tabellen15 – annähernd ein volles Jahrhundert deutscher Geschichte bewältigt. Die Nobilitierung Bölls zum Romanarchitekten gründete sich eben gerade auf dieses Verfahren, über das Böll mit der Aufeinanderfolge von Worten ein Nebeneinander der Zeiten – und damit eine Räumlichkeit des Erzählten – generiert habe.16

II Grund-Risse Von Interesse soll Bölls Roman hier aber auch deshalb sein, weil Böll in diesem so architektonischen Roman eine Dynastie von Anti-Architekten porträtiert, Architekten also, die gerade nicht entwerfen und nicht bauen wollen. Alle drei Architektengenerationen der Familie Fähmel haben nämlich mit dem Zweiten Weltkrieg „die Lust am Bauen verloren“ (B 227) und können „keine Steine mehr sehen und keinen Mörtel mehr riechen“ (B 226) – wie es im Roman heißt. Sie weigern sich, am Wiederaufbau Deutschlands zu partizipieren, da sie fürchten, dass mit der Beseitigung der Trümmer – als Wahrzeichen der Verbrechen – auch die trauer- und schuldbesetzte Vergangenheit ausgelöscht werde. Sie bauen vor allem deshalb nicht, weil sie „Angst vor Häusern [haben], in denen man sich einrichtet und sich von der banalen Tatsache überzeugen läßt, daß das Leben

12 Ute von Kahlden, Romanarchitektur im Koordinatenkreuz. Graphische Analysen von Erzählund Zeitstrukturen im zeitgenössischen Roman, Tübingen 1997, S. 6. 13 Beate Schnepp, „Die Architektur des Romans. Zu: Wo warst du, Adam?“, in: Werner Bellmann (Hrsg.), Das Werk Heinrich Bölls. Bibliographie mit Studien zum Frühwerk, Opladen 1995, S. 109–123. 14 Heinrich Böll, Billard um halb zehn, München 2000, im Folgenden mit dem Sigle B und Seitenangabe zitiert. 15 Siehe dazu die Abdrucke in: Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.), Ansichten, S. 66–77. 16 Die „künstlerische Architektur des Romans“ untersucht Klaus Jeziorkowski und kommt schließlich zum dem Schluss: „Aus der Kombination des zeitlichen und des räumlichen Bewegungssystems baut sich die besondere Zeitstruktur des Romans auf: Zeit und Ort stehen in Relation zueinander.“ Klaus Jeziorkowski, Rhythmus und Figur. Zur Technik der epischen Konstruktion in Heinrich Bölls „Der Wegwerfer“ und „Billard um halb zehn“, Bad Homburg/Berlin/ Zürich 1968, hier S. 153 und S. 155.

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weitergeht und die Zeit einen versöhnt“ (B 314). Wo aber Bölls Figuren zu jeder Architektur unfähig sind, erweist sich ihr Schöpfer als äußerst bauwilliger und souveräner Romanarchitekt, die Krise der Nachkriegszeit zeigt sich also thematisch, nicht aber stilistisch. Wenn Bölls Figuren aus moralischen Gründen auf das Bauen verzichten, warum verzichtet nicht auch ihr Autor auf das Schreiben? Diese Ungleichzeitigkeit soll im Weiteren näher verfolgt werden – unterläuft sie etwa die fragliche Analogie? Bölls Selbstverständnis als Schriftsteller konstituiert sich durch einen moralischen Auftrag, dem die Trias von Sprache, Wohnen und Heimat inhärent ist.17 Der Verlust der Heimat in der Sprache durch den Missbrauch mit und an ihr unter dem Nationalsozialismus begründet die Aufgabe des Dichters, diese Heimat neu zu konstituieren, wie Böll in seinen zahlreichen poetologischen Überlegungen hervorgehoben hat. Schreiben heißt für ihn daher „[d]ie Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land“,18 Sprache sei dort ein „letzte[r] Hort der Freiheit“,19 wo sie untröstlich bleibe gegenüber der Vergänglichkeit.20 Während sich also die Nachkriegsdeutschen im Wiederaufbau dem Verdrängen der Vergangenheit hingeben könnten („im Bauen suchen sie Vergessen“, B 165), so Böll, sei es die Aufgabe des Schriftstellers die Erinnerung zu fordern und zu pflegen. Daher erscheint das Bauen mit Stein und Mörtel moralisch nicht mehr möglich, das Bauen mit Worten hingegen moralisch notwendig. Anti-Architekten sind die Fähmels also nur deshalb, weil sie noch unfähig sind, eine Architektur im Zeichen der Erinnerung und der Humanität zu konzipieren, während Böll in seinem Architektenroman eine „Ästhetik des Humanen“21 zu verwirklichen können glaubt. Verbunden damit ist der für den Nachkriegsrealismus rund um die Gruppe 47 durchaus typische Anspruch, dass der Schriftsteller Wahrheit vermittelt, „die reine Wahrheit“, wie Böll es einmal formuliert: „Er kann irren, aber in dem Augenblick, wo er, was sich später als Irrtum herausstellen mag, ausspricht, muß er glauben,

17 Siehe dazu die einschlägige Arbeit von Ulrich Volk, Der poetologische Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenössischen Verständnis von Poetik, dargestellt an ausgewählten Beispielen der Frankfurter Stiftungsdozentur Poetik, Frankfurt a.M. 2003. 18 Heinrich Böll, „Frankfurter Vorlesungen“, in: Böll, Werke. Kölner Ausgabe, Bd. 14 (1963–1965), Jochen Schubert (Hrsg.), Köln 2002, S. 139–201, hier S. 159. 19 Heinrich Böll, „Die Sprache als Hort der Freiheit. Rede, gehalten anläßlich der Entgegennahme des Eduard-von-der-Heydt-Preises der Stadt Wuppertal am 24.1.1959“, in: Böll, Werke. Essayistische Schriften und Reden I (1952–1963), Bernd Balzer (Hrsg.), Köln 1978, S. 301–305, hier S. 302. 20 Heinrich Böll, „Die Freiheit der Kunst. Dritte Wuppertaler Rede am 24.9.1966“, in: Böll, Werke. Essayistische Schriften und Reden II (1964–1972), Bernd Balzer (Hrsg.), Köln 1978, S. 228–232, hier S. 230. 21 So der programmatische Titel von Bölls Frankfurter Poetik-Dozentur im Wintersemester 1963/ 64.

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daß es die reine Wahrheit ist.“22 Über einen solcherart starken Autorbegriff erweist sich die Architekturanalogie noch einmal als durchaus naheliegend, denn seit Aristoteles assoziiert die Werktätigkeit eines Architekten die souveräne Planung und Leitung eines Bauprojektes und somit die Kenntnisse über die notwendigen Mittel und Prozesse.23 Böll mag also vielleicht keine erhabenen Textkathedralen bauen wie noch Proust oder Hugo, aber immerhin glaubt Manfred Durzak Böll attestieren zu können, im Billard-Roman, „ein Gesamtbild der deutschen Wirklichkeit“ zu gestalten,24 und auch Ursula Knapp konstatiert, dass Böll trotz der kaleidoskopartigen Erzählweise, letztendlich doch eine hermetische Erzählperspektive einnehme.25 Daher spiegelt sich bei Böll die thematologische Krise der Architektur nicht in einer brüchigen Romanarchitektur oder gar in einer Krise des Erzählens. Die Ruine, die im Text in Form der Zerstörung der Abtei St. Anton zum bedeutungsschweren Symbol des Krisenzustandes wird, bleibt ein (thematisches) Motiv, wird nicht zum poetologischen Prinzip. In Brigitte Reimanns Fragment gebliebenen Roman Franziska Linkerhand (1974/1998) hingegen spiegelt sich die Krise der titelgebenden Architektin und Erzählerin Franziska Linkerhand in der narrativen Struktur. Hatte Reimann in frühen Romanen wie Ankunft im Alltag (1961) im Sinne des Sozialistischen Realismus eine allwissende Erzählperspektive durchgehalten, mit der eine Erzähltotalität evoziert wurde, die eine übergreifende stark politisch normierte Wahrheit beinahe bruchlos vermittelte,26 so zeigen sich in der polymodalen und unzuverlässigen Erzählkonstellation von Franziska Linkerhand27 deutliche Brüche, die für Helen L. Jones nicht nur typische Charaktere und Narrative, sondern vor allem deren allwissenden Erzähler in Frage stellen, der im „Sozialistischen Realismus“ verpflichtend war.28 „Ich weiß nicht, [….] ich weiß nicht mal, was Wahrheit ist“,

22 Böll, „Die Sprache als Hort der Freiheit“, S. 304. 23 Siehe dazu Bernhard Waldenfels, „Architektonik am Leitfaden des Leibes“, in: Eduard Führ/ Hans Friesen/Anette Sommer (Hrsg.), Architektur im Zwischenreich von Kunst und Alltag, Münster/ New York/München/Berlin 1997, S. 45–62. Bis heute hat sich diese universale Kompetenz und Souveränität im Bild des Architektenberufes erhalten, siehe dazu: Max Bächer, „Blick zurück nach vorn. Konstanten im Beruf des Architekten“, in: Baus, Architekten, S. 20–29, hier S. 20. 24 Manfred Durzak, Der deutsche Roman der Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 97–109, hier S. 97. 25 Ursula Knapp, Der Roman der fünfziger Jahre. Zur Entwicklung der Romanästhetik in Westdeutschland, Würzburg 2002, S. 21. 26 Helen L. Jones, „Narrative Structure and the Search for the Self in Brigitte Reimann’s Franziska Linkerhand“, in: German Life and Letters, 51/1998, S. 383–397, hier S. 383. 27 Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand, Berlin 1998, im Folgenden zitiert mit dem Sigle FL und Seitenangabe. 28 Jones, „Narrative Structure“, S. 383. Siehe zur Erzählkonstellation auch: Withold Bonner, „Der Vogel mit dem bunten Gefieder“. Redevielfalt als Maskerade in der Prosa Brigitte Reimanns,

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bemerkt Franziska einmal selbst, „[w]enn ich dir erzähle: das war so und so – ist das wahr?“ (FL 88) Mit dem Fehlen einer Wahrheit erscheint Erzählen nicht mehr als harmonisches Geschehen, als Akt eines souveränen Erzählers, der über seinen Stoff frei verfügt, sondern als ein Akt von höchster Ambivalenz. Die Zurücknahme autoritärer Instanzen ist ein Eingeständnis einer narrativen Ungewissheit oder auch Zurücknahme der Autorität einer singulären Erzählerinstanz, die eine geschlossene diegetische Totalität generieren könnte. Reimann notierte während ihrer Arbeit am Roman: Ich weiß selbst, das Buch besteht aus lauter Abschweifungen, kann es aber nicht erklären, warum ich’s gerade so schreiben will […] Protest gegen die Fabel, die Roman-Konstruktion, die mir zu kristallen, zu rein erscheint, zu künstlich, zu klar in einer unklaren Gesellschaft.29

1981 hielt Urs Jaeggi auf der Tagung des Deutschen Schriftsteller-Verbandes in München sein „Plädoyer fürs Unreine“,30 in dem er einen Ausbruch der professionell Schreibenden aus der „Rigorosität im Formalen“,31 den Sprachkonventionen des ästhetischen Konstrukts32 forderte und zum Ablegen des künstlich Klaren und Reinen der perfekten literarischen Sprache zugunsten des „Authentischen, Unverstellten und Ungekünstelten, Unreine[n] und Spontane[n]“33 fern des „Kunstschönen“34 ermunterte. Seinem Appell kam Jaeggi dann in seinem 1984 erschienenen Architektenroman Grundrisse nach.35 Der Berliner Architekt Albert Knie, während des Studiums in der „68er“-Bewegung aktiv, hatte seinen Beruf ergriffen, um die Welt radikal zu verändern, um mittels einer revolutionären Architektur „der bürgerlichen Gesellschaft endgültig den Atem ab[zu]schneiden“ (G 54). Seine Bauten sollten „[d]ie Leute dazu anstiften, die Dinge neu zu sehen,

Tampere 2001, insbes. S. 246–254. URL: http://www.brigittereimann.de/dokumente/gefieder.pdf [Stand 31.03.2012]; Maria Brosig, „,Immer schwebend zwischen Erinnerung, Erlebnis und Gespräch.‘ Zu Form und Struktur des Romans ,Franziska Linkerhand‘ von Brigitte Reimann“, in: Margrid Bircken/Heike Hampel (Hrsg.), Lesarten. „Franziska Linkerhand“. Kultbuch einer Generation? Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz, Neubrandenburg 2001, S. 78–102, insbes. S. 82–86. 29 Brigitte Reimann, Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964–1974, Angela Drescher (Hrsg.), Berlin 1998, S. 205. 30 Urs Jaeggi, „Plädoyer fürs Unreine“, in: Ders., Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Aufsätze, Darmstadt/Neuwied 1981, S. 157–162. 31 Ebd., S. 159. 32 Ebd., S. 160. 33 Ebd., S. 159. 34 Ebd., S. 160. 35 Jaeggi, Grundrisse, Darmstadt u.a. 1981, im Folgenden zitiert mit dem Sigle G und Seitenangabe.

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mit neuen Augen“ (G 55). Doch eines Tages blickt ihm in seinem aktuellen Bauprojekt das Scheitern der gesellschaftlichen Utopie seiner Generation entgegen. Das Werk „erschien ihm wie eine gigantische Verschwörung gegen das Leben. Das Metallmonstrum hatte nichts zu tun mit grenzenloser Phantasie, erfüllte keine Wünsche, war kein Unternehmen zum Eintauchen in etwas Schützendes“ (G 74). Der revolutionäre Gestus des weltverändernden Architekten hat sich als Disziplinierungsvollzug erwiesen. Er zieht sich daraufhin für ein Jahr beruflich zurück. Am Ende des Romans steht der Verzicht auf jede innovative Gestaltung der Zukunft, entsprechend kehrt er als Restaurator jenseits des Avantgardismus in den Architektenberuf zurück: „Das Schlimmste verhüten. Vielleicht habe ich dazugelernt, vielleicht schaffe ich es, weder ein blinder Vernichtungsidiot noch ein wahnwitziger Fortschrittstrottel zu sein“ (G 252). Der Krise und dem Umdenken des Architekten Knie komplementär, wählt Jaeggi eine sehr provisorische und offene formale Gestaltung des Textes, die mit der Krise des Architekten und Erzählers Albert Knie korrespondieren soll durch eine polymodale Erzählweise und eine bewusste Zurücknahme der ordnenden und ästhetischen Durchgestaltung des Romantextes. Die Sprache ist dem alltäglichen Jargon sehr nahe, wenig ästhetisiert, sondern beinahe der Unverfügbarkeit und der „heilsame[n] Verwilderung“ (G 44) überlassen und durchsetzt mit offenbar authentischen Berliner Sgraffiti, die typographisch hervorgehoben als Prototypen einer verwilderten Alltagspoesie zitiert werden. Reimann und Jaeggi sind zwei prominente Beispiele für die Verschiebungen der Architekturanalogie, die nicht nur thematisch, sondern auch poetologisch durchgeführt werden und in textuelle Anti-Architekturen münden, denen der Verzicht auf eine geschlossene Romanarchitektur und eine Zurücknahme der moralischen Autorität zugunsten einer Infragestellung gültiger Wahrheiten inhärent sind. Anders noch als bei Böll spiegeln sich in diesen beiden Texten die Krise des Erzählens in der Krise der Architektenfiguren sowie der Anti-Architektur der Texte. Der vielleicht interessanteste deutschsprachige Architektentext, in dem sich eine Krise auch in die poetologische Anlage des Textes einschreibt, ist Christoph Geisers Buch Die Baumeister (1998).36 Geiser geht in diesem Text – der Titel deutet es bereits an – der Imago vom Schriftsteller als Architekten in all seinen Konsequenzen nach und gewinnt damit dem Architekten- und Anti-Architektenthema poetologische Erkenntnisse ab. Die Baumeister ist kein Roman, es wird keine Geschichte erzählt, sondern das Selbstgespräch eines Schriftstellers, der isoliert und vereinsamt in seinem Ar-

36 Christoph Geiser, Die Baumeister. Eine Fiktion, Zürich 1998; im Folgenden mit dem Sigle DB und Seitenangabe zitiert.

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beitszimmer am Schreibtisch sitzt und sich offenbar in einer schöpferischen Krise befindet: „Ich bin niemand. Machtlos. Besitzlos. Rechtlos. Willenlos. Unwissend. Untätig – untot. Ich vermag nichts“ (DB 15), gesteht der Schriftsteller als AutorIch sprechend gleich zu Beginn des Textes. In diesem Zustand betrachtet er zahlreiche Architekturbücher, aus denen ihm der Architekt in besagter Imago des souveränen Schöpfers als Gegenbild zum ohnmächtigen Schriftsteller entgegentritt. Der Architekt wird ausdrücklich im Kompositum mit Bindestrich – „BauMeister“ – eingeführt: „Und dort wäre der Meister? Ihrer aller Meister? Unser Meister? Der Bau-Meister […]? Bau-Herr gar? Herr und Meister […]?“ (DB 18) Das Kompositum Baumeister wird hergeleitet aus dem sinnfälligen selbständigen Element ‚Meister‘. Die Semantik der Macht, die dem Wort ‚Meister‘ inhärent ist, wird ausgereizt im markierten Kompositum ‚Bau-Herr‘, ebenfalls ein Kompositum, das mit dem Element ‚Herr‘ Assoziationen zu Souveränität und Macht herstellt. Später wird dieses Wortspiel ‚Meister‘ explizit dem Bereich schöpferischer Kompetenz zugewiesen: „Nichts als ein Könner! Ein Meister! Der Gesetze der BauKunst, der Schwerkraft, der Statik, der Raumperspektive, meisterhaft“ (DB 34). So amalgamiert in der bevorzugten Schreibweise „Bau-Meister“ Souveränität und Herrschaft einerseits mit schöpferischer Könnerschaft und Künstlertum andererseits, erscheint der Architekt als Prototyp eines „[s]ouveräne[n] Ich“ (DB 98): „Eigenmächtig! Allmächtig! Selbst-Herrlich! Souverän!“ (DB 99) und verkörpert damit all das, wonach der Schriftsteller am Schreibtisch sich sehnt. Der nämlich weiß längst: Ich bin doch kein Bauherr! / Nicht einmal mein eigener Baumeister. Meistere nichts! Baue nichts mehr. Keine Welt, keinen Raum, keine Wirklichkeit. Rede nur noch … vor mich hin, vornehmlich mit mir, mit reglosen Lippen, tonlos, unhörbar … hab nichts mehr zu melden! (DB 16)

Das Autor-Ich beschreibt sich hier metaphorisch als gescheiterter Baumeister. Es baut keine Wirklichkeit und keine Welt, es redet nur in einem tonlosen Selbstgespräch. Dieses Selbstgespräch konstituiert den Text Die Baumeister. Die Rede des Schriftstellers zerfällt dabei in polyphone Stimmen, das heißt, es ist kein einheitlicher Monolog eines Autor-Ich. Die Stimmen wären eventuell am ehesten als Äußerungen widersprüchlicher Wünsche, Sehnsüchte und Gefühle des Schriftstellers am Schreibtisch zu verstehen. Die polyphonen Stimmen bleiben daher programmatisch unbestimmt: „[W]er hat was gesprochen?! Egal!“ (DB 201) „Sie! Du? Wir? Wer? – egal wen! und noch mal: egal!“ (DB 99) Heißt es anfänglich noch „ich rede“ (DB 16), so heißt es zum Ende des Textes „es redet in mir fort und fort“ (DB 224), die Verbindung von Rede und redendem Schriftsteller hat sich längst entgrenzt in eine „Rede. Vor-Rede und Gegenrede. Anrede. Abrede“ (DB 244), in einen „Fortgang der Rede ohne Rede“ (DB 225). Die Stimmen ergrei-

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fen also selbständig das Wort, unterbrechen sich gegenseitig oder erheben Einspruch. Dabei richtet sich ihr Widerspruch nicht gegen eine einzige feste Instanz – wie sie zum Beispiel im Autor-Ich bestimmt werden könnte –, vielmehr wirkt der polyphone Widerspruch wie ein reziproker Selbstbehauptungs- und -zersetzungsprozess. Die frühe Attribuierung der Rede als tonlos und ungehört zeigt die Aushöhlung der Rede an.37 Der eigentlichen Funktion von Rede, nämlich über die lautliche Äußerung sich Gehör zu verschaffen, kommt die Rede des Schriftstellers also nicht mehr nach. Daher bleibt sie wirkungslos. Die Formulierung, nichts mehr zu bauen (DB 16), markiert, dass die Situation einmal eine andere, das Ich also vielleicht tatsächlich einmal ein Romanarchitekt war. Jetzt aber scheint das Erzählen unmöglich zu sein, und zwar nicht nur in Bezug auf die Diegese einer Erzähltotalität durch einen auktorialen Erzähler oder in Bezug auf eine harmonische Anordnung der ästhetisch durchgestalteten Sprachform, sondern überhaupt. Und tatsächlich realisiert der gesamte Text ein Anti-Narrativ,38 gerichtet gegen „die Regeln der Statik. Grundrisse. Fundamente. Fassaden“ (DB 16) einer klassisch aufgebauten Erzählung. Die polyphone Rede unterläuft jedes Narrativ und verkündet gar programmatisch: „Längst sind wir doch aus jeder Architektur hinausspaziert, aus jeder Literatur, jeder Struktur, jeder (strengen) Form hinausflaniert“ (DB 166). Hier postuliert der Text ein Jenseits von Architektur, ein jenseits auch von Literatur. Was aber findet sich dort, in diesem Jenseits? Es ist nicht das Nichts, denn trotz des Fehlens eines architektonischen Narrativs liegt dennoch ein Text – ein Sprachgebilde – vor. Das weist einen ähnlichen Entgrenzungsgestus auf wie die Sprachexperimente der Avantgarde der literarischen Moderne, des Surrealismus oder der Konkreten Poesie. Die artifizielle Qualität der polyphonen Rede in Die

37 In der Lehre der Rhetorik ist es gerade die Stimme mit ihrer Körperlichkeit, die der Sprache ihre Wirkungsmacht verleiht. Siehe dazu den Abschnitt „Reden und Schreiben“, in: Katrin Kohl, Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur, Berlin/New York 2007, S. 315–321. 38 Rosmarie Zeller macht erste Ansätze einer reduzierten Narrativik bereits in Geisers Romanen Das geheime Fieber (1987) und Das Gefängnis der Wünsche (1992) aus: „Eine Wende in Geisers schaffen zeigt sich nicht nur in der Wahl der Figuren, sondern auch in der Wahl der darstellerischen Mittel. Beide Romane erzählen keine Geschichte mehr, sie haben nur noch minimale narrative Elemente, sie erzählen nicht, sondern sie ‚reden‘.“ Rosmarie Zeller, „Natur und Kunst. Zu Christoph Geisers Romanen Das geheime Fieber und Das Gefängnis der Wünsche“, in: Zygmunt Mielczarek (Hrsg.), Nach den Zürcher Unruhen. Deutschsprachige Schweizer Literatur seit Anfang der achtziger Jahre. Konferenzbeiträge, Katowice 1996, S. 48–60, hier S. 48f. Geiser selbst spricht ab Das Gefängnis der Wünsche von seinen Texten als „rhetorische Texte“. Achim Roscher, „Gespräch mit Christoph Geiser“, in: Neue Deutsche Literatur, 39/1991, 6, S. 60–68, hier S. 60.

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Baumeister erinnert daher wohl auch an Schreibweisen von Elfriede Jelinek,39 Arno Schmidt oder James Joyce.40 Auch Geiser setzt die literarische Sprache antimimetisch ein und entzieht ihr dadurch ihre semantische Funktion und sie damit einer diskursiven Ordnung. Der Semantik stellt Geiser die Materialität der Sprache an die Seite, so dass ein Spannungsverhältnis entsteht, in dem die Sprache neue Ausdrucksformen – jenseits des Diskursiven, Narrativen und Semantischen – gewinnt. Die Spannung zwischen Materialität und Semantik der Sprache als entscheidendes Moment des poetischen Verfahrens führt zur Gleich-Gültigkeit von (halb- und nicht-) semantischen Implikationen und von Klang, Rhythmus sowie Schriftbild (so verwendet Geiser optisch-skripturale Effekte wie Metagraphen: ***): Räume, die sich aneinander fügen, kurzum. Ineinander, übereinander. Untereinander verbunden wiederum durch Räume … verschachtelt wie ein minoisch Dorf! Das Dorf der Minos? Das Gegenteil eines potemkinischen zum Mindsten: Ungestalt außen. Gestalt nur innen … de-konstruierte Leere sozusagen … ja, aber funktional! Wie gewachsen: und von innen her … Unverpackt quasi, kein Christo hier!, keine Fassaden, keine Oberfläche, nichts außen! Alles innen: Und zugänglich das eine von dem andern her … ach! man kann’s nicht sehen: nur begehen; ertasten; erfühlen! Um es zu erjagen … Torbogen! Hoch-gotische womöglich! Ohne Tür und Tor … Tapetentüren … Falltüren … für den Phall … Drehtüren, wenn beständig Zuund Abgang herrscht, für dieses (Ab-) Gehen und (Wieder-) Kommen quasi, Rutschbahn für die Überraschung; Achterbahn, für den Achtern; schiefe Räume; für die schiefen Lagen; Treppen-Stufen für die Eile: zwischen Tür und Angel und im Stehen, ja im Gehen kommen quasi, im Vorbei-Gehn sozusagen … Enge. Fürs Gedränge! Dieses Drängeln! Drängen! Winkel, fürs Verweilen, eine Weile. Nischen. Fürs Vernaschen. Gesimse. Geraune. Graue Räume. Kammern … fürs Klammern … (Herz-) Kämmerchen … fürs Hämmerchen … Gefangne Räume. Für die Zu-Gänglichkeit von allen Seiten, zeitgleich, endlos, ohne Aus- und Abgang. Gewundne Räume. Verdrehte Räume. Verschlungne Räume. Gedrungene Räume […] (DB 216).

