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German Pages 480 Year 2015
Anna Souksengphet-Dachlauer Text als Klangmaterial
2009-12-15 13-52-27 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0346228716874650|(S.
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Anna Souksengphet-Dachlauer (Dr. phil.) studierte Germanistik und Medienwissenschaft in Erlangen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Literatur des 20. Jahrhunderts und der Akustischen Kunst.
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Anna Souksengphet-Dachlauer Text als Klangmaterial. Heiner Müllers Texte in Heiner Goebbels’ Hörstücken
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Die vorliegende Arbeit wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung gefördert. Die vorliegende Arbeit wurde 2009 an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg als Dissertation unter dem Titel »Text als Klangmaterial. Heiner Müllers Texte in Heiner Goebbels’ Hörstücken« angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Mariusz Dalewski: © »Speaker«/Photocase.com Lektorat & Satz: Dr. Anna Souksengphet-Dachlauer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1339-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Vorwort 9 1 Text als Klangmaterial in Akustischer Kunst 11 2 Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik von Heiner Goebbels’ Hörstücken 21 2.1 Versuch einer Definition des Begriffs Hörstück 21 2.2 Hörspiel 23 2.3 Theater 30 2.4 Musik 43 3 Heiner Müller – Heiner Goebbels 49 3.1 Müllers Werk als Spiegelung eines Aufenthalts in der Geschichte 49 3.1.1 Biographischer, historischer und politischer Kontext 51 3.1.2 Geschichtsverständnis und Ästhetisierung der Geschichte 57 3.1.3 Position der Hörstücktexte im Gesamtwerk 63 3.2 Heiner Goebbels’ Umgang mit Müller und seinen Texten 69 4 Heiner Müllers Texte als Material in Heiner Goebbels’ Hörstücken 75 4.1 Untersuchungsgegenstand, Methode und Zielsetzung 75
4.1.1 Textanalyse 75 4.1.2 Modell zur Hörstückanalyse 77 4.2 Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten – Verkommenes Ufer (HR 1984) 88 4.2.1 Textanalyse 88 4.2.2 Passantenstimmen aus Berlin – Analyse des Hörstücks 98 4.2.3 Mythosverständnis der kollektiven Stimme – Ergebnisse 103 4.3 Die Befreiung des Prometheus – Die Befreiung des Prometheus (HR/SWF 1985) 106 4.3.1 Textanalyse 106 4.3.2 Prometheus im Fahrstuhl – Analyse des Hörstücks 117 4.3.3 Anerkennung und Ehrung für das »Textmusikklangkrachstück« – Ergebnisse 130 4.4 MAeLSTROMSÜDPOL – MAeLSTROMSÜDPOL (ECM Records 1987) 132 4.4.1 Textanalyse 132 4.4.2 Sog des Malstroms in Stimme und Musik – Analyse des Hörstücks 136 4.4.3 Entzerrung als Kompositionsprinzip – Ergebnisse 143 4.5 Der Mann im Fahrstuhl – Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator (ECM Records 1988) 145 4.5.1 Textanalyse 145 4.5.2 Rock, Jazz und portugiesische Songs – Analyse des Hörstücks 153 4.5.3 Textliche und musikalische Fragmentarisierung – Ergebnisse 161 4.6 Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten – Shadow/Schatten – Landscape with
Argonauts/Landschaft mit Argonauten (Goethe Institut/ICA Boston 1990/SWF 1991) 163 4.6.1 Textanalyse 163 4.6.2 Sprechgesang von Bostoner Passanten in Verbindung mit Edgar Allan Poe – Analyse des Hörstücks 170 4.6.3 Zurücktreten des Schreibenden hinter seinen Text – Ergebnisse 179 4.7 Wolokolamsker Chaussee I-V – Wolokolamsker Chaussee I-V (SWF/BR/HR 1989/90) 181 4.7.1 Textanalyse 181 4.7.2 ›Speed Metal‹, Kammerchor, klassische Musik und ›Hip Hop‹ – Analyse des Hörstücks 206 4.7.3 Fünf Kapitel deutscher Geschichte – Ergebnisse 218 4.8 Der Horatier – Der Horatier (SWF/HR 1993/94) 222 4.8.1 Textanalyse 222 4.8.2 Collage aus deutschen, englischen, französischen, italienischen und spanischen Texten – Analyse des Hörstücks 228 4.8.3 Rezeptionsgeschichte des Stoffes – Ergebnisse 238 4.9 Herakles 2 oder die Hydra – Oder die glücklose Landung (SWR 2000/01/Théâtre des Amandiers, Paris/TAT Frankfurt am Main 1993) 242 4.9.1 Textanalyse 242 4.9.2 Verhältnis zwischen Natur und Mensch – Analyse des Hörstücks 250 4.9.3 Textvielfalt zum Thema Wald – Ergebnisse 260 5 Zusammenfassung der Ergebnisse 265
5.1 Umgang mit den literarischen Texten Heiner Müllers in den Hörstücken von Heiner Goebbels 265 5.2 Modell zur Analyse von von literarischen Texten ausgehender Akustischer Kunst – Realisation und Ausblick 276 6 Abschließende Betrachtung 279
ANHANG Abkürzungsverzeichnis 285 Literatur- und Quellenverzeichnis 287
ANALYSEPROTOKOLLE Protokoll 1: Verkommenes Ufer 305 Protokoll 2: Die Befreiung des Prometheus 313 Protokoll 3: MAeLSTROMSÜDPOL 333 Protokoll 4: Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator 345 Protokoll 5: Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten 365 Protokoll 6: Wolokolamsker Chaussee I-V 395 Protokoll 7: Der Horatier 439 Protokoll 8: Oder die glücklose Landung 461
VORWORT Rückblickend betrachtet lieferte das Hörstück »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« den Anstoß für die vorliegende Studie. Dabei handelt es sich um eine reizvolle Verbindung von lauten Rock- und Jazzelementen sowie einem kurzen Prosatext Heiner Müllers, die meine Begeisterung für die Werke von Heiner Goebbels weckte. Mein Interesse galt schon lange sowohl in wissenschaftlicher als auch in praktischer Hinsicht dem Hörfunk und seinen radiophonen Kunstformen. Die Arbeiten von Heiner Goebbels faszinieren mich jedoch in besonderer Weise. Begründet liegt dies in der außergewöhnlichen Komposition der der Akustischen Kunst zugrundeliegenden Elemente, der Verwendung von vielschichtigem akustischen Material und der intensiven Auseinandersetzung mit den Werken ausgewählter Autoren, allen voran Heiner Müller. Mit der Betrachtung der Hörstücke Goebbels’, in denen Müllers Texte umgesetzt werden, und somit eines nicht gerade typischen literaturwissenschaftlichen Gegenstandes begibt sich diese Studie in ein Grenzgebiet der Literaturwissenschaft, in dem gängige Hörgewohnheiten gebrochen werden und der Rezipient zum bewussten akustischen Erleben herausgefordert wird. Die vorliegende Arbeit wurde durch ein Stipendium der KonradAdenauer-Stiftung e.V. gefördert. Für die Ermöglichung meines Forschungsvorhabens bin ich der Stiftung zu großem Dank verpflichtet. Außerdem danke ich dem Südwestrundfunk und Frau Bettina Scharfenberg, die im Handel nicht erhältliche Hörstücke freundlich zur Verfügung stellte. Mein aufrichtiger Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Ernst Rohmer und meinem zweiten Betreuer Prof. Dr. Henri Schoenmakers, die mich in den vergangenen Jahren außerordentlich gut unterstützten und motivierend bestärkten. Herzlich gedankt sei Miriam Dreschel und Julia Hamann für ihren kritischen Blick und die wertvollen Anmerkungen sowie meinem Mann Florian und meinen Eltern Malgorzata und Sengphong für ihre immerwährende Unterstützung. Gewidmet sei diese Arbeit Jadwiga Lachowska.
Anna Souksengphet-Dachlauer
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1 TEXT ALS KLANGMATERIAL IN AKUSTISCHER KUNST Mit dem Einzug des Rundfunks als Kommunikations- und Unterhaltungsmedium in die Gesellschaft im 20. Jahrhundert und der Entwicklung der radiophonen Kunstform Hörspiel eröffneten sich für Autoren literarischer Texte neue Möglichkeiten der Erreichbarkeit von Rezipienten sowie der Gestaltung und Vermittlung. Aus dieser neuen Situation heraus ergeben sich aber auch Fragen danach, ob literarische Texte in Hörspiel und Akustischer Kunst sich noch als solche erkennen lassen, wie sie sich in der Form des Klangmaterials von ihrer schriftlich fixierten Form unterscheiden und wie sich der Umgang mit literarischen Vorlagen gestaltet. Während in den 1950er Jahren unter anderem Schriftsteller der Gruppe 47 vor allem literarische Hörspiele schrieben oder Hörspielfassungen eigener Texte erstellten, bietet das gegenwärtige Hörspiel eine enorme Diversität und wird neben klassischen Hörspielautoren auch von Musikern, Soundkünstlern und Komponisten, wie Holger Hiller, FM Einheit, Ulrike Haage oder Heiner Goebbels mitgestaltet und weiterentwickelt. In zahlreichen Arbeiten von Goebbels (*1952) finden Texte des DDR-Autors Heiner Müller (1929-1995) Beachtung. Zwar haben auch andere Komponisten seine Texte als Vorlage für ihre Werke herangezogen, der westdeutsche Komponist Goebbels sticht jedoch mit der großen Anzahl der Vertonungen, sowie seiner Herangehensweise und der Auseinandersetzung mit Müller und seinem Werk hervor.1 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird anhand der Hörstücke von Heiner Goebbels, die auf Texten von Heiner Müller basieren, zum einen der Umgang mit literarischen Texten vor deren Auswahl für die Hörstücke mit dem Schwerpunkt auf der Bedeutung von Struktur und Semantik umfassend untersucht. Zum anderen ist die Verarbeitung dieser Texte als akustisches Material Thema. Nach der Darstellung der ästhetischen Entwicklungen im deutschen Hörspiel sowie der Einflüsse aus dem Theater und der Musik, die auf Goebbels’ Arbeiten eingewirkt haben (vgl. Kapitel 2), und der Betrach-
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Vgl. Schmitt, Olaf: Heiner Goebbels, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 356-359.
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Text als Klangmaterial tung der verwendeten Texte Müllers werden die Hörstücke von Goebbels hinsichtlich der Elemente Sprache, Geräusche und Musik und der verschiedenen kompositorischen Konzepte eingehend analysiert. Ausgehend von diesen Untersuchungen geht die Arbeit unter anderem Fragestellungen nach der Verschiebung oder Bewahrung von Bedeutungsebenen der Texte Müllers und der den Hörstücken zugrundeliegenden Ästhetik nach, die sich durch die Transposition literarischer Texte in Hörspielen und Akustischer Kunst ergeben. Heiner Goebbels betrachtet Heiner Müllers Texte als Landschaften, mit der Intention, bei deren Durchschreitung Struktur und Semantik gleichermaßen zu erfassen.2 Da die Sprache Heiner Müllers, durch Rhythmik, Auslassungen und Zäsuren bedingt, schon selbst musikalische Strukturen aufweise, solle man sich von diesen leiten lassen und von einer einfachen Doppelung des Inhalts durch klangliche Mittel absehen. Goebbels strebt vielmehr nach einer »Dramaturgie der Brechung, der diskontinuierlichen, sprunghaften, geschnittenen Vertonung, die seine [Müllers, Anm. d. Verf.] Art des Umgangs mit Material auf das Medium der Musik oder des Theaters überträgt«3. Die Vertonung von Texten in Hörspielen ist von Anfang an eng an die Entwicklung des Rundfunks gebunden. Der Umgang mit diesen Texten unterliegt im Laufe der Hörspielgeschichte verschiedenen ästhetischen Tendenzen sowie technischen und rundfunkinternen Entwicklungen. Goebbels’ Arbeiten wurden für und mit Hilfe des Rundfunks produziert und gesendet. Auch wurden sie mit Hörspielpreisen prämiert und könnten folglich auch als Hörspiele bezeichnet werden. Diese Einordnung setzt allerdings eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Hörspielbegriff und dessen Wandel voraus, die in dieser Arbeit vorgenommen wird. Heiner Goebbels selbst favorisiert für seine Werke die Bezeichnung ›Hörstücke‹. Das Kernthema der Arbeit bildet die Frage nach dem Umgang mit dem literarischen Text in Goebbels’ Hörstücken. Auf welche Weise setzte sich der Komponist bei der Vorbereitung der Komposition mit dem Text auseinander? Wie und mit welchen Mitteln wurde der zugrundeliegende Text später im Hörstück umgesetzt? Mit welcher Intention? Mit welcher Wirkung? Wie wurde die besondere Ästhetik eines Textes im Hörstück transponiert? Antworten auf diese Fragen lassen sich mit Hilfe einer eingehenden Beleuchtung der Einflüsse aus Theater und Musik sowie
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Lehmann, Hans-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 52-56, S. 52f.
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Goebbels, Heiner: Heiner Müller vertonen?, in: ebd., S. 57-58, S. 58.
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Text als Klangmaterial in Akustischer Kunst vorrangig der ästhetischen Tendenzen im deutschen Hörspiel finden. Nach einer ersten experimentellen Phase und der darauffolgenden Instrumentalisierung im Nationalsozialismus folgte in den 50er Jahren das literarische Hörspiel, auch als ›Hörspiel der Innerlichkeit‹ bekannt. Die bekanntesten Definitionsansätze dieser Hörspielart stammen von Heinz Schwitzke, dessen Verständnis des Hörspiels als Wortkunstwerk in dieser Zeit maßgebend war. Neben dem Primat des Wortes dienten akustische Elemente meist lediglich dazu, das Gesprochene zu verstärken, zu ergänzen oder zu illustrieren. Abgelöst wurde diese traditionelle Hörspieltheorie von Friedrich Knilli, der in seiner Untersuchung »Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels« ein Spiel mit den als gleichwertig anzusehenden akustischen Elementen Sprache, Geräusch und Musik propagierte. Damit schuf er eine neue Definition, die zu einem Umbruch im Hörspielverständnis führte. Die Wende zu diesem ›Neuen Hörspiel‹ wurde vor allem mit der Auszeichnung von Ernst Jandls und Friederike Mayröckers »Fünf Mann Menschen« (SWF 1968) mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden im Jahr 1969 offensichtlich. Die Entwicklung der Stereophonie, die Möglichkeit der Aufnahme von Original-Tönen mit Hilfe tragbarer Tonbandgeräte sowie Experimente mit den Kompositionstechniken der ›konkreten Musik‹ gaben dem Hörspiel entscheidende Impulse, die bis in die Gegenwart weiterwirken. Nach Helmut Heißenbüttels 1968 in einem Referat zur Internationalen Hörspieltagung formuliertem, weiterhin gültigem Prinzip »Alles ist möglich. Alles ist erlaubt«4 wird es gegenwärtig als sehr offene Form im Zusammenwirken von Autoren, Komponisten und Produzenten weiterentwickelt. Dies zeigen zum Beispiel das Gemeinschaftswerk »Reise, Toter« des Autors Durs Grünbein mit der Komponistin und Regisseurin Ulrike Haage und die ›Pop-Hörspiele‹ »Apocalypse Live«, »Radio Inferno« sowie »Crashing Aeroplanes« des Autors Andreas Ammer in Zusammenarbeit mit dem Musiker FM Einheit. In den beinahe ›songartig‹ aufgebauten Arrangements spielt auch die herausragende technische Innovation der 90er Jahre, die Digitalisierung, eine sehr wichtige Rolle. Die digitale Speicherung ermöglicht unbegrenzte Experimente mit dem Klangmaterial was Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe, räumliche Effekte, Verfremdungs-, sowie Schnitteffekte betrifft. Mit der Verwendung von ›Samples‹ und ihrer Anordnung unter anderem als ›Loops‹ oder ›Scratches‹ finden bis dahin in Popsongs angewandte Verfahren ihren Weg in die Hörspielproduktion.
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Heißenbüttel, Helmut: Horoskop des Hörspiels, in: Schöning, Klaus (Hg.): Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, Frankfurt am Main 1982, S. 18-36, S. 36.
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Text als Klangmaterial Heiner Goebbels’ Hörstücke, von denen die ersten in den 80er Jahren entstanden, können nicht gesondert von dieser Hörspielentwicklung betrachtet werden. Vor allem die Nutzung technischer Innovationen wie Original-Ton und ›Samples‹ sowie die Verwendung von Sprache, Geräuschen und Musik als gleichwertige Elemente, jenseits illustrativer Aufgaben, sind Merkmale seines Werkes. In seinen Arbeiten schafft er eine eigenwillige Verbindung von »Radiokunst und Rockmusik, Literatur und Musik, Ernst und Unterhaltung, Einstürzende[n] Neubauten und Heiner Müller«5, deren Bedeutung sich meist nicht beim ersten Hören erfassen lässt. Durch die Komposition fordern die Stücke zum mehrmaligen Anhören auf und fördern so eine schrittweise Erschließung des sprachlichen und nichtsprachlichen Inhalts. Die Bedeutung von Goebbels’ Werk für die Entwicklung des Hörspiels und der Radiokunst wurde bereits in den 80er Jahren erkannt. Bis heute wurde es mit den renommierten nationalen und internationalen Preisen Hörspielpreis der Kriegsblinden (1985 für »Die Befreiung des Prometheus«), Prix Futura (1990 für »Wolokolamsker Chaussee V«), Prix Italia (1986 ebenfalls für »Die Befreiung des Prometheus«, 1992 für »Schliemanns Radio«, 1996 für »Der Horatier – Chiens Romains – Roman Dogs«) und Karl-Sczuka-Preis (1984 für »Verkommenes Ufer«, 1990 für »Wolokolamsker Chaussee I-V«, 1992 für »Schliemanns Radio«) ausgezeichnet. Goebbels hat insgesamt acht Hörstücke, die auf Texten von Heiner Müller basieren, produziert. Dies sind in der Reihenfolge nach ihrer Entstehung: • »Verkommenes Ufer« (HR 1984, Ursendung 4.10.1984, HR, nach »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten«), • »Die Befreiung des Prometheus« (HR/SWF 1985, Ursendung 10.3.1985, HR, nach »Die Befreiung des Prometheus«, Text aus »Zement«), • »MAeLSTROMSÜDPOL« (ECM Records 1987, Erstsendung 13.2.1992, S2 Kultur, nach »MAeLSTROMSÜDPOL«), • »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« (ECM Records 1988, Ursendung 24.8.1989, HR, nach »Der Mann im Fahrstuhl«, Text aus »Der Auftrag«), • »Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten« (Goethe Institut/ICA Boston 1990/SWF 1991, Ursendung 19.12.1991, S2 Kultur, u.a. nach »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten«),
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Krug, Hans-Jürgen: Kleine Geschichte des Hörspiels, Konstanz 2003, S. 89.
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Text als Klangmaterial in Akustischer Kunst •
• •
»Wolokolamsker Chaussee I-V« (SWF/BR/HR 1989/90, Ursendung 18.1.1990, SWF II/SDR II/SRII, nach »Wolokolamsker Chaussee I-V«), »Der Horatier« (SWF/HR 1993/94, Ursendung 12.1.1995, S2 Kultur, u.a. nach »Der Horatier«), »Oder die glücklose Landung« (SWR 2000/01/Théâtre des Amandiers, Paris/TAT Frankfurt am Main 1993, Ursendung 10.2.2000, SWR, u.a. nach »Herakles 2 oder die Hydra«, Text aus »Zement«).
Im Rahmen dieser Dissertation geht die Analyse von Müllers Texten und deren Einordnung in das Gesamtwerk des DDR-Schriftstellers sowie, dem Verständnis Müllers von Texten als Material folgend, deren Korrespondenz mit anderen Texten der Analyse der Hörstücke voraus. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Zusammenhang zwischen Struktur und Semantik des Textes, ein Zusammenhang, den auch Heiner Goebbels betont.6 Zunächst werden die strukturellen Angebote, die die Texte vor allem bezüglich Typographie, Interpunktion und Syntax bieten, hinsichtlich ihrer Funktion untersucht, erst danach erfolgt eine inhaltliche Betrachtung sowie die Verfolgung von intertextuellen Verweisen. Des Weiteren sind im Rahmen der Analyse die in den betrachteten Texten wiederkehrenden Themenkomplexe wie Verrat, Krieg, Individuum und Kollektiv, Deutschlandbild, Mythologie oder Geschichtsverständnis zu untersuchen. Nach Müllers eigener Aussage war »[d]er Aufenthalt in der DDR [...] in erster Linie ein Aufenthalt in einem Material«7. Der geschichtliche und politische Kontext sowie Aspekte von Müllers Biographie, die von Möglichkeiten und Einschränkungen seiner Arbeit durch den Staatsapparat geprägt sind8, tragen unter anderem dazu bei, Bedeutungsebenen zu erschließen und die Ästhetik des Autors zu erfassen. Im nächsten Schritt wird aufgezeigt, wie der westdeutsche Komponist Goebbels den Texten des DDR-Schriftstellers Müller begegnet. Dafür wird ein Analysemodell (vgl. Kapitel 4.1.2) für die vorliegenden Hörstücke beziehungsweise für Akustische Kunst, die auf literarischen Texten basiert, entwickelt. Die Hörstücke werden vor allem hinsichtlich der Sprache als Klangmaterial und deren Zusammenspiel mit anderen akustischen Elementen betrachtet. Die
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Vgl. Goebbels, Heiner: Heiner Müller vertonen?, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 57-
7
58, S. 58. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 87.
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Vgl. ebd.
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Text als Klangmaterial Untersuchung der Transposition von Text in Klang erfolgt unter anderem unter den Gesichtspunkten Textoriginalität, stimmliche Darbietung der Textarchitektur, Zusammenspiel mit Geräuschen und Musik sowie Besonderheiten der Kompositionsästhetik von Goebbels. Den einzelnen Hörstücken liegen kompositorische Konzepte zugrunde, die in ihrer Eigenständigkeit zu betrachten sind. So verbinden sich beispielsweise in »Verkommenes Ufer« Stimmen zufällig ausgewählter Berliner Passanten, die gebeten wurden, Fragmente des Textes von Müller in ein Mikrophon zu sprechen, mit elektronisch verfremdeten Geräuschen und Klängen zu einem Portrait der Stadt, während in »Wolokolamsker Chaussee I-V« die Sprecher Ernst Stötzner und Alexander Kluge mit der ›Heavy-Metal‹-Band Megalomaniax, einem Kammerchor, einem Ausschnitt aus Schostakowitschs 7. Sinfonie und der ›Hip Hop‹-Band We Wear The Crown interagieren und die Geschichte der DDR mit modernen, in diesem Zusammenhang teilweise zunächst befremdlich anmutenden Musikstilen in Verbindung bringen. Durch die Verwendung von ungewöhnlichem Klangmaterial, durch innovative Konzepte und den Bruch mit dem Gewohnten lenkt Heiner Goebbels den Blick zurück auf Müllers Texte und schafft für diese so eine neue Aufmerksamkeit und einen neuen Blickwinkel aus der Distanz. Basierend auf der Analyse des Textes und des Textes als Klangmaterial kann weiteren Fragestellungen nachgegangen werden, beispielsweise der nach einer Vermittlung von Müllers Ästhetik, nach der Bewahrung oder Verschiebung von Bedeutungsebenen sowie nach einer veränderten Rezeption, die aus der Umsetzung in einem anderen Medium resultiert. Wie können Müllers Texte gelesen, wie gesprochen, wie gehört, wie gesehen werden? Einige der genannten Hörstücke von Goebbels wurden auch auf der Bühne aufgeführt, manche sogar vor ihrer Erstsendung im Rundfunk. Dies ist eine Tendenz, die man in der gegenwärtigen Entwicklung des deutschen Hörspiels je mehr vorfindet, je offener seine Form ist. Heiner Goebbels experimentiert auf vielfältige Weise und in verschiedenen Genres mit dem vorhandenen akustischen Material, so dass er »Hörstücke zu Musiktheaterstücken, zu szenischen Konzerten oder Installationen ausweitete und nicht selten auch den umgekehrten Weg einschlug, vom komplexen Bühnenwerk zum Hörspiel«9. Eine Analyse der Aufführungen von Hörstücken beziehungsweise Musiktheaterstücken, wie es aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive notwendig wäre, ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht erforderlich und soll aufgrund der zusätzlichen zu berücksichtigen-
9
Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 21.
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Text als Klangmaterial in Akustischer Kunst den visuellen und theatralischen Mittel nicht Gegenstand dieser Dissertation sein. Einen weiteren interessanten Aspekt der Analyse bietet die Einbeziehung Heiner Müllers als Sprecher und Rezitator sowie Berater und Freund von Heiner Goebbels, so dass ein Austausch zwischen beiden auf persönlicher und künstlerischer Ebene stattfand.10 Ergänzende Aufschlüsse dazu gibt die Betrachtung der MusiktheaterArbeit »Schwarz auf Weiß«, einem Requiem auf Heiner Müller und einer Parabel über das Schreiben, bei der die ›kollektive Stimme‹, Erfahrung, Erinnerung und die Außenwelt das ›Ich‹ des Schriftstellers verschwinden lassen. Eine Art zu Schreiben, die nach Heiner Goebbels’ Auffassung Heiner Müller repräsentierte.11 Übergeordnetes Ziel der Untersuchungen ist es, Wege aufzuzeigen, wie die Verarbeitung von literarischen Texten als akustisches Material analytisch erfasst werden kann. Trotz einer seit den 60er Jahren aktiven Hörspielphilologie muss man feststellen, dass zwar zahlreiche Hörspielgeschichten vorliegen, Vorschläge zur Analyse jedoch rar gesät sind. Breiten Untersuchungen zum ›Hörspiel der Innerlichkeit‹ und zum ›Neuen Hörspiel‹ folgten nur punktuell Publikationen zum gegenwärtigen Hörspiel. Diese sind oft als systematische geschichtliche Überblicke aufgebaut und erschöpfen sich meist in nur wenigen Sätzen zu einzelnen Autoren und ihren Werken, wie es in Hans-Jürgen Krugs »Kleiner Geschichte des Hörspiels« der Fall ist, betrachten wie Heinz Hischenhuber in »Gesellschaftsbilder im deutschsprachigen Hörspiel seit 1968« einen einzelnen Themenkomplex, oder untersuchen empirisch den Produktionsprozeß von Hörspielen, wie Karl Ladler in »Hörspielforschung. Schnittpunkt zwischen Literatur, Medien und Ästhetik«, der den literarischen Aspekt von Texten weitgehend ausblendet und den Text lediglich als Vorlage für das Endprodukt Hörspiel darstellt. Hervorzuheben sind die jüngsten Untersuchungen »Medientext Hörspiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel der Radioarbeiten von Alfred Behrens« von Götz Schmedes und »Erzählströme im Hörspiel. Zur Narratologie der elektroakustischen Kunst« von Elke Huwiler. Schmedes erfasst das Hörspiel als semiotisches System, legt innerhalb dieses Zeichensysteme fest und kategorisiert die Arbeiten von Behrens nach ihrer Entstehungszeit und nach thematischen Gesichtspunkten. Huwiler konzentriert sich, nach einer semiotischen Annäherung an Hörspieladaptationen, im Rahmen einer Untersuchung von narrativen Komponenenten auf Gemeinsamkeiten und
10 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: ebd., S. 52-56. 11 Vgl. Goebbels, Heiner: Schreibfiguren: Schwarz auf Weiß, in: ebd., S. 45-51, S. 49f.
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Text als Klangmaterial Unterschiede in der Handlung, Figurencharakterisierung und Raumgestaltung in ausgewählten Originaltexten und deren radiophonen Umsetzung. Im Ansatz lassen sich, den Vergleich zwischen Literatur und ihrer Umsetzung im Hörspiel betreffend, Gemeinsamkeiten zum vorliegenden Forschungsvorhaben konstatieren, die Analyse des Untersuchungsgegenstandes erfolgt bei Huwiler jedoch punktuell und unter dem Schwerpunkt der Narratologie und nicht einer umfassenden Analyse der Transposition auf struktureller und semantischer Ebene. Weiterführende Erkenntnisse zu ästhetischen Tendenzen im Umgang mit Literatur im gegenwärtigen Hörspiel lassen sich hauptsächlich in veröffentlichten Interviews mit Hörspielautoren und Vertretern der Hörspielabteilungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in Rundfunksendungen über Hörspiele, Reden im Rahmen von Preisverleihungen und Beiträgen im Feuilleton finden. Die Grundlage der Auseinandersetzung mit Müllers Texten in dieser Arbeit ist die 1993 erschienene »Bibliographie Heiner Müller« von Ingo Schmidt und Florian Vaßen. Eine umfassende Dokumentation von Publikationen, die sich mit Heiner Goebbels’ Werk beschäftigen, existiert dagegen bisher nicht. Obwohl einer Vielzahl seiner Arbeiten Müllers Texte zugrunde liegen, werden Goebbels in dem von Lehmann und Primavesi herausgegebenen »Heiner Müller Handbuch« lediglich drei Seiten gewidmet12 und die einzelnen Hörstücke im Kapitel »Hörspielarbeit« jeweils nur kurz angerissen13. Die Hauptgegenstände der vorliegenden Untersuchung, die Hörstücke, konnten bis auf »Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten«, »Der Horatier« und »Oder die glücklose Landung«, die der Südwestrundfunk zur Verfügung stellte, als Tonträger erworben werden. Die erste Sammlung mit Texten von und über Goebbels erschien 2002 unter dem Titel »Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung« und bildet den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Komponisten. Daneben stehen eine Vielzahl an selbstreflexiven Texten und Interviews sowie CDKritiken und Berichte über Aufführungen, die in den Archiven der jeweiligen Zeitungen und Zeitschriften zu finden sind, zur Verfügung. Hilfe bei der Recherche bietet die regelmäßig aktualisierte persönliche Homepage von Heiner Goebbels (http://www.heiner goebbels.com), auf der, neben der Darstellung von Person und Werk, ein Überblick über seine Publikationen und Interviews gegeben wird. Diese Texte von und über Goebbels ergänzen die Betrach-
12 Vgl. Schmitt, Olaf: Heiner Goebbels, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 356-359. 13 Vgl. Schlichting, Hans-Burkhard: Hörspielarbeit, in: ebd., S. 345-350.
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Text als Klangmaterial in Akustischer Kunst tung der Einflüsse auf die Arbeit des Komponisten sowie die detaillierten Analysen der vorliegenden Hörstücke. Die Dissertation unternimmt den Versuch, aus den vorliegenden Aspekten über die Hörstücke, die auf Heiner Müllers Texten basieren, eine umfassende Übersicht aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu schaffen, eine bisher kaum erforschte Facette im Umgang mit Heiner Müllers Werk herauszuarbeiten und einen Beitrag zur Dokumentation der Entwicklung des deutschen Hörspiels als Form oral vermittelter Literatur zu leisten.
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2 HÖRSPIEL, THEATER UND MUSIK – EINFLÜSSE AUF DIE ÄSTHETIK VON HEINER GOEBBELS’ HÖRSTÜCKEN »Meine Hörstückarbeit richtet sich gegen ein geradliniges Textverständnis; richtet sich auf ein Hören, das sich aus vielen Informationen zusammensetzt: aus den Geräuschen, aus Textpartikeln, aus Musik, aus Stimmen, aus dem Eindruck, der sich aus der Summe der sprachlichen und außersprachlichen, musikalischen Elemente ergibt.«1
Diese im Rahmen der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für »Die Befreiung des Prometheus« von Heiner Goebbels gemachte Aussage charakterisiert die Besonderheit seiner Arbeiten. Sie lassen sich meist nicht bei der ersten Rezeption erfassen, entziehen sich klassischen Hörgewohnheiten und erfordern vom Rezipienten sowohl ein unvoreingenommenes Hören als auch das Vermögen, aus der Dichte der einzelnen Informationen durch Assoziationen eine neue Bedeutung entstehen zu lassen. Goebbels’ Hörstücke stechen aus der gegenwärtigen Hörspiellandschaft hervor, vereinen jedoch verschiedene Richtungen und Verfahren aus den Bereichen Hörspiel, Theater und Musik in sich. Beim Versuch, den von Goebbels verwendeten Begriff ›Hörstück‹ zu definieren, müssen eben diese Richtungen und Verfahren, die direkt oder indirekt Einfluss auf Goebbels’ Arbeit ausüben, Berücksichtigung finden.
2.1 Versuch einer Definition des Begriffs Hörstück Der Begriff ›Hörstück‹ hat in Fachkreisen bisher keine feste Definition erfahren. Er wird unter anderem von Künstlern, Hörspielredaktionen sowie Hörbuchverlagen mit wechselnden Konnotationen gebraucht. Welche Bedeutungsspanne dem Begriff innewohnt, zeigt schon ein Vergleich des Gebrauchs durch diverse Hörbuchverlage. Diese bieten als ›Hörstück‹ unter dem Punkt ›Vortragsart‹ sowohl literarische Hörspiele und Krimis (»Der Verdacht«, 2001; »Die Mai1
Goebbels, Heiner/Müller, Heiner: Das mögliche Ende des Schreckens/Etwas Programmatisches zur Gattung: Zwei Reden, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 89-91, S. 91.
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Text als Klangmaterial gret-Box«, 2004; beide erschienen bei Steinbach Sprechende Bücher), Features (»Wo die Elefanten sterben«, Hoffmann und Campe 2001) und von Sprechern vorgetragene Biographien (»Walter Benjamin«, Hoffmann und Campe 2006) als auch Rezitationen mit Musik (»Lucinde. Ein Hörstück«, Audio Pool 2005) und Wort-Musik-Kompositionen (»Amerika«, herzrasen 2005) an. Durch den Mangel an Homogenität im Gebrauch haftet so der Bezeichnung ›Hörstück‹ eine Willkürlichkeit an. Die Hörspielredaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks setzen sich unterdessen jedoch differenzierter mit dem Begriff auseinander. So liegt die Betonung zum Teil auf dem Suffix ›Stück‹, wie beim Kulturradio des Rundfunks Berlin Brandenburg (RBB), das unter ›Hörstück‹ eine kurze Produktion, etwa ein fünfminütiges Hörspiel oder Feature, das in Form von »spannende[n] Dialoge[n], Erzählungen en miniature, Sketche[n], kleine[n] Szenen und Mini-Kunstwerke[n]« 2 auftreten kann, versteht. Zum Teil liegt die Betonung auf der sprachlichen Abgrenzung zum klassischen Hörspiel. Die Redaktion »Hörspiel« des Bayerischen Rundfunks setzt das ›Hörstück‹ zusammen mit ›Avantgarde und Pop‹ den wortdominanten Hörspielgenres ›Klassisches-Literarisches‹, ›Science-Fiction‹ und ›Krimi‹ entgegen 3 . Eine abgegrenzte Bedeutung weist auch der Deutschlandfunk dem Begriff ›Hörstück‹ zu, indem er darunter eine »szenisch gedachte Sprach-Klang-Produktion«4 versteht. »Verkommenes Ufer«, das erste Hörstück von Heiner Goebbels, das von ihm unter dieser Bezeichnung 1984 produziert und als Tonträger veröffentlicht wurde, ist paradigmatisch für seine Arbeitsweise und setzt sich zum einen durch die Unabhängigkeit des Werkes von der Ausstrahlung durch Rundfunkanstalten und zum anderen durch die formale Gleichberechtigung und Verzahnung der Elemente Wort, Geräusch und Musik vom Hörspiel ab, auch wenn es aus diesem hervorgegangen ist 5 . Auch wird mit dem zweiten Wortteil ›Stück‹ eine Annäherung an das Theater und an die Musik forciert, was angesichts der Live-Aufführungen, die durch ihre Aufzeichnung und Ausstrahlung beziehungsweise Veröffentlichung zu Hörstücken wurden, plausibel erscheint. Der Begriff ›Hörstück‹ wird dementsprechend in vorliegender Arbeit als Bezeichnung für Heiner Goebbels’ Werke und somit als eine 2
http://www.kulturradio.de/_/programm/sendung_jsp/key=976100.html
3
vom 01.12.2008. Vgl. http://www.br-online.de/kultur-szene/hoerspiel/hoerbuch/rubrik_ hoerstueck.shtml vom 01.12.2008.
4 5
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/neueplatte/310455/ vom 01.12. 2008. Vgl. Stock, Ulrich: Audiofilm, Soundcollage, Hörstück, Oper …, in: Die Zeit, 11.12.2003.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik Kategorie des gegenwärtigen Hörspiels, in der Sprache, Klang und Musik konsequent als gleichwertige Informationen fungieren, verwendet. Dies geschieht oft unter Einsatz von elektroakustischen Klängen, Einspielern, Raumeffekten und Collagetechnik. Goebbels’ Hörstücke sind in dieser Hinsicht auch als Reflexe und Kommentare auf die Ästhetik des traditionellen wie des ›Neuen Hörspiels‹ zu sehen. Die Bezüge lassen sich im folgenden Abriss über die Geschichte des deutschen Hörspiels aufzeigen.
2.2 Hörspiel Der Begriff ›Hörspiel‹ wurde 1924 von Hans Siebert von Heister, Redakteur der Zeitschrift »Der deutsche Rundfunk«, geprägt und bezeichnet »eigens für den Rundfunk geschriebene Werke«6. In der ersten Phase des Hörspiels in den 20er Jahren, die mit dem Einsatz der Funktechnik für das unterhaltende Medium Radio begann, experimentierten die Autoren mit den technischen Möglichkeiten, wie zum Beispiel in dem akustischen Spiel »Weekend« (1930) von Walter Ruttmann. Bedeutung erlangten in der Anfangsphase experimentelle Produktionen, wie die Bertolt Brechts und Alfred Döblins, sowie literarische Produktionen, wie die Wolfgang Weyrauchs, Hermann Kasacks oder Hermann Kessers. Dabei wurden oft alltagsrelevante Themen aufgegriffen, beispielsweise das Leben in Armut auf der Straße in Kessers »Straßenmann« (BEFU 1930) oder die Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit in Kasacks »Der Ruf« (RRG 1932). Nach der Instrumentalisierung des Hörspiels im Nationalsozialismus – als chorische Fest- und Weihespiele, sowie als Propagandastücke – erregten in der Nachkriegszeit vor allem Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür« (NWDR 1947) und Günter Eichs »Träume« (NWDR 1951) Aufsehen. Borcherts Hörspiel, das Krieg, Gefangenschaft, Heimkehr und Hoffnungslosigkeit thematisiert, erlebte ein erstaunliches Publikumsecho mit erschrockenen, zornigen und dankbaren Reaktionen. Die Ursendung des Hörspiels »Träume«, in dem düstere Visionen von Angst in fünf bedrohlichen Alpträumen dargestellt werden, galt vielen jedoch als die »eigentliche Geburtsstunde des Hörspiels«7 – des traditionellen, literarischen Hörspiels, in dem primär Sprache als akustisches Mittel eingesetzt wird. Viele der damaligen Hörspielautoren waren in erster Linie Literaten, die auch für den Rundfunk schrieben, wie Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch oder Günter Grass. Das literarische Hörspiel der 50er Jahre legt seine Hauptaufmerksamkeit auf den gesprochenen Dialog der Protagoni-
6
Würffel, Stefan Bodo: Das deutsche Hörspiel, Stuttgart 1978, S. 44.
7
Krug, Hans-Jürgen: Kleine Geschichte des Hörspiels, Konstanz 2003, S. 49.
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Text als Klangmaterial sten. So ist das zentrale Element die Sprache, während die akustischen Elemente Geräusch und Musik meist lediglich dazu dienen, das Gesprochene zu verstärken, zu ergänzen oder zu illustrieren. Die bekanntesten Definitionsansätze dieser Art des Hörspiels, auch als ›Hörspiel der Innerlichkeit‹ bekannt, stammen von Heinz Schwitzke, dem langjährigen Leiter der Hörspielabteilung des NWDR, dessen Verständnis des Hörspiels als Wortkunstwerk maßgebend war. Nach Schwitzke ist das Ziel des Hörspiels, die Assoziationskraft des Hörers zu wecken und die Handlung auf seiner ›inneren Bühne‹, einer Art inneren Wirklichkeit in der Hörerphantasie, spielen zu lassen.8 Mit dem Ausbau der ›inneren Bühne‹ lässt das traditionelle Hörspiel den Hörer in das Hörspielgeschehen eintauchen, fördert seine Identifikation mit dem Geschehen und den Handelnden und bietet aufgrund fehlender Reflexion ein sehr hohes Maß an Illusion. Abgelöst wurde diese traditionelle Hörspieltheorie von Friedrich Knilli, der in seiner Untersuchung »Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels« ein Spiel mit den akustischen Elementen und einen stärkeren Einsatz von Geräuschen und Musik – da ihre Bedeutungen nicht so eindeutig wie die der Sprache festgelegt sind – forderte und so einen Umbruch im Hörspielverständnis in Deutschland herbeiführte. Zahlreiche Vertreter des aufkommenden ›Neuen Hörspiels‹ näherten sich vielen von Knillis Vorschlägen an, auch wenn die Sprache in ihren Werken weiterhin ein wichtiger Bestandteil blieb. Den Begriff ›Neues Hörspiel‹ prägte Klaus Schöning, ehemaliger Leiter des von ihm initiierten Studio Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks. Vorbilder fand das ›Neue Hörspiel‹ in »verschütteten Traditionen«9: unter anderem in der experimentellen Kunst der 1920er Jahre, der Lautmalerei Kurt Schwitters’, und der ›konkreten Poesie‹. Vor allem die Technik der Collage und ein neuer Umgang mit Sprache, deren inhaltliche Bedeutung hinter den Klang zurücktrat und welche als akustisches Material fungierte, das sich segmentieren, bearbeiten und neu zusammensetzen ließ, fanden in das ›Neue Hörspiel‹ Einlass. Zur neuen Autorenschaft, die mit den Hörspielelementen experimentierte, zählten unter anderem Franz Mon, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Ferdinand Kriwet, Urs Widmer, Wolf Wondratschek, Peter Handke, Jürgen Becker und Ror Wolf. In der Öffentlichkeit wurde die Wende zum ›Neuen Hörspiel‹ mit der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden an Ernst Jandl und Friederike Mayröcker für das stereophone Hörspiel »Fünf Mann Menschen« (SWF 1968)
8
Vgl. Schwitzke, Heinz: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, Berlin 1963, S. 44.
9
Krug, Hans-Jürgen: Kleine Geschichte des Hörspiels, Konstanz 2003, S. 69.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik deutlich. Darin wird ein Lebenslauf von fünf Männern skizziert, die Sprache wird auf wenige Worte reduziert und es wird mit Stereophonie, Wiederholung und Rhythmus gespielt. Dem Hörer fällt beim ›Neuen Hörspiel‹ eine veränderte Rolle zu. Indem die Sprache und der Sprachgebrauch in Frage gestellt und aus den traditionellen Bindungen herausgelöst werden, wird der Hörer verunsichert, jedoch auch aufgefordert, aus der passiven Hörsituation herauszutreten, wie Paul Pörtner anläßlich der Internationalen Hörspieltagung 1968 feststellt: »Schallspiele setzen beim Hörer eine andere Einstellung voraus als die des rezeptiven, bloß hinhörenden Verhaltens: sie fordern eine Bereitschaft zum Mitvollziehen komplizierter Hörvorgänge. Nur wer sich einläßt auf ein Spiel mit dem Hören, das von den Hörgewohnheit her als Störung abgewehrt wird, kann Schallformen erkennen, die nicht bedeutungslos sind, nicht bloßer Schall, sondern bedeutend in spezifischen lautlichen und rhythmischen Werten. Das Wie des Hörens ist das Was. Die Form ist der Inhalt.«10
Auch Heiner Goebbels fordert Jahre später, in den 80er Jahren, eine aktive Rolle des Hörers bei der Rezeption seiner Hörstücke ein und verwirklicht dies, indem er keine linearen Handlungen präsentiert, sondern Collagen, in denen neben dem Wort Geräusche und Musik als gleichwertige Elemente auftreten und die Struktur des Materials eine ebenso große Rolle spielt wie die Semantik verbaler Äußerungen. Neben der konzeptionellen Ausrichtung haben auch technische Innovationen der letzten Jahrzehnte Goebbels’ Ästhetik, wie das Schaffen anderer Künstler, beeinflusst. In den 70er Jahren war nach der Stereophonie das tragbare Tonbandgerät eine weitere wichtige technische Erfindung, die den Autoren ermöglichte, die Rolle der Produzenten einzunehmen. Mit der Möglichkeit, auf der Straße Stimmen aufzunehmen, konnten aus Original-Tönen ›O-Ton-Hörspiele‹ produziert werden. So nahm Paul Wühr zwölf Stunden Material an persönlichen Aussagen von Münchner Straßenpassanten auf, das er zu einem knapp einstündigen »Preislied« (BR/NDR 1971) montierte: eine überindividuelle Aussage aus Bruchstücken individueller Aussagen. Im ›O-Ton-Hörspiel‹ dient der Hörer dem Autor als Lieferant von authentischem Tonmaterial, aus dessen Fülle er selektiert, welches er schneidet und montiert und somit die Sprache und Meinung von Menschen öffentlich hörbar macht, die im Radio bis dahin nicht zur Sprache kamen. Damit hielt auch der Klang der Alltagssprache, der sich beispielsweise in regionalen Dialekten oder in Zögern, Stottern und grammatikalischen Fehlern äußert, in das Hörspiel Einzug. Das 10 Pörtner, Paul: Schallspielstudien, in: Schöning, Klaus (Hg.): Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, Frankfurt am Main 1982, S. 58-70, S. 70.
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Text als Klangmaterial Kompositionsprinzip der kollektiven Stimme wendet auch Heiner Goebbels in den Hörstücken »Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten« sowie »Verkommenes Ufer« an, indem er Passanten im amerikanischen Boston beziehungsweise in Berlin unvorbereitet Passagen aus dem Text »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten« von Heiner Müller lesen ließ und diese Original-Töne mit dem gesungenen Text »Shadow« des Bostoner Autors Edgar Allan Poe beziehungsweise sphärischen Klängen versetzte und mit deutlich hörbaren Stereo-Effekten arrangierte. Neben der bereits erwähnten Stereophonie wurden zwei weitere Verfahren zur räumlichen Schallübertragung in den 70er Jahren entwickelt, die sich allerdings nicht langfristig durchsetzen konnten. Bei der ›Quadrophonie‹ werden neben den Stereolautsprechern vor dem Hörer zwei weitere Lautsprecher hinter seinem Rücken benötigt. Die vier Übertragungskanäle machen es möglich, seitliche und rückwärtige Schallanteile wiederzugeben und dem Hörer ein weiträumiges Hörerlebnis zu suggerieren. Der optimale Hörplatz liegt beim ›Quadrophonie‹-Verfahren auf dem Kreuzungspunkt der Diagonalen der vier Lautsprecher. Geringste Abweichungen von dieser Position können schon eine Beeinträchtigung des Hörerlebnisses nach sich ziehen, was unter anderem einen Grund für den geringen Erfolg dieser Technik darstellt. Die ›kopfbezogene Stereophonie‹, besser bekannt unter den Namen ›Kunstkopftechnik‹ oder ›Kunstkopf-Stereophonie‹, erfolgt über zwei Übertragungskanäle und hauptsächlich über Kopfhörer. Schallereignisse werden zunächst mit einem Kunstkopf-Mikrophon aufgenommen. Dabei handelt es sich um Kondensator-Mikrophone, die sich hinter den künstlichen Gehörgängen einer Kopfnachbildung befinden und bei der Aufnahme die menschliche Hörwahrnehmung simulieren. 11 Die aufgenommenen Signale werden dann bei der Reproduktion über Kopfhörer direkt an die Ohrmuschel des Hörers wiedergegeben und ermöglichen durch die Nachbildung des natürlichen Richtungshörens ein räumliches Hörerlebnis, bei dem Richtungseindrücke, Nachhallverhältnisse sowie Entfernungseindrücke relativ realitätsnah vermittelt werden können. Stellvertretend für den Umgang der Hörspielautoren mit dieser Wiedergabetechnik sei Walter Adlers Hörspiel »Centropolis« (WDR 1975) genannt, in dem eine demoralisierte und staatlich kontrollierte Gesellschaft der Zukunft entworfen wird, die von einem allmächtigen medialen Apparat manipuliert wird. Mit der Erprobung der Kunstkopftechnik stach Adler bei der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblin-
11 Vgl. Römer, Claus: Schall und Raum. Eine Einführung in die Welt der Akustik, Berlin/Offenbach 1994, S. 158.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik den hervor und wurde für »Centropolis« ausgezeichnet. Diese Technik sollte jedoch nur einen kurzen Höhepunkt in der Hörspielgeschichte erleben. Manche Rundfunkdramaturgen zeigten sich ihr gegenüber skeptisch. Die Abhängigkeit von Kopfhörern und Klangbeeinträchtigungen, die auf die Unterschiede des Kunstkopfs zum individuellen Kopf des Hörers zurückzuführen sind, hatten zur Folge, dass sich dieses Verfahren nicht langfristig durchsetzen konnte. Ein weiterer innovativer Ansatz waren Experimente mit den Verfahren der ›musique concrète‹. Zu diesen Experimenten gehören beispielsweise die von Heiner Goebbels oftmals eingesetzte asynchrone Wiedergabe des Textes durch verschiedene Stimmen, die mehrstimmige Überlagerung von Textbestandteilen oder das Spiel mit Lauten und mit affektiven Sprachäußerungen, wie sie beispielsweise in Ferdinand Kriwets »One Two Two« (WDR/SFB 1969) zu finden sind. Mit Hilfe der Techniken der ›konkreten Musik‹ wird der Klang der Sprache hervorgehoben. Infolgedessen beansprucht die so musikalisierte Sprache die Komposition durch den Autor, so dass ihre schriftliche Fixierung eher Partituren denn Hörspieltexten gleicht. Im Rahmen der 1970 eingerichteten WDR-Reihe »Komponisten als Hörspielmacher« wurde die Möglichkeit aufgezeigt, Komponisten nicht nur als Zulieferer von untermalender Hörspielmusik, sondern als Hörspielautoren und -produzenten zu betrachten, und so eine weitere Facette des deutschen Hörspiels erfasst. Als Beispiele für hörspielschaffende Komponisten seien Luc Ferrari und Mauricio Kagel, der für das Hörspiel »Der Tribun« (WDR 1979) mit dem Hörspielpreis der Kriegblinden ausgezeichnet wurde, genannt. Die wohl bedeutendste technische Neuerung der 90er Jahre für den Rundfunk ist die Digitalisierung, die unter anderem eine bessere Klangqualität ermöglicht. Bei der Digitalisierung werden mittels Analog-Digital-Wandlern analoge in digitale Signale umgewandelt. Hörspielproduzenten tauschten mit dem Einzug der Digitalisierung in die öffentlich-rechtlichen Anstalten die Bandmaschine gegen den Computer, auf dessen Bildschirm der Schall als Welle sichtbar gemacht werden kann. Mit sinkenden Preisen erfüllten sich zudem viele Hörspielautoren den Wunsch nach einem Heimstudio, mit dem sie unabhängig von Rundfunkanstalten als Autor, Regisseur und Techniker in Personalunion Hörspiele produzieren können. Bei digitalisiertem Tonmaterial lassen sich unter anderem die Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe sowie räumliche Eigenschaften wie Echo und Hall getrennt bestimmen und nachbearbeiten. Der Schnitt kann exakter ausgeführt werden und mittels Möglichkeiten der Verfremdung wie Dehnen, Stauchen oder Rückwärtsspielen kann mit dem Material unbegrenzt experimentiert werden. Bei Fehlern oder Nichtgefallen reicht ein Mausklick zur Wiederherstellung des Materials. Mit der Digitalisierung wurde außerdem ein weiteres Verfah-
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Text als Klangmaterial ren der Tonübertragung ermöglicht: die Surround-Technik, die vor allem in der Umsetzung als ›5.1‹ bekannt geworden ist. Das Verfahren etablierte sich zunächst in der Filmindustrie, bis die Technik von der Unterhaltungselektronik für den Heimbedarf übernommen wurde. Die inzwischen serienmäßig mit Surround-Technik ausgestatteten Heimkino-Anlagen verfügen über einen linken, mittigen und rechten Lautsprecher für den vorderen Bereich und zwei Lautsprecher für den hinteren Bereich. Des Weiteren überträgt ein ›Subwoofer‹ oder ›LFE‹ (Low Frequency Effect Channel) TieftonEffekte. Durch die steigende Anzahl der Kanäle und Lautsprecher kommt der Hörer in einen qualitativ immer höheren Hörgenuss in den ›heimischen vier Wänden‹. Die Verteilung der aufgenommenen Rauminformationen auf fünf Lautsprecher ermöglicht eine transparente Vorne-Hinten-Ortung der Schallsignale und verleiht dem Hörereignis mehr Raumtiefe als dies bei den bisherigen Verfahren der Fall war. Zudem befindet sich der Hörer im Zentrum des Hörereignisses, fast unabhängig von seiner Position im Raum. Somit stellt diese Mehrkanaltechnik mit der realitätsnahen Simulation des räumlichen Klangerlebnisses insgesamt eine große Annäherung an die natürliche Hörerfahrung dar. »20000 Meilen unter den Meeren«, das erste deutsche ›5.1-Hörspiel‹, wurde 2003 vom MDR produziert und ist im Handel als Digital Versatile Disc (DVD) erhältlich, die man mittels eines DVD-Players und einer ›5.1‹-Anlage abspielen kann. Die Übertragung von ›5.1-Hörspielen‹ im Rundfunk ist derzeit allerdings noch zu aufwendig, sodass die Übertragung in Stereo zunächst weiterhin den Standard der Wiedergabetechnik von Hörspielen darstellt. Außer Acht darf nicht gelassen werden, dass der technische Befreiungsschlag, der mit der Stereophonie und der Digitalisierung gefeiert wurde, sowohl bei der räumlichen Auffächerung des Klanges, als auch bei den technischen Möglichkeiten der Digitalisierung schnell neue Grenzen und Einschränkungen aufwies. Nach Helmut Heißenbüttels 1968 während der Internationalen Hörspieltagung formuliertem, weiterhin gültigem Prinzip »Alles ist möglich. Alles ist erlaubt«12 wird das Hörspiel gegenwärtig als sehr offene und facettenreiche Form im Zusammenwirken von Autoren, Komponisten und Produzenten weiterentwickelt. Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis’ und Ralph Oehmes O-Ton-Hörspiel »Stille Helden siegen selten« (HR/SA/SFB 1990) lässt zum Beispiel die namentlich nicht genannten Demonstranten, die ›stillen Helden‹ der gewaltlosen Revolution in der DDR und deren Gegner zu Wort kommen, während Michaela Mélian in »Föhrenwald« (BR 2005) In-
12 Heißenbüttel, Helmut: Horoskop des Hörspiels, in: Schöning, Klaus (Hg.): Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, Frankfurt am Main 1982, S. 18-36, S. 36.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik terviews und Erinnerungen von ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsvertriebenen des Lagers Föhrenwald von Schauspielern nachsprechen lässt und bewusst auf Original-Töne verzichtet. Andreas Ammers Werke in Zusammenarbeit mit dem Musiker FM Einheit, sogenannte ›Pop-Hörspiele‹, wie zum Beispiel »Apocalypse Live« (BR 1994), weisen eine enge Verzahnung von Textfragmenten, Original-Tönen, ernster und populärer Musik, sowie Geräuschcollagen auf. In den ›clipartig‹ aufgebauten Arrangements spielt die technische Innovation der Digitalisierung eine große Rolle. Mit den dadurch ermöglichten ›Samples‹, also digital gespeicherten kurzen Ausschnitten einer akustischen Quelle 13 , und ihrer Verwendung beispielsweise in ›Loops‹, also Bandschleifen, bei denen ein Ausschnitt in ständiger Wiederholung abgespielt wird14, finden bis dahin in Popsongs angewandte Verfahren ihren Weg in die Hörspielproduktion. Auch ›Soundscapes‹ (›Klanglandschaften‹) zählen zu Hörspielen der Gegenwart. In diesen werden Orte und Landschaften durch Original-Klänge, Geräusche und Musik dargestellt. Der kanadische Komponist und Klangforscher R. Murray Schafer macht zum Beispiel in seinem ›Soundscape‹ »Winter Diary« (WDR 1997) die kanadische Landschaft Manitoba auditiv erfahrbar. Zusammen mit einem Toningenieur fuhr Schafer durch die Landschaft und passierte unter anderem Kleinstädte, indianische Reservate und Nationalparks. Die Geräusche der Landschaft werden in dem ›Soundscape‹ durchgehend im Wechsel mit Geräuschen aus dem Inneren von Gebäuden montiert und vermitteln beim Hören das Gefühl einer unendlichen Weite und Ruhe, bis hin zur Stille. In den facettenreichen Formen des gegenwärtigen Hörspiels lassen sich auch sprachbetonte Bearbeitungen literarischer Vorlagen finden, wie beispielsweise Matthias Baxmanns Montage von Ausschnitten aus Kafkas »Das Urteil« und »Der Prozess«, aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen des Autors in »Kein Brief gestern, keiner heute« (MDR 2003) oder Elfriede Jelineks Bearbeitung des selbstverfassten fiktiven Monologs von Jacqueline Kennedy in »Jackie« (BR 2003). Neben Hörspielen, die die akustischen Elemente Sprache, Geräusch und Musik gleichwertig einsetzen, existieren gegenwärtig also auch Arbeiten, in denen die Sprache noch immer dominiert. Die punktuelle Darstellung der Neuerungen in der Hörspielentwicklung macht deutlich, wie fließend die Grenzen des Hörspielbegriffs im Laufe seiner Geschichte geworden sind. Einst mit einer festen Dramaturgie und Produktion verbunden, erlangte das Hörspiel
13 Vgl. Hassler, Harald: Musiklexion in vier Bänden. Vierter Band, Stuttgart 2005, S. 148. 14 Dietel, Gerhard: Wörterbuch der Musik, München 2000, S. 175 und S. 28f.
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Text als Klangmaterial immer größere Freiheit und lässt sich nun nicht mehr so deutlich erfassen wie das literarische Hörspiel der 50er Jahre. Die radiophone Kunstform, die gegenwärtig zwar oftmals von Rundfunkredaktionen unter dem Titel ›Hörspiel‹ gesendet wird, sprengt diesen klassischen Begriff jedoch und lässt sich vielmehr mit dem Terminus ›Akustische Kunst‹ und synonym verwendeten Bezeichnungen, wie ›Ars Acustica‹, ›Klangkunst‹, ›Radiokunst‹, ›Audio Art‹ oder ›Sound Art‹ beschreiben. So zieht Götz Naleppa, langjähriger Regisseur und Redakteur von Deutschlandradio Kultur, eine klare Grenze: »Im Hörspiel dienen Musik und Geräusch dem Wort – während in der Klangkunst alle diese Elemente grundsätzlich gleichwertig sind. Für mich als Hörspielregisseur war die Entdeckung der Klangkunst eine Art Befreiung von der Dominanz des Wortes, des Textes, dem alles zu dienen hat, und gleichzeitig von der illustrativen Funktion der Musik und der Geräusche.«15
Die Entwicklung des deutschen Hörspiels läßt sich als eine Entfernung weg von Vorgaben des Theaters und Vorstellungen eines Sprachkunstwerkes, wie dem literarischen Hörspiel, hin zum akustischen Spiel, dem ›Neuen Hörspiel‹ und schließlich zu einer ›offenen Dramaturgie‹ erfassen. Dabei wurde das Hörspiel von ästhetischen Impulsen, rundfunkinternen Gegebenheiten und technischen Innovationen, die sich teils mit geringem, teils mit großem Erfolg durchsetzten, beeinflusst. Die Entwicklung der Stereophonie, die Möglichkeit der Aufnahme von Original-Tönen mit Hilfe tragbarer Tonbandgeräte und Experimente mit den Techniken der ›konkreten Musik‹ gaben dem Hörspiel entscheidende Impulse, die bis in die Gegenwart weiterwirken und unter anderem Ausgangspunkte für Heiner Goebbels’ Hörstückarbeit in den 80er Jahren sind.
2.3 Theater Zu den wichtigsten Einflüssen aus dem Bereich des Theaters auf die Arbeiten von Heiner Goebbels sind vor allem die Werke Bertolt Brechts und Heiner Müllers zu zählen. Vergleichbar mit Brechts ›Epischem Theater‹ haben Heiner Goebbels’ Hörstücke nicht die Identifikation und die Verzauberung – wie im Hörspiel der Inner-
15 Naleppa, Götz: Was ist das…. Die am häufigsten gestellten Fragen zu der Sendung Klangkunst im Deutschlandradio Kultur, in: Hörspielbroschüre des Deutschlandfunks und Deutschlandradio Kultur Oktober bis Dezember 2008, S. 2.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik lichkeit – zum Ziel, sondern Transparenz und Entzauberung16. So wie das ›Epische Theater‹ die Einfühlung seines Zuschauers in Figuren und Handlung zu verhindern versucht, von ihm Aktivität einfordert und ihn zu eigenen Erkenntnissen anreizt17, so präsentieren auch Goebbels’ Hörstücke keine vorgefertigten Interpretationen der komplexen Texte Müllers, sondern Assoziationen und Anstöße in Kombinationen von Sprache, Geräusch und Musik, aus denen heraus der Hörer eigenständig Deutungsmöglichkeiten entwickeln soll. Laut Goebbels gehe es nämlich nicht um »den einen Sinn, auch nicht um eine x-beliebige Sinnaleatorik, sondern um die Summe von Sinneinheiten, um deren Vielfalt, um die tieferliegenden Bedeutungsschichten eines Textes. Um diese freizulegen, darf man aber gerade nicht synthetisieren, sondern muß mit Transparenz die Einzelteile einander gegenüberstellen, sie aufmeißeln und das freilegen, was wir gewohnt sind, intuitiv zusammenzudenken.«18
Folgende drei Aspekte in Goebbels’ Verfahrensweise sind in Tradition zu Brecht erkennbar: der Einsatz des Original-Tons, die Verwendung von Verfremdungseffekten beziehungsweise Brüchen sowie die Sicht auf die Produktion als kollektiven Prozess. In seiner Rede über die Funktion des Rundfunks (1932) fordert Brecht neben der Anwendung epischer Dramatik eine aktive Einbindung des Hörers und somit die Ausweitung des Rundfunks vom Distributions- zum Kommunikationsapparat, was gewährleistet wäre, »wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen«.19 Die Erfindung des tragbaren Tonbandgerätes hat den Hörer als Lieferanten von Original-Tönen möglich gemacht, was Heiner Goebbels unter anderem in der Vertonung von »Verkommenes Ufer« mit spontan lesenden Passanten vor städtischer Geräuschkulisse einsetzt und Wolfgang Sandner schließen lässt: »Goebbels scheint 16 Vgl. Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels. Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 10. 17 Vgl. Brecht, Bertolt: Zu »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«. Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, in: ders.: Werke. Band 24. Schriften 4. Texte zu Stücken, Berlin/Weimar 1991, S. 74-86, S. 78f. und S. 85. 18 Goebbels, Heiner: Gegen das Gesamtkunstwerk: Zur Differenz der Künste, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 135-141, S. 138. 19 Brecht, Bertolt: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks, in: Schöning Klaus (Hg.): Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, Frankfurt am Main 1970, S. 9-14, S. 10.
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Text als Klangmaterial sechzig Jahre später Brechts Aufforderung nachgekommen zu sein und aus subtil verwendeten O-Tönen und Klangspuren ein neues Kunstwerk geschaffen zu haben.«20 Die Unmittelbarkeit der aufgenommenen Original-Töne, die unter anderem durch Räuspern, Nachfragen der Passanten, Versprecher beim Vorlesen und Verkehrsgeräusche aufgezeigt wird, grenzt das Hörstück von der bei der Vertonung literarischer Vorlagen oft üblichen, stark modulierten Rezitation oder Verteilung auf dramaturgisch vorgegebene Rollen ab. Gerade die vorliegende Unmittelbarkeit, die Verfremdung der Vorlage durch unvorbereitete Menschen auf der Straße, schafft Distanz zum Text. Brecht definiert den ›Verfremdungeffekt‹, kurz ›V-Effekt‹, als Gegenstück zur einfühlenden Haltung des Illusionstheaters21, als Mittel zur Schaffung von Distanz zwischen dem Zuschauer und der Bühnenhandlung, das durch den Bruch einen neuen Blickwinkel schafft, wie Frank-Michael Raddatz in seiner Untersuchung zur Bedeutung Brechts im 21. Jahrhundert feststellt: »Erst die Verfremdung des Alltäglichen ermöglicht und erzwingt einen von Verformungen unbelasteten Blick auf das Gewohnte und löst damit das benötigte Staunen aus. Dafür benutzt Brecht einen aus der Technik der Collage und Montage geläufigen Effekt. Das Bekannte gibt ein ihm innewohnendes Anderes preis, zeitigt ihm vorher nicht zugeordnete Aspekte oder streift seine verdinglichte Panzerung ab, wenn dem Herkömmlichen seine gewohnte Kenntlichkeit genommen wird. Diese Dekontextualisierung des Gängigen läßt jenen fremden Blick entstehen, der die Kraft besitzt, sich das aus seiner gewohnten Sphäre verschobene Alltägliche neu im Prozeß des Erkennens anzueignen.«22
Auf diese Weise schafft auch Goebbels Transparenz und Dekuvrierung der Illusion durch Verfremdungseffekte, die die Aufmerksamkeit des Hörers auf das Ungewöhnliche lenken. Neben O-Tönen finden sich in seinen Hörstücken beispielsweise Produktionsaufnahmen, wie Abbruch des Gesangs, Neueinsatz, Gesprächsfetzen zwischen Sprecher und Chor, Räuspern und Husten im dritten Teil der »Wolokolamsker Chaussee I-V«, die in Hörspielen gewöhnlich herausgeschnitten werden und durch diese Unterbrechungen der Re-
20 Vgl. Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 25. 21 Vgl. Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater, in: ders.: Werke. Band 23. Schriften 3. Schriften 1942-1956, Berlin/Frankfurt am Main 1967, S. 65-97, S. 81. 22 Raddatz, Frank-M.: Die Anbindung an das Phantasma der Wissenschaft in: ders. (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 65-122, S. 104.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik zitation dem Hörer die Illusion eines perfekt durchkomponierten Werkes entziehen. Des Weiteren setzt Goebbels im genannten Hörstück in seiner Entstehungszeit in Deutschland noch nicht verbreitete Musikstile wie ›Metal‹ oder ›Hip Hop‹ ein, die in Verbindung mit dem Text zunächst befremdlich wirken und infolgedessen das Interesse des Hörers mit veränderter Sichtweise umso stärker auf den Text und seine möglichen Bedeutungen lenken. In Bezug auf Brecht stellt Goebbels fest: »Wenn man bewußt reflektiert, wo man ist, besitzt das eine größere Wahrheit, als wenn man sich nur als naiver Zuschauer verhält.«23 Ein weiterer Aspekt in Anlehnung an Brecht ist auch Goebbels’ Sicht auf die Produktion seiner Werke als Ergebnis einer gemeinschaftlichen Entwicklung und nicht als Einzelleistung, als Montage von Ideen und Improvisationen und nicht einer im Vorfeld festgelegten Erfindung. Nach Hanns-Thies Lehmann ist dies eine weitere Übereinstimmung mit Brecht: »An diesen Arbeiten besonders interessant ist der Umstand, daß Heiner Goebbels das Komponieren in gewisser Weise – wie Müller oder schon Brecht – als kollektiven Prozeß denkt. Komponieren und Austausch mit den Ausführenden gehören für ihn zusammen.«24 Dabei bezieht sich das Komponieren auf Goebbels’ Arbeitsweise, nämlich das Spiel mit und die Zusammensetzung von akustischem Material, was nach Sandner »der Praxis des mit offenen Ohren Hörens und Spielens«25 folgt. Auch Max Nyffeler stellt Goebbels’ Vorliebe für kollektive Schaffensprozesse heraus, die ein fester Bestandteil seines Arbeitskonzepts sind: »Die Partitur eines neuen Werks liegt bei ihm in der Regel nicht bereits am Anfang der Einstudierungsarbeit vor, sondern sie entsteht erst als deren Resultat, als Summe der während der Einstudierung gemachten kollektiven Erfahrungen. Die Arbeit in der Gruppe ist für Goebbels denn auch enorm wichtig. Komponieren ist für ihn ein ständiger Lernprozeß, und den findet er vor allem in der künstlerischen Zusammenarbeit mit anderen.«26
23 Goebbels, Heiner: Von der Unabhängigkeit der Mittel. Heiner Goebbels über den V-Effekt, das Musiktheater and the game behind the game, in: ebd., S. 123-135, S. 126. 24 Lehmann, Hanns-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 52-56, S. 56. 25 Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ebd., S. 9-44, S. 20. 26 Nyffeler, Max: Der dialektische Sampler: Zur kompositorischen Arbeit von Heiner Goebbels, in: ebd., S. 173-180, S. 177.
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Text als Klangmaterial Dieser kollektive Prozess war beim Schreiben der Stücke und bei Brechts Theaterarbeit unter anderem durch den Einfluss des Theaterapparats bedingt, die Entstehung eines Schauspiels erfordert eine Zusammenarbeit von vielen Personen – unter anderem Schauspieler, Regie, Zuständige für Bühnenbild und Musik.27 Die Erfahrung mit Theaterarbeit im Kollektiv machte Heiner Goebbels Ende der 70er Jahre, als er an Brechts Lehrstück »Die Ausnahme und die Regel« im Bereich der Bühnenmusik mitwirkte. 28 So setzt er die Entwicklung einer Inszenierung beziehungsweise eines Hörstücks mit einem Prozess, an dem alle Mitwirkenden gleichermaßen beteiligt sind, gleich: »Wenn man einem Menschen sehr aufmerksam zuschaut und zuhört, wenn man den Darstellern nicht etwas abverlangt, das man vorher als feste Konzeption im Kopf hat, wenn man sie nicht zu einem Bild zwingt, das ihnen nicht entspricht, sondern ihnen hilft, ihre Fähigkeiten und Persönlichkeiten zu entwickeln – dann kann man mit vielen Menschen auf der Bühne auch in einer wunderbaren Weise arbeiten. Zumindest bei meinen Stücken funktioniert das, weil sie dafür offen sind.«29
Goebbels betont in einem Aufsatz über Brecht dessen Einfluss auf die eigene Theaterarbeit: »Der wichtigste Punkt für mich bei Brecht, der natürlich von all den anderen nicht zu trennen ist, ist seine Forderung nach einer Unabhängigkeit der Mittel. Ich glaube, das skizziert das Theater, was ich mache und wo ich von Brecht zutiefst geprägt bin, am besten.«30 Diese Unabhängigkeit zeichnet sich dabei dadurch aus, dass die Mittel des Theaters alle einen eigenen Wert haben und als autonome Elemente eingesetzt werden.31 Brecht formulierte dieses Konzept von der Trennung der Elemente als Neuerung der Oper in den Anmerkungen zu »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« wie folgt: 27 Vgl. Steinweg, Reiner: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die theaterpädagogische Praxis, Frankfurt am Main 1995, S. 40. 28 Vgl. Goebbels, Heiner: Von der Unabhängigkeit der Mittel. Heiner Goebbels über den V-Effekt, das Musiktheater and the game behind the game, in: Raddatz, Frank-M. (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 123-135, S. 123. 29 Schweeger, Elisabeth: Es gibt keine Hierarchie auf der Bühne. Elisabeth Schweeger im Gespräch mit Heiner Goebbels und André Wilms, Zeitung schauspielfrankfurt, September 2004, zitiert nach: http://www.heinergoeb bels.com/deutsch/interv/inter20.htm vom 01.12.2008. 30 Goebbels, Heiner: Von der Unabhängigkeit der Mittel. Heiner Goebbels über den V-Effekt, das Musiktheater and the game behind the game, in: Raddatz, Frank-M. (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 123-135, S. 135. 31 Ebd., S. 127.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik »Der große Primatkampf zwischen Wort, Musik und Darstellung [...] kann einfach beigelegt werden durch die radikale Trennung der Elemente. Solange ›Gesamtkunstwerk‹ bedeutet, daß das Gesamte ein Aufwaschen ist, solange also Künste ›verschmelzt‹ werden sollen, müssen die einzelnen Elemente alle gleichermaßen degradiert werden, indem jedes nur Stichwortbringer für das andere sein kann.«32
Demzufolge soll in einer ›Epischen Oper‹ an erster Stelle eine Bedeutungsverschiebung der Musik erfolgen, sodass sie nicht nur illustrierend und illusionierend wirkt, sondern vermittelt, Stellung nimmt und neue Verhaltensweisen suggeriert. 33 Abgeleitet davon sieht Goebbels die akustischen Elemente Sprache, Geräusche und Musik als eigenständige Mittel, die nicht jeweils einem anderen Element dienen müssen, sondern für sich stehen. Dies wird vor allem an seinem Einsatz der Musik in den vorliegenden Hörstücken deutlich, da diese nicht den Text illustriert, sondern auch Kontraste setzt und vor allem oftmals über längere Zeitabschnitte ohne Textunterlegung freisteht. Seine Beziehung zu Brecht charakterisiert Goebbels außerdem wie folgt: »Brecht hat mich von mehreren Seiten umzingelt und geprägt. Zum einen sind da seine Stücke und Texte selbst. Zum anderen verdanke ich Hanns Eisler sehr viel, womöglich auch die Tatsache, daß ich zum Komponisten geworden bin. Und drittens über die Arbeit mit Heiner Müller, mit ihm und mit seinen Texten, der Brechts Werk in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weitergeführt hat.«34
Durch die Bearbeitung von Heiner Müllers Texten ist dessen Einfluss auf Heiner Goebbels’ Arbeit naheliegend. Zu den von Goebbels übernommenen Hauptaspekten aus Müllers Werk zählen die Rolle des Zuschauers als Co-Autor, das gleichzeitige Zurücktreten des Autors als autonomer Kunstproduzent, Reduktion und Verdichtung, sowie die Musikalität der Sprache. Nicht nur Brecht, sondern auch dessen Bewunderer Müller forderte eine aktive Rolle des Theaterzuschauers, der mit ungelösten Fragen konfrontiert wird. Brecht prägte Müller in frühen Jahren, mit seinem Werk setzte Müller sich immer wieder intensiv auseinander und versuchte, ihm nachzuei-
32 Brecht, Bertolt: Zu »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«. Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, in: ders.: Werke. Band 24. Schriften 4. Texte zu Stücken, Berlin/Weimar 1991, S. 74-86, S. 79. 33 Vgl. ebd., S. 79f. 34 Goebbels, Heiner: Von der Unabhängigkeit der Mittel. Heiner Goebbels über den V-Effekt, das Musiktheater and the game behind the game, in: Raddatz, Frank-M. (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 123-135, S. 123.
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Text als Klangmaterial fern. 35 In Simhandls Überblick über die Theatergeschichte wird diesbezüglich der Versuch Müllers, ein sozialistisches Gegenwartsdrama zu schaffen, hervorgehoben 36 . Dies belegt auch Müller in seiner Autobiographie, indem er sein Drama »Der Lohndrücker« in unmittelbarem Anschluss an Brecht sieht.37 Die Person Brecht war es auch schließlich, mit der Müller seine positive Einstellung zur jungen DDR begründete: »Brecht war die Legitimation, warum man für die DDR sein konnte. Das war ganz wichtig. Weil Brecht da war, mußte man dableiben. Damit gab es einen Grund, das System grundsätzlich zu akzeptieren.«38 Auch Müller kehrt sich vom Illusionstheater ab und schafft Distanz zum Zuschauer, denn seiner Meinung nach ist der »Irrtum [...] immer, daß man glaubt, man muß die Geschichten dem Publikum nahe bringen und sie ihm verständlich machen. Genau das ist der falsche Ansatz. Man muß sie ganz weit vom Publikum entfernen«39. Er bietet dem Zuschauer seiner Stücke keine Zerstreuung und Aufklärung, sondern fordert eine aktive Rolle des Zuschauers, der gewissermaßen als produktive Kraft die Rolle eines Co-Autors 40 übernehmen soll: »Im Theater geht’s jetzt, für mich jedenfalls, eher darum, die Leute in Vorgänge zu verwickeln, sie also zu beteiligen.« 41 Dabei ist das Mittel der Fragmentarisierung hervorzuheben. Indem Handlungen nicht zwingend linear und äußerst verknappt auf das Wesentliche dargestellt werden, Werkteile selbständig und unverbunden existieren und indem keine Konfliktlösung am Ende der Geschichte präsentiert wird, erfährt der Zuschauer durch offene Fragmente eine Konfrontation mit ungelösten Fragen, mit denen er sich autonom auseinandersetzen muss. Ebendiese Zielsetzung der Eigenständigkeit des Rezipien-
35 Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 63f. 36 Vgl. Simhandl, Peter (Hg.): Theatergeschichte in einem Band, Berlin 1996, S. 276. 37 Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 87. 38 Vgl. ebd. 39 Heiner Müller, warum zünden Sie keine Kaufhäuser an? Interview von Patrik Landolt und Willi Händler, in: Edelmann, Gregor/Ziemer, Renate (Hg.): Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 1990, S. 151-162, S. 155. 40 Raddatz, Frank-M.: Das Theater der Täter, in: ders. (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 9-64, S. 34. 41 Müller, Heiner: Gespräch mit Bernhardt Umbrecht, in: ders.: Rotwelsch, Berlin 1982, S. 107-124, S. 111.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik ten ist auch bei Heiner Goebbels zu finden, wie zu Beginn des Kapitels bereits erläutert. Die Verknappung der Vorgänge auf das Wesentliche sowie die Reduktion der Figuren auf wichtige Wesenszüge machen den Sprachgestus in Brechts Lehrstücken als Stücke, »die für die Darstellenden lehrhaft sind«42, aus und sind ein Charakteristikum von Müllers Texten. Mit diesem Mittel stellt er den Theaterkonventionen, die seines Erachtens den Zuschauer in die Passivität drängen, eine Alternative entgegen: »Es ist zunächst mal eine Polemik gegen eine Konvention, die es bei uns gab und gibt. Daß eine Geschichte einfach einen kanonisierten Ablauf nimmt. [...] Daß also die Wirklichkeit so dargestellt wird, daß zum Schluß alles in Ordnung ist und der ganze Konflikt wird auf der Bühne gelöst, die Fragen werden auf der Bühne beantwortet, statt daß man das Publikum damit konfrontiert. Es wird also dem Publikum die Arbeit abgenommen, dadurch daß man ihm vortäuscht, die Sache hat einen Anfang und ein klares Ende. Und es bleibt nicht offen für Wirkungen.«43
Die Reduktion hin zu Fragmenten zieht eine hohe Verdichtung des Textes nach sich, sowie eine von Müller intendierte Überforderung des Rezipienten. Diese Dramaturgie der ›Überschwemmung‹, die ihn mit einer Gleichzeitigkeit an Themen, Motiven, Handlungen und Bildern überflutet, soll den Rezipienten nach Müller in einen Wahlzwang beziehungsweise Entscheidungszwang bringen: »D.h., sie können vielleicht gar nicht mehr wählen, aber sie müssen schnell entscheiden, was sie sich zuerst aufpacken. Und es geht nicht mehr einfach so, daß man ihnen eine Information gibt und sagt, jetzt gibt es aber auch noch das. Es geht, glaube ich, nur noch mit Überschwemmungen.«44 Diese Wirkung auf den Zuschauer beziehungsweise Leser beschreibt Heinrich Vormweg wie folgt: »Die Phantasie kommt kaum nach, auch nach mehrmaligem Lesen ist das Potential an Bildern nicht verbraucht, bleibt immer noch Unerkanntes; aber der Leser ist zugleich gefangen in einem Bilderraum, dessen Zusammenhang und – sei es widersprüchliche, absurde – Bedeutung sich ihm spontan vermitteln.«45 42 Brecht, Bertolt: Anmerkungen zu den Lehrstücken, in: ders.: Stücke für das Theater am Schiffbauerdamm (1928-1933). Dritter Band, Berlin 1957, S. 276. 43 Müller, Heiner: Gespräch mit Bernhardt Umbrecht, in: ders.: Rotwelsch, Berlin 1982, S. 107-124, S. 116. 44 Müller, Heiner/Laube, Horst: Literatur muß dem Theater Widerstand leisten, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 1986, S. 14-30, S. 21. 45 Vormweg, Heinrich: Sprache – die Heimat der Bilder. Vorschläge zur Annäherung an Heiner Müller, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Heiner Müller (= TEXT+KRITIK 73), München 1982, S. 20-31, S. 21.
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Text als Klangmaterial Ein vollständiges Verstehen des Ganzen scheint bei dieser Vielheit und der damit einhergehenden Vieldeutigkeit nicht möglich und ist nicht gewollt. Jedoch muss nach Genia Schulz der »Leser [...] diese Zumutung akzeptieren, wenn er ins Werk Einlaß finden will«46. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Auseinandersetzung Müllers mit dem ›Théatre de la cruauté‹, dem ›Theater der Grausamkeiten‹, von Antonin Artaud und dessen Wirkung als Störfaktor im konventionellen Theater hinzuweisen, die beispielsweise in Müllers Text »Artaud, die Sprache der Qual«47 deutlich wird. Müllers Konzept nach handelt das Theater »von den Schrecken/Freuden der Verwandlung in der Einheit von Geburt und Tod«48, bietet also einen Ort der Veränderung und der Grenzerfahrung sowie der emotionalen Ansprache des Zuschauers. Die Forderung nach Emotionalisierung lässt sich auch bei Artaud feststellen. Zu seinen weiteren zentralen Forderungen gehört – neben mehr Körperlichkeit und Sinnlichkeit im Theater als »der Zustand / der Ort / die Stelle, / wo die menschliche Anatomie begriffen / und durch diese das Leben geheilt und regiert werden kann«49 – eine Beteiligung des Publikums am theatralen Geschehen. Mit der aus Sprachskepsis herrührenden Rückbesinnung auf Körperlichkeit, das Unterbewusstsein und die spontane Verwendung von Gebärden, unbekannten Objekten und Effekten wie unvorhergesehene Lichtwechsel, seltene Musik oder Knalleffekte soll der Zuschauer emotionalisiert und »in seiner Totalität angesprochen werden«50, seine Sinne sollen stark beansprucht werden. Artaud will seine »Sensibilität [...] zermalmen und hypnotisieren« 51 – zum Teil vergleichbar mit der ›Überschwemmung‹ bei Müller, die jedoch nicht die Zermalmung des Zuschauers zum Ziel hat, »sondern die Freisetzung seiner eigenständigen Produktivität«52,
46 Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 19. 47 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8. Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 188. 48 Müller, Heiner: Ein Brief, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8. Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 174-177, S. 177. 49 Artaud, Antonin: Den Schauspieler verrückt machen, in: ders.: Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater, München 1993, S. 77-81, S. 77. 50 Simhandl, Peter (Hg.): Theatergeschichte in einem Band, Berlin 1996, S. 416. 51 Artaud, Antonin: Schluss mit den Meisterwerken, in: ders.: Das Theater und sein Double, Frankfurt am Main 1979, S. 79-88, S. 88. 52 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 51.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik wie Eke kritisch zur Konstruktion von zu viel Nähe zwischen Müller und Artaud bemerkt.53 Bezogen auf die Arbeit von Heiner Goebbels lässt sich feststellen, dass in vielen seiner Hörstücke der Hörer mit einer Polyphonie von akustischen Eindrücken konfrontiert wird. Hier seien beispielsweise der Beginn von »Wolokolamsker Chaussee« genannt, mit der Stimme des Sprechers, den Kanonenschüssen und dem aggressiven Gesang der ›Metalband‹, oder die »Befreiung des Prometheus«, mit wechselnden elektronischen Klängen und einer Vielzahl an sich überlagernden Stimmen, die sprechen, stöhnen oder singen. Gleichzeitig und in einem hohen Tempo wirken die Elemente Sprache, Geräusch und Musik auf das Ohr ein und lassen eine Art Wahlzwang entstehen, indem der Hörer entscheiden muss, welchem Eindruck er vorrangig seine Aufmerksamkeit schenkt, ob er geweckten Assoziationen nachgeht, die musikalisierten Stücke emotional auf sich wirken lässt oder das Gesagte kognitiv zu erfassen versucht. Die Basis der Hörstücke bilden meist kurze Texte von Müller, wie die beiden Triptychon-Blöcke »Verkommenes Ufer« und »Landschaft mit Argonauten«, »Die Befreiung des Prometheus« oder »Herakles 2 oder die Hydra«, die durch ihre knappe Form eine hohe Verdichtung des Inhalts aufweisen und neue Formen der Auseinandersetzung erfordern. Oft handelt es sich bei diesen Texten um Intermedien, also Zwischenspiele in übergeordneten Stücken. Heiner Goebbels stellt deshalb bei diesen Texten eine Verlangsamung der Rezeptionsgeschwindigkeit fest54, die sich im wiederholten Lesen der Texte äußert: »Das Material verdient es, daß es mit der Lupe gelesen wird. Das heißt auch, daß sie mehr Zeit beanspruchen als in Rede und Widerrede dialogisiert ist. Deswegen habe ich mich wirklich mit einer Seite schon manchmal über Jahre beschäftigt, und deswegen dauert ein Hörspiel eine Stunde, auch wenn ihm nur eine Seite Text zugrunde liegt. Denn genau diesen Vorgang des Lesens und wieder Lesens und wieder neu Lesens versuche ich transparent zu machen.«55
53 Vgl. hierzu die Kritik Ekes an der These von Genia Schulz und Hans-Thies Lehmann, dass am Horizont des Müllerschen Theaters wie in Artauds Theaterkonzept »das Ziel einer geistig-physisch elektrisierenden Durchrüttelung der Phantasie” stehe (Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 51). 54 Vgl. Goebbels, Heiner: Von der Unabhängigkeit der Mittel. Heiner Goebbels über den V-Effekt, das Musiktheater and the game behind the game, in: Raddatz, Frank-M. (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 123-135, S. 132. 55 Ebd.
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Text als Klangmaterial Diese von Produzentenseite intendierte Transparenz durch wiederholte Rezeption wird im Effekt des wiederholten Hörens der Hörstücke deutlich. Dieser wird durch die Musikalisierung der Texte, die Polyphonie verschiedenster akustischer Elemente und die hohe Verdichtung des Inhalts erzeugt, was beim Hörer den Eindruck eines offen gestalteten Musiktracks hinterlässt und ihn zum mehrmaligen Hören anregt. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Hörstücke dem Hörer auf Tonträgern vorliegen, eine Ausstrahlung im Hörfunk entzieht sich dem Vorgang des wiederholten Hörens. Anzumerken ist auch, dass die Rezeptionsverlangsamung auf die Wiederholung des gesamten Stücks oder einzelner Teile, auf Compact Discs bereits als Tracks markiert, und das digitalisierte Vor- und Rückspulen der Wiedergabe bezogen zu verstehen ist, denn das Tempo des Hörstücks ist durch die Produktion festgelegt und kann im Gegensatz zum Lesetempo nicht individuell angepasst werden. Als mögliche Alternative setzt Goebbels sehr oft das Mittel der Wiederholung von Silben, Wörtern, Sätzen oder Absätzen ein, was in den detaillierten Analysen der Hörstücke deutlich wird. Damit veranschaulicht er seine intensive Auseinandersetzung mit dem Text und wirkt zugleich auf die Texterfassung durch den Hörer ein, der Zeit für die Reflexion erhält.56 Eine weitere Verbindung zwischen den Werken von Goebbels und Müller bildet die schwindende Rolle des Autors als autonomer Kunstproduzent. Sowohl Müller als auch weitere DDR-Autoren wie Christoph Hein, Stefan Schütz oder Volker Braun wandten sich mythologischen und historischen Stoffen zu. Dies ist unter anderem in der Unmöglichkeit der direkten Regimekritik ohne schwerwiegende Konsequenzen begründet und ist nicht als Flucht aus der damaligen Gegenwart und Politik, sondern vielmehr als subtiles Hinweisen auf nach wie vor bestehende gesellschaftliche Missstände und Erfahrungen der Menschen in dieser Gesellschaft zu verstehen. So begründet auch Müller seine Hinwendung zur Antike in einem Interview Mitte der 80er Jahre wie folgt: »Heute möchte ich keine griechischen Klassiker mehr aufarbeiten. Aber damals gab es gute Gründe, es zu tun. Man konnte kein Buch über den Stalinismus schreiben, beispielsweise. Man brauchte ein Modell, um bestimmte Fragen stellen zu können.«57 Zwar wurde 1973 auf dem VII. Schriftstellerkongress in Berlin die Rolle der Künstler neu definiert, indem die Partei ein »partnerschaftliches Verhältnis zu den Kulturschaffen56 Goebbels, Heiner: Soll ich von mir reden? Kollektive Copyrights, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 190-198, S. 195. 57 Nach Brecht. Begegnung mit Heiner Müller, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 10. Gespräche 1. 1965-1987, Frankfurt am Main 2008, S. 790-800, S. 798.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik den«58 proklamierte, tatsächlich änderte sich jedoch wenig, sodass geäußerte Staatskritik Strafen bis zur Ausbürgerung nach sich zog. Müllers Konzeption des Theaters als Ort der »Schrecken/ Freuden der Verwandlung«59 entsprechend, zeigen seine Werke mit mythischen Inhalten eine »Geschichte aus der Perspektive des Schreckens«60, in der Grausamkeit, Brutalität und Unbegreifliches im Vordergrund stehen. Zur Theaterdefinition als »Lusthaus und Schreckenskammer der Verwandlung«61 lässt sich ein Rückbezug zu Brecht konstatieren, der in »Kleines Organon für das Theater« die Unterhaltung des Zuschauers »samt den Schrecken seiner unaufhörlichen Verwandlung«62 zum Gegenstand des Theaters erklärt. Mit der Hinwendung zu antiken und mythologischen Stoffen, wie in »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten«, »Die Befreiung des Prometheus«, »Der Horatier« und »Herakles 2 oder die Hydra« erschafft Müller Wirklichkeiten, die nicht direkt auf die Außenwelt des Zuschauers verweisen und meist keine abgeschlossene Handlung präsentieren. Im Zuschauer werden durch die Darstellung eines immer noch geltenden »kollektiven Ausdruck[s] von Erfahrungen« 63 subjektive Assoziationen und Emotionen erzeugt und somit wird seine eigene Kreativität angeregt. Indem der Zuschauer selbst zu einer produktiven Kraft wird, tritt Müller als Autor immer mehr zurück, bis zu seinem Verschwinden hinter dem Text. Er erfüllt nicht mehr die Rolle eines autonomen Schriftstellers, sondern durchwandert Geschichte, Literatur und Erfahrungen als ein kollektiv geschaffenes Material, aus dem er Teile herausgreift und sie neu montiert. Sein eigenes Werk wiederum wird wieder zu einem Material »aus Lauten, Buchstaben, Bedeutungen«64 , einem Angebot für ihn selbst – Müller verwendete eigene Stoffe zu späteren
58 Simhandl, Peter (Hg.): Theatergeschichte in einem Band, Berlin 1996, S. 277. 59 Müller, Heiner: Ein Brief, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8: Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 174-177, S. 177. 60 Simhandl, Peter (Hg.): Theatergeschichte in einem Band, Berlin 1996, S. 287. 61 Müller, Heiner: Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von »Philoktet« am Dramatischen Theater Sofia, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8. Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 259-269, S. 261. 62 Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater, in: ders.: Werke. Band 23. Schriften 3. Schriften 1942-1956, Berlin/Frankfurt am Main 1967, S. 65-97, S. 97. 63 Simhandl, Peter (Hg.): Theatergeschichte in einem Band, Berlin 1996, S. 284. 64 Lehmann, Hanns-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 52-56, S. 54.
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Text als Klangmaterial Zeitpunkten neu65 –, sowie für andere und spätere Kunstschaffende. Heiner Goebbels macht diesen intendierten Rückzug Müllers aus seinem Werk in seinem Aufsatz »Schreibfiguren: SCHWARZ AUF WEISS« und dem nach Müllers Tod konzipierten Hörstück »Schwarz auf Weiss« (1996) anhand der von Müller für das Hörstück »Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten« gelesenen Parabel »Schatten« von Edgar Allan Poe deutlich: »Du, der Lesende, weilst noch unter den Lebendigen; ich, der Schreibende aber, habe längst meinen Weg ins Reich der Schatten genommen. Denn das ist gewiß, seltsame Dinge werden geschehen und geheime Dinge aufgedeckt werden, und viele Jahrhunderte werden vergehen, ehe diese Aufzeichnungen den Menschen vor Augen kommen. Und unter denen, die sie sehen, werden manche Ungläubige sein und manche Zweifler und dennoch einige wenige, denen die Schriftzeichen, die ich hier mit stählernem Griffel grabe, viel zum Sinnen geben sollen.«66
Goebbels, der das Komponieren als kollektiven Prozess sieht, greift die Texte Müllers selbst auf, durchschreitet sie wie eine ›Landschaft‹, »ein Feld aus heterogenen Elementen, Buchstaben, das man [...] durchmißt wie einen Wald«67. Nach Lehmann verfolgt der Komponist die »kompositorische Variante der Intertextualität«68, indem er unterschiedliches Material – Textbausteine, verschiedene Musikstile, Klangräume und akustische Umsetzungsformen – montiert und collagiert. Diese ergeben wiederum eine neue Landschaft. Des Weiteren weist die von Müller verwendete Sprache eine Musikalität auf, die schon durch Syntax, Rhythmus und Zäsuren bestimmte akustische Strukturen vorgibt. Diese Strukturen übernimmt Heiner Goebbels und versucht, in seinen Kompositionen diesen zu folgen: »Bei Heiner Müller war es mir wichtig, mit der gesprochenen Sprache zu arbeiten und aus den Rhythmen dieser Sprache eine musikalische Form zu gewinnen, anstatt seinen Texten irgendeine musikalische Form aufzusetzen.«69 Der Text wird also nicht von
65 Darunter fällt beispielsweise der Text »Verkommenes Ufer-MedeamaterialLandschaft mit Argonauten«, dessen Fragmente zum Teil bei Erscheinen über 30 Jahre alt sind. Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.3. 66 Poe, Edgar Allan: Schatten. Eine Parabel, zitiert nach: Goebbels, Heiner: Schreibfiguren: SCHWARZ AUF WEISS, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 45-51, S. 49. 67 Lehmann, Hanns-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: ebd., S. 52-56, S. 53. 68 Ebd., S. 54. 69 Goebbels, Heiner: Von der Unabhängigkeit der Mittel. Heiner Goebbels über den V-Effekt, das Musiktheater an the game behind the game, in:
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik einer autonomen Komposition überlagert, sondern von Goebbels vielmehr in eine adäquate Form transponiert, in der seine ursprüngliche Architektur erhalten bleibt. Die Hörstücke, die mit Texten von Müller arbeiten, übernehmen deren akustische Qualität und lassen Goebbels Vertonungskonzept »auch als ein Lesen [...], als ein musikalisches Spiel, das auf die literarischen Energien des Textes antwortet«70, erkennen.
2.4 Musik Heiner Goebbels musikalische Anfänge liegen in seiner Mitbegründung und Mitwirkung im Sogenannten Linksradikalen Blasorchester in den Jahren 1976 bis 1981. Dieser Zusammenschluss von etwa 20 Musikern und Laien nutzte die zwischen professionellen Musikern und Amateuren entstehende Spannung und erregte durch Themen und Texte sowie Verfremdungen, »etwa wenn ein verlogener Schlager ins Säurebad des Freejazz getaucht wurde«71, öffentliche Aufmerksamkeit. Infolgedessen misst Sandner dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester eine Bedeutung in der Frankfurter Szene als »Kollektivinstrument in der Auseinandersetzung zwischen alternativer und etablierter politischer wie kultureller Szene«72 zu. Nach der Auflösung der Gruppe 1981 gründete Heiner Goebbels zusammen mit dem Saxophonisten Alfred Harth das Duo Heiner Goebbels/Alfred Harth, das mit dem Ziel der Gesellschaftskritik arbeitete, dies jedoch nicht mehr aus der Zusammensetzung der Gruppe und den damit zusammenhängenden Aspekten entwickelte, sondern aus Formen, die aus der Musik selbst entfaltet wurden. 73 Harth und Goebbels griffen viele Werke von Hanns Eisler auf, dessen im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung der 20er Jahre entstandenes Konzept das einer politisch eingreifenden Musik war, die durch populäre Formen ausgedrückt werden kann. Eisler arbeitete zudem unter anderem ab 1930 mit Bertolt Brecht zusammen, mit dem er proletarische Agitationsmusik und Theaterstücke, wie
Raddatz, Frank-M. (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues episches Theater im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 123-135, S. 128. 70 Lehmann, Hanns-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 52-56, S. 55. 71 Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ebd., S. 9-44, S. 15. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 18.
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Text als Klangmaterial zum Beispiel das Lehrstück »Die Maßnahme«, konzipierte. 74 Das Duo Heiner Goebbels/Alfred Harth interpretierte Eislers Originale im Free Jazz, wie beispielsweise auf der 1977 erschienenen Schallplatte »Hommage/Vier Fäuste für Hanns Eisler«75, wobei die Spannung dieser Interpretation »durch die Gegensätze von freien, beinahe orgiastischen Jazzphrasierungen des Saxophonisten Alfred Harth und den bei aller hämmernden Virtuosität und musikalischen Aggressivität stets kontrolliert wirkenden, aus der Sprache der ›Neuen Musik‹ abgeleiteten Klangstrukturen des Pianisten Heiner Goebbels«76 entstand. Die Voraussetzungen für Goebbels’ musikalisches Schaffen sind vor allem in der ›Neuen Musik‹ begründet – einer Kompositionsrichtung des 20. Jahrhunderts, die sich von Konventionen und Programmmusik abkehrt sowie zum Stilpluralismus und zur Individualisierung neigt. 77 Dies bemerkt neben Sandner auch Nyffeler: »Goebbels’ Verhältnis zur Neuen Musik ist das einer kontinuierlichen, aus wechselnder Distanz heraus praktizierten kritischen Interaktion. Darin ist seine Haltung in manchem derjenigen John Cages vergleichbar.«78 Der amerikanische Komponist Cage ist vor allem für das experimentelle Konzept der Zufallsverfahren, der Aleatorik, bekannt, bei dem die Werke nicht in einem herkömmlichen Notationssystem fixiert werden, aber bei dem im Vorfeld dem Interpreten ein Rahmen und Grenzen für zufallsbedingte Schwankungen gesetzt werden.79 Somit meint der »Begriff aleatorisch [...] nicht vollkommen zufällige oder gar willkürliche Werke. Aleatorik beschreibt eine ganz bestimmte, nicht absichtsvoll gestaltete Erscheinungs-
74 Vgl. Schebera, Jürgen: Hanns Eisler, Mainz 1998, S. 48-108, sowie Der Brecht und ich – Hanns Eisler in Gesprächen und Liedern, Edel records GmbH 2006. 75 Eine weitere Hommage an Hanns Eisler erstellte Goebbels im Eisler-Jubiläumsjahr mit dem Hörstück »Eislermaterial« (SWR 1999) aus Originaldokumenten und eigenen Arrangements. 76 Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 18. 77 Den Terminus ›Neue Musik‹ prägte der Musikjournalist Paul Bekker mit der gleichnamigen Untersuchung der damals gegenwärtigen Musiktendenzen. Vgl. Bekker, Paul: Neue Musik (1919), in: ders: Neue Musik, Berlin 1923, S. 85-118. 78 Nyffeler, Max: Der dialektische Sampler: Zur kompositorischen Arbeit von Heiner Goebbels, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 173-180, S. 175. 79 Oehlschläger, Reinhard: Wandlungen der Avantgarde, in: de la Motte-Haber, Helga (Hg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975-2000, Laaber 2000, S. 23-48, S. 26ff.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik form eines Werkes« 80. Da zu den Möglichkeiten der Zufallskunst folglich die »Austauschbarkeit gewisser Teile einer Komposition, freie Realisation von Partien, die der Komponist nur in andeutender Graphik fixiert hatte«81, gehört und die Entscheidung dem Interpreten des Werkes überlassen wird, wird der Terminus ›Aleatorik‹ »für alle Kompositionen, die dem Interpreten Zufallsoperationen vorschreiben [, verwendet] – und andererseits zum unscharfen Sammelbegriff für jede nichtintentionale oder auch nur nichtsystematische künstlerische Methode der Komposition«82. Auch der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen wendet das Verfahren an, das Musik nicht in die Form determinierter Werke presst, sondern als »Aktion, Betätigung und ständige Neuschöpfung«83 versteht. Des Weiteren beschäftigt er sich mit der ›musique concrète‹, einem Teilbereich der ›Neuen Musik‹, sowie mit neuen Technologien der Klangerzeugung. Die ›musique concrète‹, mit der Gründung des Club d’Essai (1943) als Studio und Forschungsstelle für radiophone Kunst von Pierre Schaeffer und Pierre Henry initiiert84, geht von konkret vorhandenen Klängen und Geräuschen aus, die rhythmisch montiert und somit zur Musik werden, die vorher nicht traditionell notiert wurde. Zu beachten ist dabei, dass die gespeicherten, in der Umwelt aufgefundenen Geräusche, Musikklänge und Sprachlaute nicht unverarbeitet übernommen werden, sondern durch Schnitt, Veränderung der Geschwindigkeit oder Klangschichtung verändert und verfremdet werden. Deren Montage führt zur »Neukonstruktion einer Welt, in der die gleichen Objekte, wie sie in der normalen Umwelt einen Platz haben könnten, nun aber einer anderen besseren Logik gehorchten«85. Dabei spielt, wie auch für die O-Ton-Verwendung im Hörspiel, die Möglichkeit der Aufnahme, Speicherung und Verfügbarkeit von Klängen eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der ›Neuen Musik‹. Auch elektronische Musik zählt zu den Gattungen der ›Neuen Musik‹. Ihre Anfänge reichen unter anderem zu dem Futuristen Luigi Russolo und seiner 1913 im Manifest »L’arte dei rumori« (»Die Kunst der Geräusche«) formulierten Forderung nach Abkehr von den reinen Klängen zugunsten von mittels mechanischer Apparate (der sogenannten ›Intonarumo80 Schulze, Holger: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 17. 81 Vogt, Hans: Neue Musik seit 1945, Stuttgart 1972, S. 32. 82 Schulze, Holger: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 26. 83 Ebd., S. 31. 84 Vgl. Supper, Martin: Elektroakustische Musik und Computermusik, Darmstadt 1997, S. 19. 85 de la Motte-Haber, Helga (Hg.): Klangkunst. Tönende Objekte und klingende Räume, Laaber 1999, S. 40.
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Text als Klangmaterial ri‹) erzeugten »Geräusch-Tönen«86 aus der Alltagswelt. Die elektronische Musik steht zum einen für die ausschließliche Verwendung von Klängen aus »synthetische[r] Tonerzeugung mittels Elektrizität«87, also mit elektronischen Musikinstrumenten oder Hilfsmitteln, deren Speicherung auf Magnettonband und die Wiedergabe über Lautsprecher, sodass die »Kompositionen keiner interpretatorischen Vermittlung bedürfen«88. Zum anderen – in der neueren Verwendung des Terminus – steht sie auch für ›Computermusik‹, die mit Hilfe des Computers bei Errechnung und Generierung unendlich scheinende Variabilität hinsichtlich Tonhöhe, Tondauer und Klangfarbe zulässt.89 Im 1951 in Köln durch Herbert Eimert gegründeten Studio für elektronische Musik des damaligen Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) arbeiteten neben Stockhausen unter anderem auch die Komponisten Györgi Ligeti und Mauricio Kagel. Ligeti ließ sich von den Verfahren der elektronischen Musik inspirieren und übernahm unter anderem die Schnitttechnik und das Clusterverfahren, bei dem sämtliche Töne zugleich erklingen und ein Klangfeld erzeugen. 90 Kagel, der neben Musik auch Kompositionen für das Musiktheater, Hörspiele und Filme entwickelte, wurde zudem als Nachfolger von Stockhausen zum Leiter der Kölner Kurse für Neue Musik ernannt und war Mitbegründer des Ensembles für Neue Musik in Köln. Technische Geräte, wie Verstärker, Mischpult, Synthesizer, Sampler, später auch Computer, ermöglichen Musikern eine neue Art des Komponierens. Mit dem Synthesizer können Töne auf elektrischem Wege erzeugt sowie deren Klangstruktur verändert werden, der Sampler speichert die Klangeinheiten als sogenannte ›Samples‹, also ›Klangschnipsel‹, und kann sie wiedergeben. Seit den 90er Jahren verdrängen entsprechende Computerprogramme immer mehr die dedizierten Geräte, deren Funktionen per Software nachgeahmt und berechnet werden können. Wie bereits erläutert, führen die Möglichkeiten der Digitalisierung zu einem Wandel der Rolle des Künstlers, der mit Maschinen interagiert und sein Werk durch Experimente mit verschiedenen technischen Möglichkeiten und deren nicht ausgeschlossener Rücksetzung entstehen lässt. Der Einfluss der elektronischen Musik ist bis in die Gegenwart sowohl allgemein in der Musik als auch in der Akustischen Kunst weiterhin deutlich spürbar. 86 Russolo, Luigi: Die Kunst der Geräusche, Mainz 2005, S. 7. 87 Vogt, Hans: Neue Musik seit 1945, Stuttgart 1972, S. 35. 88 Eimert, Herbert/Humpert, Hans Ulrich: Das Lexikon der elektronischen Musik, Regensburg 21977, S. 76. 89 Vgl. Supper, Martin: Elektroakustische Musik und Computermusik, Darmstadt 1997, S. 26. 90 Vogt, Hans: Neue Musik seit 1945, Stuttgart 1972, S. 117.
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Hörspiel, Theater und Musik – Einflüsse auf die Ästhetik Heiner Goebbels mischt seit den 80er Jahren herkömmliche Klänge mit elektronischen Verfahren, entdeckt für seine Arbeit den Synthesizer und den Sampler sowie neue Musikstile wie die elektronische Popmusik und ›New Wave‹.91 Laut Sandner erhält Goebbels’ Werk mit dem Einzug der elektronischen Verfahren eine neue Qualität: »Die Musik verliert ihre ›Zweidimensionalität‹, sie wird mit Hilfe von Collagetechniken, Raumklängen und eingespielten Dokumenten sozusagen sichtbar und nähert sich einem Gebiet an [...], was noch ein spezielles Terrain von Goebbels werden soll: dem Hörspiel«92. In seinen Hörstücken verbindet Goebbels oftmals Worte mit natürlich und elektronisch erzeugten Klängen und Geräuschen und stellt seine Arbeitsweise mit Sampler und ›Samples‹ wie folgt dar: »Zum Charakteristikum des Samplers [...] gehört, daß er keine Klänge erzeugen, sondern ohnehin nur vorhandene Signale aufnehmen, speichern und bearbeiten kann: Geräusche, Musik, Worte, was auch immer. Mit ihm ›liest‹ man akustische Materialien auf und gibt sie – in einem anderen Kontext – der akustischen Umwelt wieder. Man erfindet nicht, man findet, man ›sammelt‹ (wie der Name schon sagt).«93
Auch betont er seine Betrachtung dieses Geräts als »ein besonders geeignetes Instrument, um so etwas zu sein wie Erinnerung, wie auch kollektive Erinnerung, kulturelle Erfahrung. Er ist ja kein Instrument, der irgendwie überhaupt etwas erfindet, sondern ein Instrument, das nur vorfindet. Und natürlich hat man, wenn man dieses Instrument spielt, [...] eine Riesenbibliothek von sehr vielen möglichen Materialien.«94
Goebbels sammelt Material in Form von Studioaufnahmen von gesprochenen und gesungenen Texten, Kompositionen aus verschiedensten, zum Teil noch nicht etablierten musikalischen Genres, synthetisch erzeugten Klängen und außerhalb des Studios aufgenommenen O-Tönen. Die Auswahl der gespeicherten Klänge ist jedoch nicht wahllos, sondern hat einen expliziten Bezug zum Projekt, denn »[j]edes Projekt hat sozusagen seine eigene Bibliothek, seine eigene Grammatik, sein Vokabular«95. Die ›Samples‹ werden bear91 Vgl. Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 18. 92 Ebd., S. 19. 93 Goebbels, Heiner: Musik entziffern: Das Sample als Zeichen, in: ebd., S. 181-185, S. 181f. 94 Hörspielwerkstatt »Arbeitsgeräusche«, SWR 2002, 43:50-44:15. 95 Goebbels, Heiner: Musik entziffern: Das Sample als Zeichen, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 181-185, S. 183.
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Text als Klangmaterial beitet, beispielsweise durch Zuschneiden, Verändern der Geschwindigkeit oder das Rückwärtsabspielen, und diese Elemente schließlich montiert. Bei der Montage spielt die Improvisation, das Spiel mit Zufallsverfahren, eine impulsgebende Rolle, die Struktur jedoch legt Goebbels – vergleichbar mit John Cages Verfahren – vorher fest.96 Dem Komponisten geht es bei dem so entstehenden Hörstück – vergleichbar mit den Vertretern der ›Neuen Musik‹ – nicht »um die Erfindung, Originalität, Individualität, sondern um die Perspektive auf das Vorzufindende, auf das Erzählen mit dem Vorgefundenen, in anderen als den bekannten Kontexten«97, also im konkreten Fall den Blick auf Müllers Texte aus der Distanz. Dennoch ist Goebbels Verhältnis zur ›Neuen Musik‹ nicht unkritisch. Seiner Meinung nach ist diese zeitgenössische Musik auf »Differenzierung, Komplexität, Unwiederholbarkeit, Abstraktion und letztlich auf Einschüchterung ausgerichtet«98. Goebbels konstatiert diese Einschüchterung und letztlich auch Bevormundung des Hörers durch den Künstler als Folge einer zu hohen, nicht mehr nachvollziehbaren Verdichtung der Kunst. Goebbels’ Hörstücke weisen zwar durchaus auch eine hohe Verdichtung auf, er distanziert sich jedoch von der Bevormundung und lässt dem Hörer genügend Zeit zur Reflexion: »Ich möchte dem Hörer nicht demonstrieren, daß ich im Besitz einer kompositorischen oder intellektuellen Wahrheit bin, die es widerstandslos zu schlucken gilt. Vielmehr interessiert mich, mit meiner Musik einen Raum zu bilden, der den Hörer anspricht, in dem er sich bewegen kann, in dem er Erfahrungen, Beobachtungen, Schlußfolgerungen machen kann. Das schließt mit ein, daß ich den Hörer in die Gesetze meiner Arbeit einbeziehe, mit Wiederholungen arbeite, ihm Zeit lasse zur Reflexion und zum Luftschöpfen.«99
96 Vgl. ebd., S. 184. 97 Ebd., S. 181. 98 Goebbels, Heiner: Soll ich von mir reden? Kollektive Copyrights, in: ebd., S. 190-198, S. 194. 99 Ebd., S. 195.
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3 HEINER MÜLLER – HEINER GOEBBELS Vor der Analyse der einzelnen Texte und Hörstücke soll das Werk von Heiner Müller mit Blick auf Schwerpunkte und Kontexte, die für das Verständnis notwendig sind, dargestellt werden. Dabei werden der biographische, der historische und der politische Kontext behandelt, das Verständnis von Geschichte herausgestellt und die Position der in den Hörstücken verwendeten Texte im Gesamtwerk Müllers betrachtet. Als Ausgangspunkt für die folgende Methodik der Analyse werden des Weiteren Heiner Goebbels’ Vorgehensweise und sein Umgang mit Müllers Texten skizziert. Grundlage dafür sind ausgewählte selbstreflexive Aufsätze des Komponisten, mit ihm geführte Interviews sowie die gemeinsame Rede von Goebbels und Müller anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für »Die Befreiung des Prometheus«.
3.1 Müllers Werk als Spiegelung eines Aufenthalts in der Geschichte 1929 im sächsischen Eppendorf geboren, lebte Heiner Müller seit deren Gründung durchgängig in der Deutschen Demokratischen Republik, obwohl sich Gelegenheiten boten, dauerhaft auszureisen, sei es mit der Familie zu Beginn der 50er Jahre oder bei zahlreichen Arbeitsreisen. Der Staat DDR und die mit ihm verbundenen Konflikte boten dem Autor jedoch Stoff für sein Schaffen und waren somit auch eine Voraussetzung für sein Schreiben. Dies wird bei seinem Vergleich der DDR mit Material deutlich: »Der Aufenthalt in der DDR war in erster Linie ein Aufenthalt in einem Material. Das ist wie in der Architektur, auch Architektur hat mehr mit Staat zu tun als Malerei, und das Drama hat mehr mit Staat zu tun als andre literarische Gattungen. Da gibt es auch ein bestimmtes Verhältnis zur Macht, auch eine Faszination durch Macht, ein Sich-Reiben an Macht und an Macht teilhaben, auch vielleicht sich der Macht unterwerfen, damit man teilhat.«1
1
Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9, Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 87f.
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Text als Klangmaterial Müller ergreift in Anlehnung an sein Vorbild Brecht Partei für die junge DDR, sieht sie anfangs als eine Art Monarchie, die »für Dramatiker farbiger als eine Demokratie«2 ist, später als Diktatur, die interessanter und für den kreativen Prozess von Wichtigkeit ist, denn »diese Folie der Diktatur war ja interessant für Theatermacher. Die großen Zeiten des Theaters waren schließlich nie die Zeiten der Demokratie«3, und akzeptiert das System. Als ihm 1993 vorgeworfen wird, als »Inoffizieller Mitarbeiter« unter dem Namen »IM Heiner« für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet zu haben, betont er sein Unwissen bezüglich der Führung als »IM« und begründet seine Kontakte zu Funktionären mit der Absicht der Beratung und Einflussnahme im Bereich des Theaters und der Literatur, ohne jedoch Dritten zu schaden. Zudem führte auch die Faszination, die für ihn vom Staat DDR ausging, zu diesen Kontakten, wie er in einem Interview für das Fernsehmagazin »Spiegel-TV« (10.1.1993) als Reaktion auf den Stasi-Vorwurf betont: »Ich habe da überhaupt nie ein moralisches Problem drin gesehen, sehe ich auch heute nicht. Man wußte, man sprach mit Paranoikern, das war ganz klar. Mich hatte natürlich auch interessiert dieses Wahnsystem, mich hat dies auch interessiert als Autor, dieses Material. Wie funktionieren solche Gehirne und solche Apparate? Das, will ich zugeben, war auch eine Neugier.«4
Der Staatsapparat, mit dem sich Müller zunächst identifiziert, mit dem er in seiner Rolle als Schriftsteller aber auch Konflikte austragen muss, die unter anderem zu künstlerischen Einschränkungen und im Zusammenhang mit dem Theaterstück »Die Umsiedlerin« zum Verfassen einer Selbstkritik sowie zum Ausschluss aus dem Schriftstellerverband führen, zerbricht 1989. Schon das Stück »Wolokolamsker Chaussee I-V«, das während des Umbruchs in der Sowjetunion zwischen 1984 und 1987 entsteht, ist ein »Nachruf, auf die Sowjetunion, auf die DDR«5. Als das fertige Manuskript bei der zuständigen Behörde weder eine Genehmigung noch ein Verbot, nicht einmal einen Kommentar bewirkt, erkennt Müller bereits: »Es
2 3
Ebd. Waren Sie privilegiert, Heiner Müller? Ein Gespräch mit Robert Weichunger für »Die Presse«, 16./17.06.1990, in: Edelmann, Gregor/Ziemer, Renate
4
(Hg.): Gesammelte Irrtümer 3. Texte und Gespräche, Frankfurt am Main 1994, S. 83-91, S. 85. Hier zitiert nach: Müller, Heiner: Ich war und bin ein Stück DDR-Geschichte,
5
in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8. Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 435-437, S. 435. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 274.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels ist zu Ende. Wenn sie nicht mehr verbieten können, ist es aus.«6 Mit dem Niedergang der DDR werden Müller das Material und die Reibung an diesem entzogen, wie er in seiner Autobiographie zum Ausdruck bringt: »Plötzlich fehlt ein Gegner, fehlt die Macht, und im Vakuum wird man sich selbst zum Gegner.«7
3.1.1 BIOGRAPHISCHER, HISTORISCHER UND POLITISCHER KONTEXT Nach Jan-Christoph Hauschild ist Heiner Müllers Werk ohne Kenntnis von dessen Biographie kaum nachzuvollziehen. 8 Diese Feststellung in der Einleitung zu seiner Monographie über Müller ist im Hinblick auf die hohe Verdichtung der Stoffe in Müllers Texten, die Montage von Bruchstücken, oft mit starkem Bezug zu tatsächlich Erlebtem und Erfahrenem, sowie die Darstellung historischer Ereignisse aus einem subjektiven Blickwinkel zweifellos gerechtfertigt. So geht auch Frank-Michael Raddatz in seiner Untersuchung zur Geschichtsphilosophie Müllers von der Grundannahme aus, dass »die die Subjektivität des Dramatikers Heiner Müller prägenden Momente zum verbindlichen Bezugspunkt der literarischen Produktivität werden«9. Raddatz stellt die Erfahrung von Gewalt, den Verrat sowie den Selbstmord von Müllers Frau Inge als die drei biographischen Momente dar, welche »den drei großen Themenkomplexen der Müllerschen Stücke ab 1970 zugrunde«10 liegen. Eine der prägendsten Erfahrungen seines Lebens ist für Müller in jedem Fall der Verrat, der in seinem Werk, beispielsweise in »Der Auftrag« oder »Medeamaterial«, ein zentrales Thema darstellt. Sowohl in der Autobiographie »Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen« als auch in Interviews und Gesprächen erzählt der Schriftsteller außerdem detailliert von der Brutalität staatlicher Gewalt bei der Verhaftung seines Vaters, Mitglied der verbotenen und Widerstand leistenden Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), durch die Sturmabteilung (SA) 1933. Diese konnte Müller beobachten, stellte sich dann aber schlafend: »Ich sah durchs Schlüsselloch, daß sie meinen Vater schlugen. [...] Ich habe mich wieder ins Bett gelegt und die Augen zugemacht. Dann standen sie in der Tür. Ich sah blinzelnd nur den Schatten der beiden etwas kräftigeren SA-
6 7
Ebd., S. 275. Ebd., S. 276.
8 9
Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 10. Raddatz, Frank-Michael: Dämonen unterm Roten Stern. Zu Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers, Stuttgart 1991, S. 1.
10 Ebd., S. 8.
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Text als Klangmaterial Männer, dazwischen klein den Schatten meines Vaters, und habe mich schlafend gestellt, auch als mein Vater meinen Namen rief.«11
Den Blick durch das Schlüsselloch sieht Müller als Theatersituation12, die Verhaftung als »die erste Szene [s]eines Theaters«13, das Vorgeben des Schlafes als Verrat am Vater14. Als dieser nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager 1935/36 die Unterstützung des schulischen Aufsatzwettbewerbes »Die Straßen des Führers« zunächst ablehnt, dann aber seinem Sohn hilft und den Satz »Es ist gut, daß der Führer die Autobahnen baut, dann bekommt vielleicht auch mein Vater wieder Arbeit, der so lange feiern mußte«15, diktiert, löst dies bei Müller einen weiteren »Verratsschock«16 aus. Mit der Aufgabe seiner eigentlichen Überzeugung gegenüber den Nationalsozialisten verursacht der Vater einen Riss in der Vorstellung Müllers von der Familie als Festung gegen diese feindliche Außenwelt. Eine weitere wichtige Komponente in Müllers Leben, die sein Werk bedingt, ist die bewusste Entscheidung für das Leben in der DDR. Zu Beginn der 50er Jahre gehen die Eltern mit dem Bruder nach Westdeutschland, während Müller nach Ostberlin zieht. Dort führt er zwischen 1951 und 1954 »[o]hne festen Wohnsitz und festes Einkommen [...] eine halb asoziale, nomadische Existenz«17. Im Lektorat des Aufbau Verlags findet er eine Anstellung als Schreiber von ›Klappentexten‹, schreibt ab 1953 regelmäßig Literaturkritiken und Berichte für die Wochenzeitung des Kulturbunds »Sonntag«, in der auch seine ersten literarischen Arbeiten abgedruckt werden, und tritt dem Deutschen Schriftstellerverband (DSV) bei.18 Obwohl sich Müller mit der neuen Ordnung identifizieren kann, ist sein Verhältnis zur Partei eher reserviert. Er tritt zunächst in die SPD ein, die 1946 mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei
11 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 13. 12 Was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Ein Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek über VERKOMMENES UFER, den Voyeurismus und die Aufführungspraxis in beiden deutschen Staaten, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 130-141, S. 132. 13 Müller, Heiner: Mauern. Gespräch mit Sylvère Lotringer, in: ders.: Rotwelsch, Berlin 1982, S. 49-86, S. 68. 14 Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 17. 15 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 17. 16 Ebd. 17 Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 40. 18 Vgl. ebd., S. 39.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels Deutschlands (SED) zwangsvereinigt wird, in seinem politischen Engagement und der Funktion als Literaturobmann ist er jedoch nachlässig19 und wird in den späten 50er Jahren wegen mangelnder Parteiverbundenheit und Unauffindbarkeit als Mitglied ausgeschlossen20. Die Distanz zur Partei schreibt Müller einem Grund zu, den er wie folgt näher beschreibt: »Wahrscheinlich das Schreiben, ein Bereich von Freiheit und Blindheit gleichzeitig, völlig unberührt von allem Politischen, von allem, was draußen vorging«21. Seine Berührungspunkte mit der Partei beschränken sich meist auf die bereits genannten Reibungen mit dem System. Schon beim »Sonntag« gerät er in einen Konflikt, als er glaubt, im Interesse der Redaktion zu handeln und in einem Artikel die DDR-Kulturpolitik kritisiert, wovon sich die Redaktion in einem Gegenartikel distanziert: »Ich war in einen politischen Kontext geraten, den ich nicht kannte. Ich schrieb über Liberalität, und Leute, die mehr Liberalität in der DDR durchsetzen wollten, kritisieren mich, um ihre Vorbereitungen weiter betreiben zu können. Ich wußte nichts davon.«22 Weitere Konflikte mit staatlichen Stellen entstehen beispielsweise, als Müller neben einer erfolgreichen Auftragsarbeit für die Partei, einem sogenannten ›Produktionsstück‹, einer Form der DDRTheaterliteratur in den Jahren 1949 bis 1961, die von Stoffen aus »den neuen Produktionsverhältnissen in Stadt und Land, wobei das Thema ›sozialistisches Landleben‹ eindeutig favorisiert ist«23, geprägt wird, ein weiteres Stück zur Aufführung bringen will. Neben »Der Lohndrücker« (1956) will Müller auch den bereits wegen harter Schreibweise verbotenen Text »Die Korrektur« durchsetzen und muss ihn dann schließlich umschreiben, ohne jedoch dadurch eine Aufhebung des Verbotes zu erreichen.24 Wie willkürlich solche Verbote verhängt wurden, zeigt Müllers Darstellung der weiteren Vorgänge um die Aufführung von »Lohndrücker/Korrektur«: »Die Aufführung wurde von der Bezirksleitung verboten. Dann hat das Zentralkomitee das Verbot der Bezirksleitung aufgehoben, und es durfte gespielt werden. Plötzlich war es dann ein großes Werk des sozialistischen Realismus. [...] Das hing mit irgendwelchen ökonomisch-politischen Machtkämpfen zusam-
19 Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 50. 20 Ebd., S. 94. 21 Ebd., S. 50. 22 Ebd., S. 80. 23 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996, S. 152. 24 Vgl. ebd., S. 113f.
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Text als Klangmaterial men, die ich nicht durchschaut habe. Die wurden ja oft in der Kultur ausgetragen.«25
Das Stück wird sogar mit dem Heinrich-Mann-Preis prämiert. Nach der Premiere erhält Müller einen Vertrag als Dramaturg am MaximGorki-Theater. In dieser Zeit entsteht auch das nächste große Stück Müllers, »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« (1961), das erstmalig keine Auftragsarbeit war und einen Skandal auslöste. Das Stück über die Entwicklung der Landwirtschaft in der DDR zeigt den Widerspruch zwischen »kommunistischer Utopie und realsozialistischem Alltag« 26 . Der Zuständige der Kulturabteilung erkennt darin jedoch konterrevolutionäre, antikommunistische und antihumanistische Absichten27, die gegen die Festigung der Partei gerichtet sind, was nach der Probeaufführung am 30. September 1961 schließlich zur Absetzung des Stückes, Schließung der Bühne, Beschlagnahmung des Manuskripts sowie zur Verhängung von 32 Parteistrafen, zu Verhören und Forderungen nach Selbstkritik der Beteiligten führt. Seine eigene Selbstkritik sieht Müller als Material, deren öffentlichen Vortrag im Club der Kulturschaffenden als eine »große Szene«28. Die Selbstkritik stellt »Die Umsiedlerin« als ein Stück dar, das »Schwierigkeiten [...] falsch bewertet, nicht als historisch charakterisiert, nicht deutlich als überwindbar darstellt, das deprimiert statt aktiv macht«29. Die nicht entschuldbare, aufgeführte Fassung wertet sie als unfertig und mangelhaft sowie als einen »Schaden für die Partei«30. Da die Selbstkritik als unzureichend eingestuft wird, wird Müller aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, was mit einem Publikationsverbot gleichzusetzen ist.31 Während dieser Isolation sorgen Müller und die mit ihm seit 1955 verheiratete Schriftstellerin Inge mit Hörspielen für den Berliner Rundfunk für ihren Lebensunterhalt, bis Müller sich zwei Jahre später mit opportunistischen Beiträgen in der Zeitschrift »Forum«, dem »Organ des Zentralrats der FDJ«, und folgenden Auftragsarbeiten rehabilitieren kann und wieder in den Literaturbetrieb aufgenommen wird. Der nächste Zusammenstoß mit der Partei folgt auf das 11. Plenum des Zentralkommitees im Dezember 1965, das laut
25 Ebd., S. 117. 26 Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 67. 27 Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9, Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 133. 28 Ebd., S. 139. 29 Müller, Heiner: Selbstkritik Heiner Müllers, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8. Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 150-152, S. 151. 30 Ebd., S. 152. 31 Vgl. Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 67f.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels Hauschild einen »Höhepunkt der gewaltsamen Disziplinierung der Künste und Intellektuellen durch die Partei«32 darstellt. Kritik wird an »schädlichen Tendenzen in Filmen, Fernsehsendungen, Theaterstücken und literarischen Arbeiten«33 geübt. Angeprangert werden Autoren, die Skeptizismus verbreiten und Widersprüche des Sozialismus aufzeigen34, darunter Müller, Peter Hacks, Stefan Heym und vor allem Wolf Biermann, der bereits 1965 Auftritts- und Veröffentlichungsverbot erhält. Als Biermann am 16. November 1976 schließlich während einer Konzertreise in die Bundesrepublik die Staatsbürgerschaft entzogen wird, begehren seine Freunde und Kollegen auf. Müller ist einer der zwölf Verfasser und Unterzeichner eines offenen Briefes an die Staatsführung, in dem gegen die Ausbürgerung protestiert und um ein Überdenken der Maßnahme gebeten wird.35 Der Brief zieht – da er einer westlichen Nachrichtenagentur übergeben und von dieser veröffentlicht wird – Repressionen in Form von Publikationsverboten, Parteistrafen, Verhören und Verhaftungen nach sich. 36 Müller wird als »Feind« von der Staatssicherheit überwacht, bis er vom zuständigen Oberleutnant Holm, der die Einschätzung als »feindlich-negatives Element« als nicht zutreffend ansieht, zum sogenannten »IM-Vorlauf« (IMV) deklariert und somit vor einem Ermittlungsverfahren bewahrt wird. 37 Nach der Übergabe seiner Akte an Holms Kollegen Wilhelm Girod ergibt sich die, Müller nach eigener Aussage unbewusste, Einstufung als »IM Heiner«, der sich vierteljährlich mit Girod trifft und mit der Absicht der Einflussnahme Gespräche über Kulturpolitik führt.38
32 Ebd., S. 74. 33 Weber, Hermann: Geschichte der DDR, Erfstadt 2004, S. 335. 34 Vgl. Mieth, Matias: Die Masken des Erinnerns. Zur Ästhetisierung von Geschichte und Vorgeschichte der DDR bei Heiner Müller, Frankfurt am Main 1994, S. 31. 35 Vgl. Biermann-Resolution, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9, Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 327. 36 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996, S. 255. 37 Vgl. Schreier, Andreas/Daniljuk, Malte: Das Müller-Phantom, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9, Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 384-389, S. 386. 38 Vgl. Assheuer, Thomas/Müller, Heiner: Es gibt ein Menschenrecht auf Feigheit. Ein Gespräch mit dem Dramatiker Heiner Müller über seine Kontakte mit der Staatssicherheit, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9, Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 390-407, S. 395f.
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Text als Klangmaterial Werkbezogene Konflikte mit der Partei entstehen für Müller meist aus seinem ambivalenten Verhältnis zu einem Staat, dessen Chancen und Ideen er unterstützt, auf dessen Unzulänglichkeiten in der Realität er gleichzeitig jedoch den Blick lenkt, wie Schulz konstatiert: »Müllers Kunst über den Kommunismus zeigt kein mit dem Schlamm der realen Geschichte beworfenes Ideal einer befreiten Gesellschaft, sondern ist der Griff in den Schlamm nach diesem Ideal Kommunismus – und die offene, zeigende Hand mit der Geste: Das ist er, sehen wir ihn wie er ist. Wir haben nichts besseres.«39
Müllers Blick auf die Geschichte ist nach Schulz subjektiv und eigensinnig, er ist fasziniert von der dunklen Seite des Geschichtsprozesses. Ihr begegnet er, indem er das »Böse, Grausame, Unerlöste, [...] Triebhafte, [...] Unbegriffene«40 betont. Dabei stellt er die Strukturen von geschichtlichen und politischen Abläufen an archaischen Modellen dar und zeigt in seinen Mythenbearbeitungen die Spannung zwischen dem Mythos und dem historischen Fortschritt auf41, was für sein Geschichtsverständnis grundlegend wird. Gegenüber dem Mitte der 80er Jahre beginnenden Umbruch in der Sowjetunion durch Michail Gorbatschow – mit den Schlagworten ›Glasnost‹ (Öffentlichkeit) und ›Perestroika‹ (Umbau) – zeigt sich Müller optimistisch. Er besitzt noch die »Illusion von der Reformierbarkeit des Systems«42, das sich mit einer zerrütteten Wirtschaft aber bereits in einem unübersehbar maroden Zustand befindet.43 Aufgrund der Abwehrhaltung der SED gegenüber den Ideen Gorbatschows verschärft sich die Situation in der DDR jedoch weiter, die Flüchtlingszahlen steigen und 1989 finden schließlich Massendemonstrationen für einen Systemwechsel statt. Die von Egon Krenz als Nachfolger Erich Honeckers versprochene ›Wende‹ stellt die Bevölkerung nicht mehr zufrieden, »der Druck der Massen und zunehmend auch von der eigenen Parteibasis ließen der Taktik von Krenz keine Chance«44, sodass die Grenze zur Bundesrepublik am 9. November 1989 überraschend geöffnet wird und in derselben Nacht auch die Mauer fällt. Das Ende der DDR und die deutschdeutsche Wiedervereinigung stellen für Müller nach Hauschild das Ende des Materials dar:
39 Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 5. 40 Ebd., S. 8. 41 Vgl. ebd., S. 9. 42 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 273. 43 Vgl. Weber, Hermann: Geschichte der DDR, Erfstadt 2004, S. 442ff. 44 Ebd., S. 480.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels »Sein Lebensthema waren die Folgen der versäumten und der Terror der vollzogenen Revolutionen, die vermeintliche Übergangsgesellschaft zwischen dem zähen System der kapitalistischen Ausbeutung und Entfremdung und einem neuen, besseren Weltzustand, waren die Phasen von Niedergang, Revolution und Wiederaufbau. Dazu brauchte er die Ost-West-Konfrontation und die Existenz zweier deutscher Staaten. Angesichts des Zerfalls dieser untergründig noch von Hitler und Stalin geprägten Welt meint Müller kein Zeitstück mehr schreiben zu können, das auf Widerspruch und Bewegung angelegt ist.«45
Müller selbst äußert sich 1990 zu den Entwicklungen: »Jetzt kann die Literatur auch bei uns autonom werden, sie muß nicht mehr dokumentieren. Jetzt kann die nationale Vergangenheit aufgearbeitet werden, nicht dokumentarisch, sondern mit, wenn man so will, mythologischer Genauigkeit.« 46 Diese Aufarbeitung und Beschäftigung mit der Geschichte der DDR vor und nach dem politischen Umbruch gründet auf einem spezifischen Geschichtsverständnis Müllers.
