Terror und Extremismus in Deutschland: Ursachen, Erscheinungsformen, Wege zur Überwindung [1 ed.] 9783428480272, 9783428080274

VorwortDie deutsche Geschichte ist reich an Erfahrungen mit extremistischen Kräften. Allein im 20. Jahrhundert hat sich

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German Pages 175 Year 1994

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Terror und Extremismus in Deutschland: Ursachen, Erscheinungsformen, Wege zur Überwindung [1 ed.]
 9783428480272, 9783428080274

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Terror und Extremismus in Deutschland

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 42

Terror und Extremismus in Deutschland Ursachen, Erscheinungsformen Wege zur Überwindung

Herausgegeben von

Konrad Löw

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Terror und Extremismus in Deutschland : Ursachen, Erscheinungsformen, Wege zur Überwindung I hrsg. von Konrad Löw. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994. (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 42) ISBN 3-428-08027-0 NE: Löw, Konrad [Hrsg.]; Gesellschaft für Deutschlandforschung: Schriftenreihe der Gesellschaft ...

Alle Rechte vorbehalten

© 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: SiB Satzzentrum in Berlin GmbH, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-08027-0

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eckhard Jesse Streitbare Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine umstrittene Konzeption zwischen Kontinuität und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Erwin K. Scheuch "Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Armin Pfahl-Traughber Rechtsextreme Subkulturen. Verbindungen und Divergenzen im westlichen und östlichen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Klaus Matschmann Späte Frucht der frühen Jahre. Notwendige Erinnerungen zur Zersetzung des Rechtsbewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Patrick Moreau Die verpaßte Erneuerung der POS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Hans Josef Horchern Die Grenzen "autonomer" Gewalt. Eine Bilanz nach der Wiedervereinigung . ... 113 Uwe Backes Terror im Schlaraffenland- Die biographische Perspektive .......... . .. .. ... 129 KonradLöw Marxismus und Terrorismus. War die Begünstigung der terroristischen Roten Armee Fraktion durch die DDR ideologisch zu begründen? ................. 141 Peter Frisch Ausländerextremismus in der Bundesrepublik Deutschland ........