Eine textumfassende Redundanz konstituiert eine autopoetische Bewegung, in der sich die semantischen Spielräume erst assoziativ dadurch eröffnen, dass Worte früherer Textpassagen an später Stelle erneut spielerisch aufgegriffen und die in früheren Textpassagen konstituierten semantischen Freiheiten in das spätere Spiel mit hineingetragen werden und so ein Oszillieren zwischen multiplen

39 Vgl. zum Beispiel die Beschreibungen von Jelineks literarischer Sprache bei Gabriele Riedle, „Mehr, mehr, mehr! Zu Elfriede Jelineks Verfahren der dekorativen Wortvermehrung“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Elfriede Jelinek (= Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur), München 1999, S. 137–145. 40 Auf alle drei hier genannten Autoren beruft sich Geiser auch explizit. Siehe Roscher, Gespräch; oder Sibille Tröml, „Schreiben ist eine Lebensform. Im Gespräch mit Christoph Geiser“, in: Berliner LeseZeichen – Literaturzeitung, 7/1999, 1, S. 7–16.

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Sinnbezügen am Rande des Unsinns in Gang gesetzt wird. Botschaften, die gehört und gar verstanden werden sollen, kann die Rede so gar nicht mehr generieren. Komposita (Tapeten-, Fall und Drehtüren), Austausch von Buchstaben, Silben, Endungen sowie Amplifikationen variieren die Iterabilität auf lexikalischer, morphologischer, semiotischer und semantischer Ebene. Die resultierende Dissemination wird dadurch noch verstärkt, dass Geiser die grammatischen Regeln der Satzkonstruktion kaum beachtet und zudem Wortfolgen nicht nur nach semantischen Assoziationen zusammenfügt, sondern auch nach lautlichen („Kämmerchen und Hämmerchen“), melodiösen oder kompositorischen Gesichtspunkten. Dieses polysemantische Chaos von Die Baumeister mündet in eine spielerische Entgrenzung von Sinn, Kultur und Subjekt und damit auch von jeder architektonisch reglementierten Literatur wie sie hier noch durch Böll sowie – wenn auch gebrochen – Reimann und Jaeggi vertreten war. Statt darum zu ringen dichterischer „Herr im eigenen Hause“ zu sein, die Dissoziation der polyphonen Rede in eine stabile Erzählung zu zwingen und dadurch Bauherr des eigenen dichterischen Gebäudes zu werden, konstituiert der ohnmächtig redende Schriftsteller eine sprachliche und rhetorische Entgrenzungserfahrung – jenseits einer Baukunst der Literatur.41 Damit freilich löst sich auch der moralisch konnotierte Autorbegriff gänzlich auf: Der Schriftsteller am Schreibtisch will keine Autorität mehr sein, seine Rede ist tonlos und hat nichts mehr zu melden, doch gerade darin wird sie frei. Der Autoritätsverlust, den Geiser in Die Baumeister verarbeitet, kann auf diese Weise umgedeutet werden als Befreiung, die Krise wird zur Chance.

III Anarchitektur Wo Böll die Geschichte einer Ruine erzählt und zugleich die deutsche Zeitgeschichte architektonisch um diese Ruine herumbaut, erredet Geiser sich antierzählend eine Sprachruine und überführt damit das Krisensymbol in den Text selbst: Ist eine solche Sprachruine noch Architektur? Ist sie Anti-Architektur? Oder tatsächlich ein Jenseits der Architektur?

41 In seiner Poetikvorlesung aus dem Jahr 2003 beschreibt Geiser dieses Schreibverfahren rückblickend als „[…] die Dekomposition des Subjekts […] die Kompostierung des Erzählers, die Auflösung des Sprechers, all seiner Figuren & Gegenstände in Sprach-Gesten; in Stimm-Laute; in Schrift-Zeichen.“ Christoph Geiser: „Gerede wider Sinn & Anschauung oder: Vom Promeneur zum Parleur“, in: Adrian Mettauer/Wolfgang Proß/Reto Sorg (Hrsg.), Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft, München 2003, S. 237–247, hier S. 246 (Hervorhebung im Original).

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1974 veranstaltete der Architekt und Künstler Gordon Matta-Clark (1943– 1978) gemeinsam mit befreundeten Künstlern die Gemeinschaftsausstellung „Anarchitecture“ in New York.42 Obwohl Gruppe und Ausstellung auf Anonymität gründeten, um das Kunstwerk der Identifikation mit dem Künstler, der Musealisierung, Vermarktung und Geschichtsschreibung zu entziehen, wird die Idee der „Anarchitecture“ heute stark personalisiert vornehmlich mit den Arbeiten MattaClarks in Verbindung gebracht. Der hatte sich über die Schriften Le Corbusiers intensiv mit den disziplinierenden Intentionen der modernen Architektur und ihrem Glauben an den Plan und die Planbarkeit des richtigen Lebens auseinandergesetzt. Seine künstlerischen Arbeiten zielten daher vor allem darauf, totalisierende Ordnungen gebauter Architekturen aufzubrechen und „a world of total ‚wonderful‘ chaos“43 zuzuführen. Eine solche schien ihm zum Beispiel in Abrisshäusern oder verwahrlosten Industrieruinen auf, doch brach er auch eigenhändig vorhandene Strukturen auf – und zwar sowohl gebaute als auch geschriebene. Die wohl bekanntesten Projekte Matta-Clarks sind zum Beispiel das „Splitting“, bei dem er ein einfaches Familienhaus mitten entzwei trennte, oder die „Cuttings“, bei denen er mit einer Säge Kreise, Rechtecke und andere geometrische Figuren in Fassaden, Decken und Böden schnitt. „Anarchitecture“ ist also insofern auch Anti-Architektur, als nicht geplant oder gebaut wird: „Anarchitecture“ bedeutete – so eine Notiz Matta-Clarks – „making space without building it“44 und sucht die Form jenseits des Plans. Beschreitet Matta-Clark mit seiner „Anarchitecture“ ein Jenseits der Architektur, wie es auch in Christoph Geisers Die Baumeister verkündet wird? „Plan scheint es keinen zu geben – ich kann keinen Plan erkennen: so gibt’s keinen Plan!“ (DB 10). Zu bedenken freilich ist, dass Geisers Sprachbewegungen zwar als rauschhafte und planlose Spielereien erscheinen wollen, zugleich aber höchst artifizielle Konstrukte sind. Geisers Anarchitektur ist eine kontrollierte Destabilisierung, die in eine Ästhetisierung der Auflösung mündet. Die Baumeister ist also ein ästhetisches Phänomen von hohem Bewusstheitsgrad und zeugt damit letztlich von einer ebenso starken Autorschaft und Souveränität wie die erhabenen Romankathedralen eines Victor Hugo oder Marcel Proust.

42 Zu den folgenden Ausführungen zur „Anarchitecture“ siehe: James Attlee, „Towards Anarchitecture: Gordon Matta-Clark and Le Corbusier“, in: Tate Papers. Tate’s Online Research Journal, Spring 2007 http://www.tate.org.uk/research/tateresearch/tatepapers/07spring/attlee. htm [Stand: 31.03.2012]. 43 So Matta-Clark in einer seiner Notizen, ebd. 44 Ebd.

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Damit ist die Frage berechtigt, ob letztlich nicht auch ein anarchitektonischer Text wie der Geisers vollendete literarische Baukunst bleibt.45 Vielleicht ist ein Jenseits von Literatur und Architektur literarisch oder architektonisch gar nicht zu erreichen, Proklamationen solcherart nur als Distinktionsgestus zu verstehen, die gegen herrschende Literatur- und Architekturbegriffe gerichtet sind. Dennoch geben künstlerische Experimente wie die Geisers oder Matta-Clarks Anlass, die Grenzen der Architekturmetapher in der Literatur zu bedenken. Die Gegenprobe zur Baukunst (in) der Literatur – nämlich die Anti- oder die Anarchitektur – stellt vor die Herausforderung, zu entscheiden, wo die Baukunst der Literatur eigentlich beginnt und wo sie aufhört. Die Betrachtung der Texte von Böll, Reimann, Jaeggi und Geiser hat offenkundig machen können, dass Schriftsteller die Architekturmetapher selbst aufgreifen und für eine eigene Standortbestimmung ganz unterschiedlich verschieben. Architekturmetaphern gehören also weiterhin nicht nur zum Beschreibungsinventar der Literaturwissenschaft, sondern auch zum Bildfundus von Selbstbeschreibungen der Literatur.

45 Zu denken wäre hier auch an einen Text wie The House auf Leaves (2000) von Mark Z. Danielewski; siehe Julia Webers Beitrag in diesem Band.

Anja Gerigk, München

Raumwende(n) im Roman Hermann Burgers Schilten als intermediale Kritik des Spatial Turn Hermann Burgers Roman, unlängst neu aufgelegt, erschien 1976 und damit einige Zeit nach den frühen Raumkehren des 20. Jahrhunderts, zugleich lange bevor sich der spatial turn zum topographical turn theoretisch umgestaltet.1 Bisher hat dieser Erzähltext in der Forschung nicht allzu viel Aufsehen erregt,2 dabei gibt er, so will die folgende Lektüre zeigen, luzide Einblicke in die Geschichte des Raumwissens und reicht mit seinen Erkenntnissen bis in die kulturwissenschaftliche Gegenwart. Tatsächlich vollziehen die Architekturen von Schilten – gebaute Räume im narrativen Gefüge – ebenjene Wende, die zum heutigen Reflexionsstand und womöglich darüber hinaus führt. Der Roman befindet sich somit nicht einfach zwischen den turns, er durchdringt und überblickt sie kritisch. Diese Sicht verdankt er intermedialen Unterscheidungen zwischen architektonischer Räumlichkeit und textueller Zeitlichkeit, welche auch die Erzählperspektive bestimmen. Intermedialität stellt daher selbst kein Argument in der Raumdiskussion dar, sondern bietet im besonderen Fall eine Methode, deren Stand und Fortschreiten zu reflektieren. Statt ältere und neuere Klassiker der Raumanalyse anzuwenden oder Einwände gegen sie vorzubringen, möchte der vorliegende Beitrag anhand des Textes ein Theorieniveau freilegen, das Bauten in der Literatur so zugänglich macht, wie es dem zeitgenössischen Nachdenken über Kultur entspricht. In die erzählte Welt und die verhandelten Kategorien führt am besten die sogenannte „Estrichdämonie“ ein. Das neu gebildete Wort versetzt uns an einen

1 Das Handbuch-Kapitel zu den „Raumkehren“ ist unterteilt in: 1. die „Kopernikanische Wende“ von Kant bis zur Umorientierung z.B. bei Husserl und Merleau-Ponty; 2. der „Spatial Turn“ verstärkt seit „Ende der 1980er Jahre“ mit einigen Vorläufern wie Bachelard; 3. der „Topographical Turn“ neuerer kulturwissenschaftlicher Prägung. Vgl. Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Unter Mitarbeit von Franziska Kümmerling, Stuttgart/Weimar 2010, S. 77–119. 2 Die wenigen Einzelaufsätze befassen sich entweder mit der Erzählstruktur oder mit (werk-) thematischen Aspekten. Vgl. u.a. Erika Hammer, „Zeitlebens Lebenszeit. Totentanz der Sprache und experimentelle Grenzerfahrungen in Hermann Burgers Roman ‚Schilten‘“, in: Dorothee Rabe (Hrsg.), Jahrhundert-Wende-Zeiten. 3. Symposium junger ungarischer GermanistInnen, Pécs 2000, S. 51–72. Zum poetologischen Wert baulichen Wissens für das Gesamtwerk vgl. Elias Zimmermann, Burgers Poetik der Architektur. Architektur und Architekturtheorie in Hermann Burgers früher Prosa und Schilten, Masterarbeit, Bern 2012.

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Ort, der offensichtlich jemandem Unbehagen einflößt. Da Burger ein Schweizer Autor ist, bedeutet „Estrich“ hier nicht die Bautechnik des Einziehens von Böden, sondern den Raum direkt unter dem Dach eines Gebäudes. Genauer befinden wir uns auf dem Dachboden einer Schule und der erzählende Lehrer von Schilten will mit seiner Namensschöpfung sagen, dass man den gebauten Raum nicht von der Stimmung trennen kann, die er durch seine Gegebenheiten hervorruft. Ferner konstatiert Armin Schildknecht, besagte Dämonie im Wohntrakt des Schulhauses sei „eine durch und durch konstruktionsbedingte“.3 Er ist sogar in der Lage, den verursachenden Aufbau, sprich den „Krüppelwalmstrich“ und seinen „zweifachliegenden Pfettendachstuhl“ (S. 132), mit architektonischer Sachkenntnis zu beschreiben: Die wenigsten Leute haben eine Ahnung davon, wie ein solches Holzzelt konstruiert wird, was die Bundsparren, Zwischensparren und Gratsparren, was Strebe, Schwenkbug und Pfosten für eine Funktion haben und wie sich das ganze Gefüge auf das Estrichinnere auswirkt. Man neigt immer dazu, die Stimmung von der Funktion zu trennen. Warum? (S. 132f.)

Außerdem wirkt sich die angeblich dämonische Bauart nicht nur auf das Innere des Estrichs, sondern mehr noch auf das Innenleben von Lehrer Schildknecht aus. Darin liegt die psychologische Zuspitzung einer baulichen Wahrnehmungsästhetik, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert durchsetzt. Deren wichtiger und früher Vertreter ist bekanntlich August Schmarsow, einer der ersten, der Architektur grundsätzlich als gebauten Raum begreift, bezogen auf die Maße und Bewegungen des menschlichen Körpers.4 Obgleich der Erzähler auf jene Wissenslinie anzuspielen scheint, ist es doch nicht diese legitime Position, welche Schildknecht, geschweige denn der Roman insgesamt besetzt. „Estrichdämonie“ stellt als Gegenbild ein weiteres anthropologisches Raummodell in Frage, die „Topophilie“ Bachelards.5 Seine Poetik des Raumes (1957) ist dem Vorgehen nach eine poetische Phänomenologie des Hauses. Sie arbeitet den

3 Hermann Burger, Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Roman. Mit einem Nachwort von Thomas Strässle, Zürich/München 2009, S. 133. Im Folgenden wird diese Neuausgabe zitiert. 4 Das klassische Zitat dazu lautet: „Raumgefühl und Raumphantasie drängen zur Raumgestaltung und suchen ihre Befriedigung in der Kunst; wir nennen sie Architektur und können sie deutsch kurzweg als Raumgestalterin bezeichnen.“ August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Antrittsvorlesung, gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893, Leipzig 1894, S. 11. 5 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonard, Frankfurt a.M. 1987, S. 25. Sie ist definiert als Untersuchung der „Bilder des glücklichen Raumes“ (ebd.).

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fundamentalen Stellenwert der kulturellen Zurichtung des Räumlichen für das menschliche Erleben heraus; soweit bewegt sich Schildknecht noch in den Spuren des Vordenkers. Architektonische Spezifika wie das „Krüppelwalmdach“ wird man dagegen bei Bachelard vergeblich suchen, ihn interessieren allein die Wirkungen des Bewohnens. Andererseits sieht er „die Funktion des Wohnens als imaginäre Wiederholung der Funktion des Bauens“,6 etwa in der Vertikalität. Alle Teilräume, vom Keller bis hoch ins Dach, durchdringt das Glück der Schutzund Gedächtnisfunktion, um die es vor allem geht: „Jetzt in der Erinnerung, die in der Träumerei wiedergefunden wird, ist die Dachstube […] klein und groß, warm und kühl, doch immer tröstend.“7 Unter den Voraussetzungen Bachelards wäre eine „Estrichdämonie“ undenkbar, was symptomatischen Aussagewert annimmt. Die Umpolung des Glücks in ein nicht näher definierbares Unheil signalisiert, dass sich seit den ersten theoretischen Vorstößen ein Wandel des Raumdenkens vollzogen hat, eine Wende innerhalb der Hinwendung zum Räumlichen. Die eigene Haltung der Hauptfigur, welche schließlich durch den Text selbst gewendet wird, lässt sich ebenfalls über das genannte Einstiegswort ermitteln. Weil der Schiltener Lehrknecht auf dem Weg in die Unterrichtsräume mit dem Dachstuhl konfrontiert ist, könnte der weitreichende Gedanke aufkommen, „daß sämtliche Einfälle Armin Schildknechts estrichifiziert seien, und man hätte so unrecht nicht mit dieser Vermutung.“ (S. 134) „Sämtliche Einfälle“ – das umfasst zunächst die aus den örtlichen Verhältnissen, deren Beschreibung folgen wird, entwickelte Pädagogik und Didaktik.8 Folgt man dem Hinweis weiter, so ist aber auch und mehr noch der Bericht affiziert, den der suspendierte Schildknecht an die Inspektorenkonferenz schreibt und den wir als Roman lesen. Immerhin hat die besondere Räumlichkeit bereits auf die Schreibweise übergegriffen, sonst käme ein Ausdruck wie „estrichifizieren“ nicht vor. Ebenso variiert der Schulbericht, mit dem der Erzähler sich zu rechtfertigen sucht, im Grunde ein einziges Argument: Alles ist raumbedingt, das subjektive Befinden genauso wie die Ver-

6 Ebd., S. 43. 7 Ebd., S. 36. 8 Burgers Parodie des utopisch getönten Motivs einer pädagogischen Provinz in der Tradition von Goethes Wilhelm Meister und des damit verbundenen Ziels der Bildung zur Lebenstüchtigkeit ist näher erforscht. Vgl. Patrick Bühler, „Die ‚Todesdidaktik‘ in Hermann Burgers Schilten“, in: Monatshefte, 98/2006, 4, S. 539–551. Ders., „‚In der äußersten pädagogischen Provinz‘. Pädagogischer Eros in Hermann Burgers Schilten: Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz“, in: Hans-Christoph Koller/Markus Rieger-Ladich (Hrsg.), Figurationen von Adoleszenz. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II, Bielefeld 2009, S. 79–93. Bühler vergleicht die Romanfassungen und verfolgt intertextuelle Spuren, z.B. zu Gotthelf.

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fasstheit des Sozialen. Das bezeugen eindringlich die baulich hergestellten „Lehrund Lernverhältnisse“ (S. 7) von Schilten.

I Gibt es kein Außerhalb des Raumes? Radikal und überzeichnet vertritt die narrative Instanz bei Burger eine Ansicht, welche das Vorstadium des spatial turn geleitet hat. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird mit verschiedenen Zugängen doch grundsätzlich danach gefragt, „wie Raum bedingt“.9 Formelhaft knapp hat Stephan Günzel die vorangehende Raumkehre so gekennzeichnet, seien es ästhetische, anthropologische, medienbewusste oder soziologische Ansätze.10 Der Roman Schilten erweckt den Anschein, mit dieser Denkweise identisch zu sein. Eine solche Lesart aus dem Geiste der „Estrichdämonie“ und ihrer motivischen Doppelgänger wird allerdings nur aufgebaut, um sie letztendlich zu kompromittieren. Dies geschieht durch Umstände des Erzählens, die Schildknecht unterschlägt. Zum einen entsteht seine Verteidigungsschrift mitnichten, wie im Bericht behauptet, parallel zur Lehrtätigkeit, sondern zu einem Zeitpunkt, als er schon wegen psychischer Krankheit außer Dienst ist. Mit dieser im „Nachwort des Inspektors“ (S. 383) entlarvten Erzählsituation hängt ein weiteres narratives Strukturmerkmal zusammen, das für die nachzuvollziehende Raumkritik bedeutsam ist. Zur Konstruktion des Textes gehört gleichsam eine Achse der Intermedialität, auf der selbst das ominöse „estrichifizieren“ angesiedelt ist. Theoretische Pointen ergeben sich in Schilten dort, wo die Räume das Schreiben darüber durchblicken lassen – und umgekehrt. Die folgenden Beispiele für intermediale Referenzmomente tragen den Antrieb zur kulturwissenschaftlichen Wende in sich, obgleich es vorerst nicht danach aussieht. Von der Fassade zu den Funktionen arbeitet sich die Einführung in das Schiltener Modell vor.11 Ein ortsunkundiger Beobachter kann nicht erkennen, ob er angesichts des Gebäudes und der Lage direkt am Friedhofsgrundstück tatsächlich eine Lehranstalt vor sich hat. Architektonische Details wie „Rund-

9 Stephan Günzel, „Raum – Topographie – Topologie“, in: Ders. (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 13–29, hier S. 13. 10 Für die letzteren beiden Schwerpunkte wären u.a. Walter Benjamin und Georg Simmel zu nennen. 11 Die ersten Sätze des Romans lauten programmatisch-poetologisch: „Die Schwierigkeit einer exakten Schilderung der Schiltener Lehr- und Lernverhältnisse hängt damit zusammen, daß die Beschreibung des Schulhauses, in dessen Dachstock meine Wohnung eingebaut ist, nahtlos in die Darstellung meines Unterrichts übergehen sollte, Herr Inspektor. So wie ich hier hause, doziere ich auch.“ (S. 7)

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bogenfenster“ und „Glockentürmchen“ lassen eher auf Sakralbauten wie „Kapelle“ oder „Missionshaus“ (S. 8) schließen. Diese räumliche Zwiespältigkeit setzt sich in der Nutzung des Schulhauses fort, genauer gesagt im Gebrauch der Turnhalle.12 Weil sie an das Gräberfeld angrenzt, dient sie als Einsegnungshalle, d.h. als Saal für kirchliche Trauerfeiern, auf Schweizerisch „Abdankungen“ genannt. Aus dieser funktionalen Spaltung leitet Schildknecht sein gesamtes Unterrichtswesen her, als ein sich anpassendes Konkurrenzunternehmen zum Friedhofsgeschäft. Um der durch Architektur und ihren sozialen Gebrauch geformten Räumlichkeit gerecht zu werden, verwendet der Erzähler ein pathologisierendes, an das Individuum angelehntes Idiom. Darin zeigt sich bereits eine Unstimmigkeit, die sich als strukturbildend erweisen wird: „Wer mit einer solchen, in den Proportionen total verrutschten Turnhalle unter einem Dach zusammenlebt, wird mit der Zeit rheumaempfindlich in bezug auf das Schicksal schizophrener Räume.“ (S. 10) Die Turnhalle ist aber nicht von sich aus schizophren oder allein aufgrund ihrer „verrutschten“ Maße, erst der räumliche Kontext des Friedhofs, die daher rührende kulturelle Praxis der Abdankungen bringen sie in jene schiefe Lage, in eine quasi krankhafte Verfassung.13 Andererseits wirkt sich der gebaute und sozial definierte Ort ebenso subtil wie verheerend auf den Zustand des ihn bewohnenden Subjekts aus. Angeblich leidet Schildknecht nicht an derselben Krankheit wie der personifizierte Raum, zeigt jedoch eine wiederum pathologische Sensitivität für dessen Gespaltenheit, auch wenn sich der mitleidende Rheumatiker bisweilen als reiner Beobachter inszeniert: Wenn ich mich auf meinen diagnostischen Turnhallen-Instinkt verlassen darf, würde ich behaupten, daß es das ständige Hin und Her sei, Turnmiene, Trauermiene, Turnmiene, Trauermiene, das diesem überdimensionierten, knarrenden Ungemach das Gemüt geknickt habe. (S. 14)

Die zitierte Passage ist aus zwei Gründen intermedial relevant. Erstens macht der discours des Erzählers durch seine Bildsprache auf sich aufmerksam und somit auf die Tatsache, dass eben nicht der Raum an sich vorliegt, sondern vielmehr dessen literarische Repräsentation. Nähme man hingegen an, der Lehrer spräche wörtlich statt tropisch von der „Schizophrenie“ einer Turnhalle, müsste man ihn für verrückt halten – genau diese Enthüllung hält das Nachwort zum Bericht 12 Es werden damit die drei analytisch-praktischen Grundfelder des Bauens und Entwerfens aufgespannt: Bauobjekt, räumlicher Kontext und soziale Praxis, vgl. Pierre von Meiss, Vom Objekt zum Raum zum Ort. Dimensionen der Architektur, Berlin/Basel/Boston 1994. 13 Zur Maßstäblichkeit als Regel einer Vernunft der Architektur vgl. Philippe Boudon, Der architektonische Raum. Über das Verhältnis von Bauen und Erkennen, Berlin/Basel/Boston 1991.