3.1.2 GESCHICHTSVERSTÄNDNIS UND ÄSTHETISIERUNG DER GESCHICHTE »Ich bin von Geschichte geprägt, bin mit Geschichte aufgewachsen, das ist mein Hauptinteresse, und ich kann meine Biographie nicht erzählen unabhängig von der deutschen Geschichte der letzten 50 Jahre. Dieser Hintergrund der deutschen Geschichte war immer der Hintergrund meiner Biographie und deswegen ist das das Hauptinteresse.«47
Übereinstimmend mit dieser Aussage Müllers ist sein Werk nach Löschner als »Symbiose von objektiver Geschichte und subjektiver Erlebniswelt« zu sehen. Wie bereits erwähnt, sieht er seine eigenen Erfahrungen, das Leben in der DDR, sowie die allgemeine Geschichte als Material, das er in seinen Texten verarbeitet und verflechtet. Deutlich wird dies unter anderem in seinen Äußerungen zu bedeutsamen historischen Ereignissen in der DDR. So erscheint die Beschreibung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, bei dem die Demokratie und freie Wahlen fordernden Demonstranten die ohnmächtige Parteiführung zur Niederschlagung der Unruhen mit Hilfe des Einsatzes sowjetischer Panzer und mittels Massenverhaftungen ver45 Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 131. 46 Müller, Heiner: Dem Terrorismus die Utopie entreißen. Alternative DDR, in: ders.: Zur Lage der Nation, Berlin 1990, S. 9-24, S. 23. 47 Heiner Müller im Gespräch mit Mauro Ponzi am 26.6.1986 in Hamburg. Veröffentlicht in italienischer Sprache unter dem Titel: »L'arte dell' impossibile«, in: L'Unita vom 22.08.1986, S. 11. Im Deutschen unveröffentlicht; zitiert nach: Löschner, Sascha: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 2002, S. 146f.
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Text als Klangmaterial anlassten48, in seiner Autobiographie als eine Art Szenenfolge, die Müller unbeteiligt und aus der Distanz sieht: »Den 17. Juni habe ich nur als Beobachter erlebt. [...] Es war einfach interessant, ein Schauspiel. Ich hatte so etwas vorher noch nie gesehen. Wie eine Menschenmenge auf Panzer reagiert, wie sie sich dann zerstreut. Dieser 17. Juni kam für mich überraschend.«49 Der 17. Juni oder auch die Niederwälzung des ›Prager Frühlings‹ und damit des von Alexander Dubcek propagierten, reformkommunistischen Kurses »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« mit Militärgewalt am 21. August 1968 sind für Müller historisches Material und werden beispielsweise in dem Stück »Wolokolamsker Chaussee« verarbeitet. In diesem werden unter anderem der Sieg über den Nationalsozialismus, die Entwicklung des Sozialismus in der Sowjetunion und die Niederschlagung der Konterrevolutionen in Berlin und Prag thematisiert und in kausale Zusammenhänge gestellt. Im Gespräch mit Gregor Edelmann über das Stück bemerkt Müller: »Natürlich sind diese Texte WOLOKOLAMSKER provoziert durch eine aktuelle Situation, und ich bin daran interessiert, dazu etwas zu sagen. Möglichst darauf Einfluß zu nehmen, soweit das mit Theaterstücken geht.«50 Müllers zentrales Thema ist dabei die Erneuerung durch eine radikale Trennung vom Alten, also »[w]ie der Prozeß des Neuen seine eigenen Träger ruiniert«51. Bei der Darstellung geht es ihm nicht um Einzelfälle, »nicht um individuelle Schicksale und schon gar nicht darum, seine Figuren zum Sinnbild eines abstrakten Begriffs zu machen. Er will die Wirkungsweise geschichtlicher Mechanismen auf den Menschen darstellen und ihre Ergebnisse beschreiben«52. Müller formuliert sein Verständnis vom Theater neben der Definition als »Lusthaus und Schreckenskammer der Verwandlung«53 als »eine Art [...] Laboratorium der sozialen Phantasie«, als
48 Vgl. Weber, Hermann: Geschichte der DDR, Erfstadt 2004, S. 219ff. 49 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 103f. 50 Müller, Heiner/Edelmann, Gregor: Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten. Ein Gespräch mit Gregor Edelmann über BILDBESCHREIBUNG, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE und die Wiederaufnahme des Lehrstückgedankens, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 182-194, S. 187. 51 Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 9. 52 Wittstock, Uwe: Die schnellen Wirkungen sind nicht die neuen. Ein Porträt des Dramatikers Heiner Müller, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Heiner Müller (= TEXT+KRITIK 73), München 1982, S. 10-19, S. 18. 53 Müller, Heiner: Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von »Philoktet« am Dramatischen Theater Sofia, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8. Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 259-269, S. 261.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels »ein Organ der demokratischen Selbstgestaltung«54, des kollektiven Erinnerns und der Besinnung auf das historische Erbe. Dementsprechend definiert Norbert Otto Eke Müllers neuere Texte als »Sprechen über ein Vergangenes (Geschichte) im Sinne einer Erinnerungsarbeit« 55 . Des Weiteren schärfe die Darstellung der Geschichte das Bewusstsein für Kontinuitäten, um das Neue gegen Wiederholungszwänge durchzusetzen 56 . Dies impliziert, dass eine Bewältigung von Konflikten, eine Veränderung der geschichtlich vorgegebenen und Gewalt beinhaltenden Strukturen möglich ist. Bezogen auf die DDR bedeutet dies die Durchsetzung einer neuen sozialistischen Geschichte, die alte Fehler überwindet. In seinen »Sechs Punkten zur Oper« weist Müller auf den Anachronismus, also eine beabsichtigte Unstimmigkeit in der zeitlichen Gestaltung, wie die Überlagerung von Geschehen und Personen aus unterschiedlichen Zeiten sowie die Darstellung im Zeitraffer als essentielle Strukturelemente zur Beschreibung von Geschichte, hin.57 Diese wendet er beispielsweise in seinem letzten Drama »Germania 3 Gespenster am Toten Mann« an, indem er »verschiedene Zeitebenen mischt und [...] die Zeitachse bedeutungslos wird«58. Müllers Blick auf die Geschichte ist, wie erwähnt, subjektiv geprägt. Ausgangspunkte sind oft eigene traumatische Erfahrungen. Diese Subjektivität im Hinblick auf die Darstellung der DDR ist der Hauptgrund, der bei der deutsch-demokratischen Staatspartei zur Einstufung der Texte als konterrevolutionär führt. Nach Raddatz sind Müllers Texte gerade deshalb als Ausdruck einer kollektiven Erfahrung zu lesen, denn im »Trauma schlägt Geschichte in Subjektivität um und konstituiert sie zugleich«59. Auch Löschner konstatiert, dass sich Müller durch seinen »Umgang mit eigenem traumatischen Material [...] der Realität und der Geschichte mit dem Blick dessen, der Tabuisiertes oder Verdrängtes wahrzunehmen vermag«60, nähert.
54 Dialog der Theaterleute mit Philosophen, Politikern und Naturwissenschaftlern, in: Hecht, Werner (Hg.): Brecht-Dialog 1968. Politik auf dem Theater. Dokumentation 9. bis 16. Februar 1968, München 1969, S. 207-236, S. 217. 55 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 67. 56 Vgl. ebd., S. 68. 57 Vgl. Müller, Heiner: Sechs Punkte zur Oper, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8. Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 161-163, S. 162. 58 Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 135. 59 Raddatz, Frank-Michael: Dämonen unterm Roten Stern, Zu Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers, Stuttgart 1991, S. 37. 60 Löschner, Sascha: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 2002, S. 27.
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Text als Klangmaterial Einen wichtigen Aspekt in Müllers Geschichtsverständnis stellt auch das von Walter Benjamin übernommene Bild des ›Engels der Geschichte‹ dar, das einen momentgebundenen Wahrheitsbegriff festsetzt und zur »Gallionsfigur der Geschichtsphilosophie Benjamins«61 wird. An das Bild »Angelus Novus« von Paul Klee angelehnt, charakterisiert Benjamin diese Erscheinung wie folgt: »Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«62
Der Engel erscheint als Getriebener, der vom menschlichen Fortschritt in die Zukunft gedrängt wird. Sein Blick ist auf die Vergangenheit gerichtet, ohne dass er eingreifen kann. Sein Stillstand entsteht durch die aufgezwungene äußere Bewegung. 63 Bei Müller wendet sich dieser Engel der Zukunft zu und das Motiv wird zum »Modell einer versteinerten Hoffnung, die die Annahme eines möglichen Ausbruchs aus dem Kontinuum der Geschichte jedoch bejaht und in sich trägt«64. Dies wird in Müllers Gedicht »Der Glücklose Engel« (1958) deutlich, in dem der Engel »wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem«65 ruht, um sodann mit »erneute[m] Rauschen mächtiger Flügelschläge«66 und dem Aufbrechen der Steine einen möglichen neuen Flug anzukündigen. Somit ist nach Hörnigk »Müllers Engel [...] aufgehoben im historischen Prozeß und wird sich aus eigener Kraft befreien müssen, um weiter in
61 Raddatz, Frank-Michael: Dämonen unterm Roten Stern, Zu Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers, Stuttgart 1991, S. 174. 62 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. IX. These, in: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Walter Benjamin. Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I-2, Frankfurt am Main 1991, S. 691704, S. 697f. 63 Hörnigk, Frank: »Texte, die auf Geschichte warten...«. Zum Geschichtsbegriff bei Heiner Müller, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Material, Göttingen 1989, S. 123-137, S. 125. 64 Löschner, Sascha: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 2002, S. 53. 65 Müller, Heiner: Der Glücklose Engel, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 1. Die Gedichte, Frankfurt am Main 1998, S. 53. 66 Ebd.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels den Raum der Geschichte eintreten zu können«67. Ebenso ist in »Ich bin der Engel der Verzweiflung« (1979), einem aus Müllers »Auftrag« ausgekoppelten Text, noch Hoffnung auf Veränderung in der Zukunft spürbar; der Engel kündigt an: »Mein Flug ist der Aufstand«68. Mit der Abkehr von der Vergangenheit und dem Aufstand können Bewegung und ein Neuanfang entstehen, »kann das Kontinuum gesprengt werden. Geschichte kann beginnen. Ihr Ort heißt jetzt Afrika, Asien, Lateinamerika, die dritte Welt.«69 Die Utopie einer Veränderung wird aus der DDR an Alternativplätze verlegt, an denen eine Revolution noch möglich erscheint. Nach der ›Wende‹ greift Müller das Bild in dem Gedicht »Glückloser Engel 2« (1991) wieder auf. Dem Text haftet jedoch die Erkenntnis an, dass der erhoffte Ausbruch nicht stattgefunden hat. Die Hoffnung ist verloren gegangen, denn der Engel »hat kein Gesicht mehr als Deines das ich nicht kenne«70. Vergleichbare Bedeutung hat der Vers »Kein Engel sprengt mit Flügeln deinen Raum«71 aus dem nach 1989 geschriebenen Gedicht »Selbstkritik 2 Zerbrochner Schlüssel«, der den Abschied von der Utopie besiegelt. Müllers Blick auf die Geschichte erfolgt auch beim Fall der Mauer, ähnlich wie beim vorhergehenden Erleben von historischen Ereignissen, aus der Distanz: »Ich mußte [...] am Tag danach nach New York. Vorher ging man als Privilegierter immer Richtung Diensteingang mit dem Paß, und jetzt plötzlich waren das Tausende. Es war fast unmöglich, durch diese Menge rechtzeitig zum Flughafen zu kommen. Das war mein erstes Hauptproblem. Der Abbau der Privilegien (lacht).«72
Er betont das Privileg des Reisens als Voraussetzung für sein kreatives Schaffen, da der Blick auf die DDR aus der Distanz das
67 Hörnigk, Frank: »Texte, die auf Geschichte warten... «. Zum Geschichtsbegriff bei Heiner Müller, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Material, Göttingen 1989, S. 123-137, S. 127. 68 Müller, Heiner: Ich bin der Engel der Verzweiflung, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 1. Die Gedichte, Frankfurt am Main 1998, S. 212. 69 Hörnigk, Frank: »Texte, die auf Geschichte warten... «. Zum Geschichtsbegriff bei Heiner Müller, in: ders. (Hg.): Heiner Müller. Material, Göttingen 1989, S. 123-137, S. 131. 70 Müller, Heiner: Glückloser Engel 2, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 1. Die Gedichte, Frankfurt am Main 1998, S. 236. 71 Müller, Heiner: Selbstkritik 2 Zerbrochner Schlüssel, in: ebd., S. 235. 72 Eine Tragödie der Dummheit. Ein Gespräch mit René Ammann für »Freitag«, 16.11.1990, in: Edelmann, Gregor/Ziemer, Renate (Hg.): Gesammelte Irrtümer 3. Texte und Gespräche, Frankfurt am Main 1994, S. 109-120, S. 109.
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Text als Klangmaterial Schreiben erst ermöglichte.73 Die Grenzöffnung und eine mögliche Vereinigung sieht er skeptisch: »Die schnelle Vereinigung würde ja bewirken, daß die DDR verschwindet in einer anderen Struktur, und da fürchte ich einfach, daß da eher ein amerikanisches Europa auf uns wartet. Die Chance wäre gewesen, hier – das ist natürlich verpaßt worden – in der Verlangsamung von Prozessen, wie das Wachstum und die ökologische Vernichtung, Qualität zu finden. Jetzt ist aber die letzte Bremse weg. «74
In einem Gespräch mit »Der Spiegel« bezeichnet er das bereits wiedervereinigte Deutschland als »Einheitssoße« und übt Kritik an den aus seiner Sicht zu schnellen Vorgängen: »Mein Traum wäre gewesen, daß man sich Zeit läßt für diese Vereinigung und sie allmählich angeht.«75 Der Fall der Berliner Mauer und die Zusammenführung beider deutscher Staaten entziehen Müller nach Löschner das Material, nämlich die sozialistische Geschichte und die damit verbundenen Konflikte, und führen zu »einer Schreibblockade, die er mit den meisten ostdeutschen Autoren teilt«76. Diese Blockade ist bei vielen unter anderem auf die notwendige Einstellung auf neue Verhältnisse im Literaturbetrieb, die freie Marktwirtschaft und die daraus teilweise entstehenden finanziellen Nöte sowie auf die Infragestellung des bisher durch die SED zugeschriebenen Selbstverständnisses der Autoren als »Erzieher der nachhinkenden Volksmassen auf dem Weg zum Endziel Sozialismus« 77 beziehungsweise als »kritisches Gewissen der ›sozialistischen Nation‹«78 zurückzuführen. Müller jedoch, der in seiner letzten Lebensdekade als Präsident der Berliner Akademie der Künste und Leiter des Berliner Ensembles verstärkt der außerliterarischen Arbeit nachgeht, versichert in Interviews in den 90er Jahren, dass er die Konflikte durch die in Ost und West geteilte Welt für sein Schreiben nicht mehr benötigt:
73 Vgl. Jetzt sind wir nicht mehr glaubwürdig. Ein Gespräch mit Jeanne Ophuls für »Die Weltwoche«, 18.01.1990, in: ebd., S. 76-82, S. 77. 74 Ebd., S. 80. 75 Jetzt ist da eine Einheitssoße. Ein Gespräch mit Hellmuth Karasek, Matthias Matussek und Ulrich Schwarz für »Der Spiegel«, 31/1990, in: ebd., S. 94108, S. 101. 76 Löschner, Sascha: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 2002, S. 189. 77 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996, S. 456. 78 Ebd.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels »Aber diese Reibung brauche ich inzwischen nicht mehr. Ich kann mich selber motivieren und bin nicht mehr abhängig davon, daß jemand etwas gegen mich hält. Jetzt geht es einfach darum, in der Zeit, die mir noch bleibt, das zu schreiben, was ich schon lange schreiben will. Damit habe ich genug zu tun. Und das ist unabhängig von politischen Systemen und gesellschaftlichen Strukturen.«79
Im Gespräch mit Alexander Weigel wird ebenfalls deutlich, dass Müller das Weiterschreiben beabsichtigt: »In meinem Kopf arbeiten fünf Stücke. Ich weiß nicht, wie lange das mein Kopf noch aushält. Das erste Stück, das ich schreiben will, wird ein Stück über den Zweiten Weltkrieg in Rußland sein, das den Zeitraum von Stalingrad bis zum Fall der Mauer umfaßt.«80 Dieses tatsächlich letzte Werk »Germania 3 Gespenster am Toten Mann«, ein Stück über Stalingrad, in dem auch die deutsche Wiedervereinigung Beachtung findet, vollendet Müller 1995. Die Aufführung des Stückes, auf die er hinarbeitete, erlebte er nicht mehr. Dass der Untergang der DDR tatsächlich das Ende seines Schreibens bedeutet hätte, wie es Hauschild formulierte, kann so nicht verifiziert werden. Im Schlussteil seiner Autobiographie sagt Müller über das Verschwinden der DDR: »Es ist ein Privileg für einen Autor, in einem Leben drei Staaten untergehen zu sehn. Die Weimarer Republik, den faschistischen Staat und die DDR. Den Untergang der Bundesrepublik Deutschland werde ich wohl nicht mehr erleben.«81
3.1.3 POSITION DER HÖRSTÜCKTEXTE IM GESAMTWERK Die von Heiner Goebbels in seinen Hörstücken verwendeten Texte Müllers sind alle im Zeitraum von Ende der 60er bis Ende der 80er Jahre erschienen. Es handelt sich meist um kurze, strukturell geschlossene Texte, die zum Teil jedoch Inhalt übergeordneter Dramen sind. So sind »Die Befreiung des Prometheus« und »Herakles 2 oder die Hydra« in »Zement« (1972) und »Der Mann im Fahrstuhl« in »Der Auftrag« (1979) als Prosatexte, sogenannte Intermedien, enthalten. Die Texte »Der Horatier« (1968), »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten« (1982), »MAeLSTROM-
79 Ich bin kein Held, das ist nicht mein Job. Ein Gespräch mit Rüdiger Schaper und C. Bernd Sucher für »Süddeutsche Zeitung«, 14./15.09.1991, in: Edelmann, Gregor/Ziemer, Renate (Hg.): Gesammelte Irrtümer 3. Texte und Gespräche, Frankfurt am Main 1994, S. 129-136, S. 133. 80 Was wird aus dem größeren Deutschland? Ein Gespräch mit Alexander Weigel für »Sinn und Form«, 4/1991, in: ebd., S. 123-128, S. 127. 81 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 283.
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Text als Klangmaterial SÜDPOL« (1987) und »Wolokolamsker Chaussee I-V« (1984-1987) wurden als selbständige Werke publiziert und aufgeführt. Eine eindeutige Zuordnung der Texte zu festen Gattungsbegriffen ist jedoch problematisch, da beispielsweise »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten« durch seine Kürze und zumeist das Fehlen von verteilten Rollen und Dialogen auch der Lyrik, und nicht unbedingt dem Drama, zugeordnet werden könnte. Dass Müller selbst kein Interesse an einer Einordnung in statische Gattungsbegriffe hat, zeigt seine Antwort auf die Frage, ob es sich beim genannten Werk um ein autobiographisches Gedicht handle: »Das kann man so sagen.« 82 So konstatiert auch Frank Hörnigk als Herausgeber der Werke Müllers in seiner Editorischen Notiz, dass sich die Texte »in ihrer formästhetischen Vielfalt und Struktur den Konventionen möglicher Zuordnung nach den Kanonregeln tradierter literarischer Gattungen [widersetzen]. [...] Müller schrieb jenseits der Ordnungen – sie interessierten ihn zunehmend nicht mehr.«83 Ebenso lässt sich das Werk Müllers nicht mit einem Periodisierungsmodell erfassen. Zwar sind die in den Hörstücken verwendeten Texte überwiegend in der Spätphase von Müllers Schaffen erschienen, als Fragmente existierten sie zum Teil jedoch viel früher. Wolfgang Schivelbusch konstatiert beispielsweise drei Phasen der Werkgeschichte: die realistische Gestaltung der Konflikte in der Übergangsgesellschaft in den Produktionsstücken der 50er Jahre, die Bearbeitungen antiker Stoffe in den 60er Jahren und die Thematisierung der deutschen Krise ab den 70er Jahren. An dieser zeitlichen Einteilung kritisiert Wolfgang Emmerich jedoch, dass Müller beispielsweise bereits in den 50er Jahren vom aus Deutschland kommenden Terror fasziniert war, und belegt dies mit den Werken »Schlacht« (1951) und »Germania Tod in Berlin« (1956) sowie damit, dass auch die Beschäftigung mit antiken Stoffen bereits vor den 60er Jahren stattfand, wie das Gedicht »Philoktet« von 1950 zeigt. 84 Auch Norbert Otto Eke zeigt Schwächen des Periodisierungsmodells unter Verweis auf Stücke auf, die Charakteristika verschiedener Phasen in sich vereinigen, weswegen er statt von Werk82 Was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Ein Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek über VERKOMMENES UFER, den Voyeurismus und die Aufführungspraxis in beiden deutschen Staaten, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 130-141, S. 130. 83 Hörnigk, Frank: Editorische Notiz, in: ders. (Hg.): Heiner Müller. Werke 2. Die Prosa, Frankfurt am Main 1999, S. 196. 84 Emmerich, Wolfgang: Der vernünftige, der schreckliche Mythos. Heiner Müllers Umgang mit der griechischen Mythologie, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Material, Göttingen 1989, S. 138-156, S. 141.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels phasen lieber von Werkschichten spricht.85 Zudem entstanden Müllers Texte diskontinuierlich, wie der Autor selbst im Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek über »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten« deutlich macht: »Mein neues Stück ist das nur bedingt; es ist auch ein Teil Resteverwertung. Der Text, der jetzt vorliegt und in Bochum gespielt wird, ist zu sehr verschiedenen Zeiten entstanden. Viele meiner Stücke sind so zusammengesetzt. Zum Beispiel der erste Teil, VERKOMMENES UFER, ist bis auf ein paar Zeilen 30 Jahre alt. Der Mittelteil, das eigentliche Medea-Stück, ist zur Hälfte vielleicht auch fünfzehn Jahre alt. Wirklich neu ist nur der letzte Teil LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN.«86
Gegen Versuche der Periodisierung wendet sich Müller explizit: »Ich weiß nicht, ob man bei der Bewertung von Stücken chronologisch vorgehen kann, denn meistens sind es doch Sachen, die auf sehr alten Entwürfen oder Plänen beruhen. Ich weiß jetzt schon – soweit die Zeit ausreicht – die Themen der nächsten acht Stücke, die ich schreiben will, an denen ich zum Teil schon seit 20 Jahren schreibe. Nur kommt man nicht immer so schnell nach, wie es einem einfällt. Man muß, glaube ich, abkommen von der Vorstellung, daß es eine Kontinuität gibt und eine Entwicklung, eine wirkliche Entwicklung. Es ist vielleicht eine Entwicklung der Mittel, der Techniken. Ich glaube aber nicht so sehr an Entwicklung eines literarischen Werkes.«87
In einem Interview mit Eva Brenner wird er sogar noch deutlicher, als er ihr auf die Frage nach der Entwicklung seines Werkes antwortet: »Diese Idee der Periodisierung ist kompletter Unfug.«88 Daher fordert Sascha Löschner folgerichtig, Müllers Texte im Zusammenhang mit allen anderen Texten zu sehen: »Die unermüdliche Arbeit Müllers, die eignen Texte zu überschreiben, anders zu datieren und in verschiedensten Zusammenhängen zu zitieren, durchbrach
85 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 15. 86 Was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Ein Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek über VERKOMMENES UFER, den Voyeurismus und die Aufführungspraxis in beiden deutschen Staaten, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 130-141, S. 130. 87 Ich muß mich verändern, statt mich zu interpretieren. Auskünfte des Autors Heiner Müller, in: Edelmann, Gregor/Ziemer, Renate (Hg.): Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 1990, S. 2225, S. 22. 88 Ich weiß nicht, was Avantgarde ist. Gespräch mit Eva Brenner, in: ebd., S. 94-104, S. 96.
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Text als Klangmaterial noch jedes Festschreibungsbemühen beflissener Interpreten. Es gilt, die Texte als Ganzes offen, als Material in Bewegung zu halten. Nur so entfalten sie ihr wirkliches Potential, ihre unruhestiftende Aura. Über Gattungsgrenzen hinweg werden Bilder nach ihrer jeweils aktuellen Gültigkeit und Relevanz befragt.«89
Die Offenheit der Texte wird unter anderem durch die Einlassung der Intermedien in die Theatertexte deutlich. Sie tauchen vordergründig als geschlossene, selbständige Prosatexte auf, da sie sich aus dem Kontext der übergeordneten Werke lösen lassen, sie erfüllen jedoch auch bestimmte Funktionen in diesen, die gegen die zunächst suggerierte lose Verbindung sprechen. Bettina Gruber beschreibt den Einsatz der Intermedien wie folgt: »Sie bilden eine eigene Bedeutungsebene im Text, die mit der Handlung korreliert, aber keineswegs eine Paraphrase darstellt. Sie unterbrechen die Handlung [...] oder sind den Szenen nachgestellt. In jedem Fall scheint ihre Funktion in einer Interpretation einzelner Situationen der Handlung zu bestehen. Ihre konkreten Aufgaben im Textzusammenhang sind jedoch unterschiedlich.«90
Zu den unterschiedlichen Funktionen zählt Gruber die Entindividualisierung der Figuren des übergeordneten Werkes, die gleichzeitige Kollektivierung, da beispielsweise die mythischen Figuren der Intermedien in »Zement« als Subjekte eines Kollektivs auftreten, die Parallelisierung der Handlung des Intermediums mit der Szene des übergeordneten Werkes sowie die Lenkung des Fokusses auf bestimmte Handlungsmomente.91 Müller selbst weist den Intermedien gleichzeitig auch eine wichtige Rolle für den Schreibvorgang zu, was in der Schilderung des Schreibprozesses des Prosatextes »Herakles 2 oder die Hydra« in »Zement« deutlich wird: »Ich erinnere mich, es gab für mich beim Schreiben einen längeren Stop vor diesem HYDRA-Text innerhalb des Stückes. Zwei Wochen lang wußte ich nicht weiter. Der HYDRA-Text war der Wirbel, den ich brauchte, um weiterzukommen. [...] Der Hydra-Text war der Versuch, sich an den eignen Haaren aus dem Sumpf zu ziehn, geschrieben nach einer Flasche Wodka, fast bewußtlos.«92
Abgesehen von »Der Mann im Fahrstuhl« ist den als Hörstücktexte verwendeten Intermedien »Die Befreiung des Prometheus« und »Herakles 2 oder die Hydra« die Verwendung mythologischer Stoffe gemeinsam. Mythologische beziehungsweise antike Stoffe finden sich 89 Löschner, Sascha: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 2002, S. 53. 90 Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 92. 91 Vgl. ebd., S. 96 und S. 111. 92 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 192.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels auch in den Texten »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten«, in »Der Horatier« und teilweise in »Wolokolamsker Chaussee I-V«. Wolfgang Emmerich schreibt Müllers Beschäftigung mit antiken Mythen sowie der Faszination am in ihnen dargestellten »immanenten Terror«93 eine über die reine Camouflage der in der DDR herrschenden Missstände hinausgehende Funktion zu: »Indem Müller Modelle barbarischen Verhaltens ungeschminkt auf die Bühne bringt, erweist er sich nicht als Liebhaber blutrünstiger Geschmacklosigkeiten (wie oft unterstellt), sondern schlicht als Realist, insofern um uns herum permanent barbarische Vorgänge ablaufen, die wir nur allzu gern verdrängen.«94
Des Weiteren bieten nach Gruber antike Modelle eine gewisse Direktheit und Transparenz, mit der gesellschaftliche Gesetze aufgezeigt werden, und repräsentieren die Wiederholung dieser Modelle in der Geschichte und der Gegenwart, sie sprengen sogar den rein historischen Bezug und zeigen die »Relevanz über einen bestimmten historischen Bezugspunkt hinaus«95 auf. Müller beschreibt in seiner Autobiographie diese Modellhaftigkeit wie folgt: »Mythen sind geronnene kollektive Erfahrungen, zum andern ein Esperanto, eine internationale Sprache, die nicht mehr nur in Europa verstanden wird.«96 Die Figuren der in Mythen verwurzelten Intermedien erfahren keine Gleichsetzung mit denen des übergeordneten Werkes, sondern eine Parallelisierung. Sie zeigen als Repräsentanten eines Kollektivs übergeordnete Zusammenhänge und Erfahrungen auf, die sich in der Geschichte wiederholt haben und sich auch in der Gegenwart des Schreibenden wiederholen. Dies wird in Müllers Aussage zu »Verkommenes Ufer« deutlich: »Aber ich schreibe, was immer der Stoff ist, in meinem aktuellen Kontext, zum Beispiel über Kolchis in der DDR.«97 Jedoch kann der Wiederholungszwang des Mythos unterbrochen und überwunden werden, wie Gruber beispielsweise anhand der Figur des Tschumalow in »Zement« fest-
93 Emmerich, Wolfgang: Der vernünftige, der schreckliche Mythos. Heiner Müllers Umgang mit der griechischen Mythologie, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Material, Göttingen 1989, S. 138-156, S. 152. 94 Ebd. 95 Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 111. 96 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 251. 97 Was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Ein Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek über VERKOMMENES UFER, den Voyeurismus und die Aufführungspraxis in beiden deutschen Staaten, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 130-141, S. 136.
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Text als Klangmaterial stellt, der die im Intermedium aufgezeigte Handlungsmöglichkeit verwirft.98 Demzufolge ist es für die Rezeption der antiken Modelle in Müllers Werk auch wichtig, diese nicht als reine Doppelung der zur Zeit des Schreibvorgangs gegenwärtigen Verhältnisse in der DDR zu sehen, wie Genia Schulz bemerkt: »Es bedeutet vielmehr, aufzuzeigen, wie diese Texte den Begriff unterhöhlen; nachzeichnen, wie sie neue Denk- und Vorstellungsfelder erschließen, indem sie an den Blindheiten, Paradoxien und inneren Grenzen des alten Feldes (Marxismus, Geschichtstheorie, politische Philosophie) arbeiten.«99 Schulz bezeichnet Müllers Werk außerdem als ›Störung‹, die das Alltägliche sowie das kulturelle und politische Denken unterhöhlt: »Es stört in der DDR als unnachsichtige Selbstkritik des Marxismus, es stört in der Bundesrepublik als marxistisches Denken, es stört in seinem sprachlichen Niveau ein (vor-)schnelles Verstehen, und es stört in Ost und West mit seinem beharrlichen Blick auf Deutschland als ungelöstes Problem.«100 Mit dem Aufzeigen sich wiederholender Modelle in der Gesellschaft ist für Müller eine Einflußnahme auf den Geschichtsverlauf möglich, eine Aufgabe, die er seinem Werk zuschreibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die in Goebbels’ Hörstücken verwendeten Texte Müllers sich durch ihre Kürze sowie ihren Materialcharakter auszeichnen und anhand von unterschiedlichen historischen Bezugspunkten in der Antike und in der Geschichte Deutschlands zwischenmenschliche und gesellschaftliche Gesetze aufzeigen, die durch die Unterbrechung ihrer Wiederholung überwunden werden können. Wie Heiner Goebbels bei der Hörstückbearbeitung mit diesen Texten umgeht und dabei ihren bei Müller angelegten Materialcharakter umsetzt, wird im Folgenden näher betrachtet.
98 99
Vgl. Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 96. Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 16.
100
Ebd., S. 31.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels
3.2 Heiner Goebbels’ Umgang mit Müller und seinen Texten Heiner Goebbels’ Arbeitsweise und sein Umgang mit Müllers Texten sollen anhand der selbstreflexiven Aufsätze des Komponisten »Heiner Müller vertonen?«, »Text als Landschaft: Librettoqualität, auch wenn nicht gesungen wird«, »Expeditionen in die Textlandschaft: Sprache auf dem Theater« und »Puls und Bruch: Zum Rhythmus in Sprache und Sprechtheater«, anhand von Interviews mit Goebbels, sowie anhand der gemeinsamen Rede von Goebbels und Müller anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für »Die Befreiung des Prometheus« skizziert werden. Die für die Hörstücke ausgesuchten Texte Müllers üben durch die bereits dargestellte Kürze und Dichte, durch ihren fragmentarischen Charakter und den daraus folgenden »knappen Anstoß, der der Aufnahme des Lesers oder Hörers die Richtungen weist, in der Erfahrungen möglich sind«101, eine große Faszination auf Goebbels aus: »Die Texte Heiner Müllers, die ich dafür ausgesucht habe, sind entweder kurz – zum Beispiel der von ihm für die gemeinsame Aktion mit dem Bühnenbildner Erich Wonder geschriebene Text MAELSTROMSÜDPOL – oder kleine selbständige Einheiten aus Theaterstücken – wie das Gedicht VERKOMMENES UFER, der erste Akt des gleichnamigen Theaterstücks, das Intermedium DIE BEFREIUNG DES PROMETHEUS aus dem Stück ZEMENT oder der Monolog DER MANN IM FAHRSTUHL aus dem Stück DER AUFTRAG. Sie sind so kurz und dicht, daß alle Parameter des Textes durch und durch auf den Inhalt verpflichtet sind: ihr Rhythmus, ihr Klang, ihre Syntax, die Form, die Sprache.«102
Des weiteren begründet er seine Beschäftigung mit Müllers Texten wie folgt: »[...] das sind nicht nur kluge, politische und humorvolle Metaphern; diese Texte erzählen nicht nur, sondern sind auch das, was sie erzählen – mit allen Mitteln. Immer ist es das ›Wie er erzählt‹, was mich fesselt und das ich mit Musik den Zuschauern/Zuhörern transparent machen möchte.«103 Goebbels betont die Orientierung an der musikalischen Qualität der Texte als das »Aufregende an der Arbeit mit einem Müller-
101
Goebbels, Heiner: Heiner Müller vertonen?, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 57-58, S. 57.
102
Goebbels, Heiner: Expeditionen in die Textlandschaft: Sprache auf dem Theater, in: ebd., S. 59-61, S. 60. Gorbauch, Tim: Zurückhaltend bestimmt, in: PlanF Nr. 2 (Beilage der
103
Frankfurter Rundschau), 07.01.2004, S. 17.
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Text als Klangmaterial Text« 104 . Diese Qualität wird deutlich durch Auffälligkeiten in Schriftbild, Interpunktion und Syntax, durch oft vorkommende Vokale oder Konsonanten, durch die Länge der Wörter und Silben sowie durch den sich daraus ergebenden Rhythmus und das Klangbild. Goebbels formuliert seine Fragestellungen bei der Analyse, die er Satz für Satz verfolgt, folgendermaßen: »Ist es Prosa? Geben Satzzeichen Auskunft? Oder Schreibweisen? Hervorhebungen in Großbuchstaben, Zeilenbrüche? Wo sind die Absätze im Original erhalten, wo wollte der Autor durchschreiben, wo erlaubt das Schriftbild einen Blick auf die Architektur des Textes? Im Grunde sind dies alles Verfahrensweisen, die jenseits der semantischen Lesart wichtig sind und Hinweise auf tiefer liegende, strukturelle Schichten von Literatur geben können.«105
So fiel ihm beispielsweise bei der Analyse des Intermediums »Der Mann im Fahrstuhl« die Häufung der Konjunktionen »und«, »aber« und »oder« auf, bei der englischen Übersetzung beginnen die Sätze häufig mit dem Personalpronomen »I« 106 . Diese Besonderheiten wurden bei der Umsetzung als Hörstück vor allem durch die Tonhöhe in der Sprache hervorgehoben. Bei der satz- und wortgenauen Analyse, bei der nach und nach Textschichten freigelegt und sichtbar werden, der sogenannten ›Expedition‹ in die Textlandschaft, zieht Goebbels aber auch Grenzen: »Diese Dekonstruktion darf jedoch nicht bis zur Zertrümmerung und Atomisierung in unverständliche Bruchstücke gehen, bis die Textbestandteile schließlich für den Hörer nicht mehr auszumachen sind. Denn dann wird das Ausgangsmaterial beliebig, ein Übermaß an Differenzierung aleatorisch. Die Freilegung der sprachlichen Elemente schließt außerdem viele Textwiederholungen in unterschiedlichen Sprechweisen mit ein.«107
Durch strukturelle Angebote und optische Kriterien lässt er sich als Komponist leiten, reduziert dabei die Texte jedoch nicht auf die musikalische Form, wie er betont: »Seine [Müllers, Anm. d. Verf.] Texte haben zwar Librettoqualität, große Rhythmik und musikalisches Formbewußtsein, die alle wahrgenommen werden müssen. Aber man kann sie nicht auf ihre Klangmittel reduzieren; nur im Zu-
104
Goebbels, Heiner: Heiner Müller vertonen?, in: Sandner, Wolfgang (Hg.):
105
Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 57-58, S. 58. Goebbels, Heiner: Text als Landschaft: Librettoqualität, auch wenn nicht
106 107
gesungen wird, in: ebd., S. 64-70, S. 64. Vgl. ebd., S. 65. Goebbels, Heiner: Expeditionen in die Textlandschaft: Sprache auf dem Theater, in: ebd., S. 59-61, S. 60.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels sammenspiel mit ihrer Semantik funktionieren sie. Sonst schieben sich andere Bedeutungsträger (Gesangskultur, Kulturapparat, Eitelkeit) darüber.«108
Der Inhalt der Texte ist Voraussetzung für seine Auswahl, danach wird der Text auf die genannten formalen Aspekte hin gelesen und analysiert. Die Semantik im fertigen Hörstück tritt allerdings zunächst oft in den Hintergrund, denn »erst da, wo das semantische Begreifen scheitert, ist alle Aufmerksamkeit auf Sprachklang, -melodien, -rhythmen, auf die akustischen Eigenschaften der Sprache gerichtet«109, womit wiederum eine neue Wahrnehmung und Rezeption des Inhalts einsetzen kann. Dies entspricht dem Verständnis Goebbels’ von der Wirkung von Müllers Arbeiten, da seiner Meinung nach »seine Texte über die Situation, in der sie entstanden sind, weit hinaus[gehen]« 110 und beispielsweise auch in der Gegenwart eine neue Gültigkeit gewinnen können. Die Entscheidung für ein bestimmtes Verfahren bei der Umsetzung, wie beispielsweise das Benutzen von O-Tönen oder der Einsatz unterschiedlicher Musikstile, ist abhängig vom jeweiligen Text und seinen strukturellen Angeboten. Diese setzt Goebbels musikalisch um, ohne den Inhalt der Texte nur zu doppeln oder zu illustrieren. Denn sein Ziel bei der Vertonung als Hörstück ist nicht eine reine Transformation vom Medium Buch in das Medium Radio – oder angesichts der Bühnenarbeiten mit Müllers Texten in das Medium (Musik-)Theater. Goebbels verfolgt vielmehr »eine Dramaturgie der Brechung, der diskontinuierlichen, sprunghaften, geschnittenen Vertonung, die seine [Müllers, Anm. d. Verf.] Art des Umgangs mit Material auf das Medium der Musik oder des Theaters überträgt«111 mit dem Ziel, für den Hörer »das Vergnügen des Lesens auch ins Hören oder Sehen zu übersetzen und dabei vielleicht die ›Lektüre‹ zu intensivieren und zu ergänzen«112. Seine erste Begegnung mit Müller beschreibt Goebbels wie folgt: »Das war 1980 bei der Arbeit an der Uraufführung von Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei [Herv. i. O.]. Dafür habe ich die
108 109
Goebbels, Heiner: Heiner Müller vertonen?, in: ebd., S. 57-58, S. 58. Goebbels, Heiner: Puls und Bruch: Zum Rhythmus in Sprache und Sprechtheater, in: ebd., S. 99–108, S. 100.
110 111
Gorbauch, Tim: Zurückhaltend bestimmt, in: PlanF Nr. 2 (Beilage der Frankfurter Rundschau), 07.01.2004, S. 17. Goebbels, Heiner: Heiner Müller vertonen?, in: Sandner, Wolfgang (Hg.):
112
Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 57-58, S. 58. Gorbauch, Tim: Zurückhaltend bestimmt, in: PlanF Nr. 2 (Beilage der Frankfurter Rundschau), 07.01.2004, S. 17.
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Text als Klangmaterial Musik komponiert. [...] Heiner Müller kam mehrmals zu Gesprächen und Proben. Und am Rande der Inszenierungsarbeit haben wir oft zusammengesessen und waren uns vor allen Dingen in einem Punkt einig, nämlich in dieser Skepsis und dem Misstrauen gegenüber der anmaßenden Rolle, die Sprache in den Inszenierungen des damaligen Theaters gespielt hat.«113
Die persönlichen Begegnungen waren kurz, jedoch intensiv, wie Goebbels in einem Interview beschreibt: »The most remarkable thing is that our encounters were very short. But intense. He wasn’t really outspoken as such, but... easygoing. Common sense: I’d give him a call and tell him about the project, and then at the end, he’d make a little remark, like: ›Why don’t you read this too?‹ Or I’d invite him to concerts. It was never a huge, complicated process, our collaboration. There was always a very quick understanding.«114
»Verkommenes Ufer«, das erste Hörstück von Goebbels, dem ein Text Müllers zugrunde liegt, wurde 1984 produziert und im Hessischen Rundfunk urgesendet. Ein Jahr später folgte eine direkte Zusammenarbeit von Goebbels und Müller, die Realisation des Hörstücks »Die Befreiung des Prometheus«, das mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde. In seiner Rede im Rahmen der Preisverleihung erwähnt Müller ausdrücklich, dass er froh sei, »daß Heiner Goebbels [s]einen Text zu der Radioarbeit gebrauchen konnte«115 und hebt dessen Arbeitsweise und Umgang mit seinen Texten hervor: »In einer Zeit des heraufkommenden Analphabetismus, wo Bücher schneller gedruckt als geschrieben werden und mehr gekauft als gelesen, wo Theater, in blinder Notwehr gegen das Fernsehen, das die Wirklichkeit zunehmend durch ihre mehr oder weniger manipulierte und manipulierende Abbildung ersetzt, die Texte zunehmend mit Bildern zuschwemmt und so ihrer subversiven Qualität beraubt, schlägt Heiner Goebbels eine neue Art der Lektüre vor, einen anderen, nicht mehr touristischen Umgang mit der Landschaft eines Textes. Auch die alten Texte müssen neu gelesen, das heißt umgewälzt werden.«116
113
Amzoll, Stefan: Die Stimme im Gepäck. Im Gespräch. Der Komponist Hei-
114
ner Goebbels anlässlich des 10. Todestags von Heiner Müller, zitiert nach: http://www.freitag.de/2006/01/06011601.php vom 01.12.2008. Warburton, Dan/Livingston, Guy: An Interview with Heiner Goebbels,
115
Paris Transatlantic, 1997, zitiert nach: http://www.heinergoebbels.com/ english/interv/inter01e.htm vom 01.12.2008. Müller, Heiner/Goebbels, Heiner: Das mögliche Ende des Schreckens/Etwas Programmatisches zur Gattung: Zwei Reden, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 89-91, S. 89.
116
Ebd., S. 89f.
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Heiner Müller – Heiner Goebbels Anzumerken ist, dass Müller in späteren Jahren jedoch nicht immer mit der Art der Umsetzung seiner Texte durch Goebbels einverstanden war, wie aus der Erinnerung von Hanns-Thies Lehmann deutlich wird: »Wie üblich zwischen Künstlern war die Zusammenarbeit nicht immer spannungsfrei. Ich entsinne mich daran, daß Heiner Müller die Goebbels’sche Version von WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE irgendwie nicht gefiel, zuerst jedenfalls nicht, vielleicht war ihm die Transposition der tragischen Erfahrung in die leichtere, weniger ›seriös‹ wirkende westliche Sprechweise zuerst zu schwer erträglich.«117
Aus Goebbels’ Faszination an und der Beschäftigung mit Müllers Texten sowie aus persönlichen Begegnungen und Korrespondenzen gingen weitere Hörstücke hervor, die Müllers Texte zur Grundlage haben und teilweise mit ihm zusammen aufgeführt oder produziert wurden, wie beispielsweise 1987 die gemeinsame Performance »MAeLSTROMSÜDPOL« zur Eröffnung der documenta in Kassel, deren abgemischte Tonspur das gleichnamige Hörstück bildet118, oder die Entwicklung von »Die Befreiung des Prometheus« zum szenischen Konzert. Des Weiteren sind die szenischen Konzerte »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« (1987) und »Surrogate Cities« (1994), in denen Müller als Rezitator fungiert, sowie »Ou bien le débarquement désastreux/Oder die glücklose Landung« (1994) und die Inszenierung »Schwarz auf Weiss« (1996), in der mit Müller gemachte Tonaufnahmen postum verwendet werden, zu nennen. Da die Konzerte, Inszenierungen und Performances über den Aspekt des Textes als Klangmaterial hinausgehen und auch eine visuelle Rezeption notwendig machen, werden sie in dieser Arbeit nicht näher betrachtet. Die folgende Analyse bezieht sich ausschließlich auf Goebbels’ Hörstücke, die im Rundfunk gesendet wurden beziehungsweise als Tonträger erschienen sind, sowie die Texte Müllers, auf denen diese Hörstücke basieren.
117
118
Lehmann, Hanns-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 52-56, S. 55. Vgl. Schlichting, Hans-Burkhard: Hörspiel: Beiträge, Projekte, Produktionen, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 428-436, S. 435f.
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4 HEINER MÜLLERS TEXTE ALS MATERIAL IN HEINER GOEBBELS’ HÖRSTÜCKEN 4.1 Untersuchungsgegenstand, Methode und Zielsetzung 4.1.1 TEXTANALYSE Bei der Textanalyse werden zunächst, dem oben skizzierten Verfahren von Heiner Goebbels folgend, die strukturellen Angebote, die typographische Gestaltung und die syntaktische Gliederung sowie weitere sprachliche Besonderheiten der Texte, die für eine akustische Umsetzung von Bedeutung sind, untersucht. Im zweiten Schritt werden die Texte von Heiner Müller in Sinnabschnitte unterteilt und inhaltlich erschlossen. Dabei werden Beziehungen zwischen den Figuren wie das Mann-Frau-Verhältnis oder die Rolle des Individuums im Kollektiv und ihre Handlungsweisen näher betrachtet. Des Weiteren fokussiert die Textanalyse intertextuelle Beziehungen in Bezug auf inhaltliche Aspekte. Diese lassen sich anhand der von Müller explizit genannten Vorlagen, wie beispielsweise Anna Seghers’ Erzählung »Das Licht auf dem Galgen«, Alexander Beks Roman »Wolokolamsker Chaussee«, Heinrich von Kleists Novelle »Der Findling« oder Mythen der griechischen und römischen Antike, herstellen. Zudem können, im Sinne von Müllers Materialbegriff hinsichtlich des Umgangs mit Literatur, Bezüge zu seinen früheren Werke aufgezeigt werden. Die in Müllers Texten vorgenommene Fragmentarisierung der intertextuellen Bezüge wird von Hendrik Werner im »Spannungsfeld von historiographischer Dekomposition und Rekomposition zum Konstruktionsprinzip der Texte erklärt«1. Denn »[p]raktisch alle Texte Müllers stellen Um-schreibungen, Bearbeitungen, Gegenentwürfe [...], Zitatarrangements dar. Ihr Autor registriert, collagiert, zitiert, bearbeitet, bleibt aber konsequent
1
Werner, Hendrik: Im Namen des Verrats. Heiner Müllers Gedächtnis der Texte, Würzburg 2001, S. 244.
75
Text als Klangmaterial selbst eingeschrieben in den polyphonen Text der Überlieferung«2. So sind die Texte nicht in sich geschlossen, sondern zeichnen sich durch Offenheit gegenüber älteren Werken aus, die wiederum den Bedeutungsspielraum der Texte Müllers erweitern. Müllers Verständnis von Literatur als »so etwas wie Gedächtnis – und zwar auch Erinnerung an die Zukunft, also Erinnerung an etwas, das noch nicht existiert oder existiert hat«3, beinhaltet, dass nach Müller mit dem Aufgreifen bereits vorhandener Literatur ein Stück Utopie aufgegriffen wird, das die Gegenwart nicht (mehr) bietet. Im letzten Schritt der Analyse werden die Texte im Hinblick auf geschichtliche und politische Diskurse betrachtet und unter anderem die Themenkomplexe Verrat, Krieg, Kollektiv und Deutschlandbild herausgearbeitet. Ergänzend werden Untersuchungen zu Müllers Werk als auch seine eigenen in Interviews und der Autobiographie gemachten Aussagen einbezogen. Das Ziel ist dabei nicht die Entschlüsselung einer konkreten Bedeutung der Texte, da auch Müller, unterstützt durch die Prinzipien der ›Überschwemmung‹ und Verdichtung, ein vollständiges Erfassen des Ganzen in seiner Vieldeutigkeit nicht beabsichtigt. Nicht immer war eine eindeutige Verknüpfung zwischen seinen Werken und historischen Begebenheiten bei ihrer Entstehung beziehungsweise Veröffentlichung in Müllers Sinne: »Wenn ein Autor tot ist, kann man sein Werk übersehen und in Bezug zu den historischen Daten seiner Zeit setzen. Schon da klappt nichts. Auch die Ordnung seiner Werkbiographie nach dem Schema: da gibt es diese Phase, dann die und die, sagt nichts aus. Denn es gibt keine Entwicklung, nur Auswicklung.«4
Müller tritt zudem in seiner Eigenschaft als Autor zurück und weist dem einzelnen Leser die aktive Rolle des Co-Autors zu, der die Vielheit des Textes in Verbindung mit subjektiven Assoziationen und Emotionen produktiv fortschreibt. Bei der Textanalyse sollen folglich die Voraussetzungen der Texte und ihre Konsistenz sowie die Bedingungen der Aussagemöglichkeiten erschlossen werden, als im Sinne der Hermeneutik, ausgehend von einem geschlossenen Werkganzen, ein konkreter Sinn entziffert und konstituiert werden. Viel-
2
Lehmann, Hans-Thies: Raum-Zeit. Das Entgleiten der Geschichte in der Dramatik Heiner Müllers und im französischen Poststrukturalismus, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Heiner Müller (= TEXT+KRITIK 73), München 1982, S. 71-81, S. 74.
3 4
Edelmann, Gregor/Ziemer, Renate (Hg.): Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 1990, S. 148. Müller, Heiner: Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft, in: ders.: Jenseits der Nation, Berlin 1991, S. 7-33, S. 16.
76
Untersuchungsgegenstand, Methode und Zielsetzung mehr erscheint die Annäherung mittels eines strukturellen und diskursanalytischen Ansatzes sinnvoller. So wird bei der Diskursanalyse nicht die Frage nach einer Interpretation gestellt; »sie fragt die gesagten Dinge nicht nach dem, was sie verbergen, [...] nach dem Nicht-Gesagten [...]. Sondern umgekehrt, auf welche Weise sie existieren, was es für sie heißt, manifestiert worden zu sein, Spuren hinterlassen zu haben und vielleicht für eine eventuelle Wiederverwendung zu verbleiben«5. Literarische Texte werden hierbei nicht als Vermittler einer Bedeutung aufgefasst, sondern im Hinblick auf ihre Beschaffenheit, Materialität, Relationen, auf ihre verschiedenen Kontexte und ihre intertextuellen Verweise untersucht 6 , was im Hinblick auf die Texte Müllers sowie die nachfolgende Betrachtung der Transposition in der Akustischen Kunst zielgerechter ist und auch in der von Müller und Goebbels vertretenen Ästhetik begründet liegt.
4.1.2 MODELL ZUR HÖRSTÜCKANALYSE Bei der Entwicklung des Analysevorgehens für die Hörstücke steht zunächst die Überlegung im Vordergrund, in welche Einheiten die Hörstücke zu unterteilen sind. Möglich wäre beispielsweise die Festlegung auf zeitliche Einheiten, wie etwa von einer Minute oder 30 Sekunden. Solch eine Unterteilung folgt jedoch einem starren Zeitkorsett, unabhängig vom individuellen Charakter und der klanglichen Struktur des einzelnen Hörstücks. Aus diesem Grund ist eine Festlegung auf jeden neuen selbständigen inhaltlichen Gedanken, der akustisch erfahrbar ist, als kleinste Einheit des Hörstücks sinnvoller. Diese dynamische Festlegung der zu untersuchenden Einheiten folgt einer Definition von Karlheinz Stockhausen, der den ›Moment‹ als kleinste wahrnehmbare Zeiteinheit eines akustischen Ereignisses bestimmt: »Ich will also den Begriff so fassen, daß ich jede durch eine persönliche und unverwechselbare Charakteristik erkennbare Formeinheit – ich könnte auch sagen: jeden selbständigen Gedanken – in einer bestimmten Komposition als Moment bezeichne; so ist der Begriff qualitativ und unter Berücksichtigung eines gegebenen Kontextes (ich sagte: in einer bestimmten Komposition) gefaßt, und die Dauer eines Momentes ist eine Eigenschaft seiner Charakteristik unter
5
Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, S. 159.
6
Vgl. ebd., S. 42ff.
77
Text als Klangmaterial anderen; Momente können also, je nach Charakteristik, beliebig lang oder kurz sein.«7
Des Weiteren erfolgt die Analyse der Hörstücke in Anlehnung an semiotische Ansätze. Auch Heiner Goebbels führt in seiner Überlegung zur Zeichenhaftigkeit des Hörstücks das ›Sample‹, also einen kurzen Ausschnitt einer akustischen Quelle, der Musik, Geräusch oder Sprache beinhalten kann, als Zeichen ein: »Musik ist entzifferbar, Buchstabe für Buchstabe, Note für Note, und damit voller Zeichen. Es geht also nicht mehr um die Erfindung, Originalität, Individualität, sondern um die Perspektive auf das Vorzufindende, auf das Erzählen mit dem Vorgefundenen, in anderen als den bekannten Kontexten.«8 Es stellt sich die Frage, ob diese einzelnen Zeichen im Sinne der Semiotik tatsächlich auch als Informationsträger, die auf etwas anderes verweisen, verstanden werden können. Betrachtet man den semiotischen Ansatz nach Ferdinand de Saussure, so ist in seinem dyadischen Modell das sprachliche Zeichen »die Verbindung eines Bezeichnenden mit einem Bezeichneten, eines Lautkörpers (image acoustique) mit einer begrifflichen Vorstellung (concept) oder, nach der späteren Terminologie, eines Signifikanten (signifiant) mit einem Signifikat (signifié)«9. Will man den Begriff des sprachlichen Zeichens auf akustisch Erfahrbares im Allgemeinen, also auch auf Geräusche, Klänge und Musik, ausweiten, so steht man vor dem Problem, wie das Vorhandensein von Signifikaten, auf die die akustischen Zeichen hinweisen sollten, festzustellen ist, da beschreibbare Objekte keine festen Relationen zu musikalischen oder geräuschartigen Zeichen haben. Aber auch sprachlichen Zeichen ist nicht immer eine eindeutige semantische Identität zuzuschreiben10, da Sprache nicht nur Objekte repräsentiert, sondern auch ohne direkt erkennbaren Zusammenhang für sich stehen kann und ohne einen direkten Bedeutungstransport durch ihren Klang wirken kann. Beispielsweise seien hier die Sprachexperimente des Dadaismus, der ›konkreten Lyrik‹ oder des ›Neuen Hörspiels‹
7
Stockhausen, Karlheinz: Momentform. Neue Zusammenhänge zwischen Aufführungsdauer, Werkdauer und Moment, in ders.: Texte, 1963, S. 189-
8
210, S. 200. Goebbels, Heiner: Musik entziffern: Das Sample als Zeichen, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin
9
2002, S. 181-185, S. 181. Füssel, Kuno: Zeichen und Strukturen. Einführung in Grundbegriffe, Positionen und Tendenzen des Strukturalismus, Münster 1983, S. 17.
10 Vgl. Rusterholz, Peter: Zum Verhältnis von Hermeneutik und neueren antihermeneutischen Strömungen, in: Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 31999, S. 157-177, S. 163.
78
Untersuchungsgegenstand, Methode und Zielsetzung genannt. Dementsprechend ist de Saussures dyadisches Modell für die Hörstückanalyse zu eng gefasst, da es außersprachliche Bedeutungseinheiten nicht berücksichtigt. Anstelle eines direkt festzustellenden Zusammenhangs können sich bei akustischen Erfahrungen mögliche Objekte durch Erwartungshaltung, Erinnerung und Assoziationen des Rezipienten in dessen Vorstellungskraft bilden. Dies entspricht eher den Klassen von durch Zeichen erzeugten Wirkungen beim Rezipienten nach Charles Sanders Peirce11, nämlich dem Hervorrufen von Gefühlen, (geistigen) Anstrengungen und Gewohnheitsveränderungen. 12 Im Rahmen des triadischen Modells von Peirce entsprechen diesen Wirkungen drei Arten von Interpretanten, also denjenigen, die das Zeichen in seiner Funktion für den Interpreten bestimmen, nämlich den emotionalen, energetischen und logischen Interpretanten. 13 Sehnsüchte, Erwartungen und Verhaltensgewohnheiten sind die Voraussetzung dafür, dass diese Wirkungen entstehen. Somit sind die so entstehenden Zeichenbeziehungen und Bedeutungen perspektivisch und können je nach subjektiver Ansicht des Rezipienten variieren. Im konkreten Fall heißt dies, dass beim Hören eines Hörstücks von Goebbels akustische Eindrücke mit in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen des Hörers verknüpft werden und durch die Verbindung mit diesen eine individuelle Hörerfahrung erzeugen, die einen bedeutungserweiterten Zugang zum Hörstück und schließlich zu Müllers Text ermöglicht. Assoziationen bei der Rezeption von Akustischer Kunst können durch verschiedene Mittel der Spannungserzeugung und -auflösung angeregt werden. Nach der Untersuchung »Psychologie der Kunst« von Hans und Shulamith Kreitler gehören zu diesen Mitteln im Bereich der Musik die Harmonie und ihre Störung durch dissonante Akkorde, ebenso dissonante und konsonante Intervalle, also nacheinander erklingende Töne sowie die Variation und das Spiel mit der Erwartungshaltung des Rezipienten.14 Im Bereich der Sprache werden Aufmerksamkeitslenkung und Erlebniswirkung mit der Ver11 Vgl. Herwig, Henriette: Wendepunkte der Mediengeschichte und ihre Auswirkungen auf das Lesen und die Literatur, in: Hess-Lüttich, Ernest W. B. (Hg.): Autoren, Automaten, Audiovisionen. Neue Ansätze der Medienästhetik und Tele-Semiotik, Wiesbaden 2001, S. 35-56, S. 47. 12 Vgl. Peirce, Charles S.: Der Kern des Pragmatismus – Drei Ansätze zu seiner Begründung (H), MS 318, 1907, in: ders.: Semiotische Schriften. Band 3. 1906-1913, hg. und übersetzt von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt 1993, S. 231-311, S. 282f. 13 Vgl. ebd., S. 252. 14 Vgl. Kreitler, Hans/Kreitler, Shulamith: Psychologie der Kunst, Stuttgart u.a. 1980, S. 123-143.
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Text als Klangmaterial wendung von Alliterationen, Gleichklängen und Wiederholungen erreicht.15 Bei allen drei Elementen, Sprache, Geräusch und Musik, aus denen sich Hörstücke konstituieren, sind vor allem die Lautstärke, die Tonhöhe, sowie die Variation des Rhythmus geeignete Mittel, um die Aufmerksamkeit des Hörers zu lenken sowie Spannung zu erzeugen und diese wieder aufzulösen. Dabei sind sowohl auf Seiten des Kunstschaffenden verschiedene Gestaltungsmodelle, als auch auf Seiten des Rezipienten verschiedene Wirkungsweisen denkbar. In den Hörstücken von Heiner Goebbels lassen sich – vergleichbar mit Heiner Müllers ›Überschwemmung‹ – sowohl den Hörer zunächst überfordernde Mittel finden, wie beispielsweise der gleichzeitige Einsatz von eindringlichen elektronischen Geräuschen, Musik und lautem rhythmischen Sprechen in »Die Befreiung des Prometheus«, als auch eher entspannungsfördernde Sequenzen wie die Verbindung einer leisen, sanften männlichen Stimme mit der 7. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch in »Wolokolamsker Chaussee IV – Kentauren«. Mit der Problematik des Zeichenbegriffs in seiner Anwendung im musikalischen Bereich aufgrund der fehlenden eindeutigen außermusikalischen Bedeutung der musikalischen Zeichen setzt sich Wilfried Gruhn in seiner Untersuchung »Musiksprache – Sprachmusik – Textvertonung« eingehend auseinander: »Die den sprachlichen Morphemen entsprechenden kleinsten musikalischen Sinnträger sind durch Höhe und Dauer bestimmte musikalische Gestalten, Strukturen oder Figuren (im Extremfall kann ein einzelner Klang als Struktur gelten), die kein außermusikalisches Desiderat besitzen.«16 Gruhn konstatiert, dass musikalische Zeichen zwar keine Bedeutung im semantischen Sinne erzeugen, jedoch in der Erfassung ihrer strukturellen und ästhetischen Funktion im musikalischen Werk als Zeichen zu sehen sind, da »musikalisches Verstehen ein begriffsloses Erfassen immanenter Zusammenhänge«17 ist. Des Weiteren können sie, argumentiert er ähnlich wie Kreitler, emotionale Zustände erzeugen und räumliche Verhältnisse darstellen.18 Aufbauend auf die vorgestellten Überlegungen zur Semiotik in Zusammenhang mit akustischen Zeichen, strebt das folgende Analysemodell eine Gegenüberstellung des originalen literarischen Textes hinsichtlich Struktur und Inhalt und des Hörstücks, aufgeteilt in die Elemente Sprache, Geräusche und Musik, an. In Bezug auf diese drei Ebenen der akustischen Mittel entspricht das vorliegende 15 Vgl. ebd., S. 207-236. 16 Gruhn, Wilfried: Musiksprache – Sprachmusik – Textvertonung, Frankfurt am Main 1978, S. 55. 17 Vgl. ebd., S. 84. 18 Vgl. ebd., S. 56.
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Untersuchungsgegenstand, Methode und Zielsetzung Modell früheren Untersuchungen zu den einzelnen Komponenten radiophoner Kunstformen. Die Unterteilung in Sprache, Geräusche und Musik postulierte bereits Heinz Schwitzke in den 50er Jahren – jedoch mit einer anderen Gewichtung – in seiner Theorie »Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte«19. Auch in späteren Auseinandersetzungen mit dem Hörspiel und in Hörspielgeschichten wurde diese Dreiteilung verwendet, beispielsweise in Werner Klipperts Darstellung »Elemente des Hörspiels«20, Karl Ladlers »Hörspielforschung. Schnittpunkt zwischen Literatur, Medien und Ästhetik«21, Eugen Kurt Fischers »Das Hörspiel. Form und Funktion«22 oder Stefan Bodo Würffels »Das deutsche Hörspiel«23. Vor der detaillierten Darstellung des vorliegenden Analysemodells sind zwei Entwürfe zur Analyse von akustischen Werken hervorzuheben: Frank Schätzleins »Hörspiel-Notation. Entwurf eines Transkriptionssystems für radiophone Hörfunksendungen« von 1998 und Götz Schmedes’ 2002 erschienene Untersuchung »Medientext Hörspiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel der Radioarbeiten von Alfred Behrens«. Schätzlein unternimmt den Versuch, ein Modell zur Erfassung von fiktionalen Formen des Hörfunks, vor allem von Hörspiel, Feature und Comedy zu entwerfen, indem er das System der halbinterpretativen Arbeitstranskription (HIAT) von Konrad Ehlich und Jochen Rehbein modifiziert.24 Dabei verzeichnet er in der Transkription die Umschrift des Gesprochenen, Symbole und Sonderzeichen sowie ergänzende Kommentare und unterteilt das Transkript folgendermaßen: »Die Transkriptspalten werden im Papier-Querformat in folgender Reihenfolge (von links nach rechts) organisiert: Zeit absolut, Zeitdauer einer markierten Einheit, Sigle für Sprecher/Figuren und andere auditive Elemente, Wortzählung und Partiturklammer, Partitur und weitere vier Spalten für den verbalen, nonverbalen bzw. paraverbalen, medialen (der mediale Kommentar umfaßt Geräusch, Musik, Montage/Blende/Schnitt, den stereophonen Raum und Effekte) und semantisch-pragmatischen Kommentar.«25
19 Vgl. Schwitzke, Heinz: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, Berlin 1963. 20 Vgl. Klippert, Werner: Elemente des Hörspiels, Stuttgart 1977. 21 Vgl. Ladler, Karl: Hörspielforschung. Schnittpunkt zwischen Literatur, Medien und Ästhetik, Wiesbaden 2001. 22 Vgl. Fischer, Eugen Kurt: Das Hörspiel. Form und Funktion, Stuttgart 1964. 23 Vgl. Würffel, Stefan Bodo: Das deutsche Hörspiel, Stuttgart 1978. 24 Vgl. Schätzlein, Frank: Hörspiel-Notation. Entwurf eines Transkriptionssystems für radiophone Hörfunksendungen, in: http://www.frank-schaetz lein.de/texte/hoerspiel-transkription.htm vom 01.12.2008. 25 Vgl. ebd.
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Text als Klangmaterial In dieser Darstellung treten die drei Elemente Sprache, Geräusche und Musik jedoch nicht klar hervor, sondern gehen vielmehr in der Fülle an Spalten unter. Die Transkription von Richtung, Lautstärke, Tempo, Montageelementen und akustischen Phänomenen mittels festgelegter Symbole und Zeichen des HIAT-Systems wie sie Schätzlein anführt bietet sicherlich durch ihre Kürze und Eindeutigkeit Vorteile bei der Handhabung. Letzlich werden aber zu den damit codierten akustischen Eindrücken Kommentare notwendig, um die Schallereignisse in ihrer Individualität adäquat zu erfassen. Auch erscheint diese Art der Transkription im Hinblick auf deren spätere Leser, die die Beschreibungen zu den Zeichen erst in einer Art Legende überprüfen müssten, zu komplex. Schätzlein betont zwar, dass die Praktikabilität und der Nutzen seines Notationssystems sich erst in seiner Anwendung erweisen werden, diese bleibt er jedoch schuldig. In seiner Untersuchung »Medientext Hörspiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel der Radioarbeiten von Alfred Behrens« kategorisiert der WDR-Redakteur Götz Schmedes Zeichensysteme innerhalb des Hörspiels als eines semiotischen Systems. Schmedes erweitert den Begriff der Bedeutung als eine, die »indirekt aus dem Bezeichnungs- und Bedeutungszusammenhang der Zeichen und Zeicheneinheiten hervorgehen«26 kann. Die im Hörspiel auftretenden Zeichensysteme unterteilt er in allgemeine, zu denen er Sprache, Stimme, Geräusche, Musik und auch Stille zählt, und in audiophone Systeme, die Blende, Schnitt, Mischung und Verfremdung beinhalten. Seinen Erläuterungen zur Charakterisierung der einzelnen Systeme und ihrer Funktionen ist weitgehend zuzustimmen. Den Erläuterungen voranstehende Überlegungen und Ansätze sind mit den in dieser Arbeit angeführten vergleichbar. Im Gegensatz zu Schätzlein verzichtet Schmedes auf eine Überfrachtung seines Modells mit Transkriptspalten. Neben Zeitangaben verfolgt er eine klare Darstellung der drei Elemente Sprache, Geräusch und Musik, die er mit getrennten Erläuterungen vervollständigt. Wie Schätzlein verwendet er jedoch auch in einer Legende erläuterte symbolische Zeichen für Eigenschaften der Stimme, Richtung, Lautstärke, Tempo und Elemente der Montage wie Einblenden beziehungsweise Ausblenden, Schnitt oder punktuelle Geräusche27. Da diese allgemein festgelegten Zeichen jedoch beispielsweise nichts über die Eigenschaften eines bestimmten punktuellen Geräusches aussagen, werden auch bei Schmedes zusätzlich erläuternde Kommentare nötig.
26 Schmedes, Götz: Medientext Hörspiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel der Radioarbeiten von Alfred Behrens, Münster 2002, S. 59. 27 Vgl. ebd., S. 283f.
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Untersuchungsgegenstand, Methode und Zielsetzung Da also ohnehin Beschreibungen notwendig werden und aus Gründen der Lesbarkeit beziehungsweise Verständlichkeit der entstehenden Protokolle für spätere Leser wird im vorliegenden Modell auf die Codierung von akustischen Ereignissen mittels Symbole und anderer Zeichen verzichtet. Im vorliegenden Modell erfolgt eine klare Unterteilung der akustischen Ereignisse in Sprache, Geräusche und Musik ähnlich der Festlegung ›allgemeiner Zeichensysteme‹ bei Schmedes, jedoch mit der für eine Untersuchung von von literarischen Texten ausgehender Akustischer Kunst notwendigen Weiterentwicklung. So erfährt der Bereich ›Sprache‹ eine weitere Unterteilung. Einerseits wird der verwendete Text auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zum Originaltext hinsichtlich Chronologie, Auslassungen und Wiederholungen untersucht. Andererseits werden die Stimme, das heißt ihre Eigenschaften und die Intonation durch einen oder mehrere Sprecher (Lautstärke, Tonlage, Tonmelodie, Stimmfarbe, Tempo, Rhythmus, Sprechhaltung), sowie Besonderheiten in der Schnitt- und Aufnahmetechnik (zum Beispiel polyphone Überlagerung, Studio- oder Außenaufnahmen, Raumklangeffekte und Modulationen) und deren Wirkung betrachtet. Die Bandbreite des Stimmeneinsatzes wurde bereits in anderen Publikationen zur Stimme des Menschen und zum professionellen Sprechen thematisiert, wie beispielsweise in Peter-Michael Fischers »Die Stimme des Menschen. Aufbau, Funktion und Leistung«, in der von Thomas von Fragstein herausgegebenen Aufsatzsammlung »Sprechen als Kunst. Positionen und Prozesse ästhetischer Kommunikation« oder in Reinhart Meyer-Kalkus’ geschichtlicher Darstellung »Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert«. In letzterer ist vor allem die Erläuterung des Stimmeneinsatzes und der Stimmästhetik seit Einführung des Tonfilms und des Hörfunks zu beachten. Die Vermittlung der Stimme eines Sprechers durch das Mikrophon erforderte eine andere Ästhetik als die bis dahin von Theaterschauspielern bekannte, nämlich weniger expressiv, reduzierter und leiser. Damit sollte die Konzentration auf das gesprochene Wort und dessen Authentizität erreicht werden. 28 Des Weiteren stellt Meyer-Kalkus dar, dass die Stimme in Medien das Ergebnis von Vortragstechnik durch Kontrolle der Lautstärke sowie des Klanges und technischer Bearbeitung der Aufnahme ist. In Fragsteins Sammelband ist der Aufsatz »Analyse des Sprechakts – Arbeitstechniken für Sprecher bei der Rundfunkproduktion« des ehemaligen Leiters der Hörspielabteilung des Senders Freies Berlin Manfred Mixner besonders hervorzuheben. Mixner betont bei Hörspielproduktionen die Notwendigkeit, Mimik, Gestik und Physio-
28 Vgl. Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 369.
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Text als Klangmaterial gnomie in die Stimme und das Atmen zu verlegen. Des Weiteren kategorisiert er sieben Formen des Sprechens, vom natürlichen über artikulatorisches, das heißt teilnahmsloses, bis zum illustrativen und figurativen Sprechen.29 Damit bietet er Vorschläge zur Arbeitstechnik für das Sprechen vor dem Mikrophon an, wobei sich die verschiedenen Sprechformen in der Praxis nicht isolieren lassen. Deshalb werden die Eigenschaften der Formen des Sprechens bei der vorliegenden Untersuchung der Hörstücke auf der Ebene der Sprache zwar berücksichtigt, auf eine eindeutige Einordnung in Kategorien wird jedoch verzichtet. Geräusche und Klänge werden im vorliegenden Modell hinsichtlich ihrer Erzeugung (natürlich, stilisiert, elektronisch), ihrer Eigenschaften (Klangfarbe, Lautstärke, Tempo) und ihrer Funktionen (Strukturierung, Veranschaulichung, Ergänzung, Intensivierung, Illustration, Charakterisierung, Antizipation, Kommentar, Kontrast, Verfremdung) untersucht. Gleiche Funktionen kann auch der Einsatz von Musik im Hörstück erfüllen30, bei der zudem ihre Eigenschaften (Musikart, Klangfarbe, Lautstärke, Tempo, Harmonie) wichtig sind und ob sie textfrei oder polyphon mit dem gesprochenen Text in Erscheinung tritt, wie Mechthild Hobl-Friedrich in ihrer Untersuchung »Die dramaturgische Funktion der Musik im Hörspiel« darstellt. Dabei werden nicht die kompositorischen Strukturen aus einer musiktheoretischen Perspektive erfasst, sondern die akustische Gestaltung und ihre Rückwirkungen auf den Text beschrieben. Darüber hinaus wird betrachtet, welche musikalischen Quellen neben Goebbels’ Eigenkompositionen in Erscheinung treten und welche bereits vorhandenen Kompositionsausschnitte, Stile und Formen er montiert. Damit folgt er nach Lehmann der »kompositorischen Variante der Intertextualität«31. Informationen unter anderem bezüglich der Schnitte und technischer Modifikationen werden innerhalb der Betrachtung der drei akustischen Elemente gegeben und aufeinander bezogen. Das Modell trennt demzufolge die in Goebbels’ Hörstücken oft polyphon auftretenden und wahrnehmbaren Elemente Sprache, Geräusche und Musik. Dies ist notwendig, da ihre Funktionen, ihre Beziehungen und ihr Zusammenspiel erst durch das Herauspräparieren des Materialcharakters adäquat dis29 Vgl. Mixner, Manfred: Analyse des Sprechakts – Arbeitstechniken für Sprecher bei der Rundfunkproduktion, in: Fragstein, Thomas von/Ritter, Hans Martin (Hg): Sprechen als Kunst. Positionen und Prozesse ästhetischer Kommunikation, Frankfurt am Main 1990, S. 173-180. 30 Vgl. Hobl-Friedrich, Mechthild: Die dramaturgische Funktion der Musik im Hörspiel, Erlangen-Nürnberg 1991. 31 Lehmann, Hans-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 52-56, S. 54.
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Untersuchungsgegenstand, Methode und Zielsetzung kutiert werden können. Im Anschluss an die Analyse dieser drei Ebenen werden das Verhältnis der drei Elemente und das kompositorische Konzept der einzelnen Hörstücke herausgearbeitet. Die Analysen der Hörstücke erfolgen dabei aus der Sicht des Rezipienten, das akustische Material wird gehört und mittels Verschriftlichung deskriptiv protokolliert. Literarischer Text
Text
Hörstück
Inhalt Struktur
Sprache
Text Abdruck des Textes
Zusammenfassung des Inhalts
Strukturelle und akustische Angebote der Sprache
Chronologie/ Auslassung/ Wiederholung
realistisch/ textfrei/ stilisiert/ textunterelektronisch legt erzeugt Musikart Klangfarbe Harmonie Lautstärke Klangfarbe Tempo Lautstärke Tempo
polyphone Überlagerung
Funktion: Funktion: StruktuStrukturierendes rierendes Mittel/ Mittel/ Veranschau- Veranschaulichung der lichung der GeschehGeschehnisse/ nisse/ Ergänzung/ Ergänzung/ IntensivieIntensivierung/ rung/ Illustration/ Illustration/ Charakteri- Charakterisierung/ sierung/ rhythmische rhythmische Strukturie- Strukturierung/ rung/ Leitmotiv/ Leitmotiv/ musikamusikalische lische Blende/ Blende/ AntiziAntizipation/ pation/ Kommentar/ Kommentar/ Kontrast/ Kontrast/ Verfremdung Verfremdung
Funktion/ Wirkung
• •
Zeit Min.: Sek.
Stimme
Raumklang
• •
Musik
Lautstärke Tonlage Tonmelodie Stimmfarbe Tempo Rhythmus Sprechhaltung
Aufnahmetechnik
•
Geräusch und Klang
Verhältnis der Elemente zueinander, Dominanzbeziehungen Schnitttechnik, Montage, Blende Tempo, Rhythmus, Dynamik (Differenzierung der Tonstärke) Technische Besonderheiten Kompositorisches Konzept (Vergleich zu anderen Kompositionskonzepten)
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Text als Klangmaterial In den so entstehenden Protokollen werden zur Orientierung Beginn und Ende eines neuen Gedankens im Hörstück in der Zeitleiste mittels Minuten- und Sekundenangabe vermerkt. Bei auf CD erschienenen Tonträgern wird zudem die Trackbezeichnung (Name und/ oder Nummer) genannt. Die im Rahmen der Analysen angelegten Protokolle sind im Anhang der Arbeit beigefügt und ermöglichen unter anderem ein erleichtertes Nachvollziehen, ein »Mitlesen« der akustischen Werke. Aus Platzgründen wird auf die tabellarische Darstellung der Untersuchung des originalen literarischen Textes (siehe Spalte ›Literarischer Text‹ in obiger Tabelle) verzichtet. Das entwickelte Modell verfolgt das Ziel, das Verhältnis der Elemente hinsichtlich ihres quantitativen Einsatzes und ihrer semantischen Qualität, also das akustisch-ästhetische Gewicht der einzelnen Elemente, herauszuarbeiten und aufzuzeigen, wie Sprache mit Geräuschen und Musik korrespondiert und wie der übernommene und modifizierte Originaltext durch die akustischen Elemente mittels verschiedener kompositorischer Konzepte transponiert wird. Der Terminus ›Transposition‹ bezeichnet den »Übergang von einem Zeichensystem in ein anderes, wobei die Art des Zeichenmaterials unverändert bleiben kann«32, also den Medienwechsel beziehungsweise die Übertragung vom Text, der schriftlich vorliegt, zum akustisch erfahrbaren Hörstück. Irina Rajewsky erweitert den Begriff der Transposition zudem um den Aspekt der Medienkombination, also um »durchgehende Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die sämtlich im entstehenden Produkt materiell präsent sind«33. Diese sieht sie auch in der Klangkunst, nach ihrer Definition Klanginstallationen und -skulpturen, als Verbindung von Hör- und Sichtbarem vorherrschend. Rajewsky sieht den Medienwechsel als Gegenstandsbereich der intermedialen Forschung. Sie stimmt der These zu, dass »das Zielmedium [...] neue Darstellungspotentiale und Gestaltungsmöglichkeiten und somit vielfältige Chancen der innovativen Fortschreibung des Ausgangstextes im neuen Medium«34 eröffnet. Intermedialität wird dabei als Oberbegriff für Phänomene gebraucht, die Grenzen zwischen mindestens zwei Medien überschreiten 35 . Bezogen auf die Transposition des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes bedeutet dies, dass der im Medium Buch schriftlich fixierte Originaltext von Heiner Müller in akustische Si32 Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, S. 669. 33 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel 2002, S. 19. 34 Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, S. 355. 35 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel 2002, S. 13.
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Untersuchungsgegenstand, Methode und Zielsetzung gnale umgewandelt wird, die durch das Medium Radio oder Tonträger vermittelt werden. Der akustisch erfahrbare, transponierte Text im Hörstück ist hierbei eng verbunden mit dem ›Prätext‹ – dem Originaltext Müllers – und erscheint nach Lehmann »als ein musikalisches Spiel, das auf die literarischen Energien des Textes antwortet«36. Dies wird auch bei den folgenden Analysen deutlich werden. Dabei steht nicht die Kohärenz der Werke im Vordergrund. Der Fokus liegt nicht vordergründig darauf, bestimmte Aussageabsichten in den Hörstücken zu entziffern, sondern mittels Beschreibungen von Wirkungen, Assoziationen und Eindrücken, die beim Hörer ausgelöst werden können, die von Goebbels dem Hörer unterbreiteten, vielschichtigen Verständnisangebote darzustellen.
36 Lehmann, Hans-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 52-56, S. 55f.
87
4.2 Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten – Verkommenes Ufer (HR 1984) 4.2.1 TEXTANALYSE Der Text »Verkommenes Ufer« ist der erste Teil des Triptychons »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten«, das 1981/82 entstanden ist, dessen Anfänge nach Müllers eigenen Aussagen jedoch zum Teil bis in die 50er Jahre zurückreichen1. Das Triptychon wurde 1982 in der Literaturzeitschrift »Alternative« zum ersten Mal veröffentlicht und 1983 im Schauspielhaus Bochum uraufgeführt. Da von Heiner Goebbels für das Hörstück »Verkommenes Ufer« nur der erste Block des dreiteiligen Stückes verwendet wurde, soll auch nur dieser detailliert analysiert werden, ohne jedoch auf Verweise auf Zusammenhänge im gesamten Triptychon zu verzichten. Nach Frank Hörnigk steht der Text »Verkommenes Ufer« im Zusammenhang mit einem der ersten Aufenthalte Müllers in Berlin im Jahr 19492 und ist, Müllers Notizen zufolge, als »rückblickende Beschreibung der von Medea verlassenen Heimat«3, also Kolchis, gedacht. Medea tritt am Ende des Textes in den letzten drei Versen auf, bevor sie in »Medeamaterial« selbst sprechen darf. Der Medea-Mythos baut auf der griechischen Argonautensage auf, laut welcher Jason mit seinen Gefährten, den Argonauten, das Goldene Vlies, eine Machtinsignie, aus Kolchis rauben soll. Der dortige König Aietes verspricht ihm dieses unter der Bedingung, dass Jason die Aufgaben erfüllt, mit feuerschnaubenden Stieren zu pflügen und Drachenzähne zu säen. Medea, die Tochter des Königs, hilft Jason und verrät ihm schließlich auch den Plan ihres Vaters, Jason das Vlies nach den erfüllten Aufgaben nicht auszuhändigen, sondern die Argonauten zu erschlagen. Aufgrund der Übereinkunft, dass Jason sie heiratet, begeht sie Verrat an Kolchis, hilft ihm, das Vlies zu stehlen und flieht mit Jason nach Iolkos. Aus Iolkos vertrieben, findet das Paar in Korinth Zuflucht und lebt dort im Exil. Jason verstößt Medea jedoch schließlich, um die Tochter des dorti-
1
Vgl. Was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Ein Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek über VERKOMMENES UFER, den Voyeurismus und die Aufführungspraxis in beiden deutschen Staaten, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt
2
am Main 1986, S. 130-141, S. 130. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 322.
3
Ebd., S. 324.
88
Verkommenes Ufer gen Königs Kreon, Kreusa, auch Glauke genannt, zu heiraten. Nach diesem Treuebruch tötet Medea aus Rache die zweite Braut mit einem vergifteten Hochzeitsgewand und ermordet auch ihre Söhne aus der Ehe mit Jason.4 Der kurze, 41 Verse umfassende, vorwiegend in reimlosen Daktylen, Jamben und Trochäen verfasste Text »Verkommenes Ufer« lässt sich inhaltlich und gleichzeitig dem Schriftbild folgend in fünf Teile gliedern. Augenfällig ist auf den ersten Blick zum einen, dass einige Verse in Versalien gedruckt sind, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen. Zum anderen fehlt die Interpunktion gänzlich, was teilweise zu Orientierungslosigkeit ob der Satzanfänge und -enden und gleichzeitig zu Freiheit in der Lesart führt. Obwohl Punkte an den Satzenden fehlen, sind Satzanfänge durch Großschreibung oft erkennbar. Optisch besteht der Text zwar durchgängig aus Aussagesätzen, dem Leser – und später den Sprechern im Hörstück – steht es jedoch frei, an passenden Stellen eine Frage oder einen Ausruf zu intonieren. Es lässt sich feststellen, dass die meist kurzen Sätze nie mittels Konjunktionen und nur selten mit Relativpronomen (V. 16f., V. 21) verbunden werden. Vielmehr handelt es sich um einen asyndetischen Satzbau (V. 1-3, V. 6-9, V. 22f., V. 29-32), bei dem Bilder stakkatoartig aneinandergereiht werden und bei dem zum Teil sogar die Verben fehlen (V. 1-3, V. 38-40). Die schnelle Abfolge der dargestellten Bilder wird durch Zeilensprünge ergänzt (V. 1f., V. 8f., V. 14f., V. 17f., V. 20f., V. 29f., V. 39f.), sodass der Stakkato-Stil intensiviert wird. Optisch fällt zudem vor allem das Enjambement in den Versen 14 bis 17 auf, »Schiff« ist dabei das einzige Wort des Verses 16, der darauffolgende Vers ist eingerückt. So ›hängt‹ das Wort »Schiff«, auch optisch dargestellt, zwischen den Versen. Eine dramatische Handlung im eigentlichen Sinne ist nicht erkennbar, auch fehlen die Angaben sprechender Personen oder Regieanweisungen. Dargestellt sind eher Momentaufnahmen und Einzelgedanken zwischen neuzeitlichem Alltag – angezeigt durch die durchgängige Verwendung der Verben im Präsens – und Mythos. Im ersten Teil (V. 1-2) erhält der Leser eine den räumlichen und zeitlichen Standpunkt betreffende Orientierung. Gezeigt wird ein See bei Straußberg nach der Visite der Argonauten, an dem die letzte große Panzerschlacht im Zweiten Weltkrieg stattfand und an dem sich später das Hauptquartier der Nationalen Volksarmee der DDR befand.
4
Vgl. Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 5, Stuttgart 1998, S. 866f. und Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 7, Stuttgart 1999, S. 1091f.
89
Text als Klangmaterial Nach dieser Orientierung wird der Leser sogleich mit dem Sog der Aneinanderreihung von detaillierten Eindrücken am Ufer konfrontiert (V. 3-18). Norbert Otto Eke bezeichnet jenes als »Ausgangspunkt einer archäologischen Spurensicherung, die Schicht um Schicht mit der sich durch die Geschichte ziehenden Destruktivität den mythischen Untergrund der Verkehrsformen zwischen Mensch und Natur wie der Menschen untereinander freilegt«5. Die naturzerstörenden Abfälle der Zivilisation, wie »Keksschachteln Kothaufen FROMMS / ACT CASINO / Die zerrissenen Monatsbinden« (V. 6-8), die durch die Häufung des Konsonanten »k« in der Aussprache hart wirken, vermischen sich mit Elementen des Medeamythos. Die »Weiber von Kolchis« (V. 9) und Jason, der durch das morsche Heck seines Schiffes ›Argo‹ erschlagen wurde und so den Tod unter dem eigenen Schiff fand 6 , werden angesprochen. Durch die Wortwahl entsteht eine trostlose Kulisse von Schmutz, Verrottung, Tod, Sexualität und Destruktion, die durch die Einsprengsel mit mythischem Inhalt zunächst diffus wirkt. Dabei ist »[d]ie schäbige Gegenwart [...] mit der mythologischen Archaik durch Blut – Vergewaltigung, Geburt, Tod – verbunden, über alle historischen Zäsuren und Fortschritte hinweg«7. Des Weiteren konstatiert Teichmann einen antithetischen Aufbau der Momentaufnahmen – Festes-Flüssiges, Lebendiges-Totes und Kultur-Natur –, die den Übergang vom Wasser zum Land markieren.8 Die in diesem Abschnitt in Versalien gedruckten Aussagen haben zum einen die Erhaltung – »DIESER BAUM WIRD MICH NICHT ÜBERWACHSEN« (V. 4) – beziehungsweise Schaffung von Leben, denn die folgenden Versalien lassen eine Ansprache während des Geschlechtsaktes erkennen, gemeinsam. Zum anderen haben sie die Verhinderung des Lebens zum Ziel, denn »FROMMS / ACT« (V. 6f.) ist eine Marke von Präservativen und die Anrede »ABER DU MUSST AUFPASSEN JA« (V. 10) lässt Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft vermuten. Diese Anrede löst sich jedoch in der vierfachen, unmittelbaren Wiederholung »JA JA JA JA« (V. 11) des zunächst als Frage anmutenden »Ja« auf und wandelt sich zu Ausrufen beziehungsweise Stöhnen während des Aktes. Des Weiteren wird mit »SCHLAMMFOTZE SAG ICH ZU IHR DAS IST MEIN MANN / STOSS MICH 5
Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 195.
6 7
Vgl. Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 1, Stuttgart 1996, S. 1063f. Schulz, Genia: Medea. Zu einem Motiv im Werk Heiner Müllers, in: Berger,
8
Renate/Stephan, Inge (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln/ Wien 1987, S. 241-264, S. 251. Vgl. Teichmann, Klaus: Der verwundete Körper. Zu Texten Heiner Müllers, Freiburg 1986, S. 199.
90
Verkommenes Ufer KOMM SÜSSER« (V. 12-13) eine gewalttätige und abwertende sprachliche Ebene erreicht. Die Verbindung des vom Ufer stammenden Schlamms (vgl. V. 6) und des Vulgärausdrucks für das weibliche Geschlecht degradiert dieses zu einem Teil der verrottenden Szenerie. Die Eifersucht, die in Vers 12 anschlägt, scheint sich gegen eine andere Frau zu richten, die der ersten den Mann streitig machen will. Nach Sue Ellen Case überführt in dieser Passage Müller »die sexistische Beleidigung in eine alltägliche Bezeichnung der Ehe und schließlich in die Sprache einer Sexarbeiterin. Die Ehe ist so mitten in einem Sprachfeld der Herabwürdigung und Schmähung angesiedelt.«9 Hierbei lässt sich inhaltlich eine Parallele zur Nebenbuhlerin Medeas, Kreusa, ziehen. Die Aufforderung »STOSS MICH KOMM SÜSSER« richtet sich wiederum an den Mann, den Schwerpunkt der Beziehung zwischen beiden Geschlechtern bildet die Sexualität, die mit der Erschlagung Jasons durch die Argo ihr Ende findet. Das Schiff wird dabei in zwei aufeinanderfolgenden Relativsätzen als ›nicht mehr benötigt‹ und ›wartend‹, als »Kotplatz der Geier« charakterisiert und somit als Teil des ›Verkommenen Ufers‹. Auch im dritten Teil des Textes (V. 19-32) spielen die Geschlechterbeziehungen die Hauptrolle. Diesmal bezieht sich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen jedoch auf alltägliche Situationen in der Gegenwart. Müller äußert sich zur dargestellten Mobilität der Männer in den Zügen wie folgt: »So unverstellt konnte man die Großstadt nur aus der Provinz sehen, als gelegentlicher Besucher. Das war 1949. Meine erste Berlin-Erfahrung war die SBahn, besonders die Ringstrecke, auf der man immer den gleichen Kreis durch Berlin und um Berlin herum fahren konnte.«10 Während die Männer – unter Verweis auf ihr Geschlecht – auf dem Weg zum Arbeitsalltag sind, sind ihre Frauen – pejorativ »Weiber« genannt (V. 22) – für die Essenszubereitung, den Haushalt und die Geburt der Kinder zuständig. Das hier gezeichnete Familienbild ist, wie schon der zweite Teil des Textes, von Sexualität und Schmutz, Erbrochenem und Exkrementen geprägt, aus dem Alkoholrausch – »Schnaps ist billig« (V. 27) – und Träume von einem fremden Ort zur kurzzeitigen Flucht verhelfen. Das Gebären der Kinder wird als Ausstoßen (V. 25) empfunden, als Auflehnen gegen den Tod, der sich im »Anmarsch der / Würmer« (V. 25f.) abzeichnet, nach Eke der Vorgang einer »endlos sich reproduzierenden entleer-
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Case, Sue Ellen: Medea, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.):
Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 236260, S. 258. 10 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 250.
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Text als Klangmaterial ten Geschichte«11. Die Geburt ist jedoch gegen Ende des Abschnitts auch hier mit dem Tod der ›Weiber‹ und Leichenhallen (V. 32) verbunden. Im vierten Abschnitt erhalten der Tod und die Rolle des Opfers weiteren Raum und erscheinen im geschichtlich-politischen Kontext. Die in Versalien gedruckten Verse »EINIGE HINGEN AN LICHTMASTEN ZUNGE HERAUS / VOR DEM BAUCH DAS SCHILD ICH BIN EIN FEIGLING« (V. 36-38) erinnern zum einen an die öffentliche Bloßstellung von Menschen mittels Zurschaustellung ihrer ›Vergehen‹ auf Schildern im nationalsozialistischen Regime, zum anderen zitiert Müller hier wörtlich aus seinem eigenen Werk »Traktor«12, in dem im Rußlandfeldzug ein deutscher Soldat, der Felder nicht verminen will, als Verräter hingerichtet wird. Mit der Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkriegs, die sich nicht mehr selbst ins Gedächtnis der Überlebenden bringen können (V. 33f.), erfolgt der Hinweis, dass sie »von den Überlebenden beschissen« (V. 35), also verdrängt wurden, und dass aus ihrem Leiden keine Konsequenzen für späteres Handeln und den Fortgang der Geschichte gezogen wurden. Der letzte Teil des Textes (V. 39-41) lenkt den Blick des Lesers zurück zum ›Verkommenen Ufer‹ beziehungsweise auf den Grund des Sees, wobei Medea nun explizit genannt wird. Bei dem Blick auf den Grund des Sees wird mit dem Halten des zerstückten Bruders auf den Verrat Medeas an ihrem Volk und ihrer Familie hingewiesen und mit der Zuschreibung »Die Kennerin / Der Gifte« (V. 40f.) ihr weiteres gewalttätiges Handeln im Voraus angedeutet, so wie es sich dann im zweiten Block des Triptychons, »Medeamaterial«, erfüllt. Bettina Gruber sieht hier eine Verschiebung der Aktivität, die im dritten Abschnitt den Männern durch die Mobilität in den Zügen zugeschrieben wurde13, hin zur Frau, die sich zuvor – im Bild der ›Weiber‹ – passiv um Haushalt und Kinder kümmerte und sich nun in der Figur der Medea als aktiv handelnder Part konstituiert. Neben dem Selbstzitat aus »Traktor« und der Verarbeitung des Medea-Stoffes in Müllers Drama »Zement«, in dem die weibliche Figur Dascha im Abschnitt »Medeakommentar« mit Medea verglichen wird14, sowie auch im »Medeaspiel« (1974), in dem Medea als ans 11 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 197. 12 Müller, Heiner: Traktor, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 483-504, S. 485. 13 Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 119. 14 Der Mythos wird in »Zement« vom russischen Revolutionär Iwagin wie folgt vorgetragen: »Medea war die Tochter eines Viehhalters in Kolchis. Sie liebte den Eroberer, der ihrem Vater die Herden wegnahm. Sie war sein Bett und seine Geliebte, bis er sie wegwarf für ein neues Fleisch. Als sie vor
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Verkommenes Ufer Bett gefesselte und sich nach einem gewaltsamen Geschlechtsakt und nach der darauf folgenden Geburt befreiende Todesbringerin in einem lautlosen Pantomimespiel erscheint15, lassen sich ausgehend von Müllers ›Verkommenem Ufer‹ Verbindungen zur Medea-Tragödie von Euripides, in der sie – nach Zweifeln und Zaudern16 – wahrscheinlich erstmals ihre Kinder aus Rache an Jason tötet17, und anderen Bearbeitungen des Medea-Mythos ziehen. Hingewiesen sei auch auf die Bearbeitung von Seneca, in der Medea in ihrer Unschlüssigkeit ob der Durchführung des Kindsmordes dargestellt wird18, ebenso wie auf die Medea-Interpretationen von Pierre Corneille19, Friedrich Wilhelm Gotter, bei dem Medea vor Wut über die Ähnlichkeit der Kinder zu ihrem Vater ihre Mutterliebe vergisst20, Friedrich Maximilian von Klinger, bei dem Medea sich in ihrer Wut
seinen Augen die Kinder zerriß, die sie ihm geboren hatte und in Stücken ihm vor die Füße warf, sah der Mann zum erstenmal, unter dem Glanz der Geliebten, unter den Narben der Mutter, mit Grauen das Gesicht der Frau.«, in: Müller, Heiner: Zement, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 379-467, S. 442. 15 »Projektion: Tötungsakt. Die Frau nimmt ihr Gesicht ab, zerreißt das Kind und wirft die Teile in die Richtung des Mannes. Aus dem Schnürboden fallen Trümmer Gliedmaßen Eingeweide auf den Mann.«, in: Müller, Heiner: Medeaspiel, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 1. Die Gedichte, Frankfurt am Main, S. 177. 16 »Nicht geb ich zaudernd meine Kinder her, damit / Eine noch feindlichere Hand sie mordete. / Es gilt, sie müssen sterben; und, muß dieses sein, / Will ich sie selbst ermorden, ich, die sie gebar!«, in: Euripides: Medea, in: ders.: Sämtliche Tragödien in zwei Bänden, nach der Übersetzung von J. J. Donner, Stuttgart 1958, S. 185-233, S. 227. 17 Vgl. Lütkehaus, Ludger: Mythos Medea. Texte von Euripides bis Christa Wolf, Stuttgart 2007, S. 20. 18 »Warum, o Mut, wankst du? Warum benetzen Tränen das Antlitz? Und warum zieht der Zorn die Schwankende bald hierin, die Liebe bald dorthin? Zwiespältige Glut reißt die Unschlüssige mit sich fort […]«, in: Seneca: Medea, in: ders.: Sämtliche Dramen. Lateinisch und Deutsch, übersetzt und erläutert von Theodor Thomann, Zürich/Stuttgart 1961, S. 239-311, S. 305. 19 »Er raubt euch mir, und ich will euch ihm rauben. / Doch ach, mein Mitleid regt sich abermals und wagt es mir zu trotzen, / Nichts führ’ ich aus, und meine Seele, hin und her gerissen, / Bleibt unentschlossen zwischen diesen Leidenschaften.«, in: Corneille, Pierre: Medea, in: Schondorff, Joachim (Hg.): Theater der Jahrhunderte. Medea, München/Wien 1963, S. 111-160, S. 152. 20 »Es ist die Natterbrut Jasons! – / In ihren Adern klopft sein Blut – / Sein heuchlerisches Lächeln schwebt / Um ihren Mund […].«, in: Gotter, Friedrich Wilhelm: Medea, in: ders.: Gedichte, Bern 1971, S. 485-518, S. 505.
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Text als Klangmaterial von ihrer Mutter Hekate zur Tat anstiften lässt21, Franz Grillparzer, der Medea über eine mögliche Zuneigung ihrer Kinder zu Kreusa erzürnen lässt22, sowie Hanns Henny Jahnn, bei dem Medeas Herkunft als Barbarin, ihre Einsamkeit in der Fremde und ihr bei Jason Verschmähung bewirkendes Altern23 stark in den Vordergrund rücken. Auch die Erzählung »Das Argonautenschiff« von Anna Seghers und das Gedicht »The Waste Land« von T. S. Eliot können in Bezug zu Müllers Triptychon gesetzt werden, wie er auch selbst in seiner Autobiographie konstatiert.24 Aufgrund dieser vielfältigen intertextuellen Verweise sieht Genia Schulz Müllers Arbeit als eine »textuelle Verwertungsmaschine«25, für Hendrik Werner ist der Autor gar ein »radikaler Intertextualist«26. So findet beispielsweise das letzte Bild des Textes »Verkommenes Ufer« – Medea, die ihren Bruder wie »eine Mutter ihr Kind, wie eine Liebende den Geliebten, hält«27 – seine Entsprechung bei Grillparzer, in dessen Drama Medea Jason daran erinnert, dass sie für ihn ihren Bruder geopfert hat: »Weißt du, wie ich den Bruder hielt im Arm / Der todesmatt von deinem grimmen Streich, / Bis er sich losriß von der Schwester Brust / Und deinem Trotz entrinnend Tod in Wellen suchte?«28 In der euripidischen Tragödie übt Medea, die ihre Heimat für Jason verriet, nach seinem Verrat an ihr Rache, 21 Vgl. Klinger, Friedrich Maximilian von: Medea in Korinth, in: ders.: Sämmtliche Werke. Zweiter Band, Stuttgart und Tübingen 1842, S. 149-224, S. 212. 22 »Hierher, ihr Kinder, hier! – Was steht ihr dort, / Geschmiegt an meiner Feindin falsche Brust?«, in: Grillparzer, Franz: Das Goldene Vließ. III. Medea, in: ders.: Dramen 1817-1828, Frankfurt am Main 1986, S. 305-390, S. 363. 23 »Mir aber wird / die Macht zum Häßlichen gegeben. / Die Kraft zum Schönen ist verausgabt. / Jugend verlieh ich Jason, dich ich selber / gebar. Und Schönheit, meinem Schoß entsprungen, / itzt am Verfaulen ist sie auch.«, in: Jahnn, Hans Henny: Medea, in: ders.: Werke und Tagebücher, Dramen I, Hamburg 1974, S. 453-528, S. 494. 24 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 250. 25 Schulz, Genia: Medea. Zu einem Motiv im Werk Heiner Müllers, in: Berger, Renate/Stephan, Inge (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln/ Wien 1987, S. 241-264, S. 258. 26 Werner, Hendrik: Im Namen des Verrats. Heiner Müllers Gedächtnis der Texte, Würzburg 2001, S. 244. 27 Ebd., S. 251. 28 Grillparzer, Franz: Das Goldene Vließ. III. Medea, in: ders.: Dramen 18171828, Frankfurt am Main 1986, S. 305-390, S. 345. Vgl. auch: Schulz, Genia: Medea. Zu einem Motiv im Werk Heiner Müllers, in: Berger, Renate/Stephan, Inge (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln/Wien 1987, S. 241-264, S. 258.
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Verkommenes Ufer so wie auch Müller die Rache im zweiten Block des Triptychons, »Medeamaterial«, mit der Vergiftung Kreusas und der Tötung der gemeinsamen Söhne darstellt. Mit den Worten »Heute ist Zahltag Jason Heute treibt / Deine Medea ihre Schulden ein« (V. 162f.) stellt Müllers Medea Jason vor die vollendeten Tatsachen ihrer blutigen Rache und bedauert den Verrat und das Verlassen ihrer Heimat Kolchis: »Wär ich das Tier geblieben das Ich war / Eh mich ein Mann zu seiner Frau gemacht hat / Medea die Barbarin jetzt verschmäht« (V. 170-172). Müller beschreibt die sich emanzipierende Medea in »Medeamaterial« nicht in ihrer Unschlüssigkeit, nicht als liebende Mutter (»Nimm Jason was du mir gegeben hast / Die Früchte des Verrats aus deinem Samen«, V. 92f; »Ich war die Milchkuh eure Fußbank jetzt«, V. 100; »Die Mutter täuscht ihr nicht / Schauspieler seid ihr Lügner und Verräter / Bewohnt von Hunden Ratten Schlangen seid ihr«, V. 183-185), sondern, in einer sehr konzentrierten Form des Stoffes, als Barbarin in der Fremde, die sich von ihrer Rolle als Gebärende durch Ermordung der Kinder befreit – gewissermaßen eine Rücknahme der Geburt – und in ihrer Eigenständigkeit beweist: »O ich bin klug ich bin Medea Ich« (V. 187). Sabine Wilke sieht in diesem Aktivwerden eine Befreiung von Jason als Kolonisator des Frauenkörpers: »Medea erkennt, daß ihr persönliches Schicksal tiefergehenden Strukturen zu verdanken ist, dialektisch mit Eigentumsverhältnissen und patriarchalen Denkstrukturen zusammenhängt, die sie selbst verinnerlicht hat und denen sie selbst erlegen war.«29 Ebenso stellt Marianne Schuller fest: »›Unterbrechung‹ ist das große Rachethema Medeas; Rücknahme des Gegebenen das große Motiv ihres Monologs: Die Reproduktionsfunktion Mutter unterbrechen, die Rücknahme der Liebesgaben, die den Verrat zum Preis haben.«30 Im ersten Teil des Triptychons stellt Genia Schulz des Weiteren den Bezug zu T. S. Eliots 433-zeiligem Gedicht »The Waste Land« (1922) her, in dem die Themse als Ort der Hoffnungslosigkeit beschrieben wird: »The river bears no empty bottles, sandwich papers, / Silk handkerchiefs, cardboard boxes, cigarette ends / Or other testimony of summer nights. The nymphs are departed.« 31 Schulz
29 Wilke, Sabine: Poetische Strukturen der Moderne. Zeitgenössische Literatur zwischen alter und neuer Mythologie, Stuttgart 1992, S. 69f. 30 Schuller, Marianne: MedeaText. Nach Heiner Müller, in: Kämmerer, Annette/Schuchard, Margret/Speck, Agnes (Hg.): Medeas Wandlungen. Studien zu einem Mythos in Kunst und Wissenschaft, Heidelberg 1998, S. 177-189, S. 185. 31 Eliot, T. S.: The Waste Land, in: ders.: Gesammelte Gedichte. 1909-1962, hg. und mit einem Nachwort versehen von Eva Hesse, Frankfurt am Main 1988, S. 83-127, S. 96.
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Text als Klangmaterial stellt diesem Text das ›Echo‹ des ›Verkommenen Ufers‹ entgegen: »Fischleichen / Glänzen im Schlamm Keksschachteln Kothaufen FROMMS / ACT CASINO / Die zerrissenen Monatsbinden Das Blut / Der Weiber von Kolchis«. Sie begründet dies, neben den nachvollziehbaren textuellen Entsprechungen, mit Müllers Aussage in seiner Autobiographie, dass er das Stück nicht ohne »The Waste Land« hätte schreiben können. 32 Ebenso dient Helen Fehervary Müllers langjährige Beschäftigung mit Anna Seghers’ Werken, um auf intertextuelle Bezüge zu ihrer Erzählung »Das Argonautenschiff« verweisen zu können.33 Tatsächlich findet sich das in der Erzählung und schon im Titel genannte dominante Motiv des Schiffes, das im Baum hängt34, bei Müller als »das nicht mehr / gebrauchte / Schiff / Das im Baum hängt Hangar und Kotplatz der Geier im / Wartestand« (V. 14-18) wieder. Jason, der bei Seghers der Protagonist der Erzählung ist, während Medea erst gegen Ende erscheint, findet wie im ›Verkommenen Ufer‹, wo ihm »die Argo den Schädel zertrümmert« (V. 14), den Tod durch sein eigenes Schiff: »Ein Ast schwang hoch, weil eins der Seile gerissen war, und gelbe Wogen von Blättern stoben über den Mann am Boden. [...] Der Sturm brach an. Er sprengte die letzten Seile mit einem Stoß, der ganze Schiffsrumpf krachte über Jason zusammen. Der ging mit seinem Schiff zugrunde, wie es das Volk seit langem in Liedern und Märchen erzählte.«35
Für Müller stellt der Tod Jasons, des Kolonisators, den »Übergang vom Mythos zur Geschichte«36 dar, denn »[m]it der Kolonisierung beginnt die europäische Geschichte, so wie sie bisher gelaufen ist. Daß das Vehikel der Kolonisierung den Kolonisator erschlägt, deuÜbers.: »Ihr Lauf führt keine leeren Flaschen, kein Butterbrotpapier, nicht / Seidne Schneuztücher, Pappschachteln oder Kippen, noch anderen / Niederschlag der Sommernacht. Die Nymphen räumten das Feld […]«, in: ebd., S. 97. 32 Vgl. Schulz, Genia: Ezra Pound, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 160-164, S. 160. 33 Vgl. Fehervary, Helen: Anna Seghers, in: ebd., S. 134-136, S. 136. 34 »Dort wurden schon in alten Zeiten an einzelnen Bäumen berühmte seltsame Schiffe aufgehängt, die den Ruhm des Landes begründet haben.«, in: Seghers, Anna: Das Argonautenschiff, in: dies.: Erzählungen. Band 2, Berlin-Ost 1963, S. 5-22. S. 14. 35 Ebd., S. 22. 36 Was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Ein Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek über VERKOMMENES UFER, den Voyeurismus und die Aufführungspraxis in beiden deutschen Staaten, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 130-141, S. 130.
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Verkommenes Ufer tet auf ihr Ende voraus. Das ist die Drohung des Endes, vor dem wir stehen«37. Eine konkrete Zuweisung der Rollen der mythischen Figuren in der Gegenwart, beispielsweise Medea als DDR-Bürgerin, die sich in den Westen locken lässt, als in einen russischen Besatzer verliebte Tschechin oder als eine mit einem Amerikaner liierte Vietnamesin, wie von Jenny und Karasek in einem Interview vorgeschlagen, lehnt Müller ab. Seine Medea kann alles zugleich sein, nämlich »[w]as Sie wollen«38. Sascha Löschner konstatiert in Bezug zum Kolonisationsprojekt Jasons in Verbindung mit Müllers Aussagen zu seinem Werk, dass »der Gründungsakt der abendländischen Gesellschaft [...] auf Verrat und Mord«39 beruhe. Der Tod – durch Mord oder andere Gegebenheiten verursacht – durchzieht die Geschichte dieser Gesellschaft und fordert immer mehr Tote, von den Frauen von Kolchis über Frauen in den Leichenhallen bis hin zu den Opfern der Kriege. Aufgrund dieser Äquivalenz zwischen Mythos und Geschichte wird deutlich, dass die bei der Gesellschaftsgründung vorhandenen Verhältnisse weiterhin existieren, die mythische Vorgeschichte weiterhin präsent bleibt und keine »blutrünstige[r] Geschmacklosigkeit[en]«40 der Vergangenheit darstellt. Als das Triptychon aufgeführt wurde, zog es aber die genannte Kritik nach sich. So urteilte Wolfgang Ignée in der Stuttgarter Zeitung: »Erschreckend wie Text und Darstellung gleichsam nebeneinander her laufen, wie wenig sie sich zu sagen haben. Müllers Stück kann von der Regie nicht zerstört und ›verschandelt‹ werden, weil eigentlich gar kein Stück vorhanden ist, sondern eben nur ›Material‹, in dem die Regisseure, ebenso herumtappend wie das Publikum, nach Realitätspartikeln und Anweisungen suchen, auf die sie eine Aufführung gründen könnten.«41
Gerade den Materialcharakter, der hier kritisiert wird, intendiert Müller mit seinem Text und bietet statt Anweisungen ein offenes Modell mit vielen Möglichkeiten der Inszenierung, wie beispielsweise 1983 die Darstellung der Medea mit Einkaufswagen und ihren Kindern als Hundefutterdosen in Bochum oder eine Peepshow, wie vom
37 Ebd., S. 131. 38 Ebd. 39 Löschner, Sascha: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 2002, S. 152. 40 Emmerich, Wolfgang: Der vernünftige, der schreckliche Mythos. Heiner Müllers Umgang mit der griechischen Mythologie, in: Hörnigk, Frank (Hg,.): Heiner Müller. Material, Göttingen 1989, S. 138-156, S. 152. 41 Wolfgang Ignée: Schlachtfest mit ›Material‹, in: Stuttgarter Zeitung, 25.04.1983, zitiert nach: Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 12.
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Text als Klangmaterial Autor selbst in der Anmerkung zum Text42 vorgeschlagen. Denn das Selbstverständnis Müllers als Schriftsteller, die Aufhebung der Autorenrolle sowie sein Verständnis von Geschichte als Material und die Darstellung einer Gesellschaft im Umbruch – bei Eke »zwischen bürgerlich-kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaft« 43 – in »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten« erfordern einen neuen Umgang mit dem Theater, den Bruch mit seinen Konventionen und mit den klassischen Literaturgattungen.
4.2.2 PASSANTENSTIMMEN AUS BERLIN – ANALYSE DES HÖRSTÜCKS Das 1984 im Hessischen Rundfunk urgesendete Hörstück »Verkommenes Ufer« ist das erste Werk von Heiner Goebbels, dem ein Text von Heiner Müller zugrunde liegt. Der Bereich der Sprache, der eng mit dem Bereich der Geräusche und Klänge verzahnt ist, konstituiert sich ausschließlich aus in Berlin aufgenommenen Passantenstimmen. Männer (in der Analyse als M abgekürzt)44, Frauen (F) und Kinder (K) verschiedenen Alters, verschiedener Herkunft und mit unterschiedlichen Sprechhaltungen lesen spontan auf der Straße, beim Warten »in Bahnhöfen, Kneipen, Flipperhallen, in der Uund S-Bahn«45, bei Tätigkeiten ihres Alltags also, den ersten Teil von Müllers Triptychon vor. Das Mikrofon wird dabei Zeuge der – wie es scheint – ersten Lesererfahrung von »Verkommenes Ufer«, denn viele der Passanten stocken, machen Fehler, wiederholen, wundern sich, fragen nach. Sie sprechen zwar die einzelnen Wörter des Textes aus, doch oft mit einem fragenden Unterton, sodass der Hörer den Eindruck erhält, sie wüssten nicht, was sie dort lesen und welchen Sinn diese Worte machen. Das Hörstück beginnt zunächst mit einem dem Anschein nach computergenerierten, abstrakten, tiefen und brummenden Geräusch, das an ein Wabern und Quaken erinnert. Dazu gesellt sich ein hohes, leises Sirren, das zusammen mit dem genannten tiefen Geräusch eine Landschaft am Wasser vorstellbar macht. Die Geräusche münden in die Ansage »Landschaft mit Argonauten«, gesprochen durch die ersten Passanten, was die Assoziation bestätigt. Dieser Teil des Titels wird zunächst rückwärts abgespielt, dann 42 Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 84. 43 Ebd., S. 24. 44 Vor allem die Stimmen der Männer sind teilweise nur schwer unterscheidbar, sodass die Zuordnung dieser keinen Anspruch auf vollständige Erfassung erheben kann. 45 Goebbels, Heiner: Expeditionen in die Textlandschaft: Sprache auf dem Theater, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 59-61, S. 61.
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Verkommenes Ufer mehrmals vorwärts als ›Loop‹, ebenso ist ein lautes und übersteuertes »Ollah«, das zu einem »Hallo« wird, zu hören, das jedoch nicht im Text enthalten ist und als Ausprobieren des Mikrofons durch einen Passanten gesehen werden kann. Diese ›Begrüßung‹ des Hörers vermittelt schon die Situation, in der sich dieser beim Hören wiederfinden wird, nämlich in einer Straßenszenerie voller Verkehrsgeräusche und verschiedener sprechender Personen, die sich nicht wie ausgebildete Studiosprecher auf den zu lesenden Text vorbereitet haben, ihn nicht fehlerfrei über die Lippen bekommen und deren Nebengeräusche nicht der digitalen Schere geopfert werden. Bei der Verlesung des gesamten Titels stolpern einige Stimmen bereits beim Namen Medea, ein älterer Herr (M3) mit leichtem Dialekt fragt ungläubig: »Was?« Dieses Interrogativpronomen erfährt eine sehr starke Betonung, indem es als ›Loop‹ mehrfach stakkatoartig in einer Schleife wiederholt wird und schließlich wie Hundegebell klingt. Der vorgelesene Text Müllers wird in Passagen montiert. Die Schilderung des Ausgangspunktes, eines Sees, der etwa 40 Kilometer östlich von Berlin liegt, den Passanten jedoch nicht bekannt zu sein scheint, vollzieht sich in polyphonen, leicht zeitversetzten Überlagerungen von meist zwei bis drei Stimmen. Diese werden ab 03:08 (Minuten:Sekunden) vom abstrakten Geräusch des Anfangs begleitet, dem punktuell elektronische Geräusche, die an das Zischen von Feuerwerkskörpern erinnern, beigemischt sind. Parallel kommen Stimmen hinzu, die lauter werdend »See bei Straußberg« lesen, wobei die Stimme einer scheinbar betrunkenen Frau (F1) durch ihre Sprachmelodie und eine rauchige Stimmfarbe stark in den Vordergrund rückt. Währenddessen verdichten sich die Geräusche zu einem neuen Rhythmus, der den Fahrgeräuschen eines Zuges ähnelt (04:17-04:32), und überlagern sich mit der nächsten Textzeile »Verkommenes Ufer Spur«, bei der das Wort »Spur« viel lauter erscheint als das zuvor Gesagte. Damit gräbt sich die ›Spur‹ der Argonauten stark in das Gedächtnis des Hörers ein und bleibt bis zum Ende des Hörstücks der einzige – scheinbar bei der Abmischung bewusst gemachte – Lautstärkenunterschied in einem gelesenen Satz. Während der folgenden Passagen fallen immer wieder Lesefehler und Versprecher der Passanten auf. So werden beispielsweise »Schilfsborsten« zu »Schiffsborsten« (M10, 04:52) und »Geäst« zu »Gerät« (M11, 04:58). Wenn man als Hörer den Text nicht parallel zum Hören mitverfolgt, bleiben diese Fehler zunächst unbemerkt, bis eine andere Stimme den Text ohne Fehler liest. Bei Textunkenntnis bleibt dem Hörer jedoch die Unsicherheit, welche Version die richtige ist. Ab 04:46 tauchen als Nebengeräusche punktuell immer wieder Töne einer Mundharmonika auf (04:46, 04:53, 04:59, 05:05, 05:12, 05:23, 05:31-05:35, 07:37), die beim vorletzten Mal vom Gesang in einer fremden Sprache begleitet werden, was auf einen
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Text als Klangmaterial Straßenmusiker in der unmittelbaren Umgebung der Passanten und somit abermals auf eine Lokalisierung der Szenerie – Straße oder Bahnhofsumgebung – schließen lässt. Ebenso verhält es sich mit starkem natürlichen Hall, der über einigen Stimmen liegt (zum Beispiel bei 05:41) und U-Bahnhöfe vermuten lässt. Die in Versalien gedruckten Passagen haben auch im Hörstück eine gesonderte Stellung. Dadurch, dass an diesen Stellen zum Teil eine bewusste Reduzierung der Stimmenvielfalt vollzogen wird (05:02-05:07, 05:2505:28), treten sie aus dem Stimmenkonglomerat stärker hervor. Die Sequenz »ABER DU MUSST AUFPASSEN JA / JA JA JA JA / SCHLAMMFOTZE SAG ICH ZU IHR DAS IST MEIN MANN / STOSS MICH KOMM SÜSSER« hingegen unterscheidet sich von den anderen hervorgehobenen Passagen. Das sich wiederholende »JA« wird nicht, wie im Text, nur fünf Mal aneinandergereiht, sondern wird zunächst durch ›Loops‹ von M19, F1 und M2, dann durch ›Loops‹ unzähliger männlicher und weiblicher Stimmen, die in ihrer Intensität an einen Insektenschwarm erinnern und sich – immer schneller und lauter werdend – zu einem unangenehm hohen und spitzen Geräusch verdichten, das plötzlich abbricht, wiedergegeben (05:4806:57). Die folgende Passage wird zunächst in einem ersten Durchgang ohne Überlagerungen von jeweils einzelnen Stimmen vorgelesen (M24, M25), bis ab »Das Erbrochene« verschiedene Kinderstimmen beigemischt werden (07:21-07:37). In einem zweiten Durchgang werden Teile der Passage von Stimmen verlesen, die von starken Akzenten geprägt sind (K4, F9, M29), die Wörter stockend, Silbe für Silbe und mit vielen Fehlern lesen. Während ein Kind (K5), das des Lesens noch nicht vollständig mächtig ist, den Abschnitt über das Verhältnis der Geschlechter im Alltag vorliest, kommen gegen Ende des Abschnitts stilisierte, sphärische Klänge hinzu, die gedehnt sind und denen Hall beigemischt wurde. Sie ähneln den Geräuschen eines fahrenden Zuges und wurden bereits bei 08:45 zum ersten Mal angewendet. Der vierte Abschnitt des Textes erhält eine Sonderstellung. Denn schon bei 07:40 taucht als Einsprengsel zum ersten Mal der Satzfetzen »Das sind sie« auf, der bei 13:31 nochmals wiederholt wird und schließlich mit dem Anschluss »Erde von den Überlebenden beschissen« (13:50) seine Auflösung findet. Mit dem Einsprengsel erfährt die Chronologie der Textwiedergabe einen Bruch, da »Das sind sie« abseits von der sonst praktizierten Wiederholung einen großen Sprung nach vorne im Text darstellt. Mit dieser Sonderstellung rücken die Opfer, »die Toten«, in den Fokus des Hörstücks. »Die Toten starren nicht ins Fenster / Sie trommeln nicht auf dem Abort« wird insgesamt drei Mal wiederholt, jeweils mit leicht zeitversetzten, polyphonen Überlagerungen von zwei Stimmen (M32 und F10, M33 und M32, M34 und M35). Dazwischen ist auch die Stim-
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Verkommenes Ufer me von F1 zu hören, die im deutlich betrunkenen Zustand den Text bruchstückhaft vorliest und mit eigenen, textfremden Worten ergänzt (»Und die Toten sind [...] gesprungen. Sie trommeln nicht mehr auf unserem Grab [...]«, 13:04-13:23), was dem Abschnitt nochmals Intensität verleiht und das individuelle Verständnis dieser Frau hinsichtlich der Textpassage wiedergibt. Ebenso werden die beiden in Versalien gedruckten Verse »EINIGE HINGEN AN LICHTMASTEN ZUNGE HERAUS / VOR DEM BAUCH DAS SCHILD ICH BIN EIN FEIGLING« durch eine zunächst fünffache Wiederholung von »EINIGE«, dann durch die zweifache Wiederholung von »EINIGE HINGEN AN« und »ZUNGE HERAUS« hervorgehoben, gesprochen von einer jungen männlichen Stimme mit Akzent (M37, 14:0314:27). Sie werden außerdem durch die sich steigernde Wiederholung »EINIGE«, »EINIGE HINGEN«, »EINIGE HINGEN AN« (M38, 14:32-14:40), sowie durch das von verschiedenen männlichen Stimmen gesprochene Einsprengsel »ZUNGE HERAUS« betont, das bei 15:01 mit einem sich ziehenden, gerollten »r« stark in den Vordergrund tritt. Genauso verhält es sich mit dem zweiten Vers, der stückweise (»VOR«, »VOR DEM BAUCH DAS SCHILD« (M41), »VOR DEM BAUCH DAS SCHILD ICH BIN EIN FEIGLING«, »ICH«, »ICH BIN EIN FEIGLING« (M37), »ICH BIN EIN FEIGLING« (M41)) und ohne Überlagerungen zur Sprache kommt. Die Textpassage ist durch diese Darstellung akustisch sehr einprägsam und erhält eine Schlüsselposition. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das O-Ton-Hörstück von Stimmen jeglicher Couleur getragen wird. Knapp 50 männliche, weibliche und Kinderstimmen, alte und junge Stimmen, zum Teil mit Dialekten oder Akzenten, lesen teilweise mit Fehlern, mit falschen Betonungen und meist langsam den ihnen vorgelegten Text. Die Geschwindigkeit macht die Unkenntnis des Textes und die ungewohnte Lesesituation deutlich. Die Passanten lesen teils unvoreingenommen, teils verlegen und teils verständnislos, wenn sich manche Wörter ihrer Kenntnis entziehen oder das Gelesene als anstößig oder peinlich empfunden wird.46 Die unterschiedlichen Stimmen spiegeln die Vielfalt der in Berlin lebenden Gesellschaft wieder, die sich aus verschiedenen Geschlechtern, Altersgruppen und Nationalitäten zusammensetzt. Auffallend ist dabei, dass der Anteil der Männerstimmen im Hörstück überwiegt und damit auch das Verhältnis der Geschlechter im Text hinsichtlich ihrer Aktivität beziehungsweise Passivität wiedergibt. Auch eröffnen die Männerstimmen das Hörstück. Die letzte Stimme aber, die zu hören ist, gehört einer jungen Frau (F2), die bereits in den Sequenzen am Anfang zu
46 Hier sei beispielsweise auf den Kommentar »ojojajaj« von M18 bei 05:45 hingewiesen.
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Text als Klangmaterial hören war (03:57) und nun überlegt, ruhig und klar die letzte Passage des Textes, »Auf dem Grund aber Medea den zerstückten / Bruder im Arm Die Kennerin / Der Gifte«, verliest und somit die mögliche Richtung des weiteren Verlaufs – die Rache Medeas – anzeigt. Die von Müller intendierte Darstellung der Omnipräsenz der Geschichte scheint den Berliner Passanten nicht bewusst zu sein, auch der Medea-Mythos scheint unbekannt, worauf die sehr oft hörbare Unsicherheit beim Lesen schließen lässt. Die Stadt Berlin ist dabei nicht nur vor dem Hintergrund des im Text dargestellten Schauplatzes – des bei Berlin gelegenen Sees – passend gewählt. Die zur Entstehungszeit des Hörstücks in Ost und West geteilte Stadt vergegenwärtigt besonders gut die Auswirkungen der Geschichte, die die Einwohner in der Gegenwart zu tragen haben, was ihnen in dieser Intensität jedoch nicht bewusst zu sein scheint. Die subtil eingesetzten Geräusche des Hörstücks lassen sich in die Kategorien ›Nebengeräusche‹, die als Verkehrslärm, Schritte oder Kinderschreie die Aufnahme begleiten und den Hörer auf deren Umgebung schließen lassen, und ›stilisierte Geräusche‹ einordnen, also Nebengeräusche, die durch verschiedene Effekte wie Verzerrung, Dehnen und Beimischung von Hall zu abstrakten oder sphärischen Klängen stilisiert werden. Letztere illustrieren beispielsweise das im Text gezeigte Bild des Sees, beeinflussen den Rhythmus und dienen der Strukturierung. In Teilen kann man diese Arrangements als eine Musikkomposition ansehen, Musik im eigentlichen Sinne wird in »Verkommenes Ufer« jedoch nicht eingesetzt. Sprache und Geräusch erscheinen als gleichwertig, was beispielsweise an der Lautstärke – da diese bei Vermischung von beiden Bereichen meist gleich ist – oder der textfreien Verwendung von Geräuschen deutlich wird. Des Weiteren wird Sprache punktuell losgelöst von Semantik eingesetzt, wie die rückwärts abgespielten Wörter »Hallo« und »Schnaps« zeigen, und wird manchmal auch, beispielsweise mit der Verdichtung des wiederholten »JA«, zum Geräusch. Die aufgenommenen O-Töne werden zum Teil einzeln eingesetzt, meist jedoch überlagern sich zwei oder mehrere Stimmen leicht zeitversetzt. Die Überlagerungen bieten weiche Übergänge bei der Vermischung oder beim Wechsel der Stimmen. An wenigen Stellen des Hörstücks werden jedoch auch harte Schnitte eingesetzt. Diese Stellen (05:46, 06:57, 07:57, 10:16) stimmen nicht mit den Enden von Textabschnitten überein, sondern werden aus dem vorliegenden fragmentarischen akustischen Material der O-Töne heraus gesetzt. Insbesondere sind Brüche auf der Ebene der Geräusche erfahrbar. So brechen beispielsweise die lauten, rhythmisch hämmernden Klänge (07:57) oder die stilisierten auf ›Zugrattern‹ aufbauenden Töne (10:16) abrupt ab und lassen den Hörer nicht
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Verkommenes Ufer sanft von einer zur nächsten Passage übergehen, sondern gleichen eher einem Aufrütteln und unvermitteltem Hineinwerfen in eine neue klangliche Umgebung. Daraus entsteht auch eine Dynamik, die bewusst Brüche herstellt und die Aufmerksamkeit des Hörers auf bestimmte Passagen lenkt. Die Konzeption von »Verkommenes Ufer« als O-Ton-Collage unter Verwendung von Nebengeräuschen und abstrakten Klängen vermittelt dem Hörer zum einen Unmittelbarkeit und leichte Identifikation mit den Alltagsstimmen der Gegenwart. Zum anderen verstört sie durch die teilweise ungewohnten Klänge beziehungsweise die Stilisierung bekannter Geräusche zu neuen Klängen sowie durch den nur schwer zu verstehenden Text. Diese Ambivalenz kann beim Hörer ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Spannung erzeugen.
4.2.3 MYTHOSVERSTÄNDNIS DER KOLLEKTIVEN STIMME – ERGEBNISSE Betrachtet man die akustische Umsetzung von »Verkommenes Ufer« im Hinblick auf den Originaltext, so lässt sich feststellen, dass Heiner Goebbels den gesamten Text ohne Auslassungen in seine Konzeption einbezieht und dass auch die Chronologie des Textes gewahrt wird, ausgenommen den Satzteil »Das sind sie«, der lange bevor das Hörstück zu diesem Textabschnitt gelangt, eingebaut wird und somit in den Fokus rückt. Mehrmalige Wiederholungen einzelner Satzteile oder Wörter unterbrechen den Sprechfluß nicht, sie lassen dem Hörer vielmehr Raum, sich in dem durch die Passantenstimmen wiedergegebenen Text zu orientieren, einzelne Teile besser zu erfassen und bei mehrmaliger Wiedergabe durch verschiedene Stimmen auch vielfältigere Assoziationen zu wecken. Mit der ausschließlichen Verwendung von O-Tönen im Bereich der Sprache von »Verkommenes Ufer« bezieht Goebbels Laien von vornherein in den Produktionsprozess mit ein und gibt ihnen somit die Möglichkeit, als ›Co-Produzenten‹ mitzuwirken. O-Töne werden im vorliegenden Hörstück zum bestimmenden Mittel, um Müllers Text wiederzugeben und bringen ihn in den Alltag des Hörers, wodurch der Text eine Aktualisierung erfährt. Diese Umsetzung von »Verkommenes Ufer« als O-Ton-Hörstück würdigte die Jury des Karl-Sczuka-Preises wie folgt: »Er öffnet damit einen neuen Weg, auf dem sich die Tradition der O-TonCollage mit der akustischen Analyse einer literarischen Vorlage verbindet. Der Text regt die musikalische Form an, und diese wirkt kritisch und illustrativ zu-
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Text als Klangmaterial gleich auf den Text zurück. Mit dieser Entscheidung würdigte die Jury eher das Risiko als die Perfektionierung experimenteller radiophonischer Methoden.«47
Dem ist hinzuzufügen, dass das O-Ton-Arrangement des vorliegenden Hörstücks durchaus eine Weiterentwicklung des O-Ton-Hörspiels darstellt. Sonst eher zur spontanen Meinungsäußerung in Hörspielen eingesetzt, werden die Original-Töne in »Verkommenes Ufer« zur Verlesung eines literarischen Werkes herangezogen. Sie werden Teil einer Komposition, indem sie geschnitten, in Endlosschleife als ›Loops‹ wiedergegeben, verzerrt und neu montiert werden. Gerade in dieser Bearbeitung sieht Heiner Goebbels die Herausforderung, wie in einem Interview in »Theater heute« deutlich wird: »Es ist [...] so, daß ich gerade im ›nicht-musikalischen‹ Bereich, im Geräuschhaften meine Mittel suche, um unentdecktes Material zu finden, auch weil mich die Formalisierung und Ästhetisierung von realistischen Geräuschen und Original-Tönen sehr interessiert.«48 Damit wird die Methode der ›musique concrète‹, die vor allem konkrete Geräusche zur Komposition verwendet, durch Goebbels auch auf den Bereich der Sprache in Form von O-Tönen erweitert. Die Verwendung der O-Töne in »Verkommenes Ufer« erleichtert seiner Meinung nach den Zugang zum Text, denn den Passanten »ist der Text genauso fremd wie uns – und damit verstehen wir ihn besser«49. Das Verständnis wird nicht durch vorbereitete und bereits interpretierende Betonungen eines ausgebildeten Studiosprechers gefördert, sondern durch die Differenziertheit der Stimmen der Laien im Leseprozess bei dem Versuch der selbständigen, anweisungslosen Texterfassung, wie es auch Goebbels’ Absicht war: »Bedeutungen und ihr Verständnis entstehen hier [...] zum einen durch die Präsenz des (geschriebenen und gelesenen) Textes und zum anderen durch den Klang, die Haltung, die Aussprache, das Alter, die Herkunft der Sprecher und durch die Semantik der sie umgebenden Geräusche.«50 Die Interpretation des Mythos wird von Goebbels der Stimme der Massen überlassen, gerade weil sie sich der Auswirkungen der Geschichte auf die eigene Situation und den Alltag nicht explizit bewusst sind. Ähnlich verstörend ergeht es dem Hörer, der von der
47 Naber, Hermann/Vormweg, Heinrich/Schlichting, Hans Burkhard: Akustische Spielformen, Von der Hörspielmusik zur Radiokunst. Der Karl-SczukaPreis 1955-1999, Baden-Baden 2000, S. 163. 48 Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 32. 49 Ebd., S. 23. 50 Goebbels, Heiner: Expeditionen in die Textlandschaft: Sprache auf dem Theater, in: ebd., S. 59-61, S. 61.