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bereit. Im Wissen um den Schluss des Romans deutet Schildknechts metaphorische Rede auf die Erzählsituation hin. Sie bringt die Zeitperspektive des Textes letztentscheidend ein, und zwar, um einen Unterschied zur Raumordnung der erzählten Welt geltend zu machen. Darin besteht die angekündigte Intermedialität, auch wenn sie beim Lesen erst nachträglich offenbar wird, was nochmals textuelle Temporalität gegenüber gebauter Räumlichkeit akzentuiert. Ebenfalls auf der intermedialen Achse befinden sich die „Generalsudelhefte“, die im Unterricht eine Rolle spielen, denn dessen didaktische Allzweckmethode ist das Diktat. Die „Einheitsförderklasse“ (S. 15) erhält dabei Lektionen in Lebenslehre als Todeskunde. Folglich schreiben die Schüler des Lehrers Stehgreifreden Wort für Wort in ihre ungewöhnlich ausgestatteten Hefte nieder. Nach der Schilderung der Turnhalle rückt zur Abwechslung ein Element der erzählten Welt in Beziehung zur Schreibsituation des Schulberichts. In den Sudelheften steht eine Vorfassung der Rechtfertigungsschrift, die Schildknecht erstellt, indem er die notierten Diktate in eine „Nachtfassung“ (S. 91) umarbeitet. Jene Fassung, die unter den zeit-räumlichen Voraussetzungen der Nacht und des Lehrerzimmers entsteht, bildet die unmittelbare Vorlage für den Bericht der „Quarthefte“. Was die „Generalsudelhefte“ ihnen voraushaben, ist der verkörperte medientechnische Wechsel. Die Sudelhefte können nicht bloß „in jeder Lage, in jeder Richtung beschrieben werden“ (S. 84). Je nachdem, wie man das Schreiben orientiert und das Papier positioniert, verändert sich auch die Notationsform von der Buchstabenschrift hin zu graphischen Figuren. Für die zahlreichen Varianten sei ein Beispiel gegeben: „Benützt man es diagonal von links oben nach rechts unten, werden konzentrische Kreise sichtbar für die Gruppierung von Symbolen, in der anderen Diagonale Spirallinien“ (S. 84).14 Offensichtlich sollen sich das Paradigma des Raumes und das Paradigma der Schrift überlagern; markiert wird aufgrund einer systematischen Unterscheidung die mediale Differenz von Bau und Text.15 Diese kann ihrerseits die dargestellte Raumkultur erschließen. Die spezielle Art der Verkettung von Literatur und Architektur wird zumal dadurch angezeigt, dass die „Proportionen der Generalsudelhefte“ den „Grundrißmaßen der Turn- und Ab-

14 Dass die Spirallinien nicht lediglich Räumlichkeit, sondern genauer Baulichkeit indizieren, mag mit dem intertextuellen Verweis auf Kracauers Architektenroman Ginster plausibler werden: „In seinen Schulheften schossen auf den unbeschriebenen Rändern Spiralensysteme in die Höhe, die sich nach oben verjüngten.“ Siegfried Kracauer, Ginster. Von ihm selbst geschrieben, Frankfurt a.M. 1963, S. 22. 15 „Systematisch“ meint hier: ungeachtet der räumlichen Komponente von Schriftlichkeit und der je spezifischen Zeitlichkeit raumästhetischer Erfahrung. Siehe dazu die späteren methodologischen Ausführungen.

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dankungshalle“ (ebd.) entsprechen. Ferner stellt sich dem Autor der „Nachtfassung“ die Aufgabe, die räumlich angeordneten „Symbole“ und „Spirallinien“ in die Ordnung der Schrift zu übertragen. In den Heften ist ein intermedialer Lesevorgang codiert, weshalb man sie als mise en abyme der Lektüre von Schilten verstehen kann. Die Bedingungen für eine raumtheoretische Interpretation sind dem Text im Motiv der Generalsudelhefte eingeschrieben.

II Erzählte Architekturen im Topographical Turn Strukturen der Intermedialität sind, wie gesehen, für die Erzählkonstruktion Burgers unverzichtbar. Die weitere Deutung soll klären, welche Auffassung der Kategorie „Raum“ der Text so vermittelt und wie er dadurch selbst die Wende zur nächsten, andauernden Phase des spatial turn vollzieht. Die Modelle einzelner Wegbereiter können dafür nur begrenzt einstehen, weil es um einen Anspruch geht, der den neueren Raumkonzeptionen gemeinsam ist. Deshalb kann es nicht mehr als ein Exkurs sein, wenn Bauten und räumliche Konstellationen des Romans mit dem Begriff der Heterotopie analysiert werden. Während der Protagonist sich noch an Bachelard und seinen Vorläufern abarbeitet, nähert sich das Erzählwerk bereits den proto-topographischen Positionierungen Michel Foucaults. Dessen Grundsätze und Klassifizierungen sind geeignet, die erzählte Welt von Schilten zu erfassen. Schule und Friedhof sind je für sich heterotopisch: hier die „Krisenheterotopie“,16 Anstalt zur Absonderung der Jugend und für deren Ausbildung zum Sozialen, dort die Abweichung von den Institutionen des Lebens.17 Hinzu kommt ihre Zusammengehörigkeit: „Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen.“18 Friedhof und Schule schließen einander raumsoziologisch betrachtet aus, in Schilten sind sie funktional kaum mehr

16 Obwohl jene Orte des Übergangs sowie des vorübergehenden Ausschlusses vom Sozialen laut Foucault eher den primitiven als den modernen Gesellschaften angehören, wird just das „Gymnasium“ als ein Beispiel der Fortdauer genannt. Vgl. Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. IV: 1980–1988, Daniel Defert/François Ewald (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2005, S. 931–942, hier S. 936. 17 „Abweichungsheterotopien“ sind generell definiert als „Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder der geforderten Norm abweicht“ (ebd., S. 937). Friedhöfe subsumiert Foucault streng genommen nicht dieser Klasse, sie illustrieren stattdessen den Grundsatz vom historischen Funktionswandel der verwirklichten „Gegenorte“ (ebd., S. 935). 18 Ebd., S. 938.

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voneinander zu trennen. Womöglich ist es schlüssig, dass die Räumlichkeiten des Romans mehr als eine der Foucault’schen Charakteristiken abdecken; sie zielen damit auf den übergreifenden theoretischen Horizont des Konzepts. Der liegt in der spannungsvollen Einheit von Grabstätte und Lehrgebäude: Schildknechts Unterricht wird einerseits zur Repräsentation der Friedhofsgesellschaft, indem er die Formen der Abdankungskultur aufgreift; andererseits gestaltet er den Gegenort, das Widerlager zum Beerdigungsfeld, ein realisiertes Bildungsideal. Ebenjene paradoxe Gleichzeitigkeit bildet die heterotopische Struktur schlechthin, da in diesen „tatsächlich verwirklichte[n] Utopien“ all die anderen „realen Orte […] zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“.19 Um über Foucaults Modell hinaus zum allgemeinen Diskussionsstand zu gelangen, lässt sich dort wieder anknüpfen, wo die intermediale Analyse begonnen hat: beim Turnhallen-Befund der „Schizophrenie“. Worauf will die Diagnose raumtheoretisch hinaus? Objektiv besteht eine Spaltung zwischen zwei räumlichen Funktionen, womit sich der Erzähler aber nicht zufrieden gibt. Er thematisiert zusätzlich das Verhältnis von subjektiv erlebtem und sozial konstituiertem Raum. Die maßgebliche Unterscheidung wird allerdings erst auf intermedialer Ebene herausgestellt und damit auch der gesuchte turn. Schildknecht, so wurde dargelegt, beruft sich allenthalben auf spatialen Determinismus; seine Krankheitsmetaphern teilen jedoch die Gegensicht mit: Die Bedingung ist in Wahrheit das Bedingte. Wir lesen den Raum nicht so, wie er ist und alles beeinflusst; wir lesen den von Schildknecht geschriebenen Raum, die produzierte Räumlichkeit. Das betrifft die wahnhafte Erzählperspektive ebenso wie deren Niederschlag in der metaphorischen Schreibweise. In der Hauptsache inszeniert die narrative Dramaturgie Schiltens einen Wandel der Theoretisierung. Zuvor wurde unvollständig zitiert, um die Raumkehren nacheinander abhandeln zu können. Günzel formuliert deren qualitative Abfolge treffend: Der topographische Blick schaut nicht mehr darauf, „wie Raum bedingt“, er untersucht, „wie Räumlichkeit bedingt ist“.20 Hinter der Gegenüberstellung von Bedingung und Bedingt-Sein steckt die Absage an das Substanzdenken.21 Sobald man aber gedanklich und methodisch in den heutigen Kulturwissenschaften angekommen

19 Ebd., S. 935. 20 Günzel, „Raum – Topographie – Topologie“, S. 13. 21 Ein drohendes „essentialistisches bzw. substantialistisches Denken“ abzuwehren, ist Antrieb der Selbstkritik des spatial turn gewesen. Wolfgang Hallet/Birgit Neumann, „Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung“, in: Dies. (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11–32, hier S. 12. Zur Enthistorisierung und Dekulturalisierung in den Cultural Studies vgl. kritisch Sigrid Weigel, „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, in:

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ist, sind doch wieder beide Seiten relevant. Aus dem vermeintlichen Gegensatz wird eine Unterscheidung, mit der es – trotz des grundlegend veränderten Rahmens – auch der topographical turn noch zu tun hat. Der „räumliche Anteil an sozialen Prozessen“ und der „soziale Anteil an der Produktion des Raumes“ schließen sich – und das macht es anspruchsvoll – nicht wechselseitig aus;22 sie sind kombinierbar. Diese grundsätzliche Feststellung hat Michael C. Frank getroffen. Da es indes einer Begriffsbildung und/oder eines analytischen Instrumentariums bedarf, um die Vorgabe umzusetzen, hat die Literaturwissenschaft so dankbar und anwendungsbereit auf die „Heterotopien“ reagiert, weil sie das Programm in der Tat beispielhaft einlösen. Man sollte dennoch stärker bedenken, dass neben, nach oder historisch weit vor Foucault auch andere Umsetzungsmöglichkeiten derselben topographischen Grundeinsicht existieren können. Dass der gebaute Raum Subjektpositionen und Kulturpraktiken bestimmt oder prädisponiert, diese von Lehrer Schildknecht vehement vertretene Meinung ist nicht eigentlich falsch, eher zu einseitig. Obwohl der Gegensatz ‚Bedingung Raum vs. bedingter Raum‘ durch das Erzählen unterwandert wird, bleibt die Differenzierung als solche weiterhin notwendig. Daraus folgt eine Interpretationsthese, die über das Vorstellungsvermögen des Erzählers weit hinausreicht: Die von Schildknecht beklagte Schizophrenie ist gar keine Krankheit, sondern der Normalzustand im topographical turn. Allerdings darf die Normalisierung nicht zu weit getrieben werden, denn zum Schiltener Text-Modell gehört genauso der qua Intermedialität eingeführte perspektivische Bruch. Intermedial präsentiert sich das doppelte Bedingungsverhältnis nicht schon als Kombination; man muss vielmehr eine strukturelle Spaltung zur Kenntnis nehmen. Hallet und Neumann bezeichnen mit dieser Wendung – „strukturelle Spaltung“ – die verwandte begriffliche Stellung der Heterotopien, weil jene eine „paradoxe Verortung innerhalb und außerhalb der Gesellschaft“ aufweisen.23 Mit der Beziehung von Friedhof und Schulhaus findet sich diese Version der Gespaltenheit in Burgers Roman. Trotzdem sollte man weder in der Theorie noch in der Analyse von Schilten bei dergleichen Übereinstimmungen stehen bleiben. In den Mittelpunkt stellt der Text die Unterscheidung Bedingung – Bedingtheit, worüber zusätzliche Differenzen abgewickelt werden, wie der produzierte im Unterschied zum produktiven Raum. Deren Spannung stellt zugleich eine Vermittlungsaufgabe: Sie umfasst potenziell mediale Repräsentation und kulturhistorische Kon-

KulturPoetik, 2/2002, 2, S. 151–165. Von Weigel stammen der Name und die Grundausrichtung des turn, der von verschiedener Seite ausgearbeitet respektive vorbereitet wurde. 22 Michael C. Frank, „Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin“, in: Hallet/Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung, S. 53–80, hier S. 60. 23 Hallet/Neumann, Raum und Bewegung, S. 13.

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textualisierung,24 architektonische Aisthesis ebenso wie Technik und Soziologie der Bauwerke. Zum Abschluss seien vor allem die methodischen Konsequenzen für eine Untersuchung von Bauten in der Literatur weiter verfolgt. Hermann Burger hat, mit einem Wort, den Roman zum topographical turn geschrieben, und das Jahrzehnte, bevor sich dieser theoriegeschichtlich ereignet. Erstaunlich ist vor allem, dass es ihm gelingt, beides zu erzählen: den fundamentalen Umbruch des Raumdenkens, der in neuerer Zeit stattgefunden hat, und ebenso die Reformulierung des Raumproblems, wie es sich den Kulturwissenschaften heute stellt. Die dramatisch gewendete Erzählsituation in Verbindung mit den Schiltener Räumlichkeiten erlaubt mithin die eine wie die andere Deutungsvariante; sie gehören im Prinzip der Topo/Graphie zusammen. Aus Sicht der Gegenwart ist zu sagen, dass der textlich abgelesene konzeptuelle Standard die aktuelle theoriegeleitete Beschäftigung mit Raum präzise vorwegnimmt.25 Auf der Höhe derzeitigen Wissens befinden sich all jene Denkfiguren und Verfahren, welche die „strukturelle Spaltung“ von Räumlichkeit klar anzeigen; zugleich muss mit ihnen ein Weg gewiesen sein, die Spaltung zu handhaben, sie in eine Unterscheidung zu überführen.

III Welche Intermedialität zwischen Bau und Text? Das Vorgehen, wonach über die intermedialen Differenzierungen im Text eine Veränderung des Raumwissens beobachtet wurde, weicht von den üblichen Verfahren, die Intermedialität von Literatur und Architektur in den Blick zu nehmen, ab. Das Feld der intermedialen Bezüge ist dem Medienwechsel vorgezogen; eine Medienkombination kommt für den Gegenstand ohnehin nicht in Frage.26 Schon diese Wahl ist erklärungsbedürftig, denn die Möglichkeit, Teile des Romans als Transformation eines bestimmten Baus in die Medialität des literarischen Textes

24 Letzteres betont Weigel, für beides plädiert u.a. Stockhammer, „TopoGraphien im Doppelsinne: mit medialen Beschreibungen des Raums ebenso wie mit dem, was sich in diese Räume eingeschrieben hat“, haben es Literatur- und Kulturwissenschaftler zu tun. Robert Stockhammer, „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005, S. 7–21, hier S. 20. 25 Von Foucaults Methodik her ergibt sich so eine literarische Genealogie des topo/graphischen Wissens. 26 Zur gängigen Analysetrias vgl. Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen/Basel 2002, S. 15. Zu einer theoretischen Reformulierung über die begriffliche Skala „Modulation“ (Stufe 1) – „Hybridisierung“ (Stufe 2) – „konzeptuelle Übertragung“ (Stufe 3) vgl. Uwe Wirth, „Intermedialität“, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hrsg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, S. 114–121, hier S. 118.

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aufzufassen, hätte im Falle von Schilten bestanden. Hermann Burger hat sich das Schulhaus der Aargauer Ortschaft Schiltwald zum Vorbild seines erzählerischen Schauplatzes genommen. Ein Materialienband belegt den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund sowie die lokale Referenzialität der Bau- und Raummotive im Einzelnen,27 zumal auch der Autor, dessen erstes Studienfach die Architektur war, realräumliche und poetologische Zusammenhänge eng miteinander verknüpft.28 Gestützt darauf darf man dem Augenschein trauen und in dem Titelbild der Erstausgabe das Schiltwalder Schulgebäude wiedererkennen, mitsamt Glockentürmchen und Krüppelwalmdach.

Abb. 1: Schule im Ort Schiltwald (Foto: Dietrich Michael Weidmann).

Die ausführlichste Ekphrasis des Bauwerks und seiner Situierung findet sich ziemlich zu Anfang des Romans, sie ist in Teilen bereits zitiert worden: Die fünf gleich großen, dreigeteilten Rundbogenfenster im Erdgeschoß scheinen eher zu einer Kapelle oder zu einem Missionshaus zu gehören als zu einer Lehranstalt. Das Glockentürmchen, das von der Mitte des Dachfirstes leicht gegen den Friedhof vorgerutscht ist, verstärkt diesen Eindruck, und die dunkle Palisadenwand des Schiltwaldes, der das sichelförmige Schilttal gegen Süden abriegelt, trägt das Ihrige zur Verschleierung der Turnhallenfassade bei. […] Die Nordseite ist die zwitterhafteste von allen vier Ansichten. Den Rund-

27 Uli Däster (Hrsg.), Schauplatz als Motiv. Materialien zu Hermann Burgers Roman „Schilten“, Zürich 1977. Die Lage des Gebäudes direkt am Friedhof verweist auf das Pfarrhaus von Kirchberg, wo Burger während der Entstehung des Romans gewohnt hat. Vgl. Zimmermann, Burgers Poetik der Architektur, S. 49. 28 Vgl. Hermann Burger, „Architektur-Darstellung bei Max Frisch“, in: Ders., Als Autor auf der Stör, Frankfurt a.M. 1987, S. 204–218. Burger entdeckt bei Frisch eine Poetik getreu dem architektonischen Skizzieren.

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bogen widersprechen im Obergeschoß fünf hochrechteckige, für ein Unterrichtsgebäude etwas zu aristokratisch geratene Herrenfenster. (S. 8f.)

Mit solchen Beschreibungen verbindet sich methodisch die Erwartung einer textuellen Simulation des gebauten Raumes, damit einhergehend meist die mediale Selbstreflexion aufgrund der transformierenden intermedialen Differenzen. Während das simulierende Moment fehlt, gibt es genügend selbstreflexive Anzeichen, wenn etwa die „Palisadenwand“ das bauliche Objekt und dessen Umgebung wie einen Innenraum abschirmt und verschließt. Die gespaltene Ansicht der „Nordseite“ deutet daher auf den Bruch der Erzählperspektive in ihrer scheinbar hermetischen Geschlossenheit hin. All dies geschieht zwangsläufig im Modus der Bedeutungsbildung statt der räumlichen Wahrnehmung. Der bewährte Weg bleibt also gangbar und doch hat sich im Zuge der vorgelegten Interpretation erwiesen, dass Schilten als Erzählkonstruktion nicht primär von den durchaus vorhandenen Architekturschilderungen getragen wird, weil architektonisch-literarische Unterschiede auf andere Weise durchgreifen. Die zugrunde liegende Aufwertung intermedialer Referenz bringt außerdem einen allgemeinen Nutzen. Intermedialität fungiert bisher als Katalysator medialer Selbstreflexion und (hybrider) Formenbildung, nun kann sie zusätzlich als Beobachtungsmittel wissensgeschichtlicher Diskontinuitäten eingesetzt werden. Zu bedenken wäre in dem Sinne eine historische Emergenz, resultierend aus intermedialen Struktureffekten. Praktisch bedeutet dies, dass man an einigen medienanalytischen oder theoretischen Grunddifferenzen zwischen Text und Bau festhalten muss,29 auch wenn im konkreten Einzelfall sich Gewichtungen und Grenzen verschieben können. Demzufolge ist die entsprechende Unterscheidungsaktivität nicht mehr strikt an das Baumotiv oder ekphrastische Passagen gebunden. Wenn die Zeitlichkeit der Erzählung gegenüber der erzählten Räumlichkeit einen Unterschied macht, gilt dies genauso als intermedialer Vorgang. Produktiv wird er, wenn daraus anderes, weiteres Wissen hervorgeht. Für das Beispiel der Raumstudien wurde dies anhand von Schilten demonstriert. Intermediale Lektüren der soeben vorgeschlagenen Art lassen sich prinzipiell für alle Epochen fruchtbar machen, wobei es aber keineswegs bei jedem Text zu Emergenzen kommen muss. Der zweite Vorschlag zum Umgang mit Architektur

29 Zusammenfassend dafür steht die Bezeichnung „systematisch“. Der Theorie nach gibt es z.B. die Ungleichheit von „aisthetischen“ Medien der Wahrnehmung und „diskursiven“ Medien der Bedeutung. Vgl. Dieter Mersch, „Wort, Bild, Ton, Zahl. Eine Einführung in die Medienphilosophie“, in: Ders., Kunst und Medium. Zwei Vorlesungen, Kiel 2002, S. 131–253, hier S. 169. Trotz oder gerade wegen prinzipieller „Disparität“ sei die „wechselseitige Überschreibung aisthetischer und diskursiver Medien“ (ebd., S. 249) möglich.

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in Literatur setzt bei dem berechtigten Zweifel an, ob der topo/graphischen Konzeptualisierung ebenfalls eine modellhafte, epochenübergreifende Bedeutung zukommen kann. Wäre eine Erzählung des Realismus genauso gut auf das Vermittlungsproblem der bedingten Bedingung zu beziehen wie ein Roman des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts oder der Gegenwart? Vieles spricht dafür, den Zeitpunkt des literarisch vorverlegten Auftauchens des topographical turn in eine historische Eingrenzung der Methode umzumünzen. Dazu sei die Hypothese aufgestellt, dass die an Schilten exemplifizierte Figur des Raumdenkens erst danach und bis heute verstärkt formbildend gewesen ist. Was Theorien schwerfallen mag, gleichzeitig die Spaltungen und die Zusammengehörigkeit der produktiv/produzierten Lage vorzuzeigen, dem könnten experimentelle Roman-Architekturen mit ihren erzählten Bauten vorbildlich gewachsen sein. Ein Plädoyer für die Produktivität des intermedialen „Differenzials“ gibt der Text verschlüsselt über ein bauliches Motiv zu lesen.30 Dass der Roman nicht mit dem identisch sein kann und will, was er an Architektur repräsentiert, zeigt sich darin, wie der Miniaturnachbau des räumlichen Ensembles indirekt bewertet wird. Schildknecht beschreibt detailliert das bis in alle Einzelheiten ausgestattete „Modell des Schulhaus- und Friedhof-Komplexes“ (S. 184). Er bringt jener Kleinarbeit große Wertschätzung entgegen und traut ihr gar eine Evidenz zu, welche die Schriftlichkeit übertrifft, so dass es „viel gescheiter wäre, der hohen Inspektorenkonferenz anstelle dieser Quarthefte das Modell auszuhändigen, ohne Kommentar“ (S. 186). Da der kluge Einfall allerdings von einem zweifelhaften und zuletzt klar unzuverlässigen Erzähler geäußert wird, sollte man der medialen Präferenz misstrauen und ebenso der scheinbaren Indifferenz der Darstellung gegenüber dem Dargestellten: „Alles ganz naturgetreu“ (S. 185).31 Insbesondere darf die Bauform des Erzähltextes nicht mit dem Raumkomplex verwechselt werden. Dem handwerklich produzierten Klein-Schilten fehlt bezeichnenderweise die Abstraktionsleistung eines Baumodells. So gewendet argumentiert Architektur im Verbund mit der Erzählperspektive für Intermedialität.32

30 Der Terminus lehnt sich an die Theoretisierung von Paech an, welche jedoch stärker Wechsel statt Referenz zugrunde legt und zudem keine kulturhistorische Emergenz-Option kennt. Vgl. Joachim Paech, „Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen“, in: Jörg Helbig (Hrsg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinäre Forschungsgebiets, Berlin 1998, S. 14–30. 31 Der mimetische Irrsinn geht bis zum „spielwürfelgroße[n] Modell des Modells“ (S. 185) im Kellerraum. 32 Für eine andere poetologische Lesart des Modells vgl. Zimmermann, Burgers Poetik der Architektur, S. 68.

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In einem der letzten Quarthefte kehrt der Modellgedanke motivisch wieder, er verlängert die Schilten durchziehende Problematik des Utopischen. Der Suspendierte ist überzeugt, die Verhandlung seiner Sache könne nur dann gut ausgehen, wenn die Inspektorenkonferenz im Schlossgebäude zu Trunz tagt.33 Liest man, wie bei der Ortsbegehung der Bau rhetorisch semantisiert wird, drängen sich Machtanalysen anhand von Architektur, wie Foucault sie geprägt hat, unweigerlich auf, obgleich eine Einflussbeziehung ausgeschlossen ist. Burger arbeitet eigenständig weiter daran, Sozialität und Subjektbezug der Bauwerke erzählend ineinander zu verschränken. Das „Dachuntergeschoß“ (S. 299) von Trunz beherbergt den Gerüchten nach ein „Riesenrelief des Kantons Aargau“, versehen mit abstrakten Zeichen: „Und auf diesem Modell seien mit farbigen Fähnchen, Punkten, Dreiecken und anderen graphischen Symbolen sämtliche der Horizonterweiterung dienende Einrichtungen […] abgesteckt und dargestellt.“ (S. 300) Schilten mit seinem Schul(un)wesen wäre demnach ein „Modell im Modell“34 des nach Idealität strebenden sozialen Ganzen, das sich gemäß der kulturhistorischen Tradition dominant architektonisch manifestiert. Auf dem Dachboden hat der Lesedurchgang angefangen, in der „Mörtelkammer“ soll er ein Ende finden. Das „Dritte Quartheft“ widmet sich diesem Innenraum des Schulbaus, dessen Arrest-Erfahrung zwar baulich konditioniert und doch architektonisch nicht zu fassen ist. „Kein Schüler, von dem ich jemals verlangt habe, unsere Abortanlage auswendig im Grundriß und im Schnitt zu skizzieren, hat es zustande gebracht, die Mörtelkammer richtig einzupassen.“ (S. 45) Das schulische Gemeinwesen macht sich das körperliche Erleben des gebauten Raumes zu Nutze, indem es die Kammer als Strafzelle gebraucht. „In keinem andern Winkel des Schulhauses fühlt man sich einerseits so exponiert, ja an den Pranger gestellt, andererseits so abgeschrieben und ausgeklammert wie in diesem äußersten nordwestlichen Eckraum.“ (S. 47) Daran ist nicht allein die Lage schuld; weil sie den Lichteinfall bedingen, haben auch Form, Position und Farbigkeit der Fenster ihren Anteil: Das hallengroße Rundbogenfenster, dessen Rahmen, wie um der Qual eine fastnächtliche Note zu geben, ultramarinblau gestrichen ist, läßt nicht nur unbarmherzig viel Tageslicht in den Schacht ein, es verhindert auch, daß sich der Arrestant verbergen kann. Allen Blicken, jedem Schabernack ist er ausgeliefert. (S. 48f.)

33 „Indem ich […] um den Bau herumgehe, den Kubus umarme, verhandele ich mit Trunz, und Trunz erklärt sich bereit, sich mit allen architektonischen Mitteln für Armin Schildknecht zu verwenden.“ (S. 331) 34 Siehe zum erläuternden Querverweis Fußnote 31.

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Diesmal gibt sich der räumlich-textuelle Sachverhalt eindeutig: Mit ihrer panoptischen Anlage trägt die Mörtelkammer dystopische Züge. In der wortspielerischen, raumfixierten Sprache des Erzählers heißt sie „Hochkant-Ungemach“ und verfehlt so das utopische „Übergemach“ (S. 48). Die Regel der Eindeutigkeit ist aber keineswegs auf den Roman übertragbar, der Utopie und Dystopie ineinander changieren lässt, bis Schildknechts Anspruch auf eine Modellhaftigkeit seiner Todeskunde im „Nachwort“ kollabiert, welches offenbart, der geisteskranke Lehrer habe schon seit Längerem „vor leeren Bänken“ (S. 383) unterrichtet. Innerhalb der modernen Gattung Utopie stellt die Nähe von Idealentwurf und kritischer Revision die typische Ausprägung dar.35 Vor dem Hintergrund der Raumreflexion setzt sich darin die intermediale Kritik des spatial turn fort. Entgegen der Neigung, Räume zu idealisieren (Bachelard) oder sie als totalitär zu verurteilen, erzählt Schilten einmal mehr die topo/graphische Gespaltenheit in anderer Gestalt. Die Unentscheidbarkeit von Utopie und Dystopie verflüchtigt sich erst im gespenstischen Erzählschluss.

35 Voßkamp spricht von der text- und gattungsintern „unabgeschlossene[n] Dialektik von Utopie und Utopiekritik“. Wilhelm Voßkamp, „Narrative Inszenierung von Bild und Gegenbild. Zur Poetik literarischer Utopien“, in: Árpad Benáth/Endre Hárs/Peter Plener (Hrsg.), Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien, Tübingen 2006, S. 215–226, hier S. 226.

Julia Weber, Berlin

Expeditionen ins Innere des House of Leaves Mark Z. Danielewskis Erzähl- und Textarchitekturen

I Einleitung „En tout cas, je crois que l’inquiétude d’aujourd’hui concerne fondamentalement l’espace“,1 schreibt Michel Foucault im Jahr 1967 während eines Aufenthaltes in Tunesien in einem kleinen Text, der erst 1984 unter dem Titel „Des espaces autres“ veröffentlicht wird. Die Verunsicherung bzw. Beunruhigung gegenüber dem Raum, von der Foucault hier spricht, ist zugleich immer auch eine Verunsicherung des Raumes selbst – ein Sachverhalt, der nicht nur im Umkreis des sogenannten Spatial Turn in den darauffolgenden Jahrzehnten vehement diskutiert wurde, sondern der seit einigen Jahren auch in der Kunst verstärkt Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Besonders seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind eine ganze Reihe von Kunstwerken entstanden, in denen der Topos des Unheimlichen im Verhältnis zu Raumkonstellationen und Architektur verhandelt wurde.2 Man denke nur an die „House“-Installation der britischen Künstlerin Rachel Whiteread, für die sie 1993 den Turner Preis erhalten hat, an Gregor Schneiders 2001 auf der Biennale preisgekröntes „Totes Haus u r“, an die filmischen Räume von David Lynch, den Mockumentary The Blairwitch Project oder auch an die Architekturen von Daniel Libeskind und Peter Eisenman – um nur einige bekanntere Beispiele aufzuzählen. Die genannten Arbeiten inszenieren mit verschiedenen ästhetischen Mitteln beunruhigende Wirkungen von Räumen, die sie beim Rezipienten als kinästhetische Raumerfahrung zu erzeugen suchen. So hat Whiteread in ihrer „House“-Installation ein dreistöckiges, zum Abriss freigegebenes Londoner Arbeiterhaus aus dem 19. Jahrhundert von innen mit einer

1 Michel Foucault, „Des espaces autres“ [1984], in: Ders., Dits et écrits. 1954–1988, Bd. 4: 1980– 1988, Paris 1994, S. 752–762, hier S. 754. 2 Vgl. hierzu die folgenden Ausstellungskataloge: Bewitched, Bothered and Bewildered: Spatial Emotion in Contemporary Art and Architecture, Zürich, Migros-Museum für Gegenwartskunst, 22. März–25. Mai 2003, Heike Munder (Hrsg.), Zürich 2003; UnHEIMlich, Delmenhorst, Städtische Galerie, 23. November 2003–25. Januar 2004, Barbara Alms (Hrsg.), Bremen 2003; Mike Kelley, The Uncanny, Wien, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, 15. Juli–31. Oktober 2004, Christoph Grunenberg (Hrsg.), Köln 2004; vgl. außerdem Kathrin Busch, „Befremdliche Räume“, in: Sic et Non, 4/2005, S. 1–18.

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Betonschicht ausgefüllt, um anschließend die Außenwand entfernen zu lassen. In der Verkehrung von Hohlform und Ausfüllung, mit der die Zerstörung des realen Hauses einhergeht und durch die der private Innenraum des Wohnens nach außen gekehrt wird, hat die Künstlerin ein Denkmal geschaffen, das wie eine Negativ-Maske an vergangene Schutzräume von Privatheit erinnert. Zugleich zeigt ihre Installation aufgrund der ausschließlichen Verwendung von Beton eine irritierende und die meisten Betrachter befremdende Wirkung. Auch Schneiders „Totes Haus u r“ spielt mit derart unheimlichen Raumwirkungen, die sich hier der irritierenden Verschachtelung und Doppelbödigkeit der Rauminstallation verdanken. Im „Toten Haus u r“ hat Schneider eine Reihe von Wänden und Decken in das ihm überlassene Haus seiner Eltern eingezogen, wodurch Zwischenräume entstehen, die an verborgene Schächte erinnern. Manche dieser Hohlräume sind schallisoliert oder lassen sich – ist die Tür einmal ins Schloss gefallen – nicht mehr von innen öffnen. Andere sind mit Requisiten wie befleckten Matratzen ausgestattet, die den Besucher zu abgründigen Phantasien anregen mögen. Die befremdliche Wirkung der Installation verdankt sich dem Gefühl, dass in diesen Räumen etwas Unheilvolles anwesend ist, das zu keinem Zeitpunkt manifest wird. Konterkariert wird diese Wirkung durch Lichtquellen und Ventilatoren, die zwischen die verdoppelten Fenster eingebaut wurden, um helles Tageslicht und eine sommerliche Brise zu simulieren. Sowohl bei Schneider als auch bei Whiteread entsteht im Spiel zwischen Heimeligkeit und Unheimlichkeit eine Irritation, die sich beunruhigend auf den Besucher bzw. Betrachter der Häuser überträgt und dessen Raumwahrnehmung in Frage stellt. Gemäß dem Terminus des „Unheimlichen“, der sich etymologisch über das Adjektiv „heim(e)lich“ vom Substantiv „Heim“ herleitet und so auf das Vertraute und das Unvertraute zugleich verweist,3 nehmen Inszenierungen des Unheimlichen oftmals Bezug auf Häuser, die zunächst als Inbegriff von Stabilität und Ordnung – oder, um mit Gaston Bachelard zu sprechen, als „images de l’espace heureux“4 – eingeführt werden, um sich dann in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Aporien und Verunsicherungen moderner Existenz – ihre ‚unheimlichen‘ Momente – lassen sich im „haunted house“ besonders wirkungsvoll in Szene setzen. Dieses Spiel, bei dem eine geschützte idyllische Sphäre effektvoll mit einer Atmosphäre des Schreckens kontrastiert wird, ist der Literatur seit langem bekannt und kann als eines der Hauptmerkmale phantastischen Erzählens bezeichnet werden. Besonders in der Gothic Novel und seinem deutschen Pendant, dem

3 Vgl. den Eintrag in Grimms Wörterbuch: Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, „Unheimlich“, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Abteilung 3: Un–Uzvogel, Leipzig 1936, Sp. 1055–1062. 4 Gaston Bachelard, La poétique de l’espace, Paris 1958, S. 17.

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lange Zeit von der Literaturkritik „als ‚Unterhaltungs- bzw. Trivialliteratur‘“ abgewerteten Schauerroman,5 kommt unheimlichen Raumarchitekturen wie Burgen, Schlössern, Klöstern oder Ruinen eine besondere Bedeutung zu. Diese fungieren vor dem Hintergrund einer vertrauten und harmonischen Alltagswelt als instabile und ambivalente Schwellenräume, in denen epistemologische Paradoxien, gesellschaftliche Phantasmen, Anomalien, Abnormalitäten, kollektive Verunsicherungen – bzw., in den Worten von Renate Lachmann, „die Kehrseite einer Kultur, ihr Anderes, Verleugnetes, Verbotenes, Begehrtes“6 – verhandelt werden. Auch in Mark Z. Danielewskis Roman House of Leaves, der im Jahr 2000 in den USA erschienen ist und innerhalb kurzer Zeit zu einem Bestseller avancierte, steht ein „haunted house“ im Zentrum – ein Einfamilienhaus, das von innen größer ist als von außen und in dessen Wohnzimmer sich im wörtlichen Sinne ein Abgrund auftut. Im Folgenden soll der ‚unheimlichen Räumlichkeit‘ dieses literarischen Textes nachgegangen werden, der in der Tradition der Gothic Novel gelesen werden kann.7 Die Analyse wird zunächst die außergewöhnlichen erzählerischen und textmateriellen Darstellungsweisen des Romans in den Blick nehmen, die im Zuge der literarischen Rauminszenierung zu tragen kommen, um dann, in einem zweiten Schritt, der Frage nachzugehen, welche Formen kultureller Ausgrenzung sich in der ‚unheimlichen Räumlichkeit‘ des Romans manifestieren könnten. Dabei wird vor allem das Verhältnis zwischen der fiktiven Raumgestaltung, den verschiedenen Versuchen ihrer medialen Vermittlung und den Erzähl- und Textarchitekturen zu beleuchten sein.

II Erzählarchitekturen Im Mittelpunkt der erzählten Welt des im Original knapp 700 Seiten umfassenden Romans House of Leaves steht eine physikalisch unmögliche Raumstruktur: „a dark doorless hallway“ (S. 57),8 den die Familie Navidson in der Wand ihres

5 Mario Grizelj, „Vorwort: Die Klammer“, in: Ders. (Hrsg.), Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge – Funktionen – Formen, Würzburg 2010, S. 7–10, hier S. 7. 6 Renate Lachmann, Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a.M. 2002, S. 9. 7 Vgl. hierzu Melina Gehring, „Das Labyrinth als Chronotopos. Raumtheoretische Überlegungen zu Mark Z. Danielewskis House of Leaves“, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 319–334, insb. S. 327–329. 8 Mark Z. Danielewski, House of Leaves, New York 2000. Die im Folgenden in Klammern nachgestellten Seitenangaben referieren ausschließlich auf den Roman.

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Wohnzimmers entdeckt, und den der Fotojournalist und Familienvater Will Navidson gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Tom und zwei Kollegen in einer Reihe zum Teil mehrwöchiger Explorationen zu erforschen sucht. Dieser Raum ist innerhalb der ansonsten realistisch erzählten Welt des Romans, dessen Handlung in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in den USA angesiedelt ist, schon insofern physikalisch unmöglich, als der Eingang zu ihm als ein in der Außenwand des Wohnzimmers zunächst horizontal verlaufender Gang beschrieben wird. Hinzu kommt, dass an der entsprechenden Stelle der Außenwand des Hauses keine Ausbuchtung zu sehen ist. Im weiteren Verlauf ergeben verschiedentliche Messungen Navidsons, der dem Phänomen wissenschaftlich-rational zu begegnen sucht, dass das Haus von innen ein größeres Volumen aufweist als von außen – ein mathematisches Rätsel, das selbst nach zahlreichen Neuvermessungen und Neuberechnungen nicht gelöst werden kann: Still, no matter how many times Reston wheels from the children’s bedroom to the master bedroom or how carefully he examines the strange closet space, the bookshelves, or the various tools Tom and Will have been measuring the house with, he can provide no reasonable explanation for what he keeps referring to as „a goddamn spatial rape.“ (S. 55)

Die Expeditionen, die Will Navidson und das von ihm zusammengestellte Forscherteam in diesen unmöglichen Raum unternehmen, den ich im Folgenden als ‚Unraum‘ bezeichnen möchte („a goddamn spatial rape“), zeigen, dass dieser in seinen räumlichen Dimensionen nicht stabil ist, sondern sich unentwegt wandelt. Die verschlungenen Schächte im Inneren des Hauses erweisen sich als rational nicht (be)greifbare, selbst-rekonfigurative Räume, von denen eine physische Bedrohung ausgeht: Nachdem die Forscher schon während der ersten drei Expeditionen großen Gefahren ausgesetzt waren, kommen im Laufe der vierten Expedition mehrere von ihnen ums Leben. In der Folge beginnt sich das gesamte Haus in seinen Formen zu verändern. Einmal größer, dann wieder kleiner, verfügt es unversehens über neue Räume, die genauso plötzlich, wie sie auftauchen, auch wieder verschwinden und in der Lage sind, die Bewohner ähnlich wie der in ihrem Inneren befindliche ‚Unraum‘ auf mysteriöse Weise zu ‚verschlucken‘. Der Roman zieht eine Vielzahl ästhetischer Register, um die unheimlichen Wirkungen dieses ‚Unraums‘ im Wohnzimmer der Navidsons zu inszenieren. Zunächst setzt er insofern auf die angesprochene Dichotomie heimlich/unheimlich, als sich die behaglich idyllische Sphäre des Familienhauses in der Ash Tree Lane in ihrem Inneren als Ort des Schreckens entpuppt. Darüber hinaus scheinen die labyrinthischen Flure des Hauses auf mysteriöse Weise mit den subjektiven Sichtweisen der Figuren zu korrespondieren und auf deren psychische Dispositionen zu reagieren. In beiden Aspekten schließt der Roman an die Tradition der Gothic Novel an, deren Räume oftmals metaphorisch den psychischen Zustand

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der Figuren reflektieren,9 weitet das Spiel jedoch aus, denn die Räume des House of Leaves verändern sich unentwegt und interagieren mit den psychischen Dispositionen aller Figuren zugleich. Umgekehrt werden die inneren Zustände der Figuren mithilfe räumlich-architekturaler Metaphern eingefangen. So referiert der Erzähler Johnny mehrfach auf seine eigenen „inner labyrinths“ (S. 89), seinen „own dark hallway“ (S. 516) und sein „bad-off labyrinthine brain“ (S. 51), das sich – wovon die immer häufiger auftretenden psychotischen, vor allem klaustrophobischen Angstzustände und Halluzinationen zeugen – den erzählten unheimlichen Räumen zunehmend anverwandelt. Die phantastische Ambiguität auf der Ebene der histoire wird mit einer grundlegenden Ambivalenz auf der Ebene des discours korreliert und von dieser überboten. House of Leaves ist ein Text, der den unmöglichen Raum, den er zum Gegenstand hat, ästhetisch zu simulieren sucht, um die Erfahrungen der Orientierungslosigkeit und des Grauens, die der dargestellte ‚Unraum‘ bei den Figuren erzeugt, auch beim Leser zu erzielen. Zu diesem Zweck operiert der Roman auf fünf Erzählebenen gleichzeitig: Bei der ersten Erzählebene – derjenigen des sogenannten Navidson Record – handelt es sich um Filmaufnahmen, die Will Navidson während der Explorationen in den dunklen Flur ins Innere des Hauses gemacht hat. Streng genommen gibt es diese erste und wichtigste Erzählebene gar nicht; sie ist – wie dem Leser gleich zu Beginn des Romans erklärt wird – frei erfunden. Bemerkenswerterweise ändert dieser Umstand aus der Perspektive des Erzählers Johnny nichts an den realen Auswirkungen der geschilderten Ereignisse: See, the irony is it makes no difference that the documentary at the heart of this book is fiction. Zampanò knew from the get go that what’s real or isn’t real doesn’t matter here. The consequences are the same. (S. XX)

Der Realitätsstatus des ‚Unraums‘ ist nicht nur aufgrund des in ihm zum Ausdruck kommenden „Systemsprung[s]“10 in ein zweites Realitätssystem innerhalb der erzählten Welt unsicher, er ist auch prinzipiell ontologisch fraglich, da alles Wissen, das die verschiedenen Erzähler über den ‚Unraum‘ haben, auf einem Dokumentarfilm beruht, dessen Existenz nicht bewiesen ist. Die konstitutive Ambivalenz zwischen Realität und Virtualität, die im phantastischen Erzählen oftmals mithilfe technischer Medien inszeniert wird, findet auch in House of Leaves im Paradigma einer medialen Grenzüberschreitung ihren Ausdruck.

9 Vgl. Renate Schmalenbach, Topographie des Grauens. Zur Gestaltung literarischer Räume in unheimlich-phantastischen Erzählungen, Essen 2003, S. 167f. 10 Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur, Berlin 2007, S. 130.

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Der Navidson Record wird dem Leser in Form einer filmwissenschaftlichen Studie der Figur Zampanò dargeboten (zweite Erzählebene). Zampanò – ein älterer, blinder Mann, der die Filme, selbst wenn sie existieren sollten, niemals gesehen haben kann – hat sich mit dem Navidson Record über mehrere Jahre hinweg auseinandergesetzt und ist hierbei auf mysteriöse Weise in seiner Wohnung zu Tode gekommen. Neben seiner Leiche werden rätselhafte Krallenspuren gefunden, die auf das vermeintlich im Inneren des Hauses lebende Ungeheuer der ersten Erzählebene, einen modernen Minotaurus, metaleptisch zu deuten scheinen. Zampanòs Manuskripte, die in zahlreichen Fußnoten auf eine Unmenge großteils fiktiver wissenschaftlicher Sekundärtexte verweisen, werden wiederum von Johnny Truant, einem drogensüchtigen Künstler, gefunden, der von den Manuskripten fasziniert ist und sie während des Lesens mit teils über mehrere Seiten ausufernden eigenen Gedanken und Überlegungen kommentiert (dritte Erzählebene). Die gesamten Dokumente werden schließlich gemeinsam mit den Briefen von Johnnys Mutter Pelafina, den sogenannten „Whalestoe Letters“ (vierte Erzählebene), von fiktiven Herausgebern veröffentlicht (fünfte Erzählebene) und bilden mit einem Index und weiterem pseudodokumentarischem Ergänzungsmaterial, das im Anhang abgedruckt ist, den dem Leser vorliegenden Roman. Die grundlegende Ambivalenz bezüglich des Realitätsstatus des Erzählten, die ihren zentralen Ausdruck im ‚Unraum‘ findet, kehrt auf allen Erzählebenen des House of Leaves wieder. So wie nicht klar wird, ob die zunehmenden Angstzustände des Johnny Truant eine Spätfolge seines Kindheitstraumas darstellen, seinem exzessiven Drogenkonsum geschuldet sind oder auf seine Auseinandersetzung mit Zampanòs Manuskript zurückgehen, so bleibt auch die Ursache für Zampanòs Tod fragwürdig, da lediglich Spuren im Parkett auf das vermeintliche, möglicherweise für seinen Tod verantwortliche Ungeheuer hindeuten. Die Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen rationalen und irrationalen Erklärungsangeboten, die das phantastische Erzählen nach Tzvetan Todorov sowohl durch die Mehrdeutigkeit der Ereignisse der erzählten Welt als auch durch einen mehrdeutigen, destabilisierten Erzählerdiskurs erzielt,11 kann auch als zentrales Erzählprinzip des House of Leaves geltend gemacht werden. Der Roman zeichnet sich vor allem durch die Komplexität aus, mit der derartige Ambivalenzen im Rahmen einer fortwährenden Überbietungsdramaturgie in Szene gesetzt werden. Sei es in der Präsentation des zentralen ,Unraums‘, in der Verschachtelung der verschiedenen Erzählebenen und den damit einhergehenden Effekten einer mehrdeutigen Perspektivierung des Geschehens, sei es in der Auflösung des linearen Erzählflusses, im Einsatz von vorrangig unzuverlässigen Erzählinstanzen, im

11 Vgl. Tzvetan Todorov, Introduction à la littérature fantastique, Paris 1970.

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metaleptischen Spiel mit den verschiedenen Erzählebenen oder in der Verwendung eines aufgeblasenen Fußnotenapparats mit teilweise authentischen und teilweise fiktiven Referenzen: in der komplexen Überlagerung zahlreicher postmoderner Erzählweisen wird das spannungsvolle Spiel mit Mehrdeutigkeiten auf allen Erzählebenen zugleich ausgereizt. Doch damit nicht genug: Die Instabilität und Ambiguität auf den Ebenen der histoire und des discours wird auf der Ebene der Textgestaltung durch ein Layout, das kaum einen Aspekt der Buchgestaltung unberührt lässt, noch einmal überboten.

III Textarchitekturen Schon der Titel House of Leaves suggeriert, dass es der Roman unternimmt, ein ‚Textgebäude‘ einzurichten, in das sich der Leser im Zuge der Lektüre auf eigene Gefahr hineinbegibt: „This is not for you“, wird er in dem der Geschichte vorangestellten Motto gewarnt – eine Warnung, die freilich den genau umgekehrten Effekt der Spannungs- und Erwartungssteigerung erzielt. In einem Interview mit Larry McCaffery und Sinda Gregory hat Danielewski betont, der Roman solle nicht linear rezipiert werden, sondern sei vielmehr wie ein Haus durch verschiedene ‚Eingänge‘ zu betreten: Jede Erzählebene – jede „story“ im doppelten Sinne der englischen Wortbedeutung („Geschichte/Erzählung“ und „Stockwerk/Etage“) – ließe sich separat verfolgen und ermögliche es so, den Text auf einem bestimmten Weg zu durchlaufen.12 So werde beispielsweise dem Leser, der sich entschließt, der Fußnote 78 zu folgen, und der zunächst, wie dort empfohlen, die im Anhang des Romans abgedruckten „Whalestoe Letters“ von Johnnys Mutter Pelafina liest, eine gänzlich andere Leseerfahrung zuteil als einem Leser, der chronologisch verfährt und erst am Ende des Romans dazu kommt, die Briefe zu lesen.13 Tatsächlich zwingen die ausufernden Fußnoten selbst den Leser, der chronologisch vorgeht und den Querverweisen keine Beachtung schenkt, permanent im Text vor- und zurückzuspringen: Folgt er einer Fußnote, die sich über mehrere Seiten erstreckt, muss er später zur Textstelle zurückblättern, an die die Fußnote angeheftet ist, um den Faden der anderen Erzählebene wiederaufzunehmen.

12 Vgl. Mark Z. Danielewski im Interview mit Larry McCaffery und Sinda Gregory: „Haunted House: An Interview with Mark Z. Danielewski“, in: Critique: Studies in Contemporary Fiction, 44/2003, 2, S. 99–135, hier S. 111. 13 Mark B. N. Hansen widerspricht dieser These und argumentiert, dass allein eine Lektüre, die Johnny Truants Erzählung ins Zentrum stellt, alle Bedeutungsebenen des Textes zu erschließen vermag: Mark B. N. Hansen, „The Digital Topography of Mark Z. Danielewski’s House of Leaves“, in: Contemporary Literature, 45/2004, 4, S. 597–636.