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Verkommenes Ufer Fülle an Textbruchstücken zunächst ›überschwemmt‹ wird, mit jeder weiteren Wiederholung jedoch auf hörbar gemachte Schwierigkeiten, die der Text seinen Lesern bereitet, stößt, immer mehr einzelne Bausteine erfasst, neue Einzelaspekte und Assoziationen erkennt, die sich in immer neuen Facetten zeigen. Müllers Text »entsteht dadurch mit jedem Hören von neuem und ergibt dennoch kein Ganzes« 51 , wie Olaf Schmitt treffend feststellt, der Text entfaltet durch die Collage der Gegenwartsstimmen eine neue Wirkung, er »gewinnt eine neue Realität«52 und schreibt sich in der Gegenwart fort.
51 Schmitt, Olaf: Heiner Goebbels, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 356-359, S. 358. 52 Heißenbüttel, Helmut: Akustische Literatur und literarische Akustik: Das Hörstück VERKOMMENES UFER, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 87-88, S. 88.
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4.3 Die Befreiung des Prometheus – Die Befreiung des Prometheus (HR/SWF 1985) 4.3.1 TEXTANALYSE Der Text »Die Befreiung des Prometheus«, der im gleichnamigen, von Heiner Müller und Heiner Goebbels gemeinsam konzipierten Hörstück bearbeitet wird, ist als Intermedium Teil des Dramas »Zement«, das wiederum auf Motiven des Romans »Zement« des russischen Schriftstellers Fjodor Gladkow (1883-1958) von 1925 basiert und 1973 vom Berliner Ensemble uraufgeführt wurde. »Zement« thematisiert die Anfangsjahre der Sowjetunion gegen Ende des Bürgerkriegs 1920/21, einer von Hunger geprägten Zeit des Übergangs vom Kriegskommunismus zur von Lenin eingeführten ›Neuen Ökonomischen Politik‹ (NEP)1, die liberaler ausgerichtet war und private Betriebe duldete, statt sie vollends staatlich zu kontrollieren. Der hauptsächliche Konflikt des Dramas entsteht aus der Entscheidung zwischen Stillstand beziehungsweise Versteinerung und Kurshalten in Richtung Fortschritt. Der ehemalige Schlosser und Regimentskommissar Gleb Tschumalow kehrt nach drei Jahren in seine Stadt zurück, wo er versucht, seine Frau Dascha zurückzuerobern und ein stillgelegtes Zementwerk wieder in Betrieb zu setzen. Die Figurenkonstellationen entsprechen im Stück den Gegenpolen Männer-Frauen, Arbeiter-Intellektuelle, Kommunisten-Feinde der Revolution2 und repräsentieren verschiedene Motivationen und Haltungen gegenüber der sozialistischen Revolution. Im Bild des Zements sieht Genia Schulz die »Verhärtung des Menschen« und die »Irreversibilität eines Prozesses«3 sowie auch die Notwendigkeit der Verhärtung dargestellt: »Der Festigungsprozeß der Gesellschaft fordert von den Menschen, sich zu verhärten, sich als verbindendes Material zu verstehen, als Element im Dienst eines Ganzen, dessen stabilen Aufbau der Einzelne garantieren muß«4. In der fünften Szene, die wie drei weitere Szenen (»Heimkehr des Odysseus«, »Medeakommentar« und »Sieben gegen Theben«) bereits mit einem Titel aus dem Bereich der Mythen, »Befreiung des Prometheus«, überschrieben ist, ist das Intermedium »Befreiung des Prometheus« enthalten, das später auch als selbständiger Prosatext
1
Vgl. Fischer, Gerhard: Zement, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 298-302, S. 298.
2 3
Vgl. Mierau, Fritz (Hg.): Fjodor Gladkow/Heiner Müller: Zement, Leipzig 1975, S. 503. Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 12.
4
Ebd., S. 59.
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Die Befreiung des Prometheus veröffentlicht wurde. Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Tschumalow und dem Ingenieur Kleist, der diesen vor drei Jahren an die antibolschewistischen ›Weißen‹ verriet und nun mit einer möglichen Rache Tschumalows konfrontiert wird, steht das Intermedium am Ende der Szene und stellt einen Bruch in der formalen sowie auf den ersten Blick auch in der inhaltlichen Gestaltung dar. Im Unterschied zum in Blankvers verfassten Dramentext handelt es sich beim Intermedium um einen zweieinhalbseitigen Prosatext. Die Darstellung des Prometheus-Mythos erscheint zunächst als scheinbar zusammenhangloser, selbständiger Text. Bei näherer Betrachtung jedoch ist festzustellen, dass die Bilder des Mythos der Veranschaulichung der im Drama gezeichneten gesellschaftlichen Verhältnisse dienen. Der Text weist keine Auffälligkeiten im Schriftbild und in der Interpunktion auf. Lediglich die direkte Rede in den Zeilen 32ff. und 37 wird nicht mit Anführungszeichen angezeigt, der Leser wird jedoch durch die Verwendung des Doppelpunktes und die Einschübe »schrie er« (Z. 33) und »sagte Herakles« (Z. 37f.) deutlich auf sie hingewiesen. Des Weiteren herrscht ein hypotaktischer Satzbau vor, der nur an wenigen Stellen (Z. 12, Z. 24f., Z. 53f., Z. 69, Z. 79-85) unterbrochen wird. Die überwiegend langen, sich über mehrere Zeilen erstreckenden und verschachtelten Aussagesätze geben die Handlung des Mythos gerafft wieder und konfrontieren den Leser mit einem sehr dichten Informationsfluss. Die Syntax folgt des Öfteren dem Muster, dass am Satzanfang das Satzsubjekt – »Prometheus« (Z. 1, Z. 30), »[d]er Adler« (Z. 8f.), »Herakles« (Z. 43) – steht, dem, abgetrennt durch Kommata, Nebensätze folgen, die das Subjekt oder seine Handlungen näher beschreiben. Durch diese exponierte Stellung rücken Prometheus, Herakles und der Adler in den Vordergrund. Dem syntaktischen Schema entsprechend handelt es sich bei den genannten Subjekten auch um die drei Hauptfiguren des Textes, worauf noch auf inhaltlicher Ebene näher eingegangen wird. Außerdem stößt der Leser auf Figuren der Wiederholung, die seine Aufmerksamkeit auf diese Wortfelder lenken. So ist im ersten Satz des Textes die Spiegelung der Nennung von Menschen und Göttern festzustellen: »[...] der den Menschen den Blitz ausgeliefert, aber sie nicht gelehrt hatte, ihn gegen die Götter zu gebrauchen, weil er an den Mahlzeiten der Götter teilnahm, die mit den Menschen geteilt weniger reichlich ausgefallen wären« (Z. 1-4). Diese macht das Verhältnis und den Gegensatz zwischen Menschen und Göttern sowie Prometheus’ Stellung zwischen den beiden Gruppierungen deutlich. Die Menschen, die von Prometheus empfangen, erscheinen passiv, jedoch auch als Bedrohung für die Götter und für Prometheus selbst, der sein Privileg – die Teilnahme an den Mahlzeiten der Götter – durch weitere Nutznießer gefährdet sieht. Zur
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Text als Klangmaterial Mahlzeit wird Prometheus schließlich selbst durch die Strafe der Götter, indem er an den Kaukasus gekettet wird und seine nachwachsende Leber einem Adler als Nahrung dient. Dabei rücken die Nahrungszufuhr durch das wiederholte »aß« (Z. 8, Z. 10, Z. 20) und die weiteren Verbformen »essen« (Z. 33), »[i]ß« (Z. 37), die Wörter »eßbar[e]« (Z. 9), »Nahrung« (Z. 12, Z. 33f.), »ernährte« (Z. 21), »Ernährer« (Z. 32) und »zerfressen« (Z. 49f.), sowie die immerwährende Verarbeitung der Nahrung – denn der Kot des Adlers fungiert als Prometheus’ Nahrung (vgl. Z. 12) – in den Vordergrund des Textes. Ebenso im Fokus steht das Wortfeld, das die Befreiung thematisiert. Es reicht von der mehrfachen Nennung des »Befreiers« (Z. 14, Z. 22, Z. 42, Z. 60, Z. 74, Z. 83) über die »Befreiung« (Z. 54, Z. 58, Z. 79) und das Verb »befreien« (Z. 55), bis zu »befreit« (Z. 60) und zur »Freiheit« (Z. 57), also dem durch die Befreiung erreichten Zustand. Der Vollzug der Befreiung wird ganz besonders durch das Polyptoton in Zeile 60 deutlich, wenn die Ausdrücke »des Befreiers« am Satzende und »Befreit« am Anfang des folgenden Satzes direkt aufeinander stoßen. Der Wortteil »frei«, der in allen genannten Worten enthalten ist, durchzieht so den gesamten Text und bleibt dem Leser in zentraler Erinnerung. Der Mythos des Prometheus stellt den Halbgott als einen von den Göttern Begünstigten dar, der jedoch das Feuer stiehlt und es den Menschen bringt. Zur Strafe lassen die Götter Prometheus durch den Schmied Hephaistos an den Kaukasus ketten. Dort frisst ein Adler jeden Tag von Prometheus’ Leber, die sich nachts immer wieder erneuert. Erst Jahrhunderte später befreit der Held Herakles den Gefesselten und erlöst ihn von diesen Qualen.5 Das Intermedium von Heiner Müller rückt diese Befreiung durch Herakles in den Vordergrund, was schon durch den Titel »Die Befreiung des Prometheus« deutlich wird. Die Ursachen des Konflikts, der Zwist mit den Göttern und die Ausführung der Bestrafung, werden bereits in den ersten beiden Sätzen, die den ersten Abschnitt darstellen (Z. 1-12), dargelegt. Müller wandelt die Anklage jedoch um, sieht den Grund der Bestrafung in Prometheus’ Unterlassung, die Menschen zu lehren, die ihnen gegebene Waffe – den Blitz – gegen die Götter zu gebrauchen (Z. 2), da er auf seine Privilegien nicht verzichten wollte. Die Bestrafung und ihre Konsequenz – die Befestigung an den Kaukasus und die tägliche Drangsalierung durch den Adler – erscheinen vor diesem Hintergrund von menschlicher Seite aus logisch und sinnvoll und erwecken direkt zu Beginn des Textes eher Antipathie denn Sympathie für den Protagonisten Prometheus.
5
Irmscher, Johannes (Hg.): Lexikon der Antike, Augsburg 1990, S. 472.
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Die Befreiung des Prometheus Der kurze Satz »Der Kot war seine Nahrung« (Z. 12) und der folgende Abschnitt über die Situation des Bestraften am Gebirge (Z. 12-22) nehmen Prometheus die ihm sonst zugeschriebene Heldenhaftigkeit und fügen durch diesen Bruch dem mythischen Stoff jedoch einen neuen Aspekt hinzu. Indem der Adler sich nach dem Essen der Leber über Prometheus entleert, diesem der Kot als Nahrung dient, die er wiederum verdaut und als seinen Kot »an den Stein unter sich weiter[gibt]« (Z. 13), trägt der Gefesselte selbst zur Verzögerung seiner Befreiung bei. Denn Prometheus’ Kot verursacht eine »Mauer aus Gestank« (Z. 18), die Herakles erst nach dreitausendfünfhundert Jahren mit Hilfe eines klärenden Regens überwindet. Der dritte Textabschnitt (Z. 22-67) zeigt die Befreiung, die mit dem Beschuss des Adlers beginnt, bei Herakles’ zweitem Versuch wird auch Prometheus getroffen (Z. 20). Seine Reaktion auf den Abschuss und den Tod des quälenden Feindes erscheint zunächst unverständlich. Statt seinem Befreier Freude und Dankbarkeit zu zeigen, weint er um den »einzigen Gefährten [...] und Ernährer« (Z. 31f.), der gleichzeitig den einzigen Kontakt zu den Göttern darstellte, von dem er nicht ablassen will, und hat für Herakles lediglich Aggressivität und Anklage übrig. Diese Anklage – »Soll ich deine Pfeile essen [...]« und »Kannst du fliegen, Bauer, mit deinen Füßen aus Mist« (Z. 32-35) – und Herakles’ Antwort »Iß den Adler« (Z. 37), also die Aufforderung, den Feind gänzlich zu vernichten und ihn sich einzuverleiben, sind die einzigen Äußerungen der Protagonisten, die explizit in direkter Rede wiedergegeben werden. Damit wird der Konflikt zwischen Befreier und Befreitem, der den weiteren Textverlauf bestimmt, besonders deutlich hervorgehoben. Prometheus schien sich mit der Isolation am Kaukasus abgefunden zu haben, den Adler als sein einziges Bezugswesen wähnend. Den Befreier empfindet er als Eindringling, der den Status quo gewaltsam beendet und ihn mit der neugewonnenen Freiheit konfrontiert. Durch seine Gewöhnung an das Gegebene sieht er keine neue Chance in der Freiheit, sondern nur die Wegnahme der gewohnten Nahrung und des Bezugswesens. Prometheus’ Aggressivität gegenüber Herakles erstreckt sich von der verbalen Ebene – in Form von Schreien und Beschimpfungen (Z. 33-35, Z. 42, Z. 59-63) – bis zu tätlichen Angriffen, wie dem Versuch des Bespuckens (Z. 44), dem Toben (Z. 45) und der Verteidigung »mit Zähnen und Klauen« (Z. 59), mit denen er sich gegen die Befreiung und den Abstieg vom Kaukasus wehrt. Die Befreiung wird mit dem Lockern der Kette, mit der Prometheus gefesselt worden war, vollendet. Dabei stellt sich heraus, dass die Kette zum Teil verrostet war und erst durch heftige Bewegungen vom Fleisch unterscheidbar wurde, zum Teil tatsächlich mit Prometheus Körper verwachsen war, also dem äußeren
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Text als Klangmaterial Schein nach bereits zu seiner Person gehörte. Die durch Masturbation verursachte Verwachsung zeigt, dass Prometheus zu Beginn seiner Strafe noch seinen körperlichen Bedürfnissen nachging, mit der zunehmenden Gewöhnung und Abstumpfung diese jedoch vergaß (Z. 53f.), ebenso wie er vergaß, dass es außer des Adlers Kot noch andere Nahrung gab (Z. 33f.). Das Abfallen der Ketten hinterlässt in Prometheus’ Fleisch eine Narbe (Z. 54). Dies impliziert, dass die Hinwendung zum Neuen eine Loslösung und Zerstörung des Alten erfordert. Die vergangene Zeit scheint durch die verwachsene Kette in seinen Körper spürbar eingeschrieben zu sein, und nicht nur in diesen, denn »[l]eicht hätte sich Prometheus selbst befreien können« (Z. 54f.), war doch die Kette »von Rost zerfressen« (Z. 49f.) und der Adler geschwächt. Zentrale Bedeutung hat die Feststellung, dass Prometheus »die Freiheit mehr gefürchtet hat als den Vogel« (Z. 57f.). Die Ursachen dafür werden nicht explizit genannt, die wiederkehrenden Angaben der Dauer – dreitausend Jahre bis zum Versuch der Gebirgsbesteigung durch Herakles (Z. 14), dreitausend Jahre Umkreisung des Massivs (Z. 19), fünfhundert Jahre Regen (Z. 23), insgesamt also sechstausendfünfhundert Jahre – lassen jedoch darauf schließen, dass die sehr lange Dauer zum Verharren und zum Abfinden mit der Situation führten. Das Gefängnis, der »Platz am Stein« (Z. 62), wird von Prometheus sowohl als ruhig als auch als sicher verklärt, er sehnt sich unter die »Fittiche des Adlers« (Z. 63) zurück, sein Gefangensein »resultiert nicht mehr aus unlösbarer äußerer Fesselung, sondern ist fast schon imaginär, wird zur Angst vor Veränderung« 6 . Der Vergleich von Prometheus mit einem »Schauspieler, der seine Bühne nicht verlassen will« (Z. 67), deutet darauf hin, dass der Protagonist als Gefangener eine Rolle spielt, die er nicht aufgeben möchte. Im letzten Textabschnitt (Z. 68-85), dem weitere dreitausend Jahre dauernden Abstieg von Herakles und Prometheus, wird Prometheus’ ambivalentes Handeln veranschaulicht, wenn er »mit leiser Stimme« (Z. 75) seinem Befreier den sicheren Weg weist, nach außen hin jedoch weiterhin laut »seine Unschuld an der Befreiung« (Z. 78f.) beteuert. Die Alliteration »Während die Götter das Gebirge aus dem Grund rissen, so daß der Abstieg durch den Wirbel der Gesteinsbrocken eher einem Absturz glich« (Z. 70-72) zeigt den gewaltsamen Versuch der Götter, den Abstieg des Bestraften zu verhindern. Dieser Versuch, so scheint es, beschleunigt jedoch den Befreiungsprozess und führt schließlich zur Selbstvernichtung der Mächtigen, was durch die kurze und nüchterne Feststellung »Es folgte der Selbstmord der Götter« (Z. 79) und den Himmelssturz mit darauffolgendem Zerschellen dargestellt wird. Nachdem die Mächti-
6
Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 98.
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Die Befreiung des Prometheus gen nun nicht mehr existieren, zeigt Prometheus sein wahres Gesicht, klettert auf Herakles’ Schultern und nimmt – aufgrund der im Text dargelegten Fakten unberechtigt – »die Haltung des Siegers ein« (Z. 83), um sich von den Menschen als solcher feiern zu lassen. Die Machtverhältnisse zwischen den Protagonisten Prometheus und Herakles wechseln im Verlauf des Textes. Zunächst erscheint Prometheus als Gefangener, der unter seiner Situation und dem Adler leidet. Als es jedoch zum Befreiungsakt durch Herakles kommt und der Adler durch diesen vernichtet wird, beendet der Gefangene seine Passivität und wendet sich gegen den Befreier. Obwohl er seine Kräfte vollständig wiedererlangt – die tauben Gliedmaßen sind wieder zu gebrauchen (Z. 65f.) – wehrt er sich dagegen, selbstständig zu gehen und lässt sich stattdessen tragen. Herakles, der von Prometheus’ Ablehnung unbeeindruckt an der Befreiung festhält, trägt den Befreiten zunächst auf den Schultern, während des Angriffs der Götter sogar an der Brust. Damit wird seine Rolle als Beschützer deutlich – er trägt ihn »wie ein Kind« (Z. 73); die Situation zeigt aber auch, dass der scheinbar wehrlose Prometheus und dessen heldenhafte Befreiung einen gewissen Zweck für ihn erfüllen, denn der Befreite wird als »kostbare Beute« (Z. 72f.) bezeichnet. Angesichts der Befreiung und damit ihrer Niederlage zerstören sich die Götter selbst, indem sie sich aus dem Himmel werfen, zerschellen und damit Selbstmord begehen (Z. 79-81). Im letzten Satz des Textes kehrt sich das Machtverhältnis zwischen Prometheus und Herakles deutlich um. Prometheus wird aktiv und nimmt – nun nicht mehr ›Beute‹ oder ›Kind‹ – die Position des Siegers ein, da von den Göttern keine Gefahr mehr droht. Der Befreier Herakles wird zum »schweissnasse[n] Gaul« (Z. 84) degradiert, der lediglich seinen Herrn trägt – so erscheint es zumindest vor der Bevölkerung, die nur das äußere Auftreten sieht und Prometheus als den wahren Helden und Sieger über die Götter feiert. Betrachtet man das Intermedium im Kontext der vorausgegangenen Handlung des Dramas, so fällt auf, dass es sich hierbei um eine Parallelisierung des Inhalts im mythologischen Kontext handelt. Die unterschiedlichen Haltungen zur Revolution von Tschumalow und dem Intellektuellen Kleist werden in der Haltung zur Befreiung von Herakles und Prometheus deutlich. Der Intellektuelle erscheint als passiv und enttäuscht von der Sowjetmacht, was sich in seinen Äußerungen »Wozu anfangen den alten Kreis. [...] Warum leben / Nach diesem Gestern. [...] Ihre Sowjetmacht wird die Welt nicht ändern«7 zeigt. Die Parallele zu seiner Situation im Intermedium wird in den von Kleist formulierten, direkten Bezügen zu Prome-
7
Müller, Heiner: Zement, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001 S. 379-467, S. 402f.
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Text als Klangmaterial theus deutlich sichtbar, wenn er mit »Wir stehn an unsern Kaukasus geschmiedet«8 seine Isolation feststellt und Tschumalow auffordert: »Lassen Sie mich in meinen Ketten sterben / Ich will nicht befreit sein.«9 Die Befreiung durch die Revolution erlebte Kleist ebenso als gewaltsam und gegen seinen Willen, was zu seiner strikten Ablehnung führt: »Ich hasse eure Revolution, ich hasse / Eure Sowjetmacht, alles habt ihr mir / Genommen was mein Leben war.«10 Das Verharren Kleists im Status quo und das Wehren gegen das ›Neue‹, das die Revolution mit sich bringt, setzt auch Georg Wieghaus in Verbindung mit Prometheus’ Passivität: »Fest verbunden mit dem ständig wachsenden Gestein aus seinem Kot, der das Produkt seiner Zerfleischung ist, vermag er sich nicht selbst zu befreien, weil ihm seine fürchterliche Bestrafung zum alleinigen Lebenszweck geworden ist, der Masochismus zur Bestätigung seiner Bedeutung.«11 Tschumalow als aktive revolutionäre Kraft lässt Kleists Einwände nicht gelten und bestimmt – ähnlich unbeirrbar wie Herakles – über dessen weiteres Schicksal im Dienste des Wiederaufbaus des Zementwerkes: »Genosse Ingenieur, Sie sind enteignet. / Ihr Kopf gehört der Revolution von jetzt ab / Und steht unter dem Schutz der Sowjetmacht.«12 Aufgrund der Übereinstimmungen konstatiert auch Bettina Gruber die Parallelität zwischen dem Intermedium und dem übergeordneten Drama: »Die Beanspruchung Kleists für die Sache der Revolution soll im Bild einer mythischen Befreiungsleistung wahrgenommen werden.« 13 Dass die Szene zwischen Tschumalow und Kleist unter dem Aspekt der Parallelisierung zu lesen sei, mache bereits der Szenentitel »Die Befreiung des Prometheus« deutlich. Gruber stellt zur Wahl der auf Mythen verweisenden Szenentitel in »Zement« fest: »Die Bilder werden als solche gekennzeichnet, also als artifiziell hergestellte, nicht ›gewachsene‹ Einheiten kenntlich gemacht, die durch den Szenentitel bereits eine Interpretation erfahren. Die Titel weisen dabei entweder auf den zentralen Aspekt, unter dem die Szene zu lesen wäre, oder sie ordnen der Szene ein mythisches Paradigma zu, das als Vergleichsebene fungiert.«14
8 9
Ebd. Ebd., S. 403.
10 Ebd. 11 Wieghaus, Georg: Zwischen Auftrag und Verrat. Werk und Ästhetik Heiner Müllers, Frankfurt am Main 1984, S. 197. 12 Müller, Heiner: Zement, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 379-467, S. 403. 13 Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 97. 14 Ebd., S. 90.
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Die Befreiung des Prometheus Das an die Szene angeschlossene Intermedium übernimmt im vorliegenden Fall die Rolle der vertiefenden Vergleichsebene zur dramatischen Handlung und bietet zum Szenentitel den verfremdeten mythologischen Kontext. Vor diesem Hintergrund lassen sich vorausgegangene Äußerungen der Figuren Tschumalow und Kleist für den Leser leichter einordnen, wobei sich beim Verständnisprozess Dramen- und Prosatext gegenseitig bedingen. Jan-Christoph Hauschild sieht Müllers Intermedien als »Aggregate, die sowohl den Text mit Energie aufladen als auch umgekehrt von ihm mit Bedeutung aufgeladen werden«15. Die ersten überlieferten Bearbeitungen des Prometheus-Mythos finden sich in Hesiods »Theogonie« (700 v. Chr.) und in Aischylos’ »Promethie«, einer Trilogie, von der lediglich der erste Teil, »Der gefesselte Prometheus« (um 460 v. Chr.), erhalten ist.16 Weitere zu beachtende Bearbeitungen des Stoffes sind beispielsweise Johann Wolfgang von Goethes Gedicht »Prometheus« (1774), in dem sich der Titanensohn von den Göttern spöttisch abwendet und nach seinem eigenen Bild Menschen formt 17 , sowie Johann Gottfried Herders »Prometheus aus seiner Kaukasushöhle«. In beiden erscheint Prometheus als Held und Feuerbringer, der die Menschen aus der Abhängigkeit der Götter führt, sich gegen diese auflehnt und somit ein Symbol für den Fortschritt ist. 18 Dementsprechend konstatiert Hans-Dietrich Dahnke, dass »Prometheus auch in der Neuzeit im Zusammenhang mit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und mit dem ungeheuren Aufschwung gesellschaftlicher Produktivkräfte
15 Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 94. 16 Vgl. Storch, Wolfgang: Prometheus, in: Storch, Wolfgang/Damerau, Burghard (Hg.): Mythos Prometheus. Texte von Hesiod bis René Char, Leipzig 4 2005, S. 9-17, S. 9ff. 17 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Prometheus, in: Trunz, Erich (Hg.): Goethe. Gedichte, München 1998, S. 44-46. 18 Vgl. beispielsweise die Darstellung von Prometheus als Wohltäter der Menschen in seiner Erklärung zur Ursache der Bestrafung durch Zeus bei Aischylos: »[…] aufs Erdvolk aber, das unselge, nahm / Er keine Rücksicht; nein, vernichten ihr Geschlecht, / Ihr ganzes, wollt, ein andres zeugen er aufs neu. / Und dem trat keiner sonst entgegen außer mir. / Ich aber wagt es, machte frei das Menschenvolk / Vom Los, zerschmettert in des Hades Reich zu gehn. / Drum werd ich unter solcher Leiden Not gebeugt, / Zu dulden qualund schmerzvoll, jammervoll zu schaun.«, in: Aischylos: Der gefesselte Prometheus, in: ders.: Tragödien und Fragmente, hg. und übers. von Oskar Werner, Darmstadt 41988, S. 409-477, S. 427.
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Text als Klangmaterial zum Inbegriff rebellischen Handelns und produktiver Tätigkeit« 19 wurde. Müllers »Befreiung des Prometheus« demontiert dessen heroisches Auftreten. Zum einen werden seine Ausscheidungen in den Fokus gerückt, die, weitergegeben an den Stein, einen enormen Gestank verursachen, der immer wieder erwähnt wird (Z. 18, Z. 21, Z. 26). Zum anderen wird Prometheus’ Geschlecht, das durch seine frühere Masturbation mit der Kette verwachsen ist, thematisiert. Diese Überzeichnungen des Mythos, die Prometheus’ Körperlichkeit betonen, sowie seine Reaktionen im Laufe der Befreiung tragen dazu bei, dass er dem Leser nicht als der in bisherigen Bearbeitungen des Mythos dargestellte Held erscheint. In der Bearbeitung von Müller sieht Dahnke »eine interessante historische Erweiterung«20, die sich vor allem in der ironischen Verfremdung des ›intellektuellen Helden‹ äußert und das Augenmerk auf »die neue Qualität der von der Arbeiterklasse getragenen prometheischen Tat«21 richtet. Dahnke deutet den Ausgang des Intermediums dabei als grotesken Gegensatz zur Befreiung durch den Proletarier Herakles. Die von Prometheus eingenommene Siegerpose kann jedoch auch als Bild des Intellektuellen, wie er von der Gesellschaft wahrgenommen werden will und wird – nämlich als Held und Verursacher der Befreiung – gesehen werden. Auch Gruber stellt Prometheus in ihrem Beitrag zum ›Mythologischen Personal‹ in Müllers Werk als »opportunistischen Grenzgänger zwischen Menschen und Göttern und als undankbaren Profiteur der Herakleischen Befreiungstat«22 dar. Wie eingangs erwähnt, übernahm Müller für sein Drama Motive aus dem Roman »Zement« von Fjodor Gladkow. Diese Absicht hatte er schon nach der ersten Lektüre: »Seit ich das Buch gelesen hatte, wollte ich ein Stück daraus machen. Und ich habe es immer vor mir hergeschoben.«23 In Müllers »Zement« finden sich die Handlung des Romans und dessen Konflikte wieder. Dazu zählen unter anderem die Entfremdung der Eheleute Gljeb und Dascha, Heimaufenthalt und Tod der gemeinsamen Tochter Njurka, die quälende Hungersnot, der Kampf Tschumalows für den Wiederaufbau des Zement19 Dahnke, Hans-Dietrich: Zur Geschichte des Prometheus-Sujets in der literarischen Rezeption und Produktion, in: ders.: Erbe und Tradition in der Literatur, Leipzig 1977, S. 41-55, S. 44f. 20 Ebd., S. 52. 21 Ebd., S. 53. 22 Gruber, Bettina: Mythologisches Personal, in: Lehmann, Hans-Thies/ Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 75-82, S. 78. 23 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 191.
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Die Befreiung des Prometheus werkes, seine Feindschaft mit dem Ingenieur Kleist, die Rolle des Proletariats im Hinblick auf die Revolution und dessen Umgang mit der ›Neuen Ökonomischen Politik‹ sowie schließlich die Inbetriebnahme des Werkes am Ende des Romans.24 Die Motive erscheinen jedoch knapper in der Darstellung und durch diese Verdichtung stark zugespitzt, wie beispielsweise die Entwicklung Daschas von der Mutter und Ehefrau zur kämpferischen Revolutionärin, zu einer Medea (vgl. Szene »Medeakommentar«), oder die Auseinandersetzung Tschumalows mit Kleist. Im Nachlass Müllers findet sich eine Begründung der Motivauswahl: »Ich habe, nach einigen Motiven, unter Weglassung andrer Motive, aus Gladkows Roman, ein Stück zu schreiben versucht, das darstellt, wie Revolution in menschliche Beziehungen eingreift, auch in die Beziehung von Menschen zu sich selber. Die Auswahl der Motive, bestimmt von meinen Erfahrungen, Ansichten usw., bleibt subjektiv, ich bin nicht der Weltgeist, bei allem Bemühen um ein totales Bild, bzw. um eine An- und Zuordnung der Ausschnitte, Teile, daß im Zuschauer ein totales Bild entstehen kann.«25
Müllers Motive, so auch die Verwendung des mythischen Stoffes in »Zement«, eröffnen nicht nur einen Bezug zur vorausgegangenen Szene, sondern weisen auch über die literarische Darstellung hinaus. Müllers Kommentar folgend, bezieht sich das Drama nicht konkret auf die Oktoberrevolution in der Sowjetunion, sondern auf Revolutionen und ihre Auswirkungen im Allgemeinen, womit unter anderem auch das Intermedium über diesen konkreten Bezugspunkt hinaus betrachtet werden kann. In Rüdiger Bernhardts Untersuchung »Odysseus’ Tod – Prometheus’ Leben. Antike Mythen in der Literatur der DDR« von 1983 wird der Text wie folgt gedeutet: »Prometheus ist für Müller ein Revolutionär, der seine Revolution nicht zu Ende geführt hat und deshalb leiden mußte. Um aus dem Leiden befreit zu werden, mußte er sich für die neue Macht entscheiden, die heraufkommen wird: Herakles ist ihr Sinnbild.«26 Damit stellt Bernhardt Herakles als Vertreter der Arbeiterklasse und Prometheus als bürgerlichen Aufklärer dar, der die Machthaber jedoch nicht erzürnen will. Im Ende, das das Intermedium zunächst hatte, benennt auch Müller Herakles direkt als Arbeiter: »Als Herakles / der Arbeiter mit dem Feuerbringer der / soviel gekostet hatte und dann überflüssig geworden war, in der Ebene ankam, war sein
24 Vgl. Gladkow, Fjodor: Zement, Wien/Berlin 1927. 25 Hörnigk, Frank: Bibliographische Notiz, in: ders. (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 565-595, S. 580. 26 Bernhardt, Rüdiger: Odysseus’ Tod – Prometheus’ Leben. Antike Mythen in der Literatur der DDR, Halle/Leipzig 1983, S. 104, zitiert nach: Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 108.
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Text als Klangmaterial Leib eine Narbe / mit Felsen gespickt.«27 Der bürgerliche Intellektuelle wird hier als überflüssig dargestellt, seine Befreiung hat aber letztlich keinen Wert und den Befreier selbst beeinträchtigt und quält sie stark. Die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion der 20er Jahre werden durch das Schlussbild des Intermediums wiedergespiegelt – Prometheus in Siegerpose auf dem als Gaul bezeichneten Herakles –, denn die ›Neue Ökonomische Politik‹ Lenins eröffnete auch der bürgerlichen Schicht Vorteile.28 So gilt die NEP als relativ liberale Ära und sicherte, neben der Schaffung einer breiteren akademischen Schicht durch die Öffnung der Hochschulen für »Arbeiter und Bauern«, auch oppositionellen Künstlern kulturelle Freiheit.29 Viele Intellektuelle profitierten also auch von der Revolution, die sie ablehnten und die eigentlich vor allem von der Arbeiterklasse getragen wurde. Dafür, dass das Intermedium sogar im Kontext der allgemeinen Geschichte gelesen werden kann, spricht sich, wie Müller selbst, auch Gruber aus und begründet dies mit den bereits genannten Zeitangaben von Tausenden von Jahren, die eine Reichweite bis zur heutigen Zeit implizieren können. Dabei fasst sie die Funktion des Intermediums wie folgt zusammen: »Die Revolution wird ins mythische Bild projiziert, einmal als Abkehr von der Vorgeschichte, dann als Befreiungsaktion der fortgeschritteneren Klasse an der zurückgebliebenen, schließlich als Universalkampf zweier ineinander verklammerter Antagonisten [...].«30 Im Sinne der allgemeinen Gültigkeit deutet Carlotta von Maltzahn den mythologischen Stoff im Kontext der DDR-Geschichte und vergleicht Prometheus beziehungsweise Kleist mit dem Intellektuellen in der DDR, der Angst vor der Befreiung durch den Sozialismus hat und Unwillen zeigt, »sich von den kapitalistischen Ketten zu lösen«31. Somit müsse die Arbeiterklasse die Intelligenz scheinbar gegen ihren Willen befreien, damit diese letztendlich daraus auch für sich Vorteile ziehen kann. Durch seine interpretatorische Offenheit bietet das Intermedium vielfältige Möglichkeiten für Assoziationen und Deutungen. So könnte das Sprengen der Ketten beispielsweise auch als Möglichkeit 27 Hörnigk, Frank: Bibliographische Notiz, in: ders. (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 565-595, S. 582. 28 Vgl. Gruber, Bettina: Mythologisches Personal, in: Lehmann, Hans-Thies/ Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 75-82, S. 78. 29 Hilderheimer, Manfred: Die Sowjetunion 1917-1991, München 2001, S. 30. 30 Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 111f. 31 Maltzahn, Carlotta von: Zur Bedeutung von Geschichte, Sexualität und Tod im Werk Heiner Müllers, Frankfurt am Main u.a. 1988, S. 99.
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Die Befreiung des Prometheus der Befreiung vom Stalinismus nach langem Abwarten durch einen Anstoß von außen gesehen werden. In Müllers Anmerkung zum »Verhältnis von Gegenwart und Geschichte« in »Zement« heißt es: »Das Stück handelt nicht von Milieu, sondern von Revolution, es geht nicht auf Ethnologie, sondern auf (sozialistische) Integration aus, die Russische Revolution hat nicht nur Noworossisk, sondern die Welt verändert, Dekor und Kostüm sollten nicht Milieu zeugen, sondern den Entwurf der Welt, in der wir leben.«32
Nach Fischer liefert Müllers »Zement« »einen Kommentar über die Gegenwart der DDR«33, da die dargestellten, in der Sowjetunion der 20er Jahre bestehenden Lebensbedingungen an die Probleme der DDR in den 70er Jahren erinnern. Parallelen zur desolaten wirtschaftlichen Situation der DDR erkannte auch das Ministerium in »Zement«. Das Stück wurde »als verderblich erkannt und erst einmal verboten«34, bevor es 1973 doch uraufgeführt wurde. Außerdem betonen, laut Fischer, die dargestellten »Konflikte in den Geschlechterbeziehungen [...] die unerreichten Fortschritte, die Opfer und die wachsende Entfremdung der Menschen in der sozialistischen Gesellschaft«35, wie sie auch Müller in der Gegenwart seiner Zeit sah und unbeschönigt abbildete.
4.3.2 PROMETHEUS IM FAHRSTUHL – ANALYSE DES HÖRSTÜCKS Für das 45 Minuten umfassende Hörstück »Die Befreiung des Prometheus«, das 1985 vom Hessischen Rundfunk und vom Südwestrundfunk produziert wurde, arbeitete Heiner Goebbels zusammen mit Müller als dem Autor der zugrundeliegenden Texte, setzte ihn als Rezitator ein und nahm mit ihm die Rezitation und Geräusche in Berlin auf. Neben dem Intermedium »Die Befreiung des Prometheus« greift Goebbels auch auf Zitate aus Müllers Dramen »Traktor« und »Prometheus« sowie aus dem Intermedium »Der Mann im Fahrstuhl« aus »Der Auftrag« zurück. Auf eine Untersuchung dieser Textpassagen wurde im Vorfeld verzichtet, da sie aufgrund ihrer
32 Müller, Heiner: Zement, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 379-467, S. 466. 33 Fischer, Gerhard: Zement, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 298-302, S. 298. 34 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 192. 35 Fischer, Gerhard: Zement, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 298-302, S. 302.
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Text als Klangmaterial Kürze im Rahmen der Hörstückanalyse erschlossen werden können oder, »Der Mann im Fahrstuhl« betreffend, im weiteren Verlauf dieser Arbeit näher betrachtet werden. Das Hörstück ist in neun Tracks verschiedener Länge unterteilt, die im Untertitel des Hörstücks als »Bilder« benannt werden, und soll im Folgenden dieser Unterteilung nach analysiert werden. Das erste akustische Bild, das den Titel »Das Diagramm« trägt, führt den Hörer mit einer Mischung aus rhythmischen, hohen Tönen und elektronischer Musik, sowie der zunächst verzerrten, den Beginn des Prometheus-Textes rezitierenden Stimme von Angela Schanelec (F) an die Situation des Protagonisten heran. Der rezitierte Text wird dabei immer wieder von gequält klingenden, gedehnten »a«-Lauten, die sich später als der Beginn des Wortes »aß« erweisen, unterbrochen. Dieses ›Sample‹36 tritt in diesem Abschnitt häufig auf, der Hörer erhält immer nach wenigen Worten die Gelegenheit, das Gehörte aufzunehmen und die »a«-Laute als kurze Pause und Vermittler der Atmosphäre anzunehmen: »Prometheus, der den Menschen den Blitz ausgeliefert hatte« »a« »wurde im Auftrag der Götter« »a« »von Hephaistos« »a« »dem Schmied« »a« »an den Kaukasus befestigt« »a«
Darüber hinaus verweist das »a« auch auf den später folgenden Ausruf Hephaistos’, der ebenfalls mit einem gezogenen »a« beginnt: »Ah Prometheus! Ein Bild mit den Augen nicht anzusehn, seh ich.« Der Rhythmus der Unterbrechungen wird jedoch schneller und wandelt sich mit der Intensivierung des »a«-Lautes und durch den im Verhältnis sehr lauten Einsatz von tiefen elektronischen Tönen (00:32-01:06) von der ruhigen Pause zur Assoziation quälender Schreie. Zudem wird sodann das komplette »aß«-›Sample‹ verwendet, das auch polyphon zum rezitierten Text eingesetzt wird und im Hinblick auf den über Prometheus kreisenden Adler in Verbindung mit der gezogenen Wiedergabe die Assoziation zum Wort »Aas« entstehen lässt. Der Text wird in kleine Teile zerlegt, nach und nach repetitiv und komplettierend erschlossen und mündet schließlich in
36 Nach Goebbels erfolgte in »Die Befreiung des Prometheus« sein erster Einsatz des Samplers. Vgl. Hörspielwerkstatt »Arbeitsgeräusche«, SWR 2002, 16:05-16:13.
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Die Befreiung des Prometheus den vollständigen originalen Satz und die mehrfache Wiederholung des »aß«-›Samples‹ durch verschiedene Stimmen: »wo ein hund« »aß« »wo ein hundskopf« »aß« »wo ein Adler« »aß« »wo ein hundsköpfiger Adler« »aß« »von seiner Leber« »aß« »a« »wo ein hundsköpfiger Adler täglich [gleichzeitig »aß«] von seiner Leber« »aß« »wo ein hundsköpfiger Adler täglich von seiner immerwachsenden Leber aß« »aß« (achtmalige Wiederholung, dazwischen dreimal »aß« durch Kinderstimme, mehrfach nachgezogenes stilisiertes »ß«)
Die Passage schließt mit dem Lachen der Sprecherin, einem befreiten Lachen nach der erfolgreichen Aufnahme, das bei herkömmlichen Produktionen herausgeschnitten worden wäre, bei Goebbels jedoch dazu genutzt wird, einen Bruch herzustellen und eine mögliche Illusion des Hörers auszuschließen. Die Verwendung nur eines Teils des ›Samples‹ zu Beginn und die spätere Auflösung als »aß« oder »Aas« können dabei beim Hörer zunächst Spannung, da das ›Sample‹ noch nicht als Wort erkennbar ist, und schließlich Spannungsauflösung erzeugen, die durch das Lachen der Sprecherin unterstützt wird. Der kurze Track endet mit einem von dissonanter Musik unterlegten, stark gedehnten und verzerrten Gesang einer Männerstimme (M1), der einen Ausschnitt aus Müllers Drama »Prometheus« wiedergibt und der Person Hephaistos zuzuschreiben ist: »Ah Prometheus! Ein Bild mit den Augen nicht anzusehn, seh ich.« Bei diesem ersten Einsatz des Gesangs wird die Situation des Gefesselten resümiert, er scheint für den Hörer jedoch zunächst aus dem Zusammenhang gerissen. Welche Person singt und die Lage beklagt, ist unklar. Erst durch den in Track 7 gegebenen Rückblick auf das Festketten des Prometheus’ an den Kaukasus aus der Sicht des Schmiedes Hephaistos wird ein Bezug geschaffen. Das in diesem Track gezeichnete Diagramm gibt, dem Titelnamen entsprechend (griech. diagramma = Umriss, geometrische Figur), die Eckdaten der zugrundeliegenden Situation vor: Prometheus’ Handeln und die Folgen. Der Hörer wird dabei langsam, fast Wort für Wort, an die Grundinformationen, die Essenz des ersten Satzes des Originaltextes, herangeführt, bevor in Track 2, »Ein Adler«, der gespro-
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Text als Klangmaterial chene Text in längeren Passagen mit wenigen Pausen vorgetragen wird. Track 2 beginnt mit fröhlich anmutender Blasmusik in Wirtshausatmosphäre. Genauer gesagt handelt es sich um das Jägerrestaurant des Ostberliner Palasthotels in Berlin 37 , in dem Heiner Goebbels und Heiner Müller einen Teil der Aufnahmen machten. Dieser Aufnahme ging folgende Überlegung von Goebbels voran: »Ich wollte gern, dass er den Text liest und ich wollte gern, da immer von den Mahlzeiten bei den Göttern die Rede ist, dass er diesen Text beim Essen liest. Also sind wir in Ostberlin 1984 oder 85 rumgelaufen und haben ein gutes Restaurant gesucht, in dem Musik gespielt wurde und landeten dann im Palasthotel, wo ein Bläserquartett gerade zum Essen spielte. Was wir nicht wussten, ist, dass diese Herren einen sehr kurzen Atem hatten und daraufhin ergab sich die Verabredung, dass Heiner Müller nur dann liest, wenn die auch wirklich spielen.«38
Begleitet von dieser Blaskapelle und Nebengeräuschen wie Stimmen und Geschirrklappern, rezitiert Müller (M2) seinen Text von der ersten bis zur zehnten Zeile, wobei die im ersten Track vorgenommenen Auslassungen nun vollständig wiedergegeben werden. Dabei klingt Müller sachlich und trocken, ohne jegliche Interpretationsansätze mit seiner Stimme und Artikulation vorzugeben. Müllers Art der Rezitation sieht Goebbels als »[...] e i n e [Herv. i. O.] mögliche Art, und zunächst ein Vorschlag, wie man Texte als ›Angebot‹ verstehen kann: sie nicht den Hörern dadurch wegzunehmen, daß man sie beim Sprechen vereinnahmt, sondern sie o f f e n [Herv. i. O.] zu halten. Er läßt ja nicht die Interpunktion bei seinen Texten deshalb weg, damit sie von den Schauspielern wieder eingebleut werden. Und wer seine Sätze emotionalisiert, privatisiert auch ihre Bedeutung.«39
Ein stilisierter, fast gesungener, gequälter Schrei bei 00:52 unterbricht den rezitierten Fortlauf der Prometheus-Handlung und leitet ein von elektronischer Musik begleitetes Geräuscharrangement ein, das sich aus rhythmischen Schlägen, Quietschen, Babyschreien, Elefantentrompeten und Affenschreien im ständigen Wechsel konstituiert. Dieses schnell geschnittene, unruhige Zusammenspiel der Geräusche und der dissonanten Musik erzeugt eine sehr hohe Intensität, die Prometheus’ Qualen und sein Geschrei beziehungswei37 Vgl. Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 26. 38 Hörspielwerkstatt »Arbeitsgeräusche«, SWR 2002, 19:37-20:12. 39 Gorbauch, Tim: Zurückhaltend bestimmt, in: PlanF Nr. 2 (Beilage der Frankfurter Rundschau), 07.01.2004, S. 17.
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Die Befreiung des Prometheus se den im Originaltext folgenden »mißtönende[n] Gesang« (Z. 10f.) in besonderer Weise erfahrbar macht. Nach dem Ausklingen des Arrangements (03:00) wird die elektronische Musik ruhiger und bleibt im Hintergrund. Währenddessen betont eine leicht unbeholfene Kinderstimme (K), die Goebbels’ damals fünfjährigem Sohn Jakob gehört, immer wieder, scheinbar in einem Spiel, in Bezug auf verschiedene Situationen, wie Schwimmen, Graben in einer Tonne oder Fallen in einen Bach: »und komm nicht raus« (vgl. 03:00-04:43). Die gesamte Sprechpassage wird nochmals wiederholt und schließlich werden nur noch der prägnante Satz »und komm nicht raus«, sowie »raus«, aufgenommen. Die Unbeholfenheit, Hilflosigkeit und Unausweichlichkeit, die die Kinderstimme vermittelt, klingen jedoch nicht leidend oder gequält, sondern vielmehr so, als ob das Kind resigniert und sich mit der Situation arrangiert hätte; das Unvermögen, herauszukommen, scheint ohne Gegenwehr hingenommen zu werden. Nach diesem textfremden Einschub beginnt die Kinderstimme, wie bereits die Frauen- (Schanelec) und die Männerstimme (Müller) zuvor, den Text von Beginn an zu lesen. Zum einen wirkt dies wie eine Stütze für den Hörer, dem der Text durch die mehrmalige Wiederholung immer bekannter und verständlicher wird, zum anderen wird ein weiteres Lesartangebot geschaffen, bei dem der Fokus weder auf dem hackenden »aß« liegt, noch vollkommen neutral ist, sondern die vergebene Mühe des Herauskommens, des Wehrens gegen die Situation, deutlich macht. Nach der Passage über die immerwährende Bestrafung durch den Adler ist erneut, zweimal direkt hintereinander, das vollständige textfremde ›Sample‹ über die Unmöglichkeit des Herauskommens zu hören, diesmal mit tiefen, sich ziehenden, wabernden und leicht bedrohlich anmutenden Klängen. An den bei Müllers Rezitation abgebrochenen Satz schließt die Kinderstimme sodann an und liest den von Müller verfremdeten Sachverhalt über das Entleeren des Adlers, die Aufnahme dieses Kots durch Prometheus und dessen Weitergabe des Kots an das Gestein vor. Die Musik wird dabei leiser und immer langsamer, steht schließlich textfrei und zieht sich, weiter dehnend, von 07:02 bis zum Ende des Tracks, wo sie verebbt. Die nur einmal gelesenen Sätze bilden den Ausgangspunkt für die in Track 3 dargestellte Unüberwindbarkeit des vom Kot ausgehenden Gestanks. Track 3, »Herakles singt vom Zentralmassiv«, zeigt zu Beginn die Schritte Herakles’, die sich mit rhythmischen Klavierklängen, Nebengeräuschen, Donner und einem Fetzen Radiomusik vermischen. Polyphon dazu erklingt die teils singende, teils pathetisch rufende Männerstimme des Opernsängers Walter Raffeiner, die immer wieder Bruchstücke des am Ende von Track 2 begonnen Satzes verlauten lässt: »aus Gestank das Massiv umkreiste«, »Jahre lang das Massiv umkreiste«, »von der Mauer aus Gestank«, »wieder von der
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Text als Klangmaterial Mauer aus Gestank«, »dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste«, »weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste«, »aber zurück«. Unterbrochen wird der Gesang bei 01:25 durch einen textfremden Einschub, der mit einer ruhigen, aber emotionalen Stimme von Otto Sander (M3) gelesen wird und ohne Versprecher und Nebengeräusche in einer trockenen Studioatmosphäre aufgenommen wurde. Bei dem Einschub handelt es sich um folgenden Ausschnitt aus Müllers »Traktor«: »Immer den gleichen Stein, den immer gleichen Berg hinaufwälzen. Das Gewicht des Steins zunehmend, die Arbeitskraft abnehmend mit der Steigung. Patt vor dem Gipfel. Wettlauf mit dem Stein, der vielmal schneller den Berg herabrollt als der Arbeitende ihn den Berg hinaufgewälzt hat. Das Gewicht des Steins relativ zunehmend, die Arbeitskraft relativ abnehmend mit der Steigung. Das Gewicht des Steins absolut abnehmend mit jeder Bergaufbewegung, schneller mit jeder Bergabbewegung. Die Arbeitskraft absolut zunehmend mit jedem Arbeitsgang (den Stein bergauf wälzen, vor neben hinter dem Stein her bergab laufen). Hoffnung und Enttäuschung. Rundung des Steins. Gegenseitige Abnutzung von Mann Stein Berg. Bis zu dem geträumten Höhepunkt: Entlassung des Steins vom erreichten Gipfel in den jenseitigen Abgrund.«40
Dieser Textausschnitt kommentiert das unaufhörliche, mechanische Bemühen eines Arbeiters, einen Stein einen Berg hinaufzubefördern, mit dem Resultat, dass kurz vor dem Ziel der Stein stets wieder hinabrollt. Damit wird auf Sisyphos verwiesen, der von Zeus mit genau dieser Arbeit bestraft wurde. Somit wird durch den Verweis auf den Mythos des Sisyphos’ das beständige Bemühen Herakles’, den Berg zu besteigen, um Prometheus zu befreien, kommentiert. Statt mit einem Stein kämpft der Befreier mit dem fortwährenden Gestank des Kots, von dem er immer wieder zurückgeworfen wird. Nach dieser Passage wird der polyphone, lauter werdende Gesang von Walter Raffeiner wieder aufgenommen: »weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste« »so daß weißschimmernd von Vogelkot« »den Gefesselten, den Gefesselten, fesselten zwar schon ausmachen, weißschimmernd von Vogelkot, aber, zurückgeworfen immer wieder von der Mauer aus Gestank« »weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste« »erstieg, er den Gefesselten zwar schon aus großer Entfernung ausmachen konnte« »weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste, so daß« »so daß, als nach dreitausend Jahren«
40 Mülller, Heiner: Traktor, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 483-505, S. 499f.
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Die Befreiung des Prometheus Mantraartig werden das Umkreisen und das Zurückgeworfenwerden wiederholt, die vergeblich scheinende Mühe betont. Unterbrochen von einem weiteren kurzen Einschub aus »Traktor« – »Oder bis zu dem denkbaren Nullpunkt: niemand bewegt auf einer Fläche nichts. STEIN SCHERE PAPIER: STEIN SCHLEIFT SCHERE SCHERE SCHNEIDET PAPIER PAPIER SCHLÄGT STEIN«41 – und der lapidaren Beendigung des Einschubs durch den nicht im Text enthaltenen Hinweis »und so weiter«, der den stetigen Fortlauf nochmals deutlich macht, wird dann das Umkreisen des Massivs nicht mehr in Versatzstücken, sondern als zusammenhängender Text, einmal von Raffeiner singend und einmal, leicht zeitversetzt, polyphon von ihm gerufen, wiedergegeben. Gleich darauf erfolgt eine rhythmische Aneinanderreihung von nicht zusammengehörenden, auf die Musik abgestimmten Satzfetzen: »so daß als nach zwar schon aber immer wieder weitere dreitausend Jahre lang während« (04:11-04:25). Danach erfolgen das ›Sample‹ der ersten zwei Sätze des »Traktor«Textausschnitts und schließlich Raffeiners Rezitation der vollständigen Textpassage um das Bemühen Herakles’, lediglich mit Auslassung des Satzteiles »und ihn mit seinem Kot ernährte«. Der den Aufstieg kommentierende Track macht die mühevolle Arbeit hörbar. Dabei orientiert sich Goebbels mit der akustischen Undurchdringlichkeit an der bereits vorliegenden syntaktischen Struktur von Müllers Text. In einem Interview verweist er auf den »endlos verschachtelten Satz, der wegen seiner vielen Nebensätze mindestens genauso schwer zu ›nehmen‹ ist wie der Berg, auf dem der gefesselte Prometheus befreit werden soll«42. So erlebt auch der Hörer die Mühe und die Rückschläge des Befreiers, indem er selbst immer wieder Teile der Textpassage in andauernder Wiederholung hören muss, Stück für Stück, bevor der Regen im nächsten Track die textliche Wiederholung ablöst. Die erste halbe Minute des Tracks »Endlich, der Regen« wird durch die musikalische Darstellung von Regen als angenehmes, leichtes und leises Fließen erfüllt, ab 01:15 von sanften Saxophonklängen begleitet. Otto Sanders ruhige und leise Stimme rezitiert vor diesem Hintergrund den Großteil von Müllers Intermedium »Der Mann im Fahrstuhl« aus dem Drama »Der Auftrag«. Darin erzählt ein fehlerlos scheinender und autoritätsgläubiger Angestellter von seinem Auftrag, den er von seinem Chef, auch »Nummer Eins« genannt, zu empfangen glaubt. Seine Fahrt im Fahrstuhl löst den Angestellten jedoch aus dem Raum- und Zeitgefüge und entlässt ihn schließlich in eine verarmte Landschaft in Peru, wo er mit seinem
41 Ebd., S. 500. 42 Gorbauch, Tim: Zurückhaltend bestimmt, in: PlanF Nr. 2 (Beilage der Frankfurter Rundschau), 07.01.2004, S. 17.
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Text als Klangmaterial eigenen Ich konfrontiert wird. Die Aufnahme erfolgte – wie alle Aufnahmen mit Sander in diesem Hörstück – in ungestörter Studioatmosphäre. Während der »Traktor«-Ausschnitt jedoch fehlerfrei vorgetragen wurde beziehungsweise Fehler und Versprecher herausgeschnitten wurden, finden sich in der ›Fahrstuhl‹-Passage Pausen und Neuansätze, wie zum Beispiel bei 02:07, wo Sander über das Wort »Fahrstuhltür« stolpert und den Satz nach einer Pause von vorne beginnt. Bevor bei 03:59 ein Sprung von der Mitte der ›Fahrstuhl‹-Passage zur ›Prometheus‹-Aufnahme von Müller im Wirtshaus vollzogen wird, bricht die Kinderstimme herein, die parallel zu Sanders Stimme »Ich habe einen Regenschirm für dich, wenn’s regnet!« (03:10-03:15) ruft. Damit wird eine Verbindung zwischen der Geschichte des Angestellten im Fahrstuhl zum reinigenden Regen der ›Prometheus‹-Handlung geschaffen. Müllers Rezitation beginnt mitten im Satz bei »mißtönendem Gesang« und beinhaltet, ohne jegliche Auslassungen, die folgenden 16 Textzeilen, bis sie bei »Welle des Gestanks« abbricht. Die musikalische Atmosphäre wechselt, die Blasmusik verebbt und wird von der ruhigen Musik vom Beginn des Tracks samt Saxophon abgelöst. Dabei singt die Kinderstimme »es regnet, es regnet«, was als ›Sample‹ direkt wiederholt wird (06:4306:55). Nach einem harten Schnitt beginnen rhythmische Schläge, das Zerschlagen von Glas und Schritte, während eine neue Männerstimme (M4), stark betont, um deutliche Darstellung der Handlung durch die Stimme bemüht und leicht ironisch anmutend, Herakles’ Sieg über den Adler liest. Dabei setzt auch spannungserzeugende Filmmusik ein, die im Hörstück eher persiflierend wirkt. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Verwendung der Sprache und von den illustrierend verwendeten Geräuschen wie Röcheln, Kampfäußerungen, der Schmerzäußerung »Aua« und dem Geräusch eines fliegenden Pfeils. Sie sind Doppelungen und Verbildlichungen des im Text Gesagten, die wie Karikaturen effektvoll gestalteter Filmdramen auftreten und Komik erzeugen. In Track 5, »Stunde Null – Heimweh nach dem Fahrstuhl«, wird der Hörer zunächst unvermittelt mit einer polyphonen Fülle an OTönen von Männerstimmen in der mit Müllers Rezitation eingeführten Wirtshausatmosphäre konfrontiert. In den Vordergrund rückt schnell eine junge Männerstimme (M5), die zügig und ohne Auslassungen die Auseinandersetzung zwischen Prometheus und seinem Befreier nach der Tötung des Adlers liest, während die verbleibenden Stimmen leicht zeitversetzt im Hintergrund denselben Text wiedergeben. Anschließend klingen alle Stimmen bis hin zur Stille ab, was der Stimme des Kindes Raum gibt, die die Feststellung »Aber Prometheus konnte den Sinn seiner Worte nicht begreifen« (00:4500:53) ins Zentrum der Betrachtung rückt. Denn bei dem, was zuvor durch die Vielstimmigkeit vermittelt wurde, ist der zentrale Ge-
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Die Befreiung des Prometheus danke das Unverständnis des Befreiten gegenüber seinem Befreier, aufgrund dessen er sich verbal und körperlich gegen ihn wendet. Der Titel des Tracks verweist bereits darauf, dass der Plot des ›Fahrstuhl‹-Intermediums wieder aufgenommen wird. Nach der Aussage des Kindes liest Otto Sander den Text ab dem Verlassen des Fahrstuhls durch den Angestellten und sein Hinaustreten in eine fremde, von ihm als verstörend und bedrohlich empfundene Landschaft in Peru. Der namenlose Angestellte wünscht sich den beengenden, aber auch sicheren Ort des Fahrstuhls zurück: »Ich überlege, ob ich zurückgehen soll, noch bin ich nicht gesehen worden. Nie hätte ich gedacht, während meines verzweifelten Aufstiegs zum Chef, daß ich Heimweh nach dem Fahrstuhl empfinden könnte, der mein Gefängnis war.«43 Damit wird erneut eine Verbindung zu Prometheus und seiner zuvor dargestellten Lage geschaffen. Auch der gegen seinen Willen Befreite fühlt sich von der Freiheit bedroht und sehnt sich nach der als sicher und gewohnt empfundenen Stelle im Kaukasus sowie seinem »Gefährten« und »Ernährer«. Die Situation des Angestellten, der aus dem gewohnten Raum- und Zeitkontinuum und dem straffen Arbeitsalltag befreit wird, macht Prometheus’ Sehnsucht nach der Unfreiheit abseits des Mythos auf einer aktualisierten Ebene deutlich. Der Text des Intermediums wird, zwar mit einigen längeren Auslassungen, jedoch bei vollständiger Wahrung der Chronologie, bis zum Ende wiedergegeben. Im Fokus steht hierbei die Sprache, die zwar immer wieder durch punktuell gesetzte Geräusche eine minimale Unterbrechung erfährt, jedoch nicht im Verständnis gestört wird. Ab 01:11 setzt immer wieder ein enervierender, sehr hoher und sehr kurzer Sinuston ein. Dabei hält der gesprochene Text zunächst für die Dauer der Unterbrechung inne, im späteren Verlauf fährt der Text jedoch konstant ohne Pause fort. Neben dem Sinuston handelt es sich bei den weiteren Geräuschen, die daraufhin auftreten, um Ausschnitte von bereits gehörten ›Samples‹ – harte elektronische Klänge (01:42-01:44; 01:5001:51), das gezerrte »aß«(01:57-01:58), Zerbrechen von Glas, das gesungene »Oh« (02:03-02:04, 02:10), Elefanten (02:16-02:17, 02:34, 02:38), Schlagzeug (02:28-02:30) und gesungene Wortfetzen »aber zurück« (03:24), »zu« (03:26), »das« (03:28). Diese ›Samples‹ aus vorhergehenden Tracks wirken durch ihre Auswahl, Lautstärke und unruhige Schnitte als Kontrast zu der ruhigen Stimme von Sander, intensivieren die Verbindung zwischen »Der Mann im Fahrstuhl« und Prometheus und halten durch den wiederkehrenden Einsatz die Erinnerung an die ›Prometheus‹-Handlung aufrecht. Der Kontrast wird zunächst mit der Verwendung eines textunterlegten,
43 Müller, Heiner: Der Mann im Fahrstuhl, in: Hörnigk, Frank (Hg): Heiner Müller. Werke 2. Die Prosa, Frankfurt am Main 1999, S. 104-110, S. 107.
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Text als Klangmaterial rhythmisch wiederkehrenden, sich in der Geschwindigkeit steigernden, in der Länge aber abnehmenden Klanges (03:30-04:17) auf den Höhepunkt getrieben, danach erklingt die ruhige Musik aus Track 4. Auf sprachlicher Ebene mündet die einstimmige Rezitation von Sander ab »der Antipode« in Vielstimmigkeit seiner Stimme, das ›Sample‹ des ›Fahrstuhl‹-Textes wird während der letzten zwei Sätze erneut abgespielt, die Wiederholung des Weges des Angestellten als ein allgemein gültiges Modell wird damit akustisch erfahrbar gemacht. Der Neologismus »Zeitwetterkotfleischmetallrost«, den der nächste Track als Titel trägt, verschmilzt die Worte, die den nächsten Textabschnitt dominieren. Zu einem leidenden, gequälten Gesang, der sich im Verlauf zu eher kampfeslustigen akustischen Posen wandelt, gesellen sich Rockmusik mit einem treibenden Rhythmus und punktuell kurze Filmmusikausschnitte, die aufgrund ihrer dumpf klingenden Aufnahme nicht die Illusion zulassen, sich tatsächlich in einem Film zu befinden. Vor dieser Kulisse beginnt Schanelec betont und langsam über die Befreiung Prometheus’ von den Ketten zu lesen, kommt jedoch über den Satz »Nur am Geschlecht war die Kette mit dem Fleisch verwachsen, weil Prometheus, wenigstens in seinen ersten zweitausend Jahren am Stein, gelegentlich masturbiert hatte« nicht hinaus. Die Filmmusik tritt in den Vordergrund, Trommeln erklingen und eine Männerstimme artikuliert sich lediglich mittels scheinbar zusammenhangloser Buchstaben, Silben und unverständlicher Wortteile. Gleichzeitig mit diesen Äußerungen werden die einzelnen Wörter Zeit, Wetter, Kot, Kette, Fleisch, Metall, Stein und Rost zunächst gedehnt und betont, dann lauter und höher, insgesamt drei Mal von Raffeiner wiederholt. Hier wird die »Faszination, die die unvorstellbaren Dimensionen von Arbeit und Zeit, Kot und Gestank in dem Text auf mich [Goebbels, Anm. d. Verf.] ausüben«44, deutlich hörbar. Nach weiteren sinnfreien Äußerungen erfolgt ein Rückschritt im Text und Prometheus’ direkte Rede an Herakles wird ohne Hinführungen von Raffeiner gesungen vorgetragen: »Soll ich deine Pfeile essen. Soll ich deine Pfeile essen. Kannst du fliegen, Bauer, mit deinen Füßen aus Mist.« Die unverständlichen Äußerungen vermitteln nun Anstrengung, Fanfaren ertönen in der Filmmusik und zeigen die Vollendung der Befreiung an, die auf der sprachlichen Ebene mit »Von der Befreiung blieb eine Narbe« konstatiert wird. Prometheus’ Loslösung vom Ort der Bestrafung erweist sich durch den Widerspruch zwischen der gutgemeinten Befreiung durch Herakles und dem Festhalten Prometheus’ am Status quo als nicht einfach, indem beim
44 Goebbels, Heiner: Die Befreiung des Prometheus, in: Booklet zur CD, in: ders.: Hörstücke nach Texten von Heiner Müller, ECM Records 1994.
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Die Befreiung des Prometheus Verlesen des Satzes »Auch wußte er wohl, daß der A...« durch Raffeiner drei Mal bei »Adler« ein Verschlucken, Würgen und Übergeben angedeutet wird. Damit wird die im Hörstück an dieser Stelle nicht nochmals erwähnte Antwort von Herakles »Iß den Adler« und die mögliche Ausführung durch Prometheus mit dem Resultat des Unvermögens, ihn wirklich zu verspeisen, assoziiert. Erst beim vierten Versuch, die Textstelle zu lesen – diesmal in der von der Blaskapelle begleiteten Rezitation durch Müller –, wird der Brechreiz überwunden. Track 7 unterbricht das ›Prometheus‹-Intermedium und stellt eine Rückblende dar, in der die Bestrafung des Titanensohns aus Sicht des Schmiedes Hephaistos geschildert wird. Heiner Goebbels verwendet in dem knapp dreiminütigen Track Ausschnitte aus dem Drama »Prometheus«, bei dem sich Müller an der Fassung von Aischylos orientierte. Im vorliegenden Track wird der Gegensatz zwischen den Riesengestalten Kratos und Bia (Kraft und Gewalt), die eine schnelle Ausführung der von Zeus verhängten Strafe einfordern, und Hephaistos, der Mitleid mit dem zu Bestrafenden empfindet, thematisiert. Der Track ist fast durchgehend mit Filmmusik mit Fanfaren, die zum Teil verfremdet sind, unterlegt. Im treibenden, zweistimmigen Gesang, der von den Figuren Kratos und Bia vorgetragen wird, finden vor allem die aggressiven Forderungen »An den Berg nagle, kleid mit dem Hammer / In sein Kleid ihn. [...] Stärker schlag, enger bind ihn, geschickt / Wo kein Ausweg ist, den Ausweg / Findet der« und »Den andern jetzt. [...] Den Keil durch die Brust jetzt treib ihm / Mit Gewalt. [...] Jetzt um die Seiten wirf das Erz ihm. [...] Schmied um die Beine ihm den Ring jetzt«45 ihren Platz. Hephaistos hingegen zweifelt, sein Gesang ist leidend und stark gedehnt, er erfüllt auf das Drängen hin aber seinen Auftrag. Laute, harte Metallschläge, die gegen Ende fast schrill klingen, bestätigen die Ausführung der Strafe. Die letzte vom Schmied gemachte Aussage »Ah Prometheus! [...] Ein Bild mit den Augen nicht anzusehn, seh ich«46 wurde bereits in Track 2 verwendet und verdeutlicht das Mitleid, das dieser beim Anblick des Gefesselten empfindet. Der vorletzte Track zeigt den Abstieg vom Kaukasus nach der Lösung der Ketten. Müllers nüchterne, mit Blasmusik unterlegte Rezitation beinhaltet, dass der Befreite sich weiterhin wehrt, und endet mit der Feststellung, dass Herakles ihn zum Abstieg zwingt, indem er ihn trägt. Prometheus als standhafter Schauspieler und der Kaukasus als seine ›Bühne‹ werden in einer Sprachaufnahme des Kindes, das Theater spielen möchte, aus einem anderen Blick-
45 Mülller, Heiner: Prometheus, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main, 2001, S. 9-45, S. 11. 46 Ebd.
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Text als Klangmaterial winkel gezeigt: »Nanananana....! Jetzt bin ich der Zuschauer. Auch. Jetzt bin ich der Zuschauer. Neee! Hier, das ist unsere Bühne. Ja, wir bleiben, auf unserer einzigen Bühne. Nein. Darfst du nicht. Nein, das darfst du nicht! Jetzt geh, nein! Geh jetzt weg! Ja, wir bleiben, auf unserer einzigen Bühne.« (01:03-02:03). Das Kind möchte das Spiel bestimmen und reagiert widerspenstig, wenn es nicht seinen Willen bekommt, vergleichbar mit dem ungehalten reagierenden Prometheus, der Herakles beschimpft, anspuckt und »mit Zähnen und Klauen« zu verletzen versucht. Der Abstieg auf den Schultern beziehungsweise an der Brust des Befreiers wird von Trommelschlägen, Fanfaren, der Anfangsmelodie der Wochenschau im Dritten Reich, anrührender Filmmusik und Variationen des Jingles der Filmvertriebsfirma »20th Century Fox« in verschiedenen Aufnahmequalitäten begleitet und der triumphierende Abstieg zu den Menschen wird ›filmreif‹ inszeniert. Die letzte Auseinandersetzung mit den Göttern wird mit dramatischer Musik unterlegt und so der Kampf, der im Selbstmord der Götter gipfelt, illustriert. Schließlich wird die lauter werdende Musik mit elektronischen Geräuschen verdichtet und die Bühne beziehungsweise das dargebotene ›Schauspiel‹ um die Komponente ›Publikum‹ erweitert. Dies führt mit ausgedehntem Applaus, Pfiffen, »Zugabe!«-Rufen und Schreien (06:0406:46) zum Ende des Tracks. Hans-Thies Lehmann bezeichnet diese Inszenierung des Abstiegs als »assoziationsträchtige Collage von Hollywood-Filmmusik, martialischen Bläserklängen, der Erkennungsmelodien der NS-Wochenschauen, wieder Hollywoodmusik, allerlei Geräuschen von Kinderstimmen über technische Maschinen bis zu furchterregendem Massengejohle«47. Auch wenn nicht alle in diesem Track verwendeten akustischen Mittel beim ersten Hören ihren Quellen zugeordnet werden können, ist die Atmosphäre, die vermittelt wird, eine deutlich künstliche beziehungsweise gespielte, so wie es auch Prometheus’ Haltung ist, wenn er einerseits seinem Befreier den Weg weist, andererseits aber laut seine Unschuld an dieser Befreiung betont. Das letzte Bild des Hörstücks mit dem Titel »Im Jubel der Bevölkerung – Zugabe«, der kürzeste und gerade einmal eineinhalb Minuten dauernde Track, führt die Publikumsgeräusche fort und beinhaltet außerdem lediglich den durch Raffeiner rufend vorgetragenen letzten Satz des Textes: »Prometheus arbeitete sich an den Platz auf der Schulter seines Befreiers zurück und nahm die Haltung des Siegers ein, der auf schweißnassem Gaul dem Jubel der Bevölkerung entgegenreitet.« Sodann schwillt Applaus an und der Vorhang
47 Lehmann, Hans-Thies: Text/Musik/Hören: Heiner Goebbels – Heiner Müller, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 52-56, S. 56.
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Die Befreiung des Prometheus fällt akustisch mit einem ›Fade Out‹, also einer Reduzierung der Lautstärke beziehungsweise einer Ausblendung48. Mit dem Schluss des Hörstücks überführt Heiner Goebbels den Prosatext in ein Theaterstück samt Schlussapplaus, womit das Verhalten Prometheus’ als Inszenierung verdeutlicht wird. Zusammenfassend lässt sich »Die Befreiung des Prometheus« als eine aus Collagen auf textlicher und akustischer Ebene bestehende Komposition charakterisieren. Ausschnitte der verschiedenen Textquellen werden miteinander verwoben, es werden Verbindungen und Querverweise geschaffen, die dem Verständnis des eigentlichen Textes, des Intermediums »Die Befreiung des Prometheus«, dienen. Die sprachliche Ebene wird dabei von ruhiger Rezitation auf der einen Seite und teils gedehntem, teils unruhigem Gesang auf der anderen Seite dominiert. Die Sprecheranzahl ist begrenzt, der gesprochene Text verteilt sich auf eine Frauenstimme (Schanelec), eine Kinderstimme (Jakob Rentdorff-Goebbels) und fünf Männerstimmen (Raffeiner, Müller, Sander, Mann mit leichtem Dialekt, junger Mann im Wirtshaus). Schanelec und Sander haben eine erzählende Sprechhaltung und sorgen mit deutlicher Artikulation für ein klares Verständnis beim Hörer. Die Aufnahmen wurden im Studio gemacht und verzeichnen im fertigen Hörstück nur vereinzelt Versprecher, Lachen oder Räuspern. Diese Fehler schaffen einen Bruch in der perfekten Studioatmosphäre und somit Distanz beim Hörer. Die Kinderstimme klingt unbedarft, bemüht beim Aufsagen des Textes beziehungsweise ungezwungen bei den O-Ton-Aufnahmen im Alltag, begleitet von Nebengeräuschen. Das auffälligste Nebengeräusch – eigentlich Nebenmusik – stellt die Blaskapelle im Wirtshaus im Hintergrund der Aufnahme der Rezitation Müllers dar. Wolfgang Sandner konstatiert hierzu: »Heiner Müllers Stimme geht einher mit einer Blaskapelle, als befänden wir uns auf einem Schützenfest, dessen Hauptattraktion die Erlegung eines hundsköpfigen Adlers ist, der noch die Leber des unglücklichen Prometheus im Schnabel hält.«49 Müllers Duktus ist jedoch nicht im Sinne einer Attraktion. Ruhig, nüchtern, ohne Hervorhebungen und fast emotionslos liest er seinen eigenen Text, gibt dem Hörer keine Interpretation durch Intonation vor und geht vor dem Hintergrund der Geräusch- und Musikkulisse fast unter. Die von verschiedenen Stimmen in verschiedenen Aufnahmesituationen gelesenen, sich zum Teil überschneidenden Textausschnitte zeigen verschiedene Herangehensweisen an den Text auf, vom leichten und perfekt anmuten-
48 Vgl. Dietel, Gerhard: Wörterbuch der Musik, München 2000, S. 96. 49 Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 26.
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Text als Klangmaterial den über sehr trockenes bis hin zum bemühten Sprechen. Die verwendeten Geräusche stammen aus verschiedensten Bereichen, es werden mit Instrumenten (Schlagzeug, Saxophon) und elektronisch einzelne Töne produziert, Tierschreie (Elefanten, Affen) vermitteln Unruhe, es wird Metall geschlagen, mit Ketten gerasselt, Glas zerschlagen, es werden Schritte und Pfeile akustisch dargestellt. Dies geschieht nicht in Form eines ›Klangteppichs‹, die Geräusche und Klänge werden vielmehr punktuell, oft in Verbindung mit schnellen Schnitten, als rhythmisierende und strukturierende Elemente eingesetzt. Ebenso vielfältig ist die verwendete Musik, die sich neben elektronischer Kompositionen prägnanter Filmmusiken und bekannter Erkennungsmelodien bedient, somit dem Hörer bekannte Hörmuster vorsetzt, eine Aktualisierung dieser erreicht und gleichzeitig, beispielsweise durch Verzerrungen und Dehnungen, einen Bruch mit dem Mythos evoziert. Geräusche, Klänge und Musik stellen keine direkte Verbindung zum gelesenen Text, keine Doppelung, dar, sondern bieten vielmehr eine Fülle an Assoziationsmöglichkeiten, die dem Hörer durch seine individuelle Hörerfahrung verschiedene Deutungsangebote eröffnen. Das als Collage aus einer Vielzahl an, von verschiedenen Stimmen in verschiedenen Sprechhaltungen, gelesenen Textausschnitten, Geräusch- und Musiksamples konzipierte Hörstück, das den eingangs erwähnten Untertitel »Hörstück in neun Bildern« trägt, zeigt eine akustische ›Malweise‹ auf, die keine feststehenden Bilder kreiert, sondern lediglich Umrisse festlegt und dazu Assoziationen und Stimmungen hervorruft.
4.3.3 ANERKENNUNG UND EHRUNG FÜR DAS »TEXTMUSIKKLANGKRACHSTÜCK« – ERGEBNISSE »Die Befreiung des Prometheus« bildet im gleichnamigen Hörstück den Rahmen, in den weitere Textausschnitte aus Müllers Werken »Traktor«, »Der Auftrag« und »Prometheus« eingebunden werden. Dabei wird das Intermedium in viele kleine Einzelteile zerlegt, um dann satz- oder auch wortweise mit passenden Versatzstücken der anderen Texte ergänzt zu werden. Die Chronologie wird bei dieser Textdurchdringung nicht gewahrt, das ›Prometheus‹-Intermedium wird in sprunghaften Stücken, mit Rückblenden, Wiederholungen und zum Teil in neu zusammengesetzten Satzfetzen akustisch umgesetzt, wobei letztlich im Verlauf der knapp 45 Minuten der vollständige Text zur Rezitation kommt. Das Intermedium »Der Mann im Fahrstuhl« aus dem Drama »Der Auftrag« wird fast vollständig wiedergegeben. Auslassungen betreffen beispielsweise die vertiefte Darstellung der Fahrstuhlfahrt, die Gedanken des Angestellten über den Auftrag und die detaillierte Beschreibung der Landschaft in Pe-
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Die Befreiung des Prometheus ru – Textstellen, die für eine Verbindung zu Prometheus nicht notwendig sind. Aus den verbleibenden beiden Texten, »Traktor« und »Prometheus«, sind von vornherein nur kurze Ausschnitte ausgewählt worden, die im Hörstück nicht mehr auf den Zusammenhang der Ursprungstexte verweisen, sondern in einen neuen Kontext gesetzt sind. Die Textebene wird im Hörstück nicht interpretierend dargestellt, sondern als rhythmische Sprachfläche ausgebreitet, die von Geräuschen und Musik teils bereichert, teils dominiert wird. Diese stammen aus vielfältigen Bereichen und wurden zum Teil erzeugt beziehungsweise neu komponiert, zum Teil als Material vorgefunden und als ›Samples‹ eingesetzt. Ulrich Stock bezeichnet das Hörstück in seinem Portrait über Goebbels in »Die Zeit« als »ein Textmusikklangkrachstück, das vor Panoramen, Einfällen, Farben, Plötzlichkeiten strotzt«50. Es wurde 1986 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden vor allem aufgrund der Collagetechnik sowie der Umsetzung des Textes in »akustische Bilder [...], die dem Assoziationsvermögen des Hörers einen breiten Spielraum eröffnen«51, ausgezeichnet und später auch als szenische Konzerte in Italien, Frankreich, Spanien und 1993 auch in Deutschland auf die Bühne gebracht.52 »Die Befreiung des Prometheus« erschien 1994 auf Tonträger im Rahmen der Veröffentlichung der CD-Box »Hörstücke I-III«. Die Medienkritikerin Mechthild Zschau stellt zu Beginn ihrer Kritik der Veröffentlichung in dem Broadcast-Magazin »CUT« die Frage: »Was ist das bloß? Literatur mit sehr viel Drumherum so etwas wie weiland Jazz und Lyrik? [...] ›Nur‹ ein Hörspiel? Oder eine avantgardistische Oper, deren Bilder sofort und mit erschreckender Wildheit im Kopf entstehen?«, um schließlich selbst die Antwort zu geben, dass es sich bei »Die Befreiung des Prometheus« um »eine so differenzierte wie opulente, schmerzhaft emotionale wie präzise gedachte Form des akustischen Malens«53 handle.
50 Stock, Ulrich: Am letzten Wochenende zeigte das Frankfurter Schauspiel das neueste Werk von Heiner Goebbels: Radikalmusik. Ein Porträt des Musikers Heiner Goebbels, in: Die Zeit, 27.06.1986, zitiert nach: http://www. zeit.de/1986/27/Radikalmusik vom 01.12.2008. 51 Wagner, Klaus: Bilder für die Ohren. Kriegsblinden-Hörspielpreis: Heiner Goebbels und Heiner Müller, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.03.1986. 52 Vgl. Kemper, Peter: Schnabelhiebe. Heiner Goebbels' Die Befreiung des Prometheus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.09.1993. 53 Zschau, Mechthild: Unerreichbare Höhen. Kritiker, Schauspieler, Radiomacher über ihr wichtigstes Hörerlebnis. Teil 1: Die Befreiung des Prometheus – Hörspiel von Heiner Goebbels, in: CUT 12/98, zitiert nach: http://www. heinergoebbels.com/deutsch/cdkritik/cdk04.htm vom 01.12.2008.
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4.4 MAeLSTROMSÜDPOL – MAeLSTROMSÜDPOL (ECM Records 1987) 4.4.1 TEXTANALYSE Den gerade einmal eine Seite umfassenden Prosatext »MAeLSTROMSÜDPOL« schrieb Müller im Rahmen eines Projekts für die Eröffnung der documenta 8 in Kassel 1987. Für die dort uraufgeführte gemeinsame Performance mit Erich Wonder und Heiner Goebbels übernahm Müller Motive aus der Erzählung »Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket« (»The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket«) von Edgar Allan Poe. »MAeLSTROMSÜDPOL« greift dabei den Schluss, das 25. Kapitel des Berichts von Pym, komprimierend auf. Die Struktur des Textes zeichnet sich durch den vollständigen Verzicht auf Interpunktion und die Hervorhebung einzelner Wörter (»TEKELILI«, »NUNU«, »TSALAL«), Sätze (»OH KEEP THE DOG FAR HENCE THAT’S FRIEND TO MEN OR WITH HIS NAILS HE’LL DIG IT UP AGAIN«, »THAT CORPSE YOU PLANTED«) sowie Satzteile durch Versaldruck aus. Die in Versalien gedruckten Passagen sind in doppelter Hinsicht auffällig und unterscheiden sich vom Rest des Textes, denn während der restliche Text, bis auf eine Klammer mit englischem Inhalt (Z. 2-4), in deutscher Sprache verfasst ist, handelt es sich bei den Versalien entweder um lautmalerische Neologismen oder um englische Satzteile. Im Gegensatz zum Text »Verkommenes Ufer«, der ebenfalls diese strukturellen Besonderheiten aufweist, ist der Text jedoch nicht im Zeilenstil geschrieben, sondern als fortlaufender Text im Block. Dies macht das Lesen ungleich schwerer, Satzanfänge und -enden sind nicht aus dem Schriftbild ersichtlich, die Syntax wird vom Leser im Verlauf des Leseprozesses entschlüsselt oder bleibt auch im Unklaren. Eine hervorgehobene Stellung durch mehrmalige Verwendung erhalten die Wörter »Wasser« (Z. 5, Z. 9, Z. 10, Z. 13, Z. 26), »Boot« (Z. 7, Z. 9, Z. 31, Z. 34) und die Variationen von »Asche« (Z. 10, Z. 18) als »weißer Staub« (Z. 9), der »aschenartig« (Z. 9) ist, als »aschenartiger Staub« (Z. 13) und »Aschenregen« (Z. 18). Mit diesen Angaben sind auch die Verortung der Protagonisten, der Reisenden, – auf einem Boot auf dem Wasser – und das auf den Übergang zu einem Durchgang (Z. 36) hinweisende Wortfeld ›Asche‹ benannt. Des Weiteren lässt sich die Kontrastierung der Farben Weiß und Schwarz beziehungsweise der Abstufungen des Lichts, hell und dunkel, feststellen. So ist der Aschenstaub weiß (Z. 9), ebenso wie das im Wasser schwimmende Tier (Z. 12), der fallende Vorhang (Z. 16), die großen Vögel (Z. 27) und die am Ende auftauchende Ge-
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MAeLSTROMSÜDPOL stalt, deren Farbe sogar mit dem Vergleich »weiß wie Schnee« (Z. 39) beschrieben wird. Die Zähne des Wilden NUNU hingegen sind schwarz (Z. 12), werden jedoch nach seinem Tod weiß (Z. 32). Dies lässt darauf schließen, dass die Farbe Weiß den Übergang zum Tod oder zumindest zu einer anderen Welt, die sich im Text nach und nach offenbart, also eine Veränderung, kennzeichnet. Zudem wird die Dunkelheit durch ein Leuchten erhellt (Z. 17f.), das durch den alliterativ gestalteten Vergleich von »flackernden Bildern wie Fetzen von Fotografien im Feuer« (Z. 23f.) dargestellt wird. Ohne die Kenntnis von Poes Erzählung wirkt »MAeLSTROMSÜDPOL« wie ein Stimmungsbild, die Skizze einer Landschaft, die auf dem Wasser durchfahren wird. Die Bootsfahrt beginnt im Nebel, der ein »wilde[s] Flackern am oberen Nebelrand« (Z. 8) aufweist. Das Wasser ist warm und unruhig. Mit dem Fallen von weißem Staub, der zwar aschenartig ist, für den personalen Erzähler jedoch »keine Asche« (Z. 10, Z. 18) zu sein scheint, beruhigt sich die Szenerie. Den Beginn des ersten zu erkennenden Textabschnittes (Z. 1-10) durchbrechen sowohl hinsichtlich der Struktur als auch hinsichtlich des Inhalts das in Versalien geschriebene, lautmalerische »TEKELILI TEKELILI«, das im späteren Verlauf als Schrei der großen weißen Vögel identifiziert wird (Z. 28) und die Reisenden schon seit dem Besuch einer Insel zu begleiten scheint, sowie der in Klammern gesetzte Satz »that corpse you planted last year in your garden has it begun to sprout will it bloom this year«. Der in englischer Sprache verfasste Satz kann durch seine Stellung als Frage verstanden werden. Wer sie wem gegenüber äußert, bleibt jedoch aus dem textinternen Kontext unklar. Zwar kann man mit Hilfe der Nennung der »Insel des großen Blutbades« (Z. 1) in diesem Kontext den Tod assoziieren, ein Leichnam im Garten mutet jedoch zunächst skurril an und ist als textlicher Einschub während der Reise unzusammenhängend. Der zweite Textabschnitt (Z. 10-19) beinhaltet die Kommunikation mit dem Wilden NUNU, der von der genannten Insel stammt. Auf die Frage der Reisenden, die »wir« genannt werden, nach der Ursache des Blutbades, antwortet der Wilde nonverbal mit dem Zeigen seiner schwarzen Zähne. Des Weiteren beschreibt der Erzähler ein schwimmendes Tier, das den Namen TSALAL zu tragen scheint oder diesen Laut von sich gibt, den Temperaturanstieg des Wassers, das nun nicht mehr warm, sondern »so heiß daß die Hand brennt« (Z. 13) ist, die Veränderung des Nebels und den aus dem Himmel hereinbrechenden, alles einnehmenden, weißen Vorhang. Der Aschenregen wird von den Reisenden als Bedrohung empfunden. Die Angst, von ihm begraben zu werden, und somit die Angst vor dem Tod, kann ebenfalls mit der in Versalien abgesetzten englischen Anweisung »OH KEEP THE DOG FAR HENCE THAT’S FRIEND TO MEN OR WITH HIS NAILS HE’LL DIG IT UP AGAIN« (Z.
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Text als Klangmaterial 19-21) assoziiert werden. Auch diese Anweisung erscheint zunächst kurios, denn ein Hund wurde im Text bisher nicht erwähnt. Die bis zu diesem Punkt geschaffene Verbindung von Blutbad, Leichnam im Garten und Ausgraben evoziert die Vorahnung auf einen später im Text dargestellten Tod. Die Landschaft verändert sich im nächsten Abschnitt (Z. 21-29) zunehmend, je näher die Reisenden der Nebelwand und einem Katarakt kommen. Dahinter ist bereits ein »Wirbel aus flackernden Bildern« (Z. 23f.) sichtbar und heraustretende »lautlose Stürme« (Z. 25) beeinflussen den Wasserfluss, sodass die Reisenden angezogen werden, während die weißen Vögel sich gegen den Sog wehren. Im letzten Abschnitt (Z. 30-40) stirbt der Wilde, seine Zähne werden weiß und er wird »ohne sichtbaren Übergang« (Z. 33f.) vom Nebel aufgenommen. Das Einsprengsel »THAT CORPSE« kann nun auf den vorhandenen Leichnam des Wilden bezogen werden. Der Nebel wird personalisiert, er greift nach dem Boot und nimmt auch dieses in sich auf. Nach dem Schließen des Durchganges erscheint eine riesige, schneeweiße Gestalt, die folgende Wiederholung des Satzteiles »THAT CORPSE YOU PLANTED« (Z. 38) bringt den Tod und den Leichnam nun mit dieser Gestalt in Verbindung. Der Text bricht dann mit »etwas greift in mein Gehirn OH KEEP THE DOG« (Z. 39f.) unvermittelt ab und lässt vermuten, dass der Erzähler, wie der Wilde, ebenfalls in dem Nebel aufgeht. Poes Erzählung »Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket«, die Müllers Text zugrunde liegt, ist ein Reisebericht von Pym, der 1827 eine Schifffahrt in die Südmeere unternahm. Müller verwendet in seiner auf Reduktion bedachten Art nur Motive des 25. und damit letzten Kapitels dieser Erzählung, das, mit Datierungen versehen, die letzten drei Wochen der Reise im Südmeer der Antarktis in einem gebrechlichen Kanu beinhaltet. Die Reisenden Pym und Peters führen einen Gefangenen mit sich, den Wilden Nunu, der bei dem Anblick von weißem Tuch Angst äußert und »Tekelili« schreit.1 Ab dem 1. März verzeichnet der Berichtende ein »ungewöhnliches Fänomen«2. Das in Müllers Text auftauchende Flackern, die zunehmende Temperatur des Meeres, dessen Farbveränderung und das Herabfallen des Staubes als »feiner weißer Puder, Aschen ähneln – aber gewißlich nichts dergleichen«3 werden bei Poe detaillierter ausgeführt und erstrecken sich steigernd über mehrere Tage des Berichts. »Tsalal« wird bei Poe nicht mit einem Tier in Ver1
Vgl. Poe, Edgar Allan: Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket, in: ders.: Werke II. Phantastische Fahrten. Faszination des
2
Grauens. Kosmos und Eschatologie, Olten 1967, S. 112-400, S. 390 und S. 393. Ebd., S. 391.
3
Ebd., S. 394.
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MAeLSTROMSÜDPOL bindung gebracht, sondern mit der Barbareninsel, von der der Wilde Nunu stammt und die den Namen »Tsalal« trägt. Der lautmalerische Name erweist sich als identisch mit dem Ruf eines Vogels, der auf der Insel heimischen schwarzen Rohrdommel. 4 Die Farben Schwarz und Weiß werden bei Poe ebenfalls kontrastierend und unter anderem in Verbindung mit Tieren verwendet. Im Wasser schwimmt ein weißes Tier, das beim Aufenthalt auf Tsalal einen Aufstand unter den Einwohnern verursacht hat. Aufgrund der Reaktionen Nunus auf die Farbe Weiß kann darauf geschlossen werden, dass die Bewohner der Insel, die ihren Namen einem schwarzen Vogel verdankt, die Farbe Weiß in jeder Hinsicht meiden und sie als Bedrohung empfinden. Mit dem Näherkommen des Bootes hin zum Katarakt wird die Farbe Weiß immer öfter genannt. Ein »[w]eißer Vorhang« erscheint, »fahlweiße Vögel«, die »Tekelili« rufen, kommen »von Jenseits des Schleiers hervorgeflogen«, woraufhin Nunu den Tod findet, und die übergroße Gestalt, deren Haut »von der völligen Weißnis des Schnees«5 ist, erscheint. Damit endet der Bericht Pyms plötzlich. Eine Schlussbemerkung, die den vom Leser geahnten Tod des Berichterstatters bestätigt, schließt Poes Erzählung. Die englischen Satzstücke, die sich in »MAeLSTROMSÜDPOL« finden, sind Zitate aus T. S. Eliots »The Burial of the Dead«, dem ersten Teil von »The Waste Land«. Die entsprechende komplette Textpassage lautet: »That corpse you planted last year in your garden, / Has it begun to sprout? Will it bloom this year? / Or has the sudden frost disturbed its bed? / Oh keep the Dog far hence, that’s friend to men, / Or with his nails he’ll dig it up again!«6 Der Interpunktion folgend, die in Müllers Text nicht mehr vorhanden ist, heißt der Ausschnitt in der Übersetzung des Suhrkamp Verlages wie folgt: »Die Leiche, die du vor’ges Jahr in deinem Garten setztest, / Schlägt sie schon aus? Wird sie dies Jahr erblühn? / Der Spätfrost fror doch nicht etwa ihr Beet auf? / O halt den Wolfshund fern, des Menschen Freund, / Mit seinen Krallen scharrt er sie sonst wieder aus!«7 Die Gefahr des Ausgrabens bezieht sich also auf den Leichnam im Garten, was erst im Zusammenhang und mit Kenntnis von Eliots »The Waste Land« deutlich wird. »MAeLSTROMSÜDPOL« erscheint zunächst als eine wundersame Landschaftsskizze; die dargestellte Landschaft enthält jedoch eine Vielzahl an Verweisen auf den Tod und auf das Eintauchen ins Jen4 5
Vgl. ebd., S. 392. Ebd., S. 396.
6
Eliot, T. S.: The Waste Land, in: ders.: Gesammelte Gedichte. 1909-1962, hg. und mit einem Nachwort versehen von Eva Hesse, Frankfurt am Main 1988, S. 83-127, S. 88.
7
Ebd., S. 89.
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Text als Klangmaterial seits. Die Farbe Weiß, die steigende Hitze und das Auftauchen von Tieren stehen für diesen Übergang, der mit dem Auftauchen der Gestalt von reinstem Weiß seinen Höhepunkt findet. Nach Patrick Primavesi wird bei der »Wiederkehr des Verdrängten [...] der Tod verräumlicht, seine Erfahrung darstellbar als ein Tier-Werden« 8 . Durch die Verräumlichung wird so der Tod fassbar, nicht mehr nur als abstraktes Phänomen, sondern als Landschaft, die den Menschen in sich hineinzieht. Mit dem Thema Tod korrespondiert auch der zweite Text Poes, die Erzählung »Ein Sturz in den Malstrom« (»A Descent into the Maelström«), auf die Müller mit dem Titel seines Textes anspielt. In ihr wird die Geschichte von Fischern erzählt, die in den Sog einer Ozeanströmung, den Malstrom, geraten. Der Strudel dieser Strömung zieht mit seinem Toben und Brausen Schiffe und Meerestiere an und überwältigt sie mit tödlicher Gewalt. Der die Geschichte im Rückblick erzählende Fischer verspürt angesichts der Todesgefahr Neugierde und Interesse an dem Strudel. Er verliert nicht die Hoffnung und kann letztlich als einziger entkommen, während sein Bruder und das Boot in die Tiefe des Wirbels stürzen. Der durch den Titel geschaffene Zusammenhang mit dieser Erzählung Poes verweist bereits vor Kenntnis des Textes »MAeLSTROMSÜDPOL« auf die drohende tödliche Gefahr, die vom Wasser ausgeht und sich im Text schließlich bestätigt.
4.4.2 SOG DES MALSTROMS IN STIMME UND MUSIK – ANALYSE DES HÖRSTÜCKS Das 33-minütige Hörstück »MAeLSTROMSÜDPOL«, abgemischt als Soundtrack zur Aufführung, ist in sieben Tracks aufgeteilt, deren Titel – »Pym«, »Tsalal«, »Oh«, »Fff«, »Tekelili«, »Keep the dog« – auf den ursprünglichen Text von Poe verweisen beziehungsweise Elemente des Textes von Müller darstellen. Nach einem freistehenden Rauschen, dem sowohl hohe als auch tiefe elektronische Töne beigemischt werden, die deutlich Assoziationen zu Vögeln und Schiffssirenen evozieren, ruft im Hintergrund eine als tiefe, weiblich anmutende Stimme – welche jedoch dem Schauspieler David Bennent (M) gehört – die ersten zehn Zeilen des Textes gegen diese Geräuschwand an. Dabei wird die Chronologie des Textes gewahrt, die im Schriftbild abgesetzten Elemente – durch Klammer und Versalien – werden jedoch vorerst ausgelassen. Während der Rufe, die anfangs zum Teil von der Geräuschwand über-
8
Primavesi, Patrick: Kleine Texte, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 321-325, S. 325.
136
MAeLSTROMSÜDPOL tönt werden, klingen die Geräusche nach und nach ab, bis ein (Wellen-)Rauschen übrig bleibt, das über eine Minute frei steht und mit einem ›Fade Out‹ beendet wird. Der Hörer kann sich durch die Geräuschgestaltung und den Duktus der Stimme in einer Meereslandschaft räumlich orientieren, die unruhig scheint und dem sich in ihr befindenden Menschen viel Kraft abverlangt, um in ihr bestehen zu können. Der Titel des ersten Tracks, »Pym«, stellt einen Rückbezug zu Poes Protagonisten Arthur Gordon Pym und seiner Situation am Ende des Abenteuers – in einem maroden Kanu in den Weiten des Antarktischen Ozeans sitzend – her. Gebrochen wird die mögliche Illusion der akustisch dargestellten Meereslandschaft durch die Aufnahmesituation im nächsten Track, »Tsalal«, indem zunächst in trockener Studioatmosphäre die Stimme von Bennent ruhig und akzentuiert ohne jegliche Geräusche erklingt. Dabei wird ein Teil des bereits im ersten Track verwendeten Textausschnitts wiederholt, durch die Modulation der Stimme und deutliche Pausen treten diesmal jedoch Satzanfänge und -enden klar hervor. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in Müllers Text selbst diese Satzgrenzen durch die fehlende Interpunktion nicht gezogen werden, Bennent mit dieser Lesevariante dem Hörer also eine Verständniserleichterung offeriert. Gegen Ende dieser Rezitation setzt leicht überlappend Musik ein, die als Grundmotiv ruhig fließende und sanfte ›Ambient-Musik‹, eine Variante der elektronischen Musik, hat. Diese wird mit dem Einsatz verschiedener Instrumente – Saxophon, Schlagzeug, Trommel, Darbouka (eine Trommel aus dem arabischen Raum) und Tarogato (ein Blasinstrument) – und elektronischer Klänge aus dem Synthesizer hinsichtlich des Rhythmus und des Tempos ergänzt oder verändert. Während der einzelnen, mit längeren Pausen versehenen, gesprochenen Sätze, die die jeweiligen Eindrücke der im Boot Reisenden wiedergeben (beispielsweise »der Nebel wird ruhig«, »das Wasser glatt«, »der aschenartige Staub fällt ohne Pause«) wechselt die Musik zwischen ruhigen Abschnitten mit Saxophonklängen (zum Beispiel 01:00-01:10), anschwellenden, lauten und rhythmischen Trommelschlägen (zum Beispiel bei 01:34-02:35) und hohen, treibenden Tönen (04:10-04:35). Nach »ein Katarakt der schweigend von einem riesigen Wehr am fernen Himmel stürzt« kommen Geräusche, mit denen eine Explosion assoziiert werden kann, hinzu, die schließlich langsam ausklingen, bis nur noch ein leiser hoher Ton übrig bleibt, der bis zum Ende des Tracks gehalten wird und mit einem ›Fade Out‹ endet. Diese Auflösung der Musik bis hin zur Stille korrespondiert mit der inhaltlichen Ebene: der letzte Satz des Tracks heißt »kein Laut« (06:49).
137
Text als Klangmaterial Der dritte Track, »Oh«, nimmt den Satz »kein Laut« noch einmal auf, während auf der Ebene der Musik weiterhin Stille herrscht. Der im Text mit dem Einbruch der Dunkelheit einhergehende, sich verstärkende Sog durch den Aschenregen, der als bedrohlich erscheint, da er die Reisenden »begraben will«, wird in seiner Intensität auf der sprachlichen Ebene deutlich. Der zweite Teil des Tracks kreist um die englischsprachigen Elemente aus Eliots »The Waste Land« und deren deutsche Übersetzung von Müller9. Im Fokus steht der stetig wiederkehrende »Leichnam«. Flüsternd und sehr eindringlich, wobei englisch und deutsch sich oft auf dem linken und dem rechten Übertragungskanal abwechseln, wiederholt Bennent über drei Minuten lang immer wieder einzelne Wörter und Satzteile: »that corpse« »der Leichnam« »oh« »you planted last year« »oh« »der Leichnam« »in your garden« »haltet den Hund fern« »den du letztes Jahr« »gepflanzt hast« »has it begun to sprout« »der den Menschen Freund ist« »in deinem Garten« »will it bloom this year« »oh« »der Leichnam« »keimt er« »wird er blühen dieses Jahr« »that corpse« »den du letztes Jahr gepflanzt hast« »der Leichnam« »you« »wird er blühen« »you« »planted last year« »dieses Jahr« »in your garden« »has it begun to sprout« »der Leichnam« »oh« »will it bloom«
9
Vgl. Booklet zur CD, in: Goebbels, Heiner: black on white, BMG Music 1997, S. 21.
138
MAeLSTROMSÜDPOL »in deinem Garten« »in your garden« (polyphon) »this year« »oh« »oh keep the dog« »keep the dog far« »haltet den Hund fern« »far hence« »der Leichnam« »der« »that’s friend to men« »den du letztes Jahr« »oh« »der den Menschen Freund ist« »oh« »this year« »gepflanzt hast« »dass er ihn nicht ausgräbt« »he’ll dig it up« »keimt er« »again« »wird er blühen« »dass er ihn nicht ausgräbt« »he’ll dig it up again« »dieses Jahr« »mit seinen Nägeln« »der Leichnam« »oh« »dass er ihn nicht ausgräbt mit seinen Nägeln«
Die Pausen zwischen den Wörtern beziehungsweise Satzteilen sind meist mit dem für jeweils zwei Sekunden auftauchenden, musikalischen Grundthema (zum Beispiel 00:40-00:42, 00:55-00:57, 01:0201:04, 01:10-01:12), das ab 01:26 von Vogelzwitschern begleitet wird, gefüllt. Ab 02:43 werdem zudem kurze Melodien des Tarogato hinzugemischt, schließlich auch das Schlagzeug, so dass sich die Musik verdichtet und das Gesprochene zum Teil übertönt. Von 03:44 bis zum Ende des Tracks, also knappe weitere drei Minuten, steht die Musik frei, E-Gitarre, Tarogato und Schlagzeug erzeugen einen sehr lauten, treibenden Rhythmus, der leicht verstörend wirkt. Mit Hinzunahme des musikalischen Grundthemas klingen die Instrumente langsam ab, bis am Ende nur noch Trommelschläge und Vogelgezwitscher zu hören sind, die sanft in einem ›Fade Out‹ verklingen. Der Tracktitel »Fff« bezieht sich auf die im Text auftretende Alliteration »Wirbel aus flackernden Bildern wie Fetzen von Fotografien im Feuer« (Z. 23f.), die am Ende des sehr kurzen Tracks durch Be-
139
Text als Klangmaterial tonung und Dehnung akustisch hervorgehoben wird. Doch zunächst beginnt David Bennent wiederholt, den Text – erneut mit Auslassung der Klammer – von der ersten Zeile an zu lesen. Diesmal werden jedoch keine Geräusche oder Klänge hinzugemischt, sondern Bennents Stimme selbst erscheint in Doppelung beziehungsweise schließlich in Verdreifachung. Die erste Stimme liegt hauptsächlich auf dem rechten Übertragungskanal und rezitiert von Beginn bis zur Alliteration. Dabei wird der im Track »Tsalal« in Einzelteilen gelesene Abschnitt über die vereinzelten Eindrücke und den Kommunikationsversuch mit NUNU dem Hörer nun zusammenhängend und ohne Pausen im Block präsentiert. Nach einigen Sätzen der ersten Stimme erklingt lauter und polyphon zu dieser auf dem linken Übertragungskanal noch einmal Bennent. Diesmal liest er ab »der Nebel wird ruhig«, wobei diese Rezitation dem Text der ersten Stimme vorauseilt. Schließlich mischt sich auf dem rechten Kanal die dritte überlagernde Stimme Bennents hinzu, die laut und erregt die letzten Zeilen bis zur Alliteration liest: »wir treiben mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Nebelwand zu manchmal reißt die Nebelwand und wir blicken in einen Wirbel aus flackernden Bildern wie Fetzen von Fotografien im Feuer«. Die Betonung wird hier schon stark auf das wiederkehrende »f« gelegt. Durch mehrmalige Wiederholung, die schließlich zu einer Verschmelzung der Stimmen in der Alliteration führt, erreicht dieser Teil dank der Zusammenlegung der Stimmen und das durch Bennent in die Länge gezogene »f« eine sehr hohe Intensität, die die Aufmerksamkeit des Hörers auf diesen Satz zieht und Spannung erzeugen kann. Dabei klingen der erregte Duktus und die Härte beim Aussprechen des »f« wie prasselndes Feuer, sie wirken bedrohlich, fast aggressiv, gleichzeitig können sie aber auch Neugier und eine gewisse Anziehungskraft des akustisch dargestellten Flackerns erregen. Der nächste Track, »Tekelili«, beschränkt sich zunächst wieder nur auf Bennents Stimme, die wie im ersten Track gegen etwas anzurufen scheint. Diesmal fehlt allerdings die Geräuschwand. Der Text beginnt nach der Alliteration und weist eine Vielzahl an direkten Wiederholungen auf: »ihre Gegenstände« »ihre Gegenstände nicht mehr auszumachen lautlos« »lautlose Stürme wehen« »lautlose Stürme wehen« »aus dem Riß« »aus dem Riß« »aus dem Riß« »aus dem Riß« »über das glühende Wasser« »zwingen seinen Fluß«
140
MAeLSTROMSÜDPOL »in ihre Richtung« »Richtung« »große weiße Vögel gegen den Sturm« »ihren Schrei haben wir auf der Insel gehört« »gehört« »sie selber nicht gesehen« »nicht gesehen«
Diese Wiederholungen werden im weiteren Verlauf von einem die Stimme begleitenden Echo verstärkt, das ein Anrufen gegen eine Nebelwand erkennen lässt. Dieses Echo verdichtet sich am Ende der Passage immer mehr, schwillt immer lauter an, bis es nicht mehr als Sprache festzumachen ist, sondern Teil der musikalischen Ebene wird und mit der ab 02:10 einsetzenden und zunächst noch textunterlegten Musik aus Gitarre, Schlagzeug und später auch Saxophon verschmilzt. Dazu sind auf der Geräuschebene Schiffssirenen oder Nebelhörner zu hören, auf der sprachlichen Ebene wird als eine Art Refrain der Schrei der Vögel, »TEKELILI«, von Bennent laut und rhythmisch gesungen. Diese Passage kann mit dem Flug der schreienden Vögel über dem Ozean, der durch die Rhythmisierung einem wilden Tanz gleicht, assoziiert werden. Bei 05:02 nimmt Bennent in ruhiger Tonlage die vor dem Musikeinsatz gerufene Beobachtung »große weiße Vögel« erneut auf. Polyphon überlagernd und nur leicht zeitversetzt wird seine Stimme ab dem Sterben des Wilden gedoppelt. Ein Unterschied wird nur am Ende der Textpassage deutlich, denn während die zweite Stimme ruhig zu Ende spricht, ruft die erste Stimme mehrmals erregt »der jetzt nach unserem Boot greift« (05:31-05:48). Dabei setzt auch wieder die in diesem Track bereits gehörte Musik mit Gitarre, Schlagzeug und Saxophon ein, die in einem fließenden Übergang in die Musik des zweiminütigen Tracks »Nunu« übergeht. Dieser kommt vollkommen ohne Sprache und Text aus. Neben einer leicht verzerrten Musik, die diesen Effekt aus dem Rückwärtsabspielen zu gewinnen scheint, und einem tiefen, bedrohlich klingenden Grundton, werden Gitarrensaiten gezupft. Dieses Zupfen wird außerdem vom Mitsummen der Melodie begleitet. Der Verzicht auf Sprache entspricht – korrespondierend mit dem Tracktitel – der Sprachlosigkeit des Wilden NUNU, der im Text nur nonverbal durch Gestik und Mimik (Zeigen der Zähne) mit den Reisenden kommunizieren kann. Der letzte Track, »Keep the dog«, bietet dem Hörer eine Auflösung der englischsprachigen Textteile. Während im Track »Oh« die Sätze aus Eliots »The Waste Land« nur in Versatzstücken und geflüstert zur Sprache kamen, wird nun der gesamte Ausschnitt in dreifacher Wiederholung als Rockgesang, begleitet vor allem von E-Gitarre und Schlagzeug, zu Gehör gebracht. Bei der dritten Wiederholung klingt die Musik langsam ab, es bleibt nur die E-Gitarre 141
Text als Klangmaterial übrig, die langgezogene, fast gequälte Töne von sich gibt. Diesen Tönen passt sich der Gesang an, sodass sich Länge und Tonhöhe der Töne und Wörter entsprechen und die Musik durch diese Verbindung wie Sprache anmutet. Nach mehrmaligen, hohen und tiefen Variationen des Wortes »oh« erfolgt eine weitere Wiederholung des zentralen Satzes »keep the dog far hence that’s friend to men or with his nails he’ll dig it up again«, wobei die Aufmerksamkeit durch die Parallelität von Sprache und E-Gitarre auf diesen Satz gelenkt wird. Das Ende des Textes ist frei von Musik und Geräuschen. David Bennent rezitiert die letzten Sätze ab dem Übergang des Bootes in den Katarakt. Nach dem Vollzug des Übergangs mit den letzten Worten »OH KEEP THE DOG« weist das Hörstück eine akustische Spiegelung durch rückwärtiges Abspielen »GOD EHT PEEK HO« auf. Durch die Entstehung des Wortes »GOD« wird erneut einen Bezug zum Tod und zum Jenseits hergestellt. Ebenso wird der Schrei der Vögel rückwärts abgespielt, wird zu »ILILEKET, ILILEKET« und stellt das Ende des Hörstücks dar. Das Verfahren des Rückwärtsabspielens, das in der Popmusik oft zur Entschlüsselung von versteckten Botschaften verwendet wird, eröffnet in »MAeLSTROMSÜDPOL« kurz eine akustisch gespiegelte Welt, die im Text die Reisenden nach dem Übergang erwartet. Durch die Verweise auf »The Waste Land« sowie die Motive aus Edgar Allan Poes Erzählung, an deren Ende der Protagonist stirbt, kann diese Welt als das Jenseits gesehen werden. Das Sprach-Musik-Hörstück macht die Landschaft des Ozeans auf der sprachlichen Ebene und in akustischen Bildern erfahrbar. Der Hörer wird dabei nicht mit zuviel Vielfalt konfrontiert, die Elemente werden vielmehr entzerrt und sehr bedacht eingesetzt, Geräusche werden nur punktuell verwendet, polyphone Überlagerungen dienen nur der Vervielfachung einer Stimme. Musik und Sprache sind im Hörstück gleichwertig, dies wird vor allem daran deutlich, dass des Öfteren Musikpassagen ohne Text freistehen oder gar einen gesamten Track (»Nunu«) ausmachen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Tracks sind fließend und sanft, meist klingen tempo- und rhythmusreiche Abschnitte langsam aus, enden im ›Fade Out‹. Keine harten Schnitte beeinträchtigen die Wirkung der Landschaft und des Katarakts, diese erzeugen eine Anziehungskraft trotz spürbarer Bedrohung. Die Anziehung wird durch räumliche Effekte – Hall, Echo und Stereoeffekte – verstärkt und lässt den Hörer in die künstlich geschaffene Landschaft des Malstroms eintauchen. Er wird jedoch nicht der Illusion ausgesetzt, sich tatsächlich auf weiter See zu befinden oder muss sich mit den Reisenden identifizieren, denn das Hörstück kehrt immer wieder in die geräuschfreie Studioatmosphäre, in der Bennent liest, zurück. Wolfgang Sandner beschreibt diesen Bruch mit einer zunächst aufgebauten Illusion wie folgt:
142
MAeLSTROMSÜDPOL »Die massive Geräuschwand, die zu Beginn aufgebaut wird, entfaltet eine schier unbeschreibliche Sogwirkung, der man nicht entrinnen kann, sie geht über in eine mit zahlreichen Klangassoziationen scharf konturierte Uferlandschaft: Möwengezwitscher, ein Kind, das aus der Ferne ruft Wellenrauschen, Nebelhörner oder Schiffsignale von weit her dumpf dröhnend. [...] Wenn die eigentliche ›Erzählung‹ einsetzt, hat sich der assoziierte Raum abrupt verändert, von der unendlichen ›Landschaft‹ zum abgeschlossenen Studio, in dem alle Geräusche elektronisch, ›künstlich‹ erzeugt werden, aber allmählich dringen die Geräusche der Natur in diesen künstlichen Raum ein wie Wolken in die Mauern auf einem Gemälde von Magritte.«10
Letzterem muss jedoch widersprochen werden, denn die Studioatmosphäre kehrt immer, selbst am Ende des Hörstücks, wieder und bringt den Hörer stets in diesen künstlichen Raum, ganz ohne Geräusche der Natur, nur mit der teils ruhigen, teils eindringlichen Stimme Bennents gefüllt. Jedoch wird die Bedeutung dieser Atmosphäre durch die stark assoziativ aufgeladenen Landschaftspassagen verändert. Durch den Wechsel zwischen der ruhigen Beschreibung und den akustisch erlebten Landschaftsassoziationen entsteht eine dynamische und spannungsgeladene Korrespondenz.
4.4.3 ENTZERRUNG ALS KOMPOSITIONSPRINZIP – ERGEBNISSE Da Heiner Müller den Text »MAeLSTROMSÜDPOL« für das gemeinsame Projekt mit Erich Wonder und Heiner Goebbels schrieb, war die akustische Umsetzung bereits beim Schreiben intendiert und die Schaffung des Textes und dessen akustische Umsetzung waren in diesem Fall äußerst zeitnah. Der Text besitzt die für Goebbels’ Hörstücke relevanten Merkmale, Kürze und strukturelle Angebote, wie Versaldruck, Teile fremdsprachlicher Zitate und das Fehlen von Interpunktion, die von Goebbels aufgegriffen werden. Die Reduzierung und Komprimierung der Elemente aus Poes Erzählung finden sich in »MAeLSTROMSÜDPOL« auf akustischer Ebene im Einsatz einer überschaubaren Anzahl an Instrumenten, der punktuellen Verwendung von Geräuschen und nur einer den Text rezitierenden Stimme wieder. Die Anziehungskraft der Wasserlandschaft trotz des Bewusstseins drohender Gefahr wird beim Hören mittels räumlicher Effekte und Musik mit Elementen aus dem ›Ambience-‹ und Rockbereich sowie mittels des Einsatzes exotischer Instrumente evoziert, sodass der Hörer in diese akustische Landschaft hineingezogen wird, hineingezogen werden will.
10 Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 28.
143
Text als Klangmaterial In einer Bemerkung zu »MAeLSTROMSÜDPOL« formuliert Goebbels die Absicht, diese Anziehung – den Sog – darzustellen: »Die tatsächlich weitschweifigen Tagebucheintragungen, von Poe zur Untermauerung einer vorgeblichen Authentizität dieser fiktiven Erlebnisse eingesetzt, werden hier radikal entschlackt, Müller kommt ausschließlich zur Sache: was bleibt, sind die letzten Eindrücke, in der Anziehungskraft des Südpols. Bei der akustischen Inszenierung dieser knappen Seite Text reizte mich – im Gegensatz zu meinen anderen Hörstücken – nicht die mehr oder weniger kunstvolle Verknüpfung, sondern die Entzerrung von Musik und Sprache, im Verhältnis Erlebnis/Beschreibung. Den SOG, von dem Arthur Gordon Pym in den antarktischen Katarakt gezogen wird, fest im Blick, konzentrierte ich mich auch zum erstenmal auf die Arbeit mit einer Stimme (die David Bennents).«11
Da Müllers kurzer Prosatext für das documenta-Projekt mit Wonder und Goebbels geschrieben wurde und weitere Inszenierungen auf Theaterbühnen nicht intendiert waren, findet sich nur wenig zu »MAeLSTROMSÜDPOL« in der Fachliteratur über Müller. Der Text wird meist lediglich im Zusammenhang mit dem documenta-Beitrag und dem Soundtrack, der später von Goebbels als Hörstück abgemischt und 1992 im Südwestfunk (S2 Kultur) urgesendet wurde, erwähnt. In Goebbels’ Werk beinhaltet »MAeLSTROMSÜDPOL« jedoch einen wichtigen Aspekt hinsichtlich der Kompositionsprinzipien in der Auseinandersetzung mit Müllers Texten. Während »Verkommenes Ufer« sich durch eine immense Stimmenanzahl auszeichnet und bei »Die Befreiung des Prometheus« Stimmen- und Geräuschvielfalt vorherrschen, oszilliert »MAeLSTROMSÜDPOL« zwischen einer Stimme und Musikkompositionen, in denen die einzelnen Instrumente meist deutlich hervortreten. Reduktion und Entzerrung schaffen ein akustisch minimalistisch anmutendes Landschaftsbild, das den Hörer in seinen Bann zieht.
11 http://www.aec.at/de/archives/festival_archive/festival_catalogs/festival_ artikel.asp?iProjectID=9075 vom 01.07.2008.
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4.5 Der Mann im Fahrstuhl – Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator (ECM Records 1988) 4.5.1 TEXTANALYSE Das Intermedium »Der Mann im Fahrstuhl« ist im 1979 veröffentlichten Drama »Der Auftrag« enthalten. Das 1980 auf der Berliner Bühne unter der Regie von Müller selbst und seiner damaligen Lebensgefährtin Ginka Tscholakowa uraufgeführte Stück trägt den Untertitel »Erinnerung an eine Revolution« und ist an Motive aus Anna Seghers’ Erzählung »Das Licht auf dem Galgen« (1961) angelehnt. In dieser sieht der Jakobiner Debuisson nach dem Ende der Revolution in Paris auch seine Arbeit auf der Karibikinsel Jamaika für beendet an und verrät den revolutionären Gedanken, den er mit seinen Mitstreitern Galloudec und Sasportas verfolgte, um sein eigenes Leben zu retten. Das am Ende der Erzählung von Galloudec auf der Spitze des Galgens des gehenkten Sasportas gesehene Licht symbolisiert dabei die Hoffnung auf die Zukunft.1 Der Plan, den Text zu schreiben, bestand nach Müllers eigenen Angaben seit der Lektüre der Erzählung von Seghers: »Mich interessierte vor allem das Motiv des Verrats, auch wegen meines Reiseprivilegs. [...] Schreiben konnte ich das Stück erst nach einem Aufenthalt in Mexico und in Puerto Rico. Vorher hatte ich keine Dramaturgie dafür. In Mexico fand ich die Form.«2 Im nicht genau datierten, zwischen 1949 und 1959 geschriebenen Gedicht »Motiv bei A.S.« nimmt Müller die Motive seines späteren Dramas bereits vorweg, die Situation Debuissons in dem durch Sinnlichkeit geprägten Jamaika »zwischen schwarzen Brüsten«, während die französische Revolution ihr Ende findet, sowie die Versuchung, die beschwerliche Aufgabe aufzugeben und sich dem eigenen (materiellen) Wohl zu widmen (»WIRF DAS KREUZ AB UND ALLES IST DEIN«3). Der im Titel des Dramas formulierte Auftrag bezieht sich auf die vom französischen Konvent erteilte Aufgabe der drei Revolutionäre Debuisson, Sasportas und Galloudec, einen »Sklavenaufstand gegen die Herrschaft der britischen Krone im Namen der Republik Frank-
1
Vgl. Seghers, Anna: Das Licht auf dem Galgen, in: dies.: Erzählungen. Band 2, Berlin-Ost 1963, S. 169-291, S. 288f.
2
Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 233. Müller, Heiner: Motiv bei A. S., in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Wer-
3
ke 1. Die Gedichte, Frankfurt am Main 1998, S. 45.
145
Text als Klangmaterial reich«4 auf Jamaika zu organisieren. Das in der Dritten Welt verfolgte Revolutionsmodell, das die Sklaven von ihren Herren befreien sollte, unterscheidet sich nach Frank-Michael Raddatz vom europäischen in der Hinsicht, dass es nicht von Vernunft, sondern von Körperlichkeit geleitet ist.5 Nach dem Eintreffen der Nachricht vom Ende der Revolution in Frankreich resigniert Debuisson und hält den Auftrag für beendet: »Die Welt wird, was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven. [...] Ich entlasse uns aus unserem Auftrag. [...] Jeden in seine eigne Freiheit oder Sklaverei. Unser Schauspiel ist zu Ende.«6. Um sein eigenes Leben zu genießen (»Ich will mein Stück vom Kuchen der Welt. Ich werde mir mein Stück herausschneiden aus dem Hunger der Welt.«7), verrät er die Ideale und Hoffnungen der Revolution und wird am Ende des Stückes schließlich vom personifizierten Verrat übermannt. In der Mitte des Dramas findet das in Prosa geschriebene, hier unbetitelte, später aber als »Der Mann im Fahrstuhl« veröffentlichte Intermedium unvermittelt seinen Platz. Der sechs Seiten umfassende Text folgt der theatralen Aufführung, die die Emissäre inszenieren, indem sie sich in die Rollen der Kontrahenten GalloudecDanton und SasportasRobespierre begeben, während Debuisson diesem »Theater der Revolution« zusieht.8 Der Prosatext besteht aus dem Monolog eines personalen IchErzählers und ist überwiegend parataktisch aufgebaut. Die Eindrücke werden dem Leser aus der Sicht des Protagonisten, eines männlichen Angestellten, kurz und nacheinander, fast mechanisch wie am Fließband, geschildert, während er in einem Fahrstuhl immer langsamer nach oben fährt. Zur Syntax ist des Weiteren zu sagen, dass der Einschub in Klammern, »überflüssige Wissenschaft!« (Z. 92), der einzige Ausruf des gesamten Textes ist, mit dem der Protagonist seine bisherige Ausbildung zum Angestellten eines Amtes in Frage stellt. Ebenfalls auffällig sind mehrere aufeinanderfolgende Fragen, die sich der Angestellte gegen Ende des Textes (Z. 167-175) stellt: »[...] bin ich nicht einmal ein Messer wert oder den Würgegriff von Händen aus Metall. Lag in dem ruhigen Blick, der fünf Schritte lang auf mich gerichtet war, nicht etwas wie Verachtung. Worin besteht mein Verbrechen. [...] Wie erfüllt
4
Müller, Heiner: Der Auftrag, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke
5
5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 11-42, S. 17. Vgl. Raddatz, Frank-Michael: Dämonen unterm Roten Stern. Zu Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers, Stuttgart 1991, S. 148.
6 7
Müller, Heiner: Der Auftrag, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 11-42, S. 33f. Ebd., S. 39.
8
Vgl. ebd., S. 24ff.
146
Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator man einen unbekannten Auftrag. Was kann mein Auftrag sein in dieser wüsten Gegend jenseits der Zivilisation. Wie soll der Angestellte wissen, was im Kopf des Chefs vorgeht.«
Alle diese Fragen werden nicht mit Fragezeichen versehen, möglicherweise, weil der Angestellte, der zu Beginn der Weisung des Chefs ohne Fragen zu stellen folgt, auch jetzt keine Antwort erwartet oder sich keine zufriedenstellende Antwort vorstellen kann. Im Schriftbild erscheinen vereinzelt Wörter und Sätze in Versaldruck: »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT« (Z. 27f.), »GEGENSTANDSLOS« (Z. 91), »BEI DEN AKTEN« (Z. 93), »DIESE FRAU IST DIE FRAU EINES MANNES« (Z. 189f.) und »DER ANDERE« (Z. 202). Die in Versalien geschriebenen Worte und Aussagen erfahren so eine besondere Betonung und zeigen, welch bedeutende Rolle sie in den Gedanken des Angestellten einnehmen. Das Personalpronomen »ich« nimmt im Intermedium eine zentrale Rolle ein. Es eröffnet den Text und bildet im Textverlauf 23 Mal den Satzanfang. So wird der Mensch als Individuum, das während des gesamten Textes viel Raum erhält, in den Vordergrund gerückt. Dieser stellt sich am Ende des Textes einen Doppelgänger in der Zukunft vor, in der nur einer der beiden überleben wird (Z. 204). Der nicht persönlich auftretende Chef des Angestellten, der diesem den nicht näher definierten Auftrag erteilt, wird immer wieder in den Gedanken des Angestellten erwähnt. Dabei wird neben der primären Bezeichnung »Chef« (Z. 7, Z. 11, Z. 32, Z. 43, Z. 48, Z. 52, Z. 87, Z. 109, Z. 124, Z 141, Z. 147, Z. 175) wiederholt darauffolgend in Klammern der Einschub »in Gedanken nenne ich ihn Nummer Eins« (Z. 7f.) beziehungsweise »den ich in Gedanken Nummer Eins nenne« (Z. 11f., Z. 52f., Z. 87) verwendet. Des Weiteren wird die Antonomasie »Nummer Eins« auch freistehend genannt (Z. 103) sowie nach den Todesphantasien des Angestellten gegenüber seinem Chef dieser auch als der »Verewigte« (Z. 177) bezeichnet. Mit der Häufung der Bezeichnung des Individuums mit dem Pronomen »ich« und der Nennung des Chefs werden bereits auf struktureller Ebene zwei Figuren aufgebaut. Dieser Antagonismus findet sich auch auf inhaltlicher Ebene wieder, wie im Verlauf der Analyse deutlich wird. Auffällig bei der Wortwahl ist die gehäufte Verwendung der Konjunktionen »und« (Z. 38, Z. 42, Z. 48, Z. 80, Z. 83, Z. 89) und »oder« (Z. 4, Z. 44, Z. 46, Z. 79, Z. 81) im ersten Teil des Textes. Letztere Konjunktion wird sogar vom Protagonisten personifiziert, in einem Einschub konstatiert er: »das Oder schneidet wie ein Messer durch mein fahrlässiges Gehirn« (Z. 81f.). Für ihn, der die Fahrt des Fahr-
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Text als Klangmaterial stuhls unter Kontrolle haben möchte, ist eine Situation, in der er nicht weiß, wo sein Ziel genau zu lokalisieren ist – »in der vierten oder in der zwanzigsten Etage« (Z. 81) – unerträglich. Immer wieder bringt er zudem nach der Feststellung »Entscheidend ist der Zeitfaktor« (Z. 27) die Sprache auf Pünktlichkeit (Z. 27f., Z. 35f., Z. 57f.), die für ihn fünf Minuten vor dem tatsächlichen Termin bedeutet (Z. 27f.), und die Zeitangaben seiner Armbanduhr. So zeigt diese zunächst zehn (Z. 30), dann »genau vierzehn Minuten und fünfundvierzig Sekunden nach der zehnten Stunde« (Z. 34f.), dann steht »der Stundenzeiger [...] auf zehn, der Minutenzeiger auf fünfzig, auf die Sekunden kommt es schon länger nicht mehr an« (Z. 60-62), schließlich vergehen »zwischen Lidschlag und Lidschlag immer mehr Stunden« (Z. 69f.), die Uhr rast (Z. 102) und ein pünktliches Erscheinen des Angestellten bei seinem Chef erscheint unmöglich. Eine konträre, nämlich langsame Geschwindigkeit weist der Fahrstuhl auf, dessen Etagenzahlen genannt werden. Das Büro des Chefs befindet sich »in der vierten Etage, oder war es die zwanzigste« (Z. 8f.), was ein Ankommen an diesem ungenau bestimmten Ziel von vornherein erschwert. So kann die Etagenzahl »Acht« (Z. 25) auf dem richtigen Weg liegen oder schon zu weit sein. »[Z]wischen der achten und neunten Etage« (Z. 33) zwingt der Fahrstuhl das Individuum in eine Entscheidungssituation – beim nächsten Halt aussteigen und hinunterlaufen oder bis zur zwanzigsten Etage weiterfahren –, der er nicht gewachsen ist und dementsprechend ohne Entscheidung an seinem Platz bleibt. Währenddessen befindet sich der Fahrstuhl vor der zwölften Etage (Z. 59) und der Protagonist überlegt angesichts der sich verselbständigten Zeit- und Raumdimensionen wiederholt, wo das eigentliche Ziel dieser Fahrt ist (Z. 81). Erst nach dem Verlassen des Fahrstuhls löst sich diese Spannung zwischen dem Gegensatz des »langsamen Fahrstuhl[s]« und der »rasende[n] Uhr« (Z. 111f.). Die personifizierte Zeit, die nicht mehr für den Angestellten arbeitet (Z. 36), und die an Zahlen gebundenen räumlichen und zeitlichen Angaben finden ein Ende; mit dem Heraustreten aus dem Fahrstuhl beruhigt sich auch der Sprachrhythmus zunehmend. Den Inhalt betreffend lässt sich der Text zunächst in zwei Teile gliedern – in die Fahrt im Fahrstuhl und in den Aufenthalt auf der Dorfstraße in Peru. Bei näherer Betrachtung ist sogar eine Unterteilung in sechs Abschnitte möglich: Beginn der Fahrstuhlfahrt zum Chef (Z. 1-22), Verzweiflung angesichts der drohenden Unpünktlichkeit (Z. 22-65), Auflösung der räumlichen und zeitlichen Ebene (Z. 65-110), Heraustreten aus dem Fahrstuhl auf die Dorfstraße in Peru (Z. 110-155), Begegnung mit Einheimischen (Z. 155-200) und Erkenntnis über die eigene Bestimmung (Z. 200-204).
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Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator Zu Beginn des Textes befindet sich der Protagonist, der nicht nur durch den Hinweis, er sei »gekleidet wie ein Angestellter« (Z. 3), in eine soziale Hierarchie eingeordnet wird, unmittelbar in einem Fahrstuhl auf dem Weg zu seinem Chef. Verunsichert über die Ursache seines Termins beim Chef nimmt er an, dass es sich um die Erteilung eines nicht näher definierten Auftrags (Z. 14f.) handeln müsse. In dieser Situation nimmt die Schilderung über die Unbequemlichkeit seiner Kleidung – vor allem Schlips und Hemdkragen – viel Raum ein, was im Verlauf des Textes beibehalten wird. Im zweiten Abschnitt ist der Angestellte der unaufhörlich fortschreitenden Zeit ausgeliefert, die ein pünktliches Ankommen beim Vorgesetzten nach und nach unmöglich macht. Die Tatsache, dass er nicht mehr weiß, wo sich das Büro des Chefs befindet, stellt zudem die gesamte Fahrt in Frage, denn ohne genaues Ziel und mit unkalkulierbarem Zeitverlauf erscheint ihm eine Ankunft immer unwahrscheinlicher. Der Protagonist realisiert sodann sein plötzliches Alleinsein im Fahrstuhl – die ihn anfangs begleitenden zwei Männer sind unbemerkt verschwunden – sowie die vollständige Auflösung der Kategorien von Zeit und Raum: »Mir wird klar, daß schon lange etwas nicht gestimmt hat: mit meiner Uhr, mit diesem Fahrstuhl, mit der Zeit« (Z. 70-72). Mögliche Erklärungen für dieses Phänomen verwirft er sogleich als »wilde Spekulationen« (Z. 72f.) und stellt sich in dieser Situation des Ausgeliefertseins als Versager dar (Z. 88), dessen bei den Ämtern erworbenes Wissen vollkommen unnütz ist und dessen Auftrag schon der Vergangenheit angehört. Dies wird besonders durch den Versaldruck der Wörter »GEGENSTANDSLOS« (Z. 91) und »BEI DEN AKTEN« (Z. 93) als Ausdrücke aus dem Amtsdeutschen deutlich, mit denen der Angestellte seinen von ihm suggerierten Auftrag beschreibt. Einer Traumsequenz, in der er als Geschoss aus dem Fahrstuhl ausbricht, folgt nach dem »[k]alte[n] Erwachen« (Z. 101) die Vorstellung über die Verzweiflung – möglicherweise über die Nichterfüllung des Auftrags – und den daraus resultierenden Selbstmord des Vorgesetzten durch Erschießen in seinem Büro (Z. 102-110). Dieser imaginierte Tod des über ihm stehenden Gegenparts macht dem Angestellten erst das Verlassen des Fahrstuhls, die Befreiung aus der Maschine, möglich. Es erfolgt abermals ein Hinweis auf seine Kleidung, der Schlips wird als »nicht mehr gebraucht« und lächerlich (Z. 111f.) bezeichnet. Noch befreit sich der Angestellte jedoch nicht von ihm. Das Neue außerhalb des Fahrstuhls, die Dorfstraße in Peru, erscheint als ein völliger Gegensatz zu seiner europäischen, kontrollierten und automatisierten Umgebung. Der Angestellte erblickt Gras, Gebüsch, Gebirge sowie Barackenbauten. Natur und Verfall ersetzen hochgeschossige Gebäude, in denen ihm Uhr und Fahrstuhl den Rahmen des Tagesablaufs vorgaben. Die
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Text als Klangmaterial Welt des Angestellten erscheint in der peruanischen Umgebung als eine »fremde Zivilisation« (Z. 120), die lediglich auf Werbeplakaten existiert. Dieses Neue evoziert trotz der Befreiung Angst beim Angestellten. Auch wenn seine Gefangenschaft im Fahrstuhl und in der beschleunigten Zeit unangenehm war, so fühlte er sich darin doch sicherer als in der Weite und Freiheit Perus, das für ihn ein »Niemandsland« (Z. 126) ist. Er sehnt sich nach dem Fahrstuhl zurück: »Nie hätte ich gedacht, [...] daß ich Heimweh nach dem Fahrstuhl empfinden könnte, der mein Gefängnis war« (Z. 123-126). Ohne Kenntnis der Sprache und ohne die fremde Währung fühlt er sich verloren. Auch sein Lebenssinn scheint mit dem Verlust des Auftrags und durch den imaginierten Selbstmord des Chefs, der die Erteilung eines neues Auftrags unmöglich macht, verwirkt. Diese Erkenntnis führt dennoch dazu, dass der Angestellte seinen Schlips nun löst und ablegt, sich also von der alten Welt in der Hoffnung befreit, es sei noch nicht zu spät (Z. 145). Im nächsten Abschnitt erfolgt die Begegnung mit den Einheimischen, zwei Männern, der eine schwarz, der andere »aus grauem Silber« (Z. 160), von denen sich der Angestellte zunächst bedroht fühlt, nach ihrem Vorbeigehen jedoch enttäuscht ist und das Nichtbeachten als Verachten empfindet. Abermals denkt er an seinen Auftrag, dessen Inhalt er nicht mehr erfahren wird, da der Auftrag nur im Kopf des ›toten‹ Chefs verwahrt wurde, der nun auch als »der Verewigte« (Z. 177) bezeichnet und somit in seiner Bedeutung noch höher erhoben wird. Die Befreiung des Angestellten von seiner alten Identität nimmt daraufhin weiter ihren Lauf. Er knöpft in heiterer Stimmung als weitere symbolische Handlung nun auch das Hemd auf (Z. 181) und wird sich bei der Begegnung mit einer Einheimischen anscheinend nach langer Zeit wieder seiner Körperlichkeit bewusst (Z. 187f.). Auf seinem Spaziergang sieht er des Weiteren zwei Jungen, die an einer Lokomotive auf einem abgebrochenen Gleis arbeiten und sie wieder zum Fahren bewegen wollen. Hier grenzt sich der Protagonist selbstgefällig als »Ich Europäer« (Z. 195) von den Einheimischen ab, denn er glaubt zu wissen, dass das Fahrzeug nicht mehr fahren wird, womit ein Bezug zur Aufgabe der Revolution im übergeordneten Drama »Der Auftrag« hergestellt wird. Nach Yasemine Inauen lässt sich die Lokomotive als Metapher für eine »sich vorantreibende[n] gesellschaftliche[n] Veränderung«9 deuten und somit konstatieren, dass die gesellschaftliche Veränderung in dieser Region der Dritten Welt bereits zum Stillstand gekommen ist. Sein Wissen behält der Protagonist jedoch für sich und hebt mit der Parenthese »Arbeit ist Hoffnung« (Z. 198) die Überlegenheit, die er aufgrund sei-
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Inauen, Yasemine: Dramaturgie der Erinnerung. Geschichte, Gedächtnis, Körper bei Heiner Müller, Tübingen 2001, S. 178.