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Im Text werden die verschiedenen Erzähl- und Kommentierungsebenen durch die Verwendung unterschiedlicher Schrifttypen gekennzeichnet, die es einerseits ermöglichen, die Ebenen typographisch voneinander zu unterscheiden, und die andererseits eine starke visuelle Heterogenität des Buches erzeugen. Statt eines linearen Leseflusses simuliert der Roman mithilfe erzählerischer und typographischer Mittel eine räumliche Tiefe und versucht, die instabilen Raumstrukturen, die er zum Erzählgegenstand hat, auch auf der Textoberfläche zu verkörpern. Je tiefer sich der Leser in das House of Leaves hineinbegibt, desto labyrinthischer werden das Layout des Textes und dessen typographische Gestaltung. Dies soll im Folgenden anhand der „Exploration #4“, einer der gewagten Erkundungen des Labyrinths, exemplarisch aufgezeigt werden. Genaugenommen besteht die „Exploration #4“ aus zwei Expeditionen: Zunächst begeben sich der erfahrene Forscher Holloway und seine beiden Begleiter Jed und Wax in den inneren ‚Unraum‘ des Hauses; Holloway verliert im Laufe der vierten Expedition die Nerven und schießt Jed an, der infolgedessen zu Tode kommt. Als die drei Forscher nach mehreren Tagen nicht zurückgekehrt sind, macht sich Will Navidson gemeinsam mit seinem Freund Bill Reston und seinem Zwillingsbruder Tom auf, die Verschollenen zu retten. Die beiden Teilexpeditionen werden später von Navidson zu dem (fiktiven!) Film mit dem Titel „Exploration #4“ zusammengeschnitten. Irritierenderweise wird der innere ‚Unraum‘ des Hauses auf diesen Seiten, die seine Erkundung durch die Forscher schildern, ebenfalls als „house“ bezeichnet. Ob mit diesem Wort auf das Wohnhaus, auf den inneren ‚Unraum‘ oder auf beides zugleich verwiesen wird, ist von nun an nicht mehr eindeutig festzustellen. Was die Ebene des discours hier vorführt – die Einbüßung jeglicher Differenz – hat seine Entsprechung auf der Ebene der histoire: Der unbegreifliche ‚Unraum‘ löst beim Forscher Holloway Panik aus – Panik, weil er nicht mehr eindeutig eruieren kann, wo er sich befindet. Die Textstrategie, die der Roman hier einsetzt, zielt darauf ab, beim Leser eine ähnliche Irritation hervorzurufen, wie sie die Figur erfährt. House of Leaves lässt die Differenz zwischen dem inneren ‚Unraum‘ und dem Haus als Ganzem vollständig kollabieren, um dem Leser die gedankliche Auf- und Einteilung des beschriebenen Raumes zu erschweren und sie letzten Endes unmöglich zu machen. Der ‚Unraum‘ im Inneren des Hauses wird auf allen Ebenen – auf der der histoire, des discours und, wie zu zeigen sein wird, auch auf der texträumlichen Ebene – zum semantischen Wiedergänger. Selbst im Medium des Films will es Navidson nicht gelingen, die Räumlichkeit des ‚Unraums‘ zu erhellen: From the outset of The Navidson Record, we are involved in a labyrinth, meandering from one celluloid cell to the next, trying to peek around the next edit in hopes of finding a solution, a centre, a sense of whole, only to discover another sequence, leading in a completely different

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direction, a continually devolving discourse, promising the possibility of discovery while all along dissolving into chaotic ambiguities too blury to ever completely comprehend. (S. 114)

Der kurze achtminütige Film zur „Exploration #4“ – „highly discontinuous, jarring and as evidenced by many poor edits, even hurried“ (S. 5) – wird vom allwissenden extradiegetischen Erzähler Zampanò über mehrere Kapitel hinweg in allen Einzelheiten nacherzählt. Abgesehen von den zahlreichen Exkursen zum Minotaurus, zur Geschichte des Labyrinths, zum Vergleich von Hollywood- und Dokumentarfilmen, zur Philosophie von Jacques Derrida, zu neueren Architektur- und Raumtheorien – um nur einige der vorrangig in den Fußnoten verhandelten Themen zu nennen –, erzählt Zampanò die Ereignisse der Expedition chronologisch. Interessanterweise beginnt sich die Buchseite im Verlauf seiner mitreißenden Erzählung zunehmend aufzulösen. Immer eindringlicher werden die beschriebenen Erfahrungen eines unheimlichen, beweglichen und wandelbaren Raumes nun in der Manier visueller Poesie auf den Seiten ‚verkörpert‘ und textmateriell verräumlicht. Auf manchen Seiten stehen nur wenige Worte, die in ihrer Anordnung nicht nur die Bewegungen der Figuren im Raum, sondern auch die Bewegungen des Raumes selbst mimetisch nachvollziehen: einzelne Wörter wandern zunächst von oben nach unten (Abb. 1a) und werden dann, auf der nächsten Seite, diagonal aufsteigend abgedruckt (Abb. 1b), um

Abb. 1a

Abb. 1b

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so die räumliche Bewegung der Wanddecke zu veranschaulichen, die in diesem Moment der Erzählung das Leben des Helden Navidson bedroht. Dieses Verfahren hat unter anderem zur Folge, dass der Leser das Buch mehrfach physisch drehen muss, um der Erzählung folgen zu können: er wird gezwungen, die im Text dargestellte Bewegung durch den labyrinthischen Raum in der Raumpraxis des Lesens nachzuvollziehen. So heißt es beispielsweise auf Seite 286: „But if Navidson is no longer holding onto the rope, what could possibly be pulling Reston to the“ – während das folgende und letzte Wort des Satzes um 180 Grad gedreht auf der nächsten Seite erscheint – „top?“. An einer anderen Stelle, wo von sich plötzlich schließenden Türen die Rede ist, befinden sich auf jeder Seite nur wenige Worte, die so angeordnet sind, dass das durch den Lesefluss beschleunigte Umblättern der Seiten akustisch das Schließen der Türen suggeriert: „all those doors“ – Seitenumbruch – „behind“ – Seitenumbruch – „the man“ – Seitenumbruch – „are slamming shut“ – Seitenumbruch – „one“ – Seitenumbruch – „after“ – Seitenumbruch – „another“ – Seitenumbruch – „after“ – Seitenumbruch – „another“ (S. 216–224). Der zunehmende Raum- und Zeitverlust, den die Figuren auf der Ebene der histoire erfahren, manifestiert sich bisweilen im Auseinanderfallen einzelner Worte auf der texträumlichen Ebene (Abb. 2a) bis hin zu völlig leeren Seiten (Abb. 2b); an anderen Stellen nehmen die Buchstaben den Horizont einer Buchseite ein, die vertikal (Abb. 3a) oder diagonal (Abb. 3b) gelesen werden will. Passagen in Blindenschrift (Abb. 4a), Notenschrift (Abb. 4b), Kalligramme und kryptische Zeichen ergänzen das Textbild. Zu Beginn von Kapitel IX wandert die Disposition einer Fußnote plötzlich auf der Seite nach oben und nimmt diese vollends ein. Dies geschieht in dem Moment, in dem in einer Fußnote Überlegungen von Derrida über Struktur und Zentrum aus L’écriture et la différence referiert werden: Ce centre avait pour fonction non seulement d’orienter et d’équilibrer, d’organiser la structure – on ne peut en effet penser une structure inorganisée – mais de faire surtout que le principe d’organisation de la structure limite ce que nous pourrions appeler le jeu137 de la structure. Sans doute le centre d’une structure, en orientant et en organisant la cohérence du système, permet-il le jeu des éléments à l’intérieur de la forme totale. Et aujourd’hui encore une structure privée de tout centre représente l’impensable lui-même. […] / See Derrida’s L’écriture et la différence (Paris: Editions du Seuil, 1967), p. 409–410. (S. 112)

Derridas philosophische Kommentare zum undenkbaren fehlenden Zentrum werden hier texträumlich umgesetzt. Die sich vor unseren Augen zu Selbstläufern ausbreitenden, wuchernden Diskurse drängen die Vorstellung eines im Zentrum stehenden Primärtextes buchstäblich an den Rand und setzen ein endloses Verweisen von Zeichenprozessen um ein nicht mehr vorhandenes Zentrum visuell in

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Abb. 2a

Abb. 2b

Abb. 3a

Abb. 3b

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Abb. 4a

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Abb. 4b

Gang. Die in das Derrida-Zitat eingebaute Fußnote 137, die sich an den Begriff „jeu“ heftet, ist erst zwei Seiten später aufzufinden; sie lautet: „Labi is also probably cognate with ‚sleep‘134“ (S. 114). Diese Fußnote verweist wiederum auf eine Fußnote (Fn. 134), die in diesem Fall jedoch nicht weiter hinten, sondern weiter vorne im Text zu finden ist und hier die real existierende Monographie The Idea of the Labyrinth: From Classical Antiquity through the Middle Ages der amerikanischen Literatur- und Tanzwissenschaftlerin Penelope Reed Doob anführt (S. 114). Nach diesen Zwischensprüngen vor- und rückwärts im Text endet das Spiel vorläufig; der Leser kann in Ruhe an die Ausgangsstelle des Derrida-Zitates zurückblättern und linear weiterlesen. Erst als er den unteren Absatz des Fließtextes auf Seite 114 erreicht, zeigt sich, dass der Verweis auf die Fußnote 137, die der Leser zu diesem Zeitpunkt bereits gelesen hat, hier ein weiteres Mal gesetzt ist, und zwar im Anschluss an eine Reflexion über die Geschichte des Wortes Labyrinth: In order to fully appreciate the way the ambages unwind, twist only to rewind, and then open up again, whether in Navidson’s house or the film […] we should look to the etymological inheritance of a word like ‚labyrinth‘. The Latin labor is akin to the root labi meaning to slip or slide backwards137 […]. (S. 114)

Die inhaltlichen Reflexionen über labyrinthische Raumstrukturen werden auf diese Weise von einer labyrinthischen Fußnotenpraxis flankiert, die den Leser zu

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einer im textmateriellen Sinne labyrinthischen Lesepraxis zwingen. Ob er diese ihm aufgezwungene Lesepraxis eher als Arbeit (labor) oder als Spiel (jeu) versteht, bleibt ihm dabei selbst überlassen. Nur wenige Seiten später, auf Seite 119, rückt dann eine Fußnote (Fn. 144) in die rechte obere Hälfte der Seite, wo sie von nun an über 30 Buchseiten hinweg zunächst in einem blauen Kasten erscheint. In ihr werden all die Dinge aufgelistet, die sich nicht im häuslichen Unraum befinden. Interessanterweise werden auf der Rückseite jedes Blattes die Worte, die auf beiden Seiten im blau umrahmten Kasten stehen, in Spiegelschrift wiederholt, so als befänden wir uns nun, nachdem wir die Seite gewendet haben, auf der anderen Seite einer Öffnung, die wir soeben – im Moment des Umblätterns – durchquert haben (Abb. 5a+b). Dieser eigentümlichen Fußnote 144, die aufzählt, was gar nicht da ist, geht die Beschreibung einer Reihe leerer, fensterloser Räume voran: At one point Holloway even succeeds in scratching, stabbing, and ultimately kicking a hole in a wall, only to discover another windowless room with a doorway leading to another hallway spawning yet another endless series of empty rooms and passageways, all with walls potentially hiding and thus hinting at a possible exterior, though invariably winding up as just another border to another interior. [… The] desire for exteriority is no doubt further amplified by the utter blankness found within. Nothing there provides a reason to linger. In part because not one object, let alone fixture or other manner of finish work has ever been discovered there.144 (S. 119)

Der ‚Unraum‘, so wird deutlich, zeichnet sich vor allem durch seine unbegreifliche Leere aus. Von Gegenständen, die eine Verortung im leeren Raum erst ermöglichen würden, fehlt jede Spur, und so scheint der Modus der Negation die einzige Option zu sein, diesen ‚Unraum‘ zu beschreiben – ihn sprachlich zu erfassen. Indem Danielewski die blau umrahmten Seitenausschnitte über mehrere Blätter hinweg als beschriftete Glastüren gestaltet – denn wären diese ,Türen‘ nicht durchsichtig, würde sich ihr Text von der anderen Seite aus nicht in Spiegelschrift lesen lassen –, verweist er auf der textmateriellen Ebene auf die Immaterialität des Aufgelisteten. Die Spiegelschrift unterstreicht, dass hier Dinge genannt werden, die es gar nicht gibt – dass es sich um eine Liste ‚leerer Worte‘ ohne materielle Substanz handelt. Auf diese Weise wird die Leere des ‚Unraumes‘, der keine materiell manifeste Form annimmt und doch, dank des Modus der Negation, im Medium der Sprache beschrieben werden kann, auf einer weiteren Ebene gestaltet.14

14 Ich danke Rina Schmeller für ihr umsichtiges Lektorat und zahlreiche wertvolle Kommentare, besonders für den Hinweis auf die Leere des erzählten Raumes, die sich auf der Ebene des discours

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Abb. 5a

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Abb. 5b

Nach Andreas Pfersmann produziert die Disposition der Fußnote an zentraler Stelle der oberen Seitenhälfte „einen räumlichen Effekt, der dazu führt, den Leser in einen Gang oder in einer endlosen Reihe von Räumen einzusperren“.15 Sie endet mit den durchgestrichenen Worten „picture that in your dreams“ (S. 142) und zieht sich dann – eine Irritation auf der Netzhaut des Betrachters simulierend – zunächst als weißer, dann als schwarzer, dann als größerer weißer Fleck noch über sechs weitere Textseiten (S. 143–148). Die in die Mitte des Textes gerückte und blau eingerahmte Fußnote, die auf Seite 119 ihren Anfang nimmt, wird ab Seite 120 von einer weiteren mehrseitigen Fußnote ergänzt (Fn. 146), die sich auf den folgenden geraden Seiten am linken Bildrand von oben nach unten erstreckt und eine Vielzahl von Architekturstilen namentlich auflistet, die nichts mit dem „Haus“ zu tun haben: „For example, there is nothing about the house that even remotely resembles 20th century works whether in the style of PostModern, Late-Modern, Brutalism, Neo-Expressionism, […]“ (S. 120). Diese Fuß-

im Modus der Negation manifestiert und in Gestalt der ‚gläsernen Seite‘ auf den Textraum übertragen wird. 15 Andreas Pfersmann, „Der philologische Roman“, in: Bernhard Metz/Sabine Zubarik (Hrsg.), Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten, Berlin 2008, S. 297–329, hier S. 323.

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note endet auf Seite 134, und zwar mit einer weiteren Fußnote (Fn. 147), die ab Seite 135 über die vorhergehenden ungeraden Seiten und auf den Kopf gestellt bis zur Anschlussseite (S. 121) zurückläuft und darauf hinweist, dass es völlig unmöglich ist, sich eine architektonische Konstruktion vorzustellen, ohne dabei an zahlreiche Architekten zu denken, die hier namentlich über mehrere Seiten hinweg aufgelistet werden (S. 135–121). Auch diese Fußnote (Fn. 147) endet mit einer Fußnote (Fn. 148), die auf der gleichen Seite (S. 121) auf „Exhibit One“ verweist, womit eine von Zampanò geplante Tafel mit architektonischen Bildbeispielen gemeint ist, die er im Anschluss an den Navidson Record zu veröffentlichen plante und deren Instruktionen auf Seite 529 des House of Leaves abgedruckt sind. Durch das zunehmende Wuchern der Fußnoten und die damit verbundene Notwendigkeit, permanent das Buch zu drehen, vor- und zurückzublättern und die dabei entstehenden Schwierigkeiten, überhaupt noch einen Anschluss zu finden – das Auffinden der folgenden Fußnote wird mitunter zu einer regelrechten Herausforderung –, simuliert das Buch die komplexe Raumstruktur, die es zu ergründen sucht und erzeugt zugleich nicht nur inhaltlich, sondern auch physisch beim Leser den Eindruck komplexer Desorientierung. Diese textmaterielle Inszenierung erscheint wie eine typographisch materialisierte Reflexion, die sich auf die philosophischen Überlegungen Derridas, auf architektur- und medientheoretische Reflexionen über Strukturen, Ordnungen, Bauweisen und auf digitale Bildmanipulationen zugleich beziehen lässt. Doch begründen diese Textverfahren schon eine neue Ästhetik? Und wie ließe sich diese beschreiben? Danielewski beruft sich bei seinen typographischen Experimenten auf eine lange Tradition experimenteller Darstellungsverfahren des Romans, die von Laurence Sterne und Guillaume Apollinaire über Lewis Carroll und Julio Cortazar bis hin zu Raymond Federman und J. M. Coetzee reicht.16 Keines der von Danielewski verwendeten experimentellen Darstellungsverfahren sei wirklich innovativ, erklären daher Sebastian Deterding und Achim Hölter in ihrer Deutung des Romans: Neu ist dabei also nicht die Visualität, nicht einmal die einzelnen Tricks sind neu, erst recht nicht die Vorspiegelung eines edierten chaotischen Materialkorpus samt Fundbeglaubigung, […] sondern die Quantität, der hohe Anteil an nicht-konventionellem Erzählen […].17

16 Vgl. Ulrich Ernst, „Typen des experimentellen Romans in der europäischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur“, in: Arcadia, 27/1992, 3, S. 225–320. 17 Sebastian Deterding/Achim Hölter, „Papier simuliert visuelle Medien. Zu Mark Z. Danielewskis Roman House of Leaves (2000)“, in: Silke Grothues/Ruth Sassenhausen/Michael Scheffel (Hrsg.), Ästhetische Transgressionen. Festschrift für Ulrich Ernst zum 60. Geburtstag, Trier 2006, S. 212–233, hier S. 219f.

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Fokussiert man allein die experimentellen Darstellungsverfahren, die in House of Leaves angewandt werden, so ist diesem Befund sicherlich zuzustimmen. Die vielen erzähl- und textmateriellen Spielereien führen zwar zu einer bisher nicht gekannten quantitativen Steigerung der experimentellen Möglichkeiten des Romans, dessen textmateriell-physische Wirkungsmöglichkeiten auf den Leser neu ausgelotet werden; doch lässt sich allein aus deren komplexer Überlagerung in der Tat noch keine qualitative Neuerung für den Roman ableiten. Die Besonderheit des House of Leaves ist nicht allein auf der Ebene formaler Experimentalität zu suchen, sondern zeigt sich vielmehr in der übergreifenden Fragestellung nach den Möglichkeiten medialer Vermittlung eines prinzipiell Unvermittelbaren: des unmöglichen Raumes.

IV Architekturen des Cyberspace Die in House of Leaves verhandelte Räumlichkeit wurde in der Sekundärliteratur immer wieder als labyrinthischer Raum gedeutet.18 Da es sich aber nicht nur um eine komplizierte Raumstruktur handelt, deren Architektur verwirrend ist, sondern vielmehr um eine selbst-rekonfigurative, sich permanent in Bewegung befindliche Räumlichkeit, scheint der verhandelte Raum eher eine Allegorie auf die virtuellen dynamischen Raumarchitekturen des Cyberspace zu sein. Darauf deutet unter anderem die Tatsache, dass das Wort sowie der Wortbestandteil „house“ im Text durchgängig blau gedruckt sind: Ähnlich wie Hypertextlinks suggerieren diese Lexeme, Verweise darzustellen, die man nur ,anklicken‘ muss, um ihre genauen Bedeutungen und Verlinkungen innerhalb eines größeren Kontexts zu erforschen. Der ‚Unraum‘ im Wohnzimmer der Navidsons zeichnet sich ähnlich wie der virtuelle Raum des Cyberspace vor allem dadurch aus, dass er – ohne über eine topographische Realität zu verfügen, und obwohl er permanent in Veränderung begriffen ist – dennoch reale Wirkungen entfaltet: [W]e can see the house for what it is: a flexible, topological form capable of infinite and seamless modification; a postvisual figure immune to the laws governing the phenomenology of photography, cinema, and video; a logic of transformation whose output is disproportionate to its input. In this perspective, the house is nothing if not a figure for the digital […].19

18 Vgl. Gehring, „Das Labyrinth als Chronotopos“, S. 328, und Natalie Hamilton, „The A-Mazing House: The Labyrinth as Theme and Form in Mark Z. Danielewski’s House of Leaves“, in: Critique: Studies in Contemporary Fiction, 50/2008, 1, S. 3–16. 19 Hansen, „The Digital Topography“, S. 608f.

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Geht man davon aus, dass der virtuelle Raum des Cyberspace unser Denken mehr verändert hat als alle anderen technologischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte zusammengenommen, so könnte man das House of Leaves als Versuch lesen, das Unheimliche dieser technologischen Entwicklungen im Medium der Literatur zu reflektieren. Angesichts der im Cyberspace orts- und zeitungebundenen Vielzahl von kontingenten Bedeutungsangeboten, deren Inhalte und Anordnungen sich ständig verändern und keine verlässliche Orientierung erlauben, versucht der Roman, die eigenen textuellen Möglichkeiten neu auszutarieren. Indem er den Hypertext imitiert und seinem Leser ähnliche Strategien des multiprocessing abverlangt wie sie die Navigation durch das Internet erfordert, erprobt er die Integration der virtuellen Räumlichkeit des Cyberspace in das eigene Medium. Der Text unterwirft die virtuelle Räumlichkeit des Cyberspace seiner literarischen Eigenlogik und erweitert letztere zugleich: Mit buchstäblich allen zur Verfügung stehenden Mitteln erzählerischer und textgestalterischer Art wird hier versucht, die umgreifende Wirkung der virtuellen Realität des Cyberspace zu erfassen20 und eine räumliche Dimension darstellbar zu machen, die rein topologisch gedacht und in keine Form der Repräsentation überführt werden kann. Das Ergebnis ist ein durchlöcherter, vieldimensionaler Text, der mitunter an die Grenzen der Lesbarkeit gerät. „In ‚Das Haus‘“, schreibt Wieland Freund mit Bezug auf Friedrich Kittlers Medientheorie, „läuft das Aufschreibesystem Amok“.21 Die räumlichen Dimensionen des Cyberspace erweisen sich als nicht darstellbar, und zwar weder vom Roman selbst, noch von den vielen verschiedenen innerhalb des Romans herangezogenen Medien, die von der Photographie über den Dokumentarfilm und die Videoüberwachung bis hin zu Tonaufnahmen reichen. Während um 1800 das Universalmedium Roman über die kulturelle Alleinherrschaft verfügte, hat sich Kittler zufolge mit der Ausdifferenzierung der Medien in „Grammophon, Film und Typewriter“ um 1900 eine Neukonfiguration medialer Dispositive ergeben, die zu zentralen Modernisierungsschüben, neuen Wissenslogiken, aber auch zu neuen kollektiven Phantasmen geführt hat.22 Um 2000, so

20 Katherine Hayles zufolge muss sich erst noch erweisen, ob mit dieser Imitation eher das Ende des Printmediums Buch eingeleitet ist oder ob es dem Roman gelingt, seinen Status gegenüber dem Hypertext zu behaupten und den wuchernden Diskursen des Cyberspace etwas anderes hinzuzufügen: „It is an open question whether this transformation represents the rebirth of the novel or the beginning of the novel’s displacement by a hybrid discourse that as yet has no name.“ Katherine Hayles, „Saving the Subject: Remediation in House of Leaves“, in: American Literature, 74/2002, 4, S. 779–806, hier S. 781. 21 Wieland Freund, „Na toll. Blair Witch Project auf 800 Seiten“, in: Die Welt, Ausgabe vom 07.10.2007, http://www.welt.de/1232303 [Stand: 03.03.2013]. 22 Vgl. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800, 1900, München 2003; Ders., Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986.

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Kittlers Überlegung, könne man mit dem Universalmedium Computer eine weitere zentrale Verschiebung ausmachen, bei der sich die Technik endgültig von einer Beschreibung durch menschliche Subjekte abkoppele: es komme um die Jahrtausendwende zum „totale[n] Medienverbund“.23 Das Nachfolgesystem des totalen Medienverbundes auf Digitalbasis zeichne sich dadurch aus, dass durch die Digitalisierung beliebige Manipulationen der Datenflüsse möglich geworden seien: „Statt Techniken an Leute anzuschließen, läuft das absolute Wissen als Endlosschleife.“24 Genau diese endlose, unüberprüfbare und in alle Richtungen wuchernde Wissensproduktion, die im Internet ihren paradigmatischen Ausdruck findet, scheint für den Text House of Leaves zentral zu sein. Das traditionelle Medium Roman, das ursprünglich wesentlich für die Produktion von Sinn verantwortlich zeichnete und sich dann, um 1900, im Zusammenspiel mit anderen Medien neuen Formen der Sinnproduktion öffnete, gerät in Zeiten des totalen Medienverbundes in eine neue Krise, der das House of Leaves mit radikaler Offensivität zu begegnen sucht, indem es jede Form von Sinnproduktion ins Leere laufen lässt. Der Roman lässt sich nicht einmal ansatzweise interpretieren: „Jeden nur möglichen Interpretationsrahmen, den eine literaturwissenschaftliche Lektüre […] um den Text ziehen könnte, nimmt House of Leaves seinen Lesern vorweg und arbeitet ihn ein.“25 Die Interpretation erweist sich als ein Spiel bzw. ein Puzzle, das der Leser reflexartig zu lösen versucht, selbst wenn ihm die Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens längst vor Augen geführt wurde. Wie der Roman, so mokiert sich auch die von Danielewski eingerichtete Internetseite „The Idiot’s Guide to House of Leaves“26 über diejenigen Leser, die es nicht aufgeben wollen, den Roman zu ,enträtseln‘. Sein zentraler Gegenstand, der virtuelle ‚Unraum‘ Cyberspace, lässt sich von keinem anderen Medium ‚einfangen‘ oder erklären. Und doch erweist sich paradoxerweise gerade der Roman als ,traditionellstes‘ Medium dazu in der Lage, die verborgenen Implikationen und unheimlichen Momente des historisch neuen, virtuellen ,Unraumes‘ Cyberspace zu reflektieren und mithilfe des Einsatzes radikal erweiterter Erzähl- und Textarchitekturen zur Sprache zu bringen. In diesem Licht wird die fortwährende Aktualität des Romans als Medium deutlich – auch nach der Jahrtausendwende und trotz umgreifender Verschiebungen im Medienverbund.