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Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator ner eigenen Erfahrung zu haben glaubt, hervor. Im letzten und kürzesten Abschnitt taucht er vollkommen in die Landschaft ein, streift seine Kleidung nun vollständig ab und erwartet seinen Doppelgänger, den Antipoden, der ein »Gesicht aus Schnee« (Z. 203) haben wird. Diese Sequenz erinnert stark an das Auftauchen der schneeweißen Gestalt in »MAeLSROMSÜDPOL«, die ebenfalls am Ende des Textes den Reisenden erscheint und den Übergang in eine andere Welt beziehungsweise den Tod mit sich bringt. Der letzte Satz des Intermediums »Der Mann im Fahrstuhl« verheißt ebenso den Tod, denn nur »[e]iner von uns wird überleben« (Z. 204). Ob dies der Protagonist sein wird, bleibt dabei offen. Alle Textuntersuchungen betonen den Gegensatz zwischen Fahrstuhl und natürlicher Umgebung in Peru, zwischen Zivilisation und Ursprünglichkeit. Raddatz spricht vom Fahrstuhl als »Metapher abendländischen Fortschrittsdenkens und technischer Zivilisation«10, Vaßen bezeichnet den begrenzten Raum als kulturellen Rahmen, ohne den der weiße Intellektuelle seine Funktion und Identität verliert11. Anzumerken ist hierzu, dass der Angestellte sich jedoch mit dem Ablegen der Kleider schließlich auch bewusst von dieser Identität befreit. Der Gegenspieler in der dem Protagonisten bekannten Welt, der Vorgesetzte, der wiederholt als »Nummer Eins« bezeichnet wird, kann nach Eke »sowohl als Chiffre für Stalin wie für Honecker interpretiert werden«12. Dies entspricht auch der Äußerung Müllers, der Text basiere auch auf der Erfahrung eines Bittganges zu Honecker im Gebäude des Zentralkomitees, das ihm wie »ein Hochsicherheitstrakt für die Gefangenen der Macht«13 vorkam. Die Stilisierung des Chefs zu einem unvergleichlichen Machthaber wird im Text vor allem durch die Schilderung, dass sein Konterfei »alle Amtsstuben ziert« (Z. 104), den aufgezeigten Gegensatz zwischen Chef und Bevölkerung, die nichts angehe, was in seinem Büro geschieht (Z. 109), und durch die Vorstellung, er werde nach seinem Selbstmord mit einem Staatsbegräbnis geehrt (Z. 178), deutlich. Eine andere Erfahrung, die maßgeblich für die zweite Häfte des Textes ist, stellt, wie eingangs erwähnt, Müllers Aufenthalt in Mexiko und Puerto Rico dar. Die Beschreibung der peruanischen Ge10 Raddatz, Frank-Michael: Dämonen unterm Roten Stern. Zu Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers, Stuttgart 1991, S. 157. 11 Vgl. Vaßen, Florian: Der Tod des Körpers in der Geschichte. Tod, Sexualität und Arbeit bei Heiner Müller, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Heiner Müller, München 1982 (= TEXT+KRITIK 73), S. 45-57, S. 54. 12 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 151. 13 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 233.
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Text als Klangmaterial gend ist »das Produkt eines Nachtgangs von einem abgelegenen Dorf zur Hauptverkehrsstraße nach Mexico City, auf einem Feldweg zwischen Kakteenfeldern, kein Mond, kein Taxi«14. Eke schließt aus dem Ortswechsel von einem strukturierten, europäischen System in die »Weite einer archaischen Naturlandschaft der Dritten Welt« 15 durch »Entzeitlichung« und »Enträumlichung«16, dass im Hinblick auf die Betrachtung der Geschichte der »Abgesandte eines Kulturzusammenhangs, der einst die höchsten moralischen, ethischen und politischen Werte verbindlich formuliert hatte, hier zu einer Einsicht in die historische Bedeutungslosigkeit seiner selbst [kommt], zu der Debuisson sich noch nicht freimachen kann«17. Wie im übergeordneten Drama lösen sich in der Dritten Welt für einen Repräsentanten der europäischen Welt die bis dahin herrschenden Strukturen unter Hinwendung zur Körperlichkeit auf. Das Drama setzt nach dem Intermedium da ein, als die drei Emissäre die Nachricht vom Ende der Französischen Revolution und somit vom Ende ihres Auftrags erhalten. Als Konsequenz gibt Debuisson die Revolution auf, während Sasportas als Repräsentant der Dritten Welt den Aufstand dieser Welt anführen will. Diese soll ihren eigenen Gesetzen folgen: im Fokus die Körperlichkeit und unter Ablösung von den Ideologien und Theorien der europäischen Revolution. Dies wird in seiner letzten Aussage deutlich: »Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen. Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf ihre Knochen, Blut in ihre Adern, Leben in ihren Tod. Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsre Waffen die Wälder; die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt.«18
Das europäische Revolutionsmodell tritt somit nach Eke seinen Platz ab »an eine andere Produktivkraft im Geschichtsgang, die in provozierender Weise nicht mehr mit der revolutionären proletarischen Didaktik, sondern mit den ungeregelten und widerständigen Kräften der Natur-Landschaft identifiziert wird«19. Das Intermedium zeigt diese Ablösung in einem anderen zeitlichen und räumlichen Kontext. Es parallelisiert und »metaphorisiert in verdichteter Form
14 Ebd. 15 Ebd., S. 152. 16 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 151. 17 Ebd., S. 154. 18 Müller, Heiner: Der Auftrag, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 11-42, S. 40. 19 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 154.
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Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator eine äußerst komplexe Situation«20 und führt »den geschlossenen Stoff in ein offenes Diskussionsmaterial«21 über. Zudem folgert Achim Heidenreich aus dem in Intermedium und Drama vorhandenen Konflikt »von Auftrag und moralischer Pflicht«22, dass Identität und ihr Verlust das zentrale Problem darstellen. Denn so wie die »Revolutionäre auf Jamaika vor der Frage stehen, ob der revolutionäre Kampf ihre Identität weiterhin definiert und ihr Auftrag auch dann weiterbesteht, wenn ihre Auftraggeber im nachrevolutionären Frankreich nicht mehr existieren und ob darüber hinaus eine allgemeine moralisch-ethische Pflicht zum Kampf für ein menschenwürdigeres Dasein besteht,«23
wird auch der Angestellte im Intermedium »seiner vermeintlich sicheren Existenz als kleines, aber gut geschmiertes Rädchen im Geschichtsgetriebe beraubt«24. Somit werden die Figuren beider Textebenen »aus dem Zeitstrahl eines linear-kausalen Geschichtsverlaufs geworfen, was mit dem Verlust ihrer Identität gleichbedeutend ist«25. Diesem Gedanken folgend, erfüllt auch in diesem Fall das Intermedium die Funktion der Parallelisierung und stellt das zentrale Thema in einem anderen – hier modernen statt mythologischen – Kontext dar.
4.5.2 ROCK, JAZZ UND PORTUGIESISCHE SONGS – ANALYSE DES HÖRSTÜCKS Das 42-minütige Hörstück ist in 21 Tracks unterteilt, die meist eine bis drei Minuten dauern. Zunächst erscheint diese Einteilung übertrieben, wenn man annimmt, dass eine Unterteilung in Tracks lediglich dem Hörer die Handhabung des Tonträgers erleichtern soll. Im Falle von »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« folgt die Unterteilung jedoch deutlich der Abtrennung einzelner akustischer Gedanken.
20 Klein, Christian: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 189-193, S. 192. 21 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 112. 22 Heidenreich, Achim: Auftrag und Identität. Heiner Goebbels vertont Heiner Müllers Monolog »Der Mann im Fahrstuhl«, in: Kaden, Christian/Kalisch, Volker (Hg.): Von delectatio bis entertainment: Das Phänomen der Unterhaltung in der Musik, Essen 2000, S. 125-134, S. 126. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 127.
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Text als Klangmaterial Mit dieser Unterteilung lassen sich die verschiedenen Sequenzen als Tracks einzeln anwählen und wie Musiktracks auch ohne den Zusammenhang des Hörstücks einzeln noch einmal anhören. Dies liegt nahe, da die Sequenzen stark von Musik und Gesang geprägt sind und die Tracks »No taboleiro de baiana« und »Fita nos meus olho« ganz besonders deutlich auch als eigenständige Lieder wahrgenommen werden können. Wie bei »MAeLSTROMSÜDPOL« sind die Tracktitel, bis auf die genannten portugiesischsprachigen Titel, als Satzteile im Originaltext enthalten und überschreiben die im jeweiligen Track enthaltenen Textsequenzen. Im ersten Track, »In einem alten Fahrstuhl«, erhält der Hörer eine erste Orientierung im Raum, in dem die Handlung spielt. Dabei steht Heiner Müllers Stimme (M1) im Vordergrund, die – zunächst freistehend – gewohnt sachlich und ohne jegliche Modulation den ersten Teil des Textes bis zu der Maxime »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT« ohne Auslassungen liest. Dabei wird ab 00:27 eine zweite männliche Stimme als polyphone Überlagerung hinzugemischt. Ernst Stötzner (M2) rezitiert dabei in einer Studioaufnahme mit tiefer Stimme, leicht distanziert klingend, denselben Textpart wie Müller, gelangt jedoch nicht bis zur Maxime, sondern kommt bereits zwei Sätze vorher zum Ende. Nach der ersten Minute des Tracks, in der nur die Stimmen zum Tragen kommen, erklingen erst leise und tiefe Töne, dann Schlagzeug und Gitarre, die in Track 2 von E-Gitarre und Saxophon verstärkt werden. Ungewöhnlich erscheint der Gesangeinsatz in englischer Sprache von Arto Lindsay (M3), der Teile des übersetzten Textes zeitnah wieder aufgreift. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die in Versalien gedruckte Maxime gelegt. Zum einen wird diese aus Müllers Rezitation wiederholt, zum anderen wird sie in Track 3, der bereits den Titel »Fünf Minuten vor der Zeit« trägt, in den Fokus gerückt. Die Übersetzung »Five minutes too early would be what I call true punctuality« wird in mehrfacher Wiederholung einzelner Teile oder vollständig, mit verschiedenen Betonungen und von Jazzmusik begleitet gesungen, während Stötzner die Passage, in der mit Blick auf die Uhr die Angst vor Unpünktlichkeit thematisiert wird, rezitiert. Im nächsten Track wächst die Verzweiflung in Stötzners Stimme aufgrund dieser Unpünktlichkeit und fehlender Eingriffsmöglichkeiten. Die Konjunktionen »und« und »oder« werden durch Lautstärke und schnellere Aussprache betont sowie am Ende der Passage nochmals wiederholt, obwohl sie im Text nicht an dieser Stelle und nicht direkt hintereinander erscheinen. Die unruhige Stimmung wird auf zwei weiteren Ebenen gleichzeitig fortgeführt. Die englische Übersetzung derselben Passage wird von Lindsay leise, zum Teil so-
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Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator gar unverständlich, da die Stimme im Hintergrund untergeht, jedoch sehr treibend gelesen. Ebenso unruhig wirkt die Musik durch Einsatz des Schlagzeugs. In Track 5 beruhigt sich Stötzners Stimme und wird leiser, es bleibt jedoch die Betonung der Konjunktionen, die in dem von der Versagensangst des Angestellten geprägten Satz »Ich sehe mich schon auf einer Bahre ausgestreckt, die auf meinen Wunsch in das Büro des Chefs getragen und vor seinem Schreibtisch aufgestellt wird, immer noch dienstbereit, und, oder, aber nicht mehr tauglich« textfremd eingefügt werden. Auf der musikalischen Ebene erklingen ruhige Gitarrenklänge. Es kommt sanfter portugiesischer Gesang zur Stimme Stötzners hinzu, drängt in den Vordergrund, bis das Lied ab 00:31 frei steht. Das Lied »No taboleiro de la baiana« thematisiert dabei die Liebe und das männliche Begehren nach einer Frau und nimmt die Sinnlichkeit und Körperlichkeit vorweg, die die Landschaft in Peru dem Protagonisten eröffnen wird. Sehr unvermittelt wird der Hörer in Track 6 wieder mit harten E-Gitarre-Klängen, begleitet vom Saxophon, konfrontiert. Auf der Textebene wächst nun die Verzweiflung des Protagonisten, ein »schneller Blick auf die Uhr« wird mit den »FÜNF MINUTEN« verknüpft, wobei Stötzner rufend mit nur einem Wort beginnt und nach und nach den gesamten Satz aufbaut, der schließlich dreimal wiederholt wird: »FÜNF« »FÜNF« »FÜNF MINUTEN« »FÜNF MINUTEN« »FÜNF MINUTEN VOR« »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT« »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST« »IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT« »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT« »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT« »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT«
Polyphon dazu wird die englische Übersetzung der Passage über das Verrücktspielen der Uhr gesprochen und endet in Track 7, »Allein im Fahrstuhl«, mit der Feststellung »I’m alone in the elevator«. Ansonsten ist dieser Track textfrei und gibt nur musikalisch mittels experimenteller Kompositionen mit elektronischen Geräuschen, die immer unruhiger werden und eine elektronische Maschine vermuten lassen, und mit einem tiefen Geräusch sowie Knarzen die Unheimlichkeit des Alleinseins wieder. Dies wird im nächsten Track fortgeführt. Die elektronischen Klänge verdichten sich mit Saxophonklängen und stellen das Verrücktspielen einer Maschine klang-
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Text als Klangmaterial lich dar, während Lindsay mit leiser werdender Stimme zur Feststellung gelangt, dass sowohl das Raum- als auch das Zeitkontinuum durchbrochen sind (»something has been wrong with my watch, with the elevator, with time, with [...]«) und mitten im Satz abbricht. Stötzner rezitiert polyphon dazu mit verzweifelter Stimme und teils mit Echoeffekten die Spekulationen über mögliche Ursachen dieser Unstimmigkeit. Nur von einzelnen tiefen, später hohen Tönen begleitet, steht im Track »Der Chef« auf der Textebene der Vorgesetzte im Zentrum des Interesses. Müller liest die Vorstellung des Angestellten über seinen auf ihn wartenden Chef, welche in Track 10 in der englischen Übersetzung des imaginierten Selbstmords zum Höhepunkt gelangt. Hier wechseln sich die englischen mit den deutschen Passagen Müllers ab, was auch in der Musik als Wechsel wahrnehmbar wird. Während der Gesang Lindsays von Rockelementen und einer deutlich vernehmbaren E-Gitarre begleitet wird und die Musik stark im Vordergrund steht, rückt sie während Müllers leiser und modulationsloser Rezitation in den Hintergrund. Der Track endet mit der Vorstellung von der Kugel im Kopf des Chefs, dem Abklingen der Musik und leise einsetzendem Gesang, der einen fließenden Übergang zum nächsten Track darstellt. Track 11 ist abermals ein portugiesisches Lied, »Fita nos meus olhos«, das, begleitet von lateinamerikanischen Gitarre-Klängen, wehmütig und klagend vom Verlassenwerden und der Trauer darüber handelt. Ab 01:19 wird die Musik von hohen Klängen verstärkt, die sich mit dem Spiel einer Kirchenorgel in Verbindung bringen lassen und damit möglicherweise der Trauer einen religiösen Kontext eröffnen. Das Lied kann als logische Fortführung von »No taboleiro de baiana«, sowie als Vorwegnahme der in Track 19 thematisierten Begegnung mit der Frau, nach der sich der Protagonist zwar sehnt, die jedoch zu einem anderen Mann gehört, gesehen werden. Ein harter Schnitt unterbricht die ruhige Stimmung mit einer lauten Rockkomposition und intensiviert somit den inhaltlichen Schnitt, der sich im Heraustreten aus dem Fahrstuhl vollzieht. Dabei werden deutscher Text und englische Übersetzung übereinander geschichtet. In seinem lautstarken Rufen drückt der Protagonist den Verlust seiner Identität und seine Orientierungslosigkeit aus. In Track 13 zeigt sich die Reaktion auf den offensichtlichen Verlust des Auftrags, indem Stötzner leise und verhalten Sätze beginnt, sie jedoch sogleich abbricht: »Ich überlege, ob ich« »ich kenne die Sprache dieses Landes nicht« »ich könnte genausogut«
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Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator »besser ich wäre taubstumm« »vielleicht gibt es Mitleid in Peru« »vor und hinter mir«
Das Unvermögen, mit anderen über den Sachverhalt zu kommunizieren, zeigt deutlich die Orientierungslosigkeit und die daraus folgende Sprachlosigkeit des Protagonisten angesichts des Auftragsverlustes, seiner existenzstiftenden Aufgabe. Begleitet wird die Situation von gezerrten E-Gitarre-Klängen, zu denen schließlich melodische Gitarre-Klänge hinzukommen. Diese führen in den nächsten Track über, der – überschrieben mit »Mitleid in Peru« – eine Collage aus punktuell eingesetzten Naturklängen (Vögel, Tiere, Brummen, Rascheln), rhythmischem Klatschen, lateinamerikanischen Gesängen im Hintergrund und folkloristischen Musikelementen, die durch E-Gitarre und Saxophon verfremdet werden, ist. Dieser längste Track des Hörstücks ist bis auf die letzten neun Sekunden textfrei und gibt einen klanglichen Eindruck der Landschaft, in die der Protagonist unmittelbar versetzt wurde, wieder. Die kurze Wiederaufnahme der »five minutes« (04:50-04:59) am Ende des Tracks wird bereits bei der zweiten Wiederholung abgebrochen, die zu Zeiten der alten Identität gültige Maxime verklingt an diesem Ort sogleich. Von fröhlicher Jazzmusik begleitet, entdeckt der Angestellte die dörfliche Umgebung. Dabei liest Stötzner langsam und mit größeren Pausen, in die musikalische Akzente gesetzt werden. Noch bereitet der neue Raum dem Protagonisten Angst, er sehnt sich nach dem Fahrstuhl, was zunächst in einer gesungenen englischen Passage über das Heimweh nach dem Fahrstuhl (»I think about going back, I haven’t been noticed yet, never would. I never thought during my despaired ascent to the boss that I could be homesick for the elevator that was my prison«) deutlich wird. Danach folgt die Wiederaufnahme des zweiten Satzes in Deutsch, wobei Stötzner das Wort »Heimweh« unmittelbar wiederholt. Der Satzteil »daß ich Heimweh« wird zusätzlich in einer polyphonen Überlagerung klagend gesungen drei Mal wiederholt und verleiht der Sehnsucht nach der gewohnten Umgebung deutlich Ausdruck. Die Gründe für dieses Heimweh – Fremdheit und Unmöglichkeit der Kommunikation – werden wiederum auf Englisch genannt, bevor in Track 17, »Kalter Schweiss«, angesichts der beiden sich nähernden Einheimischen Verzweiflung beim Protagonisten ausbricht. Stötzner spricht hier immer schneller, ab 00:30 wird seine Stimme vervielfacht, wobei die Stimmen zu Beginn fast gleichzeitig, dann mit einer immer größer werdenden zeitlichen Verzögerung abgespielt werden. Dadurch klingt diese Sprechpassage zunehmend abgehackt, stotternd und verzweifelt, während verzerrte E-GitarreKlänge und Schlagzeug eine sphärische, unheimliche Stimmung er-
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Text als Klangmaterial zeugen. Die Angst des Protagonisten und der ausbrechende kalte Schweiß werden durch diese Musik, Stötzners Sprechduktus und die Polyphonie akustisch erfahrbar. Diese verfliegt und Track 18 steht wieder im Zeichen der Heiterkeit, auf der musikalischen Ebene durch eine sanfte Melodie mit punktuellem Einsatz von E-Gitarre und Saxophon realisiert, auf der sprachlichen Ebene durch Lindsays ruhigen und sanften Sprechgesang verwirklicht, der am Ende des Tracks in einen aufgebrachten Duktus wechselt, wenn es heißt: »and I hear a male voice saying«. Der in Versalien gedruckte Satz »DIESE FRAU IST DIE FRAU EINES MANNES« steht in der Übersetzung als »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« im Fokus des nächsten Tracks. Begleitet von treibender Jazzmusik wird er insgesamt sechs Mal aus einer überlegenen Haltung heraus rezitiert. In den Pausen zwischen den Wiederholungen spricht Lindsay den Text über die Begegnung mit der Frau in kurzen Satzteilen: »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« »It sounds final« »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« »and I keep walking« »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« »when I looked up« »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« »the woman stretches her arms« »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« »out for me« »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« »and bares her breasts«
Gleichzeitig spricht Stötzner langsam den entsprechenden deutschen Text vom Erblicken der Frau bis zum Weitergehen. In Track 20 wird eine weitere Begegnung thematisiert; der Protagonist sieht die am Bahndamm spielenden Jungen. In dieser akustischen Szene liegen Ruhe und Stille. Heiner Müllers Sprechpassage steht im Vordergrund; lediglich in zwei Sprechpausen ist das Saxophon zu hören, ab und zu auch sehr leise, kaum wahrnehmbare Gitarre-Klänge. Der letzte Track nimmt zu Beginn die letzten Zeilen des Textes auf. Eine Jazzkomposition mit deutlich wahrnehmbarem Schlagzeug und Saxophon wird nach wenigen Sekunden auf das Schlagzeug und ein metallisches Reiben reduziert, während in der letzten Rezitationspassage Müllers der Protagonist seine Kleidung ablegt, seine alte Existenz somit gänzlich beendet und einen Ausblick auf seinen Doppelgänger gibt. Danach wird ein Rückgriff auf die Reaktion auf die vorbeigehenden Einheimischen sowie die zentrale Frage, worin das Verbrechen des Protagonisten besteht (»What is my crime«), vollzogen. Diese und weitere unbeantwortete Fragen
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Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator werden in Textblöcken abwechselnd englisch von Lindsay, dann deutsch von Stötzner gestellt. Ab 02:12 wird das Ende des Textes wieder aufgegriffen. Lindsay beginnt in Englisch (»Eventually the other one, the antipode, the doppelgänger will meet me.«) vorzutragen, Stötzner rezitiert die Passage ab der sich ausbreitenden Heiterkeit bis zum letzten Satz in Deutsch, Lindsay wiederholt eben diesen noch einmal: »He with my face of snow. One of us will survive.« An dieser Stelle und mit einem finalen Saxophonklang endet das Hörstück. »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« ist eine Collage aus Sprache, Gesang und Musik, in der die Sprachen deutsch, englisch und portugiesisch miteinander interagieren. Vor allem die deutschen Stimmen Müllers und Stötzners stehen in einer spannungsvollen Beziehung zum (Sprech-)Gesang Arto Lindsays, indem sie, zum Teil mit der gleichen, aber übersetzten Textpassage, zum Teil mit einem anderen Textteil polyphon überlagert werden. Der Text wird durch die Verdoppelung intensiviert und dabei gleichzeitig in verschiedenen akustischen Ausformungen betrachtet. Dies wird beispielsweise in der Betonung verschiedener Wörter deutlich. Während in der deutschen Rezitation Stötzners die Konjunktionen »und« und »oder« in den Vordergrund rücken und durch Tempo und gehobene Lautstärke gekennzeichnet werden, ist es in der englischen Rezitation Lindsays das Personalpronomen »I«, das lauter gesprochen und durch eine kurze Pause vor dem nächsten Wort herausgehoben wird. Müllers Part stellt die dritte Betrachtungsweise des Textes und durch fehlende Modulation einen deutlichen Kontrast zu Stötzner und Lindsay dar. Nüchtern, ruhig, bei gleichbleibender Lautstärke, bei gleichbleibendem Tempo und ohne Betonungen einzelner Wörter werden dem Hörer Textteile neutral und ohne Interpretationsangebote vorgestellt, sodass beim Hören einzelner Passagen aus den drei Perspektiven ein spannungsreiches, neues Gesamtbild entstehen kann. Das Lied »Fünf Minuten« und seine Übersetzung »Five Minutes« veranschaulichen nach Heidenreich die zentrale Identitätsproblematik: »Fünf Minuten vor, genauso wie auch fünf Minuten nach einem vereinbarten Zeitpunkt bedeutet gleichermaßen Unpünktlichkeit und somit nicht rechtzeitig am rechten Ort (s)einer Geschichte zu sein. Die Wahrnehmung von Identität und somit Sinnstiftung ist jedoch nur über die exakt meßbaren Kategorien Raum und Zeit möglich. Der vereinbarte Ort ist auf der Raum-Zeit-Achse eine von unendlich vielen Koordinaten. Der Mann im Fahrstuhl nähert sich dem Nullpunkt der Achse. Die Identität dieses Angestellten schwindet im gleichen Maß, wie er sich in seinem Fahrstuhl vom vereinbarten Ort und der vereinbarten Zeit und somit auch von der gewohnten Wahrnehmung entfernt. Müller veranschaulicht mit diesem Bild das Scheitern eines linearen Fortgangs der Ge-
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Text als Klangmaterial schichte, nach dem – im übertragenden Sinn – planmäßig die Uhr gestellt werden könnte.«26
Die portugiesischen Songs über die Liebe und deren Verlust brechen in die Identität des Angestellten mit sanften Klängen subtil ein und fungieren als Gradmesser der Entfernung von der alten Identität. Der Angestellte befindet sich zu den Zeitpunkten der Lieder – der Textebene folgend – allerdings noch im Fahrstuhl, das Heraustreten auf die peruanische Dorfstraße erfolgt erst nach dem zweiten Song »Fita nos meus olhos«. Die beiden Songs übernehmen somit eine antizipatorische Funktion und zeigen auf, in welche Richtung der Verlust der alten Identität führen wird – in die Körperlichkeit. Geräusche werden in »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« nur an einer Stelle eingesetzt, bei der Darstellung der Natur in Peru in Track 14. Diese erfolgt – vollkommen ohne Spracheinsatz – durch Rascheln, Vogelzirpen und andere Tiergeräusche, die künstlich erzeugt zu sein scheinen. Auf der musikalischen Ebene des Hörstücks finden sich hauptsächlich Rock- und Jazzkompositionen, deren Wechsel zwischen treibenden und ruhigen Rhythmen eine starke Dynamik erzeugt. Die Rockmusik mit manchmal verzerrter E-Gitarre entspricht meist der getriebenen und teils verzweifelten Stimmung des Protagonisten, wie beispielsweise in Track 6 bei drohender Unpünktlichkeit oder in Track 10 bei der Feststellung der Sinnlosigkeit des Auftrags. Die Jazzmusiker Don Cherry (Trompete und Doussn’ Gouni, eine Art afrikanische Harfe), Fred Frith (Gitarre und Bass) und Charles Hayward (Schlagzeug), sowie Ned Rothenberg am Saxophon und an der Klarinette und George Lewis an der Trombone spielen unterhaltende, des Öfteren fröhlich klingende und beschwingte Musik. Diese steht in Track 3 im Kontrast zum Blick auf die Uhr und dem gleichzeitigen Songtext »Five minutes too early would be what I call true punctuality« und unterstützt am Ende des letzten Tracks die beschwingte Stimmung des heiteren Protagonisten. Die Textinhalte finden meist also ihre »musikalische Entsprechung, ohne dass sie von ihr nur verdoppelt würde[n]«27. Denn die Musik steht oft frei, ohne nur Begleitung für den Text zu sein, und tritt auch textunterlegt nicht in den Hintergrund, sondern bleibt in gleicher Lautstärke und Intensität bestehen. Zudem ist gegeben, dass auf der sprachli26 Heidenreich, Achim: Auftrag und Identität. Heiner Goebbels vertont Heiner Müllers Monolog »Der Mann im Fahrstuhl«, in: Kaden, Christian/Kalisch, Volker (Hg.): Von delectatio bis entertainment: Das Phänomen der Unterhaltung in der Musik, Essen 2000, S. 125-134, S. 132f. 27 Schmitt, Olaf: Heiner Goebbels, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 356-359, S. 358.
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Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator chen Ebene der Musik bewusst Raum gelassen wird, wie in Track 20, wenn in Müllers Rezitation deutliche Pausen gesetzt werden, in denen das Saxophon punktuell erklingt (00:55-01:12, 01:22-01:25). Ebenfalls nähern sich mehrere Rezitationen dem Gesang an, sodass Text und Musik ineinanderfließen. Die musikalische und die sprachliche Ebene ergänzen sich gegenseitig und erzeugen durch die Kürze und Fragmenthaftigkeit der einzelnen Passagen sowie Tempowechsel eine starke Dynamik.
4.5.3 TEXTLICHE UND MUSIKALISCHE FRAGMENTARISIERUNG – ERGEBNISSE Goebbels hat das Intermedium »Der Mann im Fahrstuhl« bereits im Rahmen des Hörstücks »Die Befreiung des Prometheus« vewendet. Dort wurde der Text nur in zwei große Blöcke geteilt. Während die Sprache in einer einfachen Rezitation im Fokus steht, zu Beginn nur punktuell von Saxophonklängen begleitet wird, im zweiten Teil mit Tönen und Geräuschen verdichtet wird, wird der Text in »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« stark zerlegt, fragmentarisiert, im Rahmen der Übersetzung vervielfacht, im Schichtverfahren und mittels polyphoner Überlagerungen wieder zusammengesetzt. Die in Müllers Text gegebenen strukturellen Angebote werden von Goebbels fast vollständig aufgenommen und akustisch umgesetzt. Die genannten Fragen ohne Fragezeichen erhalten eine herausgehobene Stellung, indem sie dem Ende nachgestellt werden und vollkommen aus der Chronologie herausfallen. Das im Text immer wieder auftauchende Personalpronomen »ich« und die Konjunktionen »und« und »oder« erhalten auch im Hörstück eine besondere Betonung durch Lautstärke und Tempo. In der Darstellung seiner Herangehensweise an Müllers Texte erwähnt Goebbels diese Umsetzung der Konjunktionen mittels lauter Rufe von Stötzner als »Hinweise auf den Befehlscharakter der Textstruktur«28. Ebenso erhalten die beiden in Versalien gedruckten Sätze »FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT« und »DIESE FRAU IST DIE FRAU EINES MANNES« eine zentrale Stellung. Gesprochen und als Song über die »Fünf Minuten« beziehungsweise »Five minutes« durchzieht der erste Satz fast das gesamte Hörstück (vgl. Tracks 1, 2, 3, 6, 14) bis der Protagonist aus dem Fahrstuhl in die peruanische Landschaft heraustritt und daraufhin nach und nach seine Identität aufgibt.
28 Goebbels, Heiner: Text als Landschaft: Librettoqualität, auch wenn nicht gesungen wird, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 64-70, S. 65.
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Text als Klangmaterial Die Zugehörigkeit der Frau steht im Zentrum von Track 19, indem der Satz »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« – unterbrochen von einzelnen, folgenden Satzteilen – insgesamt sechs Mal wiederholt und auf der deutschen Sprechebene noch einmal polyphon dazu aufgenommen wird. Der Fokus auf die Uhrzeit- und Etagenzahlangaben bleibt im Hörstück ebenfalls erhalten und lenkt durch mehrfache Wiederholungen (vgl. beispielsweise Track 4) die Aufmerksamkeit des Hörers auf diese. Die Fragmentarisierung des Textes zieht Auslassungen und Sprünge im Text nach sich, sodass die Chronologie nicht gewahrt wird. Zunächst ausgelassene Passagen werden im späteren Verlauf – teils auf deutsch, teils nur auf englisch – wieder aufgenommen. Lediglich die Zeilen 134 bis 145, in denen der Angestellte noch einmal um den verlorenen Auftrag trauert, werden vollständig ausgelassen und in keinem Sprechpart aufgenommen. Ein möglicher Grund dafür ist, dass dieser Textausschnitt die Hoffnung des Protagonisten auf Mitleid in Peru und die daraufhin folgende Begegnung mit den ersten peruanischen Einheimischen unterbricht. Die Wiederaufnahme von zu früheren Zeitpunkten ausgelassenen Passagen wird ganz besonders im letzten Track deutlich, wenn nach der letzten Textpassage über den Doppelgänger eine Rückwendung zur Begegnung mit den beiden Einheimischen und den Fragen über die Schuld vollzogen wird. An diesen Fragen zeigt sich auch, wie Wiederholungen zum Einsatz kommen: »What is my crime. What’s my crime. How is the employee supposed to know what’s going on in the head of the boss.« »Worin besteht mein Verbrechen. Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag. Was kann mein Auftrag sein in dieser wüsten Gegend jenseits der Zivilisation.« »What is my crime. How do you accomplish an unknown task. What could my task be in this waste land on the other side of civilisation. [...]«
Danach wird die Endpassage abermals aufgenommen, zunächst auf deutsch, dann werden die letzten beiden Sätze auf englisch gesprochen. Die mehrfache Wiederholung auf verschiedenen Ebenen des Sprechens gibt dem Hörer die Möglichkeit, eventuell nicht verstandene oder durch Lenken der Aufmerksamkeit auf andere akustische Eindrücke verpasste Passagen wahrzunehmen, erleichtert das Verständnis des Textes und fördert eine neue Zusammensetzung der Textbausteine aus Müllers Vorlage.
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4.6 Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten – Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten (Goethe Institut/ICA Boston 1990/SWF 1991) 4.6.1 TEXTANALYSE Der dritte Teil von Müllers Triptychon »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten« und Edgar Allan Poes Parabel »Shadow« (»Schatten«) bilden den textlichen Rahmen für Goebbels’ Hörstück »Shadow – Landscape with Argonauts«, dessen deutsche Synchronfassung »Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten« 1991 vom Südwestfunk urgesendet wurde. Der Text »Landschaft mit Argonauten« folgt der in »Medeamaterial« dargestellten Begegnung zwischen Jason und Medea, in der diese ihre Ausbeutung, den Verrat durch Jasons Heiratspläne und ihre Rache in einem Monolog thematisiert. »Landschaft mit Argonauten« ist – vergleichbar mit dem ersten Teil »Verkommenes Ufer« – als dramatisches Werk im Zeilenstil, jedoch ohne Verteilung auf Sprecherrollen verfasst. Die vollständig fehlende Interpunktion lässt den Text zunächst unübersichtlich erscheinen, beim lauten Lesen und bei Beachtung der Großschreibung werden Satzgrenzen jedoch meist gut erkennbar. Ebenso verhält es sich mit der Intonation der Satzenden. Zwar wirken alle Sätze durch ihr Schriftbild wie Aussagesätze, die Satzstellung und die Verwendung von Fragepronomen machen in den Zeilen 1-3 und 68 jedoch Fragesätze deutlich. Der Text weist des Weiteren vorwiegend einen asyndetischen Satzbau auf, bei dem einzelne Bilder – nur selten mit den Konjunktionen »oder« (Z. 5, Z. 36, Z. 57, Z. 95), »und« (Z. 86, Z. 104, Z. 109, Z. 111) beziehungsweise »aber« (Z. 88) am Zeilenanfang verbunden – aneinandergereiht werden. Diese Aneinanderreihung wird durch oftmals auftretende Enjambements verstärkt. Außerdem lenkt die Hervorhebung einzelner Sätze und Wörter durch Versaldruck die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese. Bei der Sprachverwendung fällt zum einen auf, dass gegen Ende des Textes in deutschen Textpassagen die englischen Einsprengsel »EASTMAN COLOR« (Z. 87), »NO PARKING« (Z. 88) und »DO YOU REMEMBER DO YOU NO I DONT« (Z. 98) eingesetzt werden. Zum anderen nehmen das Personalpronomen »ich« (Z. 1, Z. 3, Z. 5, Z. 8, Z. 10, Z. 14, Z. 15, Z. 16, Z. 22, Z. 40, Z. 102, Z. 105) und der Possessivartikel »mein« (Z. 12, Z. 15, Z. 66, Z. 69, Z. 76, Z. 101, Z. 107, Z. 109, Z. 110, Z. 111, Z. 112) eine zentrale Stellung im Gesamttext ein. 163
Text als Klangmaterial Auf der inhaltlichen Ebene zeigt sich der Protagonist, das namenlose »Ich«, zunächst verunsichert über die eigene Identität, was durch die Fragen zu Textbeginn deutlich wird: »Ich wer / Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich Wer ist das« (Z. 1-3). Später erfolgen eine Einordnung der eigenen Persönlichkeit als »Ich Auswurf eines Mannes Ich Auswurf / Einer Frau« (Z. 8f.), sowie weitere Zuweisungen, die immer wieder vom großgeschriebenen Personalpronomen »Ich« betont und gleichzeitig abgetrennt werden. Die Charakterisierung und die Herkunft des Protagonisten werden durch die in Versalien gedruckte Aussage »MEIN GROSSVATER WAR / IDIOT IN BÖOTIEN« (Z. 12f.) konkretisiert. Die Anspielung bezieht sich auf Kretheus, den König von Iolkos und Vater des Aison, der das an Böotien beziehungsweise Boiotia, einer Landschaft in Mittelgriechenland, angrenzende Königreich Iolkos gründete. 1 Aus Böotien stammende Menschen galten den Athenern in der Antike als unkultiviert und ungebildet, »plump, stumpfsinnig und gefräßig«2, sodass die Bezeichnung »Idiot« als ironische Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft gesehen werden kann. Im zweiten Abschnitt des Textes (Z. 14-39) identifiziert sich das »Ich« über seine Seefahrt und seine Landnahme (Z. 14f.), es beschreibt seinen Abschied vom Land, mit dem es nur durch den Anker verbunden bleibt (Z. 18), sein Schiff als »geschlachtete[n] Baum« (Z. 21) und dessen Wand als Grenze zwischen dem »Ich« und dem Neologismus »NichtmehrIch« (Z. 22). Das Meer mit seinen Toten auf dem Grund und seiner Fauna in dieser makabren Umgebung (Z. 26f.) bereitet auch den Lebenden Schwierigkeiten, indem es bei den Seefahrern Durst, Hunger und Einsamkeit ohne »Frauenwärme« (Z. 33) hervorruft. Hierbei wird deutlich, dass es sich bei dem namenlosen Ich um eine männliche Person handelt, einen Seefahrer und Landnehmer. In Anbetracht der vorausgegangenen Teile des Triptychons und des Titels des vorliegenden Textes liegt der Schluss nahe, dass es sich bei dem Protagonisten um den Argonauten Jason handelt. Die anschließende Landung und Landnahme erscheinen als glücklos (Z. 56). Ab Zeile 40 wird der in Zeile 16 angekündigte »Gang durch die Vorstadt« aufgenommen und führt den Leser durch eine marode Umgebung der Gegenwart, aus »Trümmern und Bauschutt« (Z. 41) und voller Abfall. In ihr leben Menschen auf kleinem, trostlosem Raum – ausgedrückt durch die Bezeichnungen »Fickzellen« (Z. 42), »Container« (Z. 45) und »Abraum« (Z. 45) als Synonym
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Vgl. Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 6, Stuttgart 1999, S. 834. Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 2, Stuttgart 1996, S. 733.
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Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Arg. für meist als wertlos angesehenen Aushub und »Beton« (Z. 46) – in der Vergänglichkeit, dem »Verschleiß« (Z. 44) ausgesetzt. »WAS BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN« (Z. 51) – ein verändertes Zitat Hölderlins – zeigt auf, dass die Überreste dieser Zivilisation dem Untergang geweiht sind. Der vierte Abschnitt (Z. 54-67) handelt von einer Zukunftsvision, in der »DER TOD EINE HOFFNUNG« (Z. 56) ist, und in der der »Jugoslawische Traum« (Z. 57), der ein Verweis auf einen Traum Müllers in Jugoslawien3 ist, die Flucht vor dem katastrophalen Schicksal darstellt. Auf dieser Flucht erscheinen weitere Personen, die Mutter, die Alte, »DIE ZUKUNFT« (Z. 61) und »[e]in Rudel Schauspieler« (Z. 62), die das Ich als gefährlich einstuft. Die Personen entsprechen nach Müllers Angaben denen in einem tatsächlich von ihm geträumten Traum, womit der Mythos der Argonauten erneut aktualisiert wird: »Von den Schauspielern über die Leichenschwestern und den zerbrochenen VW bis zu dem verlassenen Kino. Die Alte mit dem Tragholz war eine Frau in Belgrad im Supermarkt, in schwarzer Bauernkleidung, ihr Tragholz, mit dem sie früher wohl die Wassereimer geschleppt hatte, behängt mit den Produkten deutscher Sauberkeit, Persil und Ajax und so weiter.«4
Das »Gestrüpp / [s]einer Träume« (Z. 68f.) nimmt zu, bis der Protagonist »Rast auf dem toten Baum« (Z. 82) macht, wiederum ein Verweis auf Jason und sein Schiff Argo.5 Es folgt die Beobachtung der vorgefundenen Stadt und der Landschaft (Z. 77-94) aus der Distanz. Diese Distanz wird dadurch verstärkt, dass das Tempus ab hier vom Präsens ins Imperfekt wechselt. Das Ich vergleicht seine Beobachtung mit dem Hochgefühl Kaiser Neros bei der Betrachtung der brennenden Stadt Rom (Z. 79). Die erlebte Wirklichkeit wird jedoch immer mehr zu einer illusionären Umgebung, die Bildern auf einer Leinwand ähnelt, einem Kino, in dem Landschaften und ›Stars‹ in ihrer Vergänglichkeit gezeigt werden. In dieser Wirklichkeit bewegt sich der Protagonist mit technischen Hilfsmitteln, einem Wagen und einem Bus. Die Fahrt durch den Verkehr nimmt aufgrund fehlender Parkmöglichkeiten, aufgezeigt durch das englische Verbot »NO PARKING« (Z. 88), vorerst kein Ende, führt über eine Kreuzung und bis zum Hafen, der das beschriebene Kino ist. Dabei verweist die Verwendung englischer Worte und Sätze nach Sue Ellen Case »auf die neue Form des Kulturimperialismus, wie er von
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Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in
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zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 251f. Ebd., S. 252. Vgl. Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 1, Stuttgart 1996, S. 1063f.
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Text als Klangmaterial der US-amerikanischen Film- und Fernsehproduktion betrieben wird«6. Mit der diesmal in Versalien gedruckten Wiederholung »ODER DIE GLÜCKLOSE LANDUNG« (Z. 95) wird nun verstärkt auf die Enttäuschung über die Landung und den von Zivilisationsmüll und Tod geprägten Eindruck von dieser eroberten Landschaft hingewiesen. »Die toten Neger« (Z. 95), Blut und Leichen der toten Gefährten säumen den Weg, »[d]as Theater [s]eines Todes« (Z. 101) wird für den Protagonisten eröffnet. Als die Flucht mit einem Flugzeug schon zu gelingen scheint, treffen ihn Schüsse. Die Beobachtung des Todes wird zur eigenen Erfahrung, der Possesivartikel »MEIN« wird viermal in Versaldruck, in Verbindung mit den Substantiven »Blut«, »Adern« und »Leib« aus dem Bereich des Körpers, verwendet und erschließt für den Protagonisten seine Landschaft des Todes (Z. 111f.). Den Abschluss des Textes stellt ein Ausblick auf die Zeit nach dem Mythos dar. Die Frage »Wer hat bessre Zähne / Das Blut oder der Stein« (Z. 114f.) erscheint wie eine Frage an den Leser, der aufgefordert wird, darüber nachzudenken, ob sich das Lebende, der Mensch, der durch das Blut symbolisiert wird, oder das in der Geschichte andauernde Unbelebte, der Stein, durchzusetzen vermag. Aneinandergereihte Einzeleindrücke in einem Bewußtseinsstrom zeigen in »Landschaft mit Argonauten« die Verschränkung der Gegenwart, der Zukunft und des Mythos, in dem die Argonauten mit dem Auftrag, das Goldene Vlies zu beschaffen, auf die See hinausfahren. Bereits auf ihrem Weg nach Kolchis werden die Argonauten mit vielen Aufgaben und Kämpfen konfrontiert, bevor Jason mit Hilfe Medeas das Vlies entwenden kann.7 Jason als Kolonisator, wie er bereits in den vorausgegangenen Teilen des Triptychons dargestellt wurde, sinnt über die Seefahrt und seine Landnahmen sowie über die Erfahrung einer Landschaft, die durch Abfall, Verrottung und Tod geprägt ist, nach. Die Eindrücke des Todes und des Krieges werden aus der Erinnerung – »Erinnerung an eine Panzerschlacht« (Z. 39) – beziehungsweise aus der verneinten Erinnerung – »DO YOU REMEMBER DO YOU NO I DONT« (Z. 98) – und in der Zukunftsvision eines »Krieges der morgen stattfinden wird« (Z. 50) geschildert. So erscheint Geschichte vom Mythos über die Gegenwart bis hinein in die Zukunft als eine Geschichte der Aggression, Verwüstung und Zerstörung durch den Menschen selbst. Auf die im Text gestellte letzte Frage über das Machtverhältnis zwischen Mensch 6
Case, Sue Ellen: Medea, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.):
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Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 256260, S. 260. Vgl. Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 1, Stuttgart 1996, S. 1066ff.
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Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Arg. und Landschaft gibt Müller in seiner Autobiographie selbst eine Antwort: »Die Landschaft dauert länger als das Individuum. Inzwischen wartet sie auf das Verschwinden des Menschen, der sie verwüstet ohne Rücksicht auf seine Zukunft als Gattungswesen.«8 Der Mann – hier durch die Person Jasons verkörpert und nach Müllers Anmerkung zum Text für ein Kollektiv stehend9 – erweist sich als Einnehmer, seine Seefahrt steht nach Gruber »symbolisch für die männliche Existenzweise ein. Der Argonautenzug als kolonisatorisches Unternehmen repräsentiert, so läßt sich behaupten, Geschichte als männliche Unternehmung, in der die Frauen nur als Kolonialisierte, als Barbarinnen, als anderer Stamm erscheinen«.10 Die vom Mann dominierte Geschichte, die Bühne seines Wirkens, erscheint als eine Geschichte von Katastrophen, Gewalt und Zivilisationsmüll, in der das Individuum durch Wegfahrt und Landung nach seinem Selbst und seiner Identität sucht. Statt dieser Selbstfindung vollzieht sich jedoch nach Eke die Auflösung und Zersetzung des enttäuschten Subjekts und zeigt entgegen der im Text verlautbarten Hoffnungen – wie auch die in den vorhergegangenen beiden Teile des Triptychons – »das Bild des endlosen Kreislaufs der Vernichtung als letzter Wahrheit der tötenden Geschichte«11. Der Ausgang dieses historischen Prozesses bleibt durch die Frage an den Leser am Textende offen: »Nicht die fatalistische Feststellung und Festschreibung der Ohnmacht steht damit am Schluß von VERKOMMENES UFER MEDEAMATERIAL LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN, sondern die appellativ an das Publikum delegierte Frage nach dem Ausgang der Geschichte, die den Zuschauer in einen Denk- und Entscheidungszwang hineinversetzen soll.«12
Der Leser wird in »Landschaft mit Argonauten« des Weiteren mit einer Vielzahl an intertextuellen Verweisen konfrontiert. Im Text finden sich beispielsweise indirekte Zitate aus Müllers »Die Befreiung des Prometheus«. So verweisen der Textbeginn mit »Im Regen aus Vogelkot im Kalkfell« (Z. 4) und die Wiederholung dieser Zeile vor der Ausfahrt auf die See (Z. 17) auf die durch Prometheus verkörperte Rolle des Intellektuellen im Hinblick auf die Revolution und auf die Angst vor der Freiheit angesichts der Sicherheit in Ketten.
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Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in
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zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 322. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 84.
10 Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 132. 11 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 220. 12 Ebd., S. 225.
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Text als Klangmaterial Der Verweis erfolgt als erste Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität »Ich Wer ist das« (Z. 3), bietet also das erste Identifikationsangebot. In der Anspielung auf Prometheus sieht Eke »das Ende der Auflehnung, die Zersetzung des Widerspruchsgeistes und die Selbstaufgabe des im Kot der Geschichte begrabenen Intellektuellen und Revolutionärs«13. Das Bild des an den Kaukasus festgeketteten Prometheus stellt einen Kontrast zum folgenden Angebot zur Selbstfindung des Ichs dar: als »eine Fahne ein / Blutiger Fetzen ausgehängt Ein Flattern« (Z. 5f.). Gemeint ist hier ein bewegliches Subjekt, das sich den Herausforderungen stellt. Ein weiterer zentraler Intertext ist das in Versalien gedruckte »WAS BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN« (Z. 51). Dabei handelt es sich, wie von Teichmann und Primavesi konstatiert, um einen abgewandelten Vers aus Friedrich Hölderlins Hymne »Andenken«. In der Reflexion über das Bleibende stellt Hölderlin das dichterische Andenken über die Taten von Heroen wie den Seefahrern, da erst der Dichter sie unsterblich macht. Im Original lautet das Zitat wie folgt: »Es nehmet aber / Und gibt Gedächtnis die See, / Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen, / Was bleibet aber, stiften die Dichter.«14 Das Verblassen des Gedächtnisses bei Ausfahrt auf das Meer und das Schaffen eines neuen Gedächtnisses korrespondiert mit Müllers »Mit dem Horizont vergeht das Gedächtnis der Küste / Vögel sind ein Abschied Sind ein Wiedersehn« (Z. 19f.), wie auch Primavesi feststellt. 15 Während in Hölderlins Hymne jedoch das Bleibende durch die Dichter gewährleistet und das neue, durch die See gegebene Gedächtnis gewahrt wird, bleibt in »Landschaft mit Argonauten« eine von Bomben zerstörte Welt zurück. Müller, der sich in den 60er Jahren im Rahmen der Bearbeitung von Hölderlins Übersetzung von Sophokles’ Tragödie »Ödipus Tyrann« intensiv mit dessen Werk auseinanderzusetzen begann, verwendet in seinen Theatertexten des Öfteren Zitate des Dichters, was nach Primavesi Müllers Fokussierung auf das Fortleben tragischer Erfahrung in der Gegenwart zeigt.16 Die genannten intertextuellen Verweise verdichten den Text und geben ihm einen erweiterten Konnotationsrahmen. Teichmann stellt als Wirkung solch einer Textarbeit fest:
13 Ebd., S. 218. 14 Hölderlin, Friedrich: Andenken, in: ders.: Werke und Briefe. Erster Band, Frankfurt 1969, S. 194-196, S. 196. 15 Vgl. Primavesi, Patrick: Friedrich Hölderlin, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 131-134, S. 133. 16 Vgl. ebd., S. 132.
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Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Arg. »Das Zitat als einmontierter Fremdkörper wird als bewußte Störung des Textes wahrgenommen, nährt die Erwartung an seine erklärende Funktion und verhüllt aber gleichzeitig seinen deskriptiven Charakter. Es wird zur unruhigen Metapher, die den Text durchlöchert, indem sie verschiedene Richtungen der Öffnung zu anderem hin anbietet, ohne indessen verbindlich zu sein.«17
So erhalten die katastrophalen Zustände, die aus dem Handeln der Argonauten erwachsen, durch bereits bestehende Inhalte aus weiteren Bereichen der Mythologie und der Literatur eine Gültigkeit in der Geschichte, die nach Müllers Verständnis bis in die Gegenwart des Lesers hineinreicht. Der zweite in Heiner Goebbels’ Hörstück verwendete Text, Edgar Allan Poes Parabel »Schatten«, weist als kurzer Prosatext keine Auffälligkeiten in der Struktur auf. Die Typographie betreffend lässt sich feststellen, dass ein Wort in Versalien gedruckt ist, der Name »SCHATTE«, den der Schatten als Antwort auf die Frage nach seinem Namen gibt. Dem Text vorangestellt ist der Psalm »Ja! Ob ich schon wandre im Tale der Schatten«18, der den Titel aufgreift und im Hinblick auf den Text auch eine vorwegnehmende Wirkung hat. Der Erzähler wendet sich zu Beginn des Textes explizit an die späteren Leser unter Verweis darauf, dass er sich zum Zeitpunkt des Lesens seines Memorandums bereits im »Reich der Schatten« befinden werde. Sodann setzt die eigentliche Erzählung ein, in der im Jahr 794, einem »Jahr des Schreckens«, aus der Sicht des Griechen Oinos von einem Abend mit sechs Gefährten in Nervosität und Angst vor übersinnlichen und düsteren Dingen erzählt wird. Der Raum, in dem sich die sieben Personen befinden, ist dunkel bis auf die Flammen von sieben Lampen. In diesem Schein feiern die Personen ein hysterisches Gelage mit Gesang, während sich im Raum auch ein an der Pest verstorbener junger Toter, Zoilus, befindet. Plötzlich löst sich aus den dunklen Wandverhängungen »ein dunkler & umrißloser Schatte« und verharrt nach einigem Umhergehen an der Pforte, gegenüber dem Toten. Nachdem Oinos den Schatten angesprochen und nach seiner Herkunft gefragt hat, antwortet dieser, dass er »SCHATTE« heiße und nahe den Katakomben wohne. Der Klang dieser Antwort erschreckt die Lebenden im Raum, da die Stimme »einer Vielheit von Wesen« zu gehören, die Stimme von »Tausenden abgeschiedener Freunde« zu sein scheint. Der Schatten erscheint in der Parabel als ein Bildnis der Toten, die über ihn in die Welt der Lebenden Einlass finden und vom Erzähler für den zukünftigen, 17 Teichmann, Klaus: Der verwundete Körper. Zu Texten Heiner Müllers, Freiburg 1986, S. 83. 18 Poe, Edgar Allan: Schatten. Eine Parabel, in: ders.: Werke I. Erste Erzählungen. Grotesken. Arabesken. Detektivgeschichten, Olten 31974, S. 579-583, S. 579.
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Text als Klangmaterial nach dem Vorübergehen vieler Jahrhunderte lebenden Leser festgehalten werden. »Schatten« kann als eine Parabel über Autoren, das Dichten und das Wirken von Texten gesehen werden. Der erste Absatz des Textes, die Ansprache an den Leser, zeigt das Selbstverständnis eines Dichters, der sich, bevor die eigentliche Erzählung einsetzt, explizit aus seinem Werk zurückzieht. Auch nimmt er die Reaktionen seiner Leser vorweg, die beim Lesen an dem Text zweifeln oder ihm nicht glauben werden. Das Reich der Schatten, als Totenreich, in das der Autor selbst entschwinden wird, dringt in der Person des Schattenwesens in die Welt der textimmanenten Lebenden als auch in die Welt des späteren Lesers ein, der sich mit diesem Text auseinandersetzt. Die vom Autor in Form von Text hinterlassenen Zeichen wirken lange nach seinem Tod nach. Dieses Verschwinden des Autors hinter seinem Text und das Schreiben über die Toten waren auch Müllers Hauptanliegen. In einem Essay schreibt er über seine literarische Arbeit: »Der Hauptaspekt, wenn man so lange schreibt, ist ein Dialog mit den Toten, mehr als mit den Lebenden, und dieser Dialog findet so lange statt, bis man tot ist. Das Drama war ja ursprünglich – jedenfalls die Tragödie – Totenbeschwörung, und das hat jetzt noch Sinn, auch wenn dem Publikum an dem Tisch, der da gerückt wird, die Zeit etwas lang wird.«19
Seine Beschäftigung mit den Toten, die die Geschichte prägen und »die Mehrheit sind«20, sieht er als seine Pflicht als Demokrat an. Die Verschränkung von »Landschaft mit Argonauten« und Poes »Schatten« in Goebbels’ Hörstück erscheint zunächst ungewöhnlich, vor dem Hintergrund der in »Landschaft mit Argonauten« gestellten Frage jedoch, was sich in der Zukunft durchsetzen wird, »[d]as Blut oder der Stein«, und wie die Toten der Vergangenheit in der Gegenwart des Lesers nachwirken, erscheint dies reizvoll und aufschlussreich.
4.6.2 SPRECHGESANG VON BOSTONER PASSANTEN IN VERBINDUNG MIT EDGAR ALLAN POE – ANALYSE DES HÖRSTÜCKS Das etwa 53 Minuten lange Hörstück liegt als Radioaufnahme in der vom Südwestfunk 1991 produzierten Version vor. Diese ist die Synchronfassung des ein Jahr zuvor im Auftrag des Massachusetts Cultural Council, vom Goethe Institut und vom Institute of Contempo19 Müller, Heiner: Das Jahrhundert der Konterrevolution, in: ders.: Zur Lage der Nation, Berlin 1990, S. 83-97, S. 87. 20 Verlag der Georg Büchner Buchhandlung (Hg.): »Ich bin ein Neger«. Diskussion mit Heiner Müller, Darmstadt 1986, S. 38.
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Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Arg. rary Art Boston vollständig in englischer Sprache produzierten und 1993 in der Endabmischung auf Tonträger erschienenen Hörstücks »Shadow – Landscape with Argonauts«. Die Synchronfassung ist um die drei Synchronstimmen (Margaret MacDuffie, Less Stuck und Christian Brückner), die den deutschen Originaltext Müllers lesen und die Aussagen der Passanten übersetzen, sowie um die Originalstimme Müllers bei der Rezitation der deutschen Übersetzung von Poes Parabel erweitert. Da diese nicht nur über die englische Tonspur gelegt werden, sondern teilweise auch freistehen und eigenen Raum erhalten, ist die Synchronfassung gegenüber der Originalfassung knapp zwei Minuten länger. Das Hörstück unterteilt sich in zwei Textstränge, die wiederum jeweils zwei akustische Stränge beinhalten. Die genannte Unterteilung erfolgt auf textlicher Ebene durch die beiden Texte »Landschaft mit Argonauten« im Original und in englischer Übersetzung von Carl Weber21 sowie Poes »Shadow« im Original und in der deutschen Übersetzung von Gisela Etzel22 und auf akustischer Ebene durch die Verwendung verschiedener Stimmen, Aufnahmearten und Musikstile, die in einer Collage zueinander finden. Müllers Text wurde – vergleichbar mit den Aufnahmen zum ersten Teil des Triptychons, »Verkommenes Ufer«, in Berlin – etwa 100 Passanten in Boston zum Vorlesen vorgelegt. So beginnt das Hörstück mit dem Verlesen des Titels – »Landscape with Argonauts« – durch verschiedene Stimmen, weibliche und männliche, junge und alte. Manche fragen nach – »You mean Jason and the Argonauts?« (01:26-01:28) –, andere lachen oder machen beim Lesen Fehler, sodass beispielsweise »Argonauts« als »astronauts« ausgesprochen wird. Dazu erfolgt synchron die Übersetzung der Aussagen der Passanten von Margaret MacDuffie (F2) und Less Stuck (M3) im Wechsel, später auch von Christian Brückner (M53). Bei MacDuffie und Stuck ist in Teilen deutlich hörbar, dass die deutsche Sprache nicht ihre Muttersprache ist, was sich im leichten Akzent und Schwierigkeiten bei der Aussprache mancher Wörter, wie »Südwind« (38:35) oder »Gestrüpp« (26:23), zeigt. Die Original-Töne enthalten neben Nebengeräuschen wie Verkehr, Schritten und Stimmen anderer Passanten auch Dialoge zwischen den angesprochenen Passanten und Heiner Goebbels, die nicht als Abfallprodukt der Aufnahme behandelt und weggeschnitten wurden, sondern im Gegenteil herausgearbeitet wurden, wie folgende Passage (02:06-02:38) zeigt:
21 Vgl. Booklet zur CD, in: Goebbels, Heiner: SHADOW/Landscape with Argonauts, ECM 1480, 1993. 22 Vgl. ebd.
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Text als Klangmaterial »Read a few lines?« »You really want me to read?« »Who said I can read?« »I’ve never read before.« »Which part should I read for you? It’s alright.« »No, not today.« »Read a few lines?« »No, I can’t read today.« »Come on.« »It doesn’t look right to me.« »Yeah but I don’t understand the meaning, how can I...« »It doesn’t matter, you just read it, it’s entertainment.« »It doesn’t have any...« »I don’t know what I’m reading.« »I want to read something for you.«
Mit dieser Passage wird dem Hörer die Aufnahmesituation und die Situation der Sprecher bei der Aufnahme deutlich gemacht und eine leichte Identifikation mit diesen ermöglicht. Die Sprecher kennen den Text vorher nicht, haben Schwierigkeiten mit der korrekten Aussprache mancher Wörter oder mit deren Bedeutung außerhalb des literarischen Kontextes, wie sich an dem Satz »MY GRANDFATHER WAS AN IDIOT IN BOATIA« zeigt, wenn ein Passant beteuert, er könne dies nicht lesen, da er seinen Großvater liebe (11:4711:49). Konfrontiert mit dem unbekannten und auf den ersten Blick schlecht verständlichen Text, zeigen die Menschen unterschiedliche Reaktionen, manche fragen nach, sind verwundert, stottern, andere brechen in Lachen aus oder brechen das Lesen ab. Im Kontrast mit dem Vorangegangenen steht der Gesang von Sussan Deihim (F9), die mit tiefer, dunkler Stimme Poes Parabel »Shadow« interpretiert und dabei teilweise die Wörter in die Länge zieht. Zudem moduliert sie ihre Stimme im späteren Verlauf in die unterschiedlichsten Richtungen, von tiefen und dunklen Tönen zum harten Sprechgesang, bis hin zu sanft gesungenen Tönen und Flüstern. Manchmal wird die Stimme auch vervielfacht, sodass die Darbietung der Parabel artifiziell, eindringlich und geheimnisvoll wirkt. Die Synchronstimme bildet eine Aufnahme von Müller (M15) selbst, der im bekannten, sachlichen und interpretationsfreien Duktus die deutsche Übersetzung rezitiert. Dabei überlagert seine Stimme die englische Tonspur jedoch nicht zeitgleich, wie es bei der Filmsynchronisation der Fall ist, sondern wird zum Teil stark verzögert eingesetzt. Auf der musikalischen Ebene wird dieser Strang überwiegend mit meist textunterlegter, orientalisch anmutender Musik versehen, bei der Klarinette und die Saiteninstrumente Chumbush und Gardon im Vordergrund stehen und die rhythmisierend, zum Teil treibend wirkt.
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Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Arg. Nach der so in Deutsch und Englisch vorgetragenen Ansprache des Erzählers als Autor beziehungsweise als Schreibender an den Leser aus »Schatten«, setzen wieder die Original-Töne ein. Damit erscheint der Rückzug des Autors in der Parabel in einem neuen Kontext, nämlich im direkten Bezug zu Müller, der diese Ansprache selbst liest, auf die wiederum sein eigener Text in der Interpretation der Lesenden in Boston folgt. Bei der Suche Jasons nach seiner Identität erhält der erste in Versalien gedruckte Satz »MY GRANDFATHER WAS / AN IDIOT IN BOATIA« eine gesonderte Stellung. Die Aussprache des unbekannten Ortes »BOATIA« lässt viele Passanten beim Lesen stolpern. Viele verschiedene Versionen und schließlich die saloppe und belustigte Nachfrage »What the fuck is this?« (08:15-08:17) rücken den Ort und die gesamte Aussage in den Fokus des Hörers. Intensiviert wird dieser Eindruck durch die hörbare Unsicherheit der Synchronsprecher, die den Ort zögernd und auf unterschiedliche Arten aussprechen. Ein männlicher Passant fordert gar Geld für seine Leseperformance, nachdem ihm bereits zwei Dollar geschenkt wurden. Die Originalstimme ist undeutlich, leise und geht in Verkehrsgeräuschen unter, der durch Stuck wiedergegebene Monolog – »Könnten Sie mir nur zwei Dollar geben? Das würde mir sehr helfen. Vielen Dank mein Herr, Gott wird es ihnen danken. Entschuldigung, ich muss nochmal. Zwei Dollar haben sie mir gegeben aus Barmherzigkeit, jetzt fürs Lesen, berechne ich nochmal zwei Dollar.« (08:2208:42) – gibt jedoch die Intention des Passanten wieder. Das darauffolgende Vorlesen der Anfangspassage des Textes gleicht einem ›Rap‹, dem aus der afroamerikanischen Kultur stammenden und seit den 80er Jahren auch in der kommerziellen Musik zunehmend bekannten Sprechgesang23. Es erhält durch daran angepasste Beats und eine Komposition, die an ›Hip Hop‹, den Mitte der 70er Jahre in New York entstandenen Musikstil mit afroamerikanischen Wurzeln24, erinnert, sowie durch den Einsatz von in die Musik eingebauten ›Samples‹ von Straßengeräuschen, Hupen und Reifenquietschen eine starke Intensität. Die Passage ist geprägt von Unterbrechungen durch den Leser, der mit »What’s that word?« (09:05) nach der richtigen Aussprache fragt, was in der dreifachen Wiederholung im ›Loop‹ stilisiert wird. Danach betont er, er sei kein »Auswurf«, verfolgt aktiv seinen Leseprozess, fragt, ob er etwas ausgelassen habe und beendet seine Performance plötzlich mit der Forderung »Now give me two dollar!« (09:56-09:57). Im Anschluss werden Ausschnit-
23 Vgl. Dietel, Gerhard: Wörterbuch der Musik, München 2000, S. 247f. 24 Vgl. ebd., S. 131.
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Text als Klangmaterial te dieser Textpassage nochmals von verschiedenen Stimmen wiedergegeben, die direkt und schnell aufeinanderfolgen. Auf der Ebene der Geräusche werden hier das erste und einzige Mal solche eingesetzt, die sich nicht als Nebengeräusche aus der Aufnahme ergeben. Meeresrauschen und Möwenrufe (10:18–11:00) versetzen den Hörer kurzzeitig von der Bostoner Straße in eine andere akustische Kulisse und machen das im Text thematisierte Verlassen des Landes und die Ausfahrt auf die See erfahrbar. Nach der Darstellung dieser Seefahrt und ihrer Strapazen endet die Passage durch die Verbindung des Textes mit der Identität des Sprechers, indem dieser den Satz »MY GRANDFATHER WAS / AN IDIOT« abbricht und den Lesevorgang mit »I can’t go no more, I love my grandfather« (11:47-11:49) beendet. Diese Reaktion des männlichen Lesers zeigt eine direkte, starke Identifizierung mit dem – vorher unbekannten – Text, die sogar bis zu dem Grad reicht, den im Text erwähnten Großvater mit dem eigenen gleichzusetzen und die damit verbundenen Emotionen auf den zu lesenden Text zurückzubeziehen. Der Hörer erfährt in Goebbels O-Ton-Collage mehr über die Sprecher, als dies zunächst zu erwarten ist – lesen sie doch lediglich einen ihnen vorgelegten Text eines deutschen Autors in englischer Übersetzung. Dies wird an dieser Stelle und an dem zwei Dollar einfordernden Mann ganz besonders deutlich. Mit orientalisch klingender und ruhig wirkender Musik, die nun als Motiv des »Schatten«-Stranges erkennbar wird, setzt die eigentliche Handlung der Parabel ein. Müller rezitiert die Umstände der Zeit der Pest aus der Sicht des Griechen Oinos, während polyphon dazu Deihim singt beziehungsweise spricht. Eine herausgehobene Stellung erfährt dabei der erste Satz der eigentlichen Handlung – »The year had been a year of terror, and of feelings more intense than terror for which there is no name upon the earth« –, indem er in dieser Passage mehrmals wiederholt wird. Auf das sanfte Ende der Musik mit leichten, glockenartigen Tönen folgt direkt ein Knallen, das an Pistolenschüsse erinnert und den Hörer aus den verdunkelten, ruhigen Gemächern in »Schatten« auf die Straße mit all ihren Geräuschen versetzt. Die Passanten lesen über die Landung des Schiffes und die Eindrücke der eroberten, trostlosen Landschaft. Sprechen im Chor und darauffolgendes Lachen junger Männer sowie das ungläubige Nachfragen eines Passanten bei dem Wort »fuckcells« zeigen erneut die Schwierigkeiten, die der unbekannte Text beim Lesen aufwirft. Durch die Wiederholung einzelner Textpassagen oder auch Satzteile durch verschiedene Stimmen wird der Hörer mit diesen jedoch vertraut gemacht und sein Verständnis erleichtert. Das Ende der Schilderungen der verfallenden Umgebung bildet der mit einer Pause abgesetzte und von einer leicht belegten Frauenstimme pathetisch vorgetragene Satz »From an unknown ca-
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Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Arg. tastrophe« (18:47-18:50). Damit gelingt eine unmittelbare Verschränkung mit der in »Schatten« geschilderten katastrophalen Grundsituation in den Zeiten der Pest. In der nächsten Passage dieses akustischen Stranges vollzieht sich eine Veränderung des musikalischen Themas. Die Musik wird zunehmend dunkler und treibender, erscheint gefährlicher, was Folge der Anpassung an den Sprechpart Sussan Deihims ist. Diese schildert eindringlich den dunklen, verhängten Raum, in dem sich Oinos und seine Gefährten befinden, sowie die angespannte und bedrückende Stimmung. Letztere wird durch schnelles Sprechen mit einem sehr treibenden Rhythmus vermittelt. Ab 25:07 wird nach einem sanften Übergang von der Musik zu Straßengeräuschen mit der Wiederholung der Aussage »From an unknown catastrophe«, diesmal von einer Männerstimme gesprochen, erneut an Müllers Text angeknüpft. Der jugoslawische Traum wird zunächst von einer Männer- und einer Frauenstimme in einer nur leicht zeitversetzten polyphonen Überlagerung, danach von aufeinanderfolgenden Männerstimmen wiedergegeben. Die zunehmende Technisierung, die der Text durch die Erfahrung des mobilen Ichs thematisiert, wird im Hörstück zunächst mit Radiogeräuschen, dann mit klassischer Musik und Stimmen, die aus dem Radio oder einem Fernseher zu stammen scheinen, und mit Telefonwählgeräuschen eingeleitet sowie mit Bandansagen von Frauenstimmen aus dem Telefonhörer versetzt. Auch die den Text lesende Männerstimme klingt künstlich, betont, langsam und hat einen Halleffekt, der sie wie aus dem Rundfunk stammend klingen lässt. Die den Satz »As Nero stood exultant above Rome / Until the car drove up sand in the gearbox« (27:28-27:34) rezitierende junge Frauenstimme zeigt sich beim Lesen übertrieben traurig, mit einem schauspielernden Duktus. Unterstützt wird dieser auch durch die Synchronstimme, da statt der mit leichtem Akzent versehenen Stimmen von MacDuffie und Stuck Christian Brückner den deutschen Text erzählend rezitiert. Der artifizielle Rahmen der klassischen Musik und der technisch bearbeiteten Stimmen geht in das Musikthema des »Schatten«-Stranges über. Von 27:54 bis 31:31 steht der Satz »Eine tote Last drückte auf uns«, den Müller zu Beginn zwei Mal wiederholt und der von Deihim im englischen Original – »A dead weight hung upon us« – über 20 Mal, einem Mantra gleichend, polyphon zu Müllers Sprechpart und ihrer eigenen Stimme, wiedergegeben wird, im Fokus. Bei der letzten Wiederholung des Satzes wird die Musik ruhiger und leiser und von elektronischen Klängen und ›Hip Hop‹-artigen Beats abgelöst, zu denen Müllers Stimme den Beginn des hysterischen Gelages mit Gesang und Wein rezitiert. Dabei vermischen sich zum ersten Mal das moderne musikalische Thema des »Landscape with Argonauts«-Stranges mit dem Text des »Schatten«-Stranges. Vertieft wird diese Vermischung
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Text als Klangmaterial durch den folgenden zweistimmigen Sprechgesang Deihims, der einem ›Rap‹ gleicht und den Beginn des Gelages wiederaufnimmt: »Yet we laughed and were merry in our proper way – Yet we laughed and were merry which was hysterical; and sang the songs of Anacreon – which are madness; and drank deeply – although the purple wine reminded us of blood.« Diese Sätze werden nach einer geflüsterten Passage über den toten Zoilus und später noch weitere zwei Male wiederholt und zusätzlich mit hysterischem Kreischen und Lachen Deihims, sowie mit Akkordeon-, E-Gitarre-Klängen und Metallschlägen besetzt, sodass für den Hörer die wilde und ausufernde Stimmung im Text akustisch erfahrbar wird. Die Blicke auf Zoilus und das Denken an den Toten, die sich mit der wiederholten Passage abwechseln, werden dabei stets leise und ruhig vorgetragen. Das Ende des Gelages – »But gradually my songs they ceased, and their echoes, rolling afar off among the sable draperies of the chamber, became weak, and undistinguishable, and so faded away« – korrespondiert mit dem Leiserwerden der Musik. Es bleibt lediglich das Akkordeon im Hintergrund hörbar. Mit leisen Fahrgeräuschen, vorbeifahrenden Autos und aneinanderstoßenden Flaschen werden die Busfahrt des Ichs und die zunehmende Medialisierung und Ikonographisierung eingeleitet. Zunächst nur durch die weibliche Synchronstimme gelesen, dann von einer schnell sprechenden Frauenstimme wiedergegeben, findet die Fahrt eine akustische Unterbrechung bei der Feststellung »no arrival NO PARKING«. Die Aussage wird gleichzeitig von zwei jungen und lachenden Frauenstimmen im ›Loop‹ als eine Art rhythmischer Refrain wiedergegeben, der polyphon zum Lesevorgang der gesamten Textpassage hörbar wird. Passend zu der fröhlichen Stimmung der Lesenden wird diese Passage mit einer aus einem Cartoon stammenden Sequenz abgeschlossen und mündet in leise, tiefe Klänge und Straßengeräusche. Auch im Text befindet sich das Ich weiterhin auf der Straße, bis es im verfallenen Kino ankommt. Die »glücklose Landung«, die als »THE HAPLESS LANDING« mehrfach wiederholt wird, wird mit E-GitarreKlängen und ›Hip Hop‹-Musik unterlegt. Diese rücken in den Hintergrund, als die Sprache auf die toten Gefährten und den eigenen Tod kommt. Nach der Darstellung des Todes erklingt zu »IN THE BACK THE SWINE«, das drei Mal hintereinander wiederholt wird, abermals fröhliche Musik, die in ein enervierendes Hupen im ›Loop‹ mündet, das schließlich langsam im Hintergrund ausgeblendet wird. Das Textende wird nun von mehreren verschiedenen Stimmen in verschiedenen Varianten gelesen, wobei »the rest is poetry« deutlich hervortritt, und endet mit der Stimme Christian Brückners, der den Schlusssatz liest: »Wer hat bessre Zähne / Das Blut oder der Stein«. Zur einsetzenden, dunkel wirkenden orientalischen Musik rezitiert Müller das Auftreten und die Beschaffenheit des Schattens,
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Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Arg. was Deihim sodann in stark gezogenem Gesang wiedergibt, der sich mit hart wirkendem, zweistimmigem Sprechen abwechselt. Über die Reaktion der sieben Personen, die den Blick senken, singt Deihim in höherer Tonlage, während die Musik bis zur Stille ausklingt. So vollziehen sich das Ansprechen des Schattens durch Oinos und dessen Antwort in vollkommener Stille, was die Aufmerksamkeit des Hörers auf diesen Dialog lenkt. Zusätzlich flüstert Deihim die kurze Antwort: »I am SHADOW, and my dwelling is near to the Catacombs of Ptolemais, and hard by those dim plains of Helusion which border upon the foul Charonian canal.« Danach erklingt erneut sphärische Musik, die zunehmend rhythmisch wird und ab 49:27 mit elektronischen Tönen, Straßengeräuschen, Hupen und Reifenquietschen versetzt wird. Dabei handelt es sich um im Hörstück bereits gehörte Geräusche, ebenso werden aus dem gesamten Text »Landscape with Argonauts« Versatzstücke von bereits gehörten Stimmen oder gar bereits gehörte Passagen montiert, von »MY GRANDFATHER WAS / AN IDIOT IN BOATIA«, über »YET WHAT REMAINS IS CREATED BY BOMBS«, bis hin zu »IN THE BACK THE SWINE«. Diese Montage vollzieht sich ohne Synchronstimmen, die hier angesichts der bereits gehörten und dem Hörer vertrauten Textteile überflüssig wären. Mit dieser Stimmencollage kommt Müllers Text zum Ende, während der »Shadow«-Strang bei 51:13 zum letzten Mal aufgenommen wird. Mit dem orientalischen Musikthema werden die Gedanken der Sieben, vermittelt durch die Rezitation Müllers und den Gesang beziehungsweise Sprechgesang Deihims, eingeleitet. Der Höhepunkt, nämlich die Erkenntnis, dass sich in der Stimme des Schattens eine Vielzahl an Stimmen der Toten vereint, wird auch akustisch gesteigert, indem Deihim einzelne Wörter oder Satzteile mehrmals nacheinander wiederholt und eindringlich gestaltet: »And then did we, the seven, start from our seats in horror, and stand trembling, and shuddering, and aghast, for the tones in the voice of the shadow for the tones, in the voice of the shadow for the tones, in the voice of the shadow for the tones, in the voice of the shadow were not the tones, tones, tones of any one being, but of a multitude of beings, of beings, of beings, and, varying in their cadences from syllable to syllable fell duskly upon our ears in the wellremembered and familiar accents of many thousand departed friends.«
Das Ende dieser Passage wird gezogen und von Deihim mehrstimmig wiedergegeben, sodass die Vielheit der Stimmen im Text deutlich wird. Das Hörstück wird sodann mit einer freistehenden Musiksequenz (52:52-54:16) in höherer Lautstärke beendet. Bei der Collage aus O-Tönen, Gesang, Rezitation und Musik steht, die Quantität betreffend, die Sprache der zwei Textebenen in den zwei Sprachversionen im Vordergrund. Die verschiedenen Aufnahmearten – einmal Originaltöne mit Nebengeräuschen und ein177
Text als Klangmaterial mal Studioaufnahmen, die sich wiederum in die Synchronstimmen von MacDuffie, Stuck und Brückner, die modulationslose Stimme Müllers und den modulationsstarken Gesang und Sprechgesang Deihims unterteilen lassen – erzeugen eine wechselvolle Spannung zwischen den Texten sowie auch zwischen den Original- und Synchronstimmen selbst. Textunterlegte Musik und Nebengeräusche der Straßenszenerie, die als ›Samples‹ auch stilisiert werden, verleihen der Sprache eine stärkere Dynamik und treten mit ihr in eine sich wechselseitig bedingende Beziehung. So wird der Rhythmus der Sprache der Passanten durch Beats und ›Hip Hop‹-Musik intensiviert und der so entstehende Sprechgesang mancher Bostoner als eine Art ›Rap‹ erfahrbar. Ebenso entstehen Korrespondenzen zwischen Sussan Deihims Gesang und dem orientalischen Musikthema, indem sich Rhythmus und Tempo jeweils anpassen. Indem Musik und Geräusche in gleicher Lautstärke wie Gesang und Sprechparts auftreten sowie auch des Öfteren längere Passagen über frei stehen, erscheinen sie als gleichwertig und nicht als bloßes Beiwerk der Sprache. Darüber hinaus vermitteln sie Stimmungen der modernen alltäglichen Welt und des sphärischen, dunklen Raumes in der Vergangenheit. Aufgrund dieser Verschränkung auf textlicher, sprachlicher und musikalischer Ebene konstatiert Sandner: »Das löst ein faszinierendes Wechselbad der Gefühle aus, besonders dann, wenn Goebbels neben der fast abgehobenen Künstlichkeit oder Kunstfertigkeit Sussan Deihims auch die Texte der Passanten ›vertont‹, das heißt den latenten Rap-Stil einiger Bostoner authentisch rockmusikalisch unterfüttert und so nahezu ein Bild unserer Wirklichkeit [...] entwirft, zwischen dem – wie eine unterschwellige Bedrohung – eine mythische Urangst spürbar bleibt.«25
Auch in den Kritiken zur Erscheinung der Originalfassung des Hörstücks auf CD wird die reizvolle Spannung der beiden Stränge und ihrer Aufnahmearten erkannt: »Das Besondere daran ist, daß der Komponist Müllers Texte in kurzen Sequenzen von etwa hundert ungeübten, ratlosen und manchmal amüsierten oder schockierten Passanten in Boston lesen läßt. Im Kontrapunkt mit den professionell rezitierten Passagen aus Poes unheimlichem Werk ergibt sich daraus ein
25 Sandner, Wolfgang: Heiner Goebbels, Komponist im 21. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 9-44, S. 23.
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Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Arg. faszinierender Blick auf eine zwischen mythischer Urangst und seichter Leichtlebigkeit oszillierende Moderne.«26
Die Verbindung der beiden Textstränge »Landscape with Argonauts« und »Shadow« erfolgt durch sanfte Übergänge und ›Fade Outs‹, so dass der Hörer langsam in die jeweils andere Textpassage und den dazugehörigen Raum gleiten kann. Eine Vermischung beziehungsweise Überschneidung der Stränge wird vollzogen, indem Müllers und Deihims Rezitationen mit Musik und Beats aus dem Strang der Original-Töne versetzt werden. Dabei zeigt sich, wie der Mythos in den modernen Alltag hineingreift und welche Reaktionen er in der Gegenwart der Lesenden hervorruft.
4.6.3 ZURÜCKTRETEN DES SCHREIBENDEN HINTER SEINEN TEXT – ERGEBNISSE Sowohl bei »Landscape with Argonauts« als auch bei »Shadow« wird die Chronologie des Textes grundsätzlich gewahrt. Rückgriffe entstehen durch Wiederholungen von Textpassagen durch verschiedene Passantenstimmen, sowie im Gesang Sussan Deihims, bei dem sich die Semantik des Textes durch zum Teil extreme Modulationen, wie das Langziehen der Wörter, oft nicht beim ersten Hören offenbart. Es gibt jedoch nie Vorgriffe im Text. Müllers Text wird sowohl in der englischen Übersetzung durch die Passanten als auch im Original durch die Synchronstimmen vollständig wiedergegeben. Dabei wird die Aneinanderreihung zahlreicher Bilder im Text durch die Vielzahl der etwa 100 verschiedenen Männer- und Frauenstimmen, die oft nur einen Satz oder ein Bild wiedergeben, akustisch verdeutlicht. Die in Versalien gedruckten Wörter erfahren nicht unbedingt eine Betonung durch die Lesenden selbst, werden durch Schnitte sowie direkte und spätere Wiederholungen jedoch in den Vordergrund gerückt. Die Unterteilung in Sinnabschnitte zeigt sich im Wechsel mit dem »Shadow«Strang. So treten die Stationen des Ichs – Identifizierung, Seefahrt, Gang durch die Vorstadt, die Traum- und Endzeitvision, der Tod und die Frage nach dem weiteren Geschichtsverlauf – auch im Hörstück als einzelne Passagen auf. In »Shadow« wurden zwei kurze Auslassungen vorgenommen. Zum einen handelt es sich um den Satz, der das Lichtspiel in dem dunklen Raum beschreibt:
26 Stadler, Rainer: Heiner Goebbels’ Textvertonungen auf ECM, in: Neue Zürcher Zeitung, zitiert nach: http://www.heinergoebbels.com/deutsch/cd kritik/cdk03.htm vom 01.12.2008.
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Text als Klangmaterial »Uprearing themselves in tall slender lines of light, they thus remained burning all pallid and motionless; and in the mirror which their lustre formed upon the round table of ebony at which we sat, each of us there assembled beheld the pallor of his own countenance, and the unquiet glare in the downcast eyes of his companions.27
Zum anderen fehlt nach Auftauchen des Schattens der Satz »And the door whereupon the shadow rested was, if I remember aright, over against the feet of the young Zoilus enshrouded« und der kurz darauf folgende Satzteil »from among the draperies, dared not steadily behold it«28. Die Auslassungen enthalten jedoch keine Informationen, ohne deren Kenntnis das Verständnis des Textes gestört wäre. Zudem liest Müller die vollständige Fassung der deutschen Übersetzung von Poes Parabel, sodass der Hörer beide dem Hörstück zugrundliegenden Texte in ihrer Ganzheit erfassen kann. Gleichzeitig tritt Müller als Autor, wie der Autor in der Parabel, hinter seinen eigenen Text. Er rezitiert den Text des bereits verstorbenen Autors Poe, dessen Figur des Dichters wiederum zu Beginn dem Leser vermittelt, er werde zum Zeitpunkt des Lesens nicht mehr leben, und einen Text über die im Schatten verbundenen Stimmen der Toten hinterlässt. Im Hinblick auf Müllers Text entsteht so Spannung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie ebenfalls zwischen den bereits Toten und dem Ich, das seinen Tod am Ende des Textes von Müller findet. Müllers Stimme, die »Schatten« liest, fungiert dabei nicht lediglich als Synchronstimme, sie ertönt meist eben nicht synchron zu Deihims Gesang und liest auch die Textteile, die dieser auslässt. Statt nur einer besseren Verständlichkeit für den deutschen Hörer bietet das Hörstück »Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten« so, gegenüber der früheren Fassung, mit Müllers Stimme einen zusätzlichen Kontext über das Selbstverständnis als Autor. Angesichts des Todes Müllers im Jahr 1995 wird dieser Kontext nochmals erweitert. In der Welt des Hörenden ist er, der Schreibende, nicht mehr anwesend, der Text und seine Zeichen erscheinen jedoch als gegenwärtig. Durch die Vielzahl der Stimmen der Bostoner Passanten ›spricht‹ sein Text, der Mythos und Vergangenheit in den Alltag der Sprecher und auch der Hörer bringt. So gilt das thematisierte Prinzip der kollektiven Erinnerung duch Literatur auch für das Werk Müllers. Das in beiden im Hörstück verwendeten Texten zentral formulierte ›Bleibende‹ wird durch die Umsetzung der literarischen Werke in der Akustischen Kunst nochmals betont.
27 Poe, Edgar Allan: Shadow – A parable, in: ders: Tales and Sketches 18311842, Camebridge/Massachusetts/London 1978, S. 188-191, S. 190. 28 Ebd., S. 191.
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4.7 Wolokolamsker Chaussee I-V – Wolokolamsker Chaussee I-V (SWF/BR/HR 1989/90) 4.7.1 TEXTANALYSE Die fünf Teile der »Wolokolamsker Chaussee«, die teilweise auf dem Roman »Die Wolokolamsker Chaussee« des sowjetischen Schriftstellers Alexander Bek (1903-1972) basieren, entstanden als eigenständige Texte zu verschiedenen Zeitpunkten im Zeitraum von 1983 bis 1987. Durch die Nummerierung und Einordnung als Teile der »Wolokolamsker Chaussee« werden sie jedoch eng miteinander verknüpft. Nach Müller sind sie »Texte also, die für sich stehen können, die aber auch in Zusammenhang stehen können, wobei die Reihenfolge auch auswechselbar ist«1. Die Inszenierungen der Texte fanden ebenfalls zu verschiedenen Zeiten statt. Der erste Teil wurde bereits 1985 am Deutschen Theater in Ostberlin uraufgeführt, 1986 und 1987 folgten der zweite und dritte Teil am Hans-Otto-Theater in Potsdam, und 1988 schließlich, wieder am Deutschen Theater, der vierte und am Théâtre Bobigny in Paris der fünfte Teil. Im Folgenden soll das Werk, den Teilen einzeln folgend, analysiert und danach im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen den Texten betrachtet werden. Allen gemeinsam ist die Struktur, die dadurch gekennzeichnet ist, dass keine Sprecher oder Rollen angeführt werden. Jedoch wird durch direktes Ansprechen der Dialogpartner und Nutzung der inquit-Formel deutlich, wann und von wem eine direkte Rede beginnt. Des Weiteren ist der fast vollständige Verzicht auf Interpunktion zu erwähnen. Durch die Zeilenstruktur, das Schriftbild und im Speziellen die Großschreibung werden jedoch meist die Satzanfänge aufgezeigt. Die Syntax ist dabei vorwiegend polysyndetisch und weist neben von Relativpronomen eingeleiteten Relativsätzen den Gebrauch von Konjunktionen, vor allem von »und«, auf. In Versalien gedruckte Wörter oder Satzteile betonen diese und ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. Ebenso verhält es sich mit der Wiederholung einzelner Wörter oder Textpassagen. Der erste Teil der »Wolokolamsker Chaussee« mit dem Titel »Russische Eröffnung« behandelt die Frage nach der Schuld, dem Recht und der Durchführung von Befehlen. Betrachtet man die
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Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten. Ein Gespräch mit Gregor Edelmann über BILDBESCHREIBUNG, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE und die Wiederaufnahme des Lehrstückgedankens, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 182-194, S. 183.
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Text als Klangmaterial Struktur, so fallen neben den bereits erwähnten übergreifenden Eigenschaften mehrmalige Wiederholungen einzelner Wörter beziehungsweise Zeilen den gesamten Text über auf. Dazu zählen die zehnmalige Wiederholung von »Angst« und die sechsfache Verwendung von »Front«, der Deutsche beziehungsweise sein Plural sowie das Adjektiv »deutsch«, und die Erwähnung von geographischen Daten »Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau« (Z. 3f., Z. 157f., Z. 242f., Z. 320f.). Die Konjunktion »und« erscheint meist als Anapher am Zeilenanfang, wird jedoch auch oftmals in der Zeilenmitte verwendet. Im Mittelpunkt des in Blankvers verfassten Textes stehen ein sowjetischer Kommandeur, aus dessen Erinnerung die Passage erzählt wird, und sein Bataillon, das im Jahr 1941 – in dem mit der durch die Deutschen verlorenen Schlacht um Moskau ein Wendepunkt im Verlauf des Zweiten Weltkriegs stattfand2 – in einem Wald bei Moskau von den Deutschen eingekesselt wird. Immer wieder kommt die Sprache auf den Feind, der besser ausgerüstet zu sein scheint, denn er hat »Panzer / Flugzeuge den Hochmut der Sieger« (Z. 9f.). Die Soldaten werden zunehmend mit ihrer Angst konfrontiert, was der Kommandeur mit deren Stilisierung zur Mutter kommentiert: »Angst ist die Mutter des Soldaten und / Der erste Schnitt geht durch die Nabelschnur / Und wer den Schnitt verpaßt stirbt an der Mutter / [...] Ich war ihr Kommandeur und meine Angst war / Die Angst vor ihrer Angst« (Z. 12-18). Dabei wird zum einen seine Forderung an die Soldaten, die Angst abzulegen, da sie sonst das Überleben als Soldat behindert, deutlich, zum anderen gibt er selbst zu, Angst vor dieser Angst zu haben und davor, seinem eigenen Anspruch nicht gerecht zu werden. Der Kommandeur befürchtet, dass seine Soldaten aufgrund von Berichten von der Front und von Deserteuren selbst desertieren (Z. 18f.). Obwohl er selbst über das Voranschreiten der Deutschen, für die der »Weg nach Moskau nur noch ein Spaziergang« (Z. 36, Z. 42) sei, und darüber, dass die Rote Armee nicht mehr existiere (Z. 37), informiert wird, bleibt er bei seiner Haltung, dass nur die Angst zu folgendem Resultat und der sich daraus ergebenden Konsequenz führe: »Was uns schlägt ist der General der Angst heißt / Und nur wenn wir ihn schlagen siegen wir« (Z. 46f.). Im zweiten Abschnitt des Textes (Z. 66-89) konfrontiert der Kommandeur die von der Front Kommenden mit ihrer Desertion und droht mit dem Tod als Strafe, sodass diese sich entfernen. Es kommen jedoch »andre« (Z. 85) nach und schüren die Angst. Im dritten Abschnitt (Z. 90-124) ist die Angst der Soldaten deutlich spürbar, den Kommandeur erreicht der »Geruch der Angst« (Z. 96),
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Stökl, Günther: Russische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 31973, S. 752.
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Wolokolamsker Chaussee I-V die Deutschen nehmen die Gedanken der Soldaten ein und der Wald erscheint ihnen als einziges Schutzschild vor dem Feind (Z. 107-110). Angesichts dieser Situation erinnert sich der Kommandeur an seine erste Schlacht und seine Angst, die wich, als er einen Panzer abschoss. Diese Erfahrung will er im nächsten Abschnitt (Z. 125-168) seinen Soldaten nahebringen: »Ich wußte nur der Schrecken treibt die Angst aus« (Z. 128). Mit dem Vortäuschen eines Angriffs durch die Deutschen zur Abschreckung – die Inszenierung wird durch die Verwendung der Begriffe und Vergleiche »Puppen am Draht« (Z. 147), »Schauspiel« (Z. 151), »Bühne« (Z. 153), »Part« (Z. 154) und »Applaus« (Z. 155) deutlich – erkennt er, wie die Reaktion seiner Soldaten im Ernstfall aussehen würde: »Dann lief der erste in den Wald Er war nicht / Der letzte Alle rannten mit« (Z. 148f.). Um der sich ausbreitenden, latenten Gefahr der Desertion seiner Soldaten Einhalt zu gebieten, statuiert der Kommandeur im nächsten Textabschnitt (Z. 169-225) ein Exempel, indem er den Befehl gibt, einen Deserteur zu erschießen. Dieser ist nicht nur in den Wald gelaufen, sondern hat sich zudem selbst angeschossen (Z. 175f.). Der Meldung machende Leutnant erscheint als sehr unsicher. Er hat den Deserteur zwar festgenommen und ist von seiner Schuld überzeugt, wie er im Zwiegespräch mit dem Kommandeur betont (Z. 170-187), er hat den Schuldigen jedoch nicht selbst direkt erschossen und antwortet auf die Frage nach dem Grund mit »Ich weiß nicht« (Z. 185). Die Erklärungen des beschuldigten Soldaten und der Hinweis, dass der Angriff nur eine Übung gewesen sei (Z. 196, Z. 198), lässt der Kommandeur nicht gelten und bezeichnet den Soldaten als »Feigling und Verräter an der Heimat« (Z. 212), der von seiner Gruppe erschossen werden soll. Der Frage des Leutnants, ob sie das Recht dazu hätten (Z. 222), stellt er den Befehl entgegen: »Mein Befehl wird ausgeführt« (Z. 223). Der Kommandeur schwankt im letzten Textabschnitt (Z. 226321) selbst zwischen Mitleid und Pflichterfüllung, empfindet ambivalent Stolz, Scham, Wut und Trauer (Z. 233, Z. 235f.) und bereut seine Entscheidung: »Wie anders hätte ich befehlen sollen« (Z. 241). Der zum Tode Verurteilte ist vom Kollektiv isoliert, was im Asyndeton »Kein Koppel kein Gewehr kein Rangabzeichen / kein Nebenmann« (Z. 256f.) verdeutlicht wird. Der Kommandeur zögert kurz; in seiner Vorstellung nimmt er den Befehl zurück. Der Dialog mit dem Soldaten ist nur imaginär, denn der Kommandeur kommuniziert »mit geschlossenen Lippen« (Z. 277). Diese Gedanken finden abrupt ein Ende: »Dann riß der Film und mein Kommando wischte / Das Bild weg Feuer und die Salve krachte« (Z. 290f.). Nach der Exekution wird der Kommandeur von Schuldgefühlen geplagt, will »den Toten um Verzeihung bitten« (Z. 296) und fühlt sich von ihm ständig begleitet (Z. 309). Die von ihm empfundene Schuld kann er auch
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Text als Klangmaterial durch die Gewissheit um die Erfüllung des Kriegsrechts (Z. 317) nicht mindern. »Russische Eröffnung« trägt den Untertitel »Nach Alexander Bek« und bezieht sich, wie auch der zweite Teil »Wald bei Moskau«, auf Motive des Romans. So bilden dessen Kapitel »Angst« und »Stellen Sie mich vors Gericht«, die einen gestellten Angriff und die Hinrichtung des ersten Verräters unter dem kommandierenden Oberleutnant Baurdshan Momysch-Uly zum Thema haben3, die Grundlage von Müllers »Wolokolamsker Chaussee I«. Aufgrund der im Bataillon herrschenden Angst vor den Deutschen, die von anderen Rotarmisten zusätzlich genährt wird, fasst Momysch-Uly den Plan eines fingierten Angriffs. Entschieden widersprochen werden muss also der These von Vladimir Koljazin, Beks Original sei bei Müller »bis zur Unkenntlichkeit verändert«4. Es finden sich einige Elemente in fast direkten Zitaten wieder, so zum Beispiel die Rundfunkerklärung Hitlers »Die Rote Armee ist vernichtet, der Weg nach Moskau offen«5, Naturbeschreibungen6, die Gespräche zwischen den Soldaten und aus dem Kessel kommenden Deserteuren über die Deutschen7, das Weglaufen der Soldaten während des Angriffs 8 , die Meldung des Leutnants und das Gespräch mit dem Deserteur Barambajew, der sich selbst in die Hand schoss9. Zudem stellt auch Momysch-Uly das Kriegsrecht über sein Mitleid und lässt den Deserteur erschießen: »Ich bin ein Mensch. Alles Menschliche in mir schrie: Das muß nicht sein. Habe Mitleid, verzeihe ihm! Doch ich verzieh nicht.«10 Die Handlung des Originals wird von Müller jedoch stark fokussiert und um die zentrale Situation des Befehls und der Hinrichtung sowie um die Frage nach Recht und den Umständen seiner Durchführung unter Kriegsbedingungen angeordnet. Des Weiteren stellt sich die Frage nach der Pflicht und der Schuld des Individuums gegenüber einem Kollektiv. Hauschild konstatiert über die Exekution und die in »Wald bei Moskau« thematisierte Degradierung: »Entscheidungen in Zwangslagen, getroffen gegen ein Individuum zugunsten eines Kollektivs, in diesem Fall der Moral der Truppe«11 . Müller selbst sieht die Figur des Kommandeurs als eine kollektive Figur: 3
Vgl. Bek, Alexander: Die Wolokolamsker Chaussee, Berlin 1968, S. 14-31.
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Koljazin, Vladimir: Russische Literatur, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 156-160, S. 158.
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Bek, Alexander: Die Wolokolamsker Chaussee, Berlin 1968, S. 17. Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 21.
8 Vgl. ebd., S. 22f. 9 Vgl. ebd., S. 24f. 10 Ebd., S. 31. 11 Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller, Hamburg 2000, S. 125.
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Wolokolamsker Chaussee I-V »Das ist kein einzelner, der sich erinnert. Also muß auch ein Kollektiv an dem Spiel beteiligt werden, wie immer man das dann auflöst. Das sind eher Chortexte als Texte für einen Sprecher, also Monologe oder Dialoge. Nur dann haben sie eine wirkliche Funktion. [...] Nur ein Kollektiv kann die Sache darstellen und erinnern. Die Figuren sind auswechselbar. Der Kommandeur ist auswechselbar mit dem Deserteur zum Beispiel. Schon dadurch ist es ein Spielmodell, und eine Inszenierung kann nicht funktionieren, wenn diese Auswechselbarkeit nicht auf irgendeine Weise dargestellt wird.«12
Auch betont er, »Wolokolamsker Chaussee« habe eine Lehrstückstruktur und formuliert den Lehrstückgedanken wie folgt: »Man muß die Lust an der Produktivität erzeugen. Das kann man aber dadurch, daß man Leute immer mehr an den Prozessen beteiligt, daß man sie an den Entscheidungsfindungen beteiligt, daß man ihnen mehr Verantwortung gibt. Darum geht es. Da ist jetzt etwas in Bewegung gekommen, oder muß in Bewegung kommen.«13
Mit dem Stück will er des Weiteren gegen die Verdrängung arbeiten, mit der er die Geschichte des deutschen Sozialismus konfrontiert sieht: »Ich glaube, Erfahrungen kann man nur kollektiv machen. Der einzelne macht keine Erfahrungen. Kollektive machen Erfahrungen. Aber da Kollektive meistens so organisiert sind, daß die Erfahrungen sofort wieder verdrängt werden, geht es darum, diesen Verdrängungsprozeß zu verhindern oder zu stören.« 14 Die in der ›Russischen Eröffnung‹ dargestellte kollektive Erfahrung fungiert so als Grundstein für die Geschichte des deutschen Sozialismus, der These folgend, dass die »›deutsche‹ Identität nach 1945 zu einem großen Teil vom russischen Krieg her bestimmt war«15. Die deutsche Niederlage an der Wolokolamsker Chaussee und später bei Stalingrad ermöglichte den Sieg über die Nationalsozialisten sowie die Nachkriegsordnung, wie Müller konstatiert: »Die Tatsache der Existenz der Sowjetunion schuf überhaupt erst die Möglichkeit für die
12 Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten. Ein Gespräch mit Gregor Edelmann über BILDBESCHREIBUNG, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE und die Wiederaufnahme des Lehrstückgedankens, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 182-194, S. 188. 13 Ebd., S. 189. 14 Ebd., S. 190. 15 Lehmann, Hans-Thies: Wolokolamsker Chaussee, in: Lehmann, Hans-Thies/ Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 291-298, S. 293.
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Text als Klangmaterial Befreiungsbewegungen auf allen Kontinenten. Das war die Voraussetzung, ohne die wäre gar nichts in Gang gekommen.«16 Eke geht von der konkreten Beziehung des Textes zur deutschen Geschichte mit dem Kontext der Revolution und des Individuums aus. So sieht er die »Überwindung [der Angst; Anm. d. Verf.] als Voraussetzung einer revolutionären Überschreitung des egoistischen Einzelinteresses«17. Erst die Lösung von der Nabelschnur ermöglicht die Geburt des »Neuen Menschen« 18 , die der Deserteur aufgrund seiner individuellen Interessen nicht erreicht hat. Diese Auslegung korrespondiert mit der von Müller in einem Interview über »Wolokolamsker Chaussee« vorgeschlagenen möglichen Lesart: »Die WOLOKOLAMSKER I kann man ja auch lesen als einen Diskurs über Pazifismus. Und es ist doch so, daß die Diskussionen – soweit das eine Diskussion ist –, daß das Problem Pazifismus immer im Moment der größten Bedrohung auftaucht. Und man kann die Geschichte natürlich ausgehend von der Feststellung lesen, daß es ein Recht auf Leben gibt, ganz einfach. Das heißt dann, verlängert, es gibt ein Naturrecht zur Desertion, überhaupt zum Pazifismus, zum Sich-Heraushalten. Aber in einer Situation, in der einer ganzen Gesellschaft das Recht auf Leben bestritten wird, durch eine Drohung oder einen Überfall, setzt die Notwendigkeit zu überleben dieses Recht auf Pazifismus oder auf das SichHeraushalten außer Kraft.«19
Der Tod des Verräters statuiert ein Exempel, das den Verbliebenen zur Abhärtung dient, und wird von Eke als »Niederlage und Erfolg des Kommandeurs zur gleichen Zeit«20 gewertet. Dessen Erinnerung an die immer noch offene Schuld sieht er als Festhalten an »d[er] noch immer ungelöste[n] Frage nach der Gewalt in der sozialistischen Geschichte«21. Diese wird in den weiteren Teilen der »Wolokolamsker Chaussee« zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte 16 Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten. Ein Gespräch mit Gregor Edelmann über BILDBESCHREIBUNG, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE und die Wiederaufnahme des Lehrstückgedankens, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 182-194, S. 186. 17 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 256. 18 Ebd. 19 Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten. Ein Gespräch mit Gregor Edelmann über BILDBESCHREIBUNG, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE und die Wiederaufnahme des Lehrstückgedankens, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 182-194, S. 185. 20 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 260. 21 Ebd., S. 262.
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Wolokolamsker Chaussee I-V ins Gedächtnis des Lesers gerufen, wie die weitere Analyse zeigen wird. Der zweite Teil der »Wolokolamsker Chaussee«, »Wald bei Moskau«, erörtert, ebenfalls aus der Sicht eines Kommandeurs in einem erinnernden Monolog, die Frage nach dem Führungsstil, die ihm durch sein Bataillon gestellt wird. Wie auch schon im ersten Teil der »Wolokolamsker Chaussee« wird die Konjunktion »und« auffällig oft – 35 Mal als Anapher und 30 Mal in der Zeilenmitte – gebraucht. Des Weiteren werden das Substantiv »Deutsche« (Z. 4, Z. 6, Z. 20, Z. 191, Z. 238) und das Adjektiv »deutsch« (Z. 23, Z. 25, Z. 159, Z. 164, Z. 204, Z. 261), sowie die Wörter »Angst« (Z. 123, Z. 208, Z. 213, Z. 214), »Sowjetordnung« (Z. 155, Z. 158, Z. 177, Z. 179, Z. 184, Z. 247, Z. 251), »Wunden« (Z. 180, Z. 181, Z. 187) sowie verschiedene Flexionsformen des Verbs »führen« (Z. 32, Z. 40, Z. 80, Z. 91, Z. 98, Z. 99, Z. 193, Z. 195, Z. 225, Z. 230) und die dazugehörenden Nomen »Führung« (Z. 84, Z. 90) und »Führer« (Z. 99) durch mehrmalige Wiederholung hervorgehoben. Als einziger in Versalien gedruckter Satz erscheint der an den Kommandeur gerichtete Vorwurf »DU HAST UNS IN DEN TOD GEFÜHRT FÜHR NICHT MEHR« (Z. 195f.), der das zentrale Thema des Textes, die Führungsschwäche des Kommandeurs, aufzeigt. Der Text spielt »nach sieben Tagen Schlacht um Moskau« (Z. 1) und lässt sich in fünf Abschnitte unterteilen. Im ersten Abschnitt (Z. 1-55) wird die Grundsituation der vom Kampf gegen die Deutschen und vom Hunger geschundenen Soldaten geschildert. Der Sanitätszug wird vom Kommandeur in einer Alliteration als »die einzige Last / Die langsam leichter wurde« (Z. 12f.) empfunden. Dabei ist auch die folgende Antithese »Und schwerer auch wenn leichter / Mit jedem der uns keine Last mehr war« (Z. 14f.) zu beachten, die seinen Zwiespalt – Mitleid und Erleichterung – über den Tod verwundeter Soldaten ausdrückt. Das Bataillon scheint ohne Orientierung, die Situation aussichtslos. Die Truppenteile sind abgeschnitten, die Körperteile verstreut, was durch die Personifikation »Ein Finger der die Hand sucht die vielleicht / Kein Arm mehr hält am blindgeschossenen Rumpf« (Z. 27f.) deutlich wird. Aus dieser Situation heraus ergibt sich die Frage der Soldaten nach ihrer Führung. Zunächst vollzieht sich diese nur stumm durch Blicke (Z. 29), der Kommandeur fühlt sich dann mit einer von Fragepronomen gefüllten Fragen-Salve konfrontiert: »Warum gehen wir zurück [...] Warum jetzt / Was oder wer hat uns die Kraft genommen / Und wann hat angefangen was jetzt ist / Und Wie und Wer ist schuld« (Z. 2428). Statt einer Antwort erscheint die Aussage »Wie hast du uns geführt Genosse Stalin« (Z. 40), die nicht nur das Vorgehen des fiktiven Kommandeurs, sondern auch das des tatsächlichen Führers
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Text als Klangmaterial der Sowjetunion in den Jahren 1929 bis 1953 in Frage stellt. Der Auftritt eines jungen Soldaten, der den Kommandeur mit dem Hunger konfrontiert, verdeutlicht die missliche Lage, in der sich das Bataillon befindet. Im zweiten Abschnitt (Z. 56-92) wird der Konflikt zwischen dem Kommandeur und dem Bataillonsarzt Belenkow, in dessen Zurücklassen des Sanitätszuges im Wald der Kommandeur ein Vergehen und Verrat (Z. 74-78) sieht, entwickelt. Diesem Vorwurf entgegnet der Arzt zum einen mit der Betonung seines Dienstgrades als Offizier und Bataillonsarzt (Z. 64), zum anderen mit der Gegenfrage nach dessen Führung: »Und wer hat uns geführt in diesen Kessel / [...] Verraten Sie dem Bataillon oder / Dem Rest des Bataillons dank Ihrer Führung / Wohin gedenken Sie uns noch zu führen / Bevor der Feind mit uns ein Ende macht« (Z. 80-92). Damit wird der Kommandeur vor seinen Soldaten bloßgestellt. Er fühlt sich durch ihre Blicke angeklagt und stellt sich selbst die Frage »Geführt Wohin Was bin ich für ein Führer« (Z. 99). Der dritte Abschnitt (Z. 93-136) zeigt die Reaktion des Kommandeurs, die von ihm empfundene Verfolgung durch die Augen der Soldaten, die durch die mehrmalige Wiederholung von »Augenschlitzen« (Z. 100) und »Augen« (Z. 101, Z. 102, Z. 103, Z. 111, Z. 115, Z. 116) in den Fokus tritt, sowie seine Angst, die sich beispielsweise in dem gestammelten, inneren Schrei »Was wollt ihr Bin ich mehr als ihr Was weiß ich / Ich [...]« (Z. 108f.) zeigt. Der phrasenartige Chiasmus »Bevor der Feind mit uns ein Ende macht / Werden wir mit dem Feind ein Ende machen« (Z. 120f.) drückt, angesichts der tatsächlichen Lage, seine Machtlosigkeit aus und wird von ihm selbst angezweifelt (Z. 122). Um zumindest eine äußere »Ordnung« (Z. 132) zu schaffen, degradiert der Kommandeur den Arzt. Dieser wehrt sich im nächsten Abschnitt (Z. 137-223) gegen das unrechtmäßige Vorgehen des rangmäßig Untergeordneten, da nur der Volkskommissar eine Degradierung vornehmen kann. Der Kommandeur erkennt seinen Fehler und denkt über die Sowjetordnung und die Lage seiner Soldaten nach. Die Ellipse »Noch einen Tag in diesem Kessel und« (Z. 170) zeigt nochmals die auswegslose Situation des Bataillons und das Selbstgespräch »Merkst du jetzt daß du / Auch nur ein Rädchen bist und eine Schraube / In unsrer Sowjetordnung Kommandeur« (Z. 177-179) die zunehmende Verunsicherung des Kommandeurs. Die mehrmals erwähnten Narben und Wunden, die die Sowjetordnung den Menschen zufügt, lassen die Angst des Kommandeurs weiter wachsen, bis zu der Befürchtung, dass in einem Ausbruch der Anarchie seine Degradierung vorgenommen werden könnte (Z. 194). Die Anklage, mit der er sich konfrontiert sieht, ist der in Versalien gedruckte Satz »DU HAST UNS IN DEN TOD GEFÜHRT FÜHR NICHT MEHR« (Z. 195f.). Seinem Ge-
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Wolokolamsker Chaussee I-V dankengang über die ausbrechende Anarchie, wenn die Soldaten seinem Beispiel folgen – »Und jeder ist sein eigener Kommandeur« (Z. 197) – folgend, schwankt er zwischen der Ausführung der Degradierung und deren Verzicht. Im letzten Textabschnitt (Z. 223-275) überwiegt zunächst der Zweifel an der Ausfüllung seiner Rolle als Kommandeur: »Vielleicht solltest du auch dir selber gleich / Die Rangabzeichen von den Schultern reißen / Genosse Kommandeur der schlecht geführt hat« (Z. 228-230). Auch stellt er sich die Frage, inwiefern die Sowjetordnung gilt, wenn die Sowjetunion durch den Krieg nicht mehr existiert (Z. 247f.), doch schnell wechseln seine Gedanken in die entgegengesetzte Richtung: »Der Boden unter deinen Stiefeln ist / Sowjetunion die Sowjetordnung lebt / In deinem Herzen und in deinem Kopf« (Z. 250f.). Bestärkt durch diesen Gedanken sieht er sich in der Extremsituation des Krieges als Sowjetmacht (Z. 267) und spricht am Ende des Textes schließlich die Degradierung aus: »Nehmen Sie ihre Rangabzeichen ab / Eh ich sie Ihnen von den Schultern reiße« (Z. 274f.). »Wald bei Moskau« folgt den Motiven des Kapitels »Medizinische Hochschulbildung«22 in Beks Roman, in der die Degradierung des Arztes Belenkow durch den ihm eigentlich unterstellten Kommandeur Momysch-Uy vorgenommen wird. 23 Auch bei Bek steht der Kommandeur im Vorfeld des Konflikts dem Hunger seiner Soldaten hilflos gegenüber: »Ich habe nichts, womit ich den Hunger stillen könnte, und wenn ihr mich in Stücke schneidet – nichts.«24 Den als Verräter empfundenen Arzt, der den Sanitätswagen zurückließ, will er degradieren, wogegen sich dieser wehrt, da nur der Volkskommissar das Recht dazu hat. Auf die Unrechtmäßigkeit hingewiesen, kommt auch Beks Kommandeur zu dem Schluss: »Ich, der Bataillonskommandeur, repräsentiere jetzt die gesamte Staatsmacht. [...] Ich bin die Sowjetmacht!«25. Die zentrale Frage des Textes nach der Führung stellt sich bei Müller auf zwei Ebenen – zunächst als Frage der Soldaten an den Kommandeur, dann als weitergegebene Frage des Kommandeurs an Stalin. Damit wird die Frage nach Verantwortung in die Hierarchie der Sowjetordnung eingeordnet. Die Frage an Stalin – »Wie hast du uns geführt Genosse Stalin« (Z. 40) – kann nach Rainer Grübel durch das Fehlen der Interpunktion und durch sich daraus ergebende unterschiedliche Lesarten eine weitere Konnotation erhalten, 22 Vgl. Bek, Alexander: Die Wolokolamsker Chaussee, Berlin 1968, S. 378389. 23 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 334. 24 Bek, Alexander: Die Wolokolamsker Chaussee, Berlin 1968, S. 382. 25 Ebd., S. 387.
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Text als Klangmaterial was für die akustische Umsetzung mit Sprechern einen wichtigen Ansatz darstellt: »Realisiert der Sprecher sie, als stünde am Ende ein Fragezeichen, so werden Politik und Kriegskunst Stalins nur in Zweifel gezogen. Wird dieser Satz dagegen so intoniert, als ende er mit einem Ausrufezeichen, so wird er zur Anklage gegen Stalin und den Stalinismus. [...] Die Degradierung des Sanitätshauptmanns durch den kommandierenden Oberleutnant stellt nun mit dem Rechtsbruch nicht nur die Macht des Bataillonskommandeurs in Frage, sondern mit der Macht der ihm übergeordneten Instanzen schließlich auch die Macht Stalins und der von ihm dreißig Jahre lang geführten Partei.«26
Die Degradierung durch den Kommandeur verstößt gegen die Dienstgradhierarchie und das Militärgesetz 27 , also das Recht der Sowjetordnung. Der Kommandeur setzt diese durch sein Handeln außer Kraft und sieht sich durch die Kriegssituation dazu berechtigt. Eke konstatiert hierbei die »Bedeutung des selbstverantworteten Handelns von Subjekten als eines notwendigen Korrektivs und Gegengewichts zu dogmatischen Verhärtungen innerhalb des mit Gewalt verteidigten und durchgesetzten Sozialismus«28. Der Kommandeur schwankt zwischen der Erfüllung seiner Rolle im System der Sowjetunion und der für ihn vor dem Hintergrund der Kriegsführung als richtig erscheinenden Handlungsweise. Die Forderung, nicht mehr zu führen, kann so einerseits als an den Kommandeur, andererseits auch als an Stalin gerichtet gesehen werden. Indem sich der Kommandeur der Sowjetordnung widersetzt und eigenständig handelt, stellt er die Führung Stalins in Frage. Müller äußert sich zu dieser Handlungsweise wie folgt: »Im ersten Text WOLOKOLAMSKER ist der Pazifismus der Hauptpunkt für mich, im zweiten der Anarchismus. Denn was der Kommandeur macht, ist an sich anarchistisch. Er setzt sich über das Militärrecht hinweg. Das heißt, der Anarchismus auf seiten des Rechts, auf seiten der Macht. Das ist das Interessanteste daran, das ist das Wichtige. Die Macht muß imstande sein, ihre eigenen Gesetze zu variieren und außer Kraft zu setzen, wenn die Situation es verlangt. [...] Das festgeschriebene Recht ist ja immer vorläufig. Das ist ein Recht, das
26 Grübel, Rainer: Metamorphosen und Umwertungen. Heiner Müllers Dramatisierung von Motiven aus Aleksander Beks Prosatext »Volokolamskoe Sosse«, in: Klussmann, Paul Gerhard/Mohr, Heinrich (Hg.): Spiele und Spiegelungen von Schrecken und Tod. Zum Werk von Heiner Müller. Sonderband zum 60. Geburtstag des Dichters, Bonn 1990, S. 115-146, S. 137. 27 Vgl. Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S. 266. 28 Ebd., S. 263.
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Wolokolamsker Chaussee I-V aus bestimmten Verhältnissen definiert ist und dann irgendwann starr wird, in Extremsituationen wird das besonders deutlich.«29
Die Auflösung fester Ordnungen, die im Text als antistalinistischer Ansatz gesehen werden kann, zugunsten einer neuen Ordnung, die dem Kollektiv nützlich ist, erscheint so in einem positiven Licht. Im Hinblick auf den Geschichtsprozess sieht Eke in »Wald bei Moskau« außerdem die »Frage nach der Verantwortung des Subjekts und der Notwendigkeit subjektiver Impulse für die Entwicklung der Geschichte«30 formuliert. Diese Frage wird zwar nicht explizit beantwortet, denn der Text endet mit der Degradierung des Arztes. Das Widersetzen gegen das festgeschriebene Recht erscheint jedoch als eine mögliche Alternative nicht nur im Handeln der Macht, sondern auch im Handeln des Individuums. Der dritte Teil der »Wolokolamsker Chaussee«, »Das Duell«, thematisiert Ereignisse im Juni, »[i]m fünften Jahr der Republik« (Z. 2), also den Aufstand in der DDR im Jahr 1953. Wie bei den vorhergehenden Teilen herrscht ein polysyndetischer Satzbau mit Relativsätzen sowie mit der häufigen Verwendung der Konjunktion »und« 26 Mal am Zeilenanfang und 24 Mal in der Zeilenmitte vor. Nur einige Sätze werden – meist am Zeilenende – mit Punkten beendet (Z. 28, Z. 30, Z. 34, Z. 39, Z. 51, Z. 54, Z. 55, Z. 56, Z. 59, Z. 71, Z. 82, Z. 91, Z. 94, Z. 134, Z. 135, Z. 136, Z. 138, Z. 158, Z. 173, Z. 175, Z. 179), sodass sie durch ihre Abgeschlossenheit hervorgehoben werden. Des Weiteren werden mehrere Wörter beziehungsweise Sätze in Versaldruck akzentuiert. Dabei handelt es sich um die Parolen – »FREIHEIT RUSSEN RAUS« (Z. 10), »SPITZBART WEG« (Z. 11), »DEUTSCHLAND ÜBER ALLES« (Z. 12), »JUDEN UND KOMMUNISTEN AUS DEM HÖRSAAL« (Z. 78), und »NEUES DEUTSCHLAND« (Z. 93f., Z. 130) sowie Namen von Einrichtungen und Vorgängen – »VEB OKTOBER«, »FORTSCHRITT« (Z. 10), »STREIKKOMITEE« (Z. 36, Z. 109), »ARBEITERBAUERNFAKULTÄT« (Z. 83), »GENERALSTREIK« (Z. 109) –, den Titel des Liedes »MADRID DU WUNDERBARE« (Z. 120) und die Bezeichnung des Protagonisten, aus dessen Erinnerung erzählt wird, als »DIREKTOR« (Z. 16). Die Erinnerung erfolgt auf drei Zeitebenen – zu Zeiten der Ereignisse des 17. Juni 1953, die im Zimmer des Direktors eines Volks29 Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten. Ein Gespräch mit Gregor Edelmann über BILDBESCHREIBUNG, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE und die Wiederaufnahme des Lehrstückgedankens, in: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 182-194, S. 192. 30 Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn u.a. 1989, S.267.
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Text als Klangmaterial eigenen Betriebs (VEB) erlebt werden, zur Studienzeit des Stellvertreters und 1934, zur Studien- sowie Gefängniszeit des Direktors. Alle drei werden miteinander verschränkt und gliedern den Text in ingesamt elf kurze Abschnitte. Dabei steht der Direktor auf allen drei Ebenen Antagonisten gegenüber – seinem Stellvertreter, dem Professor seines Schützlings und den Nationalsozialisten. Der erste Abschnitt (Z. 1-8) fungiert als Orts- und Zeitangabe und gibt des Weiteren die Einstellung des Protagonisten zum DDRStaat wieder. An das System glaubend, betitelt er Gegner des Sozialismus als »Feinde« (Z. 4) und die Niederschlagung des Aufstands durch Panzer als zweite ›Wiedergeburt‹ (Z. 7f.). Der nächste Textabschnitt (Z. 9-20) taucht in die Vergangenheit des 17. Juni 1953 ein und zeigt die Grundkonstellation zwischen Direktor und Stellvertreter als Konkurrenzsituation und Angriff durch den Jüngeren auf. Während auf der Straße gestreikt und der Rückzug der Sowjetunion gefordert wird, spielt sich auch im Büro ein Aufstand ab. Der Stellvertreter entfernt den Namen des Direktors von dessen Tür, was dieser als »Kriegserklärung« (Z. 18) empfindet. Diese Bezeichnung wird im Verlauf des Textes noch zwei weitere Male (Z. 38, Z. 187) angebracht und untermauert den Eindruck des Direktors, dass der Stellvertreter ihm seinen Platz streitig machen will. Im dritten Abschnitt (Z. 21-34) erfolgt ein Zeitsprung zur Studienzeit des Stellvertreters, »sieben Jahre her« (Z. 19), also im Jahr 1946. Dabei wird deutlich, dass dieser kein Studium beginnen wollte, sondern sich lediglich zutraute, ein Arbeiter zu werden. Der Direktor tritt als Förderer auf, der die Fähigkeiten des Jüngeren erkennt. Seine Erinnerung kehrt sodann wieder in das Büro im Jahr 1953 zurück (Z. 35-56). Der Stellvertreter wird in seiner Funktion als »Delegierter vom STREIKKOMITEE« (Z. 36) dargestellt, womit er beim Direktor auf Unverständnis stößt: »Was für ein Komitee Was für ein Streik / Soll das ein Witz sein Willst du meinen Stuhl« (Z. 45f.). Des Weiteren unterstellt ihm der Direktor, sich nur im Streik einzusetzen, um seinen Posten zu übernehmen. Eine weitere Erinnerung des Direktors an die Studienzeit des Stellvertreters (Z. 57-71) führt zur Person des Professors, der dem Stellvertreter aufgrund seiner Herkunft die Intelligenz abspricht: »Es ist genetisch / Der eine hat es und der andre nicht / Und Schuster bleib bei deinem Leisten« (Z. 63-65). Der Direktor erkennt in dieser Erinnerung den Professor als ehemaligen Kommilitonen von 1934 wieder (Z. 73-82), der sich den Naziparolen unterwarf und sein Studium fortsetzen konnte – »Wer schreibt der bleibt« (Z. 79). Diesem Studium der Mathematik stellt er seine eigenen zehn Jahre im Zuchthaus entgegen. Das Gespräch des Direktors mit dem Professor über den Stellvertreter (Z. 83-91) zeigt die verschiedenen Mei-
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Wolokolamsker Chaussee I-V nungen der beiden Antagonisten auf. Während der Professor, der seinen ehemaligen Kommilitonen nicht erkennt, auf seiner Meinung über die durch Herkunft und Genetik geprägte Intelligenz beharrt, betont der Direktor: »Wir sind nicht die Natur« (Z. 89). Im achten Abschnitt (Z. 92-99), wieder im Juni 1953, lacht der Stellvertreter seinen Förderer aus – »Dort brennt das NEUE / DEUTSCHLAND« (Z. 93f.). Damit wird zum einen ein Bild von der Straße wiedergegeben, denn am 17. Juni legten die Streikenden Brände, sodass tatsächlich unter anderem ein Kiosk des Zentralorgans der SED, der Zeitung »Neues Deutschland«, in Berlin31 brannte, zum anderen kann das »NEUE DEUTSCHLAND« als der gesamte DDR-Staat gesehen werden, dessen Untergang sich der Stellvertreter durch den Aufstand erhofft. Wieder geht die Erinnerung zur Studienzeit des Stellvertreters zurück (Z. 100-106), in der der Direktor ihn vor der Prüfung unterstützt und ihm zum Studienabschluss an der Arbeiter- und Bauernfakultät verhilft. Die damalige Situation vergleicht der Direktor mit einem Duell mit dem Professor (Z. 103). Der zehnte Abschnitt (Z. 107-176) stellt das Duell zwischen Stellvertreter und Direktor dar. Letzterer denkt angesichts des Jüngeren, »[d]er [s]ein Produkt war« (Z. 132), an seinen Zellengenossen im Zuchthaus, einen ehemaligen Minister, der an der Bürokratie des Staates verzweifelte, vom »Schreibtisch in die Gummizelle« (Z. 118) gebracht wurde und sein Spanienlied »MADRID DU WUNDERBARE«, das die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft ohne Invasoren ausdrückt32, sang. Aus der Passage ist herauszulesen, dass der Zellengenosse am Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) teilgenommen hat, der in der DDR zum Symbol des Widerstandes gegen den Faschismus wurde. So wurden auch die deutschen Spanienkämpfer als Helden verehrt und nicht selten in hohe Ämter gehoben33. Der Zellengenosse des Direktors, eigentlich ein einfacher Maurer, konnte seine Rolle als Minister nicht erfüllen und wird ein »Opfer des Papierkriegs sozusagen / Gefallen an der Front der Bürokratie« (Z. 114f.). Diese Figur des ehemaligen Spanienkämpfers, der angesichts der DDR-Bürokratie wahnsinnig wurde, geht auf einen Fall von Müllers Schulfreund Herbert Richter, der als Psychiater in der Berliner Charité arbeitete, zurück.34
31 Kirschey, Peter: Arbeiteraufstand, in: Neues Deutschland, 18.06.2002. 32 Vgl. Busch, Ernst: Lieder der Arbeiterklasse & Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg, Pläne 1989. 33 Vgl. http://www.dra.de/online/hinweisdienste/spezial/2006/dra-spezial_0 1-2006.pdf vom 01.12.2008. 34 Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 57.
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Text als Klangmaterial Das Zwiegespräch mit dem Stellvertreter – »Ich zeig dir wo Gott wohnt. / Stalin ist tot. / Weißt du wovon du redest. / Weißt dus nicht.« (Z. 134-137) – wird durch das Setzen eines Punktes nach jedem kurzen Satz hervorgehoben und rückt Stalins Tod im März 1953 als Auslöser für den von der Sowjetunion geforderten »Neuen Kurs« zur Verbesserung der Lebenslage in der DDR und somit einen möglichen Umschwung in den Fokus. Dieser offiziell angekündigte »Neue Kurs« stand jedoch im Gegensatz zu den dann geforderten Normerhöhungen, was den Streik unter anderem auslöste.35 Der Direktor wartet gespannt auf den Einsatz der Panzer, die er als Mittel der Geburt der DDR ansieht. So waren sie bereits 1945 nötig (Z. 142), um die Menschen vom Faschismus zu befreien, und sind ebenso in der Erinnerung an 1953 »letztes Argument« (Z. 151). Während des Wartens erwähnt er auch Vorgänge in Kuba und Kambodscha. Dies bezieht sich auf das Jahr 1953 und die Bestrebungen Fidel Castros, das Regime des Diktators Fulgencio Batista zu stürzen36, beziehungsweise auf den Kampf um die Unabhängigkeit in Kambodscha, die schließlich die Zustimmung der Kolonialmacht Frankreich erhielt37. Der Einsatz der sowjetischen Panzer erfolgt, was der Direktor damit vergleicht, »wieder an die Brust genommen« (Z. 159) zu werden. Die Sowjetunion wird als »Amme« personifiziert, die mit Milch stillt, auch wenn diese nicht jedem schmeckt (Z. 160-163). Explizit werden die Panzer als »Geburtshelfer der deutschen Republik« (Z. 166) bezeichnet und der Status quo der Zeit – »das Gespenst« (Z. 168) – wird aufrechterhalten. Der letzte Textabschnitt (Z. 177-198) behandelt die Reaktionen der beiden Antagonisten auf den Einmarsch der Panzer. Der Direktor ist seinem Stellvertreter weiterhin wohlgesonnen und fordert ihn auf, eine Selbstkritik zu verfassen. Dieser tut dies zwar, konfrontiert den Direktor jedoch mit der Aussage »Wer schreibt der bleibt / Wars so.« (Z. 178f.) und erinnert ihn an dessen eigene Verweigerung, sich zu unterwerfen und, wie von den Nazis 1934 gefordert, eine Unterschrift zu leisten. Der Direktor lässt für einen Augenblick Zweifel an seinem Vorgehen zu und sehnt sich »zurück in [s]eine Zelle / Im Zuchthaus Brandenburg« (Z. 183f.). Auch wirft er das vom Stellvertreter demontierte Namensschild in den Papierkorb. Dann nimmt er es jedoch wieder heraus und steckt es zusammen mit der Selbstkritik in seine Jackentasche (Z. 188-190), was durch den sich gleichenden Satzbau bei Darstellung der beiden Handlungen und die Anapher, beginnend mit »[u]nd stopfte« (Z. 189f.), einen mechani35 Vgl. Weber, Hermann: Geschichte der DDR, Erfstadt 2004, S. 217f. 36 Vgl. Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden. Band 16, Leipzig/Mannheim 21 2006, S. 28. 37 Vgl. Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden. Band 14, Leipzig/Mannheim 21
2006, S. 336.
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Wolokolamsker Chaussee I-V schen Ablauf erhält. Während auf den Straßen Berlins der Aufstand niedergeschlagen wird, gehen die beiden Antagonisten zurück an ihre Arbeit (Z. 198), als sei nichts gewesen. Der Text basiert auf Anna Seghers’ Erzählung »Das Duell«, die 1965 im Prosazyklus »Die Kraft der Schwachen« erschien. Darin stehen sich Professor Winkelfried, der sich 1933 den Nazis unterwarf und sein ehemaliger Kollege Karl Bötcher, ein Kommunist, der sich widersetzte und dafür mit einem Aufenthalt im Zuchthaus bezahlte, gegenüber. Das Duell nach dem Zweiten Weltkrieg dreht sich um Ernst Helwig, einen Arbeiter, der den Lernstoff eines studienvorbereitenden Seminars nicht versteht, von Winkelfried bloßgestellt wird und mehrmals resigniert. Durch das enorme Engagement Bötchers, der mit Helwig und drei weiteren schwachen Schülern in den Nächten lernt, kann dieser die Prüfung jedoch bestehen und das Duell um die Zukunft Helwigs kann durch den Kommunisten gewonnen werden.38 Unter anderem die Textpassagen zur Geschichte von Helwig, seine Vorbereitung auf die Prüfung durch Bötcher sowie das Streitgespräch zwischen Bötcher und Winkelfried weckten das Interesse von Müller, wie aus Anstreichungen in seiner Ausgabe des Prosazyklus hervorgeht.39 In Müllers »Duell« werden »das ursprüngliche Geschehen und die Handlungszeit jener Erzählung nur noch Teil einer weitergeführten Handlung«40. Die Figurenbeziehung wird weitergeschrieben und stellt den ehemaligen Schützling als neuen Antagonisten dar. Diese Konstellation ist allen fünf Teilen der »Wolokolamsker Chaussee« gemeinsam, wie auch Mieth feststellt: »Das Segherssche Motiv der Beziehung zwischen dem väterlichen Lehrer bzw. Freund und dem Hilfe dankbar annehmenden Jüngeren wird von Heiner Müller nicht nur in der Szene ›Das Duell‹ aufgenommen und konterkariert; es taucht – verwandelt – in allen Szenen von ›Wolokolamsker Chaussee‹ wieder auf: sei es in der Beziehung von Kommandeur und Gruppenführer in ›Russische Eröffnung‹, von Kommandeur und dem ihm anvertrauten Soldaten in ›Wald bei Moskau‹, im Verhältnis von Vorgesetztem und Untergebenem in ›Kentauren‹ und natürlich Stiefvater und Zögling in ›Der Findling‹. Dabei werden nicht nur die
38 Seghers, Anna: Das Duell, in: dies.: Kraft der Schwachen, Berlin-Ost 1965, S. 99-131. 39 Vgl. Anstreichungen in Seghers, Anna: Das Duell, in: dies.: Kraft der Schwachen, Berlin/Weimar 1968, S. 87-117, Standort: Heiner Müller Archiv am Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin, Signatur 2/5/9/20. 40 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 336f.
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Text als Klangmaterial väterlichen Helferfiguren der Seghers, sondern das Modell der Hilfe eines Überlegenen für einen Schwächeren überhaupt problematisiert.«41
Der Konflikt zwischen Schützling und Förderer in Müllers »Das Duell« wird jedoch nicht bis zum Ende ausgetragen, sondern durch die Vorgänge auf der Straße – die Niederschlagung des Aufstands – und die höhere Stellung des Direktors über seinen Stellvertreter entschieden. Der vierte Teil der »Wolokolamsker Chaussee«, »Kentauren«, trägt in Klammern den Untertitel »Ein Greuelmärchen aus dem Sächsischen des Gregor Samsa«. Damit wird zum einen durch die Lokalisierung der Hinweis gegeben, dass es in der DDR spielt, zum anderen verweist der Untertitel auf Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung«, in der der Handlungsreisende Gregor Samsa eines Tages als Käfer aufwacht, von seiner Familie zunehmend isoliert wird und schließlich verhungert. Dem Text vorangestellt ist des Weiteren ein Zitat aus Shakespeares »The Tempest«, in dem die Figur Miranda eine neue Welt begrüßt: »O brave new world, / That has such people in’t!«. Der Text, der von der Verschmelzung eines Menschen mit seinem Schreibtisch handelt, weist 50 Mal die Konjunktion »und« sowie die Wiederholung der Wörter »Staat« (Z. 37, Z. 38., Z. 39), 18 Mal »Schreibtisch«, »Fakt« (Z. 54, Z. 57), »Diensteid« (Z. 78, Z. 88, Z. 90), »Dialektik« (Z. 109, Z. 123) und des Adjektivs »dia / Lektisch« (Z. 34f.), die um die Bürokratie kreisen, auf. »Kentauren« wird als eine Erinnerung des Genossen und Mitarbeiters der Staatssicherheit Ober an einen Albtraum wiedergegeben. Der Traum beginnt mit der Meldung eines Untergebenen, dass keine Ordnungswidrigkeiten verzeichnet werden konnten, und dass das Produktionsziel »Ordnung und Sicherheit« (Z. 16) sowie ein Bewusstsein der Menschen bezüglich der Ordnung erreicht wurde. Die Reaktion des Obers fällt jedoch anders als vom Untergebenen erwartet aus. Statt Freude zu zeigen, verzweifelt er, bezeichnet den gemeldeten Zustand als »Irrtum« und »Verschwörung« (Z. 10) und erklärt dem Untergebenen: »Und die Mutter / Der Ordnung ist die Ordnungswidrigkeit / Der Vater der Staatssicherheit der Staatsfeind / Und wenn das Licht in allen Köpfen brennt / Bleiben wir sitzen auf unserm Bewußtsein« (Z. 25-29). Des Weiteren wird die Schaffung von »Ordnung und Sicherheit« (Z. 26) als ein Spiel zwischen »Räuber und Gendarm« (Z. 30) bezeichnet, was zum Ausdruck bringt, dass der Gendarm, also die Staatssicherheit, den Räuber, also Ordnungswidrigkeiten begehende Menschen, braucht, 41 Mieth, Matias: Die Masken des Erinnerns. Zur Ästhetisierung von Geschichte und Vorgeschichte der DDR bei Heiner Müller, Frankfurt am Main 1994, S. 110.
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Wolokolamsker Chaussee I-V um seine Existenz zu rechtfertigen und den Status quo des Staatsapparates sicherzustellen. Ober bekräftigt dies durch die ›Spielregel‹ »Eine / Hand wäscht die andere« (Z. 32) und die Bezeichnung der Beziehung zwischen Apparat und ordnungswidrigen Menschen als eine »dia / Lektische Einheit« (Z. 34f.). Die Schreibweise des Wortes »dialektisch«, das sich über zwei Zeilen erstreckt, erzeugt einen Bruch in der Form, korrespondiert jedoch mit den Aussagen bezüglich der Dialektik des zum Kentauren verwandelten Ober am Ende des Textes. Um seinen Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen, vergleicht Ober den DDR-Staat mit einer Mühle, was durch die Verwendung einer Anapher mechanisch und wie auswendig gelernt wirkt: »Der Staat ist eine Mühle die muß mahlen / Der Staat braucht Feinde wie die Mühle Korn braucht / Der Staat der keinen Feind hat ist kein Staat mehr« (Z. 37-39). Fast hysterisch stellt er sich die Zukunft eines Staates ohne Staatsfeinde und somit das Ende seiner Karriere und der gesamten Behörde vor (Z. 41-46). Seinem Untergebenen wirft er das Entfernen von »unsrer Wahrheit« (Z. 55) vor, die für den Leser durch den vorangestellten Possesivartikel »unsrer« in Frage gestellt wird, und belehrt ihn: »Sein / Bestimmt Bewußtsein in der Vorgeschichte / Im Sozialismus ist es umgekehrt« (Z. 59-61). Damit wird deutlich, dass seiner Meinung nach das historische Bewusstsein das Sein des Menschen bestimmt. Als Folge des angeblichen Fehlers des Untergebenen soll dieser seinen Fehler korrigieren und durch einen Delikt die Legitimation der Behörde wiederherstellen. Im zweiten Abschnitt (Z. 68-95) beschreibt Ober diese Korrektur näher. So soll der Untergebene in Uniform »bei Rot über die Kreuzung« (Z. 68) fahren und damit die benötigte Ordnungswidrigkeit begehen. Der Untergebene bringt zunächst Zweifel an, als ihm jedoch deutlich gemacht wird, dass es sich um einen Befehl handelt (Z. 71) und er einen Diensteid geschworen habe (Z. 78), ist er bereit, seine Funktion zu erfüllen: »Mein Diensteid sagt Bei Rot über die Kreuzung« (Z. 79). Der dritte Textabschnitt (Z. 96-130) zeigt die Erfüllung der Ordnungswidrigkeit als musikalisches Schauspiel, als »Neunte Sinfonie« (Z. 98) mit einem »Fanal« (Z. 102), was Ober zu Jubel und Freude veranlasst. Der dabei geschehende Tod des Untergebenen wird mit »Gefallen an der Front der Dialektik« (Z. 109) kommentiert. Der Tote erscheint Ober als Geist und meldet zu seiner Zufriedenheit: »Alles ist in Ordnung / Die Dialektik wiederhergestellt / Und die Organe arbeiten normal« (Z. 122-124). Der letzte Abschnitt (Z. 131-199) beschreibt die Verwandlung Obers zum Kentauren, eigentlich einem Fabelwesen, dessen Oberkörper menschlich und dessen untere Hälfte die eines Pferdes ist. Im Text verwächst Ober jedoch unter Schmerzen mit seinem
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Text als Klangmaterial Schreibtisch (Z. 133-135) und sinniert dabei über die Notwendigkeit dieser Verwandlung. So nimmt er diese als Bürde – im Vergleich mit Prometheus und Jesus als »mein Kaukasus mein Kreuz« (Z. 139) – und als Opfer auf, die nötig sind, um den »Kommunardentraum Vom Ich zum Wir« (Z. 140) möglich zu machen. Schnell akzeptiert er seine neue Lage und die notwendige »Hochzeit von Funktion und Funktionär« (Z. 142), die deutlich macht, dass das Individuum von der Bürokratie der DDR eingenommen wird. Der Kentaur bezeichnet sich selbst als »sozialistische[n] Schreibtisch« (Z. 152), zeigt sich jedoch auch irritiert, worauf die Aposiopese »Schon morgen eine L...« (Z. 159) hinweist, und stellt sich die Frage nach der Art seiner Existenz: »Ich und mein Schreibtisch Wer gehört jetzt wem / Der Schreibtisch ist volkseigen Was bin ich« (Z. 160f.). Diese versucht er mit den Neologismen »Menschmaschine / Ein Möbelmensch oder ein Menschenmöbel« (Z. 163f.) zu beantworten. Des Weiteren stellt er sich Fragen, wie sich alltägliche Funktionen eines Menschen wie Nahrungsaufnahme, Verdauung und Geschlechtsverkehr (Z. 168f.) als Kentaur beziehungsweise Schreibtisch bewerkstelligen lassen. In der Verschmelzung des Menschen mit der Bürokratie sieht er Vorteile, denn er braucht keinen Feierabend mehr (Z. 183f.), kann ganz in seiner Arbeit aufgehen und dem Kollektiv dienen. Dabei löst sich für ihn durch die Verschmelzung die im Gespräch mit dem Untergebenen thematisierte Dialektik auf, sie wird zur »Lösung aller Widersprüche«. Die letzten Zeilen des Textes stellen Phrasen dar, die mit den theatralischen Ausrufen »Ha« (Z. 192) und »He« (Z. 199) versetzt werden und durch die sich die Worte »Ordnung« (Z. 194), »Sauberkeit« und »Sicherheit« (Z. 195) ziehen. Dabei wird ›Sauberkeit‹ über mehrere Zeilen hinweg in zwei Teile zerlegt, in Zeile 195 mit »Sau« begonnen und in Zeile 198 mit »Berkeit« forgeführt. Der nächste Wortteil »Sau« (Z. 198) wird nicht mehr zu Ende geführt und zeigt so ein immerwährendes, automatisiertes Wiederholen der Forderung »Sauberkeit und Sicherheit« sowie ein ironisches Hinterfragen dieser Begriffe an. Nach der Feststellung, dass das Holz des Schreibtisches von einem Wurm gestört wird, endet der Text mit einem Hilferuf. Mit der Verwandlung zum Kentaur tritt der Text in Korrespondenz mit der Verwandlung Gregor Samsas zum Käfer, der sein menschliches Bewusstseins wahrt, bei Franz Kafka. Nach dieser kann der Handlungsreisende Samsa nicht mehr seinem Beruf nachgehen, er verliert seine Funktion und wird von seiner Familie in ein Zimmer, das er als Gefängnis empfindet, eingeschlossen.42 Bei Müller hingegen wird die Funktion durch die Verwandlung ver-
42 Vgl. Kafka, Franz: Die Verwandlung, in: ders.: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt am Main 52004, S. 91-158.
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Wolokolamsker Chaussee I-V tieft, die Privatheit des Individuums gänzlich aufgelöst und der Funktion geopfert. Der Kentaur wird dabei nach Matias Mieth zu einer Metapher, »die die menschendeformierende Institutionalisierung bürokratischer Herrschaft noch eindringlicher ins Bild setzen soll«43. Vor dem Hintergrund der Verwandlung zum Kentaur und der im Sozialismus angestrebten Schaffung eines »Neuen Menschen« erscheinen das vorangestellte Zitat aus Shakespeares »The Tempest« (»Der Sturm«) und der damit anklingende Hinweis auf Aldous Huxleys 1932 erschienenen Roman »Brave new world« (»Schöne neue Welt«) als eine Warnung vor einer »entmenschlichten und totalitären Welt« und »einer Gesellschaft, die im Wohlgefühl perfektionierter Entfremdung erstarrt«44. »Kentauren« kann als Kritik an einem System beziehungsweise an einem staatlichen Apparat gesehen werden, der sich selbst demaskiert, um seine Notwendigkeit zu beweisen und die Form zu wahren. Mit der grotesken Verschmelzung des Funktionärs mit der Funktion lässt sich für den Ober eine Erweiterung seiner Aufopferung für das System, in dem er seine Macht nutzt, um die Menschen möglichst unmündig, ohne Bewusstsein zu halten, konstatieren. Der letzte Teil der »Wolokolamsker Chaussee« mit dem Titel »Der Findling« beschreibt die Beziehung zwischen einem Ziehvater, einem SED-Funktionär, und seinem gegen ihn rebellierenden Adoptivsohn. Der Text enthält die in Versalien gedruckten Redewendungen des Vaters beziehungsweise des Sohnes – »MIT MARXUNDENGELSZUNGEN« (Z. 3), »UNSERN MENSCHEN« (Z. 83), »FREIHEIT« (Z. 94), »RUSSEN RAUS« (Z. 94), »JEDEM DAS SEINE« (Z. 112), »AUS DEM DRECK GEZOGEN« (Z. 116), »NEUES DEUTSCHLAND« (Z. 128), »IM SPIEGEL DAS FEINDBILD« (Z. 227) –, sowie das vom Sohn refrainartig wiederholte »VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN« beziehungsweise Teile davon (Z. 158, Z. 165, Z. 168, Z. 171, Z. 178, Z. 193, Z. 230, Z. 244, Z. 247, Z. 250). Des Weiteren heben mehrmalige Wiederholungen die Wörter »Flugblatt« (Z. 52, Z. 53, Z. 54), das das Vergehen des Sohns manifestiert, und »Bruder« (Z. 57, Z. 58, Z. 61), sowie den Plural »Brüder« (Z. 95), die im Gegensatz zur »Bruderarmee« (Z. 56) stehen, hervor. Die Auseinandersetzung mit dem Adoptivvater wird aus der Erinnerung des Sohnes – zum ersten Mal in der »Wolokolamsker Chaussee« nicht aus der Sicht des Älteren und Anhängers des Sozialismus – erzählt, der sich im ersten Abschnitt (Z. 1-43) zunächst
43 Mieth, Matias: Die Masken des Erinnerns. Zur Ästhetisierung von Geschichte und Vorgeschichte der DDR bei Heiner Müller, Frankfurt am Main 1994, S. 116. 44 Ebd., S. 118f.
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Text als Klangmaterial an seine fünfjährige Zeit im Zuchthaus Bautzen, die »[i]n einer vergessnen Sommernacht / Im Jahr der Panzer Neunzehnachtundsechzig« (Z. 10f.) zustande kam, erinnert. Zwar erfährt der Leser noch nicht, für welches Vergehen er dorthin musste, mit dem Hinweis auf die Jahreszahl lässt sich jedoch folgern, dass er an Aktionen gegen die Niederschlagung des ›Prager Frühlings‹ beteiligt war. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn wird schon in den ersten Zeilen deutlich, denn der Vater »predigte MIT MARXUNDENGELSZUNGEN für sein Arbeiterparadies« (Z. 3f.), was der Sohn deutlich ablehnt: er bezeichnet den vom Vater als Paradies empfundenen sozialistischen Staat als »Hölle« (Z. 17) und sprach nicht mit ihm während seiner Besuche im Zuchthaus. Seine Ablehnung zeigt sich besonders deutlich durch seinen Umzug nach Westberlin nach der Entlassung gegen den Willen des Vaters, der mit dem Asyndeton »Wohnung Arbeit Sicherheit« (Z. 24) die Vorzüge der DDR preist und auf den menschenverachtenden Kapitalismus des Westens (Z. 25) verweist. Die Erwähnung von »Wunden die aufplatzen« (Z. 26) und Narben, die eine Entwicklung begleiten, schafft eine Verbindung zu »Wald bei Moskau«, wo die Wunden im Namen der Sowjetordnung entstehen. Westberlin, aufgrund der Teilung durch die Mauer als »Halbstadt« (Z. 29) bezeichnet, bringt dem Sohn jedoch nicht die ersehnte Geborgenheit. Neben der nicht verarbeiteten, verdrängten Vergangenheit des Nationalsozialismus und ihrer Folgen, der »Leichen mit Davidstern« (Z. 31), fällt ihm die kapitalistische Lebensweise negativ auf, in der die Menschen »ihre Gräber Hunde Katzen / Und ihren Kontostand« (Z. 38f.) pflegen. Damit wird sein Kindheitstraum »[v]on einem Sozialismus ohne Panzer« (Z. 37) nicht erfüllt, er begräbt ihn metaphorisch und leidet an Heimweh, das er mit »Brechreiz« und »Blutsturz« (Z. 43) vergleicht. Der zweite Textabschnitt (Z. 44-140) setzt mit der Ankunft des Sohnes vor der Haustür der Eltern ein, einer Rückblende, die vor dem Zuchthausaufenthalt spielt. Der Empfang durch den Adoptivvater ist distanziert. Er fragt nicht nach, als ihm der Sohn eröffnet: »Sie sind hinter mir her Das Flugblatt« (Z. 52). Trotz des Desinteresses des Vaters erzählt der Sohn ihm, dass sich das Flugblatt »[g]egen den Einmarsch der Bruderarmeen« (Z. 56), also gegen den Einmarsch der Panzer der am Warschauer Pakt beteiligten Staaten in Prag im Sommer 1968 und gegen die Vernichtung des reformkommunistischen Kurses richtete. Des Weiteren begründet er seine Tat damit, dass er auch »einen Bruder / In Prag« (Z. 57f., Z. 58f.) hatte, der sich selbst verbrannte. Damit wird der reale Fall des Studenten Jan Palach, der sich auf dem Prager Wenzelsplatz für die Erreichung der Aufhebung der Zensur selbst anzündete45, in den Text
45 Vgl. ebd., S. 125.
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Wolokolamsker Chaussee I-V hineingearbeitet. Vom Vater wird dieser lapidar als »Verrückte[r]« (Z. 62) abgestempelt. Sodann gibt er seinem Sohn zu verstehen, dass er ihn nach dem Geständnis seiner Tat anzeigen müsse, da er dieses Wissen nicht »vor [sich] selber nicht vor der Partei« (Z. 69) verantworten könne. Der Sohn dreht den Vorwurf mit »Wenn einer hier gesteht dann bist es du / Genosse Vater« (Z. 72f.) jedoch um. Er wirft seinem Adoptivvater vor, für das System – die »Sache« (Z. 77, Z. 83) – die Jugend des eigenen Landes stellvetretend als Feind anzusehen (Z. 76), »Krieg gegen lange Haare Jeans und Jatz« (Z. 78) zu führen und die Menschen mit Panzern zu bedrohen (Z. 82f.). Statt einer direkten Antwort wirft der Vater seinem Adoptivsohn, den er nach seinem Aufenthalt im Konzentrationslager »aus den Trümmern« (Z. 87) auflas, Undankbarkeit vor. Indem der Sohn in der Vergangenheit ein Hakenkreuz und die Aufrufe »FREIHEIT und RUSSEN RAUS« (Z. 94) an Wände geschrieben habe und sich somit öffentlich gegen das System gestellt habe, habe er den Vater vor der Partei in Verlegenheit gebracht. Dieser sei »[a]uf Knien gekrochen [...] vor der Partei« (Z. 99), um den Sohn vor dem Zuchthaus zu bewahren. Des Weiteren bringt der Adoptivvater zur Sprache, dass der biologische Vater des Adoptivsohnes auch ein Nazi gewesen sein könnte, einer von jenen, die ihn im Lager quälten und sein Geschlecht zerprügelten (Z. 107f.), sodass er keine eigenen Kinder mehr zeugen konnte. Der Sohn dagegen sieht die Schuld für seine staatsfeindlichen Taten und auch für den Krebs der Adoptivmutter im Verhalten des Vaters begründet, der für die Partei und nicht für seine Familie lebt: »Wie redet man mit einem Leitartikel / Und wie umarmt man ein Parteiprogramm / Du hast mich mit Geschenken abgespeist / Und keine Antwort wenn ich wissen wollte / Wer recht hat und warum der Volksmund oder / Das NEUE DEUTSCHLAND eure Bilderbibel« (Z. 123-128). Der Kontrast zwischen den politischen Vorgängen, die in das Leben des Sohnes eingedrungen sind, wie der Tod seines Freundes an der Mauer, und den Reaktionen des Vaters in Form von Geschenken als Bestechungsversuchen zeigt die »Schule« (Z. 136) des Vaters, durch die der Sohn ging, auf. Dabei wird das rote Pionier-Halstuch, das die Thälmannpioniere in der DDR trugen, als Motiv für die Verbindung des Sohnes zum Sozialismus, »[s]eine Nabelschnur« (Z. 137), eingeführt – was abermals eine Verbindung zu den Erinnerungen des Kommandeurs in »Russische Eröffnung« schafft. Auch die Erwähnung des Thälmannliedes (Z. 159) spielt auf die Systemzugehörigkeit des Sohnes als Kind an, da es sich bei der Pionierorganisation »Ernst Thälmann« um die politische Massenorganisation für Kinder handelt, die als Jung- oder Thälmannpioniere bezeichnet wurden. War das Halstuch des Sohnes noch von seinen Tränen durchtränkt, als Stalin 1953 starb (Z.
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Text als Klangmaterial 138f.), so kann er fünfzehn Jahre später darüber lachen. Die Durchtrennung der Nabelschnur scheint bei ihm vollzogen zu sein. Im nachfolgenden Abschnitt (Z. 141-175) sieht er ins Zimmer seiner krebskranken, sterbenden Adoptivmutter und stellt fest, dass die Beziehung zu seinem Vater, »ein[em] Gespenst in [s]einem Nacken« (Z. 155), und zum System, dem »Gespenst des Kommunismus« (Z. 166), abgeschlossen ist. Letzterem werden Menschen geopfert werden, was allerdings schnell »VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN« (Z. 158, Z. 165, Z. 168, Z. 171, Z. 178, Z. 193) wird. Mit dieser Wiederholung klagt er das Vergessen der Vorgänge in den Städten Kronstadt, Budapest und Prag an (Z. 165), in denen im März 1921 mit einem Streik von Matrosen, im November 1956 mit dem ungarischen Aufstand und im August 1968 mit dem ›Prager Frühling‹ die Versuche eines demokratischen, reformierten Sozialismus niedergeschlagen wurden 46 . Mit den Worten »Was geht mich euer Sozialismus an« (Z. 176) will er sich von den Eltern, die ihm fremd zu sein scheinen, lösen und aus dem System ausbrechen. Der letzte Abschnitt (Z. 176-256) zeigt die Zuspitzung des Konflikts, als der Vater zu einem Telefonanruf ansetzt, um seinen Sohn zu denunzieren. Dieser erinnert den Vater daran, dass er selbst diese Nummer gewählt hatte, als der Vater sich vor sieben Jahren aufgrund von Selbstzweifeln angesichts der Erschießung des genannten Freundes an der Mauer umzubringen drohte. Des Weiteren fordert er ihn geradezu heraus, im Sinne der Partei die Nummer zu wählen: »Und worauf wartest du Genosse Vater / Mißtrauen in die staatlichen Organe / Zweifel am sozialistischen Strafvollzug / Ein Minuspunkt in deiner Kaderakte« (Z. 201-204). Er stellt den Vater als Menschen in Frage (Z. 211) und wirft ihm vor, die Schuld am Tod des Freundes zu tragen, was ehemals zu Selbstmordgedanken führte. Dann spielt der Sohn auf seinen eigenen möglichen Tod durch volkseigene Munition an, wobei das »VERGESSEN« (Z. 230, Z. 244, Z. 247, Z. 250) in immer kürzeren Abständen, wie eine Art anklagender Refrain und Kommentar zum eigenen Tod, wiederholt wird. Der Vater bricht durch die Provokation in Weinen aus, das in Wut gegen den Sohn umschlägt: »Erschießen solln sie dich du Nazibastard / Erschießen solln sie dich wie einen Hund« (Z. 253f.). Der Text endet mit dem Telefonanruf des Vaters, der den Sohn für fünf Jahre ins Zuchthaus bringt.
46 Vgl. Katzer, Nikolaus: Lenin an der Macht, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Informationen zur politischen Bildung. Die Sowjetunion 1917-1953, München 1992, S. 16-24, S. 16 und Weber, Hermann: Geschichte der DDR, Erfstadt 2004, S. 258.
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Wolokolamsker Chaussee I-V »Der Findling« basiert, wie im Untertitel angegeben, auf Heinrich von Kleists gleichnamiger Novelle, aus der Müller »jedoch lediglich die Figurenkonstellation und den Konflikt zwischen Vater und Sohn entlehnte«47. Kleists Novelle handelt von dem Ziehvater Antonio Piachi, einem reichen, römischen Immobilienhändler, und seinem Adoptivsohn Nicolo, der das Leben seiner Familie zerstört, indem er Schuld am Tod seiner Adoptivmutter trägt und seinen Ziehvater aus dessen eigenem Haus vertreibt.48 Des Weiteren sieht Jan-Christoph Hauschild in Müllers »Der Findling« auch die tatsächlich stattgefundene Verhaftung des Sohnes des stellvertretenden Kulturministers, Thomas Brasch, der 1968 öffentlich gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR protestierte und acht Jahre später die DDR verließ, um nach Westberlin zu ziehen, bearbeitet.49 Der Text zeigt den »Riß zwischen den Generationen in der Führungsschicht«, worin Müller die »Initialzündung für die Implosion des Systems« 50 sah. Der Findling, der für die junge Generation steht, akzeptiert den Einmarsch der Panzer in Prag nicht, der für seinen Vater »nur ein Glied in einer langen Kette unangenehmer, aber notwendiger Gewalt zum Schutz des Sozialismus«51 darstellt, und wehrt sich aktiv gegen das vom Vater unterstützte System. Dieser scheint aufgrund seiner Lagererfahrungen ein treuer Verfechter dieses Systems zu sein, was durch Müllers Aussage in einem Interview bestätigt wird: »Honecker wurde durch zehn Jahre Haft geprägt, und das macht sicherlich nicht gesund. Das sind Erfahrungsmuster, die sich in die kommunistische Partei in Deutschland eingebrannt haben, und von da aus erklärt sich dieser immense Apparat der Staatssicherheit. Den hat eine verfolgte Minderheit aufgebaut.«52 Das System der von oben auferlegten Sicherheit empfindet die junge Generation jedoch als Gefängnis, aus dem sie auszubrechen droht. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn wird nicht
47 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 341f. 48 Vgl. Kleist, Heinrich von: Der Findling, in: ders.: Die Verlobung in St. Domingo. Das Bettelweib von Locarno. Der Findling. Erzählungen, Stuttgart 2002, S. 47-65. 49 Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie, Berlin 2001, S. 430. 50 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 276. 51 Mieth, Matias: Die Masken des Erinnerns. Zur Ästhetisierung von Geschichte und Vorgeschichte der DDR bei Heiner Müller, Frankfurt am Main 1994, S. 123. 52 Heiner Müller im Interview mit Frank-Michael Raddatz, in:Müller, Heiner: Jenseits der Nation, Berlin 1991, S. 7-33, S. 8.
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Text als Klangmaterial gelöst, sondern durch die Abwendung und den Ausbruch des Sohnes, der jedoch an Heimweh leidet, beendet. Die »Wolokolamsker Chaussee« wurde in ihrer Gesamtheit erstmals 1988 in Paris, in der DDR 1989 am Potsdamer Hans-OttoTheater uraufgeführt53. Der übergreifende Titel verweist auf den Ort, an dem die deutschen Soldaten 1941 zum Stillstand kamen, was den späteren Sieg über den Nationalsozialismus ermöglichte. Somit ist dieser Ort auch Ausgangspunkt für den DDR-Sozialismus und die Zerschlagung der Konterrevolutionen in den sozialistischen Bruderstaaten sowie für den Weg der Panzer, die sich als Symbol für Gewalt durch alle Teile des Stückes ziehen. Die Erinnerungsmomente verschiedener namenloser Personen zu verschiedenen Zeitpunkten, die in der Sowjetunion und, in den letzten drei Teilen, in der DDR spielen, verweisen auf diesen Ursprung, was Müllers Hauptinteresse war: »Das, was aus dem Gedächtnis verdrängt wurde, wirkt unkontrollierbar weiter, ein Mensch kann nicht wissen, wo es sich versteckt, aus welcher Grube eine Faust hochkommen wird. Wenn man über die Vergangenheit nicht offen, ehrlich und deutlich spricht, wird die Gegenwart nicht zur Zukunft. Das hat mich in Wolokolamsker Chaussee [Herv. i. O.] interessiert.«54
Obwohl die fünf Teile als eigenständige Texte angedacht waren55 und verfasst wurden, sind sie, wie in der vorhergehenden Analyse deutlich wurde, durch verschiedene Elemente verbunden. So ziehen sich die Nabelschnur, Wunden und daraus hervorgehende Narben sowie die Panzer als Symbole für Befreier und Geburtshelfer, jedoch auch für Aggressivität gegen das eigene Volk, durch die verschiedenen Teile der »Wolokolamsker Chaussee«. Günther Heeg fasst hierzu zusammen: »Diese Texte [...] erinnern in diskontinuierlichen Montagen, Überlagerungen und Überblendungen den verdrängten Terror, der die Substanz (deutscher) Geschichte ›ausmacht‹. Es geht um einen Terror, der Geschichte als solche immer zu einer nie gelingenden, gescheiterten und katastrophalen macht und der, in seiner literarischen Wiederholung als ästhetische Gewalt der Darstellung, zu-
53 Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 344. 54 Müller, Heiner: Interview mit Vladimir Koljazin, Oktober 1987 [Ms.], zitiert nach: Koljazin, Vladimir: Russische Literatur, in: Lehmann, Hans-Thies/ Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 156-160, S. 158. 55 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 271.
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Wolokolamsker Chaussee I-V gleich die Chance der Unterbrechung ihrer diskontinuierlich-kontinuierlichen Gewaltzusammenhänge bietet.«56
Die sich wiederholende Konstellation eines Machtverhältnisses zwischen einem Älteren und einem Jüngeren beziehungsweise zwischen einem Machthaber und einem Untergebenen taucht in den verschiedenen »sozialen Räumen militärische Einheit, volkseigener Betrieb und Familie«57 auf und manifestiert sich als immer wiederkehrende Struktur. Auch die Lösung der dargestellten Konflikte vollzieht sich auf ähnliche Weise, wie Lehmann konstatiert, »in Teil I geschieht es durch eine standrechtliche Erschießung; in Teil II durch eine militärische Degradierung, Teil III belässt es bei Demütigung und Zwang zur Unterwerfung«, Teil IV zeigt »den Dauerzustand der DDR; zunehmende Erstarrung [...]«, während Teil V mit der »Trennung der Kontrahenten Vater und Sohn«58 endet. Der letzte Teil, so Lehmann weiter, mündet »in der kompletten Auflösung der DDR-Geschichte, ist [...] schon aus der deutlichen Ahnung der Sackgasse geschrieben«59. Die ersten beiden Teile wurden noch von Müllers Hoffnung und dem Glauben an die »Illusion von der Reformierbarkeit des Systems«60 getragen, sie wurden jedoch enttäuscht, was sich bereits auf die Entstehung des staatsapparatskritischen dritten Teiles auswirkte. Müller selbst bezeichnet die in der DDR spielenden Teile als »letzte Kapitel der DDR« und den »Blick auf das Ende des sozialistischen Blocks, ein Requiem«61, als einen Nachruf also. So zeigt das Stück »Wolokolamsker Chaussee«, für das bereits 20 Jahre vor der Niederschrift ein Plan bestand, in seiner Gesamtheit den »Weg der Panzer von Berlin nach Moskau und zurück, und weiter von Moskau nach Budapest und Prag«62.
56 Heeg, Günther: Deutschland – Krieg, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 88-93, S. 88. 57 Mieth, Matias: Die Masken des Erinnerns. Zur Ästhetisierung von Geschichte und Vorgeschichte der DDR bei Heiner Müller, Frankfurt am Main 1994, S. 140. 58 Lehmann, Hans-Thies: Wolokolamsker Chaussee, in: ders./Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 291-298, S. 293f. 59 Ebd., S. 294. 60 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 273. 61 Ebd., S. 270. 62 Ebd., S. 269.
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Text als Klangmaterial
4.7.2 ›SPEED METAL‹, KAMMERCHOR, KLASSISCHE MUSIK UND ›HIP HOP‹ – ANALYSE DES HÖRSTÜCKS Der im Vergleich zu den restlichen von Heiner Goebbels ausgewählten Werken lange Text wurde von ihm in einem verhältnismäßig langen Hörstück umgesetzt. Das Hörstück »Wolokolamsker Chaussee« ist in fünf Tracks, die jeweils die Titel der einzelnen Texte tragen, unterteilt. Die Länge der einzelnen Tracks variiert zwischen zwölf und 20 Minuten, sodass sich eine Gesamtlänge von fast 78 Minuten ergibt. Der erste Track, »Russische Eröffnung«, beginnt mit einer sanften, leisen Musik, die Schritte erahnen lässt. Diese werden jedoch schon nach 22 Sekunden von Kanonenschüssen unterbrochen. Nach dem von Ernst Stötzner und einer weiteren Männerstimme nüchtern vorgetragenen Titel münden die Schüsse in die treibende und temporeiche, von Schlagzeug und E-Gitarre dominierte Musik der seit 1986 bestehenden Frankfurter Gruppe Megalomaniax, die ihre Musik dem ›Speed Metal‹ zuordnet. Die teils schrille und aggressive, teils harmonische Musik tritt durchgehend textunterlegt und in gleicher Lautstärke wie der gesprochene beziehungsweise gesungene Text in Erscheinung, übertönt die Sprache nicht und stört nicht deren Verständnis. Auf der sprachlichen Ebene wird der Track von zwei Männerstimmen bestimmt. Meist steht dabei Ernst Stötzner (M1) im Vordergrund, punktuell werden einzelne Wörter oder kurze Passagen von Stötzner und einer nicht namentlich bekannten, weiteren Männerstimme (M2) gleichzeitig im Chor gesprochen. Dieser zweistimmige Chor setzt sehr laut bis brüllend mit »Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau« ein. Dabei ist die Darbietung zwischen Gesang und Sprechen schnell und dennoch sehr deutlich und akzentuiert. Die kurze Passage, die dem Hörer den Ort der Handlung aufzeigt, taucht im Verlauf des Hörstücks mit gleichbleibender Musik immer wieder und immer in der zweifachen Wiederholung als eine Art Refrain auf. Damit werden sowohl die sprachliche als auch die musikalische Ebene in mit Strophen vergleichbare Teile gegliedert. Ernst Stötzner, zunächst die Rolle des sich erinnernden Kommandeurs einnehmend, gibt die Grundsituation des Bataillons wieder, wobei die Zeilenenden oft durch eine starke Betonung der letzten Wortsilben akzentuiert werden. Dies wird durch den verstärkten Einsatz des Schlagzeugs an diesen Stellen intensiviert. Des Weiteren betont Stötzner die Wörter »Front« und »Angst« durch Anhebung der Lautstärke und eine, im Vergleich zum Rest des Textes, oft aggressivere Aussprache. Der Dialog zwischen den Soldaten und den
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Wolokolamsker Chaussee I-V Deserteuren über den Feind (01:40-02:04) wird auf die beiden oben genannten Stimmen verteilt, die abwechselnd die Parts der verschiedenen Deserteure und der Soldaten des Bataillons übernehmen. Diese Verteilung macht es dem Hörer – im Gegensatz zum Leser, dem an dieser Textstelle aufgrund fehlender Interpunktion keine Orientierung gegeben wird – leichter, das Gespräch als solches wahrzunehmen. Nach diesem Gespräch wird der Rhythmus etwas ruhiger und die E-Gitarre im Vordergrund hörbar, während Stötzner als Kommandeur die Lage der Roten Armee einschätzt. Mit einer hohen Stimme Hitler parodierend, liest er aus dem Befehl des Regimentsstabes: »Der Weg nach Moskau nur noch ein Spaziergang / Es gibt sie nicht mehr die Rote Armee«. Zunächst noch ruhig und langsam, wird er dann bei der Feststellung, dass nicht die Waffen der Deutschen, sondern die Angst der Feind seiner Soldaten ist, immer schneller und akzentuiert stärker. Nach einem kurzen Ausklingen der Musik und der sehr sachlich vorgetragenen Bedingung »Und nur wenn wir ihn schlagen siegen wir« setzt ein neues musikalisches Thema ein, wobei das Schlagzeug-Arrangement einem Hämmern gleicht und die E-Gitarre verzerrt, als eine Art Aufheulen, eingesetzt wird. Dazu ist die Beschreibung der Natur durch den Kommandeur zu hören. Diese erscheint ihm einerseits schön, andererseits wird sie, als Feuerschutz für den Feind, zum Hassobjekt. Das dabei aufkommende hohe Tempo wird durch weitere Gespräche der Soldaten mit den Deserteuren, abermals durch zwei Stimmen wiedergegeben, unterbrochen. Die Reaktion des Kommandeurs darauf, das Streitgespräch mit den Deserteuren, wird mit einem kurzen Schlagzeugpart, der in einen treibenden Rhythmus mündet, betont. Der Abschluss seiner Begegnung mit den Deserteuren, den die Feststellung »Liebe zum Leben ohne Krieg und Tod / Die aus Soldaten Deserteure macht« bildet, wird von hohen, schrill anmutenden E-Gitarre-Klängen begleitet und direkt vom zweistimmigen Chor wiederholt. Nach einer kurzen Zäsur in der Musik setzt ab 04:47 ein ruhigerer Rhythmus ein, der den Beginn der Passage um den Tag der Übung und den Deserteur aus eigenen Reihen einleitet. In der Rolle des Kommandeurs rezitiert Stötzner jede Zeile in gleicher ruhiger Betonung. Die Befürchtungen der Soldaten werden abwechselnd von beiden Männerstimmen, die sich zum Teil verstellen, beziehungsweise im Chor wiedergegeben. Der Höhepunkt der Passage – der Ausruf »Der Deutsche« – erhält durch den verstärkten Einsatz des Schlagzeugs eine hohe Intensität. Ab 05:46 setzt ein neues Musikthema ein, dessen auffallendstes Charakteristikum der Einsatz einer Pfeife in Zäsuren auf sprachlicher und musikalischer Ebene ist. Mit der Pfeife werden zusätzliche Akzente gesetzt und die Passage wird noch deutlicher rhythmisiert. Der Kommandeur fasst den Plan, einen Angriff zu fingieren und die Angst seiner Soldaten zu
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Text als Klangmaterial vertreiben. Während der Übung geht der Schrei »Die Deutschen« um, der insgesamt vier Mal, den Sprechpart von Stötzner unterbrechend, von ihm und der zweiten Männerstimme aggressiv hervorgebracht wird. Nach der Inszenierung des Angriffs und einer kurzen musikalischen Zäsur erfolgt bei 06:57 ein Wechsel zum ursprünglichen, melodischeren Musikthema, während der Kommandeur seine Enttäuschung über den Ausgang der Übung formuliert. Polyphon zum folgenden Refrain stellt er die Frage: »Was muß ich tun daß dieser Menschenhaufen / Ein Bataillon wird vor der ersten Schlacht«. Die Musik klingt aus und es setzt ein neues Musikthema ein, bei dem das Schlagzeug im Vordergrund steht. Beim Gespräch mit dem Leutnant, der den Deserteur meldet, nimmt Stötzner beide Sprechparts ein. Während er als Leutnant in einem unsicheren Tonfall spricht, wirkt er als Kommandeur überlegen und gegenüber seinem Untergebenen höhnisch. Ebenso verhält es sich im darauffolgenden Dialog mit dem Deserteur, den Stötzner schuldbewusst und ruhig rezitiert, während er als Kommandeur zunehmend aggressiver spricht. Den finalen Vorwurf, der Gruppenführer sei durch seine Flucht »[e]in Feigling und Verräter an der Heimat«, bringt er geradezu hysterisch und schrill hervor. Nach einer Zäsur wird ab 09:00 auch die Musik für eine kurze Zeit treibender und aggressiver und verleiht dem Urteil, dem Befehl zur Erschießung des Deserteurs, höhere Intensität. Im weiteren Verlauf wird der Rhythmus wieder ruhiger und erst mit dem Anlegen der Gewehre durch das Schlagzeug erneut akzentuiert. Des Weiteren wird die Szene durch die zweistimmige und mit einer Pause versetzte Rezitation des Satzes »Mit einem Laut wie ein Gewehr« verstärkt. Stötzner als Kommandeur zeigt Selbstzweifel, was am hysterischen Ton bei der Frage an sich selbst »Wie anders hätte ich befehlen sollen« deutlich wird. Nach einer weiteren Wiederholung des Refrains erfolgt ein deutlicher Wechsel in der Musik. Sie wird zunächst nur vom Schlagzeug, das einen sehr schnellen und treibenden Rhythmus erzeugt, getragen. Während der zum Tode Verurteilte auf die Vollstreckung wartet, wird das Schlagzeug punktuell um E-Gitarren-Töne ergänzt. Das Kommando »Feuer« und die darauf entgegnete Frage »Warum« werden zweistimmig gerufen. Die folgende Traumvorstellung des Kommandeurs über die Rücknahme seines Befehls mündet im polyphon dazu erklingenden, mehrstimmigen Lachen, das die Erleichterung des Soldaten illustriert. Die Vision wird nun zweistimmig und immer schneller werdend rezitiert. Die Rückkehr zur Realität spricht Stötzner allein und laut rufend. Die Musik klingt dann, bis auf gezogene E-Gitarre-Töne, kurz aus und setzt ab 11:53 mit einem neuen, treibenden Musikthema ein. Das Mitleid des Kommandeurs löst sich mit der Feststellung »Und Mitleid mit Verrätern ist Verrat« auf, die in einem höheren Tonfall gesprochen wird, und
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Wolokolamsker Chaussee I-V mündet in einen schnelleren Sprechrhythmus, der auch von der Musik aufgenommen wird. Die Schuldgefühle des Kommandeurs, die ihn bis in die Gegenwart verfolgen, werden von einem schnellen Schlagzeugrhythmus und E-Gitarre-Tönen begleitet. Bei seinen letzten Sätzen erfolgt eine Rückkehr zum anfänglichen Musikthema sowie der Übergang zum Refrain. Dieser wird von Geräuschen der Kanonenschüsse, die mit der Musik verschränkt sind, begleitet. Nachdem die Musik verklungen ist, setzt bei 13:29 die sanfte, leise Musik des Beginns ein, deren ›Fade Out‹ den Track beschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass »Wolokolamsker Chaussee I« durch die durchgängige Verbindung von Musik und Sprache sowie die Lautstärke und das hohe Tempo einem Musiktrack gleicht. Zudem passen sich die Sprech- beziehungsweise Gesangsparts dem Rhythmus und den Akzenten der Musik an und übernehmen den treibenden, geradezu aufpeitschenden und hämmernden Rhythmus, der dem Hörer die angespannte und aggressive Stimmung, die im Inhalt des Gesprochenen vorherrscht, nahebringt. Der zweite Track, »Wald bei Moskau«, wird zwar ebenfalls von der Gruppe Megalomaniax begleitet, erscheint aber von Beginn an, mit leisen Gitarre-Klängen im Hintergrund und ganz ohne Geräusche, ruhiger. Auch der Sprechpart Stötzners wird von ihm meist ruhig vorgetragen. Punktuell steigert er die Lautstärke und die Betonungen, wenn er die Rolle des Kommandeurs im Dialog mit dem Arzt einnimmt. Ebenso punktuell enthält die musikalische Ebene Akzente, beispielsweise durch das Hinzukommen einer weiteren Gitarre, die Anhebung der Lautstärke oder die Beschleunigung des Rhythmus, sowie durch kurze Parts, in denen E-Gitarre-Klänge oder das Schlagzeug eingestreut werden und im Vordergrund stehen. Diese Akzente werden meist an Stellen gesetzt, an denen der Kommandeur mit seinen Soldaten beziehungsweise dem Arzt spricht, wie zum Beispiel bei »Ich bin dein Kommandeur Wie stehst du vor mir«, »Ich habe nichts für euren Hunger Ihr«, »Unsre Verwundeten wo sind sie Doktor«, »Ja und ich frage jetzt den Bataillonsarzt / Wo ist der Sanitätszug Bataillonsarzt / Ich frage nicht nach Ihren Rangabzeichen«, »Genossen unser Bataillonsarzt hat / Unsre Verwundeten im Stich gelassen«, »Was wollt ihr Bin ich mehr als ihr Was weiß ich«, »Hauptmann Belenkow Sie sind degradiert«, wenn er mit Kritik an seiner Führung konfrontiert wird, beispielsweise bei »He Kommandeur wohin hast du geführt«, oder der Bataillonsarzt seine Vorwürfe formuliert. Bei 08:57 erscheint zum ersten Mal in diesem Track das Element des zweistimmigen Chores, wie es im ersten Teil der »Wolokolamsker Chaussee« des Öfteren eingesetzt wurde. In »Wald bei Moskau« geschieht dies nur wenige Male. Nach der Frage »Nun / Wie wirst du dich aus deiner Klemme ziehn / Ge-
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Text als Klangmaterial nosse Kommandeur« (08:57-09:02) erscheint kurze Zeit später die Aufforderung »DU HAST UNS IN DEN TOD GEFÜHRT FÜHR / NICHT MEHR« (09:55-09:59). Dabei fällt auf, dass Stötzners Stimme stark im Vordergrund steht, den Kommandeur also als aktiven Sprecher der Aufforderung betont. Den Selbstzweifeln des Kommandeurs als Führer, die in einem relativ ruhigen Tonfall vorgetragen werden, folgt eine Passage in gehobener Laustärke und höherem Tempo (11:33-12:13), in der der Kommandeur mit dem Glauben an die Sowjetordnung seinen Kampfgeist äußert. Im weiteren Verlauf des Tracks werden einzelne Teile im zweistimmigen Chor mehrfach wiederholt. Dabei handelt es sich um »Hauptmann Belenkow«, »sowjetischer Wald« und »Soldat Belenkow«, die zum Teil in den Sprechpausen Stötzners, zum Teil polyphon eingesetzt werden. Ab 13:38 steht die Musik für fast eine Minute frei, bevor sie von dem leisen und sanften Musikthema abgelöst wird, das bereits den Rahmen für die »Russische Eröffnung« bildete. Wie im ersten Track passt sich in »Wald bei Moskau« die Rezitation beziehungsweise der Gesang durch die beiden Männerstimmen der Musik hinsichtlich Betonungen, Lautstärke und Rhythmus an und bildet mit ihr eine Einheit. Im dritten Teil des Hörstücks, »Das Duell«, wird dem Hörer von Anfang an die einer Probensituation ähnelnde Aufnahmesituation des Tracks deutlich vorgeführt, was zunächst den Eindruck erwecken kann, es handle sich um eine Rohversion, bei der Nebengeräusche und Fehler noch nicht herausgeschnitten wurden. So beginnt der Track mit Murmeln, Husten und Räuspern, es werden Stühle verrückt und der Chor (Kammerchor Horbach) stimmt sich mit Hilfe von Klaviertönen ein. Ein deutlich wahrnehmbarer Hall, der bereits in der Titelansage durch Stötzner besteht, Nebengeräusche während seiner Sprechparts sowie direkte Reaktionen wie der Abbruch Stötzners, als der Chor nach einem Fehler den Gesang beendet, zeigen auf, dass sich der Sprecher nicht in einem Studio befindet, sondern gemeinsam mit dem Chor in einem großen oder hohen Raum steht. Der aus Männerstimmen bestehende Chor wiederholt oft, teils freistehend, teils polyphon zum Sprecher, durch den Direktor bereits Gesagtes. Dabei handelt es sich um die Forderungen der Streikenden »FREIHEIT RUSSEN RAUS / Und SPITZBART WEG und DEUTSCHLANDÜBERALLES ÜBERALLES« (02:29-02:42), den Vergleich »Wie eine Kriegserklärung« (03:05-03:15), seine Überzeugung »Du wirst studieren und wenn ich dich an / Den Haaren auf die Schulbank schleifen muß.« (04:59-05:07), die Herausforderung »Das könnte dir so passen sagte ich / Und deinem Wie heißt dein Professor Und / Dem werd ich zeigen wo der Hammer hängt.« (07:2507:34), die Erinnerung an die eigene Studienzeit »JUDEN UND
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Wolokolamsker Chaussee I-V KOMMUNISTEN AUS DEM HÖRSAAL« (08:18-08:22) und »Wer schreibt der bleibt« (08:26-08:28), die Aussage des Professors »Die Natur / Macht keine Sprünge.« (09:19-10:01), den Wunsch nach Panzern und die Aufforderung zur Selbstkritik, sowie den letzten Satz »Dann gingen wir zurück in unsre Arbeit« (18:47-19:08), der erst bei der dritten Wiederholung vollständig wiedergegeben wird. Die Wiederholung durch den Chor geschieht vorwiegend im Kanon aus tieferen und höheren Stimmen. Auch wird der Chor eingesetzt, um den Rhythmus einzelner Passagen zu intensivieren und einzelne Wörter hervorzuheben, wie an dem durch die Worte »STREIKKOMITEE« und »GENERALSTREIK« immer wieder unterbrochenen Dialog zwischen Direktor und Stellvertreter angesichts der Geschehnisse auf der Straße (05:07-05:37) deutlich wird: »Und jetzt saß er vor mir mein Stellvertreter / Als Delegierter vom STREIKKOMITEE« »STREIKKOMITEE« »[...] Was für ein Komitee« »GENERALSTREIK« »Was für ein Streik / Soll das ein Witz sein« »STREIKKOMITEE« »Willst du meinen Stuhl« »GENERALSTREIK« »Lange genug warst du mein Stellvertreter« »STREIKKOMITEE« »Du wirst doch wissen wie du mir ein Bein stellst« »GENERALSTREIK« »[...] Die Schreier draußen brauchst du nicht dazu« »GENERALSTREIK« »Vom Westen aufgehetzt.«
Verkürzt wiederholt sich dies nochmals bei der Verunsicherung des Direktors hinsichtlich der Niederschlagung des Aufstands (14:4014:53): »Ich band den Schlips um« »STREIKKOMITEE« »zog die Jacke an« »GENERALSTREIK« »Und etwas würgte mich« »STREIKKOMITEE« »Ein Klumpen Zeit« »GENERALSTREIK«
Die Sprechanteile des Stellvertreters werden nur vom Chor gesprochen. Dabei handelt es sich um seine Erklärungen, nicht studieren zu wollen (04:09-04:44), die Hinweise an den Direktor, der Realität 211
Text als Klangmaterial auf der Straße ins Auge zu sehen (05:37-06:07), seine Prüfungsangst (06:29-07:23), seine Reaktion auf die Absicht des Direktors, ihn per Telefonat anzuzeigen »Das letzte Argument Die Erste Hilfe / Du kannst mich nur noch bei dir selbst anzeigen / Deine Genossen sind auf Tauchstation / Hörst du das Rauschen in der toten Leitung.« (10:28-10:59) sowie den letzten Dialog mit dem Direktor (14:28-14:39). Des Weiteren übernimmt der Chor auch eine Art musikalische Untermalung – ein Einsatz von Instrumentalmusik fndet im gesamten Track nicht statt –, indem Summen (beispielsweise bei 02:1302:30, 02:47-03:05, 03:37-04:08, 11:51-12:02, 17:16-17:26), Pfeifen (17:52-18:15) oder Marschieren anzeigendes »Tamtamtam« (07:56-08:17) das Sprechen Stötzners begleiten. Auch singt der Chor Teile des vom Direktor im Text nur erwähnten Liedes »Madrid du Wunderbare« (12:02-13:40). Dabei beschränkt er sich auf folgende einzelne Zeilen aus den ersten vier Strophen des Liedes: »Die Herren Generale«, »Wer hat denn diese Herren so schlecht beraten«, »Mamita mia!«, »Hab'n uns verraten«, »Madrid, du wunderbare«, »Mamita mia!«, »Dich wollten sie nehmen«, »Doch deiner treuen Söhne«, »Brauchst du dich nicht schämen«. Diese werden polyphon zu Stötzners Rezitation über den verrückt gewordenen Minister und ehemaligen Spanienkämpfer und in mehrfacher Wiederholung gesungen. Die letzte Zeile wird im Kanon mehrfach hintereinander, leiser werdend gesungen und schließlich in »Nananana« aufgelöst. Die Rolle des Chores als Gestalter der Melodie, sei es durch Gesang oder andere Äußerungen, wird gegen Ende von »Das Duell« durchbrochen. Fast eine Minute lang erklingt eine vielstimmige Rezitation in gebetsartigem Duktus (16:06-17:00) ab dem Moment, an dem die Panzer kommen und den Aufstand niederschlagen. Die Passage erhält durch den Einsatz des Chores eine religiöse Atmosphäre, in der der Glaube an die Sowjetunion als Geburtshelfer der DDR und omnipräsentes ›Gespenst‹ manifestiert wird. Ernst Stötzner spricht in diesem Track die Erinnerung des Direktors meist langsam und ruhig, nachdenklich und ohne besondere Betonungen, was einen Kontrast zu den Chor-Passagen bildet. In den Dialogen mit dem Stellvertreter und dem Professor erscheint er jedoch zum Teil höhnisch, zum Teil aggressiv, was durch Anhebung der Lautstärke und des Sprechtempos sowie durch Betonung einzelner Wörter oder Sätze realisiert wird, wie beispielsweise in der Drohung »Das könnte dir so passen sagte ich / Und deinem Wie heißt dein Professor Und / Dem werd ich zeigen wo der Hammer hängt.« (07:23-07:35) oder in der Anrufung der Panzer (14:5315:25).
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Wolokolamsker Chaussee I-V Der Track, der bis auf vereinzelte Klaviertöne zur Einstimmung des Chores und den den Track abschließenden Übergang auf den Einsatz von Instrumenten verzichtet, setzt sich durch die Konzentration auf Stimmen von den ersten beiden Teilen deutlich ab, bei denen die musikalische Ebene durchgehend vorhanden ist. Auch die Aufnahmesituation, in »Das Duell« eine angebliche Probensituation, unterscheidet sich deutlich von den vorhergehenden Teilen. Durch den Abschluss durch leise und sanfte Musik (19:13-19:55), der bereits am Anfang der »Russischen Eröffnung« sowie jeweils am Ende beider vorhergegangener Teile zu hören ist, erhält jedoch auch »Das Duell« einen Rahmen, der ihn mit den anderen Tracks verbindet. In »Wolokolamsker Chaussee IV« mit dem Titel »Kentauren« rücken dieser musikalische Abschluss und seine Quelle – eine Sinfonie von Schostakowitsch – in den Vordergrund. Zu Beginn des Tracks jedoch erklingen ein kurzer, schneller Musikausschnitt und eine weibliche Stimme, die voller Freude ein Zitat aus Shakespeares »The Tempest« (»Der Sturm«) – »O brave new world, That has such people in’t!« – ruft. Nach einem harten Schnitt zu harten Gitarre-Tönen setzt das aus den bisherigen Teilen bekannte musikalische Thema ein und wird, diesmal jedoch textunterlegt, weitergeführt. Dabei handelt es sich um Auszüge aus der 1942 uraufgeführten 7. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch (1906-1975), auch »Leningrader Sinfonie« genannt, die der in Moskau und Leningrad lebende Komponist seiner Heimatstadt widmete. Als ein Requiem für die im Kampf gegen deutsche Truppen gefallenen Helden, jedoch auch für die Opfer des stalinistischen Terrors und gegen Gewalt im Allgemeinen, wie spätere Untersuchungen zur 7. Sinfonie als weitere Deutung anbieten63, thematisiert die Sinfonie den Einfall des Feindes, den Kampf und schließlich den Triumph der Sieger. Ruhig und sanft, wie der Beginn dieser Musik, ist auch die Stimme des in »Kentauren« im Vordergrund stehenden Sprechers Alexander Kluge (M3), der den Titel des Tracks ansagt und die Rolle des aus der Erinnerung sprechenden Obers einnimmt. Die Sprechanteile seines Untergebenen übernimmt Ernst Stötzner und trägt diese sehr abgehackt, unsicher und ungelenk wirkend vor. Nach seiner ersten Meldung über den Mangel an Ordnungswidrigkeiten erfolgt eine Anhebung der Lautstärke der Musik, die nun auch immer mehr die Züge einer eine Parade begleitenden, marschähnlichen Musik annimmt. Im Dialog zwischen dem Untergebenen und Ober wechseln sich Kluge und Stötzner ab, wobei die Belehrungen Obers durch Kluge trotz der Sanftheit seiner Stimme immer intensi-
63 Feuchtner, Bernd: Schostakowitsch. Künstlerische Identität und staatliche Repression, Frankfurt am Main 1986, S. 171.
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Text als Klangmaterial ver und eindringlicher wirken. Stötzners Rezitation klingt wiederum immer abgehackter und roboterhafter, je mehr er sich von den Forderungen Obers einnehmen lässt. Den Appell an seinen Diensteid nimmt er mit »Mein Diensteid sagt Bei Rot über die Kreuzung / Ist eine Ordnungswidrigkeit Und mein / Bewußtsein sagt Das kostet Menschenleben« (05:28-05:39) entgegen, was auf der musikalischen Ebene vom Einsatz dissonanter Klaviertöne begleitet wird. Die Ausführung der Ordnungswidrigkeit und der Tod des Untergebenen werden von Ober kommentiert und gleichzeitig mit einem schnelleren, treibenden Tempo der Musik und zusätzlich mit einem gezogenen E-Gitarre-Ton hervorgehoben. Beim Verwachsen Obers mit seinem Schreibtisch wird die Musik etwas leiser; dafür ist ein anhaltendes Holzknarzen deutlich zu vernehmen. Zudem treten auf der musikalischen Ebene rhythmische Schläge, die lauter als Schostakowitschs Musik sind, hinzu. Gegen Ende des Tracks werden sowohl die Musik als auch Kluges Rezitation immer leiser, bis die Musik sowie zusätzliche hohe Klaviertöne ab 12:15 schließlich freistehen. Der Track endet nach dem Muster der vorhergehenden Teile abermals mit dem kurzen Ausschnitt aus Schostakowitschs Sinfonie, der Schritte erahnen lässt. Der letzte Teil von »Wolokolamsker Chaussee I-V«, »Der Findling«, bildet mit der Musik von der Band We Wear The Crown, die mit ›Hip Hop‹-Beats und Verfahren wie ›Scratches‹64 und ›Loops‹ in Erscheinung tritt, einen starken Kontrast zur klassischen Musik Schostakowitschs. Damit korrespondierend werden auch auf der sprachlichen Ebene die genannten Verfahren angewendet, was bereits in der Titelansage deutlich wird, wenn der von einer Männerstimme gesungene Part »Wolokolamsker Chaussee« mehrmals hintereinander angehalten und zurückgespult wird und einzelne Silben wiederholt werden. Den zweiten Teil des Titels – »Teil fünf. Der Findling« – übernimmt Ernst Stötzner und ruft ihn mit kräftiger Stimme. Begleitet von Beats und ›Scratches‹ auf der musikalischen Ebene nimmt Stötzner eine Sprechhaltung ein, die durch schnelles Tempo und die Strukturierung durch Beats an einen ›Rap‹ erinnert. Dabei werden einzelne Wörter mit einem mehrfachen, versetzten Echo versehen, wie das vom Adoptivvater gepredigte »Arbeiterparadies« (00:26-00:28), der Ort der Haftanstalt, »Bautzen« (00:37-00:39), und die Zeitangabe »Neunzehnachtundsechzig« (00:41-00:44). Ab 00:50 setzt ein stärkerer Beat ein; des Weiteren verdichtet sich die Musik 64 Ein ›Scratch‹ leitet sich aus dem englischen Wort für ›kratzen‹ (to scratch) ab und bezeichnet die Erzeugung von verzerrten Klängen und Rhythmen, indem eine laufende Schallplatte unter der aufgelegten Nadel mit der Hand hin- und herbewegt wird. Vgl. Dietel, Gerhard: Wörterbuch der Musik, München 2000, S. 273.
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Wolokolamsker Chaussee I-V und es werden immer mehr musikalische Elemente, beispielsweise ein melodisches, metallisches Schlagen oder kurze ›Samples‹ von Stimmen, hinzugefügt. So wird gleichzeitig zur Rezitation Stötzners über die Eindrücke in Westberlin – »Halbstadt der alten und der neuen Witwen / Leichen im Keller« – das ›Sample‹ »Zunge heraus« aus dem in Berlin aufgenommenen Hörstück »Verkommenes Ufer« im ›Loop‹ (01:54-02:14) verwendet. Auch kurze stimmliche Äußerungen, wie »Yeah« und »Ho« werden text- und musikunterlegt im ›Loop‹ abgespielt, wobei die Geschwindigkeit zunehmend gesteigert wird. Ebenso wird ein scheinbar historischer O-Ton, in dem eine aggressive Männerstimme den Einsatz der Wasserwerfer bestimmt (02:25-02:39), mit zunehmendem Tempo abgespielt. Nach Erklingen einer Türklingel setzt ab 02:56 ein neues musikalisches Thema ein, das einen langsameren Rhythmus und die sich wiederholende Textzeile »Oh remember« aufweist. Mit diesem neuen musikalischen Thema wird die Erinnerung an die konfliktgeladene Situation des Sohnes mit dem Adoptivvater eröffnet, wobei der Sprechpart des Vaters durch Stötzner schneller und lauter, der Part des Sohnes langsamer und meist im ›Rap‹ gesprochen wird. Der Dialog um den Wechsel von nasser Kleidung, bei dem der Sohn den Mantel des Vaters ablehnt, wird von Fanfaren, E-Gitarre-Tönen und einem stärkeren Beat sowie von weiteren O-Tönen, die als kurze ›Samples‹ montiert werden, begleitet. Auch bei der Ansprache des Vaters, in der er sich zu erklären versucht und dem Sohn Vorwürfe macht, werden weitere ›Samples‹ eingesetzt, zum einen die in »Das Duell« durch den Chor gesungenen Wörter »FREIHEIT« und »RUSSEN RAUS«, die als Schmierereien des Sohnes abgelehnt werden, zum anderen ein Ausschnitt aus einem Volkslied, den eine Kinderstimme traurig singt – »Mein Vater wird gesucht. [...] Die Mutter aber weint« –, was die Ausführungen des Vaters über seine Erfahrungen im Konzentrationslager und die Krebskrankheit der Mutter konterkariert. Dabei herrscht ein treibender Rhythmus vor, der, durch ›Scratches‹ intensiviert, in der Schlussfolgerung des Vaters, dem Sohn habe der Knüppel gefehlt, und einem mehrfachen, aggressiven Echo sowie dem gleichzeitigen Einsatz der E-Gitarre und weiterem Chorgesang aus »Das Duell« – »Wenn uns die Panzer nicht« – seinen Höhepunkt erreicht. Auch der Konter des Sohnes erreicht durch die im Vordergrund bleibende E-Gitarre sowie den oftmaligen Einsatz von ›Scratches‹ und Echos Aggressivität. Seine Abneigung gegenüber der Partei und dem System der DDR werden in der Verwendung eines verzerrten Lachens, das die Feststellung »Jetzt kann ich nur noch lachen« verstärkt, offenbar. Ab 08:40, während der Sohn über seine Herkunft nachdenkt, rücken auf der Musik-Ebene Klangelemente einer ›Human Beatbox‹ in den Vordergrund. Ein ›Beatboxer‹ erzeugt mit seiner natürlichen Stimme und in seinem Mundraum unter an-
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Text als Klangmaterial derem schlagzeugartige Laute. 65 Tatsächliche Instrumente sind währenddessen nicht zu hören. Erst mit der Wiederaufnahme des Refrains »VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN«, der vier Mal wiederholt wird, kommen Beats und verzerrte, aneinandermontierte, kurze ›Samples‹ aus verschiedenen sozialistischen Liedern hinzu. Der Refrain erfährt durch weitere, mehrfache Wiederholungen durch Stötzner sowie weitere Männerstimmen eine enorme Intensität. Während der Sohn an die früheren Selbstmordabsichten des Vaters erinnert und dieser die Partei telefonisch vom Vergehen des Sohnes informieren will, ertönt wiederholt das Klingeln eines Telefons (12:25-12:46). Die verbalen Angriffe des Sohnes auf den Vater und dessen Reaktionen werden zunehmend aggressiver, was durch das Schlagzeug im Vordergrund verstärkt wird. Zudem wird polyphon dazu ein sich wiederholendes, stark verzerrtes ›Sample‹ des Wortes »Vorwärts« eingesetzt, das schließlich in »VERGESSEN« im ›Loop‹ mündet. Dies entspricht der Zeile »Vorwärts und nie vergessen« aus dem »Solidaritätslied«66 von Bertolt Brecht in Zusammenarbeit mit Hanns Eisler. Das ›Sample‹ wird nochmals wiederholt, bevor kurzzeitig ›Beatbox‹-Elemente und das Telefonklingeln verdichtet zu hören sind. Während der Sohn seinen eigenen Tod als Konsequenz des Telefonanrufs seines Adoptivvaters diesem vor Augen hält, wird auf der musikalischen Ebene eine weitere Verdichtung erreicht, indem ein weiterer Ausschnitt aus einem Lied, diesmal über Gewehre, sowie rhythmisches Glockenläuten eingesetzt werden. Es werden also über den gesamten Track hinweg verschiedenste musikalische und nichtmusikalische Quellen vermischt, wobei bearbeitete ›Samples‹ von O-Tönen und Geräuschen in die Musik gemixt werden. Nach der aggressiven und sehr lauten Äußerung des Vaters, sein Sohn solle doch erschossen werden, wird die Verdichtung auf der Musik-Ebene aufgelöst und es sind nur noch ›Beatbox‹Elemente zu hören. Währenddessen spricht Stötzner sehr ruhig den letzten Satz »Dann das Geläut des Telefons als er / Den Hörer aufnahm und wählte die Nummer«. Zum Abschluss erklingt ab 15:54 zum letzten Mal der Ausschnitt aus Schostakowitschs Sinfonie und schließt so den mit ebendiesem Abschnitt in »Russische Eröffnung« begonnenen musikalischen Kreis. Die fünf Teile der »Wolokolamsker Chaussee« erscheinen als eigenständige Tracks, was nicht nur durch die technische Unterteilung auf dem Tonträger gegeben ist, sondern auch durch die Titelansage zu Beginn jeden Tracks sowie durch die Verwendung der unterschiedlichen Musikstile ›Speed Metal‹, klassische Musik, ›Hip
65 Vgl. Dietel, Gerhard: Wörterbuch der Musik, München 2000, S. 135. 66 Vgl. Busch, Ernst: Internationale Arbeiterlieder, Berlin 1948, S. 16.
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Wolokolamsker Chaussee I-V Hop‹ und den Gesang eines Kammerchors beziehungsweise die jeweils sich daraus ergebende unterschiedliche Ästhetik in den einzelnen Tracks intensiviert wird. Gleichzeitig werden die Tracks durch den wiederkehrenden Ausschnitt aus Schostakowitschs »Leningrader Sinfonie« als Teile eines Zyklus gekennzeichnet. Des Weiteren weisen bis auf den vierten alle Teile refrainartige Wiederholungen auf. Dies sind der Satz »Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau« im ersten, die durch den zweistimmigen Chor wiederholten Worte »Hauptmann Belenkow«, »sowjetischer Wald« und »Soldat Belenkow« im zweiten, vor allem die Worte »STREIKKOMITEE« und »GENERALSTREIK« im dritten und schließlich »VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN« im fünften Teil der »Wolokolamsker Chaussee«. Auch steht in fast allen Teilen die Stimme Ernst Stötzners im Vordergrund, was Goebbels selbst im Werkstattgespräch als verbindendes Element hervorhebt.67 In »Kentauren« übernimmt Alexander Kluge den Hauptpart, die Rezitation Obers, in allen anderen Teilen dominiert Stötzner und wird nur punktuell von weiteren Stimmen unterstützt. Außer in »Das Duell« wurde seine Rezitation im Studio aufgenommen. Diese gestaltet er deutlich, akzentuiert und passend zur Musik, was Tempo, Lautstärke und Duktus betrifft. So tritt seine Stimme beispielsweise in »Russische Eröffnung« laut und aggressiv sowie in »Der Findling« schnell und im Sprechgesang in Erscheinung. Mit der Verwendung der verschiedenen, zum Teil für die Entstehungszeit sehr modernen Musikstile und durch die Verdichtung von Musikelementen und O-Tönen im letzten Teil erreicht Goebbels eine gewisse Nähe zum Hörer, wie er selbst konstatiert: »Ich bin auch offen für das, was um mich herum vorgeht. Auch musikalisch setz ich mich mit den Sachen auseinander, die ich gerade höre, in der Disco oder im Autoradio usw. Das heißt ich nehme als Material für Auseinandersetzungen auch die Musik, die von den Leuten gehört wird, die z.B. auch – hoffentlich – in meine Konzerte kommen oder die Platten kaufen. Diesen Zusammenhang möchte ich nicht verlieren.«68
Mit der Verbindung des Textes von Heiner Müller, der übertragen gesehen die Geschichte der DDR in fünf Punkten skizziert, mit Elementen der Populärkultur erwirkt Goebbels auf der einen Seite Nähe zum Hörer, gleichzeitig erscheint Müllers Text aus dieser Perspektive heraus in einem neuen Blickwinkel, den Goebbels mit seiner Komposition dem Hörer anbieten will: 67 Vgl. Hörspielwerkstatt »Arbeitsgeräusche«, SWR 2002, 21:30-21:38. 68 Erdmann, Michael: Was das Ohr noch aufregt. Ein Gespräch mit dem (Theater-)Musiker Heiner Goebbels, in: Theater Heute 7/1983, S. 28-32, S. 32.
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Text als Klangmaterial »Mir geht es bei der Inszenierung und Vertonung dieser Texte um die monologische Erzählform und ihre Entsprechungen in der Musik und darum, die politische Perspektive dieser Texte für uns übersetzbar zu machen: nicht durch kunstvoll collagierte Elaborate, sondern durch rabiate, direkte Übertragungen in kulturelle Bereiche, die hier zu Hause sind: durch die Arbeit mit (musikalischen) Kollektiven in meinem Lebensbereich – Frankfurt; ich trete daher auch als Komponist eher zurück. Damit hoffe ich, im Hörer nicht nur ›die Straße der Panzer‹, sondern auch eine Straße der Erfahrungen zurücklassen zu können, die von den an der Produktion Beteiligten gemacht wurden. Damit fabriziere ich nicht die Lösungen für die entworfenen Konflikte; ich gehe nicht davon aus, daß einer dieser fünf Teile der ›richtige‹ ist oder eine ihrer ›parteilichen‹ Haltungen die ›message‹; mich interessiert eher eine Verunsicherung aus den Differenzen der Teile zueinander und ein wechselnder Abstand zu diesen.«69
4.7.3 FÜNF KAPITEL DEUTSCHER GESCHICHTE – ERGEBNISSE Im direkten Vergleich von Müllers Text und dessen Umsetzung im Hörstück fällt auf, dass »Wolokolamsker Chaussee« als erstes Hörstück in dieser Reihe längere Auslassungen im Text aufweist. Auch in der Chronologie lassen sich vereinzelt Abweichungen feststellen. So wird bereits zu Beginn des ersten Tracks die später zum Refrain erkorene Ortsangabe »Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau« (Z. 3f.) vorgezogen und an ihrer ursprünglichen Stelle weggelassen. Ebenso wird am Ende des Tracks die Zeile 319, die Zeitangabe »Im Kriegsjahr Einundvierzig im Oktober«, vorgezogen und in Zeile 317 eingebunden. Die Ortsangabe, die den Track eröffnet und schließt sowie als Refrain auftritt, erhält eine herausgehobene Stellung und verleiht der ›Russischen Eröffnung‹ eine Kreisstruktur, die Müllers Text nicht aufweist. Mehrzeilige Auslassungen betreffen in »Russische Eröffnung« die erste Schlacht des Kommandeurs (Z. 112-124), einen Teil der Reaktionen der Soldaten auf den gestellten Angriff (Z. 159-166), einen Teil der Ansprache an den Deserteur (Z. 213-217), seinen Weg zur Hinrichtung (Z. 244-262) sowie die Selbstzweifel des Kommandeurs (Z. 294-300). Der Verzicht auf diese Textpassagen stört jedoch nicht das Verständnis, da es sich nicht um unentbehrliche Zeilen handelt. Daneben lassen sich auch Zeilenverkürzungen, wie in den Zeilen 27, 32 und 41, feststellen. Ähnlich verhält es sich in den weiteren Teilen der »Wolokolamsker Chaussee«. So werden in »Wald bei Moskau« die nähere Beschreibung der hungrigen Soldaten (Z. 85-87) und der Schulterstücke des Arztes (Z. 145-147), die Erwähnung der Hände des Kommandeurs (Z. 165-167), der Vergleich der Soldaten mit Bäumen
69 Goebbels, Heiner: Wolokolamsker Chaussee, in: Booklet zur CD, in: ders.: Hörstücke nach Texten von Heiner Müller, ECM Records 1994.
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Wolokolamsker Chaussee I-V (Z. 170-174), der Vergleich des Kommandeurs mit einem Rädchen in der Sowjetordnung (Z. 176-179), seine Gedanken zur Angst des Arztes (Z. 200-216), seine Gedanken, die zu Selbstzweifeln führen (Z. 219-221) sowie deren Vertiefung (Z. 231-238) weggelassen. »Das Duell« weist nur sehr wenige Auslassungen auf. Es fehlen der direkte verbale Angriff des Direktors auf seinen Stellvertreter, die Demontage des Namensschildes, die er als ›Kriegserklärung‹ empfindet (Z. 37-44), der Zusatz »Und auf dem Dienstweg ohne Handarbeit« (Z. 49) sowie die Verwirklichung des revolutionären Gedankens in der restlichen Welt (S. 152-155) und der Zusatz »Ich konnte es an seinen Augen sehen« (Z. 158). In »Kentauren« kommt es lediglich zu zwei Auslassungen, ein Teil der Gedanken Obers zur Verwachsung (Z. 143-159) und die Vertiefung der Gedanken zur Fortpflanzung als Schreibtisch (Z. 170-175) werden ausgelassen. Allein in »Der Findling« ist der Text vollständig im Hörstück enthalten. Die in den einzelnen Teilen der »Wolokolamsker Chaussee« ausgelassenen Textpassagen sind kurz, sie beinhalten meist Auslassungen von wenigen Zeilen. Neben der pragmatischen Möglichkeit, alle fünf Tracks auf einer handelsüblichen CD veröffentlichen zu können, können die Auslassungen das Verständnis zum Teil erleichtern, da es sich dabei auf inhaltlicher Ebene um Vertiefungen und Details handelt, die von den Haupthandlungen der einzelnen Texte eventuell ablenken könnten. Wie schon in den in dieser Arbeit vorausgegangenen Hörstücken hebt Goebbels durch Wiederholungen einzelne Wörter oder Sätze hervor und bringt sie ins Bewusstsein des Hörers. So werden im ersten Teil der »Wolokolamsker Chaussee I-V« vor allem die Ortsangabe als Refrain, im zweiten die Bezeichnungen des Arztes sowie »sowjetischer Wald« als Ort, an dem der Sanitätszug zurückgelassen wurde, im dritten Teil eine Vielzahl von Einzelaussagen des Direktors und zentrale Begriffe, im letzten Teil vor allem der Refrain »VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN« wiederholt. Der vierte Teil ist der einzige Track, der keine Wiederholungen aufweist. Darüber hinaus erfolgt die Hervorhebung einzelner Wörter oder Zeilen, die bereits im Text durch ihre mehrmalige Wiederholung eine zentrale Stellung einnehmen, durch Anhebung der Lautstärke, durch Veränderung des Tempos und des Duktus, wie beispielsweise bei der schnellen und aggressiven Aussprache der Wörter »Front«, »Angst« und »der Deutsche« im ersten Teil. Mit der Verteilung der Sprechanteile auf eine beziehungsweise verschiedene Stimmen, wie in »Kentauren«, folgt Goebbels der im Text vorgegebenen Struktur. Dabei werden jeweils vor allem die zwei Rollen akustisch herausgearbeitet, die im Text als Antagonisten auftreten, also Kommandeur und Leutnant beziehungsweise Deserteur,
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Text als Klangmaterial Kommandeur und Bataillonsarzt, Chef und Stellvertreter, Ober und Untergebener sowie Sohn und Vater. Durch hörbare Zäsuren in der Rezitation werden des Weiteren die im Text gegebenen Zeilenenden und durch Großschreibung angezeigten Satzanfänge für den Hörer deutlich. Auch erfolgt durch Stötzner des Öfteren eine akustische Deutung der Sätze hinsichtlich der Satzart. So werden durch Fragepronomen angedeutete Fragesätze als solche intoniert und mögliche Ausrufesätze in höherer Lautstärke gesprochen. Bei der Umsetzung des Textes im Hörstück ist zudem besonders hervorzuheben, dass in den letzten drei Tracks textfremde Einschübe zu hören sind. Diese vollziehen sich auf verschiedenen Ebenen. In »Das Duell« wird der kurze Textverweis auf das Lied mit dem Titel »MADRID DU WUNDERBARE« (Z. 120) im Hörstück ausgebaut, indem einzelne Zeilen des Liedtextes durch den Kammerchor gesungen werden. Damit kommt das Hörstück dem Hörer entgegen, indem es ihm den Inhalt des in Westdeutschland in der Entstehungszeit des Hörstücks wohl unbekannten Liedes unterbreitet. Diesen kann er dann wiederum in Verbindung mit dem rezitierten Text Müllers setzen. Ebenso wird in »Der Findling« mit dem »Thälmannlied«, das auf die Jugend- und Pionierorganisation der DDR verweist, sozialistisches Liedgut auf der Ebene der Musik als Mix von kurzen ›Samples‹ eingeführt. Der Gegensatz zwischen diesen ›Samples‹ und den Beats sowie den Techniken des ›Hip Hops‹ macht den Konflikt zwischen Vater und Adoptivsohn deutlich, was auch Hans Burkhard Schlichting konstatiert: »Mauerbau 1961 und Prager Einmarsch 1968 waren die Drehpunkte des abschließenden Hip Hop-Teils, der vom inneren Generationskonflikt der DDR handelte und im Rap-Gesang von Ernst Stötzner mit gescratchten Zitaten aus dem sozialistischen Liedgut realisiert worden war.«70 Die Kombination verschiedener Musikrichtungen in den einzelnen Tracks und die Verwendung moderner Stile erzeugen eine Vielstimmigkeit und ermöglichen nach Kersten Glandien »dem gegenwärtigen Hörer eine Identifizierung mit dem Konflikt zwischen reaktionären und progressiven politischen Positionen«71. Die Verbindung seiner Texte mit der zur Populärkultur gehörenden Musik stieß bei Heiner Müller zunächst auf wenig Zustimmung. Es wurde sogar ein Verbot des Hörstücks angestrebt, wie Goebbels in einem späteren Interview erklärt: 70 Schlichting, Hans Burkhard: Heiner Goebbels in Hörweite, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 71-84, S. 76. 71 Glandien, Kersten: En Route – Eine monographische Studie zum Œuvre von Heiner Goebbels, unveröffentlichtes Manuskript, zitiert nach: http://www. heinergoebbels.com/deutsch/portrait/port18d.htm vom 01.12.2008.
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Wolokolamsker Chaussee I-V »Im dritten Teil der Wolokolamsker Chaussee [Herv. i. O.] singt ein etwas dilettantisch klingender Arbeiterchor über den 17. Juni. Im Umkreis von Heiner Müller glaubte man, das könne als ironische Anspielung auf die zahnlosen Greise im Politbüro verstanden werden. Aber mir ging es bei meiner Arbeit gar nicht um die DDR. Ich habe das völlig arglos komponiert, weil mich überhaupt nicht interessiert hat, welche DDR-internen Referenzen hier verhandelt werden. Mich hat bei der Wolokolamsker Chaussee [Herv. i. O.] wie bei allen anderen Texten immer nur interessiert, was kann uns das hier im Westen sagen. Sind das Konflikte, die uns hier berühren, in unserem Geschichtsverständnis, in unserem Verständnis von Gewalt und Befreiung oder von Beharrungsvermögen und Veränderung.«72
In der nationalen und internationalen Hörspielszene erregte diese Art der Umsetzung große Beachtung. So wurden Goebbels für »Wolokolamsker Chaussee I-V« der Publikumspreis der Woche des Hörspiels, der Prix Futura, sowie der Karl-Sczuka-Preis verliehen. Die Jury hob dabei in ihrer Begründung vor allem das von Goebbels angestrebte Aufzeigen der Relevanz des Textes in der Gegenwart hervor: »Heiner Goebbels’ Hörspiel vergegenwärtigt den Text WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE I-V von Heiner Müller durch gewaltsam drängende, musikalische Strukturierung als ein monumentales Kapitel deutscher Geschichte. Thema ist der fast blinde Versuch, direkt aus dem nationalsozialistischen Krieg gegen die Sowjetunion heraus in der DDR die Menschen für den Sozialismus zu gewinnen, und sein Scheitern spätestens 1968. Thema ist zugleich das erneute Eindringen der Tragödie in eine durch bürokratische Ordnung scheinbar beruhigte, zivilisierte gesellschaftliche Realität, und damit eine geschichtliche Ausweglosigkeit in fast antiker Dimension. Der ganz direkte, rhythmisch rabiate akustische Zugriff durch Heiner Goebbels läßt in den zeitgeschichtlichen Lehrstücken Heiner Müllers eine neue Ebene unmittelbarer politischer Reflektion und eindringlich inhaltlicher Wirkung entstehen.«73
Das Hörstück aktualisiert die fünf Texte der »Wolokolamsker Chaussee« Müllers, die die Voraussetzungen für das Entstehen der DDR, die Entwicklungen in diesem Staat sowie die Gewalt der sozialistischen Macht aufzeigen. Mittels der Verwendung moderner Musikstile und technischer Verfahren versetzt die akustische Umsetzung den Text in einen neuen Kontext in der Gegenwart des Hörers.
72 Stefan Amzoll: Die Stimme im Gepäck. Im Gespräch. Der Komponist Heiner Goebbels anlässlich des 10. Todestags von Heiner Müller, zitiert nach http://www.freitag.de/2006/01/06011601.php vom 01.12.2008. 73 Naber, Hermann/Vormweg, Heinrich/Schlichting, Hans Burkhard: Akustische Spielformen. Von der Hörspielmusik zur Radiokunst. Der Karl-SczukaPreis 1955-1999, Baden-Baden 2000, S. 197.
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4.8 Der Horatier – Der Horatier (SWF/HR 1993/94) 4.8.1 TEXTANALYSE Der 1968 geschriebene und 1973 in Berlin uraufgeführte, 345 Zeilen lange Text »Der Horatier« über die Taten und die Beurteilung eines Horatiers ist im Zeilenstil verfasst, weist jedoch keine Verteilung des Textes auf verschiedene Sprecher auf. Wer spricht, wird meist durch die inquit-Formel und einen Doppelpunkt vor der direkten Rede angezeigt. Auch Satzenden werden im Unterschied zu bereits betrachteten Texten durch Punkte deutlich gemacht, ebenso Fragen durch Fragezeichen gekennzeichnet. Die Syntax betreffend lässt sich des Weiteren sagen, dass punktuell Inversionen vorgenommen wurden, um bestimmte Wörter hervorzuheben. Dies ist der Fall, als der Horatier nach Rom zurückkehrt (Z. 35), mit dem Schwert, mit dem er schon ihren Verlobten tötete, auch seine Schwester tötet (Z. 56), die Tat, »das Schreckliche« (Z. 69), zunächst unbemerkt bleibt und durch sie schließlich die Entzweiung Roms droht (Z. 125). Außerdem herrschen ein parataktischer Satzbau und kurze Aussagesätze vor. Satzverbindungen werden meist mit der Konjunktion »und« erzeugt. Diese steht vorwiegend am Zeilenanfang, als Anapher (Z. 25-28, Z. 65f., Z. 107f., Z. 122f., Z. 153-155, Z. 195f., Z. 228-230, Z. 294f.). Der Text weist außerdem die Anaphern, beginnend mit »Nicht achtend sein Blut [...]« (Z. 251f.) und »Er soll genannt werden [...]« (Z. 320f.), und die Symploke »Das ist der [...] Sein Name: Horatius« (Z. 188f.) auf, mit denen die Person des Horatiers als Sieger und gleichzeitig als Mörder und seine Tat somit als ambivalent angekündigt wird. Die Stadt »Rom« als Schauplatz der Handlung und Herkunft des Protagonisten, die Zahl »zwei« (Z. 103), in verschiedenen Formen als »zweimal« (Z. 65, Z. 73, Z 76, Z. 200, Z. 204), »zweifach« (Z. 87, Z. 124, Z. 278), »entzweit« (Z. 125, Z. 312) »zum zweiten Mal« (Z. 133), die auf die Ambivalenz des Sieges verweist, sowie das »Schwert« als Tatwaffe und die gegensätzlichen Bezeichnungen »Sieger« und »Mörder« für den Horatier erhalten durch mehrfache Wiederholungen eine herausgehobene Stellung. Durch die Antithese in der Beurteilung des Handelns des Horatiers ergeben sich mehrere Parallelismen auf struktureller Ebene. Es erfolgt die erste Reaktion auf die Tötung des Kuriatiers und der Schwester, als zunächst ein Römer ruft »Er hat gesiegt« und dann ein anderer »Er hat seine Schwester getötet« (Z. 89f., Z. 92f.). Noch deutlicher wird die parallele Argumentation, als der Lorbeerträger und der Beilträger, die vom Volk bestimmt wurden, über die Ehrung des Siegers und das gleichzeitige Richten des Mörders nachdenken (Z. 157-170). Die Ehrung und die Hinrichtung werden ebenso paral-
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Der Horatier lelisiert. Sie beginnen mit »Und der Horatier wurde gekrönt mit dem Lorbeer« (Z. 195) beziehungsweise »Und der Horatier wurde gerichtet mit dem Beil« (Z. 234). Auch die Frage an das Volk über das Verfahren mit dem Leichnam des Siegers und gleichzeitigen Mörders sowie die Antwort des Volkes erfolgen nach derselben Struktur (Z. 236244, Z. 265-276). Die Struktur betreffend ist des Weiteren das Schriftbild einzelner Passagen besonders hervorzuheben. An vier Stellen werden in jeweils drei Zeilen Parallelismen dargestellt, indem in der mittleren Zeile die von den beiden äußeren Zeilen benötigten Wörter stehen. An der Verlobung des Kuriatiers mit der Schwester des Horatiers und der des Horatiers mit der Schwesters des Kuriatiers (Z. 21-23) sowie an der dreifachen, direkt aufeinanderfolgenden Frage nach der Beurteilung des Horatiers als Sieger und Mörder (Z. 176-185) wird die parallele Struktur so auch optisch verdeutlicht. Der Text lässt sich inhaltlich in zehn Abschnitte unterteilen. Nach der Vereinbarung zwischen Rom und Alba, nach einem Loswurf als Stellvertreter einen Horatier und einen Kuriatier in den Kampf zu schicken, um die anderen Männer für den gemeinsamen Feind, die Etrusker, aufzusparen (Z. 1-12), siegt der Horatier (Z. 1334). Auf die alliterativ gestaltete Bitte des Kuriatiers, der mit »schwindender Stimme« (Z. 28) um Schonung bittet, antwortet der Horatier mit einer Personifikation Roms – »Meine Braut heißt Rom« (Z. 32) – und tötet ihn mit seinem Schwert. Im dritten Abschnitt (Z. 35-82) trauert die Schwester des Horatiers um ihren Verlobten, was der Sieger nicht versteht, da dieser aus seiner Sicht ein Feind Roms war. Er stellt die Belange der Stadt Rom in den Vordergrund, was in einer weiteren Personifikation – »Rom hat gesiegt« (Z. 50) – deutlich wird. Mit seinem Schwert tötet er die eigene Schwester, die weiterhin um den Feind trauert, weswegen dieses nun als das »zweimal blutige Schwert« (Z. 65, Z. 73, Z. 76) bezeichnet wird. Die Tat wird zunächst nur vom Vater des Horatiers bemerkt, der seinen Sohn umarmt. Im nächsten Textabschnitt (Z. 83-156) treten die Liktoren – römische Amtsdiener – hinzu und das Handeln des Horatiers wird durch das Volk in seiner Zweischneidigkeit beurteilt. Um die Rechtsprechung durchzuführen, werden zwei Männer ausgewählt, die »den Lorbeer für den Sieger« (Z. 106) beziehungsweise »das Richtbeil, dem Mörder bestimmt«, (Z. 107) in Empfang nehmen. Der Vater des Horatiers wendet mit einer Personifikation ein, dass »Rom [...] sein bestes Schwert« (Z. 115) zerbricht, worauf ihm entgegnet wird, dass Rom neben dem Horatier »viele Schwerter« (Z. 119) habe. Damit werden der Horatier und die Römer mit ihren Waffen gleichgesetzt und somit nicht in ihrer Individualität sondern als Kämpfer für Rom dargestellt. Als der Ho-
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Text als Klangmaterial ratier und später sein Vater das blutige Schwert, die Tatwaffe, aufheben wollen, werden sie von den Liktoren daran gehindert. Die Argumentationen des Lorbeerträgers und des Beilträgers erfolgen abwechselnd im fünften Abschnitt (Z. 157-194), wobei die Wörter »Sieger« und »Mörder« eine zentrale Stellung erhalten und die Ambivalenz der Tat des Horatiers sowie die Unlösbarkeit der Problematik im Chiasmus »Sein Verdienst löscht seine Schuld / [...] Seine Schuld löscht sein Verdienst« (Z. 158-160) deutlich werden. Das Gericht akzeptiert schließlich diese Ambivalenz: »Jedem das Seine. / Dem Sieger den Lorbeer. Dem Mörder das Beil« (Z. 193f.). Der nächste Textabschnitt (Z. 195-208) zeigt die Ehrung des Horatiers als Sieger für Rom: er wird mit dem Lorbeer gekrönt und sein Schwert wird ihm gereicht. Gleich darauf wird es ihm jedoch wieder entrissen, der Lorbeer vom Kopf heruntergenommen und der Horatier als Mörder hingerichtet (Z. 209-234). Die letzte Bitte des Vaters, ihn statt seines Sohnes zu töten, wird durch das Volk mit den Worten »Kein Mann ist ein andrer Mann« (Z. 233) abgewiesen. Im achten Abschnitt (Z. 235-264) wird nach selbigem Muster zunächst der Leichnam des Horatiers als Leichnam des Siegers wieder zusammengesetzt. Die Römer »fügten zusammen ungefähr / Das natürlich nicht mehr Vereinbare / Den Kopf des Mörders und den Leib des Mörders / Getrennt voneinander mit dem Richtbeil / Blutig aus eigenem beide, zum Leichnam des Siegers« (Z. 245-249). Auch werden ihm der Lorbeer wieder aufgesetzt und sein Schwert in die Hand gelegt. Danach wird mit paralleler Struktur die Frage gestellt, was mit dem Leichnam des Mörders geschehen solle. Auch diesmal ist die Antwort des Volkes zwar einstimmig, ein Horatier schweigt aber (Z. 270). Dies steht an dieser Stelle in Klammern, ab Zeile 279 meldet sich der schweigende Horatier jedoch zu Wort und fordert dazu auf, die zweite Tat, den Mörder, zu vergessen (Z. 281), woraufhin ihm ein Römer entgegnet, dass die Erwähnung nur eines Aspektes von »Schuld und Verdienst / Des unteilbaren Täters verschiedener Taten« (Z. 288f.) nicht der vollständigen Wahrheit entspreche. Außerdem fügt er hinzu: »Und das halbe Beispiel ist kein Beispiel / Was nicht getan wird ganz bis zum wirklichen Ende / Kehrt ins Nichts am Zügel der Zeit im Krebsgang« (Z. 291-293). An dieser Stelle werden die Bedeutung der Tat des Horatiers und ihrer Beurteilung sowie der Rechtsprechung über sie im Verlauf der Geschichte, »[l]änger als Rom über Alba herrschen wird« (Z. 284), deutlich. Deswegen werden dem Leichnam der Lorbeer und das Schwert wieder genommen. Der Leichnam wird als Leichnam eines Mörders angesehen, ein Römer spuckt ihn an, die Finger der totenstarren Hand werden gebrochen, um das Schwert zu entnehmen, und der Körper wird schließlich vor Hunde geworfen, »damit sie / Ganz ihn zerrissen, so daß nichts bleibe von ihm« (Z. 313f.).
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Der Horatier Der letzte Textabschnitt (Z. 317-345) thematisiert als Abschluss die Wichtigkeit der gleichzeitigen Nennung von Verdienst und Schuld des Horatiers als »Sieger über Alba« (Z. 320) und »Mörder seiner Schwester« (Z. 321). Das Verschweigen oder auch nur die Ungleichzeitigkeit der Nennung einer Seite der Tat soll bestraft werden, denn »die Worte müssen rein bleiben« (Z. 334). Die Bedeutung dieser Worte in der Geschichte rückt nun in den Vordergrund, sie »[f]allen in das Getriebe der Welt uneinholbar / Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich« (Z. 336f.). Nachdem die Römer das Beispiel des Horatiers als »Beispiel / Reinlicher Scheidung nicht verbergend den Rest« (Z. 341f.) festgelegt haben, gehen sie wieder an ihre Arbeit, »im Griff / Neben Pflug, Hammer, Ahle, Schreibgriffel das Schwert« (Z. 344f.). Die Aufzählung dieser Utensilien zeigt verschiedene Tätigkeitsbereiche auf. Das Schwert als Waffe, die jeder Einzelne trägt, weist dabei auf ihre omnipräsente Bereitschaft hin, für Rom zu kämfen. Der Stoff des Textes »Der Horatier« basiert auf Auszügen des Berichts über römische Geschichte »Ab urbe condita« (»Römische Geschichte«) von Titus Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.) und der Tragödie »Horace« von Pierre Corneille (1606-1684).1 Des Weiteren kann ein Zusammenhang mit Brechts Lehrstück »Die Horatier und die Kuriatier« festgestellt werden. Der Geschichtsschreiber Livius berichtet von jeweils drei Brüdern auf der Seite der Horatier und der Kuriatier, die stellvertretend für Rom und Alba um die Oberherrschaft kämpfen. Dabei fallen zwei der Horatier, der dritte tötet jedoch die Kuriatier. Als die Schwester des Horatiers, die mit einem der Kuriatier verlobt war, klagt, wird sie von ihrem über die Trauer um den Feind erzürnten Bruder getötet. Über diesen öffentlichen Mord wird daraufhin gerichtet, wobei der Horatier aufgrund einer rührenden Rede seines Vaters vom Volk begnadigt wird.2 Corneille übernimmt den Stoff in seinem 1640 verfassten Drama und gibt die Handlung mit geringen Abweichungen in fünf Akten wieder. So finden sich die drei Horatier im Kampf gegen drei Kuriatier wieder, ebenso werden der Mord des Horatiers an seiner Schwester Camille und der Prozess mit anschließendem Freispruch von Schuld durch den römischen König behandelt. Corneille fügt außerdem die Person der Albanerin Sabine als Frau des dritten Hora-
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Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 566. Vgl. Hillen, Hans Jürgen (Hg.): Titus Livius: Römische Geschichte. Buch I-III, Darmstadt 1987.
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Text als Klangmaterial tiers und Schwester der Kuriatier ein. Bei ihm spielen die Frauen eine ebenso wichtige Rolle wie die männlichen Figuren.3 Betrachtet man Brechts Lehrstück »Die Horatier und die Kuriatier«, das 1934 entstand, so findet man auch hier drei horatische und drei kuriatische Heerführer – jeweils ein Bogenschütze, ein Lanzenträger und ein Schwertkämpfer. Nachdem zwei Horatier gefallen sind, kann der zunächst schwächere, horatische Schwertkämpfer den Sieg erringen, indem er alle drei Kuriatier tötet. Zusätzlich übernehmen jeweils ein horatischer und ein kuriatischer Chor eine kommentierende und mit den Frauen der Kämpfer kommunizierende Funktion. Der Stoff ist bei Brecht auf die Kämpfe reduziert, das Lehrstück endet mit dem Sieg. Der Mord an der Schwester sowie die Problematik der Rechtsprechung kommen nicht vor.4 Heiner Müller folgte dieser ursprünglichen Konstellation der drei Brüder in früheren Entwürfen, im vorliegenden Text ist der Kampf jedoch auf einen Horatier gegen einen Kuriatier reduziert. Die Nähe zu Livius bleibt jedoch bestehen, wie er selbst konstatiert: »Das ist alles der gleiche Ablauf, bis auf diese Verkürzung auf zwei.«5 Auch verzichtet Müller auf die ursprünglich geplante Einteilung in fünf Teile und die Verteilung auf Sprecherrollen.6 Zudem stand die Überlegung um einen offenen Schluss im Raum, bei dem »das Publikum in die Entscheidungsfindung«7 einbezogen werden sollte. In der letzlich vorliegenden Fassung ist das nicht so und der Text konzentriert sich vor allem auf die Widersprüchlichkeit der Taten des Horatiers und auf die Ambivalenz in der Beurteilung seiner Taten durch das römische Volk, wie auch Jan-Christoph Hauschild feststellt: »Der Mörder ist auch der Retter; Schuld und Verdienst treten in einer widerspruchsgeladen Einheit auf.« 8 Damit stellt Müller den Text auch als Gegenentwurf zu Corneilles »Horace« dar: »[...] da [in ›Horace‹, Anm. d. Verf.] bietet der Vater sich an als stellvetretendes Opfer für den Sohn, das Opfer wird akzeptiert, der Vater statt des Sohnes hin-
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Vgl. Corneille, Pierre: Horace, in: ders.: Œuvres complètes I, Paris 1980, S. 831-901. Vgl. Brecht, Bertolt: Die Horatier und die Kuriatier, in: ders: Stücke für das
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Theater am Schiffbauerdamm (1928-1933). Dritter Band, Berlin 1957, S. 231-275. Gespräch mit den Schauspielstudenten über »Der Horatier«, in: Hörnigk,
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Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 11. Gespräche 2. 1987-1991, Frankfurt am Main 2008, S. 256-266, S. 263. Vgl. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt
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am Main 2001, S. 566. Ebd., S. 567. Hauschild, Jan-Christoph: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie, Berlin 2001, S. 263.
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Der Horatier gerichtet, weil er für die Sozietät nicht so brauchbar ist wie der Sohn, also die monarchistische Lösung. Und das hier ist jetzt der andere Vorschlag.«9
Müller beschreibt den direkten historischen Bezug des Textes in seiner Autobiographie wie folgt: »Der Text war meine Reaktion auf Prag 1968, ein Kommentar zu Prag. HORATIER durfte auch nicht gespielt werden. Es gab einen Versuch, das Stück am Berliner Ensemble zu inszenieren, aber auch der wurde von der Bezirksleitung unterbunden, und zwar mit dem Argument, daß dies die Prager Position wäre, die Forderung: Intellektuelle an die Macht.«10
Die Frage in Müllers Text, »ob die Tötung des Horatiers, der für die Städte Rom und Alba die Etrusker besiegt hat, aber auch im Mordrausch den Kuratier aus der Stadt Alba und seine eigene diesem verlobte Schwester umgebracht hat, rechtens ist«11, stellt gleichzeitig die Frage nach der Rechtfertigung des Einmarsches der russischen Panzer und der Niederschlagung des ›Prager Frühlings‹ 1968. Wolfgang Emmerich setzt Stalin aufgrund dieses Einsatzes von Gewalt mit dem Horatier als gleichzeitigem Sieger und Mörder in einen direkten Vergleich und sieht in »Der Horatier« die Frage nach der Existenz der Gewalt des Kommunismus gestellt.12 Indem die Leistung des Horatiers für das Kollektiv, der Sieg über Alba, geehrt wird und der überflüssige Mord an der Schwester aus Zorn geächtet wird, zeigt der Text die Notwendigkeit, den Doppelcharakter von Gewalt zu beleuchten. Einerseits wird Gewalt, das Töten des Kuriatiers, als positiv bewertet, da sie dem Kollektiv, dem römischen Volk, nutzt. Schon hier stellt sich aber für den Leser die Frage, ob die Tötung des Kuriatiers notwendig war, da dieser mit »Schone den Besiegten« (Z. 29) den Horatier um Gnade anflehte und der Sieg Roms in diesem Moment bereits sicher war. Das römische Volk nimmt diese Gewaltanwendung hin. Erst in dem Moment, in dem Gewalt aus persönlichen Gründen, aus Genugtuung, angewendet wird, wird der gewalttätige Sieger als Mörder angesehen und negativ bewertet. Jonathan Kalb stellt hierzu fest: »Mit der Ehrung des Ho-
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Gespräch mit den Schauspielstudenten über »Der Horatier«, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 11. Gespräche 2. 1987-1991, Frankfurt am Main 2008, S. 256-266, S. 263.
10 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 203. 11 Emmerich, Wolfgang: Leben oder sterben lassen. Exekutionen bei Heiner Müller, in: Klussmann, Paul Gerhard/Mohr, Heinrich (Hg.): Spiele und Spiegelungen von Schrecken und Tod. Zum Werk von Heiner Müller. Sonderband zum 60. Geburtstag des Dichters, Bonn 1990, S. 147-156, S. 149. 12 Vgl. ebd.
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Text als Klangmaterial ratiers hat der Staat zugegeben, dass er dieser Form von Brutalität bedarf, um sich selbst zu erhalten [...]. Und durch die Hinrichtung eben dieses Mannes zeigt der Staat seine eigene Brutalität [...]«13. Die Tötung des Horatiers durch das römische Volk bietet darüber hinaus noch eine abschließende dritte Gewaltanwendung, wie auch im Text explizit dargestellt wird, als die Römer den Leichnam hochheben und »sein Blut auf den Händen« (Z. 252) haben. Mit der dargestellten Untrennbarkeit von Verdienst und Schuld und der Forderung des Volkes, den Namen des Horatiers im späteren Verlauf der Geschichte immer in diesem doppelseitigen Kontext zu nennen, da »historische Lügen es [das Volk, Anm. d. Verf.] am Ende vergiften«14, wird in Müllers Text nicht nur die Beurteilung von Gewalt im geschichtlichen Prozess in ihrer Widersprüchlichkeit aufgezeigt, sondern auch die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dieser Ambivalenz betont. Das Beispiel des Horatiers bleibt jedoch »ein vorläufiges« (Z. 341), was Ulrich Profitlich wie folgt begründet: »Dies offenbar nicht darum, weil kommende geschichtliche Epochen fähig wären, den Fall besser, d. h. ohne ›Rest‹ zu bewältigen; als im geschichtsphilosophischen Sinne ›vorläufig‹ gilt schon der Fall selbst, jene skandalöse Situation, in der ›die Wahrheit‹ ›unrein‹ ist und ›reinlich‹ höchstens die ›Scheidung‹ ihrer Elemente sein kann. An diese Bedingung ist die Verbindlichkeit des ›Beispiels‹ geknüpft: an die Existenz eines Typus von Völkerbeziehungen, den im Stück die Feindschaft zwischen Rom, Alba und den Etruskern vertritt, an einen gewaltsam und kriegerisch ausgetragenen Antagonismus.«15
Das aus der römischen Antike im Text genannte Beispiel kann so als Modell gesehen werden, das in der Gegenwart überwunden werden kann, jedoch auch bis in diese gültig bleibt.
4.8.2 COLLAGE AUS DEUTSCHEN, ENGLISCHEN, FRANZÖSISCHEN, TEXTEN – ANALYSE DES HÖRSTÜCKS
ITALIENISCHEN UND SPANISCHEN
Neben »Der Horatier« existieren zwei weitere, kürzere Versionen: »Roman Dogs« und »Chiens Romains«. Bereits deren Titel verweisen direkt auf die im Text genannte Wichtigkeit der gleichzeitigen Nen-
13 Kalb, Jonathan: Der Horatier, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 233–235, S. 234. 14 Ebd. 15 Profitlich, Ulrich: Heiner Müller: Der Horatier, in: Müller-Michaels, Harro (Hg.): Deutsche Dramen: Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Band 2, Königstein/Taunus 1981, S. 205-219, S. 211.
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Der Horatier nung von Schuld und Verdienst des Horatiers und die Forderung, andernfalls »mit den Hunden wohnen als ein Hund« leben zu sollen. Das 40-minütige Hörstück »Der Horatier« basiert vor allem auf dem Text »Der Horatier« von Heiner Müller. Des Weiteren werden Auszüge aus Pierre Corneilles Drama »Horace« im französischen Original rezitiert. In deutscher und französischer Sprache findet auch ein kurzer Auszug aus Titus Livius’ Werk »Ab urbe condita« Eingang in das Hörstück. Zudem werden vereinzelt Sätze aus William Faulkners Novelle »Sanctuary« (»Die Freistatt«) verwendet. Die vom Südwestrundfunk bereitgestellte hier zugrundeliegende Aufnahme ist eine Aufzeichnung eines Musiktheaterstücks mit dem Titel »Römische Hunde«, das Goebbels zusammen mit dem Bühnenbildner Michael Simon 1991 in Frankfurt uraufführte und das die beiden Fassungen »Der Horatier« und »Roman Dogs« beinhaltet. Zu Beginn des Hörstücks erklingen Hundegebell, das bereits auf das Ende der Handlung und die oben erwähnte Forderung verweist, und Verkehrsgeräusche, die dem Hörer eine in der Gegenwart spielende Handlung suggerieren. Mit einem einführenden Satz von Josef Bierbichler (M1) aus der deutschen Übersetzung von Livius’ Werk, in dem die Ausgangssituation als das Suchen des Königs Tullus Hostilius nach einem Kriegsgrund beschrieben wird16, steht von Beginn an die Gewaltbereitschaft des römischen Volkes und des Horatiers im Vordergrund. Der Titelansage durch eine tiefe weibliche Stimme folgt die Fortsetzung des Textes von Livius, nach dem Albaner und Römer jeweils Drillingsbrüder – Kuriatier und Horatier – in den Kampf entsenden. 17 Währenddessen wird der Text weiterhin von Hupen, Motorengeräuschen, Hundegebell sowie von dem Schlagen metallischer Gegenstände begleitet. Ab 02:13 setzt eine leise, aber treibend und dunkel anmutende Musik ein, die zunächst freisteht, dann textunterlegt ist. Auf der sprachlichen Ebene setzt Müllers Text in französischer Übersetzung ein: »Entre la ville de Rome et la ville d’Albe il y avait une querelle pour la domination.« Die französische Übersetzung wird von André Wilms (M2) sehr ruhig vorgetragen. Direkt darauf folgt dieser Satz im deutschen Original, wiederum von Bierbichler gesprochen: »Der Horatier. Zwischen der Stadt Rom und der Stadt Alba / War ein Streit um Herrschaft.« Müllers Text wird als eigenständiges Element neben der deutschen und französischen Variante im weiteren Verlauf auch in italienischer und spanischer Sprache durch Enzo Musso (M3) und Paco Rosales (M4) wiedergegeben. So wird der oben erwähnte Satz nochmals in Italienisch wiederholt: »Tra la città di Roma e la città di Alba c’era
16 Vgl. Hillen, Hans Jürgen (Hg.): Titus Livius: Römische Geschichte. Buch I-III, Darmstadt 1987, S. 59. 17 Vgl. ebd., S. 59-65.
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Text als Klangmaterial contesa per l’egemonia.« (03:10-03:19). Bis 06:06 wechselt sich die italienische Rezitation mit dem Mezzosopran von Gail Gilmore (F2) ab, die über das Hörstück verteilt kurze Opernausschnitte singt. Dabei handelt es sich um die Oper »Orazi e Curiazi« (»Die Horatier und Curiatier«, 1846) von Saverio Mercadante, deren Libretto dem Drama Corneilles folgt18, die in Rom spielende Oper »Benvenuto Cellini« (1838) um den Goldschmied Cellini, der im Kampf einen Mord verübt19, von Hector Berlioz und um die von Machtkämpfen und vom letzten römischen Tribunen Cola Rienzi im 16. Jahrhundert, der in einem vom Volk gelegten Brand umkommt, handelnde Oper »Rienzi, der letzte der Tribunen« (1842)20 von Richard Wagner. An den Opernelementen ist ebenso der Tenor Jürgen Wagner (M6) beteiligt, der manchmal alleine, manchmal zusammen mit Gilmore singt. In die sich mit dem Gesang von Gilmore abwechselnde italienische Rezitation mischt sich auch das immer wieder auftauchende französische Wort »Quoi!« (»Was!«) mit der hohen Stimme von Catherine Jauniaux (F3), was erst im späteren Verlauf aufgelöst wird. Zunächst rezitiert Bierbichler »Der Horatier« weiter bis zur Auslosung des Horatiers und des Kuriatiers als Kämpfer, woran Mussos und Rosales’ Rezitation der Frage, ob das Los noch einmal geworfen werden soll, und deren Verneinung durch die Kämpfer anschließt. Ab 07:09 werden, beginnend mit dem bereits vorher aufgegriffenen und mehrmals wiederholten ›Sample‹ »Quoi!«, weitere aus Corneilles Drama »Horace« stammende Sätze von Jauniaux in Figurenrede rezitiert: »Quoi! le manque de foi vous semble pardonnable!« (Z. 156) und »Quoiqu’à peine à mes maux je puisse résister, / J’aime mieux les souffrir que de les mériter« (Z. 153f.). Dabei wird eine Umstellung des ursprünglichen Textes vorgenommen und die beiden Aussagen der Figur Camille, der Schwester des Horatiers, die trotz ihres Leides, den Bruder oder den Verlobten im Kampf verlieren zu können, dem Rat ihrer Vertrauten Julie, den Kuriatier zu verlassen, nicht folgt, in ihrer Reihenfolge vertauscht. Nach einem weiteren Opernausschnitt setzt ein vollkommen neues musikalisches Thema ein, das im ersten Moment – nach klassischer Musik und Operngesang – etwas befremdlich wirkt, handelt es sich doch um Beats und ›Hip Hop‹-Musik der Gegenwart. 18 Vgl. Wittmann, Michael: Orazi e Curiazi, in: Schmierer, Elisabeth (Hg.): Lexikon der Oper. Komponisten – Werke – Interpreten – Sachbegriffe. Band 2, Laaber 2002, S. 289f. 19 Brzoska, Matthias: Benvenuto Cellini, in: Schmierer, Elisabeth (Hg.): Lexikon der Oper. Komponisten – Werke – Interpreten – Sachbegriffe. Band 1, Laaber 2002, S. 188-190. 20 Vgl. Breig, Werner: Rienzi, der letzte der Tribunen, in: Schmierer, Elisabeth (Hg.): Lexikon der Oper. Komponisten – Werke – Interpreten – Sachbegriffe. Band 2, Laaber 2002, S. 461-463.
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Der Horatier Eric Goulds Rezitation »So that one man should fight for our city against one who fights for the city of yours« (07:30-07:33) ähnelt in seiner zur Musik passenden Schnelligkeit und Betonung einem ›Rap‹. Ebenso spricht Wilms bei der Rezitation der nächsten französischen Textstelle aus »Horace« – der von der Figur des Kuriatiers wiederholten Frage des albanischen Führers an die Römer, was angesichts der vewandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Kämpfern zu tun sei und dessen Fazit, dass es sich bei beiden eigentlich um ein Volk in verschiedenen Städten handle und die Kämpfe unnötig seien (07:33-08:10) – lauter, schneller und akzentuierter als bei der französischen Übersetzung von Müllers »Der Horatier«. Die Wiedergabe der Auslosung des Kuriatiers und des Horatiers sowie deren Ablehnung einer neuen Auslosung durch Bierbichler erfolgt darauf im Wechsel mit weiteren Figurenreden aus Corneilles Text, in denen der Kuriatier den Beschluss der Führer, nur einzelne Kämpfer als Stellvertreter der Heere gegeneinander antreten zu lassen, verkündet. Danach ist bei 09:58 ein harter Schnitt zu verzeichnen. Die französische Übersetzung der Losentscheidung erscheint in dieser Passage als Ursache für die folgende Ansprache von Sabine, der Schwester des Kuriatiers und Frau des Horatiers, mit der Corneilles Drama beginnt. Jauniaux spricht diese sehr hoch und erregt, was dem Inhalt, der Verzweiflung Sabines angesichts der Kämpfe zwischen Rom und Alba, entspricht. Die Passage wird von dunkler Musik im Hintergrund begleitet, was das durch die verwandtschaftlichen Beziehungen heraufbeschworene Unheil ankündigt. Auch die französische Übersetzung des Textes von Müller bekräftigt diesen Eindruck, da in dieser noch einmal die Frage nach einer Auslosung gestellt wird mit dem Grund »Il est fiancé à ta sœur. / Tu es fiancé à sa sœur«. Auffällig ist dabei die Verknüpfung der französischen Übersetzung mit der deutschen Konjunktion »und«, die jeweils direkt vorher deutlich zu hören ist. Diese Doppelung hebt die Verwendung der Konjunktion im Text hervor. Die folgende Verzweiflung Sabines erhält eine Steigerung, indem die Rezitation von Klageschreien durchzogen wird. Der Kampf des Horatiers und des Kuriatiers steht jedoch bevor, wie die Rezitation Bierbichlers noch einmal bezeugt. Eingeleitet durch klassische Musik und Operngesang von Gilmore und Wagner erfolgt aus »Horace« ein Monolog des Vaters des Horatiers, mit dem dieser die Abschiedsszene zwischen dem Horatier, Sabine, Camille sowie dem Kuriatier stört und die beiden Kämpfer auffordert, ihrer Pflicht nachzugehen, statt sich mit den beiden Frauen zu beschäftigen. Erneut rezitiert Bierbichler daraufhin die Auslosung und die Verneinung einer Wiederholung aus Müllers Text, was durch die Wiederholung des Textes und treibende Musik den Kampfwillen der beiden Männer trotz der Problematik ih-
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Text als Klangmaterial rer Relationen betont. In einem Rückgriff auf die Abschiedsszene klagt Sabine: »Le zèle du pays vous défend de tels soins; / Vous feriez peu pour lui si vous vous étiez moins. / Il lui faut, et sans haine, immoler un beau-frère. / Ne différez donc plus ce que vous devez faire« (Z. 637-640). Nach diesem an beide Männer gerichteten Vorwurf, für ihr Land auch den Schwager zu opfern, ertönt ein lauter Schrei. Mit einsetzenden Beats passt auch Jauniaux ihren Sprechduktus an, der rhythmischer wird und in der folgenden Passage Sprechgesang ähnelt: »Commencez par sa soeur à répandre son sang, / Commencez par sa femme à lui percer le flanc, / Commencez par Sabine à faire de vos vies / Un digne sacrifice à vos chères patries: / Commencez, commencez / Vous êtes ennemis en ce combat fameux, / Vous d'Albe, vous de Rome, et moi de toutes deux.« (Z. 641-646). Nach diesen polemischen Aufforderungen an den Horatier und den Kuriatier, mit dem Opfer für die jeweilige Heimat zu beginnen und sie zu töten, um dem anstehenden Kampf eine Berechtigung zu geben, verstummt die Musik. Die Frage Bierbichlers nach einer neuen Auslosung und der Beginn der Fortführung von Sabines Monolog über ihre missliche Lage, nach dem Kampf einen der beiden beweinen zu müssen, werden nur von einem anhaltenden leisen und hohen Ton begleitet, der in einen kurzen Ausschnitt klassischer Musik mündet. Polyphon zu Sabines langgezogenem Schrei, der ihren Sprechpart beendet, folgt ein weiterer Ausschnitt aus Corneilles Drama, in dem der Vater des Horatiers beide Kämpfer dazu auffordert, nur an ihre Pflicht gegenüber ihren Städten zu denken und in den Kampf zu ziehen. Nach kurzem Operngesang (15:03-15:24) und der erneuten Wiederholung der Verneinung einer neuen Auslosung erfolgen zwei Rückgriffe in Corneilles Drama. Zum einen handelt es sich dabei um die Äußerung des Horatiers, die Frauen würden mit ihren Wehklagen und Tränen den Kampf stören, zum anderen um das Ende von Sabines Klagemonolog, der von Jauniaux abermals als Sprechgesang zu ›Hip Hop‹-Musik präsentiert wird. Polyphon dazu ist auch Wilms’ Sprechgesang zu hören, in dem der Horatier seine Frau nach der Ursache ihrer Todesabsichten fragt und sich angegriffen fühlt: »Que t’ai-je fait, Sabine, et quelle est mon offense, / Qui t’oblige à chercher une telle vengeance? / Que t’a fait mon honneur, et par quel droit viens-tu / Avec toute ta force attaquer ma vertu?« (Z. 664670). Dabei werden die Fragepronomen »que« und »qui« rhythmisiert und stark betont, was mit dem Rhythmus der Musik korrespondiert. Bei 16:16 wird ein musikalischer Akzent gesetzt, der einen klassischen Musikpart mit dem Gesang von Gilmore und Wagner einleitet. Bierbichler rezitiert gleichzeitig dazu aus Müllers Text den Kampf und die Bitte des Kuriatiers, ihn aufgrund der Verlobung mit
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Der Horatier der Schwester des Horatiers zu verschonen. Die gleiche Textstelle wird in der französischen Übersetzung wiederholt und sodann mit der unerbittlichen Reaktion des Horatiers weitergeführt: »Et l’Horace cria: / Mon épouse s’appele Rome / Et l’Horace buta son glaive à la gorge du Curiace et le sang tomba sur le sol. Et le sang tomba sur le sol. Et le sang tomba sur le sol.« (16:37-17:14). Bei der Wiederholung des letzten Satzes wird Wilms immer leiser, wodurch der Tod des Kuriatiers die Wirkung eines eindringlichen, unabwendbaren Schlusspunktes erhält. Doch der eigentliche Konflikt beginnt erst jetzt und setzt ab 17:14 mit einer treibenden klassischen Musik und mit der spanischen Rezitation des Sieges und der Tötung des Kuriatiers ein. Daran knüpfen die französische Übersetzung der Rückkehr des Horatiers nach Rom und ein von Jauniaux ausgestoßener langgezogener, gequälter Schrei an. Bierbichler rezitiert daraufhin aus dem deutschen Originaltext Müllers noch einmal die Kampfpassage und führt sie diesmal bis zur Tötung des Kuriatiers aus. Während dieses Sprechparts herrscht ansonsten Stille, was die hohe Gewichtung und die Folgenträchtigkeit der Textpassage hervorhebt. Ab 18:28 setzt zusammen mit treibender klassischer Musik ein Ausschnitt aus dem vierten Akt von Corneilles »Horace« ein, in dem der alte Horatier in einem an seine Tochter Camille gerichteten Monolog von dieser fordert, ihren siegreichen Bruder, der alle drei Kuriatier töten konnte, angemessen zu empfangen. Nach einem ›Winseln‹ von Jauniaux, das die Reaktion und das Leid von Camille nonverbal darstellt, rezitiert Bierbichler aus Müllers Text das Zusammentreffen der Geschwister, das Schreien der Schwester angesichts des blutigen Schlachtkleides des Kuriatiers und die Schelte des Horatiers. Polyphon dazu sind im Hintergrund die französischen, italienischen und spanischen Übersetzungen zu hören, aufgrund der sehr viel niedrigeren Lautstärke und der Gleichzeitigkeit der verschiedenen Stimmen sind die gesprochenen Sätze in ihrer Semantik jedoch nicht zu verstehen. Bei 19:59 wird abermals ein einschneidend klingender, musikalischer Akzent gesetzt, der hämmernde und treibende Musik einleitet. Dazu rezitiert Jauniaux schreiend einen Ausschnitt aus der französischen Übersetzung von Livius’ »Ab urbe condita«, in dem der Horatier seine Schwester, die aufgrund ihrer Liebe zum Feind ihre Brüder und die Heimat nicht achtet, anklagt: »Va-t’en avec ton amour scandaleux! [...] Va rejoindre ton fiancé, toi qui oublies tes frères, les morts et le vivant [toi qui oublies tes frères, les morts et le vivant, toi qui oublies tes frères, les morts et le vivant], toi qui oublies ta patrie! Ainsi meure toute Romaine qui pleurera un enne-
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Text als Klangmaterial mi!«21 (20:00-20:58). Die im Text nicht enthaltene Wiederholung betont die Essenz des Vorwurfes an die Schwester. Mit dem Einsatz Bierbichlers, der die weitere Reaktion der Schwester und ihre Tötung rezitiert, schreitet die Handlung in Müllers Text weiter voran. Polyphon dazu ist bis 20:55 die französische Übersetzung von Müllers Text sehr leise im Hintergrund und danach Gesang von Wagner zu hören. Ab 21:21 erklingt für zehn Sekunden klassische Musik, danach herrscht auf der musikalischen Ebene Stille. Der weitere Verlauf des deutschen Originaltextes gibt die Reaktion des Vaters nach dem Schwesternmord und das Auftreten der Liktoren wieder. Die Reaktion des Volkes wird mit der Ankündigung »Und von den Römern einer rief« und fröhlicher Musik, die an die ›Flower Power‹-Ära der 70er Jahre erinnert, eingeleitet. In dieser ausgelassenen musikalischen Atmosphäre wechseln sich deutsche, italienische und französische Sätze ab (22:35-23:22), die die Problematik des Horatiers einerseits als Sieger, der Rom zur Herrschaft über Alba verhalf, und andererseits als Mörder, der seine Schwester tötete, verdeutlichen: »E trai Romani uno grida: Ha vinto. Roma / Impera sul Alba / E trai Romani un altro deporte« »Er hat gesiegt. Rom / Herrscht über Alba« »Und von den Römern ein andrer entgegnete:« »Et l’un entre des Romains cria« »Er hat seine Schwester getötet« »Ha uccisa sua sorella« »Und die Römer riefen gegeneinander: / Ehrt den Sieger. / Richtet den Mörder« »Il a vaincu. Rome régne Albe« »Er hat gesiegt. Rom / Herrscht über Alba« »E uni ricordavano a altri: onorate vincitore« »Et un autre d’entre des Romains reparta« »Und von den Römern ein andrer entgegnete« »Onorate vincitore. Giustiziato l’assasino« »Il a tué sa sœur« »Er hat seine Schwester getötet« »Et les Romains ont crié l’un l’autre« »Onorate vincitore. Giustiziato l’assasino« »Honorez le vainqueur. / Exécutez l’assasin«
Durch den beständigen Wechsel zwischen den Sprachen beziehungsweise zum Teil auch durch ihre Gleichzeitigkeit wird dem Hörer eine Vielzahl an Stimmen und Meinungen der Römer suggeriert. Mit dem drohenden Streit zwischen den Römern ist in der Musik ein ›Fade Out‹ zu verzeichnen und es erfolgt ein kurzer Vorgriff in der 21 Bayet, Jean (Hg.): Tite-Live: Histoire Romaine. Tome I Livre I, übersetzt von Gaston Baillet, Paris 1967, S. 42.
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Der Horatier französischen Übersetzung von Müllers Text – »Et l’Horace était entre le laurier et la [...]« –, der vor der Erwähnung des Beils abbricht. Die Einberufung der Versammlung der Bürger und die Ernennung des Lorbeer- und des Beilträgers als Stellvertreter des Volkes sind im deutschen Original zu hören. Die parallel strukturierten Ansprachen und Fragen an das Volk durch diese beiden Stellvertreter, wie mit dem Horatier zu verfahren sei, erfolgen im Wechsel von deutschen und italienischen Passagen von Bierbichler und Musso sowie mit Gesang des Tenors, der ebenfalls die Ambivalenz der Person des Horatiers als Sieger und Mörder wiedergibt. Bei der Stimmenverteilung im Hörstück ist festzustellen, dass Musso, nach italienisch vorgetragenen Zahlen von 147 bis 173, direkt im Anschluss die deutschen Aussagen bezüglich der Handlung des Lorbeer- und des Beilträgers mit italienischem Akzent rezitiert. Die ausgerufenen Zahlen können mit Zeilenangaben in Müllers Text in Verbindung gebracht werden, stimmen jedoch nicht vollständig mit diesen überein. In diese deutsch-italienische Verknüpfung wird ein Satz aus Corneilles Drama, die Frage des alten Horatiers im fünften Akt »Quoi? qu’on envoie le vainqueur au supplice?« (25:26-25:29), ob der Sieger gemartert werden solle, gemischt. Das Urteil des Volkes erfolgt ebenfalls in Französisch: »Voilà le vainqueur. Son nom: Horace. / Voilà l’assasin. Son nom: Horace. / [...] A chacun son dû: / Au vainqueur le laurier. A l’assasin l’hache.« (27:40-27:58). Dabei wird die nochmalige Erwähnung seines Verdienstes und seiner Schuld (Z. 190-193) ausgelassen und die Passage auf den Beschluss allein, nach dem der Horatier sowohl den Lorbeer als auch das Beil verdient, reduziert. Der darauf folgende Gongschlag verleiht dem Urteil eine größere Intensität, Straßengeräusche, wie sie bereits zu Beginn des Hörstücks zu hören waren, deuten dem Hörer an, dass die Ambivalenz des Handelns des Horatiers auch in der Gegenwart Aktualität besitzen könnte. Zur dann folgenden Lorbeerkrönung des Horatiers sind polyphon die englischen Fragen »Stop, stop, stop where are you running? What’s going on here? What’s happening?« (28:05-28:14), die in diesem Kontext Unverständnis aufgrund der Entscheidung suggerieren, sowie gleichzeitig italienische, spanische und französische Passagen zu hören. Dabei steht die Rezitation von Jauniaux im Vordergrund und ist als einzige deutlich zu verstehen: »La nuit a dissipé des erreurs si charmantes; / Mille songes affreux, mille images sanglantes« (Z. 215f., 28:08-28:14). Mit diesem Satz erfolgt ein Rückgriff in Corneilles »Horace« auf den ersten Akt, als Camille von ihren Albträumen und blutigen Visionen berichtet. Dies geschieht kurze Zeit später nochmals bei 28:26 mit dem Einwurf »Et mon coeur, accablé de mille déplaisirs, / Cherche la solitude à cacher ses soupirs« (Z. 133f.) von Sabine, die unter der Auseinander-
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Text als Klangmaterial setzung zwischen Rom und Alba ebenso leidet. Im Hintergrund sprechen währenddessen erneut Musso und Rosales. Der Umschlag von der Krönung zur Hinrichtung erfolgt mit dem Überwerfen des Stoffes über den Kopf des Horatiers, was wieder nur in Französisch rezitiert wird. Die dann folgenden Fragmente »I’m all right. [...] I didn’t send for you. Keep your nose out«22, »I’ll pay it. By God, I’ll buy them two funerals. [...] Put [, put, put, put] the son of a bitch on a coffin. Let’s have two funerals«23 und »Play something«24 stammen aus William Faulkners Novelle »Sanctuary«. Sie stehen im Kontext der Novelle im Zusammenhang mit dem Todesurteil gegen den fälschlicherweise wegen Mordes angeklagten und schließlich von einer Menschenmenge gelynchten Lee Goodwin, der von einem Rechtsanwalt namens Horace verteidigt wird, und verstärken in der Montage mit dem Schicksal des Horatiers im Hörstück die anstehende Hinrichtung. Ebenso deuten Geräusche, die das Heraufziehen einer Kette vermuten lassen, das bevorstehende Unheil an. Spanische, englische und französische Einsprengsel münden schließlich abermals in ein Stimmengewirr, wobei der französische Ausschnitt aus der letzten Szene des Dramas von Corneille im Vordergrund steht: »Et la louange est due, au lieu du châtiment, / Quand la vertu produit ce premier mouvement« (Z. 1649f.). Dabei handelt es sich um einen Ausschnitt aus der an König Tullus gerichteten Ansprache, in der der alte Horatier für den Freispruch seines Sohnes plädiert. Auf der musikalischen Ebene erfolgt dabei ein Wechsel von ›Hip Hop‹-Musik zu klassischer Musik, die fast durchgehend unter die folgende Rezitation Bierbichlers gelegt ist. Von 29:22 bis 38:06 ist ganz ohne Unterbrechungen Müllers Text, vom Urteil des Volkes, über die Vollstreckung, die beim Umschwung von der Ehrung des Siegers zur Hinrichtung des Mörders von Trommelwirbel begleitet wird, bis zur Entscheidung, wie in der Zukunft mit der Nennung von Verdienst und Schuld des Horatiers umgegangen werden soll, zu hören. Vor allem die letzten Sätze über die Bedeutung der Worte im »Getriebe der Welt« (Z. 337) erhalten eine besondere Betonung, da nur Bierbichlers Stimme zu hören ist, während auf der musikalischen Ebene Stille herrscht. Während dieser langen Rezitation werden nur an zwei Stellen kurze Auslassungen vorgenommen. Beide Male handelt es sich um die Reaktionen der Wachen bei der Hinrichtung und bei der Ehrung des Leichnams, sodass das Hörstück den Handlungsspielraum auf der Textebene verkleinert und auf das Geschehen innerhalb der Stadtmauern konzentriert.
22 Faulkner, William: Sanctuary, London 1981, S. 289. 23 Ebd., S. 241. 24 Ebd., S. 243.
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Der Horatier Das Ende des Hörstücks nimmt das Collage-Verfahren wieder auf, wobei nach einem musikalischen Akzent, der an das Klirren von Glas erinnert, und sphärisch klingender Musik im Hintergrund die Entscheidung über die Nennung der Tat des Horatiers in der Zukunft in der französischen Übersetzung von Müllers Text abwechselnd von Wilms und Jauniaux noch einmal aufgenommen wird. Dem wird das Ende des deutschen Originaltextes in kurzen Fragmenten beigemischt. Den Abschluss bildet schließlich der bereits in der Rezitation Bierbichlers exponierte Satz über den Lauf der Worte in der Geschichte in Französisch: »Rendant les chôses conaissables où méconaissables. / Mortel à l’homme ce qui est méconaissable.« Die Collage aus meist kurzen Sprechpassagen in verschiedenen Sprachen, gesprochen von sechs Stimmen – deutsch von Bierbichler, französisch von Wilms und Jauniaux, englisch von Gould und Jauniaux, italienisch von Musso und spanisch von Rosales – sowie aus Gesang von Mezzosopran und Tenor – Gilmore und Wagner –, klassischer Musik, Beats und ›Hip Hop‹-Musik gibt in ihrer Gesamtheit einen Überblick über die Bearbeitung des Stoffes zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Texten und Opern. Während Müllers Text im Original sowie der französischen und der italienischen Übersetzung sehr ruhig und ohne auffallende Modulationen, das Tempo und die Lautstärke betreffend, und in der spanischen Übersetzung zwar schneller, jedoch gleichbleibend, rezitiert wird, werden die Figurenreden aus Corneilles Drama »Horace« sehr pathetisch, voller Betonungen und affektgeladener Äußerungen wie Schreien und Weinen von Jauniaux in den Rollen der Camille und der Sabine vorgetragen. Wilms dagegen, in den Rollen des Horatiers, des Kuriatiers und vor allem des alten Horatiers, bleibt bei einer ruhigen Vortragsweise, die jedoch mehr Betonungen als die Reziation der französischen Übersetzung von »Der Horatier« aufweist. Die Einheit von Sprache und Musik liegt in den Elementen aus Mercadantes, Berlioz’ und Wagners Opern vor. Ansonsten erfolgt das Zusammenspiel des Textvortrags mit der Musik auf zweierlei Weise. Zum Teil liegt die Musik im Hintergrund unter dem Text, zum Teil gibt sie dem Vortragenden Tempo und Rhythmus vor, an die dieser seine Rezitation anpasst. Dies wird vor allem in den Passagen mit Beats und ›Hip Hop‹-Musik, die Jauniaux’ Vortrag stark rhythmisieren, sowie an der Stelle, an der ›Flower Power-Pop‹ einsetzt und eine aufgelockerte Sprechweise der Sprechenden veranlasst, deutlich. Der Einfluss der Musik nimmt jedoch nicht überhand, das Verhältnis zwischen Sprache und Musik bleibt ausgewogen, um Schaden zu vermeiden, wie Goebbels betont: »der Text kann Schaden nehmen, der die Musik eigentlich gar nicht gebraucht hätte, die Musik kann Schaden nehmen, die unter dem Text vielleicht nicht mehr
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Text als Klangmaterial hervorschaut.« 25 Dies wurde bereits bei der Sprecherauswahl bedacht. So führt Goebbels Bierbichler als einen Sprecher an, bei dem die Gefahr der Aufladung der Sprache durch die Musik nicht droht. Oft lassen sich nach Goebbels Sprecher allerdings von der Musik vereinnahmen, sodass der Text »über Modulation, über Interpretation eigentlich aufgeladen wird, bereits mit Klangmusik des Sprechenden, und hinter der dann eigentlich der Inhalt fast verschwindet«26. Vielleicht auch deshalb werden zu betonende Textstellen in »Der Horatier« pur, ohne jegliche Musik oder Geräusche vorgetragen. Durch die Verbindung verschiedenster Texte in verschiedenen Sprachen sowie verschiedenster Musikrichtungen und Opernelemente erhält der Hörer einen sehr vielfältigen Eindruck von Herangehensweisen an den Stoff der Horatiergeschichte, wobei jedoch immer Müllers Text im Vordergrund steht und den Ausgangspunkt für alle weiteren Elemente bildet.