23 Ebd., S. 8. 24 Ebd. 25 Deterding/Hölter, „Papier simuliert visuelle Medien“, S. 227. Zur Unmöglichkeit der Interpretation vgl. auch William G. Little, „Nothing to Write Home About: Impossible Reception in Mark Z. Danielewski’s House of Leaves“, in: Neil Brooks/Josh Toth (Hrsg.), The Mourning After: Attending the Wake of Postmodernism, Amsterdam 2007, S. 169–199. 26 http://markzdanielewski.info/features/guide/index.html [Stand: 03.03.2013].

Cord-Friedrich Berghahn, Braunschweig

„Ein böser, nichtendenwollender Traum“ Architektur in der Prosa W.G. Sebalds I Begeistert durch den wahrhaftig grenzenlosen Wachstum der Industrie, hat der Staatsmann Disraeli Manchester die wundervollste Stadt der Neuzeit genannt, ein himmlisches Jerusalem, dessen Bedeutung allein die Philosophie zu ermessen vermöge. Ein halbes Leben ist es nun her, daß ich, nach meinem Aufbruch aus der Provinz, dort ankam und Wohnung bezog zwischen den Ruinen aus dem letzten Jahrhundert. Viel bin ich damals über die brachen elysäischen Felder gegangen und habe das Werk der Zerstörung bestaunt, die schwarzen Mühlen und Schiffahrtskanäle, die aufgelassenen Viadukte und Lagerhäuser, die Abermillionen von Ziegeln, die Spuren des Rauchs, des Teers und der Schwefelsäure, bin lange gestanden an der Ufern des Irk und des Irwell, jener jetzt toten mythischen Flüsse, die schillernd zu besseren Zeiten geleuchtet haben azurblau, kaminrot und giftig grün, spiegelnd in ihrem Glanz die Baumwollwolken, die weißen, in die aufgegangen war ohne ein Wort der Atem ganzer Legionen von Menschen.1

1 W.G. Sebald, Nach der Natur. Ein Elementargedicht, Frankfurt a.M. 1995, S. 83f. Sebald bezieht sich auf den Roman Coningsby, or the New Nation von 1844, der das politische, soziale und ethische Credo Disraelis abbildet. Vgl. zu Disraelis Manchester-Bild Peter Prestons Aufsatz „Manchester and Milton-Northern: Elizabeth Gaskell and the Industrial Towns“, in: Peter Preston/Paul

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Von Anfang an bewegt sich das erzählende Ich der Texte Sebalds – jene komplexe Figuration aus Anverwandlung und Einverleibung, aus Autobiographie und Fiktion – in Räumen, die präzise wahrgenommen und beschrieben, zugleich aber in komplexen geschichtsphilosophischen Rahmungen verortet werden. Der zitierte Abschnitt aus dem „Elementargedicht“ Nach der Natur – mit dessen Publikation 1988 W.G. Sebalds literarische Autorschaft einsetzt – lässt Motive anklingen, die bis in seinen letzten vollendeten Text, den Roman Austerlitz, reichen. Dazu gehören die Verzwirnung von Natur- und Kulturgeschichte im Zeichen globalen Unheils, ein spezifischer, melancholischer Blick auf das 19. Jahrhundert als Schaltstelle einer katastrophischen Beschleunigung der Geschichte und die rückwärtsgewendete Perspektive des von Paul Klee gezeichneten und von Walter Benjamin gedeuteten Engels der Geschichte (des Angelus Novus). Von ihm heißt es in Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte: Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen, aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.2

Dass dieser Engel auf Manchester, das Jerusalem der liberalen und das Karthago der neoliberalen Moderne, schaut, verdankt sich nicht nur Benjamin Disraelis emphatischer liberaler Perspektive, sondern auch dem exzentrischen Lebensweg des Autors, der hier seine englische Wanderschaft begann. Mir soll es im Folgenden allerdings nicht um die vertrackt chiffrierte Präsenz des Autors in seinen Texten gehen; vielmehr möchte ich über einige eng zusammenhängende Motivkomplexe spekulieren, die sich um die Architektur zentrieren. In der Tat ist in der Fülle der Sebald’schen Themen die Architektur eines, das in der überaus intensiven Forschung zu diesem Autor3 zwar immer wieder en passant bemerkt, bis heute jedoch

Simpson-Housely (Hrsg.), Writing the City. Eden, Babylon and the New Jerusalem, London/New York 1994, S. 31–58, insbes. S. 37f. 2 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, 7 Bde., Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1972–89, hier Bd. I.2, S. 697f. 3 Die umfangreiche Sekundärliteratur zu Sebald ist jetzt vorbildlich erschlossen im von Jo Catling und Richard Hibitt herausgegebenen Sebald-Handbuch: Saturn’s Moons. W.G. Sebald – A Handbook (Legenda), London 2011, vgl. den „Bibliographical Survey“ (S. 446–590) und v.a. die Bibliographie der Forschung zu Sebald (S. 497–547).

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nur wenig beforscht und bislang nicht systematisch gedeutet wurde.4 Dabei mangelt es nicht an Hinweisen auf die Nähe von Sebalds Blick zu den Blicken Baudelaires, Benjamins und Kracauers auf das gebaute 19. Jahrhundert, denn deren geschichtsphilosophische Perspektive auf den verschütteten Ideengehalt des – wie es bei Benjamin heißt – „Veralteten“, jener Bauten, „die anfangen auszusterben“,5 gehört auch zum Inventar der Sebald’schen Texte. Und auch die bei Benjamin entwickelte „theoretische Schreibweise“, die in einem Dritten zusammenfällt, das zwischen Theorie und Erzählung oszilliert, findet ihre Adaptation bei Sebald. Zu dieser Schreibweise gehört, wie Sigrid Weigel in einem der erhellendsten Bücher zu Benjamin schreibt, ein Bilddenken, das auf die Dialektik von „Ähnlichkeit und Entstellung“ abhebt;6 eine spezifische, die erzählerische Haltung generierende Interessiertheit für „Phänomene der individuellen und kollektiven Erinnerung“7 und ein Erzählen, das weniger an Theoremen (noch weniger an einer irgendwie gearteten ‚Handlung‘) orientiert ist als an Bildern; ein Erzählen, das fragmentierte Bilder im Denken zusammenfügt. Diese Charakteristika lassen sich auf Sebalds Prosa übertragen, ohne dass diese damit als eklektisch ausgewiesen wäre. Diese Konfiguration führt in der Prosa Sebalds zu einer Praxis der ‚Lektüre‘ kultureller Phänomene, die ihre Theoreme weniger auf diskursiven als auf narrativen Wegen entwickelt, die Theorie und Praxis auf merkwürdige Weise ineinander schreibt. Sebald vermag, nicht anders als der Autor des Passagen-Werks, „die Topographie und Architektur der Stadt als Gedächtnisraum des Kollektivs“ zu lesen;8 es gelingt ihm immer wieder, das scheinbar Banale allegorisch aufzuladen und das Veraltete geschichtstheoretisch zu aktualisieren. Aber er leistet mehr und anderes als sein melancholischer Gewährsmann aus der ersten Hälfte des katastrophischen 20. Jahrhunderts. (Und Benjamin ist auch nur einer in der großen

4 Einschlägig sind vor allem die Aufsätze von Silke Arnold-De Simine: „Remembering the Future: Utopian and Dystopian Aspects of Glass and Iron Architecture in Walter Benjamin, Paul Scheerbart, and W.G. Sebald“, in: Christian Emden/Catherine Keen/David Midgley (Hrsg.), Imagining the City (2 Bde.), Bd. II: The Politics of Urban Space, Oxford 2006, S. 149–169, deren Darstellung auf die Spuren des Architekturdenkens von Walter Benjamin fokussiert, und Robert H. Crawshaw: „Lieux de mémoire, monuments et monumentalisme. La portée symbolique de l’architecture et de l’archive dans l’Austerlitz de W.G. Sebald“, in: Fiona MacIntosh-Varjabédan/Joëlle Prugnaud (Hrsg.), Les monuments du passé: traces et représentations d’une histoire dans la littérature, Villeneuve d’Ascq 2008, S. 169–183, von dessen gedächtnistheoretischem Ansatz meine Überlegungen sehr profitiert haben. 5 Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 299. 6 Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a.M. 1997, S. 9. 7 Ebd., S. 11. 8 Ebd., S. 31.

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Schar von Intellektuellen, deren Spuren sich in Sebalds dicht assemblierten Texten wiedererkennen lassen.) Das zeigt sich in Sebalds sehr spezifischem Blick auf die Architektur, der qualitativ mehr ist als eine erzählerische Anverwandlung Benjamin’scher Theoreme und Motive. Denn dieser Blick – so eine zentrale These meiner Überlegungen – bestimmt nicht nur die motivisch-theoretische Dimension wichtiger Kapitel in Sebalds Prosadebüt Schwindel. Gefühle (1990), seinen „Vier langen Erzählungen“ Die Ausgewanderten (1992), in der „Englischen Wallfahrt“ Die Ringe des Saturn (1995) und im Roman Austerlitz (2001), er ist zugleich ein struktureller Schlüssel der jeweiligen Erzählungen, ja die These lässt sich dahingehend radikalisieren, dass mit der Komplexität der narrativen Anlage auch die strukturelle Bedeutung der erzählten und erzählerischen Architektur an Bedeutung gewinnt. Seit Schwindel. Gefühle hat Sebald in einem immer stärkeren Maße Photographien in seine Texte integriert, und zwar zumeist als unkommentiert in den Text einmontierte Bilder, die die Funktion der literarischen Rede an Schwellenmomen-

Abb. 1: Sebald, Schwindel. Gefühle, S. 138f.

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ten des Textes übernehmen.9 Dieses komplexe Ineins von Bild und Text sollte fortan charakteristisch für alle weiteren Texte des Autors werden; und schon in Schwindel. Gefühle waren es Architekturphotos und -zeichnungen, die u.a. das raum-zeitliche Gefüge zwischen den Tagen Stendhals und der Gegenwart des Erzählers konturierten. Architektur war hier zwar weniger im Text als vielmehr im Bild präsent, aber die Rolle der Architektur als Bild im Text hatte neben der illustrativen eine metaphorische Dimension: Architektur codiert in den Texten durch ihre Überblendung von Zeit und Raum den Zusammenhang der vier Erzählungen, der sprachlich durch Verweise, Analogien, Ähnlichkeiten und verdeckte Zitate signalisiert wird.

II Diese Tendenzen der Verwendung von Architektur im Bild und ihrer Montage im Text werden in der Folge von Sebalds literarischen Werken immer prononcierter; zugleich wird die Architektur, die er in seinen Texten verwendet, immer spezifischer. In Die Ausgewanderten, einer Sammlung von, wie es im Untertitel heißt, „vier langen Erzählungen“, ist, wie in Nach der Natur, Manchester der Schauplatz der letzten und längsten Erzählung (die mit fast 150 Seiten Umfang auch Novelle oder Kurz-Roman genannt werden könnte). Hier trifft das erzählende Ich, das, wie Sebald, Deutschland den Rücken kehrend, ein Studium in England aufnimmt, auf den jüdischen Maler Max Aurach (der Name ist zugleich Titel der Erzählung). Dabei überblendet Sebald Realität und Fiktion und macht seinen fiktiv-autobiographischen Text auch zum Gefäß von realen Lebensläufen. Das Vorbild der Figur des Max Aurach ist der in London malende Künstler Frank Auerbach, der im Dritten Reich aus Berlin nach England emigrierte. Seine Vita wird mit Lebensfragmenten des – ebenfalls emigrierten – Architekten Peter Jordan durchsetzt, der in den 1960er Jahren Sebalds Vermieter in Manchester war.10 In Max Aurach ist die gesamte Erzählung in einem architektonisch und historisch klaustrophobischen Raum angesiedelt. Aurach lebt und malt als ewiger, ex-zentrischer Exilant in einer verfallenden Ruinenstadt des Hochkapitalismus,

9 Vgl. die Darstellung von Sebalds photographischer Poetik und der Funktionsweisen von Bildern in seinen Texten bei Thorsten Hoffmann und Uwe Rose, „Quasi jenseits der Zeit“: Zur Poetik der Photographie bei W.G. Sebald, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 125/2006, S. 580–608. In Nach der Natur hat Sebald zwar auch schon mit Fotos gearbeitet, diese aber als ,Rahmung‘ seines „Elementargedichts“ verwendet: Je drei doppelseitige Naturfotos (die in der Taschenbuchausgabe des Fischer-Verlags kommentarlos entfallen!) rahmen den – selbst dreiteiligen – Text, Natur wird also zum Rahmen einer prekären Geschichte. 10 Vgl. Uwe Schütte, W.G. Sebald. Einführung in Leben und Werk, Göttingen 2011, S. 110.

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die in ihrem Verfall zu einem saturnischen, allegorischen, thanateischen Weltmodell avanciert. Das Manchester, das im 19. Jahrhundert für Disraeli noch ein Ort der liberalen Utopie schien, wird zur katastrophischen Ruinenlandschaft, die ihrerseits in enger, kommentierender Verbindung zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden – der Shoah – steht. Der Erzähler durchwandert die halb verlassene, halb verfallene Stadt in Flanerien melancholischer Verzweiflung: Ich bin auf diesen Wanderungen, während der seltenen, wirklich taghellen Stunden, in denen das Winterlicht die menschenleeren Straßen und Plätze durchflutete, immer wieder erschüttert gewesen von der Rückhaltlosigkeit, mit der die anthrazitfarbene Stadt, von der aus das Programm der Industrialisierung über die ganze Welt sich ausgebreitet hat, die Spuren ihrer augenscheinlich chronisch gewordenen Verarmung und Degradiertheit dem Betrachter preisgab. Derart verwaist und leer wirkten noch die kolossalsten Gebäude, der Royal Exchange, die Refuge Assurance Company, der Grosvenor Picture Palace, […] daß man meinen konnte, es handelte sich bei dem, was einen umgab, um eine aus rätselhaften Gründen ausgeführte Fassaden- oder Theaterarchitektur.11

In dieser Ruinenlandschaft entwickeln sich die Dialoge von Erzähler-Ich und dem Ich Aurachs, der mühsam seine Erinnerungsfragmente in den Trümmern des 19. Jahrhunderts zusammenfügt – und Zeugnis ablegt von der Shoah, die seine Familie aus der europäischen Geschichte gerissen hat. Dabei wird das totalitäre 20. in Bildern des industriellen 19. Jahrhunderts antizipiert. Das funktioniert einerseits auf der Ebene der Worte, wenn Aurach und der Erzähler in langen, referierenden Passagen die Architekturgeschichte wiedererzählen und motivisch auf das 20. Jahrhundert als „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) wenden. Und es geschieht in der Kombination von Bild und Text: Ich kam vorbei an einer längst außer Betrieb gesetzten Gasanstalt, an einem Kohlendepot, einer Knochenmühle und an dem, wie mir schien, endlos sich dahinziehenden gußeisernen Palisadenzaun des Schlachthofs von Ordsall, einer aus lauter lederfarbenen Backsteinen gemauerten gotischen Burg mit Brustwehren und Zinnen, bei deren Anblick mit irrerweise die Namen der Nürnberger Lebkuchenfabrikanten Haeberlein & Metzger wie eine Art von bösem Gespött im Kopf herumzugehen begannen und danach den ganzen Tag weiter herumgingen.12

Von diesen ambulatorischen Meditationen aus spannen sich in der Erzählung die Fäden: Aus ihnen ergibt sich ein Netz des Verhängnisses, in dessen Zentrum die „Verwandlung der Welt“ durch das kapitalistische 19. Jahrhundert steht.13 Eine 11 W.G. Sebald, Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt a.M. 1992, S. 230f. 12 Ebd., S. 234. 13 So der Titel von Jürgen Osterhammels großer Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts (München 2009), deren weltgeschichtlicher Blick dem Sebalds nicht sehr fern ist, wenngleich Osterhammels Haltung eher durch Skepsis als durch Melancholie charakterisiert ist.

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Abb. 2: Sebald, Die Ausgewanderten, S. 234f.

Globalgeschichte der Zerstörung, deren Bilanz in den Trümmern des 19. Jahrhunderts und in den zertrümmerten und fragmentierten Lebensläufen abzulesen ist. Dass es Sebald in seiner Koinzidenzpoetik auf Analogien ankommt, wird in der Erzählung Max Aurach spätestens dann evident, wenn die polnische Stadt Łodz – das, wie es im Buch, aber auch in der offiziellen Geschichte der Stadt heißt: „polski Manczester“14 – im Text in einem ähnlichen Bild erscheint, wie 100 Seiten zuvor Manchester selbst.15 Hier ist das „polnische Manchester“ nicht nur Ort der Verhandlungen der industriellen Revolution, sondern Schauplatz der Shoah – denn inmitten der Industriestadt wurde 1940 das Ghetto Litzmannstadt eingerichtet, das auf der einen Seite die Geschichte Aurachs entschlüsselt, auf der anderen aber eine Art von radikaler Konsequenz des 19. Jahrhunderts abbildet,

14 Sebald, Die Ausgewanderten, S. 352. 15 Vgl. ebd., S. 250f. und S. 352f.

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indem es ausschließlich der industriellen Produktion zu Kriegszwecken dient und den Menschen nur noch als Material dieser Produktion gelten lässt. Die letzten Bilder dieser Erzählung sind lediglich im Text zu finden; sie beschreiben Photographien aus dem Ghetto, auf denen die Menschen in den Kulissen des 19. Jahrhunderts in realem und mythischem Unheil arbeiten. Diese Photographien stammen aus dem Katalog der Frankfurter Ausstellung „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Ghetto in Lodz.16 Sebald integriert sie als erzählte Bilder in seine Prosa: In den manufakturmäßig aufgebauten Produktionsstätten saßen Frauen beim Strohflechten, standen Kinderlehrlinge an der Schlosserwerkbank, Männer an den Geschoßautomaten, in der Nagelfabrik oder im Lumpenlager, und überall Gesichter, ungezählte Gesichter, die eigens und einzig für den Sekundenbruchteil des Fotografierens aufgeschaut haben (und aufschauen haben dürfen) von ihrer Arbeit. Arbeit ist unser einziger Weg, hat es geheißen.17

Aus diesem Bild der entfesselten Produktion im Zeichen des globalisierten Kriegs schauen drei junge Frauen, namenlos, denen der Erzähler aber Namen geben will um ihre Geschichte zu erzählen, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Sebalds Text schließt mit diesem Versuch, in dem das Individuum benannt, aus der Namenlosigkeit gerettet und zugleich vom Mythos verschlungen wird: Hinter einem lotrechten Webrahmen sitzen drei junge, vielleicht zwanzigjährige Frauen. Der Teppich, an dem sie knüpfen, hat ein unregelmäßig geometrisches Muster, das mich auch in seinen Farben [es handelt sich um ein Schwarzweißphoto, C.F.B.] erinnert an das Muster unseres Wohnzimmersofas zu Hause. Wer die jungen Frauen sind, das weiß ich nicht. Wegen des Gegenlichts, das einfällt durch das Fenster im Hintergrund, kann ich ihre Augen genau nicht erkennen, aber ich spüre, daß sie alle drei herschauen zu mir, denn ich stehe ja an der Stelle, an der Genewein, der Rechnungsführer, mit seinem Fotoapparat gestanden hat. Die mittlere der drei jungen Frauen hat hellblondes Haar und gleicht irgendwie einer Braut. Die Weberin zu ihrer Linken hält den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, während die auf der rechten Seite so unverwandt und unerbittlich mich ansieht, daß ich es nicht lange auszuhalten vermag. Ich überlege, wie die drei wohl geheißen haben – Roza, Lusia und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel, Faden und Schere.18

16 „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Ghetto in Lodz 1940–1944. Ausstellungskatalog des Jüdischen Museums Frankfurt a.M., Hanno Loewy/Gerhard Schoenberner (Hrsg.), Wien 1990. 17 Sebald, Die Ausgewanderten, S. 354; das Bild, von dem Sebalds Text ausgeht, findet sich im Frankfurter Katalog. 18 Ebd., S. 355. – Carol Jacobs hat die erzählerische „Rahmung“ des Bildes mit dem „Webrahmen“ (Die Ausgewanderten, S. 355) und die Inszenierung des Erzählers als Beobachter und Aufseher überzeugend rekonstruiert („‚What does it mean to count?‘ W.G. Sebald’s The Emigrants“, in: Modern Language Notes, 119/2004, S. 905–929, vgl. insbes. S. 926–929).

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Diese Passage ist ein Beispiel für Sebalds „theoretische Schreibweise“ und für die komplexe Genealogie dieses Schreibens, in dem er hier den von Benjamin kommenden Blick auf das 19. Jahrhundert mit Roland Barthes’ Beobachtungen zur Photographie überschreibt und aus dieser Konfiguration eine (bewegende, gar nicht theoretisch anmutende) Prosa macht, der die Theorie unhintergehbar eingeschrieben ist. Das Photo im Text erscheint zunächst als das absolut Spezifische, Kontingente, Zufällige, als das „Wirkliche in seinem unerschöpflichen Ausdruck“.19 Dieser ersten Wahrnehmungsebene gesellt sich das – wie Barthes es nennt – „Studium“ hinzu: die fortgesetzte und sinnstiftende Hingabe an die Lektüre. Dass uns – den Erzähler in der Logik des Textes und uns in der Erzählung – die drei Frauen anblicken, ist das, was Barthes als „Punctum“ bezeichnet: das Punctum, das Stechende, das „wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor [schießt]“.20 Und das Punctum, das Sebald in seiner Ekphrasis und Mythisierung des Bildes ästhetisch auffängt, bedeutet hier nichts anderes als: Sie sind [bereits] tot und sie werden [noch] sterben.21

III Standen im Zyklus Die Ausgewanderten literarische Bewegungen durch urbane Räume des 19. und 20. Jahrhunderts an zentraler Stelle, durch Räume, die durch eine katastrophische Geschichte selber wieder marginalisiert wurden, so wird dieses Verfahren in Sebalds „englischer Wallfahrt“ Die Ringe des Saturn aus dem Jahr 1995 geradezu zum poetischen Prinzip. Um dieses Prinzip herum hat der Autor seine Schreibbewegung aus poetischer Assemblage und assoziativer Abschweifung zu einem unendlich beziehungsreichen Geflecht von Verweisen gemacht. Dabei wird in den Ringen des Saturn – sieht man von einigen allerdings gewichtigen Ausnahmen ab22 – weniger die Architektur, als vielmehr die englische Landschaft um Lowestoft in den Sog einer geschichtsphilosophischen Allegorisierung gezogen.

19 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [1980], übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt a.M. 2007, S. 12. 20 Ebd., S. 135. 21 Vgl. ebd., S. 106, meine Formulierung lehnt sich eng an Barthes an. 22 So etwa das den gesamten Text durchwirkende Modell des Salomonischen Tempels und der – ebenfalls über mehrere Abschnitte des Textes präsente – Landsitz Somerleyton, aber auch das Haus des mit Sebald befreundeten Dichters Michael Hamburger, das ein Gegenmodell zu den thanateischen, in ihrer Konzeption die Zerstörung immer schon antizipierenden Monumentalbauten des 19. und 20. Jahrhunderts darstellt.

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Um meiner These zu Sebalds architektonischem Schreiben Kontur zu verleihen, möchte ich dessen literarische Landschaften – die in den Ringen des Saturn dominieren23 – übergehen und zu seinem letzten abgeschlossenen Prosawerk, dem Roman Austerlitz gelangen. In diesem Text fällt der Architektur von Anfang an eine prominente Rolle zu, was allein die fast 40 Aufnahmen von Gebäuden, Fassaden und Grundrissen zeigen, die sich über den Text verstreut finden. „Das Thema der Architektur und Fotos von Gebäuden“, so Thomas von Steinaecker, „spielen in keinem anderen seiner Bücher eine so wichtige Rolle wie in seinem letzten Werk“.24 Hier trifft das erzählende Ich im Jahr 1967 im Bahnhof von Antwerpen auf Jacques Austerlitz. Und es ist ein Gespräch über Architektur, aus dem sich allmählich die Recherche des Buches herauskristallisiert. Aus dem Baugeschichtler wird der sein Leben rekapitulierende, die Fragmente seiner Lebensgeschichte zusammenfügende Jacques Austerlitz. Dieser wurde im Alter von fünf Jahren mit einem britischen Kindertransport aus Prag vor der Deportation gerettet. Seine Eltern, das rekonstruiert er im Verlauf der Erzählung, fielen ihr zum Opfer. In Wales unter dem Namen Dafyd Elias bei christlichen Pflegeeltern aufgewachsen, verliert Austerlitz fast jede Erinnerung an sein Leben vor 1938. Der Roman hat die Geschichte dieser existenziellen Recherche als den eigentlichen Kern; um ihn herum ist die Erzählung eines anonymen Ich-Erzählers gelegt, der im Verlauf von 30 Jahren wiederholt auf Austerlitz trifft, um ihn am Ende in ein offenes Schicksal zu entlassen. Der Roman endet im Belgien der 1990er Jahre, an nahezu demselben Ort, wo er begann, in einer merkwürdigen Kreisfigur. Das erzählerische Experiment besteht dabei in der Einbettung der autobiographischen Geschichte, die gewissermaßen als zeitversetzte Ich-Erzählung mit der Ich-Erzählung des anonymen Rahmen-Ichs verschaltet ist. Eine stilistische Differenz zwischen diesen beiden Stimmen im Text ist dabei nicht auszumachen.25 In der nicht nur narrativ, sondern auch motivisch auf das Virtuoseste angewendeten Überblendungstechnik fallen zu Beginn des Romans ein Besuch im Antwerpener Nocturama und der Aufenthalt in der gewaltigen eklektizistischen Centraal Station Louis Delacenseries (1838–1909) zusammen. Beides sind Schwellenorte, unterweltlich in ihrer Düsternis. Hier treffen die Protagonisten in der

23 Vgl. dazu den Aufsatz von Monika Schmitz-Emans, Sebalds Landschaften, in: Colloquium Helveticum, 38/2007, S. 241–270. 24 Thomas von Steinaecker, Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld 2007, S. 300. 25 Vgl. die konzise Analyse bei Bettina Mosbach, Figurationen der Katastrophe. Ästhetische Verfahren in W.G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“ und „Austerlitz“, Bielefeld 2008, S. 214.