4.8.3 REZEPTIONSGESCHICHTE DES STOFFES – ERGEBNISSE Die Verknüpfung von Müllers Text »Der Horatier« mit Texten von Livius, Corneille und Faulkner sowie mit Opern von Mercadante, Berlioz und Wagner ist nach Goebbels der »Versuch, sozusagen eine Rezeptionsgeschichte eines Stoffes mit abzubilden [...]. Und was wir versucht haben in dieser Musiktheaterarbeit, dass man, indem man diesen Stoff erzählt, eine etwas verwickelte Geschichte natürlich, dass man gleichzeitig einen Gang macht durch die verschiedenen Perspektiven, die auf diesen Stoff immer gefallen sind«.27
Dabei nimmt Müllers Text in der Wiedergabe durch verschiedene Stimmen den größten Teil des Hörstücks ein. In der deutschen Originalfassung wird der Text chronologisch und nur mit minimalen Auslassungen durch Bierbichler wiedergegeben. In Französisch, Italienisch und Spanisch werden einzelne Passagen nochmals wiederholt, wobei sowohl Rückgriffe als auch Vorgriffe, die den weiteren Verlauf andeuten, zu verzeichnen sind. Letzteres wird vor allem bei 23:38 deutlich, wenn in der französischen Übersetzung bereits auf das erst später feststehende Urteil – Lorbeer und Beil – hingewiesen wird. Mit dem Satzabbruch vor dem Wort »hache« für Beil wird zusätzlich Spannung erzeugt. Vereinzelte Ausschnitte aus Corneilles »Horace« stellen den zweitgrößten Textanteil dar. Dabei werden Monologpassagen und 25 Hörspielwerkstatt »Arbeitsgeräusche«, SWR 2002, 31:52-31:59. 26 Ebd., 33:04-33:15. 27 Wo bleibt denn da die Kunst?, RadioART SWR 2, Sendung vom 24.10.2006.
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Der Horatier einzelne Sätze vor allem der Figuren Camille, Sabine und des alten Horatiers aufgegriffen und thematisch passend an Müllers Textstellen montiert. Die Chronologie des Originaltextes wird dabei nicht gewahrt. So wird beispielsweise auf die Gedanken der Frauenfiguren zu Beginn des Dramas zurückgegriffen, obwohl bereits später folgende Ausschnitte rezitiert wurden. Hier wird jedoch die enge Verknüpfung mit Müllers Text deutlich, da Corneilles Monolog der beunruhigten Sabine auf die Auslosung des Horatiers und des Kuriatiers als Kämpfer bei Müller folgt. Sehr kurze Ausschnitte aus den Texten Livius’ und Faulkners sowie aus den drei Opern ergänzen diese beiden Haupttexte und heben ebenso bestimmte Passagen aus Müllers Text hervor. Dies wird beispielsweise an dem die Wörter »vincitore« (»Sieger«) und »assassino« (»Mörder«) wiederholenden Gesang von Wagner deutlich, der als Antwort auf die Fragen des Lorbeer- und des Beilträgers eingesetzt wird. Hans-Burkhard Schlichting konstatiert hierzu, dass Müllers Text »mit motivisch verwandten Zitaten aus Literatur- und Operngeschichte konfrontiert wird«28. Diese Zerlegung der Texte und Opern, die Selektion der verwendeten Ausschnitte, und die Neuordnung und Collage der Fragmente sind, wie bereits bei vorhergegangenen Analysen erläutert, ein Merkmal von Goebbels’ Umgang mit literarischen Texten in seinen Hörstücken – als Nutzung von vorhandenem Material: »Man kann Geschichten überhaupt nur noch dann erzählen, wenn man sie nicht mehr als ganzes [!] darbietet, sondern sie auflöst in ihre Bestandteile, in Einzelerlebnisse, die vielleicht unverbunden nebeneinander stehen, die Sprünge haben, die Brüche beinhalten. Das ist die Chance, so etwas wie eine Geschichte auch zu erfahren. [...] Die größte Veränderung im Moment besteht für mich darin, daß es keine Übergänge mehr gibt; und keine Entwicklungen, entweder, weil sie nicht mehr sichtbar sind, oder, weil sie tatsächlich nur noch in Brüchen zutage treten.«29
»Der Horatier« erscheint durch die Verwendung vielfältiger und kurzer Fragmente aus verschiedenen Texten und Opern bruchstückhafter und durch den Einsatz einer Vielzahl an Stimmen theatralischer als die vorhergehenden Hörstücke. Durch die zum Teil vorkommende Gleichzeitigkeit verschiedener Stimmen und verschiedener Textstellen zeigt das Hörstück Müllers Text im Kontext der
28 Schlichting, Hans-Burkhard: Hörspielarbeit, in: Lehmann, Hans-Thies/ Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 345-350, S. 350. 29 Stromberg, Tom/Cate, Ritsaert ten/Kerkhoven, Marianne von: Ich kann nie selber Thema sein, Theaterschrift 1/1992, zitiert nach: http://www.heiner goebbels.com/deutsch/interv/thema-d.htm vom 01.12.2008.
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Text als Klangmaterial Textvorlagen und anderer Stoffbearbeitungen und betont diesen. Die enge Verknüpfung mit diesen hebt bestimmte Handlungsfragmente hervor, beispielsweise die Trauer der Schwester und die Reaktion des Horatiers, was in Goebbels Interesse lag: »Es ist ein Gewinn an Konzentration auf bestimmte Aspekte der Fabel oder der Sprache oder des Mythos. Und damit wird die Arbeit auch in einem neuen Kontext verwendbar.«30 Diesen Kontext sieht Goebbels im aktuellen Zeitgeschehen zur Entstehungszeit des Hörstücks: »Mich interessiert [...], wie Urteile zustande kommen oder wie Urteile Abwehrmechanismen beschreiben. Nicht, daß es eine Schlacht gibt, die jemand gewinnt, sondern wie darüber gesprochen wird und wie unterschieden wird. Das ist für mich das Aktuellste am ›Horatier‹. In vielen Diskussionen, ob man die deutsche Geschichte als Ausgangspunkt, ob man die Stasi-Vergangenheit nimmt, ob man über Ausländerhaß und Rassismus redet, was auch immer an aktuellen Diskussionspunkten im Moment da ist, daran interessiert mich eigentlich immer eines: Wo schlagen Urteile in Meinungen um und was verbergen sie dabei.«31
Durch die Internationalisierung der dem Stoff zugrundeliegenden Problematik, die durch die Verwendung von verschiedenen Sprachen und Fragmenten aus der französischen und amerikanischen Literatur sowie aus italienischen Opern vollzogen wird, weist das Hörstück auf die Aktualität und Globalität des Konfliktes um den Horatier hin. So stellt Schlichting hinsichtlich des Bürgerkrieges in Jugoslawien in den 90er Jahren eine Aktualisierung des ›Horatier‹Stoffes in der 1991 uraufgeführten Musiktheaterinszenierung fest. Den weiteren, kürzeren Hörstückfassungen von »Der Horatier« liegen die gleichen Texte zugrunde, jedoch werden andere Schwerpunkte gesetzt. So werden in der französischen Fassung, »Chiens Romains«, die deutschen Passagen fast vollständig weggelassen, sodass sich das Hörstück auf die Rezitation der französischen Übersetzung von Müllers Text durch Wilms und die Figurenreden aus Corneilles »Horace« konzentriert. In »Roman Dogs«, der amerikanischen Version des Hörstücks, steht die Rezitation von Eric Gould im Vordergrund, der die englische Übersetzung der Texte von Livius und Müller überwiegend in Sprechgesang wiedergibt. Auch nimmt die Novelle »Sanctuary« von William Faulkner in »Roman Dogs« mehr Raum ein, indem längere Passagen aus ihr von Gould rezitiert werden. Bei dieser Fassung fällt auf, dass sie durch den vermehrten
30 Wo bleibt denn da die Kunst?, RadioART SWR 2, Sendung vom 24.10.2006. 31 Stromberg, Tom/Cate, ten Ritsaert/Kerkhoven, Marianne von: Ich kann nie selber Thema sein, Theaterschrift 1/1992, zitiert nach: http://www.heiner goebbels.com/deutsch/interv/thema-d.htm vom 01.12.2008.
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Der Horatier Einsatz von Musik, die fast durchgängig zu den Rezitationen erklingt, und auch durch den längeren Einsatz von Rezitationen weniger bruchstückhaft im Vergleich zur deutschen und zur französischen Fassung ist. Goebbels verwendet drei kurze Ausschnitte des Textes von Müller in einem weiteren Hörstück, »Surrogate Cities«, das den Versuch unternimmt, mit Orchester und Sampler sowie mittels verschiedener Textauszüge eine moderne Großstadt zu skizzieren.32 Da Müllers Text nur als ein kurzes Element unter vielen anderen in diesem Hörstück vorkommt, wird dieses nicht in einer detaillierten Analyse betrachtet, soll jedoch auch nicht unerwähnt bleiben. Bei den Tracks 11 bis 13, die den Titel »The Horatian – Three Songs« tragen und insgesamt eine Länge von 16 Minuten aufweisen, handelt es sich um drei von Jocelyn B. Smith mit starken Betonungen gesungene Passagen der englischen Übersetzung von Müllers »Der Horatier«, die durchgehend vom Orchester begleitet werden. Die Textstellen sind im ersten Track der Beginn von »Der Horatier«, die Exposition des Konflikts und die Auslosung des Horatiers und des Kuriatiers (Z. 1f., Z. 6-11, Z. 12-25), im zweiten Track die Tötung des Kuriatiers und der Schwester sowie das Urteil des Volkes (Z. 21f., Z. 22-38, Z. 40f., Z. 46-55, Z. 58, Z. 60f., Z. 188f., Z. 193-195, Z. 234f.) und schließlich im dritten Track die Entscheidung über die gleichzeitige Nennung von Verdienst und Schuld in der Zukunft (Z. 320-339). In dem ursprünglich als Konzert aufgeführten Hörstück wird Müllers Text also auf das Wesentlichste reduziert und als ein Blickwinkel von vielen auf das akustisch gezeichnete Bild einer Stadt präsentiert.
32 Vgl. Booklet zur CD, in: Goebbels, Heiner: Surrogate Cities, ECM New Series 1688, 2000.
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4.9 Herakles 2 oder die Hydra – Oder die glücklose Landung (SWR 2000/01/Théâtre des Amandiers, Paris/TAT Frankfurt am Main 1993) 4.9.1 TEXTANALYSE Bei dem kurzen Prosatext »Herakles 2 oder die Hydra« handelt es sich erneut um ein Intermedium aus »Zement«. Der Text um den antiken Helden, der einen Wald durchschreitet, weist bereits aus vorhergehenden Analysen bekannte, strukturelle Besonderheiten auf, wie zum Beispiel die in Versalien gedruckten und dadurch hervorgehobenen Sätze »ACH BLEIB BEI MIR UND GEH NICHT FORT AN MEINEM HERZEN IST DER SCHÖNSTE ORT« (Z. 99f.), »TOD DEN MÜTTERN« (Z. 102) und »BLEIB IM RAHMEN LASS DAMPF AB« (Z. 123). Die ersten beiden Sätze beziehen sich auf die Loslösung aus dem mütterlichen Schoß, den der Protagonist als Gefahr empfindet, die Hervorhebung des dritten Satzes scheint darin begründet, dass es sich um eine Vielzahl von Stimmen handeln soll, die diese Aufforderung in hoher Intensität auf Herakles wirken lassen. Der Text enthält des Weiteren eine große Anzahl von Wiederholungen der auch inhaltlich zentralen Begriffe »Fuß« im Singular und Plural, der die Körperlichkeit des Protagonisten darstellt, »Boden« (Z. 5, Z. 9, Z. 13, Z. 18, Z. 19, Z. 20, Z. 25), »Wald« und dessen Mehrzahl (Z. 1, Z. 33, Z. 42, Z. 46, Z. 47, Z. 50, Z. 59, Z. 65, Z. 70, Z. 74) als Umgebung, die als immer bedrohlicher empfunden wird, sowie die Wiederholung des explizit genannten Gegners, der als »Tier« (Z. 6, Z. 49, Z. 70, Z. 71, Z. 74, Z. 130) bezeichnet wird. Die Verbindung der Konjunktionen »und« und »oder«, wie sie beispielsweise in »Der Mann im Fahrstuhl« des Öfteren verzeichnet werden konnte, kommt im vorliegenden Text nur einmal vor, wobei einem »und« direkt ein »oder« in Klammern folgt (Z. 88). Die in dieser Zeile dargestellte andere Möglichkeit der Reaktion auf den Angriff des Tieres fällt durch die Klammer optisch auf. Die Varianten der Erklärungsversuche der Erlebnisse im Wald und der Möglichkeiten, die dem Protagonisten offenstehen, werden durch die alleinige Verwendung der Konjunktion »oder« (Z. 7, Z. 28, Z. 31, Z. 40, Z. 41, Z. 56, Z. 123, Z. 129, Z. 132) aufgezeigt, die sich des Öfteren am Satzbeginn befindet. Die Syntax betreffend lässt sich sagen, dass ein hypotaktischer Stil vorherrscht, der lange, detailreiche Relativsätze beinhaltet. Der letzte Satz erstreckt sich von Zeile 103 bis 137 und wird von Semikola unterteilt, jedoch nicht von Punkten. Der Lesefluss der langen und verschränkten Sätze vor diesem letzten Satz wird des Öfteren unterbrochen, wie zum Beispiel durch die Zahlen eins bis drei bei 242
Oder die glücklose Landung den Erklärungsversuchen zum Verhalten der Füße (Z. 17-21), die nacheinander aufgezählt werden. Auch Passagen, die aus direkt aufeinanderfolgenden, mehreren kurzen Parataxen bestehen, wie die Reaktion auf die Vermessung (Z. 62-65) oder der fast roboterhaft wirkende Umgang mit dem Angriff (Z. 81-89), unterbrechen den fließenden Rhythmus und konfrontieren dann den Leser stakkatoartig mit einer Vielzahl an Informationen. Seinen Höhepunkt erreicht dieses Verfahren in den Aufzählungen von mindestens drei einzelnen Wörtern, die nicht durch Kommata getrennt werden, obwohl der Text ansonsten keine Auffälligkeiten in der Interpunktion zeigt. So werden die Zeitangabe in der Antiklimax »Jahre Stunden Minuten« (Z. 22), die vom Wind von oben nach unten gestreiften Körperteile des Protagonisten »Gesicht Hals Hände[n]« (Z. 29), die entprechenden Maße »Hutnummer Kragenweite Schuhgröße« (Z. 41f.), der Angriff mit »Schlag Griff Stoß Stich« (Z. 86), die Waffen »Messer Beile Fangarme« (Z. 106), sowie »Minengürtel[n] Bombenteppiche[n] Leuchtreklamen Bakterienkulturen« (Z. 106f.) und schließlich die Verbindung dieser in einer Enumeration als »Messer Beile Fangarme Minengürtel Bombenteppich Leuchtreklame Bakterienkulturen« (Z. 108f.) ohne Kommata und Konjunktionen asyndetisch aneinandergereiht. Ebenso verhält es sich bei weiteren Körperteilen von Herakles, nämlich »Händen Füßen Zähnen« (Z. 110), der Schlacht aus »Blut Gallert Fleisch« (Z. 112) sowie bei den nachwachsenden Körperteilen »Fangarme Schrumpfköpfe Stehkragen« (Z. 125) und den Zuständen und Handlungen des Protagonisten am Ende des Textes, wenn er »war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt« (Z. 135f.) und »dachte änderte schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode« (Z. 136f.). Die Auflösung der gängigen Zeichensetzung korrespondiert dabei auf inhaltlicher Ebene mit der Auflösung der dem Protagonisten bekannten Umgebung, der Benennungen für diese sowie seiner Körperlichkeit. Der Text lässt sich in zehn kurze Abschnitte unterteilen. In der aus einem langen Satz bestehenden Exposition des Handlungsortes, dem Wald, und der Exposition des als »er« benannten Protagonisten auf dem Weg in die Schlacht mit dem als »Tier« benannten Gegner (Z. 1-6) wird bereits die vom Wald ausgehende Bedrohung deutlich. So ist der Wind »betäubend warm« (Z. 2), der Boden »schwankend« (Z. 5) und die Bäume werden mit Schlangen verglichen (Z. 3). Im nächsten Abschnitt (Z. 6-28) zeigt sich die Unsicherheit des Protagonisten zum einen bezüglich der Zeit, die er nicht einschätzen und messen kann (Z. 6f.), zum anderen bezüglich des Raumes und vor allem des Bodens, der durch beständige Wiederholung in den Fokus rückt. So stellt sich der Protagonist die Frage, was sich unter dem Boden, der alliterativ mit »unbekannte[s] Unten« (Z. 11) benannt wird, befinden könnte und warum dieser seine Füße anzieht. Der
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Text als Klangmaterial geheimnisvoll wirkende Untergrund und die körpereigenen Füße bilden dabei Gegenparts, um die die Gedanken des Protagonisten kreisen. Für die Schwere seiner Füße und deren gefühltes Ansaugen durch den Boden sucht er Erklärungen; die Antwort fällt schließlich überraschend aus: »Seine Füße wurden nicht schwerer, der Boden saugte seine Füße nicht an.« (Z. 24f.) Die vorherigen Erfahrungen werden als Sinnestäuschung erklärt und somit in Frage gestellt. Dies wird verstärkt, indem auch das folgende schnellere Gehen nicht der Realität zu entsprechen scheint: »Oder glaubte er nur schneller zu gehn.« (Z. 28). Die Natur verunsichert den Protagonisten zunehmend (Z. 28-42), Bäume und Äste berühren ihn, was er als systematisiertes Abmessen seines Körpers »von Kopf bis Fuß« (Z. 38) empfindet. Im vierten Abschnitt (Z. 42-58) setzt sich der Protagonist mit dem Wort »Wald« und dessen Semantik auseinander, was zur verstärkten Verunsicherung führt, denn die inhaltliche Bedeutung scheint aufgelöst: »Vielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus und alle andern Merkmale waren schon lange zufällig und auswechselbar geworden [...]« (Z. 47-49). Ebenso ist die Überlegung zu verzeichnen, dass auch das zu bekämpfende Tier »nur noch die Benennung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch« (Z. 52-54) sei. Hier ist anzumerken, dass die im Titel genannten Namen der Antagonisten Herakles und Hydra im gesamten Text nicht wieder aufgenommen werden. Aufgrund der auftretenden Beziehungen und Interaktionen des Personalpronomens »er« mit dem »Wald« beziehungsweise dem »Tier«, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass diese den im Titel erwähnten Antagonisten entsprechen. Im Gegensatz zu den feststehenden Bezeichnungen der Feinde, »Wald« und »Tier«, betont der Protagonist, selbst der beständig »Unbenannte« (Z. 54), »sich selber gleichgeblieben« (Z. 55), zu sein. Allerdings wird die beginnende Auflösung seiner Identität durch seine Unsicherheit angedeutet: »Oder war auch, was auf seinen Beinen [...] ging, schon ein andrer als er« (Z. 56-58). Der Wald greift den Protagonisten im nächsten Abschnitt (Z. 5969) stärker an. Der Protagonist empfindet die Berührungen nun nicht mehr als Streicheln oder Abmessen, sondern als Umklammerung und schmerzhafte »Operation« (Z. 62), die ihn in Panik versetzt. Diese wird durch die in diesem Abschnitt stakkatoartig aneinandergereihten Sätze, die mit dem Personalpronomen »er« beginnen (vgl. Z. 62, Z. 63, Z. 64, Z. 65) und die Reaktionen auf den Angriff beschreiben, verdeutlicht. Auch das Paradoxon der direkt aufeinanderfolgenden Sätze »Er wußte, nie war er schneller gelaufen« (Z. 64f.) und »Er kam keinen Schritt weit [...]« (Z. 65) drückt die Unausweichlichkeit der Umklammerung des Waldes, dem der Protagonist ausgeliefert ist, aus.
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Oder die glücklose Landung Der sechste Textabschnitt (Z. 70-81) beginnt mit der Erkenntnis des Protagonisten, dass die bisher als unabhängig wahrgenommenen Feinde in einem Wesen vereinigt sind: »der Wald war das Tier« (Z. 70). Der Protagonist begreift seine bisherigen Erfahrungen im Wald unter diesem neuen Blickwinkel und konstatiert schließlich, »daß er es immer gewußt hatte, nur nicht mit Namen« (Z. 76). Diese Erkenntnis ist mit körperlichem Schmerz verbunden, der die Kontrolle über den Körper des Protagonisten übernimmt und ihn in die Schlacht führt. Diese gestaltet sich im nächsten Abschnitt (Z. 8197) als Anpassung und gleichzeitige Nichtanpassung. Auf eine Strategie hin erfolgt eine Alternative oder eine Umkehrung, was man beispielsweise am Chiasmus »Angreifend ausweichen. Ausweichend angreifen« (Z. 84f.) und der Verbindung der Konjunktionen »und (oder)« (Z. 87) sehen kann. Der Körper des Protagonisten verwandelt sich dabei immer mehr zur Kampfmaschine, seine Extremitäten werden in ihren Einzelgliedern zu einsetzbaren Waffen und wehren sich gegen »den Schoß der ihn behalten wollte« (Z. 96f.). Im achten Abschnitt (Z. 97-102) wird auf diesen kurz näher eingegangen. Der Schoß, als Synonym für die Mutter beziehungsweise für den Ursprung, der ihn hervorgebracht hat, erscheint dem Protagonisten als Bedrohung: »Jeder Schoß, in den er irgendwie geraten war, wollte irgendwann sein Grab sein« (Z. 97f.). Die in Versalien gedruckte Aufforderung »ACH BLEIB BEI MIR UND GEH NICHT FORT AN MEINEM HERZEN IST DER SCHÖNSTE ORT« (Z. 99f.), die zwei Zeilen aus dem Volkslied »Wie die Blümlein draußen zittern« aus dem 19. Jahrhundert entspricht1, steht dabei zum einen im Gegensatz zur Anklage des Protagonisten den »mütterlichen Würgegriff[s]« (Z. 101f.) betreffend, zum anderen kann sie als Vorausdeutung des Abschieds von diesem Schoß gesehen werden. Mit der Forderung »TOD DEN MÜTTERN« (Z. 102) endet der Abschnitt abrupt und der Text wendet sich wieder dem Körper des Protagonisten zu. Die Körperteile des Protagonisten gleichen mechanischen Waffen, wie Messern, Beilen und Fangarmen, als auch modernen, sogar biologischen Waffen – »Minengürtel Bombenteppiche Leuchtreklamen Bakterienkulturen« (Z. 108f.) –, mit denen eigentlich der Feind aufwartet. Die Zerlegung des Körpers in kleinste Teile und die Wiederzusammensetzung, die nicht immer richtig gelingt – »linke Hand an rechten Arm, Hüftknochen an Oberarmknochen« (Z. 120f.) –, 1
Vgl. Klusen, Ernst (Hg.): Deutsche Lieder. Texte und Melodien, Frankfurt am Main 1980, S. 364. Bei Klusen lauten die Zeilen leicht abgeändert wie folgt: »O bleib bei mir, o geh nicht fort, / mein Herz ist ja dein Heimatsort!« Die von Müller verwendete Version findet sich jedoch auf einigen Internetseiten, wie beispielsweise auf der des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege wieder: http://www.heimat-bayern.de/musik/blaetter/mi-ufr/ Wenn_die_Bluemlein.pdf vom 01.12.2008.
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Text als Klangmaterial lässt die Schlacht immer mehr in den Hintergrund rücken und nimmt stattdessen eine zentrale Rolle ein. Im letzten Textabschnitt (Z. 127-138) wird die Abkehr vom Kampf gegen den Feind besonders deutlich. Der Protagonist wartet »gierig [...] auf die gänzliche Vernichtung mit Hoffnung auf das Nichts, die unendliche Pause« (Z. 127-129), denn er selbst ist Teil des Tieres, gegen das er kämpft (vgl. Z. 131). Das Ende des Kampfes, auf das durch das synästhetische »weiße Schweigen« (Z. 133) hingedeutet wird und das in seiner Farbsymbolik an das Ende von »MAeLSTROMSÜDPOL« erinnert, gestaltet sich für den Protagonisten als vollkommene Symbiose mit dem ursprünglichen Feind, der nun auch als »Maschine« (Z. 134) bezeichnet wird. Das Intermedium »Herakles 2 oder die Hydra« befindet sich am Ende des Aktes »Die Bauern« in »Zement« und kommentiert diesen. Dem Prosatext geht die Ansprache von Badjin, dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees, an die Bauern voraus. Darin sorgt sich dieser einerseits um die Volkswirtschaft und verkündet die Abschaffung der Auflagen: »Nicht Blut, sondern Land, nicht Menschenmaterial für Schlachten, sondern Hände für die friedliche Feldarbeit. Nicht die Zwangsauflage, sie ist abgeschafft, sie existiert nicht mehr, ihr werdet nicht mehr davon hören, sondern der freie Handel.«2 Daraufhin hören die Bauern der folgenden Preisung Lenins nicht mehr zu, verlassen lärmend den Platz und hinterlassen dort Waffen – »Gewehre, Revolver, Knüppel, Messer«3. Die Einführung der ›Neuen Ökonomischen Politik‹ (NEP) und die damit zusammenhängende Lockerung staatlicher Kontrollen von Betrieben besänftigt die Bauern, die sich vorher gegen die Zwänge mit Waffen wehren wollten.4 Die NEP diszipliniert so die aus den Fugen geratene und zunehmend brutale Revolution. Zudem soll die Reform, nach einer vorhergehenden Aussage Badjins, den Kampf gegen den Kapitalismus sicherstellen: »Da wir den Kapitalismus nicht beseitigen können, werden wir den Kapitalismus ausbeuten«5. So sollen Charakteristika der kapitalistischen Wirtschaft zum Teil übernommen und damit Produktionsoptimierung erreicht werden. Müller stellt hierzu in seiner Anmerkung zu »Zement« fest: »Der Akzent liegt nicht auf 2 3 4
Müller, Heiner: Zement, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 379-467, S. 423. Ebd. Vgl. dazu den Bericht von Borschtschi: »Der Bauer lag hinter dem Dreschkasten mit dem Maschinengewehr und schoß wie ein Verrückter. […] Der Bauer war verrückt geworden, weil sie ihm sein Vieh weggenommen hatten, unsre oder die andern, und von da ab hat er auf alles geschossen, Hund oder Katze, Rot oder Weiß, was vorbeikam. […] Ich garantiere für nichts, wenn wir die Bauern in den Wahnsinn treiben.«, in: ebd., S. 409f.
5
Ebd., S. 412.
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Oder die glücklose Landung der Versöhnung mit den Feinden des Sozialismus, sondern auf der Möglichkeit der Verwertung ihrer Arbeitskraft durch den proletarischen Staat.«6 Der Kampf des Protagonisten und schließlich seine Verschmelzung mit dem Feind im Intermedium zeigen diese Einnahme des ursprünglich Kämpfenden, der, da er selbst zum Teil des feindlichen Systems wird, sich diesem ergibt. Das Intermedium kommentiert somit die im übergeordneten Text verkündete Einführung der Reform und verweist auf ihre Auswirkungen. Der ursprüngliche, mythologische Stoff, nach dem der Held Herakles als eine seiner zwölf Aufgaben im Dienste von Eurystheus die lernäische Hydra, eine vielköpfige Wasserschlange, nach einem langen Kampf gegen die nachwachsenden Köpfe schließlich besiegt7, wird bei Heiner Müller stark reduziert und verfremdet. Der Kampf mit nachwachsenden Waffen ist auch bei ihm gegeben. Im Intermedium ist der Protagonist von Anfang an jedoch Teil des Feindes, indem er den Wald durchschreitet. Schließlich kämpft er gegen sich selbst und kann die Hydra nicht besiegen beziehungsweise weicht einem Sieg aus. Die Figur des Herakles erfährt auch innerhalb verschiedener Texte Müllers, in denen er Thema ist, eine Veränderung. So ist dieser noch in »Herakles 5« ein Held, der seine Aufgabe im Stall des Augias bewältigt und »die widerständige Natur«8 bezwingt, ebenso besiegt er den Adler im Intermedium »Die Befreiung des Prometheus« (vgl. Kapitel 4.3.1). In »Herakles 2 oder die Hydra« trägt er jedoch nicht einmal mehr einen Namen, sondern wird im gesamten Text lediglich mit dem Personalpronomen »er« bedacht, ohne dass die Figur näher charakterisiert wird, und gewinnt nicht mehr. Der Kampf Herakles’ gegen die Hydra war seit 700 v. Chr. stark in der Ikonographie verhaftet9 und galt später als Bild für die Revolution und »den antikapitalistischen Kampf der Arbeiterklasse« 10 , wie Thomas Weitin feststellt. Genia Schulz übernimmt in ihrer Deutung dieses Bild und sieht in Herakles die russische Revolution, die in die Schlacht gegen den Weltimperialismus und »die Hydra der historischen Bedingungen, der Naturgewalt, des labyrinthischen Ge-
6
Ebd., S. 466f.
7 8
Vgl. Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 5, Stuttgart 1998, S. 388f. und S. 773f. Emmerich, Wolfgang: Griechische Antike, in: Lehmann, Hans-Thies/Prima-
9
vesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 171-178, S. 175. Vgl. Cancik, Hubert/Schneider, Helmut (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie
der Antike. Band 5, Stuttgart 1998, S. 392f. 10 Weitin, Thomas: Technik – Ökonomie – Maschine, in: Lehmann, HansThies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 104-108, S. 105.
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Text als Klangmaterial schichtsprozesses«11 zieht. In »Herakles 2 oder die Hydra« wird der Kampf, bezogen auf die in »Zement« vorhergehende Handlung, jedoch eher umgekehrt, so dass die Hydra nicht den Kapitalismus, sondern die Revolution, die ihre Feinde brutal überrollt, symbolisiert. Weitin spricht hier von einer »proletarischen Hydra«12, mit der Herakles als Arbeiter ringt. Auch Gerhard Fischer konstatiert diese Umdeutung: »Während in der konventionellen Revolutions-Ikonographie Herakles als der kommunistische Held erscheint, der in der Hydra die vielgestaltigen Kräfte der Konterrevolution besiegt, erweist sich bei Müller schon der Weg des Helden durch den Urwald (des Mythos) auf der Suche nach dem Monster als ein nicht endender Irrweg.«13
In die Irre führte der Weg der Sowjetunion durch die NEP und das Misslingen der Revolution in Deutschland, die helfen sollte, die sowjetische Wirtschaft zu retten14. Müller selbst kommentiert diesen Weg in seiner Autobiographie mit »Sozialismus in einem unterentwickelten Land hieß Kolonisierung der eigenen Bevölkerung«15, was nach Fischer als Erkenntnis der Entwicklung des Realsozialismus als Sackgasse zu werten ist.16 Die Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem mütterlichen Schoß sowie die Einnahme des Protagonisten, des Subjekts, durch den von ihm durchschrittenen Raum deuten sowohl Florian Vaßen als auch Georg Wieghaus als die Gegenüberstellung eines arbeitenden Menschen und seiner Arbeit beziehungsweise der Geschichte. 17 Bei der Auseinandersetzung mit seinem Umfeld ver11 Schulz, Genia: Heiner Müller, Stuttgart 1980, S. 62f. 12 Weitin, Thomas: Technik – Ökonomie – Maschine, in: Lehmann, HansThies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 104-108, S. 105. 13 Fischer, Gerhard: Zement, in: ebd., S. 298-302, S. 301. 14 Vgl. dazu die Aussage Badjins in »Zement«: »Es gibt keine Revolution mehr in Deutschland«, in: Müller, Heiner: Zement, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 379-467, S. 424. 15 Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005, S. 192. 16 Fischer, Gerhard: Zement, in: Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 298-302, S. 301. 17 Vgl. Wieghaus, Georg: Zwischen Auftrag und Verrat. Werk und Ästhetik Heiner Müllers, Frankfurt am Main 1984, S. 189 und Vaßen, Florian: Der Tod des Körpers in der Geschichte. Tod, Sexualität und Arbeit bei Heiner Müller, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Heiner Müller, München 1982 (= TEXT+KRITIK 73), S. 45-57, S. 46f.
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Oder die glücklose Landung schiebt sich die Zugehörigkeit des Protagonisten, der zunächst als vom Tier verfolgtes Opfer erscheint und schließlich zum Subjekt des historischen Prozesses wird. 18 Carlotta von Maltzahn bezieht den Kampf des Protagonisten auf den Revolutionsprozess und setzt den Tod des alten Ich einer gesellschaftlichen Umwälzung voraus, denn »[...] durch den Revolutionsprozeß muß das ›Ich‹ zu Ende geboren oder besser neu geboren werden, indem die Nabelschnur zur Mutter endgültig getrennt wird«19. Mit der Loslösung des Protagonisten aus dem Schoß kann der eigentliche Geburtsprozess der Revolution beginnen und eine neue Identität festgelegt werden. Da Zeit und Raum sowie die Bedeutung der Worte vom ihm nicht mehr genau zu bestimmen sind, hegt der Protagonist auch an seiner eigenen Identität Zweifel, die sich mit der Zerlegung und neuer Zusammensetzung des Körpers verstärken. Bezüglich des stetigen Verlustes der Kontrolle über diesen Körper und der Entwicklung zur Kampfmaschine stellt Bettina Gruber fest: »Herakles wird zum Plural, zu einem Subjekt mit vielen Gliedern, die unabhängig von ihm funktionieren.«20 Das Individuum wird durch die ›unzähligen‹ Glieder zu einem Kollektivsubjekt21, dessen Körpergrenzen sich schließlich nicht mehr festlegen lassen, da seine Glieder von denen der Hydra nicht mehr zu unterscheiden sind. Der Ausgang der Schlacht zwischen dem Protagonisten und der Hydra bleibt offen, nach Sascha Löschner deutet dieser Schluss eine Aussicht auf Veränderung als die Bewältigung des Konflikts an.22 Auch Wieghaus sieht diese Möglichkeit einer neuen Identität des Protagonisten, die jedoch seine Loslösung vom Alten beziehungsweise seine Selbstzerstörung voraussetzt. Das »weiße[n] Schweigen« (Z. 133), das mit der Farbe Weiß wie in »MAeLSTROMSÜDPOL« auf einen Umbruch hindeutet, steht in »Herakles 2 oder die Hydra« »zugleich für Hoffnung und Furcht, ist Zeichen für das Fremde, das sowohl die Möglichkeit der Aufhebung als auch der Zementierung des Schreckens in sich birgt« 23 . Diese dargestellte Ambivalenz ist stimmiger als die Betonung der Hoffnung durch Löschner, da sie in der direkten Verknüpfung von »de[n] Arbeiten und Tode« (Z. 138) als letzte Worte des Textes deutlich wird. Der 18 Vgl. Wieghaus, Georg: Zwischen Auftrag und Verrat. Werk und Ästhetik Heiner Müllers, Frankfurt am Main 1984, S. 189. 19 Maltzahn, Carlotta von: Zur Bedeutung von Geschichte, Sexualität und Tod im Werk Heiner Müllers, Frankfurt am Main u.a. 1988, S. 106. 20 Gruber, Bettina: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, Essen 1989, S. 102. 21 Ebd., S. 104. 22 Löschner, Sascha: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche, Frankfurt am Main 2002, S. 233. 23 Wieghaus, Georg: Zwischen Auftrag und Verrat. Werk und Ästhetik Heiner Müllers, Frankfurt am Main 1984, S. 203.
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Text als Klangmaterial Ausgang der Revolution bleibt so bis zur letzten Zeile des Textes ungewiss.
4.9.2 VERHÄLTNIS ZWISCHEN NATUR UND MENSCH – ANALYSE DES HÖRSTÜCKS »Oder die glücklose Landung« entstand als ›Live‹-Hörstück aus dem französischsprachigen Musiktheaterstück »Ou bien le débarquement désastreux«, das 1993 für das Théâtre des Amandiers von Goebbels konzipiert wurde. Auf der deutschsprachigen Fassung, die 2000 während der Freiburger Hörspieltage erstaufgeführt wurde, basiert der 76-minütige Mitschnitt des Südwestrundfunks, der der folgenden Analyse zugrunde liegt. Goebbels nähert sich in »Oder die glücklose Landung« dem Thema Wald aus drei unterschiedlichen Perspektiven mittels vier verschiedener Texte von Joseph Conrad, Heiner Müller und Francis Ponge sowie mittels unterschiedlicher Musikstile an. Das Hörstück beginnt mit einer freistehenden, hell klingenden Melodie der Kora, einem harfenartigen, traditionellen Instrument der westafrikanischen ›Griots‹. Diese sind Berater, Musiker und Geschichtenerzähler ihrer Völker und existieren bis heute in Mali, Gambia und dem Senegal. Mit der Darbietung einer bestimmten Form des Gesangs fungieren die ›Griots‹ als kulturelles Gedächtnis ihrer Heimat.24 Die hellen Klänge werden rasch von Zischen, E-Gitarre-Tönen und schließlich von treibenden Industriegeräuschen abgelöst, was schon hier die Gegenpole von Naturbelassenheit und Zivilisation andeutet. Der Mensch, der den Wald durchschreitet und dessen Sprechparts stets durch Ernst Stötzner (M1) wiedergegeben werden, erscheint zunächst in der Figur des Protagonisten aus Conrads »Kongo-Tagebuch«, der sich im Sommer 1890 im Kongo immer mehr von der Zivilisation entfernt und in die Wildnis eintaucht. 25 Die sachlich vorgetragene Rezitation von Conrads Text setzt mit den Ereignissen des 28. Juni 1890 ein. Der Protagonist wird auf seiner Reise zunächst noch begleitet, passiert einen Militärposten und campiert dann in Gegenden, in denen Mücken und weit entferntes Wasser für seinen Unmut sorgen. Während der Rezitation sind auf musikalischer Ebene immer wieder hohe und laute Akzente durch die E-Gitarre zu vernehmen, während die Trombone im Hintergrund spielt. Ab 04:15 ist abermals die Kora-Melodie vom Beginn des Hör-
24 Vgl. Dorsch, Hauke: Globale Griots. Performanz in der afrikanischen Diaspora, Münster 2006, S. 4f. 25 Vgl. Conrad, Joseph: Kongo-Tagebuch, in: ders.: Herz der Finsternis, Zürich 8
2008, S. 153-161.
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Oder die glücklose Landung stücks zu hören. Polyphon dazu setzt wieder die Rezitation Stötzners ein, diesmal mit dem Beginn des Intermediums »Herakles 2 oder die Hydra« von Müller. Stötzners Sprechduktus ist im Vergleich zur Rezitation des Textes von Conrad sanfter und leiser. Müllers Text wird zunächst chronologisch bis zur Unsicherheit des Protagonisten über die zeitliche Orientierung wiedergegeben, wobei in den Sprechpausen kurze musikalische Akzente mit der Trombone gesetzt werden, die den Text in Fragmente unterteilen und ihn rhythmisieren. Der darauffolgende Abschnitt beginnt mit einem harten Schnitt und einem scharfen Akzent von gezogenen E-Gitarre-Tönen, was den Übergang zu Conrads Text deutlich markiert. Von 04:56 bis 09:26 wird ein Teil des ›Kongo-Tagebuches‹ weiterhin sachlich rezitiert. In ihm campiert der Protagonist am Ufer des Flusses Luinzono, passiert Dörfer und gibt die Natureindrücke während seiner Reise in sehr knappen und sachlichen, oft ohne Verben auskommenden Notizen wieder, wie in folgender Passage deutlich wird: »Vorherrschender Farbton der Landschaft grau-gelblich (trockenes Gras), mit rötlichen Flecken (Erde) und Flecken dunkelgrüner Vegetation hie und da, meist in steilen Einschnitten zwischen den Bergen oder in Schluchten, die die Ebene zerschneiden« (07:51-08:17). Nach dieser Textpassage und kurzzeitiger Stille, die abermals einen Übergang anzeigt, wird die Kora-Melodie vom Beginn wieder aufgenommen. Zunächst steht die Musik frei und wird dann von der diesmal etwas lauter gestalteten Rezitation Stötzners unterlegt, der den bereits gelesenen letzten Satz aus Müllers Text wiederholt und den Text dann weiterführt. Herakles’ fortschreitender Verlust der Orientierung in Zeit und Raum wird punktuell von lauten, mechanisch und nach Industrie klingenden Geräuschen wie Zischen und Splittern angedeutet. Diese übertönen die Kora-Melodie und lassen eine bedrohliche Klangkulisse entstehen. Die Verknüpfung von langgezogenen, tiefen Klängen, Beats und den genannten Geräuschen beendet die Textpassage und leitet nach einem ›Fade Out‹ wieder zum »Kongo-Tagebuch« über. Während der Beschreibung eines Aufenthalts abseits der Dörfer berichtet der Protagonist von der Begegnung mit drei Frauen, von denen eine an Albinismus leidet und von ihm als äußerst hässlich empfunden wird. Die unangenehmen Empfindungen gegenüber den Einwohnern und den quälenden Mücken werden von den genannten langgezogenen Geräuschen und Klängen, die an- und abschwellen, intensiviert. Nach dem letzten ›Fade Out‹ in dieser Passage herrscht auf musikalischer Ebene Stille, die nur von Trombone-Klängen in Sprechpausen unterbrochen wird. Auf der sprachlichen Ebene wird der Unmut des Protagonisten verstärkt, der diesen unter anderem mit »Langsam habe ich genug von dem Spaß« kommentiert. Ab 14:38 wird das Musikthema der Kora erneut aufgenommen. Zum ersten Mal er-
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Text als Klangmaterial klingt dazu der senegalesische, sehr rhythmische ›Griot‹-Gesang von Boubakar Djebate (M2) – später auch von Sira Djebate (F) –, der bis zum Ende des Hörstücks mit den Textrezitationen verzahnt wird. Polyphon zum Gesang setzt Stötzner mit der weiteren Rezitation von »Herakles 2 oder die Hydra« ein, in der der Wald mit seinen Ästen den Körper des Protagonisten erfasst, ihn streichelt und vermisst. Dabei klingt der Gesang des ›Griot‹-Sängers zunehmend lauter und aggressiver. Der Text Müllers wird immer wieder von musikalischen Akzenten unterbrochen, wobei es sich diesmal nicht um natürliche Sprechpausen handelt, sondern um Abbrüche, wie bei »Wer oder was lenkte die Bewegungen dieser Bäume, Äste oder was immer da [...]« (16:03-16:14) oder »Vielleicht [...]« (16:16). Nach dem letzten musikalischen Akzent erfolgt ein harter Schnitt, nach dem der Gesang von Sira Djebate, begleitet von der Kora-Melodie, erklingt. Von 16:30 bis 20:50 liegt der Fokus auf der musikalischen Charakterisierung der Umgebung im »Kongo-Tagebuch«. So wird nach der kurzen Ansage »Dienstag, 8. Juli. Ankunft in Manyanga um 9 Uhr abends« (16:33-16:38) mit verschiedenen, hohen und tiefen Trombone-Tönen, die freistehen und Tiere im Dschungel erahnen lassen, ein Eindruck von der Gegend, in der sich der Protagonist des ›Kongo-Tagebuches‹ befindet, vermittelt. Mit der freistehenden, nüchternen Feststellung »Blieben in Manyanga bis zum 25. Waren beide krank« (20:50-20:54) endet dieser Abschnitt. Als Überleitung zu Müllers Text fungiert der Gesang von Sira Djebate, der von der leitmotivischen Kora-Melodie begleitet wird. In der dann von Stötzner rezitierten Passage zeigt sich der Protagonist verunsichert über die Bedeutung der Bezeichnungen »Wald« und »Tier« sowie schließlich über die eigene Identität. Nach der Feststellung einer schmerzhaften Operation beendet der aggressive Gesang von Boubakar Djebate den Text Müllers. Ein harter Schnitt leitet eine sehr starke Verdichtung von Musik mit vielen musikalischen Akzenten und Sprache ein. Die so entstehende Dynamik korrespondiert mit der inhaltlichen Unruhe im »Kongo-Tagebuch«. Darin passiert der Protagonist jeden Tag andere Orte, die er im Tagebucheintrag nicht näher beschreibt, sondern lediglich stakkatoartig erwähnt: »Freitag 25. Nkhenghe. Samstag 26. Nsona. Sonntag 27. Nkandu. Montag 28. Nkonzo.« (24:31-24:47). Stötzner erhöht die Dynamik zusätzlich, indem er die Daten und Orte laut und rhythmisch ausruft. Abermals leitet der ›Griot‹-Gesang Sira Djebates zu Müllers Text über, der von der leitmotivischen Kora-Melodie begleitet wird. Diesmal wird die Musik jedoch schneller, wirkt treibend und intensiviert den Eindruck der Verunsicherung und des Getriebenseins, den die Figur des Herakles mit der Erkenntnis, dass es sich beim Wald bereits um den Feind handelt, und dem Beginn der Schlacht vermittelt, was Stötzner mit vielen Zäsuren vorträgt.
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Oder die glücklose Landung Nach ›Griot‹-Gesang und einem harten Schnitt erfolgt ein abrupter Musikwechsel hin zu treibender Musik, bei der E-Gitarre und Schlagzeug sowie im weiteren Verlauf die Trombone im Vordergrund stehen, und zur Schilderung von Conrads Protagonisten über die Ereignisse in Nkenghe. Das bewaldete Land ist trostlos, der Protagonist geht an einem Skelett und einem unbeschrifteten Grab vorbei, während sein Begleiter akut an einer Kolik leidet. Nach diesem Eintrag fängt Stötzner erneut an, weitere Daten und Orte auszurufen: »Donnerstag 31. Nkandu. Freitag 1. August Nkonzo. Samstag 2. Nkenghe. Sonntag 3. Nsona. Montag 4. Nkandu. Dienstag 5. Nkonzo. Mittwoch 6. Nkenghe.« (30:14-30:57). Nach abrupter Stille und ›Griot‹-Gesang, der vollkommen freisteht, erfolgt, ebenso freistehend, die weitere Rezitation von Conrads Text, in dem der Protagonist in eine veränderte Landschaft eintritt: »Freitag, 1. August 1890. Anblick der Landschaft gänzlich verändert. Bewaldete Hügel mit Lichtungen. Pfad fast den ganzen Nachmittag über durch den Wald aus leichten Bäumen mit dichtem Unterholz.« (32:36-33:07). Der Protagonist reagiert jedoch weiterhin mit Unmut auf diese Landschaft: »Mücken. Frösche. Biestig. Fühle mich eher abgespannt.« (34:02-34:12). Es schließt der Beginn von Conrads »Up-river Book«26, einer Art Navigationshilfe für Schifffahrten, an – »Bei der Abfahrt – von A, wenn man an den beiden Inseln vorbei ist, auf Baumgruppe zuhalten« –, bei dem Stötzners Stimme zweistimmig und leicht zeitversetzt erklingt. Die Baumgruppe ist Ziel der Fahrt, die von einem sanften Grundton mit Akzenten begleitet wird. Nach Sira Djebates Gesang mischen sich weitere Stimmen von Männern, Frauen und Kindern hinzu, die rufend und lachend einen kurzen Eindruck von der Heimat der ›Griot‹-Sänger geben. Ab 35:22 setzt auf der textlichen Ebene der Kampf des Herakles ein, der durch rhythmische Kora-Klänge und Akzente von Trombone und Schlagzeug intensiviert wird. Ebenso rhythmisch gestaltet Stötzner die Rezitation der Textpassage, in der mehrfach die Taktik des Protagonisten wiederholt wird. Dabei ist – mit unterschiedlichen Anfängen – in jeder der vier Wiederholungen folgender Textbaustein enthalten: »Sich den Bewegungen des Gegners anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend ausweichen. Ausweichend angreifen. Dem ersten Schlag Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten ausweichen. Umgekehrt.«
26 Vgl. Conrad, Joseph: Up-river Book, in: ders.: Herz der Finsternis, Zürich 8
2008, S. 163-190.
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Text als Klangmaterial Ohne ein verbindendes Element geht die textliche Ebene ab 37:48 in einen weiteren kurzen Ausschnitt aus dem »Up-river Book« über, während auf der musikalischen Ebene ein sanfter Grundton zu hören ist. Während im ersten Textausschnitt aus dem »Up-river Book« der Weg auf dem Wasser auf die Bäume gelenkt werden soll, wird nun, erneut zweistimmig und leicht asynchron, von Stötzner die Aufforderung, von einer Klippe weit abzuhalten, rezitiert. Nach einer kurzen Gesangspassage von Sira Djebate erklingt das leitmotivische Thema der Kora und führt in eine lange Sprechpassage (40:0447:36), die nur punktuell vom ›Griot‹-Gesang unterbrochen wird. Stötzner gibt Müllers Text auf ruhige Weise wieder. Dabei werden die Problematik der Semantik der Bezeichnungen, die zunehmende Einnahme des Protagonisten durch den Wald, sowie die Erkenntnis, dass es sich beim Wald bereits um das Tier handelt, wiederaufgenommen. Danach wird der Text weitergeführt, schließt nochmals an die Anpassung und Nichtanpassung als Kampftaktik und Herakles’ Wahrnehmung des eigenen Körpers als Kampfmaschine an. Eingebettet zwischen Gesangspassagen von Sira und Boubakar Djebate und begleitet von sphärisch anmutenden Klängen erfolgt die Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem mütterlichen Schoß. Das »alte Lied« – »ACH BLEIB BEI MIR UND GEH NICHT FORT AN MEINEM HERZEN IST DER SCHÖNSTE ORT« – wird hervorgehoben, indem es von Stötzner recht hoch und leise gesungen wird und mittels Betonungen mit den Klängen der musikalischen Ebene korrespondiert. Auch die Forderung »TOD DEN MÜTTERN« erhält eine herausgehobene Stellung, da sie die Textpassage abschließt. Zwar wird ab 47:38 weiterhin aus »Herakles 2 oder die Hydra« rezitiert, vorher erfolgt jedoch ein Musikwechsel hin zu rhythmischen Schlägen. Die Darstellung der Ähnlichkeit der Extremitäten des Protagonisten mit den Waffen des Feindes wird von der Kora und einer treibenden Trombone-Melodie in ihrer Intensität verstärkt. Bei der Fragmentarisierung und der darauffolgenden Zusammensetzung des Körpers beruhigt sich die Musik kurzzeitig, um bei der vom Protagonisten, als ob von vielen Stimmen formuliert, sechsfach wiederholten Forderung »BLEIB IM RAHMEN LASS DAMPF AB GIB AUF« wieder anzuschwellen. Kurz bleibt die Musik freistehend (50:2950:44), danach rezitiert Stötzner die Hoffnung auf eine Niederlage – die zum Nichts führt – , die Angst vor dem Sieg und schließlich sehr leise noch einmal die obige Forderung in vierfacher Wiederholung. Ein zunächst freistehender, ruhiger, tiefer Ton, mit dem das Knarzen von Holz assoziiert werden kann, bildet die Überleitung zu Ausschnitten aus dem vierten Text – Francis Ponges »Das Notizbuch vom Kiefernwald«. Die Erforschung eines Waldes und seiner Bäume, die in Form von Tagebuchaufzeichnungen verfasst wurde, entstand
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Oder die glücklose Landung 1940 in einem französischen Wald bei La Suchère.27 Ponge unternimmt darin den Versuch, den vorgefundenen Kiefernwald durch Sprache als Objekt nachzukonstruieren und ihn so, mittels des Textes, zu »erobern«.28 Im Hörstück wird zunächst ein Ausschnitt vom Anfang, die Eintragung des 7. August, rezitiert (52:14-54:10), der eine kurze Auslassung aufweist: »7. August. Das Vergnügen in den Kiefernwäldern. Das Vergnügen in den Kiefernwäldern: Man kommt da leicht voran (zwischen den großen Stämmen, die etwas von Bronze und Kautschuk haben). Keine niederen Äste. Kein Durcheinander weder Gewirr von Lianen noch sonstige Sperren. Setzt man sich, so kann man sich bequem ausstrecken. Ein allgegenwärtiger Teppich. Vereinzelte Felsblöcke als Mobiliar, ein paar sehr kleinwüchsige Blumen. Es herrscht eine bewährt-gesunde Atmosphäre, ein diskret maßvoller Duft, eine vibrierende Musikalität, die zugleich auch sanft und erquickend ist. Diese großen violetten Masten. [...] Neger oder deren kreolische Nachfahren.«
Nach diesem ersten Eindruck des Schreibenden vom Kiefernwald, in dem er die vorgefundenen Bäume mit Vergleichen und Bezeichnungen aus seinem Alltag zu erfassen versucht, erfolgt in einer weiteren Aufzeichnung – am Nachmittag desselben Tages – erneut die Suche nach den richtigen Worten für die Beschreibung. Wie präzise sich der Schreibende ausdrücken will, wird an der Überlegung zum Adjektiv »robust«, das er nicht als adäquat ansieht, deutlich. Mit den Wiederholungen des Vergleichs der Baumkronen mit »dicke[n] Teppiche[n]« und der Beschreibung als ein »Schaft, ein Kegel und kreisförmige Zapfen« wird diese Textpassage geschlossen. Begleitet von kurzen Gitarre- und Trombone-Akzenten, die polyphon zu einem anhaltenden tiefen Ton zu hören sind, rezitiert Stötzner den Text sehr ruhig und leiser werdend, aber auch mit einer gewissen Neugier in der Stimme. Einer freistehenden Musikpassage (55:47-58:15), in der eine ruhige Keyboard-Melodie mit hohen Klängen der Trombone versetzt wird, was an Vogelgesang erinnert, folgt abermals der ›Griot‹-Gesang von Sira und Boubakar Djebate, während die Musik in das leitmotivische Thema mündet, dem tiefere Klänge beigemischt sind, was eine ruhige und nachdenkliche Stimmung erzeugt. Diese wird ab 60:01 unmittelbar unterbrochen, indem Zischen und wabernde, unruhige Kläge die Musik ablösen. Dazu wird Ponges Text von Stötzner fortgeführt. Der Ausschnitt aus dem Eintrag vom 8. August widmet sich dem Grün der Bäume, das sich wie »Teppiche von Ja-
27 Vgl. Ponge, Francis: Die übrigen Seiten des Notizbuchs, in: ders.: Das Notizbuch vom Kiefernwald und La Mounine, Frankfurt am Main 21995, S. 6771, S. 67. 28 Vgl. ebd., S. 69.
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Text als Klangmaterial de« vor dem Beobachtenden erstreckt. Weitere Einträge, die die Stimmung des Schreibenden bei der Erforschung des Waldes als das »Wohlgefühl a) des Spazierengehens« und »b) bei der Besinnung« »[e]in Lebensgefühl wie in Kulissen« beschreiben, werden zusätzlich von einer sehr rhythmischen Kora-Melodie im Vordergrund und Trombone-Klängen begleitet. Diese Melodie wird zunehmend schneller und rhythmischer, das Zischen lauter. Die Verdichtung nimmt ab 65:03 eine Geschwindigkeit an, die an Vorwärtsspulen erinnert, bevor sie in einem ›Fade Out‹ endet. Von 65:25 bis 67:42 ist erneut eine freistehenden Musikpassage zu hören, die mit einer hellen Kora-Melodie und sich ziehenden E-Gitarre- und Trombone-Tönen die durch die Verdichtung erzeugte Spannung wieder löst und das Durchschreiten des Waldes erahnen lässt. Danach setzen stärkere Musikakzente in Sprechpausen ein, während auf der sprachlichen Ebene die Entstehung des Holzes im Kiefernwald mit akribischer Genauigkeit beschrieben wird. Dabei betont Stötzner die sich wiederholende Ortsangabe »hier« mit kurzen Zäsuren. Der Satz »In Serie, industriell, aber mit einer majestätischen Langsamkeit fabriziert sich hier das Holz« (68:35-69:02) wird mit einem lauten, schnellen und sehr rhythmischen musikalischen Einschub kontrastiert. Dieser Einschub wird noch weitere drei Male eingesetzt und intensiviert durch seine Schnelligkeit die enorme Artenvielfalt im Wald, die in Form der Nebenprodukte »Reisigbündel von eher mäßiger Qualität, Fruchtzapfen (die Früchte verkapselt wie Ananas), Nadeln aus pflanzlichen Haaren, Moose, Farne, Heidelbeeren, Pilze« (69:3270:13) dargestellt wird. Die folgende Feststellung (70:17-70:56) formuliert den, außerhalb der Entwicklung stehenden, Grundgedanken des Waldes: »Aber hinter all den Arten von Entwicklung, die (warum auch nicht) eine nach der andern hinfällig werden, überdauert doch die allgemeine Idee und lässt sich ahnen der Schaft, der Mast: – der Balken, die Planke.« Der zweite Teil dieses Satzes wird, immer leiser werdend, fünf Mal direkt hintereinander wiederholt und bietet, von einer ruhigen Kora-Melodie begleitet, den vorläufigen Abschluss des Textes von Ponge. Der Gesang von Sira Djebate fungiert, in Verbindung mit leisen Gitarre- und Trombone-Klängen, die die Gesangsmelodie imitieren, als überleitendes Element zum letzten Ausschnitt aus Heiner Müllers Intermedium »Herakles 2 oder die Hydra«. Das Ende des Textes – »in dem weißen Schweigen, das den Beginn der Endrunde ankündigte, lernte er den immer andern Bauplan der Maschine lesen, die er war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt, und daß er ihn dachte änderte schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode« (73:43-75:02) – zeigt deutlich die Verschmelzung des Protagonisten mit seinem Feind und wird in Sprechpausen mit einer Fortführung des, bereits in Verbindung mit
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Oder die glücklose Landung Ponges Text verwendeten, rhythmischen Einschubs versetzt. Damit wird eine Verbindung zwischen diesen beiden Texten geschaffen, die sich unter anderem deswegen miteinander verzahnen. So schließt ab 75:12 auch direkt das Ende des Textes »Das Notizbuch vom Kiefernwald« an Müllers Text an. Darin erfolgt, nur mit einer hellen Kora-Melodie unterlegt, eine Klassifizierung der verschiedenen Wälder nach ihrem Alter: »Ein Wald von 40 Jahren heißt ›Niederhochwald‹ (mit Unterholz). Ein Wald von 40 bis 60 Jahren heißt ›Mittelwald‹. Ein Wald von 60 bis 120 Jahren heißt ›junger Hochwald‹. Ein Wald von 120 bis 200 Jahren heißt ›Hochwald‹. Ein Wald von mehr als 200 Jahren heißt ›Klimax-Hochwald‹.«
Die letzte Feststellung am Ende der Erforschung – »ENDE DES KIEFERNWALDS JETZT GEHT’S HINAUS AUFS FREIE FELD« (75:5976:06) erfolgt auf musikalischer Ebene in Stille und wird so in seiner Abruptheit stark hervorgehoben. Ein einzelner Kora-Ton beschließt als finaler Punkt das Hörstück. Die Collage aus Sprache und Musik verbindet vier unterschiedliche Texte und Herangehensweisen beziehungsweise Beziehungen des Menschen zum Wald. Dadurch dass die Stimme des Menschen in allen Texten jeweils von Ernst Stötzner verkörpert wird, werden die Texte miteinander in Beziehung gesetzt. Die Stimmen der beiden ›Griot‹-Sänger Sira und Boubakar Djebate geben eine textungebundene und für den des Senegalesischen nicht mächtigen Hörer nicht verständliche Sprache wieder. Der nur oral überlieferte, nicht schriftlich fixierte Gesang stellt so zum einen einen Gegensatz zur Rezitation Stötzners dar. Zum anderen fungiert er als verbindendes Element zwischen den Texten. Mit den Gesangspassagen werden sanfte Übergänge geschaffen, während denen der Hörer von einem Text zum anderen geleitet wird. Harte Schnitte kommen nur selten zum Einsatz. Zwischen der ruhigen Rezitation Stötzners und der emotionalen Gesangsweise der Djebates entsteht eine Dynamik, die sich auch auf der musikalischen Ebene vollzieht. So wird der ›Griot‹-Gesang meistens von einer traditionell klingenden Kora-Melodie, vereinzelt mit Klängen von Gitarre und Trombone versetzt, begleitet, während die von Stötzner gesprochenen Passagen oft moderne JazzElemente aufweisen. Diese Dynamik stellt auch Gerhard Rohd in seiner Kritik zu einer Inszenierung in Frankfurt fest: »Hier die harten Tutti-Schläge von Posaune und Gitarre, die KeyboardGrundierungen speziell der Müller-Texte, dort der Naturklang der Kora, von Boubakar Djebate einprägsam gespielt und der Gesang von Sira Djebate, die ohne Veränderungen gegen die modernen musikalischen Rhythmen und Materialien gestellt werden. In der Musik setzt sich die Konfrontation zwischen
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Text als Klangmaterial Mensch und Natur fort, es ist auch ein Kampf zwischen abendländischer Dynamik und dem statischen Prinzip des bewahrenden Lebensgefühls der Naturvölker. Ein ungelöster Konflikt, der unablässig in die Gegenwart hineinwirkt.«29
Heiner Gobbels begründet die Entscheidung für dieses musikalische Material mit der Korrespondenz zum Thema: »[...] the sound choice in Ou bien le débarquement désastreux was completely faithful to whatever has to do with wood, because the forest was somehow one of the elements that patched together this choice of texts of Heiner Müller, Francis Ponge, and Joseph Conrad. Behind this theme of conquest and estrangement, there was a whole metaphoric substratum built on the different ideas of forest. So I only chose sound material that fit into that. I’m quite superstitious concerning material.«30
Geräusche, wie Zischen und Industriegeräusche, kommen nur punktuell zu Beginn und am Ende des Hörstücks zum Einsatz. Die Elemente Musik und Sprache erscheinen gleichwertig und bedingen sich gegenseitig. So gibt der gesprochene Text bereits musikalische Strukturen vor, die die Musik aufnimmt. Die Musik steht des Öfteren über längere Passagen frei, vermittelt selbständig räumliche Eindrücke der Natur und Assoziationen, sie rhythmisiert sowie fragmentarisiert die Sprechpassagen, indem in Sprechpausen oft musikalische Akzente gesetzt werden. Mit einer wiederkehrenden hellen Kora-Melodie als musikalisches Leitmotiv werden die gesprochenen und gesungenen Passagen miteinander verzahnt. Tim Gorbauch stellt, im Hinblick auf die Frankfurter Inszenierung von 2000, zum gegenseitigen Bedingen von Sprache und Musik fest: »Zwar findet der Komponist Goebbels seine Musik nie unabhängig von Sprache und Texten, aber was ihn am Wort interessiert, sind gerade nicht dessen Inhalt und Bedeutung, sondern die verdrängten Ebenen jenseits der Semantik: die strukturellen, formalen und rhythmischen Angebote der Sprache, die ihn zur Musikalisierung auffordern. So sind seine Stücke, von denen er manchmal als eine akustische Inszenierung von Texten spricht, gerade keine psychologisierende Illustration, sondern deren Gegenteil. Die Musik greift nicht auf, sondern sie greift ein: sie zerreißt die Texte, bringt ihre Strukturen und syntaktischen Strategien zum Leuchten und ist dennoch, und das ist das schillernde Geheim-
29 Rohd, Gerhard: Der Wald im Zeittunnel. ›Glücklose Landung‹ von Heiner Goebbels im TAT, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.1993, zitiert nach: http://www.heinergoebbels.com/index2_n.htm vom 01.12.2008. 30 Gourgouris, Stathis: Performance as Composition, in: PAJ – A Journal of Performance and Art, No. 78, September 2004, zitiert nach: http://www. heinergoebbels.com/english/interv/inter06e.htm vom 01.12.2008.
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Oder die glücklose Landung nis der Werke Heiner Goebbels’, nicht kühl, sezierend und abstrakt sondern hoch assoziativ und voll vibrierender Spannung.«31
Im Hinblick auf den Titel des Hörstücks »Oder die glücklose Landung«, der ein Zitat aus dem letzten Teil des Triptychons »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten« von Heiner Müller ist, lässt sich konstatieren, dass, über die vier verwendeten Texte hinaus, eine Korrespondenz des Themas – das Verhältnis des Menschen zur Natur – mit dem Mythos der Argonauten geschaffen wird. Die in »Landschaft mit Argonauten« dargestellte Landung der Helden erweist sich, angesichts der von Zivilisationsmüll und Tod geprägten eroberten Landschaft, als glücklos und enttäuschend (vgl. Kapitel 4.6.1). Die Protagonisten der im vorliegenden Hörstück rezitierten Texte treffen hingegen auf eine vom Menschen nicht gezähmte Natur. Während in den Ausschnitten aus Joseph Conrads »Up-river Book« und »Kongo-Tagebuch« der Mensch die Entfernung von der Zivilisation und die Fremde als bedrohlich wahrnimmt und seine Eindrücke zum Teil stakkatoartig ausruft, ist er in Müllers Intermedium, trotz der Bedrohung und des Getriebenseins, bereits Teil des Waldes und der Natur, die er zu bekämpfen versucht. Die Versuche, die fremde Natur mit gängigen Bezeichnungen zu erfassen und sie sich somit zu unterwerfen, werden enttäuscht. Ponges »Notizbuch vom Kiefernwald« zeigt diese Erfassung beziehungsweise die »Eroberung« des Waldes in einer versöhnlicheren Art. Der Schreibende führt keinen Kampf mit dem Kiefernwald, sondern sucht nach adäquaten Worten, um ihn zu beschreiben, was in einer Vielzahl an Vergleichen mit Mobiliar, geometrischen Formen und Masten resultiert. Dennoch stellt der Wald auch bei Ponge eine unheimliche Kraft dar, die sich nicht vom Menschen beherrschen lässt: die Entstehung des Holzes vollzieht sich langsam, in Stille und ohne Einfluss des Menschen bis zur Vollkommenheit. Die französischsprachige Fassung des Hörstücks – »Ou bien le débarquement désastreux« – ist mit einer Länge von knapp 69 Minuten etwas kürzer als die deutschsprachige Fassung. Dies resultiert vor allem aus der Verwendung der französischen Sprache, in der André Wilms die drei Texte rezitiert, und die sich den Klang betreffend stark vom Deutschen unterscheidet, weswegen auch die musikalische Ebene nicht ganz der deutschen Fassung entspricht.32 Dies begründet Heiner Goebbels wie folgt: 31 Gorbauch, Tim: Die Autonomie des Anderen. Heiner Goebbels’ »Oder die glücklose Landung«, in: Frankfurter Rundschau, 17.05.2000, zitiert nach: http://www.heinergoebbels.com/deutsch/kritiken/k-oubien.htm vom 01. 12.2008. 32 Vgl. Goebbels, Heiner: Ou bien le débarquement désastreux, ECM Records 1995.
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Text als Klangmaterial »Ich arbeite ja mit gesprochener, nicht gesungener Sprache; deshalb ist der jeweilige Sprachrhythmus und die Sprachmelodie so konstitutiv für die Musik. [...] Deswegen habe ich zum Beispiel in »Ou bien le débarqument désastreux«, einer Arbeit mit Heiner Müllers »Herakles 2« in französischer Sprache, die harten Akzente in die Musik genommen – weil sie in der Sprache fehlten.«33
Vor »Ou bien le débarquement désastreux« beziehungsweise »Oder die glücklose Landung« fand der Text »Herakles 2 oder die Hydra« in ein früheres Werk von Goebbels Eingang. Das im Intermedium vermittelte Gefühl des Ausgeliefertseins wird, rein musikalisch, auch in der Komposition »Herakles 2«, deren Titel sich explizit auf Heiner Müllers Text bezieht, umgesetzt. Die Auftragskomposition, die 1992 vom Ensemble Intercontemporain Paris uraufgeführt wurde, führt – ohne Worte – mittels des Spiels von fünf Blechbläsern, Schlagzeug und der Verwendung eines Samplers den Weg von Herakles durch den bedrohlich wirkenden Wald, die Auflösung der Zeit, des Raumes und seiner Identität, sowie den Kampf, der unheilvoll mit rhythmischen Schlägen zum Ausdruck kommt, vor. Die Instrumente spüren dabei der musikalischen Struktur des Textes nach, ohne dass gesprochen wird, und geben so die Architektur des Textes wieder.34
4.9.3 TEXTVIELFALT ZUM THEMA WALD – ERGEBNISSE Das Intermedium »Herakles 2 oder die Hydra« nimmt im Hörstück »Oder die glücklose Landung« aufgrund seiner Länge und Positionierung eine zentrale Stellung ein. Hervorzuheben ist, dass Rezitationen aus »Herakles 2 oder die Hydra« im Gegensatz zu denen aus den anderen zugrundeliegenden Texten sich durch das gesamte Hörstück ziehen. Die erste Rezitation des Textes von Müller beginnt bei 04:22, die letzte endet bei 75:02. Die erste Rezitation im Hörstück ist zwar aus Joseph Conrads »Kongo-Tagebuch«, insgesamt handelt es sich jedoch nur um kurze Ausschnitte, die aus diesem Text und aus Conrads »Up-river Book« verwendet werden. Ebenso verhält es sich mit Francis Ponges »Das Notizbuch vom Kiefernwald«, aus dem angesichts der Länge des gesamten Textes nur kurze Ausschnitte vom Beginn und vom Schluss verwendet werden. Heiner Müllers Text ist der einzige, der fast vollständig rezitiert wird. Auslassungen betreffen lediglich die Antwort auf die empfundene 33 Schweeger, Elisabeth: Es gibt keine Hierarchie auf der Bühne. Elisabeth Schweeger im Gespräch mit Heiner Goebbels und André Wilms, Zeitung schauspielfrankfurt, September 2004, zitiert nach: http://www.heiner goebbels.com/deutsch/interv/inter20.htm vom 01.12.2008. 34 Vgl. Booklet zur CD, in: Goebbels, Heiner: La Jalousie. Red Run. Herakles 2. Befreiung, ECM New Series 437997, 1993.
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Oder die glücklose Landung Anziehung der Füße des Protagonisten in den Zeilen 22 bis 28 sowie Nebensätze bei der Abmessung durch den Wald (Z. 37-39, Z. 41f.) und die Bezeichnung des Feindes als »Schoß der ihn behalten wollte« (96f.). Des Weiteren wird der Text überwiegend chronologisch wiedergegeben. Bei 35:22 erfolgt ein Sprung von der Erkenntnis, dass es sich beim Wald bereits um den Feind handelt, zur Kampftaktik, bei der mehrmals direkt hintereinander Wiederholungen über Anpassung und Nichtanpassung der Bewegungen zu verzeichnen sind. Die Einnahme des Körpers durch den Schmerz (Z. 76-80), die zunächst ausgelassen wurde, wird, nach der Wiederholung der Textpassagen ab 40:24 – den Überlegungen zur Bezeichnung des Waldes in einem Sprechblock –, in einer Weiterführung des Textes rezitiert. Neben der Wiederholung einzelner Satzteile bei neu einsetzender Rezitation des Textes lassen sich vor allem die genannten Wiederholungen der Kampftaktik, die bei 42:57 nochmals aufgenommen werden, sowie die Wiederholung eines Großteils des Textes (Z. 42-89) in einer langen Rezitation (40:24-43:24) und die mehrfach hintereinander gesprochene Aufforderung »BLEIB IM RAHMEN LASS DAMPF AB« (50:02-50:29, 51:33-51:45) feststellen. Die strukturellen Eigenschaften des Textes finden sich in der akustischen Umsetzung wieder. So werden die in Versalien gedruckten Sätze auf sprachlicher Ebene von Stötzner hervorgehoben, indem beispielsweise die Volksliedzeile »ACH BLEIB BEI MIR UND GEH NICHT FORT AN MEINEM HERZEN IST DER SCHÖNSTE ORT« von ihm als einzige Textstelle gesungen wird. Die Loslösung vom mütterlichen Schoß mittels Gewalt, die in »TOD DEN MÜTTERN« gefordert wird, erfährt keine Betonung durch den Sprecher, beschließt jedoch eine Sprechpassage, bevor der Gesang Sira Djebates einsetzt, und wirkt so, als letzte Äußerung vor dem Gesangspart, noch lange nach. Die Stimmen, die mit der Aufforderung »BLEIB IM RAHMEN LASS DAMPF AB« den Protagonisten verwirren, sind auch im Hörstück mehrfach zu hören. Die Aufforderung wird sehr rhythmisch gesprochen und insgesamt zehn Mal wiederholt, wodurch sie sich dem Hörer intensiv einprägt, da keine andere Textpassage so häufig wiederaufgenommen wird. Die oftmals verwendete Konjunktion »oder« wird von Stötzner durch leicht angehobene Lautstärke und Geschwindigkeit sowie durch kurze Zäsuren vor und nach ihr betont, was die Vielzahl der Erklärungsversuche und Möglichkeiten des Protagonisten in den Vordergrund rückt. Auch die Aufzählung von mindestens drei freistehenden, einzelnen Wörtern ohne Trennung durch Kommata wird im Hörstück transponiert. Die Zeitangabe »Jahre Stunden Minuten« (11:1711:21) wird von Stötzner zwar durchaus mit Zäsuren zwischen den Wörtern versehen, die darauffolgenden freistehenden langen Beats
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Text als Klangmaterial sind jedoch maßgeblich dafür, dass sie die Aufmerksamkeit des Hörers auf sich zieht. Die Körperteile des Protagonisten »Gesicht Hals Hände[n]« werden, seine Sprechpausen nutzend, mit kurzen Sprechpassagen von Boubakar Djebate verzahnt (14:52-14:58). Die Angriffsformen »Schlag Griff Stoß Stich«, die im Hörstück in der Reihenfolge zu »Schlag Griff Stich Stoß« verändert werden – was mit der Kampftaktik »Die Reihenfolge ändern« korrespondiert –, werden mit rhythmischen, kurzen Tönen der Trombone und Beats versetzt. Bei der Nennung der Waffen »Messer Beile Fangarme«, »Minengürtel[n] Bombenteppiche[n] Leuchtreklamen Bakterienkulturen«, sowie der Verbindung beider Zitate zu »Messer Beile Fangarme Minengürtel Bombenteppich Leuchtreklame Bakterienkulturen« und der Nennung der Körperteile »Hände[n] Füße[n] Zähne[n]« setzt Stötzner keine Zäsuren zwischen die Wörter, sodass diese jeweils zu einem Wort verschmelzen. Erst bei der Bezeichnung, dass die Schlacht aus »Blut Gallert Fleisch« besteht, setzt er Pausen und betont die einzelnen Wörter jedoch stärker als den Rest des Satzes. Die nachwachsenden Körperteile des Protagonisten »Fangarme Schrumpfköpfe Stehkragen« erfahren keine Hervorhebung. Die Aufzählungen am Ende des Textes, die die Zustände – »war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt« (74:05-74:30) – und Handlungen des Protagonisten – »dachte änderte schrieb« (74:3874:45) – beschreiben, werden jeweils nach der Aufzählung mit Zäsuren und treibenden Tonfolgen versetzt, die das Ende der Rezitation von »Herakles 2 oder die Hydra« prägen. Aufgrund der Analyse des Hörstücks und des Vergleichs mit dem literarischen Text lässt sich zusammenfassend sagen, dass sich die akustische Bearbeitung an der Architektur des Textes, den strukturellen Eigenschaften, die in Kapitel 4.9.1 herausgearbeitet wurden, orientiert und diese umfassend umsetzt. Die Verbindung des Intermediums mit Ausschnitten aus Texten anderer Autoren sowie dem ›Griot‹-Gesang eröffnet dem Hörer verschiedene Perspektiven auf die Beziehung des Menschen zur Natur, wie Christian Deutschmann in seiner Kritik zur Inszenierung in Frankfurt konstatiert: »Die Textpartikel breiten sich aus, reiben sich an den Klängen, verschwistern sich mit ihnen und ergeben tönende Flächen voller assoziativer Schwingungen. Dabei fällt es leicht, den zuweilen wilden Attacken von E-Gitarre, Saxophon und Posaune gleichsam im naturalistischen Sinn sowohl das Gewaltsame der beschriebenen Szenerie als auch die durch sie ausgelöste Verstörung zu entnehmen. Andererseits treffen wir im Gesang der beiden afrikanischen Künstler Sira und Boubakar Djebate auf jene authentische Stimmlage, die nicht über Natur reflektiert, sondern ihr selbst angehört. Zunächst fremdartig wirkend, nimmt uns dieses Stück in seinem meditativen, gleichwohl kühl analytischen Gestus bald an die Hand, ermuntert uns, die aufscheinenden Gedanken fortzuspinnen.
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Oder die glücklose Landung Wir glauben uns längst informiert über alle möglichen Schauplätze dieser Erde und müssen doch erkennen, dass wir uns vor der echten Begegnung mit ihr fürchten.«35
Der in Müllers Text formulierte Orientierungsverlust und die Auseinandersetzung mit eindeutig festgelegten Bezeichnungen wird in Goebbels’ Hörstück in den Kontext des gegenwärtigen Verhältnisses und der gegenwärtigen Begegnung von Mensch und Natur gesetzt, womit eine Fokussierung auf dieses Textelement erreicht wird. Der historisch-vergleichende Aspekt von Müllers »Herakles 2 oder die Hydra«, der sich auf das Verhältnis des Systems mit dem in ihm lebenden Subjekt bezieht, wird im Hörstück jedoch nicht näher betrachtet.
35 Deutschmann, Christian: Wer das Hörspiel nicht ehrt. Heiner Goebbels richtet an: »Oder die glücklose Landung«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.02.2000.
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5 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE 5.1 Umgang mit den literarischen Texten Heiner Müllers in den Hörstücken von Heiner Goebbels Im Folgenden sollen die Analyseergebnisse mit Fokus auf die Kompositionsprinzipien sowie die Verwendung und das Verhältnis der Elemente Sprache, Geräusche und Musik zusammengefasst werden. Des Weiteren sollen die Gemeinsamkeiten und Entwicklungen der Hörstücke im Laufe der Produktionen im Hinblick auf die Verwendung und Umsetzung der Texte Müllers und anderer Autoren sowie den Einsatz von sprachlichem und musikalischem Material erläutert werden. »Verkommenes Ufer« ist als Original-Ton-Hörstück konzipiert, in dem Berliner Passanten in Alltagssituationen unvorbereitet Müllers Text lesen und in der Vielfalt der weiblichen, männlichen und kindlichen, sowie jungen und alten Stimmen, mit verschiedenen Dialekten und Akzenten, einen Querschnitt der Gesellschaft darstellen. Das spontane Lesen von Laien führt zu Verständnisschwierigkeiten, Zögern, Nachfragen und Lesefehlern, an denen der Hörer teilhat. Die aufgenommenen O-Töne werden in kurze Fragmente zerlegt, polyphon und zum Teil asynchron wieder neu zusammengesetzt, verzerrt und rückwärts abgespielt. Das Hörstück setzt sich, neben den O-Tönen, aus verschiedenen Nebengeräuschen wie Verkehrsgeräuschen und dem Mundharmonikaspiel eines Straßenmusikers sowie aus abstrakten Klängen, die aus der Stilisierung der Nebengeräusche hervorgehen, zusammen. Dabei treten die Elemente Sprache und Geräusche als gleichwertig auf, was sich daran zeigt, dass sie in gleicher Lautstärke abgemischt sind und die Geräusche, auch ohne gleichzeitige Textrezitation auf der Ebene der Sprache, freistehen. In »Die Befreiung des Prometheus« trifft der Hörer auf eine Simultaneität von Stimmen, Sprechhaltungen und Aufnahmesituationen. Die Collage aus dem Intermedium »Die Befreiung des Prometheus« und Ausschnitten aus den Texten »Der Mann im Fahrstuhl« und »Traktor« von Müller verzahnt die Texte ausschnittsweise, sodass Parallelen zwischen den Protagonisten der unterschiedlichen Texte aufgezeigt werden. Aufnahmen von einer Frauen-, einer Kinder- und fünf Männerstimmen im Studio und in einem Wirts265
Text als Klangmaterial haus fächern sich in betonte und modulationsfreie Rezitationen sowie stark gedehnten Gesang auf. Auf der Ebene der Geräusche werden einzelne Instrumententöne, Tierschreie, Metallschlagen, Schaben, Glassplittern, Schritte und der Flug von Pfeilen punktuell eingesetzt, während auf der musikalischen Ebene ›Samples‹ von Erkennungsmelodien und Filmmusik verwendet werden. Dabei bieten sowohl Geräusche als auch Musik eine große Bandbreite an Assoziationsmöglichkeiten, die dem Hörer in der Folge verschiedene Deutungen und neue Kontexte des Prometheus-Mythos anbieten. Im Hörstück »MAeLSTROMSÜDPOL« werden die akustischen Elemente reduziert und somit ein akustisch minimalistisches Bild einer gleichzeitig faszinierenden und bedrohlichen Wasserlandschaft entworfen. Mittels der Verbindung der Rezitation beziehungsweise des Gesangs eines Sprechers mit Musik, die bedacht und auch über längere Passagen hinweg freistehend eingesetzt wird, sowie durch räumliche Effekte wird auf den Hörer eine Anziehung ausgeübt, die ihn in den sprachlichen und musikalischen Sog hineinzieht. Das Intermedium »Der Mann im Fahrstuhl« wird in »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« im Original und in der englischen Übersetzung fragmentarisiert und von drei unterschiedlichen Stimmen rezitiert beziehungsweise in Sprechgesang wiedergegeben, wobei sich die Stimmen teilweise überlagern. Die Sprechparts werden mit Rock- und Jazzkompositionen sowie mit portugiesischen Songs verzahnt, wobei durch Wechsel zwischen treibenden und ruhigen sowie lauten und leisen Passagen Dynamik entsteht. Dabei bedingen sich Sprache und Musik gegenseitig. Die Musik steht des Öfteren frei, hat auch in den textunterlegten Passagen die gleiche Lautstärke wie die Rezitation und rhythmisiert die Sprache, indem in Sprechpausen musikalische Akzente gesetzt werden. Eine starke Fragmentarisierung ist ebenfalls in »Shadow/ Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten« offensichtlich. Die Collage aus den englischsprachigen OriginalTönen von Bostoner Passanten und den deutschen Synchronstimmen, aus Rezitation, Gesang und Musik verknüpft zwei Textstränge – den letzten Teil des Triptychons »Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten« von Müller und Edgar Allan Poes Parabel »Shadow« (»Schatten«). Dabei werden den Texten verschiedene Stimmen, Aufnahmesituationen und Musikstile zugeteilt. Während ungeübte Passanten spontan die englische Übersetzung von Müllers Text lesen und dabei – vergleichbar mit »Verkommenes Ufer« – eine Vielfalt an Stimmen und Modulationsweisen sowie Interpretationsmöglichkeiten und Verständnisschwierigkeiten zu verzeichnen sind, sind polyphon, jedoch meist asynchron, die Synchronstimmen, die den Originaltext und die Übersetzung weiterer
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Zusammenfassung der Ergebnisse Äußerungen der Passanten sachlich sprechen, zu hören. Die Wiedergabe von Poes Parabel verteilt sich auf englischen Gesang beziehungsweise Sprechgesang und eine beinahe modulationslose Rezitation der deutschen Übersetzung. Auch die musikalische Ebene wird, in Korrespondenz zu den beiden Textsträngen, aufgefächert. Beats und ›Hip Hop‹-Musik nehmen den Sprechrhythmus mancher Bostoner bei der Rezitation von Müllers Text auf und erzeugen eine Art ›Rap‹. Dabei werden auch als Nebengeräusche aufgenommene Straßengeräusche zu musikalischen Elementen stilisiert. Orientalisch anmutende, schwere Musik ist in Verbindung mit dem Gesang und der Rezitation von »Shadow« zu hören, wobei sie sich hinsichtlich des Rhythmus und der Geschwindigkeit aneinander anpassen. Eine Durchdringung der akustischen Stränge vollzieht sich, wenn, polyphon zu diesem Gesang und der synchronen Rezitation, die – eigentlich den Original-Tönen vorbehaltene – ›Hip Hop‹-Musik erklingt. Des Öfteren freistehende Musikpassagen vermitteln Stimmungen der modernen Welt der Bostoner, der in »Shadow« dargestellten dunklen, vergangenen Welt und des von Müller in eine trostlose Zivilisation versetzten Mythos der Argonauten. »Wolokolamsker Chaussee I-V« konzentriert sich auf den gleichnamigen Text von Müller und gibt in fünf, von verschiedenen, zum Teil ungewöhnlichen Musikstilen, ›Speed Metal‹, klassische Musik, ›Hip Hop‹, und Sprechweisen, von aggressiv, über abgehackt bis hin zum ›Rap‹, geprägten Einzelteilen, Kapitel der deutschen Geschichte wieder. Die eigenständigen Tracks werden zudem durch Titelansagen getrennt. Sie bleiben jedoch durch einen in allen Teilen wiederkehrenden Ausschnitt aus Dimitri Schostakowitschs »Leningrader Sinfonie«, durch den durchgängigen Einsatz von Ernst Stötzner als Sprecher sowie durch das gemeinsame übergeordnete Thema – die Voraussetzungen der Entstehung und die Entwicklungen in der DDR sowie die Gewalt der sozialistischen Macht – verbunden. In »Der Horatier« ist Müllers gleichnamiger Text im deutschen Original und der französischen, italienischen und spanischen Übersetzung zwar Ausgangspunkt des Hörstücks. Es werden jedoch Ausschnitte aus weiteren Texten, die den Horatier-Stoff bearbeiten – »Ab urbe condita« von Titus Livius, das Drama »Horace« von Pierre Corneille und die Novelle »Sanctuary« von William Faulkner – sowie aus den Opern »Orazi e Curiazi« von Saverio Mercadante, »Benvenuto Cellini« von Hector Berlioz und »Rienzi« von Richard Wagner zitiert. Damit zeigt Goebbels die Pluralität der Bearbeitungen, einen Querschnitt durch die Rezeptionsgeschichte des Motivs, auf. Eine weibliche und fünf männliche Sprechstimmen mit verschiedenen Sprechhaltungen rezitieren Ausschnitte der Texte, während eine
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Text als Klangmaterial Mezzosopranistin und ein Tenor die Ausschnitte der Opern interpretieren. Klassische Musik, Beats und ›Hip Hop‹-Musik treten teils textunterlegt im Hintergrund teils als dominierende Elemente auf, an die sich die Sprecher der Rezitation bezüglich Tempo und Rhythmus anpassen. Im Hinblick auf das gesamte Hörstück herrscht ein Gleichgewicht zwischen den akustischen Elementen vor. Das Intermedium »Herakles 2 oder die Hydra« ist in »Oder die glücklose Landung« der zentrale Text und Bindeglied zwischen drei weiteren Texten, in denen das Verhältnis zwischen Natur und Mensch thematisiert wird – Joseph Conrads »Kongo-Tagebuch«, sowie das »Up-river Book« und Francis Ponges »Das Notizbuch vom Kiefernwald«. In der Collage aus Sprache, Gesang und Musik werden Jazz-Elemente und afrikanische ›Griot‹-Musik mit dazugehörigem Gesang kontrastiert und der Umgang des Menschen mit der Natur aus verschiedenen Perspektiven dargestellt. Die Texte der drei Autoren werden dadurch akustisch in Verbindung gesetzt, dass sie alle von Ernst Stötzner rezitiert werden und eine einprägsame Melodie des afrikanischen Instruments Kora leitmotivisch wiederkehrt. Diese ist meist polyphon zum ›Griot‹-Gesang zu hören, während die rezitierten Texte stark rhythmisiert und des Öfteren mit modernen Jazz-Kompositionen sowie mit an Industrie erinnernden Geräuschen versetzt werden. Die Musik erscheint im Hörstück gleichwertig mit der Sprache, da sie auch über längere Passagen freisteht und, neben der Vermittlung von Raumeindrücken der Natur, die Sprechparts durch intensive Akzente in höherer Lautstärke rhythmisiert. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass es sich bei Heiner Goebbels’ Hörstücken, die von Müllers Texten ausgehen, um akustische Collagen handelt, die in zwei Kategorien unterteilbar sind. So werden zum einen O-Töne mit Geräuschen (»Verkommenes Ufer«) beziehungsweise mit Rezitation, Gesang und Musik (»Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten«) verknüpft. Der größere Anteil der untersuchten Hörstücke stellt jedoch zum anderen Collagen aus Sprache, Gesang, Geräuschen und Musik (»Die Befreiung des Prometheus«, »MAeLSTROMSÜDPOL«, »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator«, »Wolokolamsker Chaussee I-V«, »Der Horatier«, »Oder die glücklose Landung«) dar. Wie bei der Zusammenfassung der Analyseergebnisse der Hörstücke deutlich wurde, ist allen Umsetzungen von Müllers Texten gemeinsam, dass die akustischen Elemente Sprache, Geräusche und Musik gleichwertig eingesetzt werden. So dienen Musik und Geräusche überwiegend nicht der Illustrierung gesprochener Inhalte, sondern erzeugen – zum Teil auch freistehend – selbständig
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Zusammenfassung der Ergebnisse Assoziationen und Stimmungen, Raumeindrücke, Kommentare oder Kontrastierungen. In allen in dieser Arbeit behandelten Hörstücken stellen Müllers Texte den Ausgangspunkt der Komposition dar und beeinflussen durch ihre Struktur die Gestaltung der akustischen Umsetzung. So wird die Textstruktur von Goebbels im Hörstück transponiert, indem beispielsweise im Text vorhandene, in Versalien gedruckte Passagen, Wortwiederholungen, Anaphern oder Alliterationen von den Sprechern stärker betont, durch Veränderung der Lautstärke und der Sprechgeschwindigkeit oder durch den Einsatz von Musik, Geräuschen sowie Stille hervorgehoben werden. Das im Hörstück bestehende Gleichgewicht von strukturellen Angeboten und inhaltlichen Aspekten ist in Goebbels’ Interesse am Sprachrhythmus begründet: »In der Komposition aber auch im Theater allgemein tritt der Sprachrhythmus oft gegenüber der Semantik zurück. Ich will da eine andere Balance. Ich vertraue dem Rhythmus und den Strukturen genauso wie den Inhalten. Texte etwa, die nur mitteilen wollen und nicht selber etwas sind, interessieren mich nicht. Nur Inhalt ist mir zu wenig. Ich will ja auch selbst nichts ›mitteilen‹, sondern in erster Linie Erfahrungen, die ich mit einem bestimmten Stoff gemacht habe, teilen.«1
Ein weiterer Aspekt, der den Hörstücken gemeinsam ist, ist das in ihnen umgesetzte Verständnis Goebbels’ von Texten und Musik als Material, aus dem er schöpft, das er in kleinste Teile zerlegt und neu zusammensetzt. Dabei werden in den Hörstücken, neben den Texten von Müller und den darin enthaltenen intertextuellen Verweisen, Ausschnitte aus Texten von Edgar Allan Poe, Titus Livius, Pierre Corneille, William Faulkner, Joseph Conrad und Francis Ponge rezitiert. Auf der musikalischen Ebene werden, neben eigenen Kompositionen, unter anderem die Aufnahme einer in einem Berliner Wirtshaus spielenden Blaskapelle, ›Samples‹ von Hollywood-Filmmusik und sozialistischem Liedgut, Ausschnitte aus Dimitri Schostakowitschs 7. Sinfonie, aus den Opern »Orazi e Curiazi« von Saverio Mercadante, »Benvenuto Cellini« von Hector Berlioz und »Rienzi« von Richard Wagner, populäre Musikstile wie ›Metal‹ und ›Hip Hop‹, ›Rap‹ und ›Beat Box‹-Elemente, sowie Musik der ›Griots‹, die in westafrikanischen Ländern mit einer bestimmten Form des Gesangs als kulturelles Gedächtnis fungieren, eingesetzt. Des Weiteren ist die Ästhetik der analysierten Hörstücke durch Verfahren wie die synchrone und asynchrone Überlappung von Stimmen, Ver1
Gorbauch, Tim: Theater ist Erfahrung, keine Mitteilungsform, 13.05.1998, zitiert nach: http://www.heinergoebbels.com/deutsch/interv/inter03.htm vom 01.12.2008.
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Text als Klangmaterial zerrungen, Beimischung von Echo und Hall sowie durch aus der Pop-Musik bekannte technische Verfahren wie den Einsatz von ›Loops‹ und ›Scratches‹ sowie Rückwärtsspielen geprägt. Neben diesen allen Hörstücken gemeinsamen Aspekten lassen sich jedoch auch verschiedene Entwicklungen auf der Ebene der Textverwendung und beim Gebrauch der akustischen Mittel in den einzelnen Hörstücken konstatieren. Bei den ersten Hörstücken, die auf Müllers Texten basieren, wurde jeweils der gesamte Text übernommen und ohne Auslassungen sowie unter der fast vollständigen Wahrung der Chronologie als O-Töne wiedergegeben oder von Sprechern rezitiert. Auch wurde anfangs nur ein Text von Müller, wie bei »Verkommenes Ufer« und »MAeLSTROMSÜDPOL«, verwendet, manchmal in Verbindung mit Ausschnitten aus anderen Texten Müllers wie bei »Die Befreiung des Prometheus«. In »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« und »Wolokolamsker Chaussee I-V« werden bereits einige kurze Auslassungen und auch minimale Umstellungen vorgenommen. Die Reduzierung beeinträchtigt das Verständnis jedoch nicht. In »Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten«, »Der Horatier« und »Oder die glücklose Landung« bildet jeweils ein Text von Müller das Ausgangselement, dieses wird jedoch mit Ausschnitten aus Texten anderer Autoren beziehungsweise Opern verzahnt. Auch wird im Lauf der Produktionen zunehmend Gesang eingesetzt. So ist in »Die Befreiung des Prometheus« Walter Raffeiner nur punktuell singend zu hören, in »MAeLSTROMSÜDPOL« singt der auch als Sprecher fungierende David Bennent die englischsprachigen Passagen des gleichnamigen Textes, in »Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator« wird die englische Übersetzung des Intermediums von Arto Lindsay überwiegend als (Sprech-)Gesang vorgetragen. Der Text der Parabel »Shadow« von Poe wird in »Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten« von Sussan Deihim mit einer tiefen und dunklen Stimme auf sehr eindringliche Art interpretiert. In »Der Horatier« sind in den französisch- und italienischsprachigen Ausschnitten aus Opern Darbietungen der Mezzosopranistin Gail Gilmore sowie des Tenors Jürgen Wagner und in »Oder die glücklose Landung« der als Leitmotiv wiederkehrende traditionelle ›Griot‹-Gesang von Sira und Boubakar Djebate zu hören. Einen zunehmenden Einsatz erfährt auch die Verwendung von Fremdsprachen, zunächst nur in Form von englischen Elementen (»MAeLSTROMSÜDPOL«) beziehungsweise in Form von Übersetzungen von Müllers Texten (»Der Mann im Fahrstuhl/The Man in the Elevator«) und dann auch englischsprachigen Originaltexten anderer Autoren (»Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten«). Portugiesischen und senegalesischen Gesang weisen die Hörstücke »Der Mann im Fahr-
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Zusammenfassung der Ergebnisse stuhl/The Man in the Elevator« und »Oder die glücklose Landung« auf, während in »Der Horatier« der Großteil der Texte in den Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch wiedergegeben wird. Daneben finden auch zunehmend Verknüpfungen der Texte mit moderner und für die damalige Hörspielästhetik ungewohnter Musik, wie Jazz, ›Hip Hop‹, ›Rap‹, ›Metal‹, Opern und ›Griot‹-Musik, statt. Anhand dieser Entwicklungen lässt sich feststellen, dass die analysierten Hörstücke von Heiner Goebbels im Laufe der Jahre durch eine verstärkte Fragmentarisierung der Texte Müllers und den Einsatz von verschiedenen Texten anderer Autoren sowie den Einsatz von verschiedenen Sprachen und Musikstilen eine zunehmende Verdichtung erfahren. Die akustische Umsetzung der Texte Müllers durch Goebbels führt zur Erweiterung ihrer Interpretationsmöglichkeiten. Darüber hinaus wird durch die Umsetzung eine Internationalisierung und Aktualisierung – damit eine Auflösung des engen biographischen Zusammenhangs – und eine Versetzung in neue Kontexte in der Gegenwart evoziert, wie Goebbels in einem Interview zu Inszenierungen im Ausland betont: »[...] ich entdecke bei den Reisen [...], wie die Texte von Heiner Müller neue Qualitäten gewinnen, wenn sie aus dem Kontext, in dem sie entstanden sind, und auf den sie immer wieder reduziert wurden, befreit werden. Wenn ich Stücke mit Müller-Texten in Kanada oder Japan aufführe, wo sie ohne die historische Befangenheit des Ost-West-Konflikts gelesen werden können, wird schlagartig klar, wie radikal und stark Heiner Müllers Sprache ist.«2
Bei der Aktualisierung und Öffnung der Texte für die Gegenwart lässt Goebbels Brüche entstehen, stellt eine Entfernung des ursprünglichen Textes zum Zuschauer her, um ihn selbst dessen Aktualität überprüfen zu lassen. Goebbels konstatiert die Notwendigkeit eines Wechselverhältnisses von Gefühl und Abstand: »Man braucht den Abstand immer wieder, um ihn selbst zurücklegen zu können. Wenn eine Entfernung vor mir liegt, dann möchte ich bestimmte Dinge miteinander verbinden, und diese Strecke kann ich als Zuschauer selbst zurücklegen. Wenn ich auf der Bühne so tue, als wüßte ich, was zusammengehört, dann brauche ich als Zuschauer keinen Weg mehr zu gehen. [...] Ich favorisiere den Abstand mehr als die Identifikation mit einem Gefühl.«3
2
3
Landolt, Patrik: Das Politische, das Vage und die Distanz, Die Wochenzeitung, 21.08.2003, zitiert nach: http://www.woz.ch/archiv/old/03/34/ 6022.html vom 01.12.2008. Stromberg, Tom/Ritsaert, Cate ten/Kerkhoven, Marianne von: Ich kann nie selber Thema sein, Theaterschrift 1/1992, zitiert nach: http://www. heinergoebbels.com/deutsch/interv/thema-d.htm vom 01.12.2008.
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Text als Klangmaterial Nicht nur die Texte, sondern auch die darin enthaltenen Mythen zeigen durch Abstand und Öffnung ihre Aktualität und gegenwärtige Bedeutung, was mit Goebbels’ Verständnis vom repräsentativen Charakter von Mythen korrespondiert: »Probably tragic myth is the presence – and representation – of powers greater than what we control. [...] not everything can be discussed and resolved in the context of a personal relationship. [...] As I have experienced the world always as a political world, I think we face daily so many relationships of power which are much stronger and cannot be so easily reduced to personal dimensions. So I’m always looking for references or representations of that in literature or music or theatre. And, of course, I don’t use mythological figures (Prometheus or Hercules, etc.) as heroic types. I use them as way of reading politics, because I think the way the world is being controlled, moved, shifted – or how lives are finished and started – is sometimes done without mercy, without any possibility of being a individual story.«4
Indem Goebbels den Mythos und Müllers Texte, abseits von einer individuellen Interpretation, mit der Sicht auf politische Entwicklungen der Gegenwart in Verbindung bringt, stimmt er mit Müllers Verständnis vom Kunstwerk und seinen an Texte gestellten Erwartungen überein. Dabei erstreckt sich deren Bedeutung nicht auf konkrete historische Ereignisse, sondern gesellschaftliche und politische Modelle, die die Welt gegenwärtig steuern. Die im Rahmen dieser Arbeit analysierten Werke fügen sich hinsichtlich ihrer Konzeptionen und ihrer Entwicklung in das Gesamtwerk der Hörstücke und Musiktheaterstücke von Heiner Goebbels ein. Einige der hier betrachteten Hörstücke wurden entweder vor oder nach ihrer Ausstrahlung im Rundfunk als Musiktheaterstücke – zum Beispiel »Römische Hunde« (uraufgeführt in Frankfurt am Main 1991) – beziehungsweise szenische Konzerte – zum Beispiel »Der Mann im Fahrstuhl« (Frankfurt am Main 1987), »Die Befreiung des Prometheus« (Marseille 1991) und »Oder die glücklose Landung« (Frankfurt am Main 2000) – inszeniert. In diesen Bühnenaufführungen setzt Goebbels neben den akustischen Mitteln als Kern auch Körperlichkeit und Bewegung, Raum, Bühnenbild und Licht als selbständige Mittel ein. Er kritisiert ausdrücklich die konventionelle Theaterarbeit, bei der die theatralen Mittel der Vervielfachung nur einer Bedeutung dienen: »Der Regisseur inszeniert die Szene, in der der Schauspieler beziehungsweise Sänger in die ihm zugedachte Rolle schlüpft; in seiner Aussage durch Mimik
4
Gourgouris, Stathis: Performance as Composition, in: PAJ – A Journal of Performance and Art, No. 78, September 2004, zitiert nach: http://www. heinergoebbels.com/english/interv/inter06e.htm vom 01.12.2008.
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Zusammenfassung der Ergebnisse und Gestik verdoppelt, wird der Text zu der Musik vorgetragen, die wiederum zu seiner Verdeutlichung komponiert wurde; dabei steckt der Akteur in einem Kostüm, das für eben diesen Charakter treffend entworfen wurde; und steht in einem Bühnenbild, das die Szene noch einmal illustriert und vom Beleuchter ins rechte Licht gerückt wird. Das heißt also: Was wir hier sehen, ist ungefährt sieben Mal dasselbe.«5
Goebbels’ Verständnis ist das eines Zusammenspiels der Mittel, die nicht alle einem Zweck dienen, sondern in ihrer Eigenständigkeit agieren. Diese Form der Darstellung »kann nur zusammen entwickelt werden, nicht in einem totalitären Regiesystem, sondern allein in einem immer wieder Unabhängigkeit garantierenden Prozeß«6. In diesem Prozess entwickelt sich in Goebbels’ Theaterarbeit der wechselseitige Einsatz der Mittel gleichzeitig, sie werden von Anfang an miteinbezogen und nicht nacheinander wie in einer vom konventionellen Theater festgelegten Hierarchie. Wie schon in der Untersuchung seiner Hörstücke im Hinblick auf die akustischen Mittel festgestellt, widerspricht er auch bei der Theaterarbeit der bloßen Illustration eines Textes: »Wenn schon im Text von Baum und Fluß die Rede ist, muß das nicht mehr bebildert werden. Die Verdoppelung beziehungsweise Vervielfachung langweilt; die Distanz, der Abstand zwischen den Dingen reizt den Zuschauer, das Auseinanderdriften aufzuhalten, ›zusammenzudenken‹«. 7 Mit den theatralen Mitteln stellt Heiner Goebbels Distanz und Brüche her, die eine aktive Einbeziehung des Zuschauers erfordern: »Nicht immer verstehe ich selbst, woran ich arbeite. Hätte ich es verstanden, müßte ich daran nicht mehr arbeiten. Doch ich lasse den Zuschauer an diesen Erfahrungen und Entdeckungen teilhaben. Wenn ihm also die Geschehnisse auf der Bühne rätselhaft sein mögen, sind sie das auch für mich [...].«8 Die den oben genannten Hörstücken vorausgehenden beziehungsweise nachfolgenden Inszenierungen entsprechen diesem Konzept. In »Der Mann im Fahrstuhl« sitzt Müller während seiner Rezitation an einem Schreibtisch, angeleuchtet von einer Schreibtischlampe, während Stötzner an einem Mikrophon steht und die Musiker stehend und sitzend ihre Instrumente spielen. »Die Befreiung des Prometheus« wird von David Moss am Schlagzeug, Heiner Goebbels am Klavier und Ernst Stötzner als Sprecher sowie eingespielten ›Samples‹ getragen. Elemente neben der Akustik werden nicht illustrierend, sondern assoziativ verwendet, wie Peter
5
Goebbels, Heiner: Gegen das Gesamtkunstwerk: Zur Differenz der Künste, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenie-
6 7
rung, Berlin 2002, S. 135-141, S. 136. Ebd. Ebd., S. 136f.
8
Ebd., S. 139.
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Text als Klangmaterial Kemper in seiner Kritik zu einer Aufführung im Frankfurter TAT beschreibt: »Bühnenbild und Dramaturgie [beschränken sich] auf sparsame Andeutungen: wechselnde Lichträume, ein angedeuteter Gang, ein paar Leitern in der Ecke, ein Kinderstuhl, Kreidestriche«9. In »Römische Hunde« und »Oder die glücklose Landung« ist das Bühnenbild aufwendiger. Die im letzteren Stück von der Künstlerin Magdalena Jetelova entworfene, bewegliche Aluminiumpyramide stellt unter anderem einen Trichter dar, durch den weißer Sand wie durch eine Sanduhr rinnt, später einen Tunnel, mit dem der Sprecher agiert.10 Das Musiktheaterstück »Römische Hunde«, das Goebbels zusammen mit dem Bühnenbildner Michael Simon im TAT inszenierte, bietet im Bereich des Bühnenbildes, der Requisiten und der Kostüme eine noch größere Vielfalt. Das Kostüm und die Frisur von Catherine Jauniaux sind opulent gestaltet11 und repräsentieren die Entstehungszeit des rezitierten Textes von Pierre Corneille. Auf der Bühne steht eine sich drehende antike Frauenbüste, daneben Fernsehmonitore, die unter anderem Textpassagen, Flammen und die Schauspieler abbilden. In der Mitte befindet sich ein »riesige[s] Gebilde, das in der Bühnenmitte schräg nach oben ragt und aussieht wie ein Schneckenhaus«12. Dieses vermittelt, laut der Kritik von Eckhard Roelcke, je nach Kontext des Gesprochenen verschiedene Assoziationen, wie beispielsweise den Babylonischen Turm.13 Zusammen mit ›live‹ gesprochenen und mit eingespielten akustischen Elementen, wie sie im Hörstück zu hören sind, ergibt sich ein stark assoziatives Spiel, bei dem die einzelnen theatralen Mittel nicht den Text abbilden, sondern selbständig, als Fragmente, dem Zuschauer neue Assoziationen eröffnen. Hinsichtlich des Gesamtwerkes der Hörstücke von Heiner Goebbels lässt sich feststellen, dass in Hörstücken, die nicht von Heiner Müllers Texten ausgehen, dennoch meist literarische Texte zum Einsatz kommen. Lediglich den Hörstücken »Schliemanns Radio« (HR 1992) und »Eislermaterial« (SWR 1998) liegen keine literarischen Texte zugrunde. Stattdessen werden andere Quellen als Material verarbeitet, zum einen Ausgrabungsberichte des Archäologen 9
Vgl. Kemper, Peter: Schnabelhiebe. Heiner Goebbels’ Die Befreiung des
Prometheus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.09.1993. 10 Vgl. Abbildung in: Goebbels, Heiner: Gegen das Gesamtkunstwerk: Zur Differenz der Künste, in: Sandner, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 135-141, S. 137. 11 Vgl. Abbildung in: Schlichting, Hans Burkhard: Heiner Goebbels in Hörweite, in: ebd., S. 71-84, S. 79. 12 Roelcke, Eckhard: Die Welt ächzt. Theater in Frankfurt: »Römische Hunde«, Die Zeit, 27.12.1991, zitiert nach: http://www.zeit.de/1991/01/Die-Weltaechzt vom 01.12.2008. 13 Ebd.
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Zusammenfassung der Ergebnisse Heinrich Schliemann, die mit musikalischen Fragmenten, die um die Stadt Troja kreisen, verzahnt werden, zum anderen Musik und Originaltöne des Komponisten Hanns Eisler. »Die Wiederholung« (SWF 1997) basiert auf Motiven des Philosophen Soren Kierkegaard und des Romanciers Alain Robbe-Grillet, in »Hashirigaki« (SWR/HR 2004) wird mit dem repetitiven Text »The Making of Americans« von Gertrude Stein in Verbindung mit Songs von den Beach Boys gespielt. In »Landschaft mit entfernten Verwandten« (SWR 2006) werden Texte von T. S. Eliot, Henri Michaux, Nicholas Poussin, Giordano Bruno und abermals Gertrude Stein verwendet, die meist in den Originalsprachen rezitiert, zerlegt und verdichtend neu zusammengesetzt werden. Texte, Sprachen, Musik – all dies verwendet Heiner Goebbels als akustisches Material, fragmentarisiert es, montiert es neu zusammen und stellt es in neue Kontexte, die dem Rezipienten neue Bedeutungshorizonte eröffnen. Die in dieser Arbeit analysierten Werke entsprechen den im Gesamtwerk von Goebbels entworfenen Konzeptionen und Entwicklungen, die einen poststrukturalistischen Ansatz aufweisen, wie anhand der Analysen und der hinzugezogenen selbstreflexiven Aufsätze und Interviews deutlich wurde. Goebbels sieht die ausgewählten Texte vordergründig nicht als kohärente Werke, die eine entzifferbare Aussage verfolgen, an, sondern als Texte, die sich festen Bedeutungsvorstellungen entziehen und aufgrund ihrer Materialität, ihrer strukturellen Angebote, die Aufmerksamkeit des Komponisten auf sich ziehen. Die Bearbeitung dieses Materials in seinen Hörstücken versagt sich ebenfalls der Intentionalität und erfolgt nach kompositorischen Prinzipien, die beim Hörer eine Vielzahl an Assoziationen auslösen, jedoch keine eindeutige Interpretation ermöglichen. Infolgedessen sieht Holger Schulze Goebbels’ Arbeiten als fluktuierende Spiele, die aus nichtintentional selektierten sprachlichen und musikalischen Quellen bestehen und deren Material nicht in der ursprünglichen Ordnung verwendet wird.14 Damit stellt Schulze Goebbels’ Arbeiten in eine Reihe mit Avantgardekünstlern des 20. Jahrhunderts, deren Werke der nichtintentionalen Werkgenese folgen.
14 Vgl. Schulze, Holger: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 354.
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Text als Klangmaterial
5.2 Modell zur Analyse von von literarischen Texten ausgehender Akustischer Kunst – Realisation und Ausblick Das in Kapitel 4.1.2 entwickelte Modell zur Analyse von Heiner Goebbels’ Hörstücken, denen die Texte von Heiner Müller zugrunde liegen, soll im Folgenden kritisch reflektiert werden. Das Modell unterzieht – ausgehend von der Textanalyse der literarischen Texte – den akustischen Untersuchungsgegenstand einer Auffächerung in die drei einzelnen Ebenen der Sprache, der Geräusche und der Musik, aus denen sich die Hörstücke konstituieren. Diese Unterteilung ist notwendig, um die Gewichtung der akustischen Elemente eingehend untersuchen zu können. Mit Hilfe der vorgenommenen Protokollierung der Hörstücke (siehe Anhang) treten die Beziehungen zwischen den Elementen deutlicher hervor. So konnte der quantitative und der qualitative Einsatz von Geräuschen und Musik als eigenständige, zum Teil freistehende und von der sprachlichen Komponente unabhängige Mittel festgestellt werden. Dabei wurden alle drei akustischen Elemente in ihrer Beschaffenheit und hinsichtlich ihrer möglichen Funktionen beschrieben. Auf der sprachlichen Ebene wurden sowohl die Eigenschaften der Stimmen der beteiligten Sprecher, als auch ihre Funktionen und mögliche Interpretationsangebote, die sich aus der Modulation der Stimme entwickelten, betrachtet. Beim direkten Vergleich des Originaltextes mit seiner Verwendung im Hörstück konnten des Weiteren Aussagen über Auslassungen und Wiederholungen, Chronologie, Zerlegung in Fragmente und Neuzusammensetzung gemacht werden, was in den Ergebnissen der Einzelanalysen zusammengeführt wurde. Somit liegt ein wichtiger Aspekt des Modells auf der Untersuchung der durch Stimmen wiedergegebenen Sprache und der Transposition der im literarischen Text vorgefundenen Sprache. Die Untersuchungsergebnisse lassen auf die Gleichwertigkeit von Sprache, Geräuschen und Musik in Goebbels’ Hörstücken schließen. Das Modell entspricht in seiner Handhabung den in es gesetzten Erwartungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, da sich die beim Hören im Ganzen erfahrenen Hörstücke in ihren Einzelkomponenten untersuchen lassen und somit das den Hörstücken zugrundeliegende kompositorische Konzept der Collage deutlich hervortritt. Dadurch, dass mit Hilfe der schriftlichen Fixierung und Visualisierung in Tabellenform Strukturen der Hörstücke offengelegt und die Elemente des Untersuchungsgegenstandes erst umfassend analysierbar gemacht werden, offenbart das Modell die Notwendigkeit ebendieser Beschreibung der flüchtigen akustischen Eindrücke.
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Zusammenfassung der Ergebnisse Im Hinblick auf die Arbeiten von Heiner Goebbels, die von literarischen Texten ausgehen, kann, anhand der Einzelanalysen der Hörstücke, im Rahmen derer der Einsatz von Sprache, Geräuschen und Musik, ihre Beschaffenheit und ihre Funktion auf struktureller und semantischer Ebene des Werks und die Kompositionsprinzipien untersucht wurden, sowie anhand der Ergebnisse aus der Gegenüberstellung mit den Original-Texten von Heiner Müller eine klare Praktikabilität des Analysemodells bestätigt werden. Vom entwickelten Modell ausgehend, kann die Frage aufgeworfen werden, inwiefern sich das Analysemodell zur Untersuchung von Hörspielen und Werken Akustischer Kunst abseits der Hörstücke von Heiner Goebbels eignet. Dass das Modell Werke, die von einem literarischen Text ausgehen, entsprechend erfasst, wurde in den Analysen in der vorliegenden Arbeit hinreichend erläutert. Jedoch auch radiophone Kunst, der kein literarischer Text zugrunde liegt, kann mit Hilfe der schriftlichen Fixierung und Analyse der einzelnen Komponenten sowie ihrer Beziehungen erfasst werden, sofern auch der – bestenfalls gleichwertige – Einsatz von Sprache, Geräuschen und Musik gegeben ist. Insbesondere akustische Collagen lassen sich mit vorliegendem Modell analysieren, da es die einzelnen akustischen Elemente sowie zum Teil den Herstellungsprozess offenlegt. Für die Analyse von Akustischer Kunst, die sich ausschließlich aus Musik und/oder Geräuschen konstituiert, wären Modifikationen am Modell notwendig, um die spezifischen Eigenschaften adäquat zu untersuchen. Solch eine Analyse kann, aufgrund fehlender Sprache, aber nicht Gegenstand einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung sein. In Werken, die, wie Heiner Goebbels’ Hörstücke, alle drei Ebenen der akustischen Mittel beinhalten, ist eine umfassende Analyse unter Anwendung des Modells ohne Einschränkungen möglich.
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6 ABSCHLIESSENDE BETRACHTUNG Heiner Goebbels’ Arbeit mit Hörstücken, mit denen er eine Vorreiterrolle einnimmt, zeigt im Laufe der Jahre Tendenzen auf, die sich auch in der Akustischen Kunst im Allgemeinen feststellen lassen. Hierbei seien vor allem die Funktion von Sprache als akustisches Material, der Umgang mit vorhandenen Texten und Musik als Material und dessen Fragmentarisierung, sowie die Tendenz zur Inszenierung von Akustischer Kunst außerhalb des Rundfunks genannt. Betrachtet man anhand von Programmbroschüren der letzten Jahre die Sendungen mit Akustischer Kunst im Deutschlandradio Kultur (in der Sparte »Klangkunst«, freitags, 0:05 Uhr), im Südwestrundfunk (»ars acustica«, jeden ersten Dienstag im Monat, 23:00 Uhr) und im Bayerischen Rundfunk (»hör!spiel!art.mix«, freitags, 20:30 Uhr), so wird augenfällig, dass viele Werke dem Bereich ›Soundscape‹ zuzuordnen sind. Bei diesen wird zum Teil gänzlich auf Sprache verzichtet, zum Teil tritt sie als klangliches Material auf, dessen Semantik stark in den Hintergrund tritt, wie in »Die große Stille« (DLR 2007), wenn das Gebet von Mönchen das sonst stille Klosterleben unterbricht. Mit dem Fokus auf der Montage von Aufnahmen von Klängen und Geräuschen an verschiedensten Orten dieser Welt, wie in Belgrad für »Terrain Vague« (DLR 2007) oder in Indien für »Good Morning, Rickshaw« (DLR 2008), oder zu bestimmten Anlässen, wie bei »Elegien« (WDR 1997) während Karwochenprozessionen in Spanien, werden Klanglandschaften erschaffen, die dem Hörer einen Entwurf, einen Ausschnitt dieser Orte aus der Sicht des Künstlers präsentieren. Sprachkompositionen, wie »Messages for 2099« (HR/DLF 2007), die Botschaften von Personen aus der Politik, Wirtschaft und Kultur musikalisch collagiert, »Call me yesterday« (Autorenproduktion 2005), in der Fragmente aus frühen Sprachkursschallplatten und kassetten mit heute befremdend klingenden Satzmelodien und Pathos in den Stimmen der Sprecher sich zu einer ungewollten Musik zusammenfügen, oder das 2008 mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnete Werk »Übersetzungen/Translations« (BR 2007), in dem aus zunächst zehn in Buchstaben zerlegten Wortpaaren und Klängen der Jazzmusik musikalische Miniaturen entwickelt werden,
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Text als Klangmaterial konzentrieren sich nicht auf die Semantik, sondern auf den Lautkörper der Sprache. Neben diesem spezifischen Umgang mit den akustischen Elementen lässt sich, wie bereits oben angeführt, die Tendenz zur Auffassung von literarischen Texten und Musik als Material konstatieren. So verwendet Andreas Ammer in »Lost & Found: Das Paradies« (BR 2004) John Miltons Gedicht »Paradise Lost« aus dem 17. Jahrhundert und collagiert es mit moderner Musik. In der kurzen Klangkomposition »Brief an den Vater« (DLR 2005) wird aus der Rezitation des Textes von Franz Kafka Klangmaterial generiert und komponiert, ebenso werden in »Sprache, die schreitet so tönend« (DLR 2005) Textfragmente und Briefe von Hölderlin transformiert und musikalisiert. Die in Getrude Steins Lyrik bereits vorhandenen musikalischen Strukturen werden in »Little Connections« (DLR 2006), das auf dem erotischen Gedicht »Lifting Belly« basiert, mittels zwei Stimmen, die miteinander interagieren, wiedergegeben. Die Verwendung von Musik als akustisches Material ist beispielsweise in den Werken von Andreas Ammer der Fall, wenn in »Apocalypse Live« (BR 1994) Gloria Gaynors Popsong »I will survive« auf Oratorien von Georg Philipp Telemann und Rezitationen aus der Bibel trifft. Als weitere prägnante Entwicklung in der Akustischen Kunst ist, wie bemerkt, die Tendenz zur Inszenierung außerhalb der Institution Rundfunk zu nennen. Wie bereits erwähnt, inszenierte Heiner Goebbels die meisten seiner Hörstücke auch als Musiktheaterstücke, zum Teil sogar auch vor der Radioausstrahlung und als Vorlage für diese. Auch Andreas Ammers »Apocalypse Live« wurde nicht im Tonstudio produziert sondern als Konzert im Münchner Marstall (Bayerisches Staatsschauspiel/Bayerische Staatsoper) ›live‹ vor Publikum aufgeführt und für die Ausstrahlung mitgeschnitten. Die Präsentation Akustischer Kunst auf öffentlichen Bühnen bietet nicht nur den Künstlern erweiterte Möglichkeiten, sondern eröffnet auch den Hörern andere Facetten der Rezeption – zum einen durch die Verbindung von akustischen mit visuellen Mitteln und mit erweiterten technischen Möglichkeiten, was beispielsweise den Einsatz von Mehrkanaltechnik betrifft, zum anderen durch die veränderte Rezeptionssituation, in der der Rezipient Akustische Kunst nicht als Einzelner in seiner heimischen Umgebung erlebt, sondern gemeinsam mit anderen im Publikumsraum einer Bühne. Einrichtungen, wie der Münchner Marstall, das mittlerweile geschlossene Theater am Turm (TAT) in Frankfurt und das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe sind offen für Aufführungen von akustischen Projekten. Die im Jahr 2000 eröffnete Münchner Einrichtung t-u-b-e präsentiert als Galerie für radiophone Kunst und Audio-Performances ein breites Veranstaltungspro-
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Abschließende Betrachtung gramm an Akustischer Kunst. Zudem wurden zahlreiche Festivals initiiert, die Künstlern und ihren Werken in Form von Performances und Klanginstallationen eine Plattform und die Möglichkeit des direkten Austausches von Künstlern untereinander und mit ihrem Publikum bieten. Hier sind beispielsweise das vom Bayerischen Rundfunk ausgerichtete Festival intermedium, die Festivals Ars electronica in Linz, sonambiente in Berlin, SoundART in Duisburg und das Erlanger Hörkunstfestival zu nennen, die zum Teil unabhhängig, zum Teil in Zusammenarbeit mit Radioredaktionen agieren. Durch die verstärkte Verzahnung mit der deutschen Kulturszene in den letzten Jahren gelangt Akustische Kunst stärker in das öffentliche Bewusstsein und kann zusätzlich zu den Rundfunkteilnehmern neue Rezipienten gewinnen.
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Anhang
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Rundfunkanstalten BEFU: Berliner Funkstunde BR: Bayerischer Rundfunk DLF: Deutschlandfunk DLR: Deutschlandradio Kultur HR: Hessischer Rundfunk MDR: Mitteldeutscher Rundfunk NDR: Norddeutscher Rundfunk NWDR: Nordwestdeutscher Rundfunk RBB: Rundfunk Berlin Brandenburg RRG: Reichsrundfunkgesellschaft SA: Sachsen Radio SDR: Süddeutscher Rundfunk SFB: Sender Freies Berlin SWF: Südwestfunk SWR: Südwestrundfunk WDR: Westdeutscher Rundfunk
Institutionen ICA Boston: Institute of Contemporary Art Boston TAT Frankfurt am Main: Theater am Turm Frankfurt am Main
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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS Primärquellen TEXTE Müller, Heiner: Herakles 2 oder die Hydra, in: ders.: Zement, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 379-467. Müller, Heiner: Wolokolamsker Chaussee I-V, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 85-97, S. 195-205, S. 213-221, S. 229-247. Müller, Heiner: MAeLSTROMSÜDPOL, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 2. Die Prosa, Frankfurt am Main 1999, S. 120-121. Müller, Heiner: Verkommenes Ufer – Medeamaterial – Landschaft mit Argonauten, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 71-84. Müller, Heiner: Die Befreiung des Prometheus, in: ders.: Zement, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 379-467. Müller, Heiner: Der Mann im Fahrstuhl, in: ders.: Der Auftrag, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt am Main 2002, S. 11-42. Müller, Heiner: Der Horatier, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 73-86. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 1. Die Gedichte, Frankfurt am Main 1998. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 8. Schriften, Frankfurt am Main 2005. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 9. Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 2005. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 10. Gespräche 1. 19651987, Frankfurt am Main 2008. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 11. Gespräche 2. 19871991, Frankfurt am Main 2008. Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 12. Gespräche 3. 19911995, Frankfurt am Main 2008.
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Text als Klangmaterial
VORLAGEN UND BEZUGSWERKE Aischylos: Der gefesselte Prometheus, in: ders.: Tragödien und Fragmente, hg. und übersetzt von Oskar Werner, Darmstadt 41988, S. 409-477. Bayet, Jean (Hg.): Tite-Live: Histoire Romaine. Tome I Livre I, übersetzt von Gaston Baillet, Paris 1967. Bek, Alexander: Die Wolokolamsker Chaussee, Berlin 1968. Brecht, Bertolt: Die Horatier und die Kuriatier, in: ders: Stücke für das Theater am Schiffbauerdamm (1928-1933). Dritter Band, Berlin 1957, S.231-275. Conrad, Joseph: Kongo-Tagebuch, in: ders.: Herz der Finsternis, Zürich 82008, S. 153-161. Conrad, Joseph: Up-river Book, in: ders.: Herz der Finsternis, Zürich 82008, S. 163-190. Corneille, Pierre: Horace, in: ders.: Œuvres complètes I, Paris 1980, S. 831-901. Corneille, Pierre: Medea, in: Schondorff, Joachim (Hg.): Theater der Jahrhunderte. Medea, München/Wien 1963, S. 111-160. Eliot, T. S.: The Waste Land, in: ders.: Gesammelte Gedichte. 19091962, hg. und mit einem Nachwort versehen von Eva Hesse, Frankfurt am Main 1988, S. 83-127. Euripides: Medea, in: ders.: Sämtliche Tragödien in zwei Bänden, nach der Übersetzung von J. J. Donner, Stuttgart 1958, S. 185233. Faulkner, William: Sanctuary, London 1981. Gladkow, Fjodor: Zement, Wien/Berlin 1927. Goethe, Johann Wolfgang von: Prometheus, in: Trunz, Erich (Hg.): Goethe. Gedichte, München 1998, S. 44-46. Gotter, Friedrich Wilhelm: Medea, in: ders.: Gedichte, Bern 1971, S. 485-518. Grillparzer, Franz: Das Goldene Vließ. III. Medea, in: ders.: Dramen 1817-1828, Frankfurt am Main 1986, S. 305-390. Hillen, Hans Jürgen (Hg.): Titus Livius: Römische Geschichte. Buch I-III, Darmstadt 1987. Holzber, Niklas (Hg.): Ovid. Metamorphosen, Zürich 1996. Hölderlin, Friedrich: Andenken, in: ders.: Werke und Briefe. Erster Band, Frankfurt 1969, S. 194-196. Jahnn, Hans Henny: Medea, in: ders.: Werke und Tagebücher, Dramen I, Hamburg 1974, S. 453-528. Kafka, Franz: Die Verwandlung, in: ders.: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt am Main 52004, S. 91-158. Kleist, Heinrich von: Der Findling, in: ders.: Die Verlobung in St. Domingo. Das Bettelweib von Locarno. Der Findling. Erzählungen, Stuttgart 2002, S. 47-65.
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Text als Klangmaterial Goebbels, Heiner: Ou bien le débarquement désastreux, ECM Records 1995. Goebbels, Heiner: Shadow/Landscape with Argonauts, ECM Records 1993. Goebbels, Heiner: Shadow/Schatten – Landscape with Argonauts/Landschaft mit Argonauten, SWF 1991. Goebbels, Heiner: Surrogate Cities, ECM Records 2000. Hörspielwerkstatt »Arbeitsgeräusche«, SWR 2002. Wo bleibt denn da die Kunst?, RadioART SWR 2, Sendung vom 24.10.2006.
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vom
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301
Analyseprotokolle
305
Sehr viele Wiederholungen durch verschiedenste Stimmen
Vorherrschend chronologische Wiedergabe (Ausnahme: »Das sind sie«)
Text
Polyphone Überlagerung von M3 durch M4 (weich, Akzent) und viele weitere Passantenstimmen (männlich, weiblich,
Mündet in rhythmisches »Ollah« (5x), »Hallo« (3x) (M2; übersteuert, Ausprobieren des Mikrophons, plötzlicher Abbruch) »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten. See bei Straußberg Verkommenes Ufer Spur / Flachstirniger Argonauten (M3, leichter Dialekt, langsames Lesen, Silbe für Silbe, Unverständnis: »Was?«) Sample »Was?« wird überlagernd mehrfach als Loop wiederholt wirkt wie Gebell
Ausschließlich O-Töne: »Landschaft mit Argonauten« (M1, rückwärtsgespielt, dann vorwärts: mehrmals wiederholt im Loop, Fade out)
Stimme
Sprache Geräusch und Klang
Nebengeräusche bei Aufnahme: Stadtgeräusche, Verkehr
mündet in Titelansage
Abstraktes Geräusch, tief, brummend, Quaken, Sirren Assoziation: Illustrierung des Sees
VERKOMMENES UFER
Keine Verwendung von Musik
Musik
Zeit
02:2103:08
02:0102:21
01:4802:01
01:4201:48
00:0001:42
Min.:Sek.
Protokoll 1
306
»Totes Geäst« (M11 leise mit Fehler »Totes Gerät«, M12 deutlich)
»Schilfborsten« (F4, M9, M10 mit Dialekt und Fehler »Schiffsborsten«, F1 singend)
»Flachstirniger Argonauten« (ineinander fließend: F3 mit Lesefehler, F4 undeutlich , M8 klar und deutlich)
Polyphon: »Verkommenes Ufer Spur« (nacheinander F1, M6, M7; »Spur« lauter)
»See bei Straußberg« (nacheinander M5, K1, F1 – betrunken, F2; Stereoeffekte, lauter werdende Überlagerung zu Geräuschen)
kindlich, teilweise mit blechernem Effekt verfremdet), die darunter leiser gemischt sind und beim Verlesen des Titels anschwellen
Mundharmonika blitzt immer wieder kurz begleitend auf
Ton aus einer Mundharmonika (Nebengeräusch, mgl.weise Straßenmusiker [04:46])
Bleibt leise im Hintergrund
Verdichtung bzw. Verflechtung der Geräusche Assoziation: Zugrattern
Brummendes abstraktes Geräusch des Anfangs tritt wieder auf wabernde, sphärische Atmosphäre, leiser werdend Punktuell dazu elektronische Geräusche und Signale
Verkehrsgeräusche Orte der Aufnahmen treten deutlich hervor
04:3205:02
04:1704:32
03:3004:17
03:0803:30
Text als Klangmaterial
307
»ABER DU MUSST AUFPASSEN JA / JA JA JA JA « (M19, M20) Loops von »JA« (M19, F1, M2) »SCHLAMMFOTZE SAG ICH ZU IHR DAS IST MEIN MANN / STOSS MICH KOMM SÜSSER« (M20, M21, F2 in unterschiedlichen Geschwindigkeiten überlagert, währenddessen weiterhin »JA« im Hintergrund, das anschwillt
polyphon, zeitversetzt: »der Weiber von Kolchis« (M18 mit Anmerkung »ojojajaj« Kopfschütteln über den Text?)
»Das Blut der Weiber« (F8 und M17 gleichzeitig, gleichlaut und deutlich)
»Die zerrissenen Monatsbinden« (F7)
»Glänzen im Schlamm« (F1 zögernd) »Keksschachteln Kothaufen« (M15, leise darunter weitere männliche Stimmen) »FROMMS / ACT CASINO / Die zerrissenen« (M16 mit Akzent, Unsicherheit bei »zerrissenen«)
»Fischleichen« (M14, F5)
»DIESER BAUM WIRD MICH NICHT ÜBERWACHSEN« (F4 langsam, hell und leise, M13 schnell und mit Akzent; Stimmen ineinander verschränkt Ausnahmestellung)
Starker Hall, U-Bahn-Station
Gesang und Mundharmonika [05:31-05:35]
[04:53, 04:59, 05:05, 05:12, 05:23]
05:4606:57 (harter Schnitt)
05:0705:46 (harter Schnitt)
05:0205:07
Protokoll 1
308
»Schnaps ist billig / Die Kinder pissen in die leeren Flaschen / Traum von einem ungeheuren / Beischlaf in Chicago« (weiterhin Kinderstimmen, K2 und K3 treten lauter hervor, zusätzlich M26 leiser im Hintergrund ab »von einem ungeheuren Beischlaf in Chicago«)
»Ihre Weiber stellen das Essen warm hängen die / Betten in die Fenster bürsten / Das Erbrochene aus dem Sonntagsanzug Abflußrohre / Kinder ausstoßend in Schüben gegen den Anmarsch der / Würmer« (M25, mit Dialekt, ab »Das Erbrochene« Überlagerung mit mehreren Kinderstimmen gleichzeitig)
»Bis ihm die Argo den Schädel zetrümmert das nicht mehr / gebrauchte / Schiff / Das im Baum hängt Hangar und Kotplatz der Geier im / Wartestand Sie hocken in den Zügen Gesichter aus Tagblatt und Speichel / Starrn jeder in der Hose ein nacktes Glied auf gelacktes Fleisch / Rinnstein der drei Wochenlöhne kostet Bis der Lack / Aufplatzt Ihre Weiber« (M24, recht jung, schnell mit Pausen meist am Ende der Zeilen, starker Hall)
Vielstimmige Loops von »JA« immer schneller und lauter werdend, Verzerrung und Verdichtung zu einem unangenehmen spitzen, hohen Geräusch Assoziation: Insektenschwarm
Wiederholung einzelner Teile aus den Versen 9-12 (M22, M23, F8 sagt alle 4 Zeilen, wird wiederholt)
Mundharmonika und Freudeausruf (mgl.weise Fußballfans)
06:5707:41
Text als Klangmaterial
309
»Ihre Weiber stellen das Essen warm hängen die / Betten in die Fenster bürsten (5x) Das Erbrochene aus dem Sonntagsanzug« (M30, älter, leise, teilweise undeutlich mit Fehlern)
»Weiber stellen das Essen warm« (F1, singt danach zusammenhanglose Wortfetzen, kommentiert [09:55-10:16])
»Bis ihm die Argo den Schädel zetrümmert das nicht mehr / gebrauchte / Schiff / Das im Baum hängt Hangar und Kotplatz der Geier im / Wartestand« (M29 mit Akzent, Silbe für Silbe, mit Fehlern)
Nochmalige Wiederholung von Teilen aus dem vorhergegangenen Abschnitt: »Bis ihm die Argo den Schädel zetrümmert das nicht mehr / gebrauchte / Schiff« (M24, K4 mit Akzent, viele Pausen, stockend, F9 mit Akzent)
»Blutbeschmierte Weiber In den Leichenhallen« (M28)
»Das sind sie« (M 27)
Einfahren eines Zuges, Quietschen der Schienen, schließlich Stilisierung dieses Geräuschs durch Dehnung und Hall; wird zu sphärischen Klängen arrangiert, mit Mundharmonika-Sample vermischt [08:45-10:16]
Kinderschreie im Hintergrund [08:38-08:45]
Betrieb am Bahnhof (Ansagen, fahrender Zug)
Hämmerndes Geräusch mit kurzen Pausen, das entfernt an eine Fabrikhalle erinnert rhythmische Strukturierung beginnt textfrei, bleibt ab 07:47 gleichlaut mit dem einsetzenden Text, endet bei 07:57 abrupt
[07:39]
10:1610:40
07:5710:16 (harter Schnitt)
07:4107:57 (harter Schnitt)
Protokoll 1
310
»Traum von einem Ungeheuer« (K6, Lesefehler ) »Die Toten starren nicht ins Fenster / Sie trommeln nicht auf dem Abort« (M32, älter, F10, älter, nur leicht zeitversetzt)
»Schnaps« (2x), »Spansch« (3x), »Schnaps« (2x) »ist billig Die Kinder pissen in die leeren Flaschen / Traum von einem ungeheuren / Beischlaf in Chicago« (M31, fest, anfangs hart, dann sehr melodisch und betont – erste Stimme, die sich um Betonung bemüht)
»Sie hocken in den Zügen Gesichter aus Tagblatt und Speichel / Starrn jeder in der Hose ein nacktes Glied auf gelacktes / Fleisch Rinnstein der drei Wochenlöhne kostet Bis der Lack / Aufplatzt Ihre Weiber stellen das Essen warm hängen die / Betten in die Fenster bürsten / Das Erbrochene aus dem Sonntagsanzug Abflußrohre / Kinder ausstoßend in Schüben gegen den Anmarsch der / Würmer« (K5, stockend, mit vielen Fehlern, elektronisch verzerrt, sirrend)
»Blutbeschmierte Weiber In den Leichenhallen« (M28)
Motorengeräusch wird lauter, Vorbeifahren [12:47-12:53]
Stilisiertes Fahrgeräusch eines Zuges, zunächst textfrei, dann gleichlaut mit Text, wird ab 12:23 leiser, verklingt mit einem langgezogenen Motorengeräusch
Klackern (mgl.weise von Türen) [10:50-10:52]
Hämmerndes Geräusch
12:4113:31
11:4912:41
10:5011:49
10:4110:50 (Wdh. des verkürzten Samples von 07:41)
Text als Klangmaterial
textfremd
311
»EINIGE HINGEN AN«, »AN LEUCHTMASTEN« (M38, »Leuchtmasten« statt »Lichtmasten«) »AN LICHTMASTEN« (M 39) »ZUNGE HERAUS« (M38, Sample von oben)
F1 singt unverständlich
»Erde von den Überlebenden beschissen« (M36) »EINIGE (3x) EINIGE HINGEN (3x) AN LICHTMASTEN ZUNGE HERAUS (2x)« (M37, Akzent, mit Fehlern) »ZUNGE HERAUS, EINIGE, EINIGE HINGEN, EINIGE HINGEN AN« (M38, schnell, Assoziation: nur langsames Fortkommen, Schlüsselpassage)
»Blutbeschmierte Weiber In den Leichenhallen« (M28) »Das sind sie« (M27, mehrfache nur sehr leicht zeitversetzte Wiederholung durch verschiedene Männerstimmen )
»Das sind sie« (M27)
»Die Toten starren nicht ins Fenster / Sie trommeln nicht auf dem Abort« (M34, M35, beide leise, leicht zeitversetzt)
»Und die Toten sind [...] gesprungen Sie trommeln nicht mehr auf unserem Grab [...]« (F1, singend)
»Die Toten starren nicht ins Fenster / Sie trommeln nicht auf dem Abort« (M33, M32 als Wiederholung, leicht zeitversetzt)
Kinderschreien [14:22-14:27]
Hämmerndes Geräusch freistehend, dann gleichlaut mit Text
Hämmerndes Geräusch
Verkehr, Schritte
13:3115:37 (zu Beginn Wdh. des Samples von 07:41)
Protokoll 1
312
• • •
• • • •
Geräusche klingen langsam ab bis zur Stille
Abklingen des hämmernden Geräuschs, abstrakte, brummende Geräusche vom Anfang setzen ein, erst textfrei, dann gleichlaut mit Text
15:3717:32
Sprache ausschließlich in O-Tönen Nebengeräusche, die zum Teil stilisiert werden, und abstrakte Geräusche, die gleichlaut zur Sprache erscheinen Keine Musik im eigentlichen Sinne, Geräusche sind zum Teil zu Musik stilisiert Schnitttechnik: wenige harte Schnitte, ansonsten zeitversetzte Überlagerungen der Stimmen, weiche Übergänge durch diese Vermischung Wechsel zwischen langsamen und leiseren Passagen mit schnellen und lauteren Technische Besonderheiten: Verzerrungen, Dehnung, Raffung Kompositorisches Konzept: Collage aus O-Tönen und Geräuschen
»Auf dem Grund aber Medea den zerstückten / Bruder im Arm Die Kennerin / Der Gifte« (M1, F2, nacheinander Rückkehr zum Anfang)
»VOR«, »VOR DEM BAUCH DAS SCHILD« (M41, mit Akzent) »VOR DEM BAUCH DAS SCHILD ICH BIN EIN / FEIGLING«, »ICH«, «ICH BIN EIN / FEIGLING« (M37) «ICH BIN EIN / FEIGLING« (M41, 2x)
Text als Klangmaterial
Auslassung (Z. 2-6)
Text
313
»von Hephaistos [«a«] dem Schmied [«a«] an den Kaukasus befestigt« (F)
»wurde im Auftrag der Götter« (F)
Ab 00:07 Verzerrte Frauenstimme (F=Angela Schanelec): »Prometheus, der den Menschen den Blitz ausgeliefert hatte«
Stimme
Sprache
gleichzeitig zweimalige 00:2600:31
00:2200:26
Wiederaufnahme des »a«-Motivs (Wiederholung des Samples)
00:1400:18
00:0400:14
Track 1: Ein Diagramm 00:0000:04
Min.:Sek.
Zeit
00:1800:22
Hinzukommen von elektronischer Musik
Musik
kurzes »a« durch gedoppelte Frauenstimme und gedehnt durch eine Männerstimme Assoziation: Stöhnen unter Qual
Sinuston Assoziation: Regentropfen (bleibt durchgehend bis 02:06 erhalten) rhythmisierende Funktion
Geräusch und Klang
DIE BEFREIUNG DES PROMETHEUS
Protokoll 2
Zerpflückung des Wortes »hundsköpfiger« und des gesamten Satzes durch Repetition, Steigerung bis zum vollständigen originalen Satz, wiederholter Sprung zu »aß«
314
Lachen von F
»aß« (8x, F) dazwischen insgesamt dreimal »aß« (K=Jakob RendtorffGoebbels, dabei mehrfach nachgezogenes stilisiertes »ß«)
»wo ein hund« (F, ab hier ohne Verzerrung) »aß« (F, gedehnt) »wo ein hundskopf« (F) »aß«-Sample (F) »wo ein Adler« (F) »aß«-Sample (F) »wo ein hundsköpfiger Adler« (F) »aß« (F, gedehnt) »von seiner Leber« (F) »aß«-Sample (F) mit minimalem »a« (M) »wo ein hundsköpfiger Adler täglich [polyphon vorheriges »aß«-Sample] von seiner Leber« (F) »aß«-Sample »wo ein hundsköpfiger Adler täglich von seiner immerwachsenden Leber aß« (F)
verkürztes »a«-Sample Einsetzen von tiefen abstrakten Tönen, die das »a« laut und tief umsetzen Assoziation: qualvolle Schreie
Geräusch, wie etwas
Nach »aß« sofortiger lauter Einsatz der verzerrten Töne, dazu abstraktes tiefes Geräusch
Tiefe Töne ab 01:23 textunterlegt und leiser, anhaltend
Kurzer, leiser und tiefer Ton, textunterlegt (01:15-01:16) wieder kurzes Einsetzen der tiefen Töne (01:1901:20)
Verwendung des verkürzten »a«-Samples
Ab 00:46 Hinzukommen von lauter werdender Musik, mit der die E-Gitarre-Töne verschmelzen Assoziation: massive Bedrohung recht schnelles Abklingen
01:4102:07
01:0701:41
00:3201:06
Text als Klangmaterial
315
Stilisierter, fast gesungener, Qualschrei (M1) im Wechsel mit
»Prometheus, der den Menschen den Blitz ausgeliefert, aber sie nicht gelehrt hatte, ihn gegen die Götter zu gebrauchen, weil er an den Mahlzeiten der Götter teilnahm, die mit den Menschen geteilt weniger reichlich ausgefallen wären, wurde wegen seiner Tat beziehungsweise wegen seiner Unterlassung im Auftrag der Götter von Hephaistos dem Schmied an den Kaukasus befestigt, [12 Sek. Pause] wo ein hundsköpfiger Adler täglich von seiner immerwachsenden Leber aß. Der Adler, der ihn für eine teilweise eßbare, zu kleineren Bewegungen und, besonders wenn man von ihr aß« (M2=Heiner Müller, trocken; etwas abgehackt, gleichlaut zur Musik; Nebengeräusche, da O-Ton)
Quelle: »Ah Prometheus! [...] Ein Bild mit den Augen nicht anzuMüller, Hei- sehn, seh ich.« (M1=Walter Raffeiner, stark gezogener, verner: Prome- zerrter, hoher Gesang) theus, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main, 2001, S. 945.
zerschlagen wird, ›Regentropfen‹ enden
fröhliche Blasmusik, begleitet von Nebengeräuschen aus einem Wirtshaus textunterlegt
Musik textunterlegt Starke Dissonanzen, zunehmende Verzerrung (parallel zum Gesang), zunehmendes Tempo
Track 2: Ein Adler 00:0000:52
02:0702:30
Protokoll 2
316
Wiederholung
textfremd
»Prometheus, der den Menschen den Blitz ausgeliefert, aber sie nicht gelehrt hatte, ihn gegen die Götter zu gebrauchen, weil er an den Mahlzeiten der Götter teilnahm, die mit den Menschen geteilt weniger reichlich ausgefallen wären, wurde
Wiederholung des Samples, danach Teilwiederholung: »und komm nicht raus«, »raus« (K)
»[...] und komm nicht raus, und im Wasser schwimmen, und komm nicht raus, und in der Tonne graben, und komm nicht raus, und in den Schild grabschen, und komm nicht raus, und an den Bach fallen, und komm nicht raus« (K, langsam, unbeholfen, mit Nebengeräuschen) Unausweichlichkeit, Resignation
Geräuschen entspricht dem »mißtönendem Gesang«, der im Text folgt
Zusammenspiel von Gesang, Geräuschen und Musik von hoher Intensität, unruhiger Rhythmus, am Ende Ausklingen der Geräusche
Rhythmisches Schlagzeug, Quietschen (mgl.weise Gummiente), Babygeschrei, Elefanten, Affenschreie im Wechsel (SampleArrangement) Assoziation: Qual, Geschrei
Musik bleibt weiterhin erhalten Hinzukommen von hohen, nachklingenden Klängen
textfrei, etwas lauter, Lautstärke bleibt trotz Text
textunterlegt
Elektronische Musik, wird höher, dissonanter, nach Ausklingen der Geräusche ruhiger und eher im Hintergrund
04:4308:26
03:0004:43
00:5203:00
Text als Klangmaterial
Auslassungen, Satzfetzen
317
»aus Gestank das Massiv umkreiste«, »Jahre lang das Massiv umkreiste«, »von der Mauer aus Gestank« (rufend), »wieder von der Mauer aus Gestank«,
»Der Adler, der ihn für eine teilweise eßbare, zu kleineren Bewegungen und, besonders wenn man von ihr aß, mißtönendem Gesang befähigte Gesteinspartie hielt, entleerte sich auch über ihn. Der Kot war seine Nahrung. Er gab ihn, verwandelt in eigenen Kot, an den Stein unter sich weiter« (K)
»komm nicht raus, und im Wasser schwimmen, und komm nicht raus, und in der Tonne graben, und komm nicht raus, und in den Schild grabschen, und komm nicht raus, und an den Bach fallen, und komm nicht raus« (K, Wiederholung des Samples)
wegen seiner Tat beziehungsweise wegen seiner Unterlassung im Auftrag der Götter von Hephaistos dem Schmied an den Kaukasus befestigt, wo ein hundsköpfiger Adler täglich von seiner immerwachsenden Leber aß.« (K, unbeholfenes Lesen)
Schritte Mischung aus Schritten, Nebengeräuschen, Donner, Radiomusik
Wird intensiver, unruhiger
Klavier rhythmisch
Musik wird nun leiser und langsamer, schließlich textfrei ab 07:01 Assoziation: Einsamkeit
Tiefe, leicht bedrohliche, sich ziehende Klänge Assoziation: Unüberwindbarkeit
Track 3: Herakles singt vom Massiv 00:0001:25
Protokoll 2
Quelle: Müller, Heiner: Traktor, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main, 2001, S. 483-505.
Auslassungen werden in der zweiten Wiederholung in neue Satzposition gebracht, Bruch mit der Syntax
318
dazu zunächst etwas leiser, dann lauter werdende polyphone Fortführung des Gesangs: »immer wieder von der Mauer aus Gestank«,
Sprechstimme: »Immer den gleichen Stein, den immer gleichen Berg hinaufwälzen. Das Gewicht des Steins zunehmend, die Arbeitskraft abnehmend mit der Steigung. Patt vor dem Gipfel. Wettlauf mit dem Stein, der vielmal schneller den Berg herabrollt als der Arbeitende ihn den Berg hinaufgewälzt hat. Das Gewicht des Steins relativ zunehmend, die Arbeitskraft relativ abnehmend mit der Steigung. Das Gewicht des Steins absolut abnehmend mit jeder Bergaufbewegung, schneller mit jeder Bergabbewegung. Die Arbeitskraft absolut zunehmend mit jedem Arbeitsgang (den Stein bergauf wälzen, vor neben hinter dem Stein her bergab laufen). Hoffnung und Enttäuschung. Rundung des Steins. Gegenseitige Abnutzung von Mann Stein Berg. Bis zu dem geträumten Höhepunkt: Entlassung des Steins vom erreichten Gipfel in den jenseitigen Abgrund.« (M3=Otto Sander, leise, Studioaufnahme)
»dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste«, »weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste«, »aber zurück« (brüllend) (Gesang M1, impulsiv, pathetisch) Schritte klingen wie durch Schlamm watend
01:2505:17
Text als Klangmaterial
319
Satzfetzen
Quelle: »Traktor« textfremder Einschub: »und so weiter«
Wiederholung, Auslassungen
»so daß als nach zwar schon aber immer wieder weitere dreitausend Jahre lang während« (M1, stark rhythmisch auf Musik abgestimmt)
»so daß als nach dreitausend Jahren Herakles [silbenbetont] das menschenleere Gebirge erstieg, er den Gefesselten zwar schon aus großer Entfernung ausmachen konnte, weißschimmernd von Vogelkot, aber, zurückgeworfen wieder von der Mauer aus Gestank, weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste« (M1 zweifach, je einmal singend und sprechend, polyphon, leicht zeitversetzt)
»Oder bis zu dem denkbaren Nullpunkt: niemand bewegt auf einer Fläche nichts. STEIN SCHERE PAPIER: STEIN SCHLEIFT SCHERE SCHERE SCHNEIDET PAPIER PAPIER SCHLÄGT STEIN« »und so weiter« (M3)
»weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste«, »so daß weißschimmernd von Vogelkot«, »den Gefesselten, den Gefesselten, fesselten zwar schon ausmachen, weißschimmernd von Vogelkot, aber, zurückgeworfen immer wieder von der Mauer aus Gestank«, »weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste«, »erstieg, er den Gefesselten zwar schon aus großer Entfernung ausmachen konnte [einzelne, atemlose Silben]« »weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste, so daß«, »so daß, als nach dreitausend Jahren« (M1)
Punktuelles Hinzukommen von Quietschen
Geräusch, wie etwas hochgezogen wird Assoziation: Kette
Sehr unruhig
Protokoll 2
»Immer den gleichen Stein, den immer gleichen Berg hinaufwälzen. Das Gewicht des Steins zunehmend, die Arbeitskraft abnehmend mit der Steigung. Patt vor dem Gipfel.« (M3)
»so daß als nach dreitausend Jahren Herakles sein Befreier das menschenleere Gebirge erstieg, er den Gefesselten zwar schon aus großer Entfernung ausmachen konnte, weißschimmernd von Vogelkot, aber, zurückgeworfen wieder von der Mauer aus Gestank, weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste, während der Hundsköpfige weiter die Leber des Gefesselten aß«
»so daß der Gestank zunahm in dem gleichen Maß wie der Befreier sich an ihn gewöhnte [stark betont, rufend]« (M1) Assoziation: langes Umkreisen, Rückschläge werden akustisch erfahrbar
»Ich stehe zwischen Männern, die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl mit während des Aufstiegs klapperndem Metallgestänge. Ich bin gekleidet wie ein Angestellter oder wie ein Arbeiter am Feiertag. Ich habe mir sogar einen Schlips umgebunden, der Kragen scheuert am Hals, ich schwitze. Wenn ich den Kopf bewege, schnürt mir der Kragen den Hals ein. Ich habe einen Termin beim Chef (in Gedanken nenne ich ihn Nummer Eins), sein Büro ist in der
Wiederholung des Samples
Zum ersten Mal Wiedergabe des gesamten Textteils ohne Auslassungen
Auslassung: »und ihn mit seinem Kot ernährte«
Quelle: Müller, Heiner: Der Mann im Fahrstuhl, in: Hörnigk, Frank (Hg): Heiner Müller.
Metallreiben
Leise, schnell, harmonisch fließend
320
00:3303:59
Track 4: Endlich, der Regen 00:0000:33
Text als Klangmaterial
321
»Immerhin muß ihr Gespräch mich abgelenkt haben: beim nächsten Halt lese ich auf dem Etagenanzeiger über der Fahrstuhltür mit Schrecken die Zahl Acht. Ich bin zu weit gefahren oder ich habe mehr als die Hälfte der Strecke noch vor mir. Entscheidend ist der Zeitfaktor. FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT.«
Neuansetzen
Auslassung (Z 28-50)
»Vorläufig spitzt sich alles auf die durch meine Fahrlässigkeit im voraus nicht beantwortbare Frage zu, in welcher Etage der Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) mit einem wichtigen Auftrag auf mich wartet. (Es muß ein wichtiger
»Immerhin muß ihr Gespräch mich abgelenkt haben: beim nächsten Halt lese ich auf dem Etagenanzeiger über der Fahrstuhltür...«
Neuansetzen Abbruch
Abbruch
vierten Etage, oder war es die zwanzigste; kaum denke ich darüber nach, schon bin ich nicht mehr sicher. Die Nachricht von meinem Termin beim Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) hat mich im Kellergeschoß erreicht, einem ausgedehnten Areal mit leeren Betonkammern und Hinweisschildern für den Bombenschutz. Ich nehme an, es geht um einen Auftrag, der mir erteilt werden soll. Ich prüfe den Sitz meiner Krawatte und ziehe den Knoten fest. Ich hätte gern einen Spiegel, damit ich den Sitz der Krawatte auch mit den Augen prüfen kann. Unmöglich, einen Fremden zu fragen, wie dein Schlipsknoten sitzt. Die Krawatten der andern Männer im Fahrstuhl sitzen fehlerfrei. Einige von ihnen scheinen miteinander bekannt zu sein. Sie reden leise über etwas, wovon ich nichts verstehe. Immerhin muß ihr Gespräch...«
Werke 2. Die Prosa, Frankfurt am Main 1999, S. 104-110. Punktuell leise Saxophon-Klänge
Protokoll 2
Neuansetzen
Abbruch
322
»[Räuspern] mißtönendem Gesang befähigte Gesteinspartie hielt, entleerte sich auch über ihn. Der Kot war seine Nahrung. Er gab ihn, verwandelt in eigenen Kot, an den Stein unter sich weiter, so daß, als nach dreitausend Jahren Herakles sein Befreier, das menschenleere Gebirge erstieg, er den Gefesselten zwar schon aus großer Entfernung
»ich bin, ohne daß ich es bemerkt habe, wo die andern Herren ausgestiegen sind, allein im Fahrstuhl. Mit einem Grauen, das in meine Haarwurzeln greift, sehe ich auf meiner Uhr, von der ich den Blick jetzt nicht mehr losreißen kann, die Zeiger mit zunehmender Geschwindigkeit das Zifferblatt umkreisen, so daß zwischen Lidschlag und Lidschlag immer mehr Stunden vergehn. Mir wird klar, daß schon lange etwas nicht gestimmt hat: mit meiner Uhr, mit diesem Fahrstuhl, mit der Zeit.« (M3, ruhig, leise, Studioaufnahme)
Auftrag sein, warum sonst läßt er ihn nicht durch einen Untergebenen erteilen.) Ein schneller Blick auf die Uhr klärt mich unwiderlegbar über die Tatsache auf, daß es auch für die einfache Pünktlichkeit seit langem zu spät ist, obwohl unser Fahrstuhl, wie beim zweiten Blick zu sehn, die zwölfte Etage noch nicht erreicht hat: der Stundenzeiger steht auf Zehn, der Minutenzeiger auf Fünfzig, auf die Sekunden kommt es schon länger nicht mehr an. Mit meiner Uhr scheint etwas nicht zu stimmen, aber auch für einen Zeitvergleich ist keine Zeit mehr: ich bin, ohne daß ich es bemerkt habe...« »Ich habe einen Regenschirm für dich, wenn’s regnet!« (K, mit Nebengeräuschen, polyphon zu M3 aber viel lauter, hereinbrechend) [03:1003:15]
03:5904:44 04:4405:57
Saxophon mit Musik textfrei Musik sehr leise, fast unhörbar, fröhliche Blasmusik aus Track 2 legt sich darüber, bleibt laut textunterlegt
Text als Klangmaterial
Textabbruch
323
»Endlich, von einem Regen begünstigt, der fünfhundert Jahre anhielt, konnte Herakles sich auf Schußweite nähern. Dabei hielt er mit einer Hand die Nase zu. Dreimal verfehlte er den Adler, weil er von der Welle des Gestanks betäubt, die auf ihn einschlug, als er die Hand von der Nase nahm, um den Bogen zu spannen, unwillkürlich die Augen geschlossen hatte. Der dritte Pfeil verletzte den Gefesselten leicht am linken Fuß, der vierte tötete den Adler.« (M4, schauspielerisch betont)
»es regnet, es regnet« (K) [06:53-06:55]
»es regnet, es regnet« (K) [06:43-06:45]
ausmachen konnte, weißschimmernd von Vogelkot, aber, zurückgeworfen immer wieder von der Mauer aus Gestank, weitere dreitausend Jahre lang das Massiv umkreiste, während der Hundsköpfige weiter die Leber des Gefesselten aß und ihn mit seinem Kot ernährte, so daß der Gestank zunahm in dem gleichen Maß wie der Befreier sich an ihn gewöhnte. Endlich, von einem Regen begünstigt, der fünfhundert Jahre anhielt, konnte Herakles sich auf Schußweite nähern. Dabei hielt er mit einer Hand die Nase zu. Dreimal verfehlte er den Adler, weil er von der Welle des Gestanks« (M2, mit Nebengeräuschen)
»Aua«, Röcheln, Kampf Pfeilschuß akustische Illustration der Befreiung
Quietschende Autoreifen
Schläge, Glasbruch, Schritte Filmmusik Spannung (hier aber eher Persiflierung)
Saxophon sehr gezogen
Blasmusik geht in lauter werdende Musik des Anfangs samt Saxophon über
Kontrast zwischen Musik, Atmosphäre und Text
Track 5: Stunde Null – Heimweh
07:0707:50 (harter Schnitt)
05:5707:07
Protokoll 2
324
Quelle: »Der Mann im Fahrstuhl«
»Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. Trockener Schlamm mit Fahrspuren. [...]
»Aber Prometheus konnte den Sinn seiner Worte nicht begreifen.« (K) zentrale Stellung
Abklingen der O-Töne bis zur Stille
»Prometheus, wird erzählt, weinte laut um den Vogel, seinen einzigen Gefährten in dreitausend Jahren und Ernährer in zweimal dreitausend. Soll ich deine Pfeile essen, schrie er und, vergessend, daß er andere Nahrung gekannt hatte: Kannst du fliegen, Bauer, mit deinen Füßen aus Mist. Und erbrach sich vor dem Stallgeruch, der dem Herakles anhing, seit er die Ställe des Augias gesäubert hatte, weil der Mist zum Himmel stank. Iß den Adler, sagte Herakles. Aber Prometheus konnte den Sinn seiner Worte nicht begreifen. Auch wußte er wohl, daß der Adler seine letzte Verbindung zu den Göttern gewesen war, seine täglichen Schnabelhiebe ihr Gedächtnis an ihn. Beweglicher als je in seinen Ketten beschimpfte er seinen Befreier als Mörder und versuchte ihm ins Gesicht zu spein.« (unvermitteltes Einsetzen vieler polyphoner O-Töne, M5 im Vordergrund, jung, relativ schnell; im Hintergrund: weitere leicht zeitversetzte Männerstimmen, Nebengeräusche)
00:5304:58
00:4500:53
nach dem Fahrstuhl 00:0000:45
Text als Klangmaterial
Auslassung Vor einer Plakatwand mit Reklamen für Produkte einer frem(Z. 114-119) den Zivilisation stehen zwei riesige Einwohner. Von ihren Rücken geht eine Drohung aus. Ich überlege, ob ich zurückgehen soll, noch bin ich nicht gesehen worden. Nie hätte ich Auslassun- gedacht, während meines verzweifelten Aufstiegs zum Chef, gen großer daß ich Heimweh nach dem Fahrstuhl empfinden könnte, Teile, aber der mein Gefängnis war. Wie soll ich meine Gegenwart in Wahrung diesem Niemandsland erklären. Ich habe keinen Fallschirm der Chrono- vorzuweisen, kein Flugzeug oder Autowrack. Wer kann mir logie glauben, daß ich aus einem Fahrstuhl nach Peru gelangt bin, vor und hinter mir die Straße, von der Ebene flankiert, die nach dem Horizont greift. Wie soll überhaupt eine Verständigung möglich sein, ich kenne die Sprache dieses Landes nicht, ich könnte genausogut taubstumm sein. Besser Auslassung ich wäre taubstumm: vielleicht gibt es Mitleid in Peru. (Z. 134-145) [...] Hoffentlich nicht zu spät löse ich meinen Schlipsknoten, dessen korrekter Sitz mich so viel Schweiß gekostet hat auf meinem Weg zum Chef, und lasse das auffällige Kleidungsstück in meiner Jacke verschwinden. Beinahe hätte ich es weggeworfen, eine Spur. Im Umdrehn sehe ich zum erstenmal das Dorf; Lehm und Stroh, durch eine offne Tür eine Hängematte. Kalter Schweiß bei dem Gedanken, ich könnte von dort aus beobachtet worden sein, aber ich kann kein Zeichen von Leben ausmachen, das einzig Bewegte ein Hund, der in einem qualmenden Müllhaufen wühlt. Auslassung [...] (Z. 155-172) Sinuston [01:19] Sinuston [01:28] Sinuston zwei Mal hintereinander [01:35] Harte, sehr laute, tiefe Klänge [01:42-01:44] Tiefe Klänge [01:5001:51] »aß«-Sample (F, gezerrt) [01:57-01:58] Zerbrechen, Gesungenes »Oh« [02:03-02:04, 02:10] Elefanten [02:16-02:17] Schlagzeug aus Track 2 [02:28-02:30] Elefanten [02:34] Wdh. Elefanten [02:38] Hoher Ton [02:42] Wdh. hoher Ton [02:47] »raus« (K) [02:50-02:51] Wdh. hoher Ton [02:53, 02:56, 03:00, 03:02, 03:05, 03:07, 03:09, 03:12]
Sehr hoher und kurzer Sinuston, dabei kurze Unterbrechung im Text [01:11]
Protokoll 2
325
Etwas wie Heiterkeit breitet sich in mir aus, ich nehme die Jacke über den Arm und knöpfe das Hemd auf: mein Gang Auslassung ist ein Spaziergang. Vor mir läuft der Hund über die Straße, (Z. 182-192) [...] Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen, aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung, und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegen kommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.« (M3, Studioaufnahme)
Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag. Was kann mein Auftrag sein in dieser wüsten Gegend jenseits der ZivilisaAuslassung tion. Wie soll der Angestellte wissen, was im Kopf des Chefs (Z. 175-179) vorgeht. [...]
rhythmisch wiederkehrender, sich in der Geschwindigkeit steigernder, in der Länge abnehmender Ton, textunterlegt [03:30-04:17]
Rhythmische tiefe elektronische Klänge [03:13] Wdh. [03:15, 03:18, 03:19] Hohe Klänge [03:21] Tiefe Klänge [03:23] »aber zurück« (M1) [03:24] »zu« [03:26] »das« [03:28] Hoher Ton [03:29]
Ruhige Musik aus Track 4 [04:1704:58]
Text als Klangmaterial
326
327
M1 artikuliert sich mit scheinbar zusammenhanglosen Buchstaben, Silben, unverständlichen Worten [Räuspern] polyphon zu den ohnehin polyphonen, unverständlichen Sprachäußerungen: »Zeit, Wetter, Kot, Kette, Fleisch, Metall, Stein, Rost« (M1, gezogen, stark betont)
polyphon: »Nur am Geschlecht war die Kette mit dem Fleisch verwachsen, weil Prometheus, wenigstens in seinen ersten zweitausend Jahren am Stein, gelegentlich masturbiert hatte.« (F, betont, langsam)
Leidender Qualgesang (M1) Wird leiser, bleibt im Hintergrund, klingt mit der Zeit kampfeslustig
Ab »der Antipode« polyphone Überlagerung, Sample wird leicht zeitversetzt von vorne abgespielt: »Ich stehe zwischen Männern, die mir [...]« (M3)
Sprache im Fokus, weitere punktuell eingesetzte akustische Mittel unterbrechen Sprachfluß, aber nicht das Textverständnis, bringen Text mit Samples aus vorhergehenden Tracks in Verbindung zu Prometheus, sehr schnelle Schnitte, Kontrast zwischen ruhiger Stimme und unruhigen Klängen
Filmmusik tritt in Vordergrund, Trommeln
Punktuell Samples von Filmmusik
Rockmusik, textunterlegt Sehr treibender Rhythmus
00:5003:53
Track 6: Zeitwetterkotfleischmetallrost 00:0000:50
Protokoll 2
Rückblende, keine Chronologie, nur Prometheus’ Aussagen
328
»Auch wußte er wohl, daß der Adler seine letzte Verbindung zu den Göttern gewesen war, seine täglichen Schnabelhiebe ihr Gedächtnis an ihn. Beweglicher als je in seinen Ketten beschimpfte er seinen Befreier als Mörder und versuchte ihm ins Gesicht zu spein. Herakles, der sich vor Ekel krümmte, suchte währenddem die Fesseln, mit denen der Tobende an seinem Gefängnis befestigt war. Zeit, Wetter und Kot hatten Fleisch und Metall voneinander ununterscheidbar gemacht, beides vom Stein. Gelockert durch die heftigeren Bewegungen
»Auch wußte er wohl, daß der A... [Verschlucken] Adler seine letzte Verbindung zu den Göttern gewesen war, seine täglichen Schnabelhiewe... hiebe [Tschuldigung, muss den Satz noch mal sagen] Auch wußte er wohl, daß der [Brechreiz] Adler seine letzte Verbindung zu den ...« (M1)
»Auch wußte er wohl, daß der A... [Verschlucken] Adler« (M1)
Dazu polyphon im Vordergrund: »Später hatte er dann wohl wohl auch sein Geschlecht vergessen. Von der Befreiung blieb eine Narbe.« (F)
nonverbale Äußerungen der Anstrengung, polyphon (M1)
»Soll ich deine Pfeile essen. Soll ich deine Pfeile essen. Kannst du fliegen, Bauer, mit deinen Füßen aus Mist.« (M1, gesungen)
»Zeit, Wetter, Kot, Fleisch, Metall, Stein, Rost« (M1, nun lauter und höher), nochmalige Wiederholung unverständliche Äußerugen (M1)
Blasmusik
Filmmusik tritt in der Vordergrund, Fanfaren, tiefe Töne übertönt Sprache
Sample Filmmusik, Fanfaren
03:5304:35
Text als Klangmaterial
329
Auslassungen
Quelle: Mülller, Heiner: Prometheus, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 945.
»Wirst du die Fesseln dem antun also / Schnell, daß dich nicht langsam sieht der Vater [...] An den Berg nagle, kleid mit dem Hammer / In sein Kleid ihn. [...] Stärker schlag, enger bind ihn, geschickt / Wo kein Ausweg ist, den Ausweg / Findet der.« (M1) »Eher den Berg bewegt / Als diesen, den Arm, er.« (M1) »Den andern jetzt. [...] Den Keil durch die Brust jetzt treib
»[...] nichts mehr zwischen / Mir und meinem Auftrag [...] den Berg jetzt / Wirst du bewachen / Aufrecht, schlaflos, nicht beugen könnend das Knie / Viel schreiend aber / In kein Ohr. (M1, Gesang, gezogen und gedehnt, entspricht Hephaistos)
»Ans Ende sind wir gekommen der Welt / Von Menschen leer. Deine Arbeit, Hephaistos / Mußt du jetzt ausführen, die der Vater befohlen hat / Zeus, an den Fels schlagen den da [...]« (M1 als zweistimmiger Gesang, entspricht Kratos und Bia in »Prometheus«)
des Gefesselten wurden sie kenntlich.« (M2, O-Ton, Nebengeräusche)
Schnelles Metallschlagen Assoziation: Reaktion von Hephaistos
Metallschlagen, textunterlegt
Am Anfang eher laute Filmmusik, Fanfaren, dann zum Teil Verfremdung, textunterlegt
Blasmusik klingt aus Track 7: Die Ketten – Eine Rückblende auf Hephaistos 00:0002:52
Protokoll 2
Auslassung (Z. 50-54)
Einfügung: »den«
»Es stellte sich heraus, daß sie von Rost zerfressen waren. [...] Leicht hätte sich Prometheus selbst befreien können, wenn er den Adler nicht gefürchtet hätte, waffenlos und erschöpft von den Jahrtausenden wie er war. Daß er die Freiheit mehr gefürchtet hat als den Vogel, zeigt sein Verhalten bei der Befreiung. Brüllend und geifernd, mit Zähnen und Klauen, verteidigte er seine Ketten gegen den Zugriff des Befreiers. Befreit, auf Händen und Knien, heulend in der Qual der Fortbewegung mit den tauben Gliedmaßen, schrie er nach seinem ruhigen Platz am Stein, unter den Fittichen des Adlers, mit keinem andern Ortswechsel als dem von den Göttern durch gelegentliche Erdbeben verfügten. Noch als er schon wieder aufrecht gehen konnte, sperrte er sich gegen den Abstieg wie ein Schauspieler, der seine Bühne nicht verlassen will. Herakles mußte ihn auf den Schultern vom Gebirge schleppen. Weitere dreitausend Jahre...« (M2, Nebengeräusche) Stimme geht in Kleinkindrufen unter
ihm / Mit Gewalt. [...] Jetzt um die Seiten wirf das Erz ihm. [...] Schmied um die Beine ihm den Ring jetzt.« (M1) »Laß uns fortgehn. Ganz in meiner Arbeit / Hängt er befestigt.« (M1, stark gedehnt) »Ah Prometheus! [...] Ein Bild mit den Augen nicht anzusehn, seh ich.« (M1) Wiederholung des Samples aus Track 1 Lautes, schrilles Schlagen
Blasmusik
Track 8: Der Abstieg zu den Menschen 00:0001:03
Text als Klangmaterial
330
textfremd
331
»An den Hals des Befreiers geklammert, gab Prometheus ihm mit leiser Stimme die Richtung der Geschosse an, so daß sie den meisten ausweichen konnten. Dazwischen beteuerte er, laut gegen den Himmel schreiend, der vom Wirbel der Steine verdunkelt war, seine Unschuld an der Befreiung.« (M3)
»Während die Götter das Gebirge aus dem Grund rissen, so daß der Abstieg durch den Wirbel der Gesteinsbrocken eher einem Absturz glich, trug Herakles seine kostbare Beute, damit sie nicht zu Schaden kam, wie ein Kind an seine Brust gebettet.« (M3)
»Weitere dreitausend Jahre dauerte der Abstieg zu den Menschen.« (M3, leise)
»Nanananana....! Jetzt bin ich der Zuschauer. Auch. Jetzt bin ich der Zuschauer. Neee! Hier, das ist unsere Bühne. Ja, wir bleiben, auf unserer einzigen Bühne. Nein. Darfst du nicht. Nein, das darfst du nicht! Jetzt geh, nein! Geh jetzt weg! Ja, wir bleiben, auf unserer einzigen Bühne.« (K, Nebengeräusche) Prometheus als bockiges Kind thematische Verbindung durch Bühne
03:5004:07
03:2703:50
03:1003:27
Musik wird drama- 04:07tischer 04:20
Musik steht textfrei, Lautstärke bleibt
Melodramatische Filmmusik im Hintergrund
02:3602:40
leiser und langsamer
02:4003:10
02:0302:36
Tiefe, rhythmische Töne
Filmmusik, Trommelschläge, Fanfaren, Jingle der Filmvertriebsfirma »20th Century Fox« aus versch. Zeiten
01:0302:03
Blasmusik wird gedehnt und geht in leise Musik und hohe Töne über
Protokoll 2
• • • •
332 Anschwellender Applaus, Fade out
Lauter Applaus, Rufe Hintergrund
Ruhige, elektronische Musik im Hintergrund
Applaus, Pfiffe, »Zugabe«-Rufe, Verbindung zur Bühne und Publikum
Verdichtung der lauter werdenden Musik mit elektr. Geräuschen
Illustrierung
Track 9: Im Jubel der Bevölkerung – Zugabe 00:0001:22
06:0406:46
04:2006:04
Auffächerung in Rezitation und Gesang, vielfältige Geräusch- und Musiksamples Schnitttechnik: wenige harte Schnitte, punktuell leicht asynchrone Überlagerungen der Stimmen Technische Besonderheiten: Verzerrungen, Dehnung Kompositorisches Konzept: Collage aus Sprache, Geräuschen und Musik, aus verschiedenen Texten Müllers und verschiedenen akustischen Mitteln
»Prometheus arbeitete sich an den Platz auf der Schulter seines Befreiers zurück und nahm die Haltung des Siegers ein, der auf schweißnassem Gaul dem Jubel der Bevölkerung entgegenreitet.« (M1, rufend, Wort für Wort betont)
lauterwerdende und wieder abklingende Männerstimme mit Echo (nicht verständlich)
»Es folgte der Selbstmord der Götter. Einer nach dem andern warfen sie sich aus ihrem Himmel auf den Rücken des Herakles und zerschellten im Geröll.« (M3)
Text als Klangmaterial
Chronologie, Auslassung der Versalien und der englischsprachigen Klammer
Text
Im Hintergrund: »Die Insel des großen Blutbades ihre Bewohner ihre Sitten hat es noch Zweck sie mitzuteilen [...] die südliche Nebelwand heute höher verliert die graue Färbung das Wasser unheimlich warm auch sieht es bedeutend milchiger aus heftige Oberflächenbewegung in der Nähe des Bootes begleitet wie gewöhnlich von einem wilden Flackern am oberen Nebelrand ein weißer Staub fällt auf das Boot auf das Wasser aschenartig keine Asche« (M=David Bennent, hoch, klingt fast wie eine Frauenstimme, rufend, ziehend, als ob er gegen etwas anruft, wird anfangs teilweise übertönt)
Stimme
Sprache Geräusch und Klang
333 Geräusche bleiben im Vordergrund, ab 01:22 klingen Geräusche langsam ab, Sprache wird verständlicher, es bleiben übrig: Vögel (mgl.weise Möwen) und Meeresrauschen
Rauschen, laut, zunächst freistehend, dann Beimischung polyphoner, tiefer und hoher elektro. Töne Assoziation: Schiffssirene, Vögel
MAELSTROMSÜDPOL Musik
Zeit
00:4002:20
Track 2: Pym 00:0000:40
Track 1 der Cd ist »Verkommenes Ufer« (s. o.)
Min.:Sek.
Protokoll 3
Wiederholung
334
»der Nebel wird ruhig« [Pause] »das Wasser glatt«
»die südliche Nebelwand heute höher verliert die graue Färbung das Wasser unheimlich warm auch sieht es bedeutend milchiger aus heftige Oberflächenbewegung in der Nähe des Bootes begleitet wie gewöhnlich von einem wilden Flackern am oberen Nebelrand ein weißer Staub fällt auf das Boot auf das Wasser aschenartig keine Asche« (M, ruhig, deutlich, angenehme Lautstärke, Aufnahme im Studio, leichter Halleffekt am Anfang) Modulation in der Stimme, Satzanfänge und -enden deutlich
Abklingen der Geräusche bis auf ein Rauschen, freistehend bis Ende des Tracks, Fade Out
Musik schwillt wieder an, wird lauter, rhythmischer und
Bleibt gleichlaut bei erneutem Sprecheinsatz, dann ruhiger
Leicht überlappender Musikeinsatz, lauter als Sprache; dann freistehende Ambient-Musik u.a. mit hohen Saxophonklängen
00:5804:20
00:2600:58
Track 3: Tsalal 00:0000:26
02:2003:35
Text als Klangmaterial
335
»ein weißer Vorhang der den Horizont verdeckt«
»ein Katarakt der schweigend von einem riesigen Wehr am fernen Himmel stürzt«
»die Nebelwand nimmt andere Formen an«
»der aschenartige Staub fällt ohne Pause«
»das Wasser so heiß daß die Hand brennt«
»TSALAL ein weißes Tier schwimmt vorbei«
»sie sind schwarz«
»er zeigt seine Zähne«
»wir fragen NUNU warum das Blutbad«
Klingt langsam
Hinzukommen von leisen Explosionsgeräuschen
Musik steht frei, langgezogene Töne
Ganz leise Trommelschläge, leise hohe, quirlige Töne, Beimischung des Grundthemas
Sehr hohe, unruhige Töne
Hohe SaxophonTöne, Rauschen
Lauter
treibender, u.a. durch Trommelschlagen; Töne lassen Blubbern assoziieren, dann wieder rhythmischer und treibender
05:22– 07:05
04:2005:22
Protokoll 3
Klammer vom Textbeginn Wiederholungen kreisen um »der Leichnam«
Wiederholung
336
»den du letztes Jahr«
»der Leichnam« »in your garden« »haltet den Hund fern«
»that corpse« »der Leichnam« »oh« »you planted last year« »oh«
»keine Asche« »der uns begraben will« (M, längere Pausen zwischen einzelnen Sätzen)
»kein Laut« »plötzlich Dunkelheit« »gleichzeitig aus der milchigen Tiefe« »ein Leuchten« »der Aschenregen«
»kein Laut« durch Pausen treten Sätze hervor
Grundthema [01:02-01:04]
Grundthema [00:47-00:49] Grundthema [00:55-00:57]
Grundthema [00:40-00:42]
Grundthema [00:32-00:34]
Grundthema taucht kurz leise auf [00:17-00:19] Grundthema [00:25-00:27]
Stille
aus, am Ende nur ein leiser hoher Ton, der bis zum Track-Ende gehalten wird, Fade Out Korrespondenz mit »kein Laut«
00:3602:43
Track 4: Oh 00:0000:36
Text als Klangmaterial
337 Vogelgezwitscher
»der Leichnam« »you«
»der Leichnam« »oh« Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher
»dieses Jahr« »in your garden«
»has it begun to sprout«
Vogelgezwitscher
»wird er blühen« »you« »planted last year«
Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher
»that corpse« »den du letztes Jahr gepflanzt hast«
»wird er blühen dieses Jahr«
»der Leichnam« »keimt er«
»in deinem Garten« »will it bloom this year« »oh«
»gepflanzt hast« »has it begun to sprout« »der den Menschen Freund ist«
Grundthema [02:03-02:05]
Grundthema [01:55-01:57]
Grundthema [01:48-01:50]
Grundthema [01:40-01:42]
Grundthema [01:33-01:35]
Grundthema [01:25-01:27]
Grundthema [01:18-01:20]
Grundthema [01:10-01:12]
Protokoll 3
338
»oh« »this year« »gepflanzt hast« »dass er ihn nicht ausgräbt« »he’ll dig it up« »keimt er« »again«
»den du letztes Jahr« »oh« »der den Menschen Freund ist« (polyphon)
»that’s friend to men«
Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher
»keep the dog far« »haltet den Hund fern«
»far hence« »der Leichnam« »der«
Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher Vogelgezwitscher
Vogelgezwitscher
»oh keep the dog«
»this year« »oh«
»in deinem Garten« »in your garden« (polyphon)
»will it bloom«
Tarogato (polyphon zur Sprache) Schlagzeug, übertönt Sprache zum Teil, Musik verdichtet sich
Tarogato
Grundthema [02:41-02:43] Tarogato Grundthema [02:48-02:50]
Grundthema [02:26-02:28] Grundthema [02:33-02:35]
Grundthema [02:18-02:20]
Grundthema [02:10-02:12]
02:4303:44
Text als Klangmaterial
Wiederholung
»Die Insel des großen Blutbades ihre Bewohner ihre Sitten hat es noch Zweck sie mitzuteilen [...] die südliche Nebelwand heute höher verliert die graue Färbung das Wasser unheimlich warm auch sieht es bedeutend milchiger aus
»wird er blühen« »dass er ihn nicht ausgräbt« »he’ll dig it up again« »dieses Jahr« »mit seinen Nägeln« »der Leichnam« »oh« »dass er ihn nicht ausgräbt mit seinen Nägeln« (nur sehr kurze Pausen) (M, flüsternd, sehr eindringlich; Stereoeffekte zwischen deutsch und englisch)
Vogelgezwitscher
Hinzukommen von metallischen Schlägen E-Gitarre mit Ta03:44rogato und Schlag- 06:42 zeug, sehr laut, verstörend, treibend Klingt leicht ab, Hinzunahme des Grundthemas E-Gitarre wird immer ruhiger, nur Trommel/ Schlagzeug und Vogelgezwitscher am Ende, Fade Out Track 5: Fff 00:0001:40
Protokoll 3
339
Einzelsätze aus Track 3 hier zusammenhängend
340
polyphon (nur linker Kanal): »der Nebel wird ruhig das Wasser glatt wir fragen NUNU warum das Blutbad er zeigt seine Zähne sie sind schwarz TSALAL ein weißes Tier schwimmt vorbei das Wasser so heiß daß die Hand brennt der aschenartige Staub fällt ohne Pause die Nebelwand nimmt andere Formen an ein Katarakt der schweigend von einem riesigen Wehr am fernen Himmel stürzt ein weißer Vorhang der den Horizont verdeckt kein Laut plötzlich Dunkelheit gleichzeitig aus der milchigen Tiefe ein Leuchten der Aschenregen keine Asche der uns begraben will wir treiben mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Nebelwand zu manchmal reißt die Nebelwand und wir blicken in einen Wirbel aus flackernden Bildern wie Fetzen
heftige Oberflächenbewegung in der Nähe des Bootes begleitet wie gewöhnlich von einem wilden Flackern am oberen Nebelrand ein weißer Staub fällt auf das Boot auf das Wasser aschenartig keine Asche der Nebel wird ruhig das Wasser glatt wir fragen NUNU warum das Blutbad er zeigt seine Zähne sie sind schwarz TSALAL ein weißes Tier schwimmt vorbei das Wasser so heiß daß die Hand brennt der aschenartige Staub fällt ohne Pause die Nebelwand nimmt andere Formen an ein Katarakt der schweigend von einem riesigen Wehr am fernen Himmel stürzt ein weißer Vorhang der den Horizont verdeckt kein Laut plötzlich Dunkelheit gleichzeitig aus der milchigen Tiefe ein Leuchten der Aschenregen keine Asche der uns begraben will wir treiben mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Nebelwand zu manchmal reißt die Nebelwand und wir blicken in einen Wirbel aus flackernden Bildern wie Fetzen von Fotografien im Feuer« (M, ruhig, nur rechter Kanal)
Text als Klangmaterial
Chronologie, Wiederholung mit verschiedenen Betonungen
341
»TEKELILI« (mehrfache Wiederholung als Gesang von M, Art Refrain)
»ihre Gegenstände ihre Gegenstände nicht mehr auszumachen lautlos lautlose Stürme wehen lautlose Stürme wehen aus dem Riß aus dem Riß aus dem Rißaus dem Riß über das glühende Wasser zwingen seinen Fluß in ihre Richtung Richtung große weiße Vögel gegen den Sturm ihren Schrei haben wir auf der Insel gehört gehört sie selber nicht gesehen nicht gesehen (M, rufend wie in Track 1, starkes Echo, Echo verdichtet sich immer mehr, schwillt polyphon an, wird schließlich Teil der Musik)
starke Betonung der Alliteration, »f« sind langgezogen, klingen bedrohlich; vgl. Tracktitel
mehrfache Wiederholung und immer mehr Zusammenlegung der verschiedenen Samples bei: »Bildern wie Fetzen von Fotografien im Feuer«
dritte Überlagerung: »wir treiben mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Nebelwand zu manchmal reißt die Nebelwand und wir blicken in einen Wirbel aus flackernden Bildern wie Fetzen von Fotografien im Feuer« (M, lauter, erregt, Betonung von »f«)
von Fotografien im Feuer« (M, anfangs ruhig)
Schiffssirene
Assoziation: Flug der Vögel
textunterlegt (Echo): Gitarre und Schlagzeug, später auch Saxophon, sehr rhythmisch
02:1005:02
Track 6: Tekelili 00:0002:10
Protokoll 3
342
Stimme summt das Zupfen der Gitarre mit Assoziation: Sprachlosigkeit des Wilden
polyphon, nur leicht zeitversetzt: »der Wilde zuckt im Takt ihres Flügelschlags auf dem Boden des Bootes als wir ihn berühren ist er tot seine Haut eisig die Zähne weiß wir schneiden in seine Haut kein Blut mehr nach dem zweiten Schnitt geht sein Leichnam ohne sichtbaren Übergang in dem Nebel auf der jetzt nach unserem Boot greift« (M) »nach unserem Boot greift« (M, Wörter abgesetzt, rufend)
»große weiße Vögel gegen den Sturm ihren Schrei haben wir auf der Insel gehört sie selber nicht gesehen waren sie kleiner vor dem Blutbad der Wilde zuckt im Takt ihres Flügelschlags auf dem Boden des Bootes als wir ihn berühren ist er tot seine Haut eisig die Zähne weiß wir schneiden in seine Haut kein Blut mehr nach dem zweiten Schnitt geht sein Leichnam ohne sichtbaren Übergang in dem Nebel auf der jetzt nach unserem Boot greift« (M, ruhig sprechend, am Ende rufend) »der jetzt nach unserem Boot greift« (M rufend)
Verzerrte Musik (rückwärts abgespielt) Tiefer bedrohlicher Grundton
Musik dieses Tracks, gleichlaut mit Text Dann freistehend, fließender Übergang zu Track 7 Track 7: Nunu 00:0002:00
Instrumentalisches 05:02›Quietschen‹, das 05:35 den Anfang des Textes noch überlappt, immer leiser werdend
Text als Klangmaterial
Zusammenhängende Wiedergabe des Ausschnitts aus »The Waste Land« mit Wiederholungen
»that corpse that corpse you planted planted last year in your garden has it begun to sprout will it bloom this year oh keep the dog far hence that’s friend to men or with his nails he’ll dig it up again again that corpse you planted planted last year in your garden has it begun to sprout will it bloom this year oh oh keep the dog far hence that’s friend to men or with his nails he’ll dig it up again that corpse you you planted planted last year in your garden has it begun to oh will it bloom this year« (M, Gesang, rockig, akzentuiert bis schreiend)
Elektronische Musik, E-Gitarre, Schlagzeug,, Trommel; Sehr laut und rhythmisch
gezupfte GitarreKlänge, die letzten 5 Sek. nur tiefes Rauschen, fließender Übergang zu Track 8 Track 8: Oh Keep the dog 00:0004:27
Protokoll 3
343
344
• • • • •
Geräusche nur punktuell, Sprache, Gesang und Musik gleichwertig Schnitttechnik: nur wenige harte Schnitte, eher fließende Übergänge Dynamik: Unterschiede in Lautstärke der gesprochenen Sprache (Trackanfänge) Technische Besonderheiten: Hall, Echo, Stereoeffekte, Rückwärtsabspielen Kompositorisches Konzept: Collage aus Sprache und Musik
Assoziation des Rückwärtsabgespielten mit gespiegelter Welt Jenseits
polyphon: »wir gleiten in dem Katarakt ein breiter Durchgang tut sich auf wie zum Empfang hinter uns schließt sich der schäumende Nebel übermenschengroß eine Gestalt auf unserer Bahn THAT CORPSE YOU PLANTED [eindringlich] ihre Haut ist weiß wie Schnee etwas greift in mein Gehirn OH KEEP THE DOG GOD EHT PEEK HO ILILEKET ILILEKET« (M)
»that corpse« (aus vorhergehendem Gesang, mit E-Gitarre, leiser)
»oh [tief, leidend] oh [hoch] oh [tief] oh [tief] oh [hoch] keep the dog far hence that’s friend to men or with his nails [sehr hoch] he’ll dig it up again again [hoch]« (parallel zu Klängen der E-Gitarre, Sprache wird mit Instrument imitiert) Musik im Hintergrund, Fade Out bis zur Stille
Musik klingt nach und nach ab, gezogene E-GitarreTöne bleibt noch deutlich
04:2704:59
Text als Klangmaterial
Keine Auslassungen
Chronologie
Text
Geräusch und Klang
»Ich stehe zwischen Männern, die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl mit während des Aufstiegs klapperndem Metallgestänge. Ich bin gekleidet wie ein Angestellter oder wie ein Arbeiter am Feiertag. Ich habe mir sogar einen Schlips umgebunden, der Kragen scheuert am Hals, ich schwitze. Wenn ich den Kopf bewege, schnürt mir der Kragen den Hals ein. Ich habe einen Termin beim Chef (in Gedanken nenne ich ihn Nummer Eins), sein Büro ist in der vierten Etage, oder war es die zwanzigste; kaum denke ich darüber nach, schon bin ich nicht mehr sicher. Die Nachricht von meinem Termin beim Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) hat mich im Kellergeschoß erreicht, einem ausgedehnten Areal mit leeren Betonkammern und Hinweisschildern für den Bombenschutz. Ich nehme an, es geht um einen Auftrag, Ab 01:00: der mir erteilt werden soll. Ich prüfe den Sitz meiner Krawatte Tiefer brummender Ton und ziehe den Knoten fest. Ich hätte gern einen Spiegel, damit ich den Sitz der Krawatte auch mit den Augen prüfen kann. Unmöglich, einen Fremden zu fragen, wie dein Schlipsknoten sitzt. Die Krawatten der andern Männer im Fahrstuhl sitzen fehlerfrei. Einige von ihnen scheinen
Stimme
Sprache
DER MANN IM FAHRSTUHL/THE MAN IN THE ELEVATOR Musik
Track 1: In einem alten Fahrstuhl 00:0002:08
Min.:Sek.
Zeit
Protokoll 4
345
Polyphone Überlagerung ab 00:27: »Ich stehe zwischen Männern, die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl mit während des Aufstiegs klapperndem Metallgestänge. Ich bin gekleidet wie ein Angestellter oder wie ein Arbeiter am Feiertag. Ich habe mir sogar einen Schlips umgebunden, der Kragen scheuert am Hals, ich schwitze. Wenn ich den Kopf bewege, schnürt mir der Kragen den Hals ein. Ich habe einen Termin beim Chef (in Gedanken nenne ich ihn Nummer Eins), sein Büro ist in der vierten Etage, oder war es die zwanzigste; kaum denke ich darüber nach, schon bin ich nicht mehr sicher. Die Nachricht von meinem Termin beim Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) hat mich im Kellergeschoß erreicht, einem ausgedehnten Areal mit leeren Betonkammern und Hinweisschildern für den Bombenschutz. Ich nehme an, es geht um einen Auftrag, der mir erteilt werden soll. Ich prüfe den Sitz meiner Krawatte und ziehe den Knoten fest. Ich hätte gern einen Spiegel, damit ich den Sitz der Krawatte auch mit den Augen prüfen kann. Unmöglich, einen Fremden zu fragen, wie dein Schlipsknoten sitzt. Die Krawatten der andern Männer im Fahrstuhl sitzen fehlerfrei. Einige von ihnen scheinen miteinander bekannt zu sein. Sie reden leise
miteinander bekannt zu sein. Sie reden leise über etwas, wovon ich nichts verstehe. Immerhin muß ihr Gespräch mich abgelenkt haben: beim nächsten Halt lese ich auf dem Etagenanzeiger über der Fahrstuhltür mit Schrecken die Zahl Acht. Ich bin zu weit gefahren oder ich habe mehr als die Hälfte der Strecke noch vor mir. Entscheidend ist der Zeitfaktor. FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT.« (M1=Heiner Müller; mit Hall)
Ab 01:30: Hinzukommen von Gitarre und Schlagzeug
Text als Klangmaterial
346
Abbruch
Abbruch
polyphon: »Ich bin zu weit gefahren oder [...]« (M2) »I am standing among men who are strangers to me, in an old elevator with a metal cage that rattles during the ascent. I am dressed like an office clerk or a worker on a Sunday. I have even put on a tie, my collar rubs against my neck, I am sweating. When I move my head, the collar constricts my throat. I have been summoned to the Boss (in my thoughts I call him Number One), his office is on the fourth floor or was it the twentieth; as soon as I think about it I am not sure anymore. The message of my appointment with the Boss (whom I call Number One in my thoughts) reached me in the basement, an expansive space with empty concrete cubicles and direction signs for air raid precautions. I control the fit of my tie and fasten the knot. I would like to have a mirror so that I could also control the fit of my tie with my eyes. Impossible to ask a stranger how well your tie knot is fastened. The ties of the other men in the elevator are fastened impeccably. Some of them seem to know each other. They talk softly about something I understand nothing of.
»FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT [...]« (M1)
über etwas, wovon ich nichts verstehe. Immerhin muß ihr Gespräch mich abgelenkt haben: beim nächsten Halt lese ich auf dem Etagenanzeiger über der Fahrstuhltür mit Schrecken die Zahl Acht.« (M2=Ernst Stötzner, tief, nüchterner Duktus, etwas distanziert, Aufnahme in Studioatmosphäre)
Hinzukommen von Saxophon
Musik aus Track 1, verstärkt um EGitarre
Track 2: Es geht um einen Auftrag 00:0002:31
Protokoll 4
347
348
polyphon: »Five minutes too early would be what I call true punctuality Five minutes too early would be what I call true punctuality Five minutes Five minutes too early would be what I
Ab 00:26 »Als ich das letztemal auf meine Armbanduhr geblickt habe, zeigte sie Zehn. Ich erinnere mich an mein Gefühl der Erleichterung: noch fünfzehn Minuten bis zu meinem Termin beim Chef. Beim nächsten Blick war es nur fünf Minuten später. Als ich jetzt, zwischen der achten und neunten Etage, wieder auf meine Uhr sehe, zeigt sie genau vierzehn Minuten und fünfundvierzig Sekunden nach der zehnten Stunde an: mit der wahren Pünktlichkeit ist es vorbei, die Zeit arbeitet nicht mehr für mich.« (M2, gleicher Duktus wie in Track 1, etwas leiser, mit längeren Pausen)
Nevertheless, their conversation must have distracted me: at the next stop I read on the indicator above the elevator doors the number eight and I am terrified. I have gone up too far or more than half distance is still ahead of me. The time factor is crucial.« (M3=Arto Lindsay, rhythmischer Sprechgesang des Textes in der englischen Übersetzung; starke Betonung auf »I«)
Akzentuierte Jazzmusik, vor allem Schlagzeug und Saxophon
Track 3: Fünf Minuten vor der Zeit 00:0001:49
Text als Klangmaterial
Wiederholung
be be be what I call true punctuality be be what I call
would be what I call true punctuality« verschiedene Modulationen im Vorder-
would would would would would
349
polyphon: »at the next stop I can step out of the elevator and run down the stairway, three steps at a time, to the fourth floor. If it is the wrong floor it, of course, will mean a loss of time which probably can’t be made up. I can ride on to the twentieth
Schnell überdenke ich meine Lage: ich kann beim nächsten möglichen Halt aussteigen und die Treppe hinunterlaufen, drei Stufen auf einmal, bis zur vierten Etage. Wenn es die falsche Etage ist, bedeutet das natürlich einen vielleicht uneinholbaren Zeitverlust. Ich kann bis zur zwanzigsten Etage weiterfahren und, wenn sich das Büro des Chefs dort nicht befindet, zurück in die vierte Etage, vorausgesetzt der Fahrstuhl fällt nicht aus, oder die Treppe hinunterlaufen (drei Stufen auf einmal), wobei ich mir die Beine brechen kann oder den Hals, gerade weil ich es eilig habe. Und! Oder! (M2, im Vordergrund, unruhig) starke Betonung der Konjunktionen »und«, »oder«
Five minutes too early Five minutes too early Five minutes too early Five minutes too early Five minutes too early Five minutes Five minutes too early (M3, Gesang, fröhlich, grund, Ende lauter)
Musik wird kurz ruhiger und tiefer, dann durch Einsatz von Schlagzeug sehr unruhig Assoziation: Getriebensein
Track 4: Drei Stufen auf einmal 00:0001:58
Protokoll 4
Einschub von »und, oder«
350
polyphon: »No taboleiro de baiana. [...]« (portugiesischer Gesang, ruhig, schiebt sich in den Vordergrund, steht schließlich frei)
»Ich sehe mich schon auf einer Bahre ausgestreckt, die auf meinen Wunsch in das Büro des Chefs getragen und vor seinem Schreibtisch aufgestellt wird, immer noch dienstbereit, und, oder, aber nicht mehr tauglich.« (M2, wird leiser, Betonung der Konjunktionen)
Gesangliche Affektäußerungen (M3)
floor and, if the Boss’s office isn’t located there, ride down again to the floor, provided the elevator doesn’t go out of order, or I can run down the stairs (three steps at a time) and break my leg in doing so, or my neck, just because I am in a hurry. Already I can see myself lying on a stretcher which, according to my wish, will be carried into the office of the Boss where I will be placed in front of his desk, still ready though no longer fit to serve.« (M3, im Hintergrund, leise, sehr schnell, treibend, mehrmalige Wiederholung der Passage, jeweils mit Erweiterung des Textes bis zur letzten vorliegenden Version) Überlagerung, Text in Englisch und Deutsch gleichzeitig
Sehr ruhige Musik
Track 6: Ein schneller
Track 5: No taboleiro de baiana 00:0000:56
Text als Klangmaterial
Rückwendung
Abbruch
351
polyphon ab 00:55: »A quick glance at my watch informs me irrefutably of the fact that for a long while it has been too late even for basic punctuality, though our elevator, as I notice on second glance, hasn’t arrived yet at the twelth floor: the short hand is pointing at ten, the long hand at fifty, the seconds long since haven’t mattered. Something seems to be wrong with my watch but there is no time left now for a time check: without having noticed where the other gentlemen stepped off« (M3)
»FÜNF FÜNF FÜNF MINUTEN FÜNF MINUTEN FÜNF MINUTEN VOR FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT« (3x) (M2, laut rufend, sehr betont, am Ende singend)
»Vorläufig spitzt sich alles auf die durch meine Fahrlässigkeit im voraus nicht beantwortbare Frage zu, in welcher Etage der Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) mit einem wichtigen Auftrag auf mich wartet. (Es muß ein wichtiger Auftrag sein, warum sonst läßt er ihn nicht durch einen Untergebenen erteilen.) Ein schneller Blick auf die Uhr klärt mich [...]« (M2) Hinzukommen von Saxophon
E-Gitarre, sehr unruhig, rockig
00:4401:57
Blick auf die Uhr 00:0000:44
Protokoll 4
»With a horror that grips the roots of my hair I see on my watch which I cannot turn my eyes from any longer the
»I am alone in the elevator.« (M3)
Sehr tiefes Geräusch, Knarzen Assoziation: Unheimlichkeit
352
Saxophon mit elektronischen Klängen aus Track 7 Assoziation: Verrücktspielen der Maschinen
Experimentelle Musik, Komposition aus elektronischen Klängen, immer unruhiger werdend Assoziation: Nähe der Maschine
Ab 00:30 zusätzlich immer höher werdende Töne
00:4504:32
Track 8: Wilde Spekulationen 00:0000:45
00:0102:14
Track 7: Allein im Fahrstuhl 00:0000:01
Text als Klangmaterial
353
Abrupter Abbruch
Dreifache Wiederholung von »warum«
Dreifache Wiederholung von »ich bedaure«
Auslassung im dt. Text
»Warum habe ich in der Schule nicht aufgepaßt. Oder die falschen Bücher gelesen: Poesie statt Physik. Die Zeit ist aus den Fugen und irgendwo in der vierten oder in der zwanzigsten Etage (das Oder schneidet wie ein Messer durch mein fahrlässiges Gehirn) wartet in einem wahrscheinlich weitläufigen und mit einem schweren Teppich ausgelegten Raum hinter seinem Schreibtisch, der wahrscheinlich an der hinteren Schmalseite des Raumes dem Eingang gegenüber aufgestellt ist, mit meinem Auftrag der Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) auf mich Versager. Vielleicht geht die Welt aus dem Leim und [...] (M1)
polyphon ab 02:40: »Ich verfalle auf wilde Spekulationen: die Schwerkraft läßt nach, eine Störung, eine Art Stottern der Erdrotation, wie ein Wadenkrampf beim Fußball. Ich bedaure, ich bedaure, ich bedaure, daß ich von Physik zu wenig weiß, um den schreienden Widerspruch zwischen der Geschwindigkeit des Fahrstuhls und dem Zeitablauf, den meine Uhr anzeigt, in Wissenschaft auflösen zu können. Warum, warum, warum [...]« (M2, rufend, verzweifelt, teils mit Echo)
hands circling the dial with increasing speed so that between two bats of an eyelid ever more hours have passed. I realize that for quiet a while something has been wrong: with my watch, with the elevator, with time.« (M3, teils mit Echo, wird im Anschluss wiederholt und dabei leiser) vereinzelt Beat, Zischen
Tiefer Ton, enervierende hohe Töne
Track 9: Der Chef 00:0000:40 (harter Schnitt)
Protokoll 4
354
Wiederholung von »Power is lonely.«
»I didn’t hear a shot but that doesn’t prove anything, the walls of his office are soundproofed, of course, incidents have been taken into account during its construction and what occurs in the Boss’s office is none of the population’s business, power is lonely. Power is lonely. Power is lonely.« (M3, leichtes Echo)
polyphon: »mein Auftrag, der so wichtig war, daß ihn der Chef mir in Person erteilen wollte, ist schon sinnlos geworden durch meine Fahrlässigkeit. GEGENSTANDSLOS in der Sprache der Ämter, die ich so gut gelernt habe (überflüssige Wissenschaft!), BEI DEN AKTEN, die niemand mehr einsehen wird, weil er gerade die letzte mögliche Maßnahme gegen den Untergang betraf, dessen Beginn ich jetzt erlebe, eingesperrt in diesen verrückt gewordenen Fahrstuhl mit meiner verrückt gewordenen Armbanduhr.« (M1)
»I imagine the dispair of Number One. His suicide. His head – the portrait adorns every public office – on the desk. Blood trickling from a black-edged hole in the (probably right) temple.« (M3)
polyphon: Dreimal unverständliche Einsprengsel (M3, sehr leise)
rockig, E-Gitarre im Vordergrund; während Müllers Sprechpassagen im Hintergrund, sonst stark im Vordergrund
Track 10: Sein Selbstmord 00:0002:12
Text als Klangmaterial
Abbruch
355
Musik verklingt
Musikwechsel zur lateinamerikanischen GitarreKlängen
»Jarahi [...]« (M3, Gesang; Beginn des folgenden Liedes)
»Fita nos meus olhos [...].« (M3, ruhiger, klagender Gesang)
»Ich habe keinen Schuß gehört, aber das beweist nichts, [...]« (M2, ruhig) »Ich habe keinen Schuß gehört, aber das beweist nichts, die Wände seines Büros sind natürlich schalldicht, mit Zwischenfällen ist beim Bau gerechnet worden und was im Büro des Chefs geschieht, geht die Bevölkerung nichts an, die Macht ist einsam.« (M1)
»Ich stelle mir die Verzweiflung von Nummer Eins vor. Seinen Selbstmord. Sein Kopf, dessen Porträt alle Amtsstuben ziert, auf dem Schreibtisch. Blut aus einem schwarzrandigen Loch in der (wahrscheinlich rechten) Schläfe.« (M2, rufend)
polyphon: »Verzweifelter Traum im Traum: ich habe die Fähigkeit, einfach indem ich mich zusammenrolle, meinen Körper in ein Geschoß zu verwandeln, das die Decke des Fahrstuhls durchschlagend die Zeit überholt. Kaltes Erwachen im langsamen Fahrstuhl zum Blick auf die rasende Uhr.« (M1)
Track 11: Fita nos meus olhos 00:0002:38 (harter Schnitt)
02:1202:32
Protokoll 4
»Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und« (M2, rufend) »I step from the elevator at the next stop and« (M3) »stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips« (M2) »I stand without any task on a village street in Peru« (M3) »immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru.« (M2)
»Ich überlege, ob ich« »ich kenne die Sprache dieses Landes nicht« »ich könnte genausogut« »besser ich wäre taubstumm« »vielleicht gibt es Mitleid in Peru« »vor und hinter mir« (M2, leise, verhalten) Orientierungslosigkeit, Sprachlosigkeit
Verknüpfung deutschenglisch
356
Auslassungen, nur Satzfetzen
Hinzukommen von melodischen GitarreKlängen
Verzerrte E-Gitarre-Klänge und Schlagzeug
Nur E-Gitarre bleibt, ziehend
Laute Rockmusik
Verstärkung mit hohen Klängen Assoziation: Kirchenorgel
00:3901:36
Track 13: Ohne Auftrag 00:0000:39
Track 12: Ich verlasse den Fahrstuhl 00:0000:24
Text als Klangmaterial
357
»Trockener Schlamm mit Fahrspuren. Auf beiden Seiten der Straße greift eine kahle Ebene mit seltenen Grasnarben und Flecken von grauem Gebüsch undeutlich nach dem Horizont,
»Five minutes too early would be what I call true punctuality. Yeah. Five minutes.« (M3)
Teils lateinamerikanischer Gesang im Hintergrund
Klatschen
Punktuell Naturklänge Vögel, Tiere, Brummen, Rascheln
Jazzmusik, fröhlich, Saxophon im Vordergrund;
Abklingen der Musik
Ab 02:19 Hinzukommen von Klangfolgen, die an Track 5 erinnern, aber disharmonischer klingen
Folkloristisch anmutende Musik, die v.a. mit E-Gitarre und Schlagzeug verfremdet wird; teilweise Verzerrungen
Track 15: Trockener Schlamm mit Fahrspuren 00:0001:36
04:5004:59
Track 14: Mitleid in Peru 00:0004:50
Protokoll 4
Wiederholung »Heimweh«
358
Jazzmusik
»I think about going back, I haven’t been noticed yet. Never would I have thought during my desperate ascent to the Boss that I would feel homesick for the elevator that was my prison« (M3, Gesang mit Betonung auf »I«)
»How shall I explain my presence in this no-man’s- land. I don’t have a parachute to show for it, no airplane or wrecked car. Who would believe that I came to Peru from an elevator, in front and back of me the street, flanked by the plain which reaches for the horizon. How will communication be possible, I don’t know the language of this country. I could as well be deaf mute. I’d better be a deaf mute: perhaps there exists compassion in Peru.« (M3, Gesang)
»Nie hätte ich gedacht, während meines verzweifelten Aufstiegs zum Chef, daß ich Heimweh, Heimweh, nach dem Fahrstuhl empfinden könnte, der mein Gefängnis war.« (M2) polyphon: »daß ich Heimweh« (M2, klagender Gesang, dreifache Wdh.)
durchgehend textunterlegt
über dem ein Gebirge im Dunst schwimmt. Links von der Straße ein Barackenbau, er sieht verlassen aus, die Fenster schwarze Löcher mit Glasresten. Vor einer Plakatwand mit Reklamen für Produkte einer fremden Zivilisation stehen zwei riesige Einwohner. Von ihren Rücken geht eine Drohung aus. Ich überlege, ob ich zurückgehen soll, noch bin ich nicht gesehen worden.« (M2, mit Pausen, in denen musikalische Akzente gesetzt werden)
Track 16: Heimweh nach dem Fahrstuhl 00:0001:24
Text als Klangmaterial
Abbruch
»Hoffentlich nicht zu spät löse ich meinen Schlipsknoten, dessen korrekter Sitz mich so viel Schweiß gekostet hat auf meinem Weg zum Chef, und lasse das auffällige Kleidungsstück in meiner Jacke verschwinden. Beinahe hätte ich es weggeworfen, eine Spur. Im Umdrehn sehe ich zum ersten mal das Dorf; Lehm und Stroh, durch eine offne Tür eine Hängematte. Kalter Schweiß bei dem Gedanken, ich könnte von dort aus beobachtet worden sein, aber ich kann kein Zeichen von Leben ausmachen, das einzig Bewegte ein Hund, der in einem qualmenden Müllhaufen wühlt. Ich habe zu lange gezögert: die Männer lösen sich von der Plakatwand und kommen schräg über die Straße auf mich zu, zunächst ohne mich anzusehn. Ich sehe die Gesichter über mir, undeutlich schwarz das eine, die Augen weiß, der Blick nicht auszumachen: die Augen sind ohne Pupillen. Der Kopf des andern ist aus grauem Silber. Ein langer ruhiger Blick aus Augen, deren Farbe ich nicht bestimmen kann, etwas Rotes schimmert darin. Durch die Finger der schwer herabhängenden rechten Hand, die ebenfalls aus Silber zu bestehen scheint, läuft ein Zucken, die Blutbahnen leuchten aus dem Metall. Der Silberne geht hinter mir vorbei dem Schwarzen nach. Meine Angst verfliegt und [...]« (M2, immer schneller werdend, Stimme wird ab 00:30 vervielfacht, zu Beginn fast gleichzeitig, dann mit immer größer werdenden zeitlichen Verzögerung abgespielt, dadurch klingt die Passage zunehmend abgehackt, stotternd, verzweifelt) Angst wird durch Sprechduktus und Polyphonie akustisch erfahrbar Verzerrte E-Gitarre-Klänge, Schlagzeug sphärische Atmosphäre
Track 17: Kalter Schweiss 00:0001:33
Protokoll 4
359
Auslassung
360
»Wo die Straße in die Ebene ausläuft, steht in einer Haltung, als ob sie auf mich gewartet hat, eine Frau. Ich strecke die Arme nach ihr aus, wie lange haben sie keine Frau berührt,
»THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« (M3, sachlich, überlegen) »It sounds final« (M3, aufgebracht) »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« (M3) »and I keep walking« (M3) »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« (M3) »When I look back« (M3) »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« (M3) »the woman stretched her arms« (M3) polyphon:
»Something like serenity grows within me, I sling my jacket over my shoulder and unbutton the collar of my shirt: my walk has become a stroll. In front of me, the dog runs across the street, carrying a hand sideways in his muzzle, the fingers point in my direction, they looked charred. [...] Where the street recedes into the plain a woman stands poised as if she has been waiting for me. I stretch my arms out for her, how long since they’ve touched a woman, and I hear a male voice say« (M3, ruhiger, Sprechgesang; letzter Satzteil aufgebracht, lauter)
Jazzmusik, treibend
Sanfte Melodie, punktuell EGitarre, Saxophon
Track 19: Diese Frau ist die Frau eines Mannes 00:0000:47
Track 18: Etwas wie Heiterkeit 00:0001:14
Text als Klangmaterial
361
»und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich
aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung« (M1)
Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen,
»Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht.
»THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« (M3) »out for me« (M3) »THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN« (M3) »and bares her breasts« (M3)
und höre eine Männerstimme sagen DIESE FRAU IST DIE FRAU EINES MANNES. Der Ton ist endgültig und ich gehe weiter.« (M2, langsam, am Ende rufend)
Jazzmusik mit starkem
Saxophon
Ab und zu sehr leise GitarreKlänge, ansonsten Stille Saxophon
Nur Saxophon als Überleitung
Track 21: Worin besteht mein Verbrechen 00:0000:32
00:3501:36
Track 20: Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm 00:0000:35
Protokoll 4
362
Rückwendung Auslassung
Auslassung
Rückwendung (wurde vorher ausgelassen) Auslassung
»What is my crime. [...] How do you accomplish an unknown task. What could my task be in this wasteland on the other side of civilisation. [...] Now I know my destination. I cast off my clothes, outward appearances don’t matter anymore« (M3)
»Worin besteht mein Verbrechen. [...] Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag. Was kann mein Auftrag sein in dieser wüsten Gegend jenseits der Zivilisation.« (M2)
»What is my crime. What is my crime. [...] How is the employee supposed to know what’s going on in the head of the Boss.« (M3, gesprochen)
»bin ich nicht einmal ein Messer wert oder den Würgegriff von Händen aus Metall. Lag in dem ruhigen Blick, der fünf Schritte lang auf mich gerichtet war, nicht etwas wie Verachtung.« (M2, rufend)
weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegen kommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.« (M1)
treibend E-Gitarre und Saxophon im Vordergrund
Wieder mit Saxophon verstärkt
Wird auf Schlagzeug und metallisches Reiben reduziert
Schlagzeug und Saxophon
00:3203:33
Text als Klangmaterial
• • • • •
363
»he with my face of snow. One of us will survive« (M3)
»Etwas wie Heiterkeit breitet sich in mir aus, ich nehme die Jacke über den Arm und knöpfe das Hemd auf: mein Gang ist ein Spaziergang. [...] Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegen kommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.« (M2)
»Eventually THE OTHER ONE, the antipode, the doppelgänger, will meet me« (M3)
»Die Welt ist nicht untergegangen, vorausgesetzt, das hier ist keine andre Welt. [...] Wie soll der Angestellte wissen, was im Kopf des Chefs vorgeht. (M2)
Abrupter Schluß mit finalem Saxophonton
Gleichwertigkeit von Sprache und Musik, Geräusche nur punktuell Schnitttechnik: wenige harte Schnitte, direkte Übergänge von Track zu Track Tempo und Dynamik durch Jazz-, Rock- und melodische Passagen vorgegeben, zwischen treibend und ruhig Technische Besonderheiten: polyphone Überlagerungen Kompositorisches Konzept: Collage aus Rezitation, Gesang, Geräuschen und Musik
Auslassung
Auslassung
Protokoll 4
365
»Landscape with« (F1) »Landscape with Argonauts« (M1) »With Argonauts? You mean Jason and the Argonauts?« (M2)
Titel in Wiederholung
»Which part should I read for you?
»Landscape with Argonauts« (polyphon: M4, M5, F3 mit Lachen) »Ok. Landscape with Argonauts« (M6) »Landscape with Argonauts« (M7) »Landscape with Astronauts« (M8) »with Argonauts (F4) »read a few lines?« (M9) »You really want me to read?« (M10) »Who said I can read?« (M10, Lachen) »I’ve never read before« (M11)
Stimme
Text
Sprache
»ein paar Zeilen lesen?« (M3) »Wollen Sie wirklich, dass ich das lese?« (F2) »Wer sagt, dass ich lesen kann?« (M3) »Ich hab noch nie vorher gelesen« (F2) »Was? Welchen Teil soll ich lesen?«
»Landschaft mit Astronauten« (M3)
»Meinen Sie Jason und die Argonauten?« (M3)
»Landschaft mit Argonauten« (F2)
Synchronstimme
Nebengeräusche: Autos, Straße, Schritte, Knirschen, Stimmen wirken zum Teil rhythmisierend
Geräusch und Klang
SHADOW/SCHATTEN – LANDSCAPE WITH ARGONAUTS/LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN Musik
Zeit
00:5802:38
[00:0000:58 Anmoderation]
Min.:Sek.
Protokoll 5
366
»Ye who read are still among the living; but I who write shall have long since gone my way into the region of shadows« (Gesang: F9=Sussan Deihim, gezogen, dunkel, mehrstimmig)
»It doesn’t have any...« (M13) »I don’t know what I’m reading« (M14) »I want to read something for you« (M15) O-Töne auf der Straße, Menschen in Alltagssituationen
It’s alright.« (F5) »No, not today« (M10) »read a few lines?« (F6) »No, I can’t read today« (F7) »Come on« (F7) »It doesn’t look right to me« (M12) »Yeah but I don’t understand the meaning., how can I...« (F8) »It doesn’t matter, you just read it, it’s entertainment« (M9)
»Du, der Lesende, weilst noch unter den Lebendigen; ich, der Schreibende aber, habe längst meinen Weg ins Reich der Schatten genommen. [Pause] Denn das ist gewiß, seltsame Dinge werden geschehen und geheime Dinge werden geschehen und geheime Dinge aufgedeckt werden, und viele Jahrhunderte werden vergehen, ehe diese Aufzeichnungen den Menschen vor Augen kommen. Und unter denen,
Synchronstimme greift manchmal vor, manchmal zeitversetzt
»Ich verstehe nicht, was es bedeuten soll« (F2) »Ich weiss nicht, was ich da lese« (F2) »Ich lese was für euch« (M3)
»Nein, ich kann nicht ohne meine Brille lesen« (M3) »Nein, heute nicht« (F2)
(F2)
Orienta- 02:38lische 06:55 Musik (Gitarre, Schlagzeug, Klarinette, Keyboard, Tipan, Gardon, Chumbush),
Text als Klangmaterial
Wiederholung
Wiederholung
»Ye who read are still among the living; but I who write shall have long since gone my way into the region of shadows. For indeed strange things shall happen, and secret things be known, and many centuries shall pass away, ere these memorials be seen of men. And, when seen, there will be some to disbelieve, and some to doubt, and yet a few who will find much to ponder upon in characters here graven with a stylus of iron. For indeed strange things shall happen, and secret things be known, and many centuries shall pass away, ere these memorials be seen of men. And, when seen, there will be some to disbelieve, and some to doubt, and yet a few who will find much to ponder upon in characters here graven with a stylus of iron.« (F9)
die sie sehen, werden manche Ungläubige sein und manche Zweifler und dennoch einige wenige, denen die Schriftzeichen, die ich hier mit stählernem Griffel grabe, viel zum Sinnen geben sollen.« (M15=Heiner Müller)
langsamer Fade Out
pulsierend
Protokoll 5
367
»I scum of a man I scum of / A woman Platitude piled on platitude I hell of dreams / Called by my accidental name I Fear of / My accidental name MY GRANDFATHER WAS / AN IDIOT IN BOATIA« (M18, rhythmisch) »IN BOATIA« (M19, zögernd) »MY GRANDFATHER WAS / AN IDIOT IN BOATIA« (M20) »BOATIA« (M21) »IN BOATIA« (M22) »BOATIA« (M23) »BOATIA« (F10) »MY GRANDFATHER WAS / AN IDIOT« (F11, Lachen) »MY GRANDFATHER WAS / AN
»Or else I a banner a / Bloody rag hung out A fluttering / Tween nothing and no one provided there is wind« (M17, Akzent)
»Landscape with Argonauts Shall I speak of me I who / Of whom they are speaking when / They do speak of me I Who is it / In the rain of bird droppings In the hide of lime / Or else I a banner a / Bloody rag hung out A fluttering [...]« (M16, langsam, mit Räuspern)
368 IN BÖOTIEN« (F2 und M3 überlagert)
»Ich Auswurf eines Mannes Ich Auswurf / Einer Frau Gemeinplatz auf Gemeinplatz Ich Traumhölle / Die meinen Zufallsnamen trägt Ich Angst / Vor meinem Zufallsnamen / MEIN GROSSVATER WAR / IDIOT IN BÖOTIEN« (F2)
»Zwischen Nichts und Niemand Wind vorausgesetzt« (M3)
»Soll ich von mir reden Ich wer / Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich Wer ist das / Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell / Oder anders Ich eine Fahne ein / Blutiger Fetzen ausgehängt Ein Flattern« (F2)
Telefonklingeln, Polizeisirenen, Vogelzwitschern, Verkehr (durchgehend textunterlegt)
Nebengeräusche: Straße, Verkehr
06:5508:20
Text als Klangmaterial
Wiederholung mit eigenen Einfügungen
369
»Shall I speak of me who – I mean – I who / Of whom they are speaking when / They do speak of me I Who is it / In the rain of bird droppings / In the hide of lime / Or else I a banner a / Bloody – what’s that word? – rag hung out [...]« (M29, nun deutlich im Vordergrund) »Man, listen ...« (kurzes Diskussionsgespräch, nicht verständlich)
»... Thanks. ... Come on... Excuse... You gave me this« (M29, Stimme nur leise im Hintergrund, geht in Verkehrsgeräuschen unter)
falsche Aussprachen, Betonungen des unbekannten Ortes, Reaktionen: Verwunderung, Lachen, Stottern
IDIOT IN BOATIA« (M24) »IN BOATIA« (M25) »IN BOATIA« (M26) »IN BOATIA« (M27) »IN BOATIA What the fuck is this?« (M28, belustigt)
»Könnten Sie mir nur zwei Dollar geben? Das würde mir sehr helfen. Vielen Dank mein Herr, Gott wird es ihnen danken. Entschuldigung, ich muss nochmal. Zwei Dollar haben sie mir gegeben aus Barmherzigkeit, jetzt fürs Lesen, berechne ich nochmal zwei Dollar« (M3)
selbst Synchronsprecher zeigen sich verunsichert bzgl. Aussprache
»IN BÖOTIEN« (M3, andere Ausspracheversion)
Hip Hop, sehr rhythmisch, angepasst an Leseweise der Leser,
08:2011:49
Protokoll 5
Wiederholung
370
»I my sea voyage / I my annexation My / Walk through the outskirts« (M38, schnell) »I my annexation« (M39, langsam)
»I« (M30) »Shall I speak of me« (M31) »Shall I speak of me« (M32) »Shall I speak of me« (M33) »No I don’t« (M34) »I who« (polyphon) »Shall I speak of me« (F12) »I scum of a man I scum of a woman I« (M35) »Shall I speak of me« (M36) »I who is it« (M37)
»What’s that? Platitude piled on platitude I hell of dreams / Called by my accidental name I Fear of / My accidental name – Now give me two dollar!« (M29)
»What’s that word? What’s that word? What’s that word? A fluttering / Tween nothing and no one provided there is wind / I scum of a – ... I’m not scum ... (unverständlich)« (M29)
»Ich meine Landnahme« (M3)
»Ich meine Seefahrt« (M3)
»Jetzt gib mir die zwei Dollar!« (M3)
»Ich Auswurf eines – warte mal, das lese ich nicht ich bin kein Auswurf. Haben wir da irgendwas ausgelassen? Ach, ich muss ja alles lesen. Paß auf Mann, da kann ich Scheiße mit bauen. Was ist?« (M3)
Meeresrauschen, Möwenrufe, textunterlegt [10:18-11:00]
Musik klingt aus
eingebaute Samples von Straßengeräuschen (Hupen, Reifenquietschen)
Text als Klangmaterial
371
»What’s that word?« (M29) »MY GRANDFATHER WAS / AN
»The dead they say stand on the bottom / Upright swimmers Until the bones rest / Mating of fish in the corroded chest Shoals of mussels on the skull / Thirst is fire / It is called water what burns the skin / Hunger chews the gums Salt the lips / Bawdry goods on the lonesome flesh / Until man grabs for a man / Woman’s warmth is a singsong« (F14, deutlich)
»SAILOR’S BRIDE« (F13, Lachen) »What’s that word? What’s that word? What’s that word?« (M29)
»My / Walk through the outskirts I My death / In the rain of bird droppings In the hide of lime / The anchor is the last umbilical cord / With the horizon the memory of the coast slips away / Birds are a farewell Are a reunion / The slaughtered tree it ploughs the snake the ocean / Thin between the I and the No more I the hull / SAILOR’S BRIDE IS THE SEA« (M40, alt)
»Die Toten sagt man stehen auf dem Grund / Aufrechte Schwimmer Bis die Knochen ruhn / Paarung der Fische im ausgeweideten Brustkorb / Muscheln am Schädeldach / Durst ist Feuer / Wasser heißt was auf der Haut brennt / Hunger kaut das Zahnfleisch Salz die Lippen / Zoten stacheln das einsame Fleisch / Bis der Mann nach dem Mann greift / Frauenwärme ist ein Singsang« (F2)
»Mein / Gang durch die Vorstadt Ich Mein Tod / Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell« (M3) »Der Anker ist die letzte Nabelschnur / Mit dem Horizont vergeht das Gedächtnis der Küste / Vögel sind ein Abschied Sind ein Wiedersehn / Der geschlachtete Baum pflügt die Schlange das Meer / Dünn zwischen Ich und NichtmehrIch die Schiffswand / SEEMANNSBRAUT IST DIE SEE« (F2) Fade In
Protokoll 5
372
Wiederholung
Wiederholung
The year had been a year of terror, and of feelings more intense than terror for which there is no name upon the earth. (F9, wird zweifach wiederholt, während polyphon gesprochen wird)
For many prodigies and signs had taken place, and far and wide, over sea andland, the black wings of the Pestilence were spread abroad. Spread abroad.
»The year had been a year of terror, and of feelings more intense than terror for which there is no name upon the earth. The year had been a year of terror, and of feelings more intense than terror for which there is no name upon the earth.
IDIOT – I can’t go no more, I love my grandfather« (M41)
»Denn viele Zeichen und Wunder waren geschehen, und fern und nah, über Meer und Land, hatten sich die schwarzen Schwingen der Pest ausgespannt.« (M15)
»Das Jahr war ein Jahr des Schreckens gewesen und der Empfindungen, die noch stärker sind als die Schrecken, für die es auf Erden keinen Namen gibt.« (M15)
»MEIN GROSSVATER WAR – Ich kann es nicht mehr« (M3) Orienta- 11:49lische, 16:15 ruhige Musik
Text als Klangmaterial
Wiederholung
373
»The year had been a year of terror, and of feelings more intense than terror for which there is no name upon the earth. For many prodigies and signs had taken place, and far
»The peculiar spirit of the skies, if I mistake notgreatly, made itself manifest, not only in the physical orb of the earth, but in the souls, imaginations, and meditations of mankind.« (F9, Gesang)
»To those, nevertheless, cunning in the stars, it was not unknown that the heavens wore an aspect of ill; and to me, the Greek Oinos, among others, it was evident that now had arrived the alternation of that seven hundred and ninety-fourth year when, at the entrance of Aries, the planet Jupiter is conjoined with the red ring of the terrible Saturnus.« (F9, gesprochen)
»Für jene aber, die in den Sternen zu lesen wußten, war es ersichtlich, daß die Himmel einen bösen Anblick boten, und mir, dem Griechen Oinos, wurde es gleich andern klar, daß nun die Wende des siebenhundertvierundneunzigsten Jahres gekommen war, da beim Eintritt des Widders der Planet Jupiter vom roten Ring des schrecklichen
Musik steht frei, mit Akzenten
Protokoll 5
Wiederholung
374
»The stars are cold signposts / The
»Or the hapless landing Or the hapless landing« (M43)
»The stars are cold signposts / The sky an icy supervisor / Or the hapless landing Against the surf hisses / The pop of beer cans That’s enough for me [...]« (M42)
»Oder die glücklose Landung Gegen das Meer zischt / Der Knall der Bierdosen – Das reicht mir, ich bin kein Fisch« (M3)
and wide, over sea and land, the Saturn umschnitten wird.« (M15) black wings of the Pestilence were spread abroad. Spread abroad.« (F9) »Wenn ich nicht irre, so äußerte sich der seltsame Geist der Gestirne nicht nur im physischen Lauf der Erde, sondern in der Seele, der Vorstellungs- und Gedankenwelt der Menschen.« (M15) »The year had been a year of terror, and of feelings more intense than terror for which there is no name upon the earth.« (F9, 2x) »Die Sterne sind kalte Wegweiser / Der Himmel übt eisige Aufsicht« (M3) »The stars are cold signposts / The sky an icy supervisor« (junge Männer im Chor, vorher Räuspern, Lachen) Knallen Assoziation: Pistolenschüsse Straßengeräusche
Musik wird mit sanften Glocken beendet 16:1518:55
Text als Klangmaterial
»Memory of a tank battle« (F16) »My walk through the outskirts I / Between rubble and ruins it’s growing / THE NEW Fuckcells?« (M45) »I Between rubble and ruins it’s growing / THE NEW« (M45) »THE NEW« (M46) »THE NEW« (M47) »THE NEW« (F17) »Fuckcells with district heating / The tube vomits world into the livingroom« (M45) »Wear and tear is part of the plan The container / Serves as a graveyard Figures among the rubble / Natives of the concrete Parade / Of Zombies perforated by TV spots / In the uniforms of yesterday morning’s fashion / The youth of today ghosts of / The dead of the war that is to happen tomorrow« (M46)
»The pop of beer cans / FROM THE LIFE OF A MAN« (F15) »Memory of a tank battle / My walk through the outskirts« (M45)
sky an icy supervisor / Or the hapless landing Against the surf hisses / The pop of beer cans« (M44)
375 »Verschleiß ist eingeplant Als Friedhof / Dient der Container Gestalten im Abraum / Eingeborene des Betons Parade / Der Zombies perforiert von Werbespots« (M3)
»Zwischen Trümmern und Bauschutt wächst / DAS NEUE Fickzellen mit Fernheizung / Der Bildschirm speit Welt in die Stube« (F2, betont)
»Mein Gang durch die Vorstadt Ich« (M3)
»Erinnerung an eine Panzerschlacht« (M3)
»Gegen das Meer zischt / Der Knall der Bierdosen / AUS DEM LEBEN EINES MANNES« (F2)
Geräusche an einer UBahn-Station, teilweise im Hintergrund hohe, sanfte Klänge [bis 18:55]
Flaschen/Dosen auf Asphalt
Protokoll 5
376
From an unknown catastrophe« (F17, stark betont
»In the splendid mating of protein and tin / The children lay out landscapes with trash / A woman is the familiar ray of hope / BETWEEN THE THIGHS / DEATH STILL HAS HOPE / Or the Yugoslavian dream / Among broken statues on the run /
»YET WHAT REMAINS IS CREATED BY BOMBS« (M47, jung) »Yeah« (junge Männer)
»Wir saßen nachts, unser sieben, bei einigen Flaschen roten Weines in einer edlen Halle der düsteren Stadt Ptolemais. Und der Raum besaß keinen andern Eingang als durch eine hohe, erzene Pforte; und der Künstler Corinnos hatte die Pforte gebaut, es war ein kunstvolles Stück, das von innen geschlossen wurde.
»In der prachtvollen Paarung von Eiweiß und Dosenblech / Die Kinder entwerfen Landschaften aus Müll / Eine Frau ist der gewohnte Lichtblick / ZWISCHEN DEN SCHENKELN HAT / DER TOD EINE HOFFNUNG / Oder der Jugoslawische Traum / Zwischen zerbrochnen Statuen auf der Flucht / Vor einer unbekannten Katastrophe« (F2)
»In den Uniformen der Mode von gestern vormittag / Die Jugend von heute Gespenster / Der Toten des Krieges der morgen stattfinden wird / WAS BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN« (M3)
Passt sich dem Gesprochenen /
Sanfte und ruhige Musik
18:5525:07
Text als Klangmaterial
377
There were things around us and about of which I can render no distinct account – things material and things spiritual (gesungen) heaviness in the atmosphere – a sense of suffocation – anxiety – and, above all, that terrible state of existence which the nervous experience when the senses are
Black draperies, likewise, in the gloomy room, shut out from our view the moon, the lurid stars, and the peopleless streets – but the boding and the memory of Evil they would not be so excluded. (teils gesungen, teils gesprochen, kurzzeitig polyphon)
»And to our chamber there was no entrance save by a lofty door of brass: and the door was fashioned by the artisan Corinnos, and, being of rare workmanship, was fastened from within. (gesprochen)
»Over some flasks of the red Chian wine, within the walls of a noble hall, in a dim city called Ptolemais, we sat, at night, a company of seven.« (F9, sanfter und höher) So hielten auch schwarze Vorhänge dem düsteren Gemach den Anblick des Mondes fern, der fahlen Sterne und menschenleeren Straßen - das Vorgefühl und das Gedenken des Unglücks aber ließen sich nicht so aussperren.
Gesang an: während gesprochenen Anteilen von F9 dunkler, treibender Atmosphäre gefährlicher
Protokoll 5
keenly living and awake, living and awake, (gesprochen) and meanwhile the powers of thought lie dormant.« (F9, gesungen) Es gab Dinge um uns her, von denen ich nicht deutlich Rechenschaft geben kann – materielle und geistige Dinge – eine Dichtigkeit der Luft – ein Gefühl des Erstickens – eine Beängstigung – und vor allem den schrecklichen Zustand, den nervöse Menschen durchmachen, wenn die Sinne scharf und wachsam sind, die Macht des Gedankens aber gebannt liegt.« (M15)
Musik ab 24:00 freistehend, erst Klarinette, dann Schlagzeug und Saiteninstrumente im Vordergrund
Text als Klangmaterial
378
»Wordmud from my / Abandoned no man’s body / How to find the way out of the thicket / Of my dreams that slowly closes in / Without a sound around me / A shred of Shakespeare / In the paradise of the bacteria /
»From an unknown catastrophe« (M48) »The mother in tow the old one with her yoke / FUTURE in rusty armour travels along / A flock of actors passes in step« (M49, F18, polyphon, leicht zeitversetzt) »DON’T DON’T YOU NOTICE THEY ARE DANGEROUS THEY ARE / ACTORS EACH CHAIR LEG IS ALIVE A DOG« (M49, Lachen) »EACH CHAIR LEG IS ALIVE« (M50) »A DOG« (M51)
379
Radiostörgeräusche Klassische Musik aus »Wortschlamm aus meinem / Verdem Radio oder Fernlassenen Niemandsleib / Wie hesehen, Telefonwählgerausfinden aus dem Gestrüpp / räusche, Bandansagen Meiner Träume das um mich herum im Hintergrund / Ohne Laut langsam zuwächst / Raum- und SituatiEin Fetzen Shakespeare / Im Para- onsbeschreibung dies der Bakterien / Der Himmel ist (folgende Stimme hat ein Handschuh auf der den Effekt, als ob sie im
»Die Mutter im Schlepptau die Alte mit dem Tragholz / Im rostigen Harnisch läuft DIE ZUKUNFT mit / Ein Rudel Schauspieler passiert im Gleichschritt / MERKT IHR NICHT DASS SIE GEFÄHRLICH SIND ES / SIND / SCHAUSPIELER JEDES STUHLBEIN LEBT EIN HUND« (F2)
Straßengeräusche, sehr leise im Hintergrund
25:0727:54
Protokoll 5
380 »Eine tote Last drückte auf uns. Eine tote Last drückte auf uns.
»As Nero stood exultant above Rome / Until the car drove up sand in the »Die Leichenschwestern / Meine gearbox« Finger spielen in der Scheide / (F19, trauriger, sanfter Duktus) Nachts im Fenster zwischen Stadt und Landschaft / Sahn wir dem langsamen Sterben der Fliegen zu / So stand Nero über Rom im Hochgefühl / Bis der Wagen vorfuhr Sand im Getriebe / Ein Wolf stand auf der Straße als er auseinanderbrach« (M53=Christian Brückner)
The sky is just a glove gone hunting / Masked with clouds of an unknown type of architecture / Resting on a dead tree The corpses’ sisters / My fingers play in the vagina / At the nightly window between city / And landscape We watched the flies dying slowly / As Nero stood exultant above Rome / Until the car drove up sand in the gearbox / A wolf stood on the street as the car fell apart« (M52, langsam, Hall)
Jagd / Maskiert mit Wolken unbekannter Bauart / Rast auf dem toten Baum« (F2)
Radio hörbar wäre; Korrespondenz zum Inhalt)
Musik, hohe Klänge,
27:5431:31
Text als Klangmaterial
»It hung upon our limbs – upon the household furniture – upon the goblets from which we drank; and all things were depressed, and borne down thereby – all things save only the flames of the seven lamps which illumined our revel.« (F9, klagend gesungen) »A dead weight hung upon us.« (Wiederholung bis 31:31)
»A dead weight hung upon us.« (F9, in ständiger Wiederholung, über 20x, einem Mantra gleichend, polyphon zur eigenen Stimme und M15) Sie lastete auf unsern Gliedern – auf den Gegenständen im Raum – auf den Bechern, aus denen wir tranken, und alle Dinge wurden schwer davon und bedrückt – alle Dinge, bis auf die Flammen der sieben Lampen aus Erz, die unser Fest beleuchteten. Sich aufreckend zu hohen, schlanken Lichtstreifen, brannten sie bleich und regungslos, und in dem Spiegel, den ihr Glanz auf den runden Ebenholztisch warf, an dem wir saßen, gewahrte jeder von uns die Blässe seines eigenen Angesichts und das unruhige Flackern in den gesenkten Blicken seiner Gefährten.« (M15)
Musik wird leiser und ruhiger
Gesang von F9 passt sich an diese an
Protokoll 5
381
382
»Yet we laughed and were merry in our proper way – Yet we laughed and were merry which was hysterical; and sang the songs of Anacreon – which are madness; and drank deeply –although the purple wine reminded us of blood.« (F9, zweistimmiger Sprechgesang, Kreischen,
»For there was yet another tenant of our chamber in the person of young Zoilus. Dead, and at full length he lay, enshrouded; the genius and the demon of the scene.« (F9, zweistimmig leise gesprochen)
»Yet we laughed and were merry in our proper way – Yet we laughed and were merry which was hysterical; and sang the songs of Anacreon – which are madness; and drank deeply – although the purple wine reminded us of blood.« (F9, zweistimmiger Sprechgesang)
»Denn da war noch ein Gast in unserm Gemach in Gestalt des jungen Zoilus. Tot und in seiner ganzen Länge lag er da, eingesargt – der Geist und der Dämon der Szene.
»Dennoch lachten wir und waren fröhlich auf unsre eigne Weise – die hysterisch war, und sangen die Lieder des Anakreon – was Wahnsinn war, und tranken tiefe Züge – obgleich der purpurne Wein uns an Blut gemahnte.« (M15)
Akkordeonklänge, E-Gitarre, Metallschläge wilde Atmosphäre
Elektronische Hip Hopartige Beats
31:3136:29
Text als Klangmaterial
383
»although I, Oinos, felt that the eyes of the departed were upon me, still I forced myself not to perceive the bitterness of their expression, and gazing down steadily into the depths of the ebony mirror, sang with a loud and sonorous voice the songs of the son of Teios.« (vielstimmiges leises Sprechen, im Hintergrund klagende Geräusche)
»Yet we laughed and were merry in our proper way – and were merry which was hysterical; and sang the songs of Anacreon – which are madness; and drank deeply – although [...]« (F9, zweistimmiger Sprechgesang, wildes Lachen)
Doch wenngleich ich, Oinos, fühlte, daß die Blicke des Abgeschiedenen auf mir ruhten, so zwang ich mich dennoch, die Bitterkeit ihres Ausdrucks nicht zu beachten, und standhaft in die Tiefen des ebenholzenen Spiegels spähend, sang ich mit lauter und klangvoller Stimme die Lieder des Sängers aus Teos.
Ach! Er nahm keinen Teil an unsrer Lust, nur daß sein Antlitz, von »he bore no portion in our mirth, der Seuche verzerrt, und seine Ausave that his countenance, distorted gen, in denen der Tod die Glut der with the plague, and his eyes, in Pest nur halb gelöscht hatte, unswhich Death had but half extinrer Fröhlichkeit ein gewisses Interguished the fire of the pestilence, esse zuzuwenden schienen, wie die seemed to take such interest in our Toten es für die Heiterkeit derer, merriment as the dead may haply die noch ans Sterben kommen, take in the merriment of those who wohl haben mögen. are to die.« (vielstimmiges leises Sprechen)
hysterisches Lachen)
Wild, leicht disharmonisch
Protokoll 5
Auslassungen
»But gradually my songs they ceased, and their echoes, rolling afar off among the sable draperies of the chamber, became weak, and undistinguishable, and so faded away.« (F9, einstimmig, ruhig gesprochen)
»Yet we [...] and were [...] we laughed we laughed which was hysterical; and sang the songs [...] which are madness; and drank [...] although the purple wine reminded us of [...]« (zweistimmiger Sprechgesang)
384 »Busfahrt im Morgengrauen Rechts und links / Die Schwestern dampfend unter dem Kleid Der Mittag / Stäubte ihre Asche auf mein Fell / Während der Fahrt hörten wir die Leinwand reißen / Und sahn die Bilder ineinander stürzen / Die Wälder brannten in EASTMAN COLOR / Aber die Reise war ohne
Doch allmählich hörten meine Lieder auf, und ihr Echo, das sich weit hinten in den schwarzen Behängen des Raumes verlor, wurde matt und undeutlich und starb dahin.« (M15)
Aneinanderstoßen von Flaschen, leise Fahrgeräusche, vorbeifahrende Autos
Musik wird leiser, klingt aus, leise noch Akkordeon im Hintergrund 36:29hörbar 41:43 Korrespondenz zum Textinhalt
Text als Klangmaterial
polyphon dazu (fällt beim letzten Satz zusammen): »The sisters steaming under dresses Noon / Sprinkled my hide with their ashes / During the ride we heard the screen rip / And watched the images crash into each other / The forest burned in EASTMAN COLOR / But the voyage had no arrival NO PARKING« (F21, F22) »During the ride we heard the screen rip« (F20) »no arrival NO PARKING« (2x, F21, F22, Lachen)
»Until the car drove up sand in the gearbox / A wolf stood on the street as the car fell apart / A bus ride in the early dawn Right and left / The sisters steaming under dresses Noon / Sprinkled my hide with their ashes / During the ride we heard the screen rip« (F20, schnell, stark betont) »no arrival NO PARKING« (10x, zwei junge Frauenstimmen, F21, F22, refrainartig)
Ankunft NO PARKING« (F2)
Wird mit einem aus Cartoons
Beats
Protokoll 5
385
386
»OR THE HAPLESS LANDING The dead negroes / Rammed into the swamp like poles / In the uniforms of their enemies / DO YOU REMEMBER DO YOU NO I DONT« (M55, schnell, dunkle Stimme)
»At the only crossroads Polypheme / Controlled the traffic with his one eye / Our port was a dead movie house / On the screen the stars rotted in competition / In the lobby Fritz Lang strangled Boris Karloff / The Southern wind toyed with old posters / OR THE HAPLESS LANDING« (M54)
E-Gitarre,Hip HopMusik
Leise, »An der einzigen Kreuzung mit einem Auge / Regelte Polyphem den Stimmen, Straßengeräu- tiefe Klänge Verkehr / Unser Hafen war ein totes sche Kino / Auf der Leinwand verfaulten die Stars in Konkurrenz / Im Kassenraum würgte Fritz Lang Boris Karloff / Der Südwind spielte mit alten Plakaten / ODER DIE GLÜCKLOSE LANDUNG« (F2)
bekannten Abschluß beendet
Text als Klangmaterial
387
»Das getrocknete Blut / Qualmt in der Sonne / Das Theater meines Todes / War eröffnet als ich zwischen den Bergen stand / Im Kreis der toten Gefährten auf dem Stein / Und über mir erschien das erwartete Flugzeug / Ohne Gedanken wußte ich / Diese Maschine war / Was meine Großmütter Gott genannt hatten / Der Luftdruck fegte die Leichen vom Plateau / Und Schüsse knallten in meine torkeln»I felt MY blood come from MY veins de Flucht« (M3) / And turn MY body into the
»The dried up blood / Is smoking in the sun / The theater of my death / Had opened as I stood between the mountains / In the circle of dead comrades on the stone / And the expected airplane appeared above me / Without thinking I knew / This engine was / What my grandmothers used to call God / The airblast swept the corpses off the plateau / And shots crackled at my reeling flight« (M56)
»ODER DIE GLÜCKLOSE LANDUNG Die toten Neger / Wie Pfähle in den Sumpf gerammt / In den Uniformen ihrer Feinde / DO YOU REMEMBER DO YOU NO I DONT« (F2) Straßengeräusche, Stimmen
Nur ganz leise EGitarreKlänge im Hintergrund
Protokoll 5
388
»The airblast swept the corpses off the plateau / And shots crackled at my reeling flight I felt MY blood come from MY veins / And turn MY body into the landscape / Of MY death / IN THE BACK THE SWINE / The rest is poetry« (M60)
Polyphone Überlagerungen: »Without thinking I knew / This engine was / What my grandmothers used to call God / The airblast swept the corpses off the plateau And shots crackled at my reeling flight / I felt MY blood come from MY veins / And turn MY body into the landscape / Of MY death / IN THE BACK THE SWINE / The rest is poetry Who has sharper teeth / The blood or the stone« (M59)
»IN THE BACK THE SWINE« (M58) »IN THE BACK THE SWINE« (F23) »IN THE BLACK IN THE BACK THE SWINE« (F 4)
landscape / Of MY death« (M57) »Ich spürte MEIN Blut aus MEINEN Adern treten / Und MEINEN Leib verwandeln in die Landschaft / MEINES Todes« (M3)
Straßengeräusche, Stimmen Hupe im Hintergrund
Fröhliche Musik, die verzerrt wird und in Hupen mündet, das im Hintergrund ausklingt
Text als Klangmaterial
»And lo! And lo!« (F9, gesprochen) »from among those sable draperies where the sounds of the song departed, there came forth a dark and
»I felt MY blood come from MY veins / And turn MY body into the landscape / Of MY death / IN THE BACK THE SWINE / The rest is poetry« (F25, M61)
»Und weh! aus den schwarzen Behängen, darin die Töne des Liedes erstarben, kam ein dunkler und unbestimmbarer Schatten hervor – ein Schatten, wie ihn der Mond, wenn er tief am Himmel steht, aus der Gestalt eines Menschen bilden mag; aber es war weder der Schatten eines Menschen noch der Schatten eines Gottes oder irgendeiner vertrauten Sache. Er durchzitterte eine Weile die Vorhänge im Raum und kam schließlich auf der Fläche der erzenen Pforte in voller Sicht zur Ruhe.
»IN DEN RÜCKEN DAS SCHWEIN« (M53) »Der Rest ist Lyrik« (F2) »Wer hat bessre Zähne / Das Blut oder der Stein« (M53) Orienta- 41:43lische 49:27 Musik, treibend, dunkel
Protokoll 5
389
undefined shadow (gezogen gesungen) »a shadow such as the moon, when low in heaven, might fashion from the figure of a man: but it was the shadow neither of man nor of God, nor nor nor of any familiar thing. (zweistimmig hart gesprochen) And quivering awhile among the draperies of the room, it at length rested in full view upon the surface of the door of brass. (gezogen gesungen) But the shadow was vague, and formless, and indefinite, and was the shadow neither of man nor of God – neither God of Greece, nor God of Chaldaea, nor any Egyptian God.« (F9, zweistimmig hart gesprochen) Der Schatten war flüchtig und formlos und unbestimmt und war keines Menschen und keines Gottes Schatten – nicht eines Gottes der Griechen noch eines Gottes der Chaldäer noch irgendeines ägyptischen Gottes. Und der Schatten ruhte auf der erzenen Pforte und unter dem Bogen des Türgebälks und rührte sich nicht, sprach kein Wort, sondern ließ sich dort nieder und verblieb da.
Text als Klangmaterial
390
Auslassung
Auslassung
»And the shadow rested upon the brazen doorway, and under the arch of the door, and moved not, nor spoke any word, but there became stationary and remained.« (F9, hoch gesungen) Und das Tor, auf dem der Schatten ruhte, war, wenn ich mich recht erinnere, genau gegenüber den Füßen des eingesargten jungen Zoilus. »But we, the seven there assembled, having seen the shadow as it came out [...] but cast down our eyes, and gazed continually into the depths of the mirror of ebony.« (F9, hoch geWir aber, die sieben dort Versamsungen) melten, die wir den Schatten gewahrt hatten, wie er aus den Vorhängen heraustrat, wagten nicht, ihn anzusehen, sondern senkten die Blicke und spähten beständig in die Tiefen des Ebenholzspiegels. Und endlich wagte ich, Oinos, einige leise Worte und fragte den Schatten nach seiner Herkunft und seinem Namen. Und der Schatten entgegnete: ›Ich bin SCHATTEN, und ich hause bei den Katakomben von Ptolemais und dicht an den düstern Feldern von Helusion, die an die trüben Wasser des Charon grenzen.‹« (M15) Fade Out Stille [ab 47:12]
Protokoll 5
391
»MY GRANDFATHER WAS /AN IDIOT IN BOATIA« (M24) »SAILOR’S BRIDE IS THE SEA« (M40) »SAILOR’S BRIDE IS THE SEA« (F13, Lachen) »THE LIFE OF MAN« (M41) »FROM THE LIFE OF MAN« (F15) »THE NEW THE NEW« (M45) »YET WHAT REMAINS IS CREATED BY BOMBS« (M46) »BETWEEN THE THIGHS« (M45) »BETWEEN THE THIGHS / DEATH STILL HAS HOPE« (F21, F22) »FUTURE« (M45) »FUTURE« (F21, F22) »DON’T YOU NOTICE THEY ARE
»And at length I, Oinos, speaking some low words, demanded of the shadow its dwelling and its appellation. And the shadow answered, [geflüstert] ›I am SHADOW, and my dwelling is near to the Catacombs of Ptolemais, and hard by those dim plains of Helusion which border upon the foul Charonian canal. And then did we, the seven, start from our seats in horror, and stand trembling, and shuddering, and aghast« (F9, gezogen gesungen) E-Gitarre, Hupen, Elektrische Töne, Reifenquietschen bereits gehörte Nebengeräusche und Musik
Musik, sphärisch, zunehmend rhythmisch
49:2751:13
Text als Klangmaterial
392
Wiederholungen
393
»and, varying in their cadences from syllable to syllable fell duskly upon our ears in the well-remembered
»And then did we, the seven, start from our seats in horror, and stand trembling, and shuddering, and aghast, for the tones in the voice of the shadow for the tones in the voice of the shadow for the tones in the voice of the shadow for the tones in the voice of the shadow were not the tones, tones, tones of any one being, but of a multitude of beings, of beings, of beings,« (F9, teils Gesang, teils Sprechgesang)
DANGEROUS THEY ARE / ACTORS EACH CHAIR LEG IS ALIVE A DOG« (M49) »EASTMAN COLOR NO PARKING« (F25) »OR THE HAPLESS LANDING« (M55) »DO YOU REMEMBER DO YOU NO I DONT« (F17) »MY blood« (M57) »MY body« (F25) »MY death« (M57) »IN THE BACK THE SWINE« (M58) bereits gehörte Stimmen bzw. Samples »Und dann sprangen wir sieben erschrocken von unsern Sitzen und standen bebend und schaudernd vor Entsetzen: denn die Klänge in der Stimme des Schattens waren nicht die Klänge irgendeines Wesens, und von Silbe zu Silbe die Laute wechselnd, trafen sie dunkel an unser Ohr im unvergeßlichen, vertrauten Tonfall vieler Tausender dahingegangener Freunde.« (M15)
Orienta- 51:13lische 54:21 Musik
Protokoll 5
394
•
• • • •
Wird lauter, steht ab 52:52 frei [54:2156:01 Abmoderation]
Sprache im Vordergrund, bei Gesang Deihims steht Atmosphäre vor Semantik Sprache erhält durch Musik eine stärkere Dynamik, Musik und Geräusche jedoch in gleicher Lautstärke, zum Teil auch freistehend Schnitttechnik: keine harten Schnitte, Verknüpfung der beiden Texte und ihrer Darstellungsart Rhythmus der Sprache der Passanten wird durch Musikkompositionen intensiviert, Sprache wird zu (Sprech-)Gesang, ebenso Korrespondenzen zwischen Deihims Gesang und Musik Kompositorisches Konzept: Collage aus O-Tönen, Gesang, Rezitation und Musik
and familiar accents of many thousand departed friends.« (F9, gezogen gesungen, mehrstimmig)
Text als Klangmaterial
395
»Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau« (M1 und M2 im Chor, laut bis brüllend, schnell, dennoch akzentuiert, zwischen Gesang und Sprechen)
Wir lagen zwischen Moskau und Berlin / Im Rücken einen Wald ein Fluß vor Augen / [...] In Schützenlöchern aus gefrornem Schlamm / Und warteten auf den Befehl zum Einsatz / Und auf den ersten Schnee Und auf die Deutschen« (M1, am Ende polyphon und zeitversetzt M2, brüllend und schrill)
Auslassung
»Russische Eröffnung« (mehrere junge Männerstimmen)
»Wolokolamsker Chaussee I« (M1=Ernst Stötzner, neutral)
Stimme
Wiederholungen Vorgriff
Text
Sprache
Kanonenschüsse textbegleitend; nach Titel mündet der Schuss in Musik
Geräusch und Klang
WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE I-V
nach fast jedem Vers Einsatz von Schlagzeug und Bass (gleicht gleichmäßigem Hämmern); bis zum Dialog
Metal-Musik laut, treibend, teilweise aggressiv und schrill, textunterlegt
leise, sanfte Musik, Assoziation mit Schritten
Musik
Zeit
00:3801:40
00:2200:38
WC I: Russische Eröffnung 00:0000:22
Min.:Sek.