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Wartehalle, der Salle des pas perdus, aufeinander. Und Austerlitz’ Referat der Baugeschichte dieses Bahnhofes schlägt alle jene Motive an, aus denen die historische wie die ästhetische Konstruktion des Romans besteht: Gegen Ausgang des 19. Jahrhunderts, so hatte Austerlitz auf meine Fragen nach der Entstehungsgeschichte des Antwerpener Bahnhofs begonnen, als Belgien, dieses auf der Weltkarte kaum zu erkennende graugelbe Fleckchen, mit seinen kolonialen Unternehmungen sich auf dem afrikanischen Kontinent ausbreitete, als an den Kapitalmärkten und Rohstoffbörsen von Brüssel die schwindelerregendsten Geschäfte gemacht wurden und die belgischen Bürger, von grenzenlosem Optimismus beflügelt, glaubten, ihr so lange unter der Fremdherrschaft erniedrigtes, zerteiltes und uneiniges Land stehe nun im Begriff, als eine neue Wirtschaftsgroßmacht sich zu erheben, in jener jetzt weit schon zurückliegenden und doch unser Leben bis heute bestimmenden Zeit, war es der persönliche Wunsch des Königs Leopold, unter dessen Patronat sich der anscheinende unaufhaltsame Fortschritt vollzog, die nun auf einmal im Überfluß zur Verfügung stehenden Gelder an die Errichtung öffentlicher Bauwerke zu wenden, die seinem aufstrebenden Staat ein weltweites Renommee verschaffen sollten.26

Dieser eine, gewaltige Satz ist gewissermaßen die Exposition; ihr Material ist die Architektur, und wir haben in diesem Roman die Durchführung, deren roter Faden die europäische, insbesondere die belgische27 und die deutsche Geschichte ist. Zugleich ist der Satz in seiner hypotaktischen Unendlichkeit ein Reflex der unendlichen Architektur, in denen die Handlung des Romans angesiedelt ist. Die Sprache wird selbst räumlich und die Architektur reziprok zur zentralen Metapher dieser Sprache. Wie sehr die Architektur in die Textur des Romans verwoben ist, zeigt ein Blick auf die Seiten 18/19 des Romans (und Sebald hat diese Gestaltung sehr intensiv überwacht, wir sehen also das, was wir sehen sollen). Hier mündet nicht nur der lange, die Geschichte des Baus resümierende Satz in die Beschreibung des Sichtbaren und seiner Genealogie; in den Bildern im Text ist darüber hinaus die große, aus Stahl und Glas gebaute Kuppel des Antwerpener Bahnhofsfoyers – die Austerlitz’ Beschreibung im Bild fortsetzt28 – kombiniert mit

26 W.G. Sebald, Austerlitz [2001], Frankfurt a.M. 2008, S. 13f. (Die leicht greifbare Taschenbuchausgabe des Fischer-Verlags wird künftig unter Verwendung der Sigle A im Text zitiert). 27 Die historischen Spuren des Belgien-Komplexes, der eine Reihe von Sebald-Texten prägt und der eine Konfiguration aus Kolonialismus-, Kapitalismus- und Stilkritik ist, rekonstruiert Jan Ceuppens in seinem Aufsatz „Das belgische Grabmal. Sebalds 19. Jahrhundert“, in: Irene Heidelberger-Leonhard/Mireille Tabah (Hrsg.), W.G. Sebald. Intertextualität und Topographie, Berlin 2008, S. 91–109, vgl. insbes. S. 102–107. 28 Sebalds Verwendung von Photographien im Hinblick auf urbane und architektonische Räume, das von ihm praktizierte Verweben von Text und Bild gewinnt in der Arbeit von Thomas von Steinaecker (Literarische Foto-Texte) Kontur; von Steinaecker eröffnet seine Studie mit einem Blick auf die Genealogie einer Literatur, in der Photographien ,poetische‘ Funktionen übernehmen, wobei v.a. seine Überlegungen zu Georges Rodenbachs Roman Bruges-la-Morte [1892, dt. Die

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Abb. 3: Sebald, Austerlitz, S. 18f.

ihrem Vorbild, dem Luzerner Bahnhof, der im Moment seiner Vernichtung durch einen Brand abgebildet ist – was wiederum durch eine lange, die Seite sprengende Fußnote des erzählenden Ich konstelliert wird. Dass der Antwerpener Bahnhof zum Brennpunkt und Repertorium der neueren europäischen Geschichte einerseits, zum Schauplatz einer Erzählung andererseits wird, machen die folgenden Seiten klar. Dabei, und das ist neu, avanciert der Bau zu einer analogen Erzählung. Wie ist das gemeint? Alle Motive, die das erzählende Ich aus den Statuen, den Reliefs und dem Ornament, aus den Räumen und ihrem Zerfall herausliest, werden im Verlauf der Erzählung in anderen Kontexten wieder aufgerufen. Auch der Typus des Baus,29 ein hypertropher Funk-

tote Stadt] Analogien zu Sebalds ästhetischen Verfahren erkennen lassen, vgl. ebd., S. 33–39 und S. 300–314. An beiden Beispielen diskutiert von Steinaecker die Gedächtnisfunktion der Architektur im Text und mittels einmontierter Photographien. 29 Dass die von Sebald verwendeten Bauten bestimmten Typen entsprechen und dass bestimmte Typen seine Texte in fast systematischer Hinsicht prägen, ist als erstem Thomas von Steinaecker

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tionsbau der industriellen Moderne, der in seiner Verwendung von Glas-EisenKonstruktionen ganz im Sinne Benjamins die Grenzen zwischen Innen und Außen aufhebt,30 hat neben dem historischen Indexcharakter noch eine weitere Verweisfunktion, nämlich im Hinblick auf die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt des Protagonisten. Glas-Eisen-Konstruktionen des 19. Jahrhunderts sind auch bei Sebald phantasmagorisch, sie besitzen jene (alb-)traumartigen Eigenschaften, die Benjamin in den Materialien des Passagen-Werks herausgearbeitet hatte, und die Montage ihrer Abbildungen in den Romantext Austerlitz gehorcht einer dieser Architektur analogisierten Logik der Textsistierung und Textöffnung. Die Antwerpener Centraal Station ist Unter- und Oberwelt, Innen- und Außenwelt zugleich, und zwar in historischer wie in individualgeschichtlicher Hinsicht. Daneben ist der Bau in ein Verweissystem eingebunden, er deutet als Typus auf einen anderen: auf den Brüsseler Justizpalast, eines der absonderlichsten und dabei zyklopischsten Bauwerke der Welt. Nicht nur im Bahnhof zu Antwerpen findet sich eine Salle des pas perdus – ein Wartesaal, aber, wörtlich übersetzt, auch ein ‚Saal der verlorenen Schritte‘ oder ein ‚Saal der Unverlorenen‘ –, sondern auch im von Joseph Poelaert (1817– 1879) zwischen 1866 und 1889 errichteten Justizpalast von Brüssel. Eigentlich besteht sogar der größte Teil dieses so merkwürdigen wie faszinierenden Baus aus einer inszenierten Leere, die die 27 Gerichtssäle miteinander verbindet. Diese

aufgefallen (Literarische Foto-Texte, S. 303): „Waren es in den Ausgewanderten Hotels, in den Ringen des Saturn Herrenhäuser […], sind es […] in Austerlitz in erster Linie überdimensionale öffentliche Bauten, d.h. Bahnhöfe, Festungen und Bibliotheken, die abgebildet werden.“ Diese auffällige typologische Verwendung entspricht der Typenlehre Nikolaus Pevsners (A History of Building Types, Princeton/London 1976; dt. u.d.T. Funktion und Form. Geschichte der Bauwerke des Westens, Hamburg 1998), der aus den Bautypen eine Geschichte der Architektur entwirft, die nicht Stil-, sondern Funktionsgeschichte sein will. Als solche ‚Funktionsbauten‘ werden Bauwerke auch in Sebalds Texten eingesetzt. 30 Für Benjamin waren es die Glas-Eisen-Konstruktionen des 19. Jahrhunderts, in denen sich das Utopische wie Entfremdete, die Vision wie das Verhängnis der Moderne sinnbildlich manifestierte. Es sind die Passagen, die im Zentrum von Benjamins unvollendetem Hauptwerk – wenn eine solche Kategorie denn angemessen ist – stehen. Sebalds Rekurs auf die Glas-Eisen-Bauten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts steht ganz explizit im Zeichen der kulturellen Lektüre dieser Art Architektur, die Benjamin, aber auch Siegfried Kracauer im Anschluss an den französischen Surrealismus ausgebildet haben. Vgl. dazu Cord-Friedrich Berghahn, „Walter Benjamins Passage der Moderne“, in: Cord-Friedrich Berghahn/Renate Stauf (Hrsg.), Bausteine der Moderne. Eine Recherche, Heidelberg 2007, S. 45–70, insbes. S. 57f.; vgl. auch Heinz Brüggemann, „Passagen“, in: Michael Opitz/Erdmut Wiszila (Hrsg.), Benjamins Begriffe, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2000, Bd. II, S. 573–618; das Material zur Glas-Eisen-Architektur hat Benjamin v.a. in den Konvoluten A („Passagen […]“) und F („Eisenkonstruktion“) der Exzerpte und Notizen des Passagen-Werks gesammelt (Gesammelte Schriften, V.1, S. 83–109 und S. 211–231).

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Abb. 4: Justizpalast Brüssel (Postkarte, um 1900).

Leere ist dabei vollkommen säkular, eine Basilika der Moderne in den Formen religiöser, kultischer Bauten.31 Als „grandios, biblisch und michelangesk mit einer Portion Piranesi“ hat Paul Verlaine den Bau charakterisiert.32 In seiner Evokation im Roman schießen die literarischen Kommentare zu diesem Bau zusammen, die von Verlaine und Freud bis zu Orson Welles reichen (dieser wollte seine filmische Adaptation von Kafkas Process in den Räumen des Palais de Justice drehen, was ihm schließlich untersagt wurde). Es ist also nicht nur ein Monument des 19. Jahrhunderts, sondern ein Text-Bau, über den Austerlitz durch den Erzähler sagt: Der Bau dieser singulären architektonischen Monstrosität, über die Austerlitz zu jener Zeit eine Studie zu verfassen gedachte, ist, wie er mir erzählte, in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf das Drängen der Brüsseler Bourgeoisie überstürzt in Angriff genommen worden,33 ehe noch die grandiosen, von einem gewissen Joseph Polaert vorgelegten Pläne im einzelnen ausgearbeitet waren, was zur Folge hatte, daß es, so sagte Austerlitz, in diesem mehr als siebenhunderttausend Kubikmeter umfassenden Gebäude Korridore und Treppen gäbe, die nirgendwo hinführten, und türlose Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt. (A 47)

31 Vgl. die auf Piranesi, aber auch auf die singuläre Diskrepanz zwischen Wirkung und Funktion verweisende Charakterisierung des Baus bei Henry-Russell Hitchcock, Die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 234. 32 Zitiert nach der französischen Wikipedia (http://fr.wikipedia.org./wiki/Palais_de_justice _de_Bruxelles – [Stand: 02.05.2012]). 33 Hier weicht die Erzählung von den Fakten ab, ohne Zweifel, um den Bau mit der belgischen Kolonialgeschichte nach der Konferenz von Berlin von 1883 in Verbindung zu bringen.

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Die Leere als das innerste Geheimnis aller sanktionierten Gewalt – hier wird die Lektüre des zyklopischen Bauwerks überschrieben mit Gedanken Elias Canettis. In Masse und Macht hat Canetti die Inszenierung der großen Zahl als Kern einer totalitären Ästhetik ausgewiesen; und er hat später, in seinem Essay Hitler, nach Speer aus dieser Beobachtung Bausteine zu einer Theorie faschistischer Architektur gezogen.34 Diese zentriert sich um den Komplex von Macht und Geheimnis. Ihr steingewordener Ausdruck sind die Bauten Speers, die für Canetti mit Hitlers Taktik der Machterhaltung korrespondieren.35 Diese Theorie wird in der berichteten Figurenrede von Austerlitz gespiegelt. Hier heißt es über den Protagonisten, der dem Erzähler „der erste Lehrer überhaupt gewesen“ sei, der ihm also die Augen über den Zusammenhang der Phänomene und ihre Ähnlichkeit öffnen konnte: Es ist mir bis heute gegenwärtig, mit welcher Leichtigkeit seine sogenannten Denkversuche mir eingingen, wenn er über den ihn seit seiner Studentenzeit beschäftigenden Baustil der kapitalistischen Ära sich ausbreitete. Insbesondere über den Ordnungszwang und den Zug ins Monumentale, der sich manifestierte in Gerichtshöfen und Strafanstalten, in Bahnhofsund Börsengebäuden, in Opern- und Irrenhäusern und den nach rechtwinkligen Rastern angelegten Siedlungen für die Arbeiterschaft. Seine Recherchen, so sagte mir Austerlitz einmal, hätten ihren ursprünglichen Zweck, der der eines Dissertationsvorhabens gewesen sei, längst hinter sich gelassen und seien ihm unter der Hand ausgeufert in endlose Vorarbeiten zu einer ganz auf seine eigenen Anschauungen sich stützenden Studie über Familienähnlichkeiten, die zwischen all diesen Gebäuden bestünden. (A 52)

Damit sind wir im Text-Bau des Romans, denn diese Passage lässt sich auch poetologisch deuten. Sebald geht in seinem Text ebenso weiter wie Austerlitz in seinen baugeschichtlichen Studien. Es bleibt nicht bei der teils zitierenden, teils evozierenden Überblendung von Theoremen Benjamins, Foucaults und Canettis zur Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. Aus der Ähnlichkeit der Bauten (die nur durch die Oberflächen entstellt ist) lassen sich Analogien erkennen, die auf die Geschichte und ihre Bilder angewendet werden können. Damit stellt der Roman zugleich eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung auf, deren Kern eine

34 In: Das Gewissen der Worte. Essays, Frankfurt a.M. 1981, S. 175–204. Vgl. dazu Edelgard Spaude, „Macht und Geheimnis – oder die Macht des Geheimnisses – oder das Geheimnis der Macht. Deutungsmöglichkeiten, Wirkungen und Einsichten“, in: Philipp Stoellger (Hrsg.), Sprachen der Macht. Gesten der Er- und Entmächtigung in Texten und Interpretationen, Würzburg 2008, S. 83–94, insbes. S. 92f. 35 Es sind „monströse, beeindruckende Steinbauten […] unter weitgehendem Verzicht auf Glas, um einerseits Einblicke von außen zu verhindern, andererseits aber auch, um die Distanz zwischen Herrscher und Volk für jeden sichtbar zu demonstrieren“. (Spaude, „Macht und Geheimnis“, S. 93.)

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sehr spezifische „Ästhetik der Ähnlichkeit“ ist. Ähnlichkeit, das bedeutet auf der Ebene der modernen Semiotik das Unterlaufen der Dichotomie von Identität und Differenz und damit die Subversion der klassischen Episteme.36 Es bedeutet auf der Ebene der literarischen Traditionsbildung jene Konfiguration, die für Moderne und Postmoderne charakteristisch ist: Nicht den Rekurs auf eine kanonisierte Traditionsgeographie, sondern die permanente Neuerfindung, die permanente Neupositionierung im literarischen und künstlerischen Feld.37 Damit ist auch der ästhetische Ort der Prosa Sebalds angezeigt (und diese von der Ästhetik der Klassischen Moderne abgegrenzt). In der Logik des Sebald’schen Schreibens architektonischer Räume impliziert eine solche Ästhetik der Ähnlichkeit zugleich den Moment des Zusammenfalls von innerer und äußerer Schicht, von Oberflächenwahrnehmung und Tiefendurchdringung, von Überblendung und Aufhebung von Zeiten und Räumen einen, wenn man sich der Jünger’schen Terminologie in diesem Zusammenhang bedienen möchte, geradezu „stereoskopischen Blick“.38 Sigurd Martin ist dieser „Lehre des Ähnlichen“ in W.G. Sebalds Prosa in einem erhellenden Aufsatz nachgegangen; in ihm wird die Poetik des Raums als zentraler Ort dieser Lehre rekonstruiert.39 Ihr entscheidender Moment im Roman ist jene Passage, in der Jacques Austerlitz im bereits aufgelassenen Ladies Waiting Room die Grenzen von Innen- und Außenwelt, die von realer gebauter und realer gezeichneter und imaginierter (und im Roman real gewordener) Text-Architektur überschreitet: Es mögen Minuten oder Stunden vergangen sein, während derer ich, ohne mich von der Stelle rühren zu können, in dem, wie es mir schien, ungeheuer weit hinaufgehenden Saal gestanden bin, das Gesicht angehoben gegen das eisgraue, mondscheinartige Licht, das durch einen unter der Deckenwölbung verlaufenden Gaden drang und einem Netz oder einem schütteren, stellenweise ausgefransten Gewebe gleich über mir hing. Trotzdem dieses Licht in der Höhe sehr hell war, eine Art Staubglitzern, könnte man sagen, hatte es, indem es sich herniedersenkte, den Anschein, als würde es von den Mauerflächen und den niedrigen Regionen des Raumes aufgesogen, als vermehre es nur das Dunkel und verrinne in

36 Vgl. Gerald Funk/Gert Mattenklott/Michael Plauen, „Symbole und Signaturen. Charakteristik und Geschichte des Ähnlichkeitsdenkens“, in: Dies. (Hrsg.), Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 7–34, insbes. S. 7f. 37 Vgl. dazu Cord-Friedrich Berghahn, „Vladimir Nabokovs Ästhetik des Ähnlichen. Zur Genealogie postmodernen Schreibens“, in: Andrea Hübener/Jörg Paulus/Renate Stauf (Hrsg.), Umstrittene Postmoderne. Lektüren, Heidelberg 2010, S. 243–260, insbes. S. 259f. 38 Ernst Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond [1930], hier zitiert nach der zweiten Fassung in Ders., Blätter und Steine, Hamburg 21941, S. 110–124, hier S. 121. 39 Sigurd Martin, „Lehren vom Ähnlichen. Mimesis und Entstellung als Werkzeuge der Erinnerung im Werk W.G. Sebalds“, in: Sigurd Martin/Ingo Wintermeyer (Hrsg.), Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds, Würzburg 2007, S. 81–103.

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schwarzen Striemen, ungefähr so wie Regenwasser auf den glatten Stämmen des Buchen oder an einer Fassade aus Gußbeton. Manchmal, wenn draußen über der Stadt die Wolkendecke aufriß, schossen einzelne gebündelte Strahlen in den Wartesaal herein, die aber meist auf halbem Wege schon erloschen. […] Kaum einen Lidschlag lang sah ich zwischendurch riesige Räume sich auftun, sah Pfeilerreihen und Kolonnaden, die in die äußerste Ferne führten, Gewölbe und gemauerte Bogen, die Stockwerke über Stockwerke trugen, Steintreppen, Holzstiegen und Leitern, die den Blick immer weiter hinaufzogen, Stege und Zugbrücken, die die tiefsten Abgründe überquerten und auf denen winzige Figuren sich drängten, Gefangene, so dachte ich mir, die einen Ausweg suchen aus diesem Verlies […]. (A 198)

Dieser so grenzenlose wie klaustrophobische Raum führt von der Architektur des 19. über die Architekturphantasie des 18. in die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ihm liegt, worauf als erster Sigurd Martin hingewiesen hat,40 Piranesis siebtes Blatt der Carceri d’invenzione (1761) zugrunde. Dieses unendlich berühmte Bild, das seit Horace Walpole die romantische wie die moderne Imagination immer wieder inspiriert hat und das seit Thomas de Quincey und Charles Baudelaire in immer neuen Versionen vom Bild zum Text wurde,41 wird in dieser Passage Sebalds in seiner albtraumhaften Vision aktualisiert.42 In den gefangenen „Schatten“ oder „Infusionstierchen“ dieser so end- wie ausweglosen Kerkerwelt aus „reiner Architektur“43 liegt emblematisch die Geschichte des Jacques Austerlitz verschlossen. So heißt es im Hinblick auf die Erinnerungsfetzen, die der Ladies Waiting Room in Jacques Austerlitz freisetzt: Erinnerungen wie diese waren es, die mich ankamen in dem aufgelassenen Ladies Waiting Room des Bahnhofs von Liverpool Street, Erinnerungen, hinter denen und in denen sich viel weiter noch zurückreichende Dinge verbargen, immer das eine im anderen verschachtelt, gerade so wie die labyrinthischen Gewölbe, die ich in den staubgrauen Licht zu erkennen glaubte, sich fortsetzten in unendlicher Folge. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, in dessen Mitte ich wie ein Geblendeter stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, alle meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche […]. (A 200)

40 Ebd., S. 88. 41 Vgl. die Studie von Alexander Kupfer, Piranesis Carceri. Enge und Unendlichkeit in den Gefängnissen der Phantasie, Stuttgart/Zürich 1992, die auf den Seiten 79–162 die Wirkungsgeschichte der Carceri von Walpole bis Enzensberger nachzeichnet. 42 Vgl. die Abbildung von Piranesis Carceri d’invenzione in dem Beitrag von Uta Schürmann im vorliegenden Band, S. 128. 43 Norbert Miller, Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München 1978, S. 203. Millers wunderbares Buch entfaltet im Kapitel zur römischen Fassung der Carceri (S. 193–220) nicht nur das imaginative Potential des Bildzyklus, sondern rekonstruiert auf den S. 200f. auch die räumlichen Verhältnisse jenes siebten Blattes der Carceri, das Sebalds oben zitierter Passage wesentlich zugrundeliegt.

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Indem der reale Raum und die in ihm imaginierten Räume im Protagonisten einen Akt der mémoire involontaire ermöglichen, eine plötzliche, epiphanische Durchstoßung der Wirklichkeit zugunsten der Erkenntnis dieser Wirklichkeit,44 tritt Austerlitz an diesem Schwellenort zugleich in sein eigenes Leben, beobachtet er im Bahnhofssaal die entscheidende Weichenstellung seiner Existenz in merkwürdiger Brechung „wie ein Schauspieler“ (A 197).

IV Diese Poetik der Analogien zwischen Bauten, Räumen und Fassaden gliedert Sebalds ansonsten ungegliederten, nicht-hierarchisierten und mit Photos durchsetzten Text. Ja, man kann im Fall des Romans Austerlitz von typologischen Entsprechungen reden. Auf der Ebene der Bild-Text-Konfiguration hat Sebald in Austerlitz eine neue motivische Stringenz erreicht, die angesichts der immer wieder narrativ entfalteten Koinzidenz- und Kontingenzpoetik umso erstaunlicher ist: Die Antwerpener Centraal-Station, der Justizpalast von Brüssel, das Antwerpener Fort Breendonk45 avancieren – und diese typologischen Entsprechungen werden maßgeblich von den Photographien des Buchs getragen – zu Archetypen aus dem 19. Jahrhundert, die ihre Entsprechungen im katastrophischen 20. Jahrhundert finden. Zugleich sind sie Abbreviaturen des Innenlebens der beiden erzählenden Instanzen. Die klaustrophobischen und zugleich gigantomanischen Raumkonstruktionen der von Austerlitz beforschten Architektur korrelieren – und das wird im Verlauf seiner Erzählung evident, zugleich nehmen es aber die einmontierten Bilder vorweg – mit den psychischen Verdrängungsmechanismen und Erinnerungsprozessen.46 So führen die Spuren von Austerlitz’ Interesse am Festungsbau der Neuzeit, die er mit einer Psychopathographie der Moderne verbindet, auch zu

44 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Mit einem Nachwort, Frankfurt a.M. 1998, S. 180–218 („Utopie des Augenblicks und Fiktionalität“), insbes. S. 200–202. 45 Wie bewusst Sebald für seinen Roman jüdische Gedächtnisorte wählt, die sich zugleich in seine von der Architektur her entfaltete negative Geschichtsphilosophie fügen, zeigt auch die Festung Breendonk, vgl. dazu den Artikel „Breendonk“ von Gerhard Scheint, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Dan Diner (Hrsg.), Bd. I: A–Cl, Stuttgart/Weimar 2011, S. 407–411; hier spielt sowohl Jean Amérys Essay Die Tortur, der auf Amerys Haft und Folter in Breendonk zurückgeht, wie auch Sebalds Aufnahme dieses „negativen Erinnerungsorts“ (S. 407) im Roman Austerlitz eine zentrale Rolle. 46 Vgl. Mosbach, Figurationen der Katastrophe, S. 237.