Protokoll 6
396
Auslassung
Auslassung
»Wo kommt ihr her Genossen« (M2) »Aus dem Kessel« (M1) »Der Deutsche Habt ihr ihn gesehn Wie kämpft er Der Deutsche Habt ihr ihn gesehn« (M2) »Gesehn / Ein Horizont aus Panzern ist der Deutsche / Der auf dich zufährt So« (M1) »Ein Himmel aus Flugzeugen ist der Deutsche« (M1 und M2 gleichzeitig) »Und ein Teppich / Aus Bomben [...] / Du wirst ihn selber sehn« (M2) »Und eh du aufwachst / Vom nächsten Schlaf Und vielleicht wachst du nicht auf / Vom nächsten Schlaf« (M1) »Wohin so eilig« (M2) »Bleibt« (M1) »Erholt euch von der Front [...]« (M2)
»Meine / Soldaten hatten Angst und wenig mehr / Angst ist die Mutter des Soldaten und / Der erste Schnitt geht durch die Nabelschnur / Und wer den Schnitt verpaßt stirbt an der Mutter / Meine Soldaten kamen von der Schule / Im Kino hatten sie den Krieg gesehn / Ich war ihr Kommandeur und meine Angst war / Die Angst vor ihrer Angst Und näher kam / Die Front und von der Front die Deserteure« (M1)
»Panzer / Flugzeuge den Hochmut der Sieger« (M1 und M2 gleichzeitig)
»Tags hörten wir die Front nachts sahn wir sie / Die Deutschen hatten was wir brauchten« (M1)
E-Gitarre im Vordergrund, etwas ruhiger
Bei »Ein Himmel aus Flugzeugen« lauter und hämmernd
Beim Dialog schnelleres Tempo
02:0402:48
01:4002:04
Text als Klangmaterial
Auslassung
397
»Wir kommen von der Front« (M2, rufend) »Wir haben Hunger« (M1) »Erzählt uns von der Front« (M2)
»Ich sah den Fluß Er wäre schön gewesen / Vielleicht mit Blättern und mit Blüten mir / War er nicht tief genug kein Hindernis / Für Deutsche Und der Wald am Gegenufer / Ein Maler hätte ihn vielleicht geliebt / Ich haßte jeden Baum und jeden Strauch / Weil er ein Feuerschutz war für die Deutschen / Man sollte ihn ausreißen diesen Wald / Und wieder die Gepräche an den Feuern« (M1, akzentuiert, treibend)
»Und nur wenn wir ihn schlagen siegen wir« (M1, ruhig, nüchtern)
»Mein Zeigefinger fuhr die Zeilen ab / Und meine Hände hielten das Papier / Die Worte schlugen ein in meinen Kopf / Wie Blitze und ich wußte [...] / Ihr Weg nach Moskau ist nur ein Spaziergang / Wenn wir geschlagen werden und ich wußte / Geschlagen werden wir nicht von den Panzern / Von keinem Flugzeug oder Bombenteppich / Was uns schlägt ist der General der Angst heißt« (M1, langsamer, dann immer schneller werdend, stark akzentuiert)
»Der Weg nach Moskau nur noch ein Spaziergang / Es gibt sie nicht mehr die Rote Armee« (M1, Parodie von Hitlers Duktus)
»So gingen die Gespräche an den Feuern / Ich hörte sie und las in den Befehlen / Vom Regimentsstab Hitler sagt der Welt« (M1 erzählend, aber unruhig)
Deutliche Zäsur durch Neubeginn des »Hämmerns«, heulende E-Gitarre
Ausklingende EGitarre
03:2204:47
02:4803:22
Protokoll 6
398
»Und meine Hand griff schon nach dem Revolver / Aber ich hörte meine Stimme sagen / Eßt unser Essen und marschiert zurück / In euren Kessel wenn euch euer Leben / Noch etwas wert ist oder euer Tod / Seh ich euch morgen hier ist es die Wand / Und wärs die letzte die der Krieg hier stehn läßt / Sie gingen nicht zurück in den Kessel / Verschwanden in der Nacht in Richtung Moskau / Und andre kamen mit grauem Gesicht / Und streuten Angst Ich wußte ich muß jäten / Sonst schießt das Unkraut das den Deutschen schmeckt / Liebe zum Leben ohne Krieg und Tod / Die aus Soldaten
»und eßt euch satt« (M1) »Warum erzählen« (M2) »Morgen ist sie hier / Die Front« (M1) »Dann könnt ihr Hochzeit halten mit / Dem Deutschen nach dem euch das Fell juckt« (M1 und M2 gleichzeitig, treibend, jedes Wort betont) »Hochzeit / Einheizen werden wir dem Deutschen« (M1, rufend) »Ihr Paß auf daß er dir nicht das Fell verbrennt« (M2, am Ende ziehend) »Ich stand und hörte ihr Geschwätz und ihr / Gelächter hohl wie aus dem Bauch von Toten / Und sah im Morgengraun ihre Gesichter / Grau und ich sagte Was für Lieder singt ihr / Seid ihr Soldaten oder Klageweiber / Und wer hat euch beurlaubt von der Front« (M1, schnell, treibend) »Der Deutsche« (M1, M2) »sagten sie und lachten nicht mehr / Ich sagte An die Wand gestellt gehört ihr« (M1) »Ja sagten sie solang noch eine Wand steht / Wo wir herkommen siehst du keine Wand mehr« (M1, M2)
E-Gitarre schrill
Schlagzeug, schnell und in treibenden Rhythmus mündend
Sehr akzentuiert, hämmernd
Text als Klangmaterial
Auslassung (Z. 112-124)
Wiederholung
»Wart nur auf den Deutschen« (M2) »Der Deutsche greift nicht an da wo du glaubst / Das hat er nicht gern« (M1, verstellte, arrogante Stimme) »Und was hat er gern / Der Deutsche« (M2, deutlich als Frage) »In die Zange nimmt er dich« (M1) »Und dann« (M2) »Dann bist du selber dir der Nächste / Und bete daß du einen Wald zur Hand hast« (M1 und M2 im Chor, sehr akzentuiert) »Sonst hast du keinen Freund mehr Nur der Wald ist / Dein Freund« (M2) »Der Deutsche geht nicht in den Wald / Verstehst du« (M1) »Vor dem Wald hat er Respekt« (M2) »Der Deutsche« (M1 und M2, Höhepunkt)
»Ich weiß den Tag und werd ihn immer wissen / Er bleibt in mein Gedächtnis eingebrannt / Mit den zwei Salven die ich hören werde / Bis man mir meinen Anteil Erde gibt / Die Front kam näher Sparsam fiel der Schnee / Beim Rundgang durch die Gräben trug der Wind / Mir in die Nase den Geruch der Angst / Die den Soldaten kalt im Nacken saß / Ins Ohr ihr Flüstern« (M1, jede Zeile gleich betont
»Liebe zum Leben ohne Krieg und Tod / Die aus Soldaten Deserteure macht« (M1, M2 im Chor)
Deserteure macht« (M1)
399
Schlagzeug, schnell und in treibenden Rhythmus mündend
Sehr akzentuiert
Kurze Zäsur Musik etwas ruhiger
04:4705:46
Protokoll 6
400
Wiederholung
Wiederholung
»einer andern zuwirft / Und eher als ein Schreien wars ein Flüstern / Das durch die Gräben lief mit einem Atem / Als wären sie schon neben uns« (M1, stark an Musikmelodie angepasst) »die Deutschen« (M1 und M2)
»Die Deutschen« (M1 und M2, aggressiv) »wie ein Echo« (M1) »Die Deutschen« (M1 und M2) »Das eine Bergwand« (M1) »Die Deutschen« (M1 und M2)
»Ich hatte keine andre Sprache mehr / Ich zielte auf den Fluß und schoß den Gurt leer / Als wärs ein deutscher Fluß Das Wasser tanzte / Wann spielen wir den Deutschen auf zum Tanz / Wann wird das Wasser rot von ihrem Blut sein / Ich schrie Alarm und Zu den Waffen und / Ein Schrei ging um« (M1)
»Ich sah Stahl glänzen im Gebüsch am Ufer / Im Laub versteckt ein Schütze am MG / In Ordnung fragte ich Und er In Ordnung / Die Braut ist aufgeputzt zur Hochzeit nur / Der Bräutigam verspätet sich« (M1, langsamer) »der Deutsche« (M1 und M2, rufend, aggressiv)
»Pack dachte ich das unser Brot schlingt und / Mit seiner Angst meine Soldaten füttert / Erschießen sollte man sie auf dem Fleck / Ich wußte nur der Schrecken treibt die Angst aus« (M1, laut) Kurze Zäsur Musikthema wechselt, mit Pfeifen (Akzentuierung, Unterbrechung, Rhythmisierung – auch der Sprache)
05:4606:57
Text als Klangmaterial
401
polyphon dazu: »Was muß ich tun daß dieser Menschenhaufen / Ein Bataillon wird vor der ersten Schlacht« (M1)
»Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau« (M1 und M2 im Chor, rufend)
Auslassung (Z. 159-166) »Dann kam der Leutnant und die Zeit stand still / Genosse Kommandeur ein Gruppenführer / Ist in den Wald gelaufen mit den andern / Und das ist nicht das Schlimmste / Nicht das Schlimmste / Was noch / Er hat sich in die Hand geschossen / So In die Hand geschossen Und was weiter / Nichts weiter Genosse Kommandeur / Ein Unfall / Genosse Kommandeur es war kein Unfall / Und was hast du getan Hast ihn erschossen / Verbunden hab ich ihn Und arretiert / Er wartet draußen / Ich will ihn nicht sehn / Warum hast du
Wiederholung
»Die Hand am Lauf der Waffe mit der ich / Auf meiner Bühne zwischen Wald und Fluß / Den deutschen Part gegeben hatte und / Mit viel Erfolg die Flucht war der Applaus / Weil mir die Worte ausgegangen waren« (M1, stark akzentuiert am Zeilenende)
»Soldaten sprangen aus den Gräben tauchten / Zurück in ihre Gräben sprangen wieder / Auf aus den Gräben wie Puppen am Draht / Dann lief der erste in den Wald Er war nicht / Der letzte Alle rannten mit Bis einer / Halt rief Und nicht mit meiner Stimme Ich / Stand neben mir und starrte auf das Schauspiel« (M1, an Musikmelodie angepasst)
Klingt mit Schlagzeug aus Neues Musikthema, Schlagzeug im Vordergrund
Hohe Töne im Vordergrund
Kurze Zäsur, Wechsel zum ursprünglichen Musikthema
07:2409:00
06:5707:24
Protokoll 6
Auslassung (Z. 213-217)
Wiederholung von »Ich«
402
»Genosse Leutnant Bringen Sie ihn weg / Ich will ihn nicht mehr sehn Und seine Gruppe / Soll ihn erschießen vor dem Bataillon / In einer Stunde Das ist mein Befehl« (M1, aggressiv)
»Genosse Kommandeur / Ich bitte um Verzeihung / Sag die Wahrheit / Es war ein Zufall Ich weiß selbst nicht wie / Ich bin gestolpert als ich in den Wald lief / Bin in den Wald gelaufen mit den andern / Das war nicht richtig Man versteckt sich nicht / Vorm Feind Obwohl Genosse Kommandeur / Sie wissen selbst es war nur eine Übung / Kein Deutscher weit und breit / Nur eine Übung / So Und der Schuß in deine Hand es ist / Die rechte wie war auch nur eine Übung / Du hast dich nicht geschont wie Bis aufs Blut / Hast du geübt wie Hast du Schmerzen / Genosse Kommandeur / Vielleicht wirst du / Die Hand nicht mehr gebrauchen können und / Vielleicht kann dich der Krieg nicht mehr gebrauchen / Mit einer Hand zu wenig als Soldat / Vielleicht Genosse Kommandeur / Hör auf / Zu lügen Geh mir aus den Augen Bleib / Soll ich dir sagen was du bist Das bist du / Ein Feigling und Verräter an der Heimat« (M1, zwei Rollen einnehmend, aggressiv als Kommandeur, letzte Zeile hysterisch; ruhig und schuldbewusst als Gruppenführer)
ihn nicht erschossen / Ich / Ich Ich weiß nicht / Und ich soll es wissen wie / Bring ihn herein« (M1, zwei Rollen einnehmend, höhnisch als Kommandeur, vor allem am Ende, unsicher als Leutnant)
Musik wird treibender, aggressiver
Zäsur 09:0010:09
Text als Klangmaterial
403
»Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau« (M1 und M2 im Chor, rufend)
Auslassung (Z. 244-262) »Und mit geschlossenen Lippen sagte er / Und grüßte mich mit der zerschossnen Hand / Genosse Kommandeur Verzeihen Sie / Und lassen Sie mich kämpfen an der Front / Ich sagte Zieh den Mantel aus Das ist ein / Soldatenmantel Du bist kein Soldat mehr / Und mit drei Fingern der
Wiederholung
»Und etwas / Wie Stolz war in mir Dieser Menschenhaufen / Aus Stadt und Steppe wird ein Bataillon / Und Scham war in mir über meinen Stolz / Und Wut und Trauer Braucht es einen Toten / Oder den Blick auf einen solchen Tod / Damit ein Bataillon ein Bataillon wird / Und vor der Front der Mann der sterben sollte / Weil ich befohlen hatte daß er stirbt / Wie anders hätte ich befehlen sollen« (M1, am Ende hysterisch, schreiend)
»Mit einem Laut [Pause] wie ein Gewehr [Pause]« (M1 und M2, im Chor, sachlich)
»Der Leutnant fragte Haben wir das Recht / Ich sagte Mein Befehl wird ausgeführt / Und war es Unrecht soll man mich erschießen / Sie schreiben den Bericht Genosse Leutnant / Die Stunde dauerte mein Leben lang / Sechzig Minuten kurz war seine Stunde / Jede Minute eine Ewigkeit / Im offnen Viereck stand das Bataillon Und kein Gesicht war wie das andre Aber / Auf mein Kommando klappten die Gewehre« (M1, ruhig)
Zäsur Nur Schlagzeug, schnell, treibend Hinzukommen von E-Gitarre
Wiederholung des Musikthemas
Zäsur, schneller, treibender
Stark akzentuiert in Sprechpausen
Ruhiger, akzentuiert mit Schlagzeug
10:2011:53
10:0910:20
Protokoll 6
404
Auslassung (Z. 294-300)
»Dann riß der Film und mein Kommando wischte / Das Bild weg Feuer und die Salve krachte / Aus zwölf Gewehren wie ein einziger Schuß / Und lauter war kein Schuß in diesem Krieg« (M1, laut rufend)
»Die eine Stunde lang schon auf ihn drückte / Mit dem Gewicht der Erde die ihn deckt / Zehn Hände zerrten jetzt an seinem Mantel / Damit er in den Ärmel fand und her / Und hin und das Gelächter nahm kein Ende (M1 und M2, immer schneller werdend)
Polyphones Lachen im Hintergrund
»Mir war als ob der Wind sogar stillstände / Dann wurde er zum Sturm in meinem Kopf / Und mit geschlossnen Lippen sagte ich / Zieh deinen Mantel an Ich fragte er/ Den Mantel Soll ich nicht erschossen werden / Und ich Nimm deinen Platz ein Wirst du kämpfen / Und Ja ich werde kämpfen sagte er / Und wollte seinen Mantel anziehn fand / Mit der verbundnen Hand nicht in den Ärmel / Er lachte mit uns von der Last befreit« (M1)
»Feuer« (M1 und M2) »Die Rücken der Soldaten und das Schwanken / Ihrer Gewehre fragten mich« (M1) »Warum« (M1 und M2)
zerschossnen Hand / Knöpfte er langsam seinen Mantel auf / Dann wurden die Gewehre angelegt / Und warteten auf mein Kommando« (M1, Sprechmelodie angepasst an E-Gitarre)
Kurzes Ausklingen, nur gezogene E-Gitarre
Schneller Wechsel zwischen treibendem Rhythmus und Zäsuren
Nur Schlagzeug Hinzukommen von E-Gitarre
Text als Klangmaterial
405
»Wenn er zu mir spricht mit geschlossnen Lippen / Und hebt zum Gruß seine zerschossne Hand« (M1, ruhig)
»Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau Moskau« (M1 und M2 im Chor, rufend)
Umstellung, »Den ich erschießen ließ im Kriegsjahr Einundvierzig im Oktober und nach dem Kriegsrecht / Als Feigling und Verräter Vorgriff an der Heimat« (M1, rufend, überzeugt) (Z. 319)
Auslassung (Z. 314)
»So ging den ersten Schritt mein Bataillon / Auf unserm Weg von Moskau nach Berlin / Und immer geht der Tote meinen Schritt / Ich atme esse trinke schlafe nachts / In meinem Kopf der Krieg hört nicht mehr auf / Die eine Salve und die andre Salve / Gehen zwischen meinen Schläfen hin und her« (M1, rufend)
»Etwas / Zog meine Hand zum Gruß an meinem Helm / Zur späten Antwort auf den letzten Gruß / Mit der zerschossnen Hand und ohne Helm / Und Mitleid mit Verrätern ist Verrat / Sagte der Kommandeur Hand am Revolver / Gebt ihm den Mantel wieder und begrabt ihn« (M1, abgehackt ab »Und Mitleid« höherer Tonfall, lauter)
Kanonenschüsse (als Akzente mit Musik verschränkt)
Leise klassische Musik, die Schritte assoziieren lässt Fade Out
Zäsuren und Akzente mit E-Gitarre, Verklingen
Musikthema vom Beginn
Schlagzeug und sehr schnelle EGitarre
schneller
Neues Musikthema, treibend
13:2913:52
12:5213:29
11:5312:52
Protokoll 6
Nach sieben Tagen Schlacht um Moskau war / Mein Bataillon noch eine Kompanie stark / Zersprengt die Division der Stab werweißwo / Die Deutschen überall und nirgends Wir / Marschierten durch den Wald wie blinde Hühner / Wo kämpft die Division wo stehn die Deutschen / Nachts Bodenfrost und Rauhreif früh der fiel / Als Regen von den Bäumen und vom Helmrand / Wenn mittags überm Wald die Sonne stand / Tränkte die Uniform das Marschgepäck / Und wurde Schlamm der an den Stiefeln klebte / Der Sanitätszug war die einzige Last / Die langsam leichter wurde jeden Tag / Ein Toter mehr Und schwerer auch wenn leichter / Mit jedem der uns keine Last mehr war / Und keine Spur von Freund und Feind nur Wald / Auch die Geschütze schwiegen eine Nacht lang / Am Morgen fanden sie die Sprache wieder / Der neue Schlachtlärm brachte die Gewißheit / In unserm Rücken stehn die Deutschen kämpft / Die Division oder der Rest von ihr / Auf den Chausseen vorbei an unserm Waldstück / Rollte der deutsche Nachschub gegen Moskau / Die letzte Insel unser Bataillon / Im deutschen Meer aus Panzern und Geschützen / Der Rückzug abgeschnitten und der Vormarsch / Ein Finger der die Hand sucht die vielleicht / Kein Arm mehr hält am blindgeschossnen Rumpf / Die Blicke der Soldaten fragten stumm / Die Augen waren Löcher im Gesicht / Der Hunger zeichnete die Backenknochen / He
»Wolokolamsker Chaussee II Wald bei Moskau
406
Kurzer, verzerrter E-Gitarre-Ton und
Hinzukommen einer weiteren Gitarre
Leise, sanfte Gitarre-Klänge im Hintergrund
WC II: Wald bei Moskau 00:0008:57
Text als Klangmaterial
Kommandeur wohin hast du geführt / Und stumm gab ich die stumme Frage weiter / Warum gehn wir zurück In unserm Leben / Gab es das Wort nicht Rückzug Warum jetzt / Was oder war hat uns die Kraft genommen / Und wann hat angefangen was jetzt ist / Und Wie und Wer ist schuld Der Feind im Land / Statt daß wir ihn in seinen Wäldern jagen / Wie hast du uns geführt Genosse Stalin / Und meine Zähne schneller als die Zunge / Zerbissen meine Antwort Blut im Mund / Vor mir stand ein Soldat / Wir haben Hunger / Ich bin dein Kommandeur Wie stehst du vor mir / Bring deine Uniform in Ordnung und / Komm wieder und sag was du sagen willst / Er ging zurück zehn Schritt nach dem Befehl / Knöpfte die Uniform zu wusch die Stiefel / In einer Pfütze rieb mit einem Ärmel / Den Helm blank und kam wieder Hand am Helm / Genosse Kommandeur wir haben Hunger / Ich habe nichts für euren Hunger Ihr / Könnt mich in Stücke schneiden Das ist alles / Jawohl In Stücke schneiden Zu Befehl / Genosse Kommandeur der Sanitätszug / Was ist Was willst du mit dem Sanitätszug / Der Sanitätszug ist zurückgeblieben / Verloren Irgendwo im Wald Der Doktor / Wo ist der Doktor Sitzt am Baum Ruht aus / Unsre Verwundeten wo sind sie Doktor / Stehen Sie auf wenn ich mit Ihnen rede / Ich bitte mich nicht anzuschrein Ich / Bin Offizier wie Sie Und Bataillonsarzt / Ja und ich frage jetzt den Bataillonsarzt / Wo ist der Sanitätszug Bataillonsarzt / Genosse Oberleutnant ich bin Hauptmann / Ich bitte nochmals mich nicht anzuschrein /Ich frage nicht nach Ihren Rangabzeichen / Ich frage nach dem Sanitätszug Wo / Bin ich der Fahrer Woher soll ich wissen / Der Sanitätszug ist zurückgeblieben / Wir sind weitermarschiert Er wird nachkommen / Genossen unser Bataillonsarzt hat / Unsre Verwundeten im Stich
407
Kurze E-GitarrenTöne
Akzente in höherer Lautstärke
Akzente in höherer Lautstärke
Akzente in höherer Lautstärke
Akzente in höherer Lautstärke
kurzer Einsatz des Schlagzeugs
Protokoll 6
Auslassung (Z. 85-87)
gelassen / Den Sanitätszug der ihm anvertraut war / Verraten ehrlos wie ein Feigling die / Ihr Blut vergossen haben für die Heimat / Verraten Haben Sie gesagt Verraten / Und wer hat uns geführt in diesen Kessel / Wer jagt uns kreuz und quer durch diesen Wald / Im Kreis vielleicht seit werweißwieviel Stunden / Sie sehen selbst die Männer sind am Ende / Und auf den Tod erschöpft von Ihrer Führung / [...] Ich bitte Sie Genosse Kommandeur / Verraten Sie dem Bataillon oder / Dem Rest des Bataillons dank Ihrer Führung / Wohin gedenken Sie uns noch zu führen / Bevor der Feind mit uns ein Ende macht / Fünfzig Soldaten standen hinter mir / In meinem Rücken brannten ihre Blicke / Aus hundert Augen fünfzig Messerstiche / Ich hielt es nicht mehr aus und sah mich um / Mein Bataillon das eine Kompanie war / Nach sieben Tagen Schlacht von mir geführt / Geführt Wohin Was bin ich für ein Führer / In schmalen Augenschlitzen stand die Frage / Augen durchscheinend von der Steppe Gras / Und Gras Augen von Stahlstaub grau von Wind grün / Augen kurzsichtig hinter Brillengläsern / Wir torkeln wie Zigeuner durch den Wald / Bist du noch Kommandeur Sind wir Soldaten / Wer rettet uns aus diesem Untergang / Und etwas war in mir das wollte schrein / Was wollt ihr Bin ich mehr als ihr Was weiß ich / Ich Etwas ging auf die Soldaten zu / Verschwinden in der Masse in den Leibern / Damit mich diese Augen nicht mehr ansehn / Und sah mit Schrecken wie sie rückwärts gingen / Als wär ich eine Drohung weg von mir / Und machte kehrt wie eine Marionette / Sah auf den Doktor Hundert Augen sahn / Mit meinen Augen seine Hände flattern / Und ohne Stimme oder wars die Stimme / Des Bataillons ein Brüllen oder Flüstern / Weit weg von meinen Ohren
408
Akzente in höherer Lautstärke
Akzente mit EGitarre Kurzzeitige Steigerung des Rhythmus und der Lautstärke Musik leise im Hindergrund
Nur Gitarren
Hinzukommen von E-Gitarre
Anhaltender, ruhiger Schlagzeugrhythmus, der zunehmend lauter wird
Text als Klangmaterial
sagte ich / bevor der Feind mit uns ein Ende macht / Werden wir mit dem Feind ein Ende machen / Und Glaubst du was du redest Kommandeur / Fragte in meinem Innern meine Angst / Und jetzt marschieren wir zurück und suchen / Mit leerem Eßgeschirr und kein Gramm Brot mehr / Und wenn wir schon auf allen vieren kriechen / Den Sanitätszug den der Bataillonsarzt / Im Stich gelassen hat ehrlos aus Feigheit / Weil wir dem Feind nichts lassen keinen Mann / Kein Fahrzeug keine Waffe keinen Toten / Solange Atem in uns ist Und vorher / Werden wir das auch noch in Ordnung bringen / Hauptmann Belenkow Sie sind degradiert / Grund weil Sie Ihre Pflicht vergessen haben / Als Arzt und Offiziert ehrlos aus Feigheit / Nehmen Sie Ihre Rangabzeichen ab / Sie wissen daß Sie das nicht dürfen Sie / Sind Oberleutnant ich bin Hauptmann Sie / Haben kein Recht Nur der Volkskommissar / Ich habe medizinische Hochschulbildung / Er hatte recht Auslassung Ich sah auf meine Hände / Gern hätte ich sie um seinen Hals (Z. 145-147) gelegt / Gern wenigstes mit zweimal einem Griff / Ihm seine Schulterstücke abgerissen / [...] Aber gebunden waren meine Hände / Fest wie mit Ketten fester als mit Ketten / An das sowjetische an unser Kriegsrecht / Das Divisionsgericht der Volkskommissar / Konnten den Feigling degradieren ihn / Erschießen lassen auch vielleicht Wär ich / Das Divisionsgericht der Volkskommissar / Was wird aus unsrer Sowjetordnung wenn / Ich das Gesetz in meine Hände nehme / Die Rechte von Millionen Sowjetmenschen / Wie viele sind wir noch die Sowjetordnung / Wo bleibt sie vor den deutschen Panzerketten / In meine zwei mit Macht begabten Hände / Auslassung Macht über eine Kompanie die gestern / Ein Bataillon war (Z. 165-166) und morgen vielleicht / Schon nur noch eine Siegesmeldung
409
Hinzukommen von E-Gitarre
Steigerung der Lautstärke, Hinzukommen von Schlagzeug
Musik sehr leise
Akzente
Kurzzeitige Steigerung der Lautstärke und des Rhythmus
Protokoll 6
410
»Und jeder ist sein eigner Kommandeur / Nach meinem Beispiel morgen wenn jetzt ich / Die Hände nicht mehr komAuslassung mandieren kann / [...] Ersticken sollst du dachte ich an dei(Z. 200-216) ner / Herr Hauptmann medizinischen Hochschulbildung / Auslassung [...] Und in mir fing der Zweifel an zu reden / Der Bataillons(Z. 219-221) arzt hat den Sanitätszug / Im Stich gelassen der ihm anvertraut war / Aber wer hat das Bataillon geführt / In diesen
»DU HAST UNS IN DEN TOD GEFÜHRT FÜHR / NICHT MEHR« (M1 und M2 im Chor, M1 lauter im Vordergrund)
09:5911:36
09:5509:59
09:0209:55
Auslassung »Und Narben sahn mich an von Wunden alt / Und neu Wun(Z. 176-179) den geschlagen mit Papier / Mit Schreibmaschinen und mit Kaderakten / In unsern Ämtern und Büros im Namen / Der Sowjetordnung unsrer Sowjetordnung / Die Narben der Verhöre nicht gezählt / Wer sagt mir daß diese Soldaten nicht / Mit ihren Narben die nach Wunden schrein / Mancher ein Grab im Herzen ohne Aufschrift / Wer sagt mir daß nicht einer das Gesetz / In seine Hände nimmt und übers Knie bricht / Verrückt von Hunger oder wenn die Deutschen / Ein Ende machen mit dem Kessel und / Dem Kommandeur der schlecht geführt hat mir / Die Rangabzeichen von den Schultern reißt« (M1, mit gehobener Stimme)
Längere Akzente mit E-Gitarre und Schlagzeug im Vordergrund nur zwei Gitarren
08:5709:02
Auslassung (Z. 170-174) »[...] Nun / Wie wirst du dich aus deiner Klemme ziehn / Genosse Kommandeur« (M1 und M2 im Chor)
ist / In einer deutschen Wochenschau [...] Und wer sagt mir ob nicht meine Soldaten / Nur darauf warten daß der Kommandeur / Den einen Fehler macht oder den andern« (M1, meist sehr ruhig gesprochen, punktuell als Kommandeur im Gespräch höhere Lautstärke und stärkere Betonung)
Text als Klangmaterial
411
Wiederholungen
»Und Hauptmann sagte ich« (M1) im Hintergrund: »Hauptmann Belenkow« (M1 und M2 im Chor, sehr ruhig und melodisch) »Ich bin der Kommandeur des Bataillons« (M1) »Hauptmann Belenkow« (M1 und M2 im Chor) »Das abgeschnitten ist von der Armee« (M1) »Hauptmann Belenkow« (M1 und M2 im Chor) »In diesem Wald der eine Insel ist« (M1) »Hauptmann Belenkow« (M1 und M2 im Chor)
»Die Sowjetordnung dachte ich wo bleibt sie / Wenn die Sowjetunion verschwunden ist / Und Welcher Teufel reitet dich Genosse / Der Boden unter deinen Stiefeln ist / Sowjetunion die Sowjetunion lebt / In deinem Herzen und in deinem Kopf / Und wenn auf der verbrannten Erde nur noch / Die leeren Panzer aufeinander krachen / Und wenn wir in den Wolken weiter kämpfen / Wo das Gedächtnis unsrer Toten lebt« (M1, gehobene Lautstärke und Tempo)
Wald der keinen Ausgang hat / Als in die deutschen Panzer und Geschütze / Vielleicht solltest du auch dir selber gleich / Die Rangabzeichen von den Schultern reißen / Genosse Auslassung Kommandeur der schlecht geführt hat / [...] Ich zählte mit (Z. 231-238) den Augen die Soldaten / Wie viele werden sterben Wer und wer / Beim Ausbruch aus dem Kessel und Kann sein / Wir kommen nie heraus aus diesem Kessel / Und unsre Knochen schlagen Wurzeln hier / In diesem Niemandswald auf dieser Insel / An der vorbei der Feind nach Moskau greift / Meine Gedanken überschlugen sich« (M1, relativ ruhig) Hinzukommen von Schlagzeug und EGitarre Höhere Lautstärke
12:1313:38
11:3612:13
Protokoll 6
Wiederholungen
Wiederholungen
412
polyphon: »Soldat Belenkow« (M1 und M2 im Chor) »Und aus dem Feuer tragen werden Sie / Auf ihren Schultern ohne Rangabzeichen / Das Schlachtfeld Ihre Universität / Bis unser Waffen schweigen in Berlin / Unsre Verwundeten« (M1)
polyphon: »Hauptmann Belenkow« (M1 und M2 im Chor) »Sowjetische Insel und« (M1) »sowjetischer Wald« (M1 und M2 im Chor) »Und vielleicht« (M1) »sowjetischer Wald« (M1 und M2 im Chor) »sehn wir keinen andern Wald mehr« (M1) »sowjetischer Wald« (M1 und M2 im Chor) »Und keine Division« (M1) »sowjetischer Wald« (M1 und M2 im Chor) »und keine Heimat« (M1) »sowjetischer Wald« (M1 und M2 im Chor) »Das Bataillon ist die Sowjetarmee« (M1) »sowjetischer Wald« (M1 und M2 im Chor) »Der Boden unter unsern Stiefeln heißt« (M1) »sowjetischer Wald« (M1 und M2 im Chor) »Sowjetunion und ich bin die Sowjetmacht« (M1) polyphon: »sowjetischer Wald« (M1 und M2 im Chor) »Sie werden Dienst tun als« (M1) »Soldat Belenkow« (M1 und M2 im Chor, M1 im Vordergrund) »Soldat Belenkow« (M1 und M2 im Chor, M1 im Vordergrund)
»Im deutschen Meer das unsre Heimat wegbrennt« (M1)
Akzente mit EGitarre
Text als Klangmaterial
413
Wiederholung
Wiederholung
»Das war im Juni in dem schwarzen Monat / Im fünften Jahr der Republik Den wir / Gestrichen haben aus unserm Kalender / Im fünften Jahr der Republik Für unsre Feinde wars ein Jubelmonat / Weil beinah wär es unser letztes Jahr / Gewesen und vielleicht das erste Jahr /Vom letzten Krieg Wenn uns die Panzer nicht / Wenn uns die Panzer nicht /
»Wolokolamsker Chaussee III Das Duell« (M1, deutlicher Hall, Aufnahme im größeren Saal)
»Soldat Belenkow / Nehmen Sie ihre Rangabzeichen ab / Eh ich sie Ihnen von den Schultern reiße«(M1)
»Soldat Belenkow« (M1 und M2 im Chor, M1 im Vordergrund, 2x)
Murmeln, Stühlerücken, Klaviertöne, Einstimmung des Chors, Husten, Räuspern
14:3014:52
Leise, sanfte Musik, Assoziation mit Schritten (vgl. WC I)
00:3901:35
00:3000:39
WC III: Das Duell 00:0000:30
13:3814:30
Musik freistehend Fortführung des Musikthemas
Kurze Pause bei 13:35
Protokoll 6
Wiederholung
414
»Warum könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen / Im Leben wird aus mir kein Ingenieur / Und wenn ihr mich durch vierzig
»Und ich sah / Ihn balancieren sieben Jahre her / Auf einem andern Stuhlrand zwischen uns / Kein Schreibtisch damals und kein Namensschild / Sondern ein Weltkrieg und zehn Jahre Zuchthaus / Der Regen schlug auf das Barackendach / Und seine Jacke war aus Uniformstoff /Mein Anzug Kammgarn aus Nazibeständen« (M1)
polyphon: »Wie eine Kriegserklärung« (Chor, 2x)
»und auf meinem Schreibtisch / Lag zwischen uns das Schild von meiner Tür / Auf dem DIREKTOR und mein Name stand / Von meinem Stellvertreter demontiert / Wie eine Kriegserklärung« (M1)
»FREIHEIT RUSSEN RAUS / Und SPITZBART WEG und DEUTSCHLANDÜBERALLES ÜBERALLES« (Chor)
»Ich saß an meinem Schreibtisch im Büro / Im VEB OKTOBER oder FORTSCHRITT / Draußen der Volksmund FREIHEIT RUSSEN RAUS / Und SPITZBART WEG und DEUTSCHLANDÜBERALLES / Und vor mir balancierte auf dem Stuhlrand / Mein Stellvertreter und auf meinem Schreibtisch / Lag zwischen uns das Schild von meiner Tür / Auf dem« (M1, betont, langsam, bemüht, Hall)
Zum zweitenmal wieder geboren hätten« (Chor=Kammerchor Horbach, nur Männerstimmen, hohe Stimmen, teilweise im Kanon)
Summen (höher werdend)
Weiteres Summen
Polyphon: Summen des Chors
04:0904:44
02:4204:09
02:2902:42
01:3502:29
Text als Klangmaterial
415
Auslassung (Z. 49)
Auslassung (Z. 37-44) Vorgriff
Wiederholung
05:0705:37
»Und jetzt saß er vor mir mein Stellvertreter / Als Delegierter vom STREIKKOMITEE« (M1)
polyphon, gleichzeitig: »STREIKKOMITEE« (Chor) »[...] Was für ein Komitee« (M1) »GENERALSTREIK« (Chor) »Was für ein Streik / Soll das ein Witz sein« (M1) »STREIKKOMITEE« (Chor) »Willst du meinen Stuhl« (M1) »GENERALSTREIK« (Chor) »Lange genug warst du mein Stellvertreter« (M1) »STREIKKOMITEE« (Chor) »Du wirst doch wissen wie du mir ein Bein stellst« (M1) »GENERALSTREIK« (Chor) »[...] Die Schreier draußen brauchst du nicht dazu« (M1) »GENERALSTREIK« (Chor)
04:5905:07
»Du wirst studieren und wenn ich dich an / Den Haaren auf die Schulbank schleifen muß.« (Chor, sehr hoch, schnell) Nebengeräusche, Schritte
04:4404:59
»Hast du das auch gesagt als du / Die Jacke angezogen hast in Feldgrau / Die du jetzt schwarz gefärbt hast Trägst du Trauer / Du wirst studieren und wenn ich dich an / Den Haaren auf die Schulbank schleifen muß.« (M1, leicht höhnisch)
Schulen schleift. / Ich bin Arbeiter laßt mich bleiben was / Ich bin.« (Chor, tief beginnend, dann Kanon von tiefen und hohen Stimmen)
Protokoll 6
416
Wiederholung
»Und ich erkannte ihn an seiner Stimme / Die hatten dreizehn Jahre nicht verändert / Im Hörsaal Dresden
polyphon, leicht versetzt: »Das könnte dir so passen sagte ich / Und deinem Wie heißt dein Professor Und / Dem wird ich zeigen wo der Hammer hängt.« (Chor) 07:3508:18
06:2907:35
»Ich schaff es nicht Ich werd das nie begreifen / Und was ich weiß vergeß ich an der Tafel / Und von der Prüfung will ich gar nicht reden / Unser Professor sagt Es ist genetisch / Der eine hat es und der andre nicht / Und Schuster bleib bei deinem Leisten sagt er / Arbeiter werden auch gebraucht Warum / Hast du mir nicht geglaubt als ich es dir / Gesagt hab aus mir wird kein Ingenieur« (Chor, teilweise Kanon)
»Das könnte dir so passen sagte ich / Und deinem Wie heißt dein Professor Und / Dem wird ich zeigen wo der Hammer hängt.« (M1)
06:0706:29
Schritte
05:3706:07
»Ich sah ihn auf der Schulbank Blut und Wasser / Schwitzen im Nahkampf mit der Mathematik / Das wollte nicht hinein in seinen Schädel.« (M1)
»Du machst dirs leicht / Vom Westen aufgehetzt Die Schreier draußen / Warum sagst du nicht gleich Arbeiterpöbel. / Wer streikt hier gegen wen Wo leben wir. / Da ist das Fenster wenn dus wissen willst.« (Chor, Kanon von tiefen und hohen Stimmen, letztes Wort sehr in die Länge gezogen)
»Vom Westen aufgehetzt.« (M1)
Text als Klangmaterial
Wiederholungen
Wiederholung
Wiederholung
417
10:0110:28
09:1910:01
»Die Natur / Macht keine Sprünge.« (Chor, 2x) »Die Natur / Macht keine Sprünge.« (M1) »Die Natur / Macht keine Sprünge. (3x) Wir sind nicht die Natur. / Das wird sich zeigen« (Chor) »Wir sind nicht die Natur. / Das wird sich zeigen sagte der Professor / Er hatte meine Stimme nicht erkannt. / Mein Stellvertreter riß das Fenster auf / Schmeckt dir der Rauch
08:1808:22 08:2208:26 08:2608:28
08:2809:19
Gesungenes Marschieren (»Tamtamtam...«)
»Du hast die Mathematik / Gewählt Mein Studium war das Zuchthaus und / Das Einmaleins des Überlebens meine / Mathematik zwanzig Semester lang. / [Pause] ARBEITERBAUERNFAKULTÄT Ein Witz /Das ist Tierquälerei wenn Sie mich fragen / Ich will nicht sagen die Intelligenz / Ist erblich Aber wie man aufwächst denkt man / Das braucht Generationen Die Natur / Macht keine Sprünge.« (M1, nach der Pause belehrender, überheblicher Ton)
»Wer schreibt der bleibt« (Chor, 2x)
»Wer schreibt der bleibt« (M1)
»JUDEN UND KOMMUNISTEN AUS DEM HÖRSAAL« (Chor)
»Draußen marschierte die SA Wir hockten / Über den Formeln Dann die Unterschrift / Man hielt uns ein Papier unter die Nase / JUDEN UND KOMMUNISTEN AUS DEM HÖRSAAL« (M1)
Neunzehnvierunddreißig« (M1)
Protokoll 6
textfremder Einschub
418
10:5913:40
»Ich Ich sah ihn an der Tafel ausgelacht / Wenn sich in seinem Kopf die Formeln drehten / Ich saß mit ihm die Nacht durch vor der Prüfung / Es war wie ein Duell mein Feind sein Prüfer / Der mir durch eine Unterschrift voraus war / Zwanzig Semester in Mathematik / Und meine Waffe er dem sie nicht in den Kopf ging / Ich dachte Wem gehört das Clownsgesicht / Aus dem die lang vergrabnen Worte platzen / STREIKKOMITEE und GENERALSTREIK wem / Die Hamsterbacken und die Magenfalten / Schleifspur der Kompromisse und der Prämien / Vor meinen Augen ein vergessnes Bild / Treibendes Summen des Ein Maurer zum Minister avanciert / Von Spanien durch die Chores Lager ins Büro / Er stand auf seinem Schreibtisch sang und hörte / Nicht auf zu singen bis sie ihn wegschafften / Vom Ministerium in die Charité / Von seinem Schreibtisch in die Gummizelle / Sang zwischen Akten Zahlen und Bilanzen / Sein Spanienlied MADRID DU WUNDERBARE / MADRID DU WUNDERBARE / Mamita mia! Dich wollten sie nehmen« (M1)
Polyphon ab 12:02: »Die Herren Generale Die Herren Generale Wer hat denn diese Herren so schlecht beraten Die Herren Generale Mamita mia!
10:2810:59
»Das letzte Argument Die Erste Hilfe / Du kannst mich nur noch bei dir selbst anzeigen / Deine Genossen sind auf Tauchstation / Hörst du das Rauschen in der toten Leitung.« (Chor, am Ende sehr gezogen)
Dort brennt das NEUE / DEUTSCHLAND. / Er lachte als ich nach dem Telefon griff« (M1)
Text als Klangmaterial
Wiederholung
419
Den Rauch vom NEUEN DEUTSCHLAND in der Nase / Im Ohr das Lachen meines Stellvertreters / Der mein Produkt war und das Spanienlied / Von dem Genossen aus der Gummizelle / Ich zeig dir wo Gott wohnt.« (M1, letzter Satz lauter)
»Und als sie ihn festschnallten auf der Pritsche / Halb wars ein Schrein halb wars ein Flüstern Gebt / Mir ein Gewehr und zeigt mir einen Feind / Ein Opfer des Papierkriegs sozusagen / Gefallen an der Front der Bürokratie / Ich selber hatte Spanien nie gesehn / Das rote nicht und nicht das schwarze Grau / Sind alle Farben hinter Zuchthausmauern / Ich nahm den Schlips ab zog die Jacke aus / Den Rauch vom NEUEN DEUT... (Abbruch, Neueinsatz) Bruch: Realität der Aufnahme
Hab’n uns verraten Hab’n uns verraten Madrid, du wunderbare Wer hat denn diese Herren Mamita mia! So schlecht beraten? So schlecht beraten? Madrid, du wunderbare, Madrid, du wunderbare Mamita mia! Dich wollten sie nehmen Brauchst du dich nicht schämen Brauchst du dich nicht schämen Doch deiner treuen Söhne Doch deiner treuen Söhne Doch deiner treuen Söhne Mamita mia! Brauchst du dich nicht schämen Brauchst du dich nicht schämen Brauchst du dich nicht schämen Brauchst du dich nicht schämen Brauchst du dich nicht schämen ...« Auflösung in »Nanana...« (Chor, teilweise im Kanon, am Ende leiser werden)
Lachen des Chors »Zog die Jacke aus...«: Abbruch Klaviertöne, Lachen
Lachen des Chors
13:4016:06
Protokoll 6
Wiederholungen
Wiederholung
420
polyphon: »Mein / Gedächtnis wußte Wenn die Luft nach Rauch
»Und Wo bleiben die Panzer dachte ich / Sie müssen kommen und sie werden kommen / Die uns geboren haben Fünfundvierzig / Zum zweitenmal Mit dem Geruch von Öl / Und Stahlstaub und Schweiß der Soldaten Mein / Gedächtnis wußte Wenn die Luft nach Rauch schmeckt / Kommen die Panzer Jetzt wo bleiben sie« (M1, lauter werdend)
»Stalin ist tot.« (Chor) »Weißt du wovon du redest.« (M1) »Weißt dus nicht.« (Chor) »Ich zeig dir wo Gott wohnt.« (M1, letzter Satz lauter) »Stalin ist tot.« (Chor) »Weißt du wovon du redest.« (M1) »Weißt dus nicht.« (Chor) »Ich band den Schlips um« (M1) »STREIKKOMITEE«(Chor) »zog die Jacke an« (M1) »GENERALSTREIK« (Chor) »Und etwas würgte mich« (M1) »STREIKKOMITEE« (Chor) »Ein Klumpen Zeit« (M1) »GENERALSTREIK« (Chor)
polyphon: »Ich nahm den Schlips ab zog die Jacke aus / Den Rauch vom NEUEN DEUTSCHLAND in der Nase / Im Ohr das Lachen meines Stellvertreters / Der mein Produkt war und das Spanienlied / Von dem Genossen aus der Gummizelle« (Chor)
Text als Klangmaterial
schmeckt / Kommen die Panzer Jetzt wo bleiben sie / Sie müssen kommen und sie werden kommen / Die Panzer unser letztes Argument« (Chor, lauter werdend, treibend, letzte Zeile öfter wiederholend)
421
»Hier ist Papier Setz dich auf deinen Hintern / Schreib deine Selbstkritik Du weißt den Text. / Nach der Gesichtskontrolle die Kosmetik / Ich kenn die Bibel sagte er und saß / An meinem Schreibtisch schon Wer schreibt der bleibt / Wars so.« (M1)
»Sie müssen kommen und sie werden kommen / Die Panzer unser letztes Argument / Und mit dem gleichen Atem der Gedanke / Vier Jahre an der Macht und soweit sind wir / Die Auslassung Panzer unser letztes Argument / [...] Und plötzlich hörten wir (Z. 152-155) die Stille draußen / Dann kamen sie Er hörte sie zuerst« (M1, ruhig) Auslassung (Z. 158) »Wir werden wieder an die Brust genommen / Die Amme ist schon unterwegs Sie fährt / T Vierunddreißig und hat Milch für alle / Dem einen schmeckt sie und dem andern nicht / Aber sie stillt in jedem Fall Und ich / Ich hätt es wissen müssen Ich zuerst / Einmal ist keinmal Wie Die Russenpanzer / Geburtshelfer der deutschen Republik / Hab ich gesagt Stalin ist tot Heil Stalin / Da kommt er das Gespenst im Panzerturm / Unter den Ketten fault die Rote Rosa / Breit wie Berlin Wir sind die Totengräber / Jeder an seinem Platz im Leistungslohn / Wir wissen wie man tafelt mit Gespenstern / Die Nacht ist kürzer am Kalten Bufett.« (Rezitation des Chors, gebetsartig)
Wiederholung
Summen des Chors
Nebengeräusche
Stille
17:0018:47
16:0617:00
Protokoll 6
Wiederholung
Wiederholung
Wiederholung
422
»Dann gingen wir zurück Dann gingen wir zurück Dann gingen wir zurück in unsre Arbeit« (Chor, im Kanon)
»Und seine Pause vor der Unterschrift /War zwanzig Jahre lang nach meiner Uhr / Sehnte ich mich zurück in meine Zelle / Im Zuchthaus Brandenburg zum erstenmal / Einen Herzschlag lang / Er gab mir das Papier / Mit seiner Unterschrift Ich warf das Schild / In den Papierkorb seine Kriegserklärung / Und klaubte es heraus aus dem Papierkorb / Und stopfte es in meine Jackentasche / Und stopfte seine Selbstkritik dazu / Durchs offne Fenster wehte der Geruch / Von saurer Asche von gelöschten Bränden / Von Bäumen und Metall und Hundescheiße / Und in dem grauen Himmel von Berlin / Tanzten die schwarzen Flocken aus Papier / Wir sahn uns nicht an Nach dem Handschlag wischten / Wir jeder seine Hand ab am Revers / Dann gingen wir zurück in unsre Arbeit« (M1)
»Du weißt den Text.« (Chor) »Und als ich seinen Rücken sah / Gekrümmt auf das Papier auf meinem Schreibtisch« (M1) »Ich kenn die Bibel sagte er« (Chor)
Schritte, Nebengeräusche, Räuspern
Summen des Chors
Pfeifen des Chors
Leise, sanfte Musik Assoziation mit Schritten (vgl. WC I und II)
19:1319:35
18:4719:13
Text als Klangmaterial
»Ich hatte einen Traum Es war ein Alptraum / Ich wachte auf und alles war in Ordnung« (M3) »Genosse Ober alles ist in Ordnung / Kein Vorfall keine Ordnungswidrigkeit / Und kein Verbrechen Unsre Menschen sind / Wie sie im Buch und in der Zeitung stehn.« (M1, sehr abgehackt, ungelenk)
»Wolokolamsker Chaussee IV Kentauren Ein Greuelmärchen aus dem Sächsischen des Gregor Samsa« (M3=Alexander Kluge, sehr sanft, ruhig)
Leise, sanfte Musik, Assoziation mit Schritten Diesmal wird die Musik jedoch weitergeführt Dimitri Schostakowitsch: 7. Sinfonie / »Leningrader Sinfonie« textunterlegt
Harte Gitarre-Töne
Schneller Musikausschnitt mit weiblicher Stimme: »O brave new world, That has such people in’t!«
00:4312:15
00:1300:43
WC IV Kentauren: 00:0000:13
Protokoll 6
423
424
»Ja und Bewußtsein Richtig Und die Mutter / Der Ordnung ist die Ordnungswidrigkeit / Der Vater der Staatssicherheit der Staatsfeind / Und wenn das Licht in allen Köpfen brennt / Bleiben wir sitzen auf unserm Bewußtsein / Das Spiel heißt Räuber und Gendarm Das Spiel / Hat Regeln Regel Nummer Eins ist Eine / Hand wäscht die andre Und den will ich sehn / Der sich die Hände wäscht mit einer Hand / Kurz Räuber und Gendarm sind eine dia / Lektische Einheit Unser täglich Brot / Ist das Delikt Mord unser Sonntagskuchen / Der Staat ist eine Mühle die muß mahlen / Der Staat braucht Feinde wie die Mühle Korn braucht / Der Staat der keinen Feind hat ist kein Staat mehr / Ein Königreich für
»Ja und Bewußtsein Und wo andre ein / Bewußtsein haben ist bei dir ein Loch / Vielleicht bist du nur objektiv ein Feind / Für Dummheit gibts Bewährung Ich erklärs dir / Nur für den Dienstgebrauch Wir produzieren / Ordnung und Sicherheit« (M3) »Ja und Bewußtsein« (M1)
»Ich weiß nicht was du meinst Es ist die Wahrheit / Wir haben es geschafft Genosse Ober / Zehn Jahre Tag- und Nachtschicht nicht umsonst / Ordnung und Sicherheit das war es doch / In jeder Schulung unser Produktionsziel.« (M1)
»Das will ich sehn Vielmehr das will ich nicht sehn / Das ist das Ende Weißt du was du redest / Bist du verrückt geworden Keine Panik / Das muß ein Irrtum sein Eine Verschwörung / Du bist das Werkzeug Weißt dus oder nicht / Kopf oder Kragen das ist hier die Frage« (M3)
Leise knarzende Töne
Anhebung der Lautstärke Ähnelt einer eine Parade begleitender Musik
Text als Klangmaterial
425
»Bei Rot über die Kreuzung Ich« (M1, fragend) »Und zwar / In Uniform Und das ist ein Befehl.« (M3) »In Uniform bei Rot über die Kreuzung.« (M1, fragend) »Wenn dir der Orden nichts bedeutet und / Die Prämie auch nicht Bist du noch ein Mensch / Wie stehn wir da und was soll aus uns werden / Wenn unsre stärkste Waffe nicht mehr
»Nach Dienstschluß wenn du dich aufhängen willst / Erst wirst du deinen Fehler abarbeiten / Du bist zurückgewichen vor den Fakten / Und hast von unsrer Wahrheit dich entfernt / Durch blinden Glauben an den Augenschein / Denn kein Fakt ist ein Fakt eh er auf uns hört / Sonst wozu tragen wir die Uniform / Und ein Gehirn unter der Mütze Sein / Bestimmt Bewußtsein in der Vorgeschichte / Im Sozialismus ist es umgekehrt / Was hier gebraucht wird ist ein andres Feuer / Als was ein kleingehackter Schreibtisch hergibt / Oder ein Wäschekorb voll Kaderakten / Und wenn du deinen Fehler korrigiert hast / Brauchst du nach Dienstschluß dich nicht aufzuhängen / Der Orden ist dir sicher und die Prämie / Jetzt geh und fahr bei Rot über die Kreuzung« (M3)
einen Staatsfeind Wer / Wenn alles hier in Ordnung ist braucht uns / Ich kann aus meinem Schreibtisch Kleinholz machen / Und Feuer legen mit den Kaderakten / Wir können unsre Uniform ausziehn / Und an den Nagel hängen Und uns selber / Wenn es der Nagel aushält gleich dazu / Was machst du.« (M3) »Meine Uniform ausziehn.« (M1) »Du bist im Dienst und nicht am FKK-Strand / Was suchst du.« (M3) »Einen Strick und einen Nagel.« (M1)
Protokoll 6
»Hier geht es um die Sache Menschenleben / Wir alle müssen Opfer bringen Und / Gesetzt den Fall es ist dein Menschenleben / Vor Dienstschluß ist es unser Menschenleben / Das auf der Kreuzung bleibt Das Denkmal ist / Dir sicher wie der Orden und die Prämie / Und wenn es dir um deinen Diensteid geht / Niemand verbietet dir dich anzuzeigen / Mein Diensteid sagt ich selber zeig dich an / Wenn du bei Rot über die Kreuzung fährst / Aber der Hund läuft nicht vorm Hasen her / Erst das Delikt und dann die Strafanzeige / Und unsre Lage fordert jetzt daß einer / Bei Rot über die Kreuzung fährt / Er fuhr bei Rot über die Kreuzung und / In Uniform im Dienst und in der Stoßzeit / Die Neunte Sinfonie der Streifenwagen / Mit Trillerpfeifen und Sirenen ging / In jedes Ohr Das Feuer auf der Kreuzung / Ich sah den Widerschein vom Schreibtisch aus / War ein Fanal Ich biß in meinen Schreibtisch / Damit ich nicht in lauten Jubel ausbrach / Über die Ordnungswidrigkeit im Dienst / Hielt meine Beine mit den Armen fest / Damit sie keinen Freudentanz aufführten / In Uniform Ich nahm die Mütze ab / Genosse du bist nicht umsonst gestorben / Gefallen an der Front der Dialektik / Wie löst man einen Widerspruch Indem / Man sich hinein begibt geradeaus / Kein Blick nach rechts und links und er zerreißt dich / Wie Jesus den das Kreuz zerrissen hat / Oder Prometheus den sein Felsen sprengt / Wir werden seinen Tod
»Mein Diensteid sagt Bei Rot über die Kreuzung / Ist eine Ordnungswidrigkeit Und mein / Bewußtsein sagt Das kostet Menschenleben.« (M1)
greift / Der ökonomische Hebel Und jetzt denk / An deinen Diensteid Keine Diskussion mehr.« (M3)
426
Langsamer und betonter
Schnelleres Tempo
Im Hintergrund kurzer gezogener E-Gitarre-Ton
Klingt ab hier militärisch, treibend
punktuell Dissonanzen durch Klaviertöne
Text als Klangmaterial
»Er bückte sich und sang an meinem Ohr / Und Stalin soll mich holen wenn ich weiß / Was es bedeuten sollte etwas wie / Denn oh Zerbrochen ist das Steckenpferd / Stand auf und drehte eine Piroutte / Flog durch das Fenster mit zwei Flügelschlägen / Und als ich aufstehn wollte und ihm nachsehn / Und seiner Flugbahn etwas wie ein Blitz / Durchzuckte mich ein Schmerz wie eine Schweißnaht / Ich war mit meinem Schreibtisch fest verwachsen / Und fest mit mir verwachsen Knarzen, das anhält war mein Schreibtisch / Ich zog und zerrte Kampf mit allen Vieren / Der Schreibtisch um den Bauch kein Rettungsring / So macht Bewußtsein Sitzfleisch aus uns allen / Mein Schreibtisch ist mein Kaukasus mein Kreuz / Der Kommunardentraum Vom Ich zum Wir / Das ist es also Soll das alles sein / Die Hochzeit von Funktion und Funktionär / Bis daß Auslassung der Tod uns scheidet [...] Ich und mein Schreibtisch Wer ge(Z. 143-159) hört jetzt wem / Der Schreibtisch ist volkseigen Was bin ich / Unten ein Schreibtisch oben noch ein Mensch / Kein Mensch mehr sondern eine Menschmaschine / Ein Möbelmensch oder ein Menschenmöbel / Die Akten meine unteren Organe / Ich bin ein Vorgang Legt mich zu den Akten / O Personalunion von Holz und Fleisch / Wie scheißt ein Schreibtisch
»Genosse Ober Alles ist in Ordnung / Die Dialektik wiederhergestellt / Und die Organe arbeiten normal.« (M1)
frisieren müssen / Denkmal des unbekannten Ordnungshüters / Nicht alles was den Massen dient verstehn / Die Massen Jedenfalls nicht gleich Und plötzlich / Auf meinem Schreibtisch stand der teure Tote / Die Uniform brandneu die Schulterklappen / Hatten sich schon zu Flügeln ausgewachsen.« (M3)
427
Hämmernde Töne, Klaviertöne
Kurzer E-GitarreTon Musik wird etwas leiser
Protokoll 6
textfremder Einschub
Mein Dokument muß ich es ändern lassen / Sind wir Genossen oder ein Genosse / Und warum läuft das Wasser mir im Maul / Zusammen wenn ich die Dienstordnung seh / Die an der Wand hängt und auf deinem Holz / Hab ich gesagt auf deinem Holz Auf unserm / Das Telefonbuch Hunger altes Möbel / Den Feierabend können wir vergessen / Arbeit und Freizeit beißen sich nicht mehr / Das ist Kapitel Drei der Weltgeschichte / Auf allen Vieren zum aufrechten Gang / Im Qualitätssprung auf den Klassenstandpunkt / Jeder sein eignes Denkmal sozusagen / Der Klassenstandpunkt ist der Denkmalssockel / Gut Holz Und Dialektik stillgestanden / Heilig die Lösung aller Widersprüche / Ha Tinte ist ein ganz besondrer Saft / Kein Alkohol im Dienst Rauchen verboten / Besondre Vorkommnisse keine Ordnung / Und Sauberkeit Und Sicherheit Und Sau / Bedienung Eine Akte zum Verzehr / Und einen Schreibtisch zur Reproduktion / Berkeit und Sicherheit und Sau Was knackt / In unserm Holz He Ist der Wurm drin Hilfe« (M3, ab »Gut Holz« leiser werdend)
In meinem Kopf dreht sich ein Karussell
Auslassung Und was frißt er Wie / Erfüllt er seine ehelichen Pflichten [...] (Z. 170-175)
428
12:1512:34 12:3412:56
Musik freistehend Hohe Klaviertöne Ausschnitt aus Schostakowitschs 7. Sinfonie, wie bei WC I-III
Musik immer leiser und ruhiger
Musik ruhiger und leiser Hämmernde Töne etwas lauter
Text als Klangmaterial
429
»Mein zweiter Umzug war mit Brief und Siegel / Mit Willst du wirklich Weißt du was du tust / Hier hast du Wohnung
»Und in fünf Jahren sagte ich kein Wort / Und keine Silbe seine Sprechzeit lang / Aber ich tat ihm den Gefallen und / Kassierte die Geschenke Und sein Rücken / War krummer jedesmal wenn er zurück ging / In seine Hölle die sein Paradies [Echo] war / Und ich durfte zurück in meine Zelle / Dort lernte ich was man zum Leben braucht / Glas fressen oder Klingen kaun zum Beispiel / Setzt die Gefängnisordnung außer Kraft« (M1, »Kraft« tiefer und gezogen)
»Er saß mir gegenüber in der Sprechzeit / Meine fünf Jahre lang im Zuchthaus Bautzen / Er predigte MIT MARXUNDENGELSZUNGEN / Für sein Arbeiterparadies [mehrfaches, versetztes Echo] Ich sah / Wie seine Lippen sich bewegten und / Zwischen den Zähnen seine Zunge Schweiß / Auf seiner Stirn wenn er in Fahrt kam Tränen / Und was er sagte war wie nicht gesagt / Seit meinem Umzug von Berlin nach Bautzen / [Echo] In einer nicht vergessnen Sommernacht / Im Jahr der Panzer Neunzehnachtundsechzig [Echo]« (M1, Rap, schnell, Sprechen strukturiert durch Beat)
»Wolokolamsker Chaussee« (Männerstimme, gesungen, mehrmals angehalten und zurückgespult) »Teil fünf Der Findling« (M1, rufend)
Musik mit mehr Elementen, Töne aus Stimmen (»Ja«)
Melodisches Metallschlagen
Stärkerer Beat Andere Musikelemente
Hip Hop-Beat Scratches
Scratch
01:2202:11
00:5001:22
00:1000:50
WC V Der Findling: 00:0000:10
Protokoll 6
Wiederholung
430
»Es regnete als ich vor seiner Tür stand / Hand auf dem Klingelknopf ein nasser Hund / Ich sah nur seinen Schatten
»Und pflegen ihre Gräber Hunde Katzen / Und ihren Kontostand Bunt ist die Leiche / Ins Paradies kommt wer es kaufen kann / Und ich ich bin der Tod ich komm aus Asien / Das Messer steckt aber das Herz schlägt weiter / Das Heimweh ist ein Brechreiz ist ein Blutsturz« (M1)
»Räumen Sie den unteren Gang. Räumen Sie den unteren Gang. Wasserwerfer Wasserwerfer Marsch Wasserwerfer Marsch« (aggressive Männerstimme, daneben Pfeifen, O-Ton wird am Ende immer schneller abgespielt)
»Das jüngste Grab« (stark verzerrt, fast unverständlich) »Das jüngste Grab bewohnt der Kindertraum / Von einem Sozialismus ohne Panzer« (M1)
Arbeit Sicherheit / Dort gilt der Mensch nichts nur das Kapital / Mit meinen Wunden die aufplatzen wieder / Und wieder wenn sie nur mit Fingern zeigen / Auf meine Narben Jetzt in Westberlin / Halbstadt der alten und der neuen Witwen / Leichen im Keller und Geld auf der Bank / Leichen mit Davidstern In Braun In Feldgrau / Zerbrochen von Metall Zerkocht in Panzern / Rauch aus dem Schornstein Staub im Bombenteppich / Denkmal in Plötzensee am Fleischerhaken / Verschwundne Tafel am Landwehrkanal« (M1)
Türklingel
Auszug aus Lied mit der Textzeile »Oh remember...«
Stimmenelemente (»Yeah«, »Ho« im Loop, was textund musikunterlegt bleibt, gemeinsam mit dem OTon wird die Geschwindigkeit angehoben und aufgelöst)
»Zunge heraus« aus »Verkommenes Ufer« als Sample im Loop Teil der Musik [01:54-02:14]
02:5605:01
02:3902:56
02:2502:39
02:1102:25
Text als Klangmaterial
Licht im Rücken / Weißt du wie spät es ist Es gibt noch Leute / Die brauchen ihren Schlaf für ihre Arbeit / Und deine Mutter Du weißt daß sie krank ist / Es interessiert dich nicht das weiß ich auch / Und was an ihrem Leben frißt bist du / [Echo] Du nicht [Echo] Sie sind hinter mir her Das Flugblatt / Er fragte nicht Wer und Was für ein Flugblatt / Und wenn du wissen willst was für ein Flugblatt / Du bist betrunken Geh Schlaf deinen Rausch aus / Gegen den Einmarsch der Bruderarmeen / So heißt es doch Ich hab auch einen Bruder / In Prag Das heißt Ich hatte einen Bruder / In Prag Ein Haufen Asche ist er jetzt / Ein Knochenbündel und ein Brandgeruch / Er hat sich selbst verbrannt in Prag mein Bruder / Verrückte gibt es überall / Verrückte / [Echo] Ich weiß wer hier verrückt ist / Weißt du das / Dann weißt du auch was jetzt passieren wird / Ich bin nicht irgendwer Du bist es auch nicht / Wenn ichs auch wolle Ich kann nicht so tun / Nicht vor mir selber nicht vor der Partei / Als hätt ich dein Geständnis nicht gehört / Geständnis sagte er Und ich Geständnis / Wenn einer hier gesteht dann bist es du / Genosse Vater Und mein Vater nicht / Wie oft hab ich gewollt du wärst mein Vater / Statt der Genosse der mich adoptiert hat / Mein Feind in jedem Stellvertreterkrieg / Den ihr geführt habt im Namen der Sache / Krieg gegen lange Haare Jeans und Jatz / Mit Händehoch im Polizeirevier / Gesicht zur Wand und stehen bis du umfällst / Was eure Sache ist weiß ich jetzt auch / Mit Panzerketten auf den Leib geschrieben / Habt ihr sie UNSERN MENSCHEN eure Sache« (M1, Sprechparts des Vaters lauter, Sprechparts des Sohnes meist als Rap)
langsamerer Rhythmus
431
Jazzelemente erst freistehend, dann textunterlegt
Mehrfach »Oh remember...«, verschiedene Musikthemen verschränkt Scratches
Töne im Loop
05:0105:27
Protokoll 6
Wiederholung
»Ich hab dich aufgelesen aus den Trümmern / Ein Bündel Elend Ich kam aus dem Lager / Zerprügelt mein Geschlecht Kein Kind mehr Du / Warst meine Zukunft Alles haben wir / In dich hineingestopft Das ist der Dank / Das Hakenkreuz in Leipzig an der Tafel / In Dresden auf der Brücke dein Geschmier / FREIHEIT und RUSSEN RAUS Freiheit für wen / Das hieß zehn Jahre Zuchthaus unter Brüdern / Für dich wars eine andre Schule und / Ein neuer Studienplatz Bedank dich und / Auf Knien bei deiner Mutter So wie ich / Auf Knien gekrochen bin vor der Partei / Für deine Freiheit Und beeil dich Ihr / Krebs kann nicht warten Russen raus Was weißt du / Uns alle hätten sie schon aufgehängt / Wenn wir die Panzer nicht im Rücken hätten / Und was hat dir gefehlt in all den Jahren / Seit ich dich aus dem Dreck gezogen habe / Ich will nicht wissen wer dein Vater war / Vielleicht der Nazi der mir mein Geschlecht / Zerprügelt hat im Lager beim Appell / Und keine Kinder mehr Nur dich Wer bist du / Was dir gefehlt hat weiß ich jetzt Der Knüppel [mehrfaches Echo, aggressiv]« (M1)
»Zieh deinen Mantel aus Du bist durchnäßt / Zieh meine Jacke an Sie paßt dir Oder« (M1, ruhig) O-Ton: »Hört die Trommel« (Männerstimme) »Ich glaube nicht daß mir deine Jacke paßt« (M1, laut) »Zieh deinen Mantel aus« (M1, leicht verzerrt, angepasst an EGitarre)
432
Ausschnitt aus einem Lied (Chor)
Scratches
Treibender Rhythmus
Ausschnitt aus einem Volkslied: »Mein Vater wird gesucht [...] Die Mutter aber weint« (Kinderstimme)
Verschiedene OTöne die in sehr kurzen Samples montiert werden
Fanfaren, stärkerer Beat, E-Gitarre
05:2707:02
Text als Klangmaterial
433
»Dann sprangen mir die Tränen aus den Augen / Ich ging ins Nebenzimmer wo die Frau starb / Die meine Mutter war und war es nicht / Aber ich hatte keine andre Mutter / Ich hörte zu wie sie mit ihrem Krebs sprach / Zog meine Kleider aus vom Regen schwer / Leckte den kalten Schweiß von ihrer Stirn / Vermischt mit meinem Rotz mit meinen Tränen /
»Deine Lektion hast du gelernt im Lager / JEDEM DAS SEINE und ARBEIT MACHT FREI / Red leise Nebenan stirbt meine Frau / Merkst du das auch schon Wann hat sie gelebt / Und wenn du wissen willst was mir gefehlt hat / Seit du mich AUS DEM DRECK GEZOGEN hast / Hättst du mich liegen lassen in den Trümmern / Frag deine Frau Und wenn du deinen Arsch / Nicht hochkriegst aus dem Sessel sag ich dir / Was ihr gefehlt hat und was mir gefehlt hat / Ihr Krebs du kannst Genosse zu ihm sagen / Mein Hakenkreuz war auch aus deiner Schule / Wie redet man mit einem Leitartikel / Und wie umarmt man ein Parteiprogramm / Du hast mich mit Geschenken abgespeist / Und keine Antwort wenn ich wissen wollte / Wer recht hat und warum der Volksmund oder / Das NEUE DEUTSCHLAND eure Bilderbibel [Echo] / Der Plattenspieler war für Budapest / Für meinen Freund erschossen an der Mauer / Mußte es dann schon ein [rängdengdeng] Motorrad sein / Das Blauhemd auf dem Sattel war ein Extra / Für das zerrissne beim Fahnenappell / Am Morgen als ich wußte er ist tot / Vom roten Halstuch zum zerrissnen Blauhemd / Das war mein Bildungsgang in deiner Schule / Das rote Halstuch meine Nabelschnur / Von meinen Tränen schwer vor fünfzehn Jahren / Als Stalin starb Jetzt kann ich nur noch lachen« (M1)
Beatbox-Elemente im Vordergrund
Sample eines verzerrten Lachens
E-Gitarre stark im Vordergrund
08:4009:33
07:0208:40
Protokoll 6
434
Wiederholung
Wiederholung
Wiederholung
Wiederholung (Refrain)
polyphon: »Dreht seine Runden und geht seinen Gang / Ich weinte nicht Ich hatte keine Tränen / Ging nicht ins Nebenzimmer wo die Frau starb / Ich stand in meiner Schlammspur auf dem Teppich / Was geht mich euer Sozialismus an / Bald schon ersäuft er ganz in Coca Cola / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN Oder der Brustkrebs einer fremden Frau / VERGESSEN UND VERGESSEN UND
VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN (6x, andere Männerstimmen)
Das Thälmannlied Die Partisanen vom / Amur und Völker hört Hört die Signale / Das rote Halstuch naß vom Stalinopfer / Und das zerrissne Blauhemd für den Toten / Gefallen an der Mauer Stalins Denkmal / Für Rosa Luxemburg Die Geisterstädte / VERGESSEN Kronstadt Budapest und Prag / Wo das Gespenst des Kommunismus umgeht / Klopfzeichen in der Kanalisation / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN (4x) Begraben immer wieder von der Scheiße / Und aus der Scheiße steht es wieder auf« (M1)
Ich legte mein Gesicht auf ihre Brüste / In denen jetzt der Krebs zu Hause war / Ihr Grabplatz auf dem Friedhof schon bezahlt / Ich legte meinen Kopf in ihren Schoß / Der meine Heimat nicht gewesen war / Weil keine Mutter mich geboren hat / Mein Vater eine leere Uniform / Und manchmal ein Gespenst in meinem Nacken / Dreh dich nicht um Dein Vater ist ein Schlächter / Ich sagte Ich will eine Tochter sein / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN (4x)
Beatbox im Vordergrund
Beat, darunter verzerrte Samples aus Liedern
10:4312:55
09:3310:43
Text als Klangmaterial
Wiederholung
VERGESSEN Warum nimmst du die Hand vom Telefon / Wenn du die Nummer nicht mehr weißt Ich kenn sie / Ich hab sie nicht vergessen und die Nacht nicht / Als ich am Telefon stand wie jetzt du / Das war vor sieben Jahren Weißt du noch / Du kamst von einer Sitzung Wo sie dir / Das Kreuz gebrochen hatten Und es war / Sehr still in deinem Arbeitszimmer Du / hattest dich eingeschlossen und ich wußte / Mit wem du allein warst Hast du sie gesehn / Die Bataillone eurer teuren Toten / Die ihr gestrichen habt aus dem Kalender / Und ausgelöscht auf den Fotografien / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN (4x) Wie hast du die Parade abgenommen / Die Hand zum letzten Gruß am Dienstrevolver / Vorwärts Genossen zum letzten Gefecht / War dir die Mündung an der Schläfe kalt / Hat deine Hand gezittert vor dem Druckpunkt / Wie damals meine Hand am Telefon / Und deine jetzt und vor der gleichen Nummer / Und worauf wartest du Genosse Vater / Mißtrauen in die staatlichen Organe / Zweifel am sozialistischen Strafvollzug / Ein Minuspunkt in deiner Kaderakte / Warum Genosse rufst du uns erst jetzt an [parodierend] / Wenn ich solang gewartet hätte damals / Dein Platz im Heldengrab wär nicht mehr frei / Warum ziehst du die Jacke aus Ich friere / Willst du heraus aus deiner Uniform / Aus deinem Würgegriff mit Schlips und Kragen / Weißt du ob du darunter noch ein Mensch bist / Nach jedem Vorlauf eine Selbstkritik / Ein neues Führerbild in jeder Kurve / Vielleicht wenn du die Haut dir auch noch abziehst / Mit unsern Knochen haben wir Und ihr jetzt / Mit euren Knochen und mit andern Knochen / Ich weiß was ihr gebaut habt Ein Gefängnis [Echo] / Wenn hinter dir die Tür ins Schloß fällt Wiederholtes Telefonklingeln [12:25-12:46]
Wiederkehrender hoher Ton
435
Verzerrtes Sample, das schließlich in »Vergessen« im Loop als Echo mündet
Schlagzeug im Vordergrund
Scratches
12:5513:59
Protokoll 6
436
»Dann das Geläut des Telefons als er / Den Hörer aufnahm und wählte die Nummer« (M1, ruhig)
morgen / Weißt du den Unterschied Gefängnis Wir / Hätt ich gewußt was du mir nicht gesagt hast / Als du nach Hause kamst vor sieben Jahren / Aus deiner Sitzung mit gebrochnem Kreuz / Mein bester Freund erschossen an der Mauer / Er hat sie hinter sich Ich hab sie vor mir / Ich hätte keine Hand bewegt für dich / Und keinen Finger Und dein Augenblick / Der Wahrheit IM SPIEGEL DAS FEINDBILD war / Dein letzter Augenblick Der Maskenball / Der toten Avantgarde dein letzter Film / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN [Echo] / Der Fangschuß deine letzte Parteiarbeit / Er sah mich an die Hand am Telefon / Hab ich darum gebeten daß du anrufst / Wenigstens das wär mir erspart geblieben / Das bleibt dir nicht erspart Merk dir das Datum / Der Dienstrevolver ist kein Monopol / Im Sozialismus keine Privilegien / Ich lege mich freiwillig zu den Akten / Mein Dienstrevolver ist das Mausoleum / Des deutschen Sozialismus Und ich spiele / Mit Heimvorteil Die Mauer ist volkseigen / Die Munition die mich zerreißen wird / Ist auch volkseigen und ich bin das Volk / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN / Es trifft sich gut daß dir zwei Trauerfälle / Ins Haus stehn Keine Fragen wenn du Schwarz trägst / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN (2x)/ Ich wollte ich wäre mein Vater ein / Gespenst in Uniform das schlägt und tritt / VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN / Das letzte was ich hörte war sein Weinen / Und seine Stimme die dagegen anschrie / Erschießen solln sie dich du Nazibastard / Erschießen solln sie dich wie einen Hund« (M1, am Ende sehr aggresssiv) Beatbox im Vordergrund
Glocken im Rhythmus
Sample »Holt«, das dann im Liedauszug mit dem Beginn »Holt die Gewehre« mündet
Beatbox und Klingeln
15:3215:54
13:5915:32
Text als Klangmaterial
15:5416:20
437
Verbindung von Literatur und Populärkultur
Wolokolamsker Chaussee V: • Vermischung verschiedenster musikalischer und nichtmusikalischer Quellen • Samples von O-Tönen und Geräuschen werden bearbeitet und in die Musik gemixt • Sprechen entspricht zum Teil einem Rap, ist an die Musik angepasst
Wolokolamsker Chaussee III: • keine Instrumentalmusik, Geräusche nur als Nebengeräusche • Verbindung von Sprecher und Chor (Gesang, Rezitation, Summen) Wolokolamsker Chaussee IV: • Sprechpart ist zum Teil lauter, zum Teil leiser als die Musik, Text ist durchgehend von Musik unterlegt • Auflösung des musikalischen Rahmens aller Teile der »Wolokolamsker Chausse« als Auszug aus Schostakowitschs 7. Sinfonie
Wolokolamsker Chaussee II: • punktuell Wiederholungen durch den zweistimmigen Chor, keine Geräusche, punktuell Akzente in der Musik
Wolokolamsker Chaussee I: • Akzentuierung am Ende der Verse oft übertrieben durch starke Betonung der letzten Wortsilbe • einige Wörter (»Front«, »Angst«, »der Deutsche«) besonders stark oder aggressiv betont, hörbare Zäsuren in Sprache nach Versende und vor Großschreibung • Sprache passt sich an Rhythmus der Musik an, übernimmt treibenden bzw. aufpeitschenden und hämmernden Rhythmus • Refrain »Zweitausend Kilometer weit Berlin [...]«, gleicht einem Metal-Musiktrack (Duktus, Lautstärke, Tempo) • Einsatz von Geräuschen nur zu Beginn und am Ende
Ausschnitt aus Schostakowitschs 7. Sinfonie, wie bei vorausgehenden Teilen
Freistehend
Protokoll 6
439
Quelle: Hillen, Hans Jürgen (Hg.): Titus Livius: Römische Geschichte. Buch I-III, Darmstadt 1987, S. 5965.
Quelle: Hillen, Hans Jürgen (Hg.): Titus Livius: Römische Geschichte. Buch I-III, Darmstadt 1987, S. 59.
Text Hundegebell, geräusche
Motoren-
Geräusch und Klang
»Der Zufall wollte es, daß römische Landleute im Gebiet von Alba und albanische auf römischem Boden [sich gegenseitig] Vieh wegtrieben [...]. Beide Seiten schickten fast gleichzeitig Gesandte, um Wiedergutmachung zu fordern. [...] Auf beiden Seiten bereitete man sich mit aller Energie [vor] auf den Krieg [vor], einen Bürgerkrieg sozusagen, ja fast einen Krieg zwischen Vätern und Söhnen – denn beide waren Nachkommen der Trojaner [...]. Der Ausgang des Krieges machte die Auseinandersetzung jedoch weniger schmerzlich. Denn es kam
»Der Horatier und Roman Dogs. Hörstücke von Heiner Goebbels. Nach Texten von Titus Livius, Pierre Corneille, William Faulkner und Heiner Müller« (F1, relativ tief)
Wegfahrendes Motorrad
Hupen, Hundegebell
Martinshorn Verkehrsgeräusche
»Dann bestimmte das Volk Tullus Hostilius zum König [...]. [...] Er glaubte, die Bürgerschaft verkümmere im Frieden; da- Verkehrsgeräusche, textunterlegt her suchte er überall nach einem Anlaß zum Krieg.« (M1=Josef Bierbichler, ruhig, langsam, mit deutlichen Pausen am Satzende)
Stimme
Sprache
DER HORATIER Musik
Zeit
00:3702:13
00:2500:37
00:0700:25
00:0000:07
Min.:Sek.
Protokoll 7
440
Ital. Übersetzung Auslassung
»Der Horatier Zwischen der Stadt Rom und der Stadt Alba / War ein Streit um Herrschaft.« (M1, Hall)
Wiederholung
»Tra la città di Roma et la città di Alba c’era contesa per l’egemonia. Ma i capi uscirano dei rangi« (M3=Enzo Musso) »Quoi!« (F3=Catherine Jauniaux, erstaunt) »e dichiaro tra loro: La guerra indebolisce il vincitore e il vinto« (M3)
polyphon: hoher weiblicher Operngesang, freistehend (F2=Gail Gilmore)
»Entre la ville de Rome et la ville d’Albe il y avait une querelle pour la domination.« (M2=André Wilms, schneller als M1)
zu keiner Schlacht, und nur die Häuser der einen Stadt wurden niedergerissen, dann aber beide Völker zu einem verschmolzen. [...] Zufällig waren damals in beiden Heeren Drillingsbrüder, die nicht nur etwa gleich alt, sondern auch [etwa] gleich stark waren. Die Könige verhandelten mit den Drillingsbrüdern, daß sie mit dem Schwert kämpften, jeder für seine Vaterstadt. Es steht ziemlich fest, daß es die Horatier und die Curiatier waren [es sich um die Horatier und Curiatier handelte], und wohl keine andere Geschichte aus der alten Zeit ist bekannter [...].« (M1)
Frz. Übersetzung
Umstellungen
Auslassungen
Metallschlagen, Fade Out
Knallen Hundegebell
Leise, aber leicht treibende, dunkle Musik, erst freistehend, dann textunterlegt, Saiteninstrument im Vordergrund
03:1006:06
02:1303:10
Text als Klangmaterial
Auslassung
441
»E a l’ uno e a l’altro i seciti chisero« (M3) »El está enamorado de tu hermana.« (M4=Paco Rosales, schnell) »Quoi!« (F3, erstaunt) »Debemos hechar otra vez el destino a suerte?« (M4, schnell) »E a l’ uno e a l’altro i seciti chisero« (M3)
polyphon zum Gesang: »Gegen die Streitenden / Standen in Waffen die Etrusker, mächtig. / Ihren Streit auszumachen vor dem erwarteten Angriff / Stellten sich gegeneinander in Schlachtordnung / Die gemeinsam Bedrohten. Die Heerführer / Traten jeder vor sein Heer und sagten / Einer dem anderen: Weil die Schlacht schwächt / Sieger und Besiegte, laßt uns das Los werfen / Damit ein Mann kämpfe für unsere Stadt / Gegen einen Mann, kämpfend für eure Stadt / Aufsparend die andern für den gemeinsamen Feind« (M1, lauter als Gesang)
»Il curiatio era fidanzato con la sorella del horatio« (M3) Operngesang (F2)
»La sorte sceglie come campioni di Roma un horatio, e per Alba un curiatio.« (M3) »Quoi!« (F3, erstaunt)
Operngesang (F2) »C’e siamo i dadi per scegliere un uomo cui combatta per la nostra città contro uno per la vostra« (M3) »Quoi!« (F3, erstaunt) Operngesang (F2, sehr hoch)
Leise dunkle Töne im Hintergrund, textunterlegt
06:4607:09
06:0606:46
Protokoll 7
442
Quelle: Horace, Z. 285-296
Quelle: Corneille, Pierre: Horace, in: ders: Oeuvres complètes I, Paris 1980, S. 831-901, Z. 156, Z. 153f. Umstellung
»›Que faisons-nous, Romains‹, / Dit-il, ›et quel démon nous fait venir aux mains? / Souffrons que la raison éclaire enfin nos âmes, / Nous sommes vos voisins, nos filles sont vos femmes, / Et l’Hymen nous a joints par tant et tant de nœuds, / Qu’il est peu de nos fils qui ne soient vos neveux: / Nous ne sommes qu’un sang et qu’un peuples en deux villes, / Pourquoi nous déchirer par des guerres civiles, / Où la mort des vaincus affoiblit les vainqueurs, / Et le plus beau triomphe est arrosé de pleurs? / Nos ennemis communs attendent avec joie / Qu’un des partis défait leur donne l’autre en proie‹« (M2, akzentuiert, schnell)
»So that one man should fight for our city against one who fights for the city of yours« (M5=Eric Gould, jung, schnell)
»Ma il horatio e il curiatio risposero: No« (M3) »Quoi!« (F3, erstaunt) Operngesang (F2, sehr hoch)
»Quoi! le manque de foi vous semble pardonnable? Quoiqu’à peine à mes maux je puisse résister, J’aime mieux les souffrir que de les mériter.« (F3)
»Tu estás enamorado de su hermana. Debemos hechar otra vez el destino a suerte.« (M4, schnell)
Hip Hop-Beats
Keine Musik
07:3308:10
07:3007:33
07:0907:30
Text als Klangmaterial
Quelle: Horace, Z. 309-315
Quelle: Horace, Z. 297-308
443
»Et suivant ce que d’eux ordonnera le Sort, / Que le faible parti prenne loi du plus fort. / Mais sans indignité pour des guerriers si braves, / Qu’ils deviennent Sujets sans devenir
Polyphon im Hintergrund: Italienische Übersetzung (M3, sehr schnell, leiser)
»Der Kuriatier war verlobt der Schwester des Horatiers / Und der Horatier und der Kuriatier / Wurden gefragt jeder vor seinem Heer: / Er ist verlobt deiner Schwester / Du bist verlobt seiner Schwester. Soll das Los / Geworfen werden noch einmal? / Und der Horatier und der Kuriatier sagten: Nein« (M1)
»Lassé, demi-rompu, vainqueur, mais, pour tout fruit / Dénué d’un secours par lui-même détruit. / Ils ont assez longtemps joui de nos divorces, / Contre eux dorénavant joignons toutes nos forces, / Et noyons dans l’oubli ces petits différends / Qui de si bons guerriers font de mauvais parents. / Que si l’ambition de commander aux autres / Fait marcher aujourd’hui vos troupes et les nôtres, / Pourvu qu’à moins de sang nous voulions l’apaiser, / Elle nous unira, loin de nous diviser. / Nommons des combattants pour la cause commune, / Que chaque Peuple aux siens attache sa fortune,« (M2)
polyphon im Hintergrund: Italienische Übersetzung
»Und die Heere schlugen die Schwerter gegen die Schilde / Zum Zeichen der Zustimmung und die Lose wurden / Geworfen/ Die Lose bestimmten zu kämpfen / Für Rom einen Horatier, für Alba einen Kuriatier.« (M1)
Musik lauter werdend
Musik leiser
08:1009:58
Protokoll 7
Quelle: Horace, Z. 7-14
Quelle: Horace, Z. 1-6
444
Dunkle Musik im Hintergrund
»Approuvez ma faiblesse, et souffrez ma douleur, / Elle n’est que trop juste en un si grand malheur; / Si près de voir sur soi fondre de tels orages, / L’ébranlement sied bien aux plus fermes courages, / Et l’esprit le plus mâle et le moins abattu / Ne saurait sans désordre exercer sa vertu.« (F3, hoch, erregt)
»Und« (M1) »Et l’Horace et le Curiace dirent: Non« (M2) »Quoique le mien s’étonne à ces rudes alarmes, / Le trouble de mon coeur ne peut rien sur mes larmes, / Et, parmi les soupirs qu’il pousse vers les Cieux, / Ma constance du moins règne encor sur mes yeux. / Quand on arrête là les déplaisirs d’une âme, / Si l’on fait moins qu’un homme, on fait plus qu’une femme: / Commander à ses pleurs en cette
»Und« (M1) »Et l’Horace et le Curiace furent interrogés chacun par son armée: Il est fiancé à ta sœur. Tu es fiancé à sa sœur. Doit-on flanquer les sorts encore une foi?« (M2)
Harter Schnitt, Stille
»Les sorts appelaient à combattre pour Rome un Horace, pour Albe un Curiace. Le Curiace était fiancé à la sœur de l’Horace« (M2)
»That before before it was Rome that they should confirm together« (M5)
esclaves, / Sans honte, sans tribut, et sans autre rigueur, / Que de suivre en tous lieux les drapeaux du vainqueur. / Ainsi nos deux états ne feront qu'un Empire.« (M2)
09:5811:55
Text als Klangmaterial
445
Quelle: Horace, Z. 637-653 Rückgriff
Wiederholung
Quelle: Horace, Z. 679-685
Wiederholung
»Le zèle du pays vous défend de tels soins, / Vous feriez peu pour lui si vous vous étiez moins; / Il lui faut, et sans haine, immoler un beau-frère. / Ne différez donc plus ce que vous devez faire,« (F3, schreit am Ende)
Polyphon: Und der Horatier und der Kuriatier / Wurden gefragt jeder vor seinem Heer: / Er ist verlobt deiner Schwester / Du bist verlobt seiner Schwester. Soll das Los / Geworfen werden noch einmal? / Und der Horatier und der Kuriatier sagten: Nein« (M1)
»Qu’est-ceci, mes enfants? écoutez-vous vos flammes, / Et perdez-vous encor le temps avec des femmes? / Prêts à verser du sang, regardez-vous des pleurs? / Fuyez, et laissez-les déplorer leurs malheurs. / Leurs plaintes ont pour vous trop d’art et de tendresse, / Elles vous feraient part enfin de leur foiblesse, / Et ce n'est qu'en fuyant qu'on pare de tels coups.« (M2, wird immer leiser)
polyphon: Operngesang, italienisch, erst textunterlegt, dann freistehend (M6, F2)
»Die Lose bestimmten zu kämpfen / Für Rom einen Horatier, für Alba einen Kuriatier / Der Kuriatier war verlobt der Schwester des Horatiers« (M1)
extrémité, / C’est montrer, pour le sexe, assez de fermeté.« (F3, hoch, klagend, weinend)
Akzent
Musik wird treibender
Klassische Musik, wird leiser
12:5713:56
11:5512:57
Protokoll 7
446
Quelle: Horace, Z.
Quelle: Horace, Z. 703-710 Auslassung
Einschub, Wiederholung
»Und der Horatier und der Kuriatier sagten: Nein« (M1) »Leur amour importun viendrait avec éclat / Par des cris et
Operngesang (M6=Jürgen Wagner)
»allez, vos frères vous attendent; / Ne pensez qu’aux devoirs que vos pays demandent. / [...] Ah ! n’attendrissez point ici mes sentiments, / Pour vous encourager ma voix manque de termes, / Mon cœur ne forme point de pensers assez fermes, / Moi-même en cet Adieu j’ai les larmes aux yeux. / Faites votre devoir, et laissez faire aux Dieux.« (M2)
»me réservez-vous à voir une victoire, / Où, pour haut appareil d’une pompeuse gloire, / Je verrai les lauriers d’un frère ou d’un mari / Fumer encor d’un sang que j'aurai tant chéri? / Pourrai-je entre vous deux régler alors mon âme? / Satisfaire aux devoirs, et de sœur, et de femme? / Embrasser le vainqueur en pleurant le vaincu?« (F3, langgezogener Schrei am Ende)
»Quoi!« (F3, erstaunt, leise) »Soll das Los / Geworfen werden noch einmal?« (M1)
»Commencez par sa soeur à répandre son sang, / Commencez par sa femme à lui percer le flanc, / Commencez par Sabine à faire de vos vies / Un digne sacrifice à vos chères Patries; / Commencez, commencez Vous êtes ennemis en ce combat fameux, / Vous d'Albe, vous de Rome, et moi de toutes deux.« (F3, Sprechgesang)
Klassische Musik
Musik verstummt, nur hoher Ton
Hip Hop-Beats
15:2416:16
15:0315:24
13:5615:03
Text als Klangmaterial
Quelle: Horace, Z. 667-670
Quelle: Horace, Z. 654-662 Dabei Wiederholungen einzelner Wörter
697-700 Rückgriff
447
»Et ils combattirent entre les rangs des armées / Et l’Horace blessa le Curiace / Et le Curiace dit d’une voix amenuissant/ Épargne le vaincu. Je suis / fiancé à ta sœur. / Et l’Horace
polyphon: »Und sie kämpften zwischen den Schlachtreihen / Und der Horatier verwundete den Kuriatier / Und der Kuriatier sagte mit schwindender Stimme: / Schone den Besiegten. Ich bin / Deiner Schwester verlobt.« (M1)9
Operngesang (M6, F2)
polyphon: »Que t’ai-je fait, Sabine, et quelle est mon offense, / Qui t’oblige à chercher une telle vengeance? / Que t’a fait mon honneur, et par quel droit viens-tu / Avec toute ta force attaquer ma vertu?« (M2, Fragepronomen betont, passend zur Musik)
»Non, non, avant ce coup Sabine aura vécu, / Ma mort le préviendra, de qui que je l’obtienne, / Le refus de vos mains y condamne la mienne. / Sus donc, qui vous retient? Allez, coeurs inhumains, / J’aurai trop de moyens pour y forcer vos mains, / Vous ne les aurez point au combat occupées / Que ce corps au milieu n’arrête vos épées, / Et malgré vos refus, il faudra que leurs coups / Se fassent jour ici pour aller jusqu’à vous.« (F3, Sprechgesang)
des pleurs troubler notre combat, / Et ce qu'elles nous sont ferait qu'avec justice / On nous imputerait ce mauvais artifice.« (M2)
Akzent Klassische Musik leise im Hintergrund
Hip Hop-Musik
16:1617:14
Protokoll 7
Wiederholung
448
polyphon: »Und der Horatier verwundete den Kuriatier / Und der Kuriatier sagte mit schwindender Stimme: / Schone den Besiegten. Ich bin / Deiner Schwester verlobt. / Und der Horatier schrie: / Meine Braut heißt Rom / Und der Horatier stieß dem Kuriatier / Sein Schwert in den Hals, daß das Blut auf die Erde fiel.« (M1)
Gequälter Schrei (F3)
»Lorsque dans Rome rentra l’Horace / sur les boucliers de la troupe inattaquée/ avec son épaule la tunique du Curiace qu’il avait tué / A la ceinture le glaive trophée, à la main le sien ensanglanté / hâta à sa rencontre à la porte de l’Est d’un pas rapide sa sœur, et derrière elle son vieux père lentement / Et le vainqueur sauta des boucliers sous les acclamations du peuple / Pour recevoir l’accolade de sa sœur.« (M2)
»Y el horacio y el curiacio dijeron: No. Y lucharon entre las filas de los lados. Y el horacio herió al curiacio.Y el curiacio dijo con voz despermitida: Respeta vencido. Yo estoy prometido con tu hermana. Y el horacio gritando: Mi novia se llama Roma. Y el horacio clavó al curiacio su espada en el cuello. Y la sangre se le ramó por el suelo.« (M4, schnell, aggressiv)
cria: / Mon épouse s’appele Rome / Et l’Horace buta son glaive à la gorge du Curiace et le sang tomba sur le sol. Et le sang tomba sur le sol. Et le sang tomba sur le sol.« (M2, leiser werdend, sehr ruhig)
Stille Hervorhebung
Treibende klassische Musik
17:3318:28
17:1417:33
Text als Klangmaterial
Quelle: Bayet, Jean (Hg.): Tite-
Quelle: Horace, Z. 1173-1180
449
»Va-t’en avec ton amour scandaleux! Va rejoindre ton fiancé, toi qui oublies tes frères, ceux qui son morts, toi qui oublies tes frères, ceux qui son morts, toi qui oublies tes frères,
polyphon, sehr leise im Hintergrund: Übersetzung in Französisch, Italienisch und Spanisch nicht im Gesamten verständlich
polyphon: »Als nach Rom heimkehrte der Horatier / Auf den Schilden der unverwundeten Mannschaft / Über die Schulter geworfen das Schlachtkleid / Des Kuriatiers, den er getötet hatte / Am Gürtel das Beuteschwert, in Händen das blutige eigne / Kam ihm entgegen am östlichen Stadttor / Mit schnellem Schritt seine Schwester und hinter ihr / Sein alter Vater, langsam / Und der Sieger sprang von den Schilden, im Jubel des / Volks / Entgegenzunehmen die Umarmung der Schwester. / Aber die Schwester erkannte das blutige Schlachtkleid / Werk ihrer Hände, und schrie und löste ihr Haar auf. / Und der Horatier schalt die trauernde Schwester: / Was schreist du und lösest dein Haar auf. Rom hat gesiegt. Vor dir steht der Sieger.« (M1)
»Ma fille, il n’est plus temps de répandre des pleurs, / Il sied mal d’en verser où l’on voit tant d’honneurs, / On pleure injustement des pertes domestiques / Quand on en voit sortir des victoires publiques. / Rome triomphe d’Albe, et c’est assez pour nous: / Tous nos maux à ce prix doivent nous être doux. / En la mort d’un Amant vous ne perdez qu’un homme / Dont la perte est aisée à réparer dans Rome,« (M2, alt klingend, ruhig) Winseln (F3)
Scharf klingender Akzent
Treibende, klassische Musik
19:5921:21
18:2819:59
Protokoll 7
Live: Histoire Romaine. Tome I Livre I, übers. v. Gaston Baillet, Paris 1967, S. 42. Wiederholung
450
polyphon ab 20:55: Operngesang (M6)
polyphon: »Und die Schwester küßte das blutige Schlachtkleid und / schrie: Rom. / Gib mir wieder, was in diesem Kleid war. / Und der Horatier, im Arm noch den Schwertschwung / Mit dem er getötet hatte den Kuriatier / Um den seine Schwester weinte jetzt / Stieß das Schwert, auf dem das Blut des Beweinten / Noch nicht getrocknet war / In die Brust der Wienenden / Daß das Blut auf die Erde fiel. Er sagte: / Geh zu ihm, den du mehr liebst als Rom. / Das jeder Römerin / Die den Feind betrauert. / Und er zeigte das zweimal blutige Schwert allen Römern / Und der Jubel verstummte. Nur aus den hinteren Reihen / Der zuschauenden Menge hörte man noch / Heil rufen. Dort war noch nicht bemerkt worden / Das Schreckliche« (M1)
polyphon: »Et l’Horace...« (M2, leise im Hintergrund, bis 20:55)
ceux qui son morts, et celui qui est sauf, toi qui oublies ta patrie! Qu’ainsi meure toute romaine qui pleurera un ennemi! (F3, schreiend, leiser werdend bei Wiederholung)
Akzent
Hämmernde, treibende Musik
21:2121:31
Text als Klangmaterial
451
polyphon: »Il a vaincu. Rome régne Albe« (M2) polyphon: »Er hat gesiegt. Rom / Herrscht über Alba« (M1, leicht verzerrt) »E uni ricordavano a altri: onorate vincitore« (M3) »Et un autre d’entre des Romains reparta:« (M2)
»Und von den Römern ein andrer entgegnete:« (M1) »Et l’un entre des Romains cria« (M2) »Er hat seine Schwester getötet« (M1) »Ha uccise sua sorella« (M3) »Und die Römer riefen gegeneinander: / Ehrt den Sieger. / Richtet den Mörder« (M1)
polyphon: »Er hat gesiegt. Rom / Herrscht über Alba« (M1)
»E trai Romani uno grida: Ha vinto. Roma / Impera sul Alba / E trai Romani un altro deporte« (M3, rufend)
»Als im Schweigen des Volks der Vater / Angekommen war bei seinen Kindern / Hatte er nur noch ein Kind. Er sagte: / Du hast deine Schwester getötet. / Und der Horatier verbarg das zweimal blutige Schwert / nicht / Und der Vater des Horatiers / Sah das zweimal blutige Schwert an und sagte: / Du hast gesiegt. Rom / Herrscht über Alba. / Er beweinte die Tochter, verdeckten Gesichts / Breitete auf ihre Wunde das Schlachtkleid / Werk ihrer Hände, blutig vom gleichen Schwert / Und umarmte den Sieger. / Zu den Horatiern jetzt / Traten die Liktoren, trennten mit Rutenbündel und Beil / Die Umarmung, nahmen das Beuteschwert / Vom Gürtel dem Sieger und dem Mörder aus der Hand das / zweifach / Blutige eigne. / Und von den Römern einer rief:« (M1) Fröhliche Musik der 70er Jahre
Stille
neues musikalisches Thema: Klassische Musik
22:3523:44
21:3122:35
Protokoll 7
452
»Die Liktoren / Trennten die Streitenden mit Rutenbündel und Beil / Und beriefen das Volk in die Versammlung / Und das Volk bestimmte aus seiner Mitte zwei / Recht zu sprechen über den Horatier / Und gab dem einen in die Hand / Den Lorbeer für den Sieger / Und dem andern das Richtbeil, dem Mörder bestimmt / Und der Horatier stand / Zwischen Lorbeer und Beil« (M1)
»Et l’Horace était entre le laurier et la [...]« (M2, leise)
Operngesang: »I suo merito estingue sa colpa« (M6) »Sein Verdienst löscht seine Schuld« (M1)
Auslassung »Cento quaranta sette. Und der Lorbeerträger sagte« (Z. 110-156) (M3, italienischer Akzent in deutschem Text)
Vorgriff Abbruch
»Und Römer nahmen das Schwert gegen Römer im Streit / Ob als Sieger geehrt werden sollte / Oder gerichtet werden als Mörder der Horatier.« (M1)
»Et les Romains ont crié l’un l’autre« (M2) »Onorate vincitore. Giustiziato l’assasino« (M3) »Honorez le vainqueur. / Exécutez l’assasin« (M2)
»Onorate vincitore. Giustiziato l’assasino« (M3) »Il a tué sa sœur« (M2) polyphon: »Er hat seine Schwester getötet« (M1)
polyphon: »Und von den Römern ein andrer entgegnete« (M1)
Musik klingt aus
24:0927:40
23:4424:09
Text als Klangmaterial
453
Auslassung (Z. 171f.)
Quelle: Horace, Z. 1476
»Wenn das eine nicht getan werden kann / Ohne das andere,
Operngesang: »Se una chosa non potraessere fatta. Senza un altra che la [...] Percé il vincitore e l’assasino sono uno uomo solo indivésibile.« (M6, zweistimmig)
»Cento quaranta nove.Und der Beilträger sagte« (M3, italienischer Akzent) Operngesang: »La sua colpa estingue sa merito« (M6) »Seine Schuld löscht sein Verdienst« (M1) »Cento cinquanturo. »Und der Lorbeerträger fragte« (M3, italienischer Akzent) Operngesang: »Si può processare un vincitore?« (M6) »Soll der Sieger gerichtet werden?« (M1) »Cento cinquantatre. Und der Beilträger fragte« (M3, italienischer Akzent) Operngesang »Si può proclamare un assasino?« (M6) »Cento cinquanta cinque. Und der Lorbeerträger sagte« (M3, italienischer Akzent) Operngesang: »Chi processa l’assasino, processa vincitore« (M6) »Wenn der Mörder gerichtet wird / Wird der Sieger gerichtet« (M1) »Quoi? qu’on envoie un vainqueur au supplice?« (M2) »Cento cinquantotto.Und der Beilträger sagte« (M3, italienischer Akzent) Operngesang »Chi proclama vincitore, proclama assasino« (M6) »Wenn der Sieger geehrt wird / Wird der Mörder geehrt« (M1) »Cento sessantatra Und der Lorbeerträger und der Beilträger fragten« (M3, italienischer Akzent)
Protokoll 7
454
textfremder Einschub
polyphon: Italienische, spanische und französische Passagen, französisch gut verständlich im Vordergrund:
polyphon: »Stop, stop, stop. Where are you running? What’s going on here? What’s happening? Nobody told anything« (M5)
Et Horace fut couronné avec le laurier / Et le porteur du laurier prenait son glaive et l’a tenu et honora le vainqueur. / Auslassung [...] Et les Romains aussi, prirent-ils chacun leur glaives« (Z. 198-205) (M2)
Auslassung »Voilà le vainqueur. Son nom: Horace. / Voilà l’assasin. Son (Z. 186f.) Auslassung nom: Horace. / [...] A chacun son dû: / Au vainqueur le lau(Z. 190-193) rier. A l’assasin l’hache.
Operngesang: »Un assasinio ma nessun assasino« (M6) »So daß da ein Mord ist, aber kein Mörder / Sondern der Sieger Mörder heißt Niemand?« (M1) Operngesang: »Nessuno« (M6, wird leiser, Fade Out)
Operngesang: »Una vittoria ma nessun vincitore« (M6) »So daß da ein Sieg ist, aber kein Sieger« (M1)
Operngesang: »Se non facciamo niente? Né a l’uno, né a l’altro in modo che non c’e sia« (M6) »Sollen wir also von beidem keines tun« (M1)
das es ungetan macht / Weil der Sieger Mörder und der Mörder Sieger sind ein Mann, unteilbar« (M1)
Gongschlag Hupen, Straßengeräusche
27:4028:17
Text als Klangmaterial
455
Quelle: Sanctuary, S. 241.
Quelle: Sanctuary, S. 241.
Auslassung (Z. 209212, Z. 215)
Quelle: Horace, Z. 133f. Rückgriff Quelle: Faulkner, William: Sanctuary, London 1981, S. 289.
Quelle: Horace, Z. 215f. Rückgriff
»Es que se le arda, cortalale.« (M4) Lachen (F3) »I’ll pay it. By God, I’ll buy them two funerals« (M5)
«Pick it up. [...] I’m all right. [...] I didn’t send for you. Keep your nose out.« (M5)
polyphon: Italienische, spanische und französische Passagen, französisch gut verständlich im Vordergrund: »[...] et le porteur de l’hache arracha à l’assasin le laurier de la tempe par lequel le vainqueur avait été couronné [...] et jeta à l’Horace sous la tête l’étoffe au coleur de la nuit« (M2)
»Ah memory« (M5)
Operngesang: »No« (M6) »Ah« (M5) »Et mon coeur, accablé de mille déplaisirs, / Cherche la solitude à cacher ses soupirs.« (F3)
Operngesang: »No« (M6) »Curiatio« (M3)
»La nuit a dissipé des erreurs si charmantes; / Mille songes affreux, mille images sanglantes« (F3)
Geräusche einer Kette, die hinaufgezogen wird
Sanfte Musik
Klassische Musik 28:1728:52
Protokoll 7
Quelle: Horace, Z. 1649f.
Quelle: Sanctuary, S. 243.
»Und das Volk antwortete mit einer Stimme / (Aber der Vater des Horatiers schwieg) / Da ist der Sieger. Sein Name: Horatius. / Da ist der Mörder. Sein Name: Horatius. / Viele Männer sind in einem Mann. / Einer hat gesiegt für Rom im Schwertkampf. / Ein anderer hat seine Schwester getötet / Ohne Notwendigkeit. Jedem das Seine. / Dem Sieger den Lorbeer. Dem Mörder das Beil. / Und der Horatier wurde gekrönt mit dem Lorbeer. / Und der Lorbeerträger hielt sein Schwert hoch / Mit gestrecktem Arm und ehrte den Sieger / Und die Liktoren legten aus der Hand / Rutenbündel und Beil und hoben das Schwert auf / Das zweimal blutige mit verschiedenem Blut / Das im Staub lag und reichten es dem Sieger / Und der Horatier mit gekrönter Schläfe / Hielt sein Schwert hoch so daß für alle sichtbar war / Das zweimal blutige mit verschiedenem Blut / Und der Beilträger legte das Beil aus der Hand, und die / Römer / Hielten jeder sein Schwert hoch drei Herzschläge lang / Mit gestrecktem Arm und ehrten den Sieger./ Und die Liktoren steckten ihre Schwerter / In den Gürtel wieder, nahmen das Schwert / Des Siegers aus der Hand dem Mörder und warfen es / In den vorigen Staub,
»Voilà« (F3) Spanische Passage (M4, sehr leise im Hintergrund, nicht verständlich) »Put, put, put, put the son of a bitch on a coffin. Let’s have two funerals. [...] Play something.« (M5) polyphon: Italienische, spanische und französische Passagen, französisch gut verständlich im Vordergrund: »Et la louange est due, au lieu du châtiment / Quand la vertu produit ce premier mouvement.« (M2) Mündet in klassische Musik, textunterlegt
Schlagzeug Hip Hop-Musik, textunterlegt
29:2238:06
28:5229:22
Text als Klangmaterial
456
und der Beilträger riß / Dem Mörder von der Schläfe den Lorbeer / Mit dem der Sieger gekrönt worden war und gab ihn / Wieder in die Hand dem Lorbeerträger und warf dem / Horatier / Über den Kopf das Tuch in der Farbe der Nacht / In die zu gehen er verurteilt war / Weil er einen Menschen getötet hatte / Ohne Notwendigkeit, und die Römer alle / Steckten jeder sein Schwert in die Scheide / So daß die Schneiden alle bedeckt waren / Damit nicht teilhatten die Auslassung Waffen / Mit denen der Sieger geehrt worden war / An der (Z. 225-229) Richtung des Mörders [...] Und der Vater des Horatiers sagte: / Dieser ist mein letztes. Tötet mich für ihn. / Und das Volk antwortete mit einer Stimme: / Kein Mann ist ein andrer Mann / Und der Horatier wurde gerichtet mit dem Beil / Daß das Blut auf die Erde fiel / Und der Lorbeerträger, in der Hand / Wieder den Lorbeer des Siegers, zerrauft jetzt / Weil von der Schläfe gerissen dem Mörder / Fragte das Volk: / Was soll geschehn mit dem Leichnam des Siegers? / Und das Volk antwortete mit einer Stimme: / Der Leichnam des Siegers soll aufgebahrt werden / Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein / Schwert. / Und sie fügten zusammen ungefähr / Das natürlich nicht mehr Vereinbare / Den Kopf des Mörders und den Leib des Mörders / Getrennt voneinander mit dem Richtbeil / Blutig aus eigenem beide, zum Leichnam des Siegers / Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein Schwert / Nicht achtend sein Blut, das über die Schilde floß / Nicht achtend sein Blut auf den Händen, und drückten / ihm / Auf die Schläfe den zerrauften Lorbeer / Und steckten in die Hand mit den gekrümmten Fingern / Vom letzten Kampf sein staubig blutiges Schwert ihm / Und kreuzten über ihm die nackten Schwerter / Andeutend, daß nichts versehren solle den Leichnam / Des Trommelwirbel endet
Trommelwirbel Musik klingt gefährlicher
Protokoll 7
457
Horatiers, der gesiegt hatte für Rom / Nicht Regen noch Zeit, nicht Schnee noch Vergessen / Und betrauerten ihn mit verAuslassung decktem Gesicht / [...] Und der Beilträger, in Händen wieder (Z. 262-264) das Richtbeil / Auf dem das Blut des Siegers noch nicht getrocknet war / Fragte das Volk: Was soll geschehn mit dem Leichnam des Mörders? / Und das Volk antwortete mit einer Stimme / (Aber der letzte Horatier schwieg): / Der Leichnam des Mörders / Soll vor die Hunde geworfen werden / Damit sie ihn zerreißen / Also daß nichts bleibt von ihm / Der einen Menschen getötet hat / Ohne Notwendigkeit. / Und der letzte Horatier, im Gesicht / Zweifach die Tränenspur, sagte: / Der Sieger ist tot, der nicht zu vergessende / Solange Rom über Alba herrschen wird. / Vergeßt den Mörder, wie ich ihn vergessen habe / Der erste im Verlust. / Und von den Römern einer antwortete ihm: Länger als Rom über Alba herrschen wird / Wird nicht zu vergessen sein Rom und das Beispiel / Das es gegeben hat oder nicht gegeben / Abwägend mit der Waage des Händlers gegen einander / Oder reinlich scheidend Schuld und Verdienst / Des unteilbaren Täters verschiedener Taten / Fürchtend die unreine Wahrheit oder nicht fürchtend / Und das halbe Beispiel ist kein Beispiel / Was nicht getan wird ganz bis zum wirklichen Ende / Kehrt ins Nichts am Zügel der Zeit im Krebsgang. / Und der Lorbeer wurde dem Sieger abgenommen / Und von den Römern einer verneigte sich vor dem Leichnam und sagte: / Gestatte, daß wir aus der Hand brechen, Sieger / Dir nicht mehr Empfindendem / Das Schwert, das gebraucht wird. / Und von den Römern ein andrer spie auf den Leichnam und sagte: / Mörder gib das Schwert heraus. / Und das Schwert wurde ihm aus der Hand gebrochen / Nämlich seine Hand mit der Totenstarre / Hatte sich geschlossen um den Schwertknauf / Höheres Tempo
Musik wird etwas lauter
Musik leiser
Text als Klangmaterial
458
Rückgriff Z. 317
So daß die Finger gebrochen werden mußten / Dem Horatier, damit er das Schwert herausgab / Mit dem er getötet hatte für Rom und einmal / Nicht für Rom, das blutige einmal zu viel / Damit gebraucht werden konnte von andern besser / Was gut gebraucht hatte er und einmal nicht gut. / Und der Leichnam des Mörders, entzweit vom Richtbeil / Wurde vor die Hunde geworfen, damit sie / Ganz ihn zerrissen, so daß nichts bleibe von ihm / Der einen Menschen getötet hatte / Ohne Notwendigkeit, oder so viel wie nichts. / Und von den Römern einer fragte die andern: / Wie soll der Horatier genannt werden der Nachwelt? / Und das Volk antwortete mit einer Stimme: / Er soll genannt werden der Sieger über Alba / Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester / Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld. / Und wer seine Schuld nennt und nennt seinen Verdienst / nicht / Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund / Und wer seinen Verdienst nennt und nennt seine Schuld / nicht / Der soll auch mit den Hunden wohnen. / Wer aber seine Schuld nennt zu einer Zeit / Und nennt sein Verdienst zu anderer Zeit / Redend aus einem Mund zu verschiedner Zeit anders / Oder für verschiedne Ohren anders / Dem soll die Zunge ausgerissen werden. / Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn / Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann / Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte / Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar / Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich. / Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche« (M1) »Et l’un entre des Romains interroga les autres: Comment l’Horace doit-il être nomé à la postérité?« (M2) »Il doit être nomé vainqueur d’Albe / Il doit être nomé assasin de sa soeur« (F3)
459
Musik mit Glasklirren zu Beginn
Stille
38:0640:25
Protokoll 7
• • • •
460
Musik klingt aus
Wirkt zum Teil leicht sphärisch
Verbindung meist kurzer Sprechpassagen in verschiedenen Sprachen von sechs Sprechstimmen und zwei Singstimmen Verbindung verschiedener Texte und Opern, in denen der Stoff bearbeitet wurde Tempo und Rhythmus der Sprache passen sich zum Teil der Musik an Kompositorisches Konzept: Collage aus Sprache und Musik mit Opernelementen
»So stellten sie auf, nicht fürchtend die unreine Wahrheit« (M1) »Dans un souffle son merité et sa faute. / Et qui nome sa faute et ne nome pas son merité / Qu’il vive comme un chien parmi les chiens« (F3) »In Erwartung des Feinds ein vorläufiges Beispiel / Reinlicher Scheidung« (M1) »Et qui nome son merité et ne nome pas sa faute. Qu’il vive aussi parmi les chiens« (F3) »nicht verbergend den Rest / Der nicht aufging in unaufhaltbaren Wandel« (M1) »Et qui nome sa faute en un temps / Et nome son merité en un autre temps / De la même bouche parlant autrement En des temps différents / Où bien parlant autrement pour des oreilles différents / Que la langue lui soit arracher« (F3) »Und gingen jeder an seine Arbeit wieder« (M1) »Car il faut que les paroles restent purent. Car / Un glaive peut être brisé un homme aussi / Peut être brisé, mais les paroles / Tombent dans le mouvement du monde irrattrapable« (F3) »im Griff / Neben Pflug, Hammer, Ahle, Schreibgriffel das Schwert« (M1) »Rendant les chôses conaissables où méconaissables. / Mortel à l’homme ce qui est méconaissable« (F3)
Text als Klangmaterial
Quelle: Conrad, Joseph: Das KongoTagebuch, in: ders.: Herz der Finsternis, Zürich 1992, S. 153-161.
Text
»Samstag, 28. Juni. Von Matadi aufgebrochen mit Herrn Harou und einer Karawane aus 31 Männern. Freundschaftlicher Abschied von Herrn Casement. Herr Gose begleitet uns bis zum Militärposten. Erster Halt M’poso. 2 Dänen mit von der Partie. Sonntag, 29. Juni. Anstieg nach Patabala ziemlich ermüdend. Campierten um 11 Uhr am Nsoke-Fluß. Mücken. Montag, 30. Nach Congo da Lemba, nachdem wir durch schwarze Felsen gegangen waren. Langer Anstieg. Harou gab auf. Ging mir auf die Nerven. Camp schlecht. Wasser weit weg. Schmutzig. Nachts Harou ein bisschen besser dran. Ein bisschen besser dran. Dienstag, 1. Juli. Erstes Huhn, zwei Uhr mittags. Keine Sonne heute.« (M1=Ernst Stötzner, sachlich, tief)
Stimme
Sprache
461 Tiefer anhaltender Ton
Treibende IndustrieGeräusche Intensivierung der Bedrohung
Zischen
Zischen
Geräusch und Klang
ODER DIE GLÜCKLOSE LANDUNG
E-Gitarre im Vordergrund Trombone im Hintergrund, hohe und laute Akzente
Starke Musikakzente von EGitarre und Trombone in Sprechpausen
Polyphon zum Geräusch und Sprache: E-GitarreTöne
Kora, hell klingend
Musik
00:5404:15
00:1800:54
[00:0000:18 Anmoderation]
Min.:Sek.
Zeit
Protokoll 8
Quelle: KongoTagebuch
Quelle: Müller, Heiner: Herakles 2 oder die Hydra, in: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller. Werke 4. Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 424-428.
»Donnerstag, 3. Juli. Einen Offizier des Staats auf Inspektionsreise angetroffen; Ein paar Minuten später am Lagerplatz die Leiche eines Backongo. Erschossen? Gräßlicher Geruch. Überquerten ein paar Berge, die von Nordwesten nach Südosten verlaufen, über einen niederen Paß. Ein anderes breites flaches Tal mit einer tiefen Schlucht in der Mitte. Lehm und Kies. Eine weitere Bergkette, die parallel zu der oben erwähnten verläuft, mit einer Kette niedriger Hügel gleich danach. Dazwischen campierten wir am Ufer des Luinzono. Camp sauber. Fluß sauber. Staatliches Sansibari mit Register. Kanu. Die zwei Dänen campieren auf der anderen Flußseite. Gesundheit gut. Vorherrschender Farbton der Landschaft grau-gelblich (trockenes Gras), mit rötlichen Flecken (Erde) und Flecken dunkelgrüner Vegetation hie und da, meist in steilen Einschnitten zwischen den Bergen oder in Schluchten, die die Ebene zerschneiden.
»Lange glaubte er noch den Wald zu durchschreiten, in dem betäubend warmen Wind, der von allen Seiten zu wehen schien und die Bäume wie Schlangen bewegte, in der immer gleichen Dämmerung der kaum sichtbaren Blutspur auf dem gleichmäßig schwankenden Boden nach, allein in die Schlacht mit dem Tier. In den ersten Tagen und Nächten, oder waren es nur Stunden, wie konnte er die Zeit messen ohne Himmel, fragte er sich [...]« (M1, leise und sanft)
462
Musik freistehend
Musik freistehend
scharfer Akzent, E-Gitarre gezogen, bedrohlich
Kurze Akzente in Sprechpausen von Trombone Zerlegung des Textes
Musikthema vom Beginn: helle Kora, gleichmäßig, polyphon zu Sprache
durch Gitarre
04:5609:26
04:1504:56
Text als Klangmaterial
Wiederholung
Quelle: Herakles 2 oder die Hydra
463
Mechanische Geräusche
Glassplittern
2) Er fühlte seine Füße schwerer werden, weil der Boden sie ansaugte. 3) Er hatte den Eindruck, daß der Boden seine Füße ansaugte, weil sie schwerer wurden. Die Fragen beschäftigten ihn eine Zeit (Jahre Stunden Minuten) lang.« (M1)
Industriegeräusche, kurz, laut, polyphon
»Er zählte die Möglichkeiten, 1) Seine Füße wurden schwerer und der Boden saugte seine Füße an.
»als ob der Boden, von dem er geglaubt hatte, daß er seinem Gewicht nachgäbe, seinem Fuß entgegenkam, ihn sogar, mit einer saugenden Bewegung, anzog. Auch hatte er das deutliche Gefühl, daß seine Füße schwerer wurden.« (M1)
»In den ersten Tagen und Nächten, oder waren es nur Stunden, wie konnte er die Zeit messen ohne Himmel, fragte er sich noch manchmal, was unter dem Boden sein mochte, der unter seinen Schritten Wellen schlug so daß er zu atmen schien, wie dünn die Haut über dem unbekannten Unten und wie lange sie ihn heraushalten würde aus den Eingeweiden der Welt. Wenn er vorsichtiger auftrat, schien es ihm, als ob der [...]« (M1, diesmal etwas lauter)
Sah Palma Christi – Ölpalme. Sehr gerade, hohe, dicke Bäume an einigen Orten. Name ist mir unbekannt. Dörfer ganz unsichtbar. Schließe auf ihre Existenz aus Flaschenkürbissen, die an Palmen für den »malafu« hängen. Recht viele Karawanen und Reisende. Keine Frauen, nur auf dem Markt. (M1, sachlich)
Langgezogener Beat mit Splittern
Musikthema vom Anfang, zunächst freistehend, dann textunterlegt
Kurzzeitig Stille
11:2213:30
09:2611:22
Protokoll 8
464
Auslassung
Quelle: Herakles 2 oder die Hydra
Quelle: KongoTagebuch
polyphon: Hinzukommen von senegalesischem Gesang (M2=Boubakar Djebate, sehr rhythmisch) Gesang lauter und aggressiver
»Als der Wind zunahm, wurde er häufiger an Gesicht Hals Händen von Bäumen und Ästen gestreift. Die Berührung war zunächst eher angenehm, ein Streicheln oder als prüften sie, wenn auch oberflächlich und ohne besonderes Interesse, die Beschaffenheit seiner Haut. Dann schien der Wald dichter zu wachsen, die Art der Berührung änderte sich, aus dem Streicheln wurde ein Abmessen. Wie beim Schneider, dachte er, als die Äste seinen Kopf umspannten, dann seinen Hals, die Brust, die Taille usw. [...]« (M1)
»Heute in eine Pfütze voller Schlamm gefallen. Scheußlich. Der Fehler des Mannes, der mich trug. Nach dem Aufstellen des Zeltes ging ich zu einem kleinen Fluß, badete und wusch die Kleider. Langsam habe ich genug von dem Spaß. Morgen erwarte ich einen langen Marsch, um bis Nsona zu kommen, 2 Tage von Manyanga. Keine Sonne heute.« (M1, schneller)
»Sah eine weitere Leiche neben dem Weg liegen, in einer Haltung nachdenklicher Ruhe. Am Abend kamen drei Frauen, eine von ihnen ein Albino, an unserem Lager vorbei. Gräßliches, kreidiges Weiß mit rosa Flecken. Rote Augen. Rote Haare. Sehr negroid und häßlich. Mücken. Nachts, als der Mond aufging, hörte ich Rufe und Stimmen aus fernen Dörfern. Schlechte Nacht verbracht. 5. Juli.« (M1)
Übergang in Musikthema vom Beginn
Trombone-Töne in Sprechpausen, ansonsten Stille
An- u. Abschwellen An- u. Abschwellen Fade Out bis Stille
Lauter in Sprechpause, Fade Out
und Schlagen, freistehend, Fade Out
14:3816:30
13:3014:38
Text als Klangmaterial
465
»Blieben in Manyanga bis zum 25. Waren beide krank.« (M1) Senegalesischer Gesang (F)
»Konnte dieser Wald, der keinem der Wälder glich, die er gekannt, »durchschritten« hatte, überhaupt noch ein Wald genannt werden. Vielleicht war er selber schon zu lange unterwegs, eine Erdzeit zu lange, und Wälder überhaupt waren nur mehr was dieser Wald war. Vielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus und alle andern Merkmale waren schon lange zufällig und auswechselbar geworden, auch das Tier, das zu schlachten er diese vorläufig noch Wald benannte Gegebenheit durchschritt, das zu tötende
Quelle: Herakles 2 oder die Hydra
»Dienstag, 8. Juli. Ankunft in Manyanga um 9 Uhr abends.« (M1)
»Vielleicht« (M1)
Senegalesischer Gesang (F=Sira Djebate)
Leichte Modifikation
Quelle: KongoTagebuch
Auslassungen
»Das Automatische des Ablaufs irritierte ihn. Wer oder was lenkte die Bewegungen dieser Bäume, Äste oder was immer da [...] Vielleicht [...]« (M1)
20:5020:56
16:3320:50
Kora Musikalisches 20:56Thema vom Be23:59 ginn, Akzente von Trombone lauter starke Zerlegung der Textpassage durch Akzente
Stille
Verschiedene hohe und tiefe Trombone-Töne, die mit Tieren im Dschungel assoziiert werden können Raumeindruck
Helle Kora-Melodie Freistehend
Musikalischer Akzent Harter Schnitt
Musikalischer Akzent
Protokoll 8
466
Quelle: Herakles 2 oder die Hydra
Quelle: KongoTagebuch
»Er hatte Mühe, nicht zu schreien. Er warf sich nach vorn in einen schnellen Spurt aus der Umklammerung. Er wußte, nie war er schneller gelaufen. Er kam keinen Schritt weit, der
Senegalesischer Gesang (F)
Senegalesische Rufe (M2, laut, aggressiv) polyphon dazu: »Freitag, 25. Juli 1890 Wir verließen Manyanga um halb drei Uhr nachmittags mit vielen Hängematten-Trägern. Harou lahmt und ist nicht in sehr guter Form. Ich dito, aber nicht lahm. Marschierten bis nach Msiena und campierten – 2 Std. Freitag 25. Nkhenghe Samstag 26. Nsona Sonntag 27. Nkandu Montag 28. Nkonzo« (M1, laut, rufend)
Monstrum, das die Zeit in ein Exkrement im Raum verwandelt hatte, war nur noch die Benennung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch. Nur er, der Unbenannte, war sich selber gleichgeblieben auf seinem langen schweißtreibenden Gang in die Schlacht. Oder war auch, was auf seinen Beinen über den zunehmend schneller tanzenden Boden ging, schon ein andrer als er. Er dachte noch darüber nach, als der Wald ihn wieder in den Griff nahm. Die Gegebenheit studierte sein Skelett, Zahl, Stärke, Anordnung, Funktion der Knochen, die Verbindung der Gelenke. Die Operation war schmerzhaft.« (M1)
Musik wird etwas schneller und rhythmischer, treibend,
Musikthema vom Beginn
Musik freistehend, wird leiser, Schlag am Ende
Harter Schnitt Starke Verdichtung der Musik mit Sprache, viele Akzente
26:5028:24
25:1026:50
23:5925:10
Text als Klangmaterial
Quelle: KongoTagebuch
»Dienstag 29. August. Nkenghe. Schlechte Nachrichten vom Fluß oben. Alle Dampfschiffe kaputt; eins gesunken. Land bewaldet. Bekam zum ersten Mal reife Ananas. Auf der Straße heute kamen wir an einem Skelett vorbei, das an einem Pfosten hing. Auch am Grab eines Weißen – kein Name. Mittwoch 30. Nsona Inkissi. Zwei Stunden langer scharfer Marsch brachte mich nach Nsona na Nsefe. Halbe Stunde später kam Harou sehr krank an, mit Gallenkolik und Fieber. Kotzte Galle in enormer Menge. Brachen nach Kinfumu auf. Streit mit den Trägern auf dem ganzen Weg. Harou leidet sehr wegen dem Gewippe der Hängematte. Um vier Uhr Harou bessser. Kein Fieber mehr. Erwarte viele Schwierigkeiten mit den Trägern morgen. Ließ sie alle herkommen und hielt eine Rede, die sie nicht verstanden. Sie versprechen, sich gut zu benehmen. Donnerstag 31. Nkandu.
Senegalesischer Gesang (F)
Wald hielt das Tempo, er blieb in der Klammer, die sich jetzt um ihn zusammenzog und seine Eingeweide aufeinanderpreßte, seine Knochen aneinanderrieb, wie lange konnte er den Druck aushalten, und begriff, in der aufsteigenden Panik: der Wald war das Tier, lange schon war der Wald, den zu durchschreiten er geglaubt hatte, das Tier gewesen, das ihn trug im Tempo seiner Schritte, die Bodenwellen seine Atemzüge und der Wind sein Atem, die Spur, der er gefolgt war, sein eigenes Blut, von dem der Wald, der das Tier war, seit wann, wieviel Blut hat ein Mensch, seine Proben nahm; und daß er es immer gewußt hatte, nur nicht mit Namen.« (M1, rhythmisch, viele Zäsuren)
Harter Schnitt, abrupter Musikwechsel E-Gitarre mit Schlagzeug, später auch Trombone, treibend
Musik bleibt weiterhin sehr rhythmisch
textunterlegt Verunsicherung, Getriebensein
28:4131:15
28:2428:41
Protokoll 8
467
468
Quelle: Conrad, Joseph: »Bei der Abfahrt – von A, wenn man an den beiden Inseln Up-river vorbei ist, auf Baumgruppe zuhalten« Book, in: (M1, zweistimmig, polyphon, leicht zeitversetzt ders.: Herz der Finsternis, Zürich 1992, S.
Auslassung
»Freitag, 1. August 1890. Anblick der Landschaft gänzlich verändert. Bewaldete Hügel mit Lichtungen. Pfad fast den ganzen Nachmittag über durch den Wald aus leichten Bäumen mit dichtem Unterholz. [...] Häuptling kam mit einem Jungen von etwa 13, der eine Schußwunde am Kopf hatte. Die Kugel war etwa drei Zentimeter über der rechten Augenbraue eingedrungen und ein bißchen weiter innen wieder ausgetreten. Die Haarwurzeln ziemlich in der Mitte der Braue in einer Linie mit dem Nasenrücken. Knochen schien nicht beschädigt. Gab ihm ein bißchen Glyzerin, um es da auf die Wunde zu tun, wo die Kugel ausgetreten war. Harou nicht sehr gesund. Mücken. Frösche. Biestig. Fühle mich eher abgespannt. Sonne ging rot auf. Sehr heißer Tag. Wind S[üd].« (M1, sanft, leise, leichter Hall)
Senegalesischer Gesang (F), vollkommen freistehend
Freitag 1. August Nkonzo Samstag 2. Nkenghe Sonntag 3. Nsona Montag 4. Nkandu Dienstag 5. Nkonzo Mittwoch 6. Nkenghe« (M1, laut, rufend)
Sanfter Grundton mit Akzenten
Akzent, dann Stille
Abrupte Stille
34:2635:22
32:3334:26
31:1532:33
Text als Klangmaterial
469
Wiederholung
Wiederholung
Wiederholung
Quelle: Herakles 2 oder die Hydra leichte Modifizierung
163-190, S. 163. leichte Modifizierung
»Es klang wie Erleichterung: kein Gedanke mehr, das war die Schlacht. Sich den Bewegungen des Gegners anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend ausweichen. Ausweichend angreifen. Dem ersten Schlag Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten ausweichen. Umgekehrt. [Pause] Sich den Bewegungen des Gegners anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend ausweichen. Ausweichend angreifen. Dem ersten Schlag Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten ausweichen. Umgekehrt. Die Reihenfolge ändern und nicht ändern. Sich den Bewegungen des Gegners anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend ausweichen. Ausweichend angreifen. Dem ersten Schlag Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten ausweichen. Umgekehrt. Die Reihenfolge ändern und nicht ändern. Dem Angriff begegnen mit gleicher und (oder) andrer Bewegung. Sich den Bewegungen des Gegners anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend ausweichen. Ausweichend
Polyphon: Senegalesische Rufe (M2, weitere Männer-, Frauen- und Kinderstimmen
Senegalesischer Gesang (F)
Akzente mit Trombone, Schlagzeug
Schnelle, rhythmische Kora-Klänge
35:2237:48
Protokoll 8
Quelle: Herakles 2 oder die Hydra Wiederholung
Quelle: Upriver Book, S. 165f. Leichte Modifizierungen
»Konnte dieser Wald, der keinem der Wälder glich, die er gekannt, »durchschritten« hatte, überhaupt noch ein Wald genannt werden. Vielleicht war er selber schon zu lange unterwegs, eine Erdzeit zu lange, und Wälder überhaupt waren nur mehr was dieser Wald war. Vielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus und alle andern Merkmale waren schon lange zufällig und auswechselbar geworden, auch das Tier, das zu schlachten er diese vorläufig noch Wald benannte Gegebenheit durchschritt, das zu tötende Monstrum, das die Zeit in ein Exkrement im Raum verwandelt hatte, war nur noch die Benennung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch. Nur er, der Unbenannte, war sich selber gleichgeblieben auf seinem langen
Senegalesischer Gesang (F)
›Snake tree point‹ hat eine Klippe, die ziemlich draußen liegt. Weit davon abhalten.« (M1, zweistimmig, polyphon, leicht asynchron
»Neun Stunden nach Eintritt in den Fluß sichteten wir ›2 sago-trees point‹, kein bißchen bemerkenswert.
angreifen. Dem ersten Schlag Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten ausweichen. Umgekehrt.« (M1, sehr rhythmisch)
Münden in Musikthema vom Beginn, textunterlegt
Tiefe TromboneKlänge
Sanfter Grundton
Akzent
40:0447:36
37:4840:04
Text als Klangmaterial
470
471
Wiederholung, hier allerdings mit »des Feindes«
Weiterführung
schweißtreibenden Gang in die Schlacht. Oder war auch, was auf seinen Beinen über den zunehmend schneller tanzenden Boden ging, schon ein andrer als er. Er dachte noch darüber nach, als der Wald ihn wieder in den Griff nahm. Die Gegebenheit studierte sein Skelett, Zahl, Stärke, Anordnung, Funktion der Knochen, die Verbindung der Gelenke. Die Operation war schmerzhaft. Er hatte Mühe, nicht zu schreien. Er warf sich nach vorn in einen schnellen Spurt aus der Umklammerung. Er wußte, nie war er schneller gelaufen. Er kam keinen Schritt weit, der Wald hielt das Tempo, er blieb in der Klammer, die sich jetzt um ihn zusammenzog und seine Eingeweide aufeinanderpreßte seine Knochen aneinanderrieb, wie lange konnte er den Druck aushalten, und begriff, in der aufsteigenden Panik: der Wald war das Tier, lange schon war der Wald, den zu durchschreiten er geglaubt hatte, das Tier gewesen, das ihn trug im Tempo seiner Schritte, die Bodenwellen seine Atemzüge und der Wind sein Atem, die Spur, der er gefolgt war, sein eigenes Blut, von dem der Wald, der das Tier war, seit wann, wieviel Blut hat ein Mensch, seine Proben nahm; und daß er es immer gewußt hatte, nur nicht mit Namen. Etwas wie ein Blitz ohne Anfang und Ende beschrieb mit seinen Blutbahnen und Nervensträngen einen weißglühenden Stromkreis. Er hörte sich lachen, als der Schmerz die Kontrolle seiner Körperfunktionen übernahm. Es klang wie Erleichterung: kein Gedanke mehr, das war die Schlacht. Sich den Bewegungen des Feindes anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend ausweichen. Ausweichend angreifen. Dem ersten Schlag Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten ausweichen. Umgekehrt.
Protokoll 8
472
»Seine Zähne erinnerten sich an die Zeit vor dem Messer. Im Gewirr der Fangarme, die von rotierenden Messern und
Senegalesischer Gesang (M2, F) »Jeder Schoß, in den er irgendwie geraten war, wollte irgendwann sein Grab sein. Und das alte Lied.« (M1) Senegalesischer Gesang (M2, F) »ACH BLEIB BEI MIR UND GEH NICHT FORT AN MEINEM HERZEN IST DER SCHÖNSTE ORT.« (M1, leise und hoch gesungen, angepasst an Klänge) Senegalesischer Gesang (M2, F) »Skandiert vom Knacken seiner Halswirbel im mütterlichen Würgegriff. TOD DEN MÜTTERN.« (M1) Senegalesischer Gesang (F), Summen von M2
Die Reihenfolge ändern und nicht ändern. Dem Angriff begegnen mit gleicher und (oder) andrer Bewegung. Geduld des Messers und Gewalt der Beile. Er hatte seine Hände nie gezählt. Er brauchte sie auch jetzt nicht zu zählen. Überall wo immer wenn er sie brauchte, verrichteten sie seine Arbeit, Fäuste bei Bedarf, die Finger einzeln verwendbar, die Nägel gesondert, die Kanten aus dem Ellbogen. Seine Füße hielten den im Aufstand gegen die Gravitation zunehmend schneller rotierenden Boden fest, die Personalunion von Feind und Schlachtfeld [...] Die alte Gleichung.« (M1, ruhig)
Kurzer Schlag Rhythmische Schläge
Wiederaufnahme der Kora-Melodie ab 45:42, Verklingen der sphärischen Klänge
Melodie verklingt, stattdessen sphärische Klänge, textunterlegt
47:3851:46
Text als Klangmaterial
Wiederholung
473
»oder weil es ihm langweilig war, immer die gleiche Hand am gleichen Arm immerwachsende Fangarme Schrumpfköpfe Stehkragen zu kappen, die Stümpfe zum Stehen bringen, Säulen aus Blut; manchmal verzögerte er seinen Wiederaufbau, gierig wartend auf die gänzliche Vernichtung mit Hoffnung auf das Nichts, die unendliche Pause, oder aus
»so daß für Schläge gegen die Eigensubstanz, die ihm gelegentlich unterliefen, der Schmerz beziehungsweise die plötzliche Steigerung der pausenlosen Schmerzen in das nicht mehr Wahrnehmbare sein einziges Barometer war, [Pause] in dauernder Vernichtung immer neu auf seine kleinsten Bauteile zurückgeführt, sich immer neu zusammensetzend aus seinen Trümmern in dauerndem Wiederaufbau, manchmal setzte er sich falsch zusammen, linke Hand an rechten Arm, Hüftknochen an Oberarmknochen, in der Eile oder aus Zerstreutheit oder verwirrt von den Stimmen, die ihm ins Ohr sangen, Chöre von Stimmen BLEIB IM RAHMEN LASS DAMPF AB GIB AUF« (6x) (M1, nach letzter Pause ruhiger)
Senegalesischer Gesang (M2, F)
Beilen nicht, der rotierenden Messer und Beile, die von Fangarmen nicht, der Messer Beile Fangarme, die von explodierenden Minengürteln Bombenteppichen Leuchtreklamen Bakterienkulturen nicht, [Pause] der Messer Beile Fangarme Minengürtel Bombenteppiche Leuchtreklamen Bakterienkulturen, die von seinen eigenen Händen Füßen Zähnen nicht zu unterscheiden waren in dem vorläufig Schlacht benannten Zeitraum aus Blut Gallert Fleisch« (M1, sehr rhythmisch)
Freistehend
Schwillt wieder an
Wird ruhiger, nur Trombone und Schläge
Hinzukommen der Anfangsmelodie, Hinzukommen von Trombone wird immer treibender
Protokoll 8
474
Wiederholungen
Quelle: Ponge, Francis: Das Notizbuch vom Kiefernwald, Frankfurt am Main 21995.
Wiederholung
»7. August. Das Vergnügen in den Kiefernwäldern. Das Vergnügen in den Kiefernwäldern: Man kommt da leicht voran (zwischen den großen Stämmen, die etwas von Bronze und Kautschuk haben). Keine niederen Äste. Kein Durcheinander weder Gewirr von Lianen noch sonstige Sperren. Setzt man sich, so kann man sich bequem ausstrecken. Ein allgegenwärtiger Teppich. Vereinzelte Felsblöcke als Mobiliar, ein paar sehr kleinwüchsige Blumen. Es herrscht eine bewährt-gesunde Atmosphäre, ein diskret maßvoller Duft, eine vibrierende Musikalität, die zugleich auch sanft und erquickend ist. Diese großen violetten Masten. [...] Neger oder deren kreolische Nachfahren. 7. August Nachmittag. Leichtfüßiges Weiterkommen zwischen diesen großen Neger- oder Kreolenschiffsmasten, noch berindet und bis zur halben Höhe mit Flechten bewachsen, gewichtig wie die Bronze, weich wie der Kautschuk. (Robust wäre nicht das richtige Wort. Dieses Adjektiv paßt eher auf eine andere Baumart.) Kein Gewirr von Seilen oder Lianen, am Boden keine Planken, sondern dicke Teppiche. Dicke Teppiche. Ein Schaft, ein Kegel und kreisförmige Zapfen. Ein Schaft, ein Kegel und kreisförmige Zapfen.« (M1, ruhig, neugierig, am Ende leiser werdend)
Angst vor dem Sieg, der nur durch die gänzliche Vernichtung des Tieres erkämpft werden konnte, das sein Aufenthalt war, außer dem vielleicht das Nichts schon auf ihn wartete oder auf niemand; BLEIB IM RAHMEN LASS DAMPF AB GIB AUF« (4x) (M1, Betonung der Konjunktion »oder«, die letzten beiden Wiederholungen des in Versalien gedruckten Satzes sehr leise und ruhig)
Hinzukommen von Gitarre-Akzenten
Tiefer brummender Ton, zunächst freistehend, dann textunterlegt Assoziation: Ruhe, Holz
51:4655:47
Text als Klangmaterial
Quelle: Das Notizbuch vom Kiefernwald
»8. August. Befreit (bis zur halben Höhe hinauf) von ihren Ästen, sowohl durch die eigene Sorge ausschließlich um den grünen Wipfel (um den grünen Kegel an ihrem Wipfel) als auch durch starke Düsternis, verdichtet noch durch die Masse. So kommt es, daß auch die Vögel in die Höhe verbannt sind. Wunderbar, diese Teppiche von Jade, in den Bereichen, wo an sich keine Vegetation mehr möglich ist, wo alle niederen Äste abstarben und abfielen, massenhaft. 9. August. Von senilem Äußeren, altersgrau wie der Bart von Negergreisen. 13. August 1940 morgens. Versuchen wir zusammenzufassen. Da ist: Das Wohlgefühl a) des Spazierengehens: keine niederen Äste Keine hochwüchsigen Pflanzen keine Lianen Ein dicker Teppich. Ein paar Felsen als Mobiliar. b) der Besinnung Ausgewogenheit des Lichtes, des Windes. Unaufdringlicher Duft. Unaufdringliche Geräusche und Musik. Atmosphäre von Gesundheit. Ein Lebensgefühl wie in Kulissen. Sanfte Musikbegleitung, gedämpft.« (M1)
Senegalesischer Gesang (F, M2) 58:1560:01
55:4758:15
475
Kora-Melodie, freistehend
Wird immer schneller, Zischen lauter Verdichtung und Fade Out
Sehr rhythmische Kora-Melodie im Vordergrund Hinzukommen von Trombone
Klänge treibend
Lautes Zischen
65:2567:42
Zischen, wabernde, verfremdete Klänge 60:0165:25
mündet in Musikthema vom Beginn
Hohe Töne, sanfte Keyboard-Melodie, Trombone-Klänge Töne erinnern an Tiergeräusche, freistehend
Protokoll 8
Wiederholung
476
polyphon: Senegalesischer Gesang (F), Summen vom M2
»der Schaft, der Mast: – der Balken, die Planke.« (5x) (M1, immer leiser werdend)
Es gibt Nebenprodukte: Dämmerlichkeit, Besinnlichkeit, Duft usw., Reisigbündel von eher mäßiger Qualität, Fruchtzapfen (die Früchte verkapselt wie Ananas), Nadeln aus pflanzlichen Haaren, Moose, Farne, Heidelbeeren, Pilze. Aber hinter all den Arten von Entwicklung, die (warum auch nicht) eine nach der andern hinfällig werden, überdauert doch die allgemeine Idee und lässt sich ahnen der Schaft, der Mast: – der Balken, die Planke.« (M1, Betonung von »hier«)
»20. August 1940. Hier, wo sich eine ziemlich geordnete Fülle altersschwacher Masten zeigt, mit grünenden Kegeln gekrönt, hier, wo die Sonne und der Wind gefiltert sind durch ein dichtes Durcheinander grüner Nadeln, hier, wo der Boden bedeckt ist von einem dicken Teppich pflanzlicher Haarnadeln: hier entsteht langsam das Holz. In Serie, industriell, aber mit einer majestätischen Langsamkeit fabriziert sich hier das Holz.
Hinzukommen leiser E-Gitarre- und Trombone-Klänge
Sanfte KoraMelodie
schneller, rhythmischer Einschub
Einschub Einschub
Einschub
Lauter sehr rhythmischer Einschub
Stärkere Akzente
Hinzukommen von E-Gitarre und Trombone, ziehend
73:4375:12
67:4273:43
Text als Klangmaterial
• • • •
»Ein Wald von 40 Jahren heißt ›Niederhochwald‹ (mit Unterholz) Ein Wald von 40 bis 60 Jahren heißt ›Mittelwald‹
Quelle: Das Notizbuch vom Kiefernwald
477
Gleichwertigkeit von Musik und Sprache, punktuell Einsatz von Geräuschen Nur selten harte Schnitte Dynamik zwischen verschiedenen Texten, Musikstilen und Stimmen Kompositorisches Konzept: Collage aus Sprache, Gesang und Musik
ENDE DES KIEFERNWALDES JETZT GEHT’S HINAUS AUFS FREIE FELD« (M1)
Ein Wald von 60 bis 120 Jahren heißt ›junger Hochwald‹ Ein Wald von 120 bis 200 Jahren heißt ›Hochwald‹ Ein Wald von mehr als 200 Jahren heißt ›Klimax-Hochwald‹
»in dem weißen Schweigen, das den Beginn der Endrunde ankündigte, lernte er den immer andern Bauplan der Maschine lesen, die er war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt, und daß er ihn dachte änderte schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode.« (M1, ruhig)
Quelle: Herakles 2 oder die Hydra
Kora-Akzent
Musik verklingt, Stille
Schneller, rhythmischer Einschub Einschub Einschub Einschub Einschub Einschub, sehr unruhig
[76:1077:36 Abmoderation]
75:1276:10
Protokoll 8
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3) ANZ1339.p 228633958586
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