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Abb. 5: Sebald, Austerlitz, S. 336f.

jener josephinischen Festung „Theresienstadt“, die dem rationalen Vauban’schen Fortifizierungsideal vollkommen entspricht. Vaubans Plan zu Saarlouis erscheint am Anfang des Romans (vgl. A 26). In Theresienstadt aber – das ab 1940 zu einem Konzentrationslager wurde – verliert sich die Spur von Austerlitz’ Mutter, die 1944 weiter in den Osten deportiert wurde. Auf den Seiten 336/ 337 erscheint im Roman eine Doppelseite aus Hans-Georg Adlers (1910–1988) 1955 erschienenem Werk Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Die Buchseite stammt bewusst aus einem schlecht kopierten, offenbar entliehenen und damit benutzten Exemplar, das seinen Objektcharakter in den Text Sebalds trägt. Aus diesen Analogien, aus diesen typologischen Erfüllungen bilden sich Kreise, die sich im Verlauf der Erzählung schließen; genauer: es schließen sich die Bilder, das Bild-Denken des Textes, nicht die Handlung. Sie bleibt auf eine bedrohliche Weise offen. Aber dem Antwerpener Zentralbahnhof, der Londoner Liverpool Street Station gesellt sich der Pariser Gare d’Austerlitz zu; und der bedrohlich den Romananfang überschattende (und das Romanlabyrinth präfigu-

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rierende) Brüsseler Justizpalast findet sein Pendant in der neuen Pariser Bibliothèque Nationale (von Dominique Perrault). Aus dem (Benjamin’schen) Raum der alten Pariser Nationalbibliothek vertrieben, berichtet Austerlitz von dem „in seinem Monumentalismus offenbar von den Selbstverewigungswillen des Staatspräsidenten inspirierten und, wie ich, sagte Austerlitz, gleich bei meinem ersten Besuch erkannt habe, in seiner ganzen äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution menschenabweisenden und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vorneherein kompromißlos entgegengesetzten Gebäude“ (A 392). Seine anfangs formulierten Thesen zum Verhältnis von Größe und Funktion und zur Kodierung von Größe mit Macht kehren angesichts des gewaltigen Turmbaus der Bibliothèque François Mitterrand wieder als Adnoten eines Lesers in der verwalteten Welt einer bibliophoben Entropie. Nachdem er beobachtet, wie die Vögel reihenweise aus dem begrünten Innenhof gegen die Glastürme fliegen und verenden, konstatiert Austerlitz: Ich habe an meinem Platz in dem Lesesaal viel über das Verhältnis nachgedacht, sagte Austerlitz, in welchem solche, von niemandem vorhergesehene Unfälle, der Todessturz eines einzigen, aus seiner natürlichen Bahn geratenen Lebewesens ebenso wie die in dem elektronischen Informationsapparat immer wieder auftretenden Lähmungserscheinungen, zu dem cartesischen Gesamtplan der Nationalbibliothek stehen, und bin zu dem Schluß gekommen, daß in jedem von uns entworfenen und entwickelten Projekt die Größendimensionierung und der Grad der Komplexität der ihm eingeschriebenen Informations- und Steuersysteme die ausschlaggebenden Faktoren sind und daß demzufolge die allumfassende, absolute Perfektion des Konzepts in der Praxis durchaus zusammenfallen kann, ja letztlich zusammenfallen muß mit einer chronischen Dysfunktion und mit konstitutioneller Labilität. (A 398)

In dieser Passage schießen die im Verlauf der Erzählung entwickelten Theoreme zur Architektur zusammen mit einer Theorie der Kultur selbst – und sie bilden implizit die Poetik des Buches ab, das sich – obwohl ein Roman – gegen die große, systematische und geschlossene Form richtet. In Sebalds Essay Summa Scientiae zu Canetti, der den Untertitel „System und Systemkritik“ trägt, findet sich eine dahingehende poetologische Selbstaussage (avant la lettre littéraire sozusagen), und zwar zunächst im gewählten Canetti-Zitat: „Jedes Werk ist eine Vergewaltigung, durch seine bloße Masse. Man muß auch andere, reinere Formen finden, sich auszudrücken.“47 Dann aber in der Charakteristik von Canettis Schreiben als Teil einer jüdischen Tradition, in der „der Ehrgeiz des Schriftstellers nicht auf das von ihm geschaffene Werk [zielt], sondern auf die Erhellung der Schrift geht. Die literarische Form“, so Sebald weiter, „derer die Illuminierung sich bedient, ist die auch für Canetti bezeichnende

47 Elias Canetti, Aufzeichnungen 1942–1948, München 1969, S. 99.

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Abb. 6: Sebald, Austerlitz, S. 394f.

des Exkurses, des Kommentars und des Fragments“.48 – Das ist der Kern dieses Erzählens, der ganze Roman ist eine fortwährende Erhellung nicht nur eines Lebenslaufs im Zeichen der Shoah, sondern einer literarischen Tradition, die durch die politischen und kulturellen Totalitarismen der Moderne existenziell bedroht ist.

V In einer letzten Schleife möchte ich noch einmal auf die Rolle der Architektur bei W.G. Sebald zurückkommen. Klar dürfte geworden sein, dass ihr neben der symbolischen und allegorischen Funktion, die sie im frühen Elementargedicht, aber auch in Schwindel. Gefühle, den Ausgewanderten und in den Ringen des Saturn

48 W.G. Sebald, „Summa Scientiae. System und Systemkritik bei Elias Canetti“ [1983], in: Ders., Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Frankfurt a.M. 1994, S. 93–102, hier S. 101.

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hatte, am Ende dieses Schreibens, im Roman Austerlitz, eine strukturelle Rolle zufällt. Diese gewährt in den Bildern der Bauwerke und in den Diskursen über diese Bauten strukturell das Gelingen der Form; und sie bildet zugleich jene entstellte Ähnlichkeit ab, die Sebald als Erleuchter der Schriften Benjamins, Kafkas und Canettis im Zentrum seiner negativen Geschichtsphilosophie konzentriert. Daneben aber wird der Roman tatsächlich zum Text-Bau. So, wie die Festungsarchitektur ein Zwangssystem ist, ein neurotischer, psychotischer Schutzraum – wie der Ich-Erzähler am Beispiel der belgischen Festung Breendonk vorführt, mit deren wiederkehrendem Besuch der Roman endet, ja abbricht – so ist auch Austerlitz mit der schreibenden Fortifizierung seines Ich beschäftigt. „Für mich“, so Austerlitz zum Erzähler seiner Geschichte, „war die Welt mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts zu Ende“ (A 201). Deshalb die Konzentration auf Delacenserie und Polaert, deshalb die Ausblendung von Albert Speer und Wilhelm Kreis. Gewaltsam und mehrfach als mémoire involontaire bricht daher die eigene Geschichte über ihm zusammen, so wie die Forts und Bahnhöfe, Justizpaläste und Hotels des 19. Jahrhunderts von der Moderne gewaltsam okkupiert und entstellt werden. Zum ersten Mal in der oben zitierten Vision im Ladies Waiting Room der Liverpool Street Station. Bei der zweiten Erinnerungsvision, die in Theresienstadt ‚geschieht‘, wo die eigene Geschichte als ausgeblendete auf Austerlitz einstürmt, heißt es: „Ich studierte die Karte des Großdeutschen Reichs und seiner Protektorate, die in meinem sonst hochentwickelten topographischen Bewußtsein sonst immer nur weiße Flecken gewesen waren […].“ (A 282) Und er hebelt damit sein, wie er es nennt, „Vermeidungssystem“, sein „ersatzweises, kompensatorisches Gedächtnis“ (A 201) aus. So wahnhaft wie der Festungsbau der Neuzeit, der im 19. Jahrhundert kulminiert, ist auch die Schanzarbeit von Austerlitz’ architektonischen Studien, die Schanzarbeit seines Schreibens. Austerlitz charakterisiert auf dem Höhepunkt seiner Krise seine architekturgeschichtlichen Schreibprojekte in Sätzen, die den Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals beschwören:49 Immerzu dachte ich nur, so ein Satz, das ist etwas nur vorgeblich Sinnvolles, in Wahrheit allenfalls Behelfsmäßiges, eine Art Auswuchs unserer Ignoranz, mit dem wir, wie so manche Meerespflanzen und -tiere mit ihren Fangarmen, blindlings das Dunkel durchtasten, das uns umgibt. Gerade das, was sonst den Eindruck einer zielgerichteten Klugheit erwecken mag, die Hervorbringung einer Idee vermittels einer gewissen stilistischen Fertigkeit, schien mir nun nichts als ein völlig beliebiges oder wahnhaftes Unternehmen. […] Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte, die Worte in

49 Bettina Mosbach hat dieses Schreibprojekt, das Austerlitz an den Rand des Verstummens führt, mit der Sprachkrise des Chandos-Briefes gleichgesetzt, vgl. Dies., Figurationen der Katastrophe, S. 247–254.

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eine willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen und diese in eine bleigraue, da und dort silbrig glänzende Spur, die irgendein kriechendes Wesen abgesondert und hinter sich hergezogen hatte und deren Anblick mich in zunehmendem Maße erfüllte mit Gefühlen des Grauens und der Scham. (A 183f.)

Noch ein Drittes fällt im Roman Austerlitz der Architektur zu. Sie ist nicht nur Teil der Struktur des Romans und darüber hinaus reales, symbolisches und allegorisches Element der Handlung. Für Austerlitz ist sie zugleich das Abbild der Sprache; seine Versuche, die Architektur der Gewalt zu erklären, scheitern auch – zunächst jedenfalls, und das Ende bleibt bewusst offen – weil er dieser Sprache entfremdet ist, er ihr entfremdet wurde. Der Unbehauste ist auch ein Sprachloser, jedenfalls einer, der sich in der Sprache wie in einem ungeheuren, fremden Bau zurechtfinden muss: Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die weit zurückreichen in die Zeit, mit abgerissenen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld hinausgewachsenen Außenbezirken, so glich ich selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit, in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet, der nicht mehr weiß, wozu eine Haltestelle dient, was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard oder eine Brücke ist. (A 183)

Damit hat W.G. Sebald in Austerlitz, seinem letzten vollendeten literarischen Text,50 die Verbindung von Architektur und Literatur, die alle seine Texte charakterisiert, nicht nur fortgeschrieben und intensiviert, er hat diese Verbindung zugleich neu konfiguriert. In dieser neuen Konfiguration wird Architektur als Idee, aber auch als Konkretes in dreifacher Hinsicht zum elementaren Teil des Textes, bildet der Roman-Text eine archi-tektonische écriture, in der Theorie und Darstellung, Handlung und Darstellung zusammenfallen. Darin liegt ein Grund für den suggestiven Sog dieses Text-Bild-Gefüges, dessen formale Bestimmung als „Roman“ das Geheimnis seiner strukturellen Innovation eher verschleiert, und darin liegt zugleich ein Grund für Schwierigkeiten, über diesen wunderbaren und bewegenden Text adäquat reden und schreiben zu können.

50 Die unvollendeten Texte und Fragmente, die sich nach Sebalds Unfalltod im Dezember 2001 fanden, versammelt seit 2003 der von Sven Meyer edierte Band Campo Santo (München: Hanser). Dort sind nur wenige Photographien zu finden, wahrscheinlich, weil Sebald diese erst in späteren Stadien der Textgenese eingefügt hat. Dass es zu den in Campo Santo zusammengestellten Texten zahlreiche mögliche Abbildungen gibt, dokumentiert der Katalog Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt, Ulrich von Bülow/Heike Gfrereis/Ellen Strittmatter (Hrsg.), Marbach 2008. Vgl. dort insbes. Sebalds (von Ulrich von Bülow herausgegebene) „Aufzeichnungen aus Korsika. Zur Natur- & Menschenkunde“, S. 129–211.

Namensregister Adler, Hans-Georg 288 Adorno, Theodor W. 213, 219 Alberti, Leon Battista 136 Albrecht von Scharfenberg 31 Améry, Jean 287 Apollinaire, Guillaume 266 Aragon, Louis 192 Arburg, Hans-Georg von 10, 65–83, 185 Aristoteles 224, 228 Auerbach, Erich 66–68 Auerbach, Frank 274 Augé, Marc 119 Augustinus 67f. Bachelard, Gaston 11, 115, 127, 129f., 156, 237–239, 243, 251, 253 Bachtin, Michail Michailowitsch 34, 160 Baltard, Victor 138, 140 Balzac, Honoré de 106, 123 Barbauld, Anna Letitia 10, 88–91, 95f., 102 Barthes, Roland 189, 278 Baudelaire, Charles 9, 187, 191, 193, 211, 213, 272, 286 Becker, Pia 53 Becker, Sabina 11, 187–205 Beer-Hofmann, Richard 185 Beethoven, Ludwig van 166 Behne, Adolf 198, 200 Behrens, Peter 202 Benjamin, Walter 11, 124, 178, 189, 191–199, 204f. Berghahn, Cord-Friedrich 11, 270–292 Bernhard von Clairvaux 33 Bienert, Michael 187 Bischof Serenus von Marseille 54 Blanc, Maurice 51f. Blanche, Jacques-Emile 58 Bloch, Ernst 204 Blume, Herbert 162, 164 Bohnsack, Gustav 165–168 Boisserée, Melchior 40 Boisserée, Sulpiz 184 Bönneken, Margarete 153 Böll, Heinrich 223f., 226–228, 230, 234, 236

Bollnow, Otto Friedrich 208 Braegger, Carlpeter 186 Brentano, Bernard von 197, 204 Brentano, Clemens 5 Brière, Chantal 105 Brown, Bill 118 Brown, Dan 61 Brunner, Otto 176 Brust, Alfred 8f. Büchsenschuß, Jan 3, 185 Bucovich, Mario von 201 Burger, Hermann 11 Burne-Jones, Edward 56 Butor, Michel 161, 62–64 Canetti, Elias 284, 289, 291 Carlyle, Thomas 97 Carroll, Lewis 10, 120, 266 Carver, Raymond 13f., 30 Catling, Jo 271 Cézanne, Paul 53 Chaperon, Danielle 22 Chateaubriand, René de 17, 33 Chifflart, Nicolas-François 32, 42 Clemens von Alexandrien 54 Coetzee, J. M. 266 Cohn, Alfred 207 Corbineau-Hoffmann, Angelika 53, 62 Cortazar, Julio 266 Croker, John Wilson 90f. Danielewski, Mark Z. 11, 236, 252–269 Darwin, Charles 94 Dauss, Markus 5 David, Hermine 58f. Degas, Edgar 52 Delacenserie, Louis 279, 291 DeMille, Nelson 61 Denkler, Horst 152 Derrida, Jacques 260f., 263, 266 Deterding, Sebastian 266, 269 Dickens, Charles 100 Didrons, Adolphe-Napoléon 49f. Disraelis, Benjamin 270f.

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Namensregister

Döblin, Alfred 34, 201 Döhmer, Klaus 71, 181f. Dörrlamm, Brigitte 160 Dongen, Kees van 58f. Doob, Penelope Reed 263 Doré, Gustave 97f. Dostojewski, Fedor 161f. Droysen, Johann Gustav 160 Dujardin, Eduard 161 Dürckheim, Karlfried von 206, 208 Dürer, Albrecht 184 Durzak, Manfred 228 Eco, Umberto 9, 18, 25f., 28–30 Eisenman, Peter 252 Elster, Hanns Martin 150 Ernst, Ulrich 6, 9, 31–64, 224, 266 Erwin von Steinbach 40, 225 Eustace, John 84 Evans, Robin 157f. Falcones, Ildefonso 18 Falke, Jacob von 117 Federman, Raymond 266 Feldtkeller, Christoph 1, 224 Fischer, Theodor 7 Flamel, Nicolas 38 Flaubert, Gustav 123 Flum, Thomas 10, 132–147 Follett, Ken 18, 61 Fontane, Theodor 2, 5, 7f., 10, 119, 122f., 125–127, 129f., 148–169 Foucault, Michel 160, 243–246, 250, 252, 284 Frank, Michael C. 245 Freud, Sigmund 283 Freund, Wieland 154, 268 Freytag, Gustav 155 Fricke, Stefanie 10, 84–102 Friedrich II. 6 Gandy, John 86f. Garnier, Charles 134, 136, 140 Garnier, Tony 7 Gauguin, Paul 53 Geiser, Christoph 11, 230, 232–236 Genette, Gérard 103

George, Stefan 9 George III. 88 George IV. 88 Gerigk, Anja 11, 237–251 Giedion, Sigfried 8f., 11, 206, 210, 219–222 Glaser, Stephanie 9, 13–30 Goebel, Gerhard 2 Goethe, Johann Wolfgang von 3, 10, 40, 85, 170–186, 211, 216, 225 Goldblum, Sonia 10, 103–116, 224 Gomes, Mario 161f. Góngora, Luis de 6 Gontscharow, Iwan 163 Gottfried von Straßburg 31 Gregor I. 54 Gregory, Sinda 258 Grillparzer, Franz 87, 161 Gutenberg, Johannes 4 Haag, Saskia 3, 149, 178 Haas, Willy 200 Hänselmann, Ludwig 159f. Hahn, Reynaldo 55–59 Hamburger, Michael 278 Hamon, Philippe 2, 53, 132 Hamsun, Knut 161f. Hansen, Mark B. N. 258, 267 Hauff, Wilhelm 7 Hauser, Heinrich 197 Haussmann, Georges-Eugène 132–134, 137, 140, 142, 147 Hawthorne, Nathaniel 60, 97 Hegemann, Werner 218 Heidegger, Martin 179 Heideloff, Carl Alexander von 7 Heine, Heinrich 177f., 187 Hennigfeld, Ursula 6 Hessel, Franz 11, 187–205, 208, 217 Heuet, Stéphane 59 Heym, Stefan 223f. Hibitt, Richard 271 Hilbersheimer, Ludwig 215 Hillebrand, Bruno 5, 156 Hirt, Alois 179 Hobsbawm, Eric 275 Hoffmann, E.T.A. 209 Hoffmann, Ludwig 202

Namensregister

Hofmannsthal, Hugo von 4, 10f., 170–186, 291 Hölter, Achim 38, 59, 266, 269 Hübsch, Heinrich 71, 137 Hugo, Victor 4f., 9f., 19–21, 24, 26, 30–44, 49, 51–54, 56, 60–62, 64, 87, 103–116, 141, 147, 188, 223, 228, 235 Hundeshagen, Helfrich Bernhard 180 Huxley, Thomas 94 Huysmans, Joris-Karl 10, 31, 44–48, 50–53, 60, 64, 223 Ibsen, Hendrik 8 Jacobs, Carol 277 Jacobus von Voragine 49 Jaeggi, Urs 11, 229f., 234, 236 James, Henry 60 Jean Paul 161 Jefferies, Richard 10, 91–93, 102 Jelinek, Elfriede 233 Jerrold, Blanchard 98 Johannot, Tony 42 Johnson, Samuel 90 Jones, Helen L. 228 Joyce, James 17, 155, 162, 233 Kafka, Franz 1f., 283, 291 Kahlden, Ute von 225f. Kant, Immanuel 237 Kastner, Jörg 61 Kauders, Hans 32 Kemp, Wolfgang 119, 148, 165, 207 Keller, Gottfried 5, 156, 182 Kiaulehn, Walther 197 Kittler, Friedrich 4, 268f. Klee, Paul 32, 271 Klinger, Max 166 Klotz, Volker 2, 34, 187 Knapp, Ursula 228 Korte, Barbara 92f. Kracauer, Siegfried 189, 193–196, 203f., 220, 242, 272, 282 Kraus, Karl 179 Krause, Robert 1–12, 170–186 Kreis, Wilhelm 291 Krupp, Alfred 7

Lachmann, Renate 254 Lacis, Asja 211f. Laemmel, Sybilla 56–58 Lavater, Johann Caspar 106f., 209 Layard, Austen Henry 100 Lazarus, Moritz 152f., 159 Le Corbusier 195, 235 Leibniz, Gottfried Wilhelm 210 Leitzen, Johannes 165 Lemaire, Madeleine 58 Lessing, Gotthold Ephraim 5, 225 Libeskind, Daniel 252 Lichtenstein, Roy 62 Linfert, Carl 148 Loudon, John Claudius 78f. Ludwig, Otto 155 Lüderssen, Klaus 158 Luther, Martin 38 Lynch, David 252 Macaulay, Thomas Babbington 96–99, 102 Macke, August 62 Mandelartz, Michael 171, 174 Manet, Édouard 53 Mann, Thomas 161 Martin, Sigurd 285f. Masereel, Frans 32, 42f. Matta-Clark, Gordon 235f. McCaffery, Larry 258 Méaulle, Fortuné Louis 32 Mendelsohn, Erich 198 Messel, Alfred 202 Meyer, Alfred Gotthold 210 Meyer, Sven 292 Michelet, Jules 124 Mill, James 96 Miller, Norbert 286 Mitford, William 96 Moering, Renate 171 Moholy-Nagy, Laszlo 198f. Monet, Claude 52, 56 Mörike, Eduard 9 Morris, William 15, 20, 56, 92 Mosbach, Bettina 279, 291 Müller-Seidel, Walter 158 Müller-Tamm, Jutta 72f.

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Namensregister

Munkácsy, Mihály von 117f. Muthesius, Hermann 196 Napoleon I. 88 Napoléon III. 132–133, 137, 140 Nelson, Horatio 90 Nerdinger, Winfried 5–8 Neumann, Gerhard 2, 74 Neumeyer, Harald 160, 189 Meyer-Krentler, Eckhardt 161 Niedermeier, Michael 181f. Niehr, Klaus 16 Nietzsche, Friedrich 4 Nordau, Max 94 O’Doherty, Brian 121, 123, 130 Ohl, Hubert 149, 161 Osborn, Max 197 Osterhammel, Jürgen 275 Paquet, Alfons 197 Pausanias 204 Paxton, Joseph 78f. Perels, Christoph 171 Perrault, Dominique 289 Pevsner, Nikolaus 282 Pfersmann, Andreas 265 Picasso, Pablo 62 Piranesi, Giovanni Battista 127f., 283, 286 Platon 185, 224 Poe, Edgar Allen 224 Poelaert, Joseph 282 Poelzig, Hans 199 Pogoda, Sarah 11, 223–236 Ponten, Josef 148 Priestley, Joseph 90, Proust, Marcel 10, 17, 31, 36, 44, 52–64, 189, 217, 223, 228, 235 Quincey, Thomas de 286 Raabe, Wilhelm 10, 148–169 Rainer, Arnulf 43 Ranke, Leopold von 96 Ray, Man 215 Reger, Erik 196 Reimann, Brigitte 11, 228–230, 234–236

Renan, Ernest 24 Reuter, Hans-Heinrich 149, 153 Ricardou, Jean 36 Rieben, Pierre-André 114 Riegl, Alois 210 Ringelnatz, Joachim 5 Riha, Karl 187 Ripa, Cesare 145 Rodenbach, Georges 280 Rossetti, Dante Gabriel 10, 99–102 Roth, Joseph 189, 193 Rupp, Johann Georg 7 Ruskin, John 15, 53f. Sagarra, Eda 154 Sammons, Jeffrey L. 155 Schaumann, Christian Gottlieb 160, 164 Scheerbart, Paul 7, 211 Scheffler, Karl 197, Schinkel, Friedrich 5, 157 Schlegel, August Wilhelm 6 Schlegel, Friedrich 15 Schmarsow, August 165, 238 Schmidt, Arno 233 Schmitthenner, Paul 7 Schneider, Gregor 252f. Schnepps, Beate 226 Schnitzler, Arthur 161, 168 Schopenhauer, Arthur 165f. Schöttker, Detlev 2, 11, 107, 206–222 Schreinert, Kurt 152 Schürmann, Uta 10, 117–131, 286 Sebald, W.G. 11, 270–292 Semper, Gottfried 78, 80f., 83, 134 Seng, Joachim 171 Soane, John 86 Speer, Albert 284, 291 Spielhagen, Friedrich 155, 160, 167 Steinaecker, Thomas von 279–281 Sterne, Laurence 58, 161, 266 Stifter, Adalbert 7, 10, 65–83, 178 Stone, Sasha 214 Szondi, Peter 207 Tausch, Harald 10, 148–169, 177, 180 Taut, Bruno 7, 201 Tergit, Gabriele 189

Namensregister

Tertullian 67 Thackeray, William Makepeace 123 Thomsen, Christian W. 2 Todorov, Tzvetan 257 Trollope, Anthony 97 Trollope, Frances 97 Tzara, Tristan 215 Uhde, Constantin 165 Unseld, Siegfried 207 Valéry, Paul 4 Verlaine, Paul 283, Vinzenz von Beauvais 50 Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel 36, 136f., 140, 182 Vitruv 4, 172f., 176f., 224 Voltaire 116 Wagner, Martin 197–201 Walpole, Horace 286

297

Walpole, Hugh 60, Walzel, Oskar 1 Warhol, Andy 62 Warning, Rainer 53 Weber, Julia 11, 236, 252–269 Weber, Max 221, Weigel, Sigrid 244–246, 272 Weiss, Peter 5 Welles, Orson 283 Wells, H.G. 10, 93–96, 101f. Whiteread, Rachel 252f. Wölfflin, Heinrich 150, 220 Wülfing, Wulf 155, Zelter, Carl-Friedrich 176f., 179 Zemanek, Evi 1–12 Zola, Émile 5, 7, 9f., 22–27, 30, 44, 51, 106, 132–147 Zucker, Paul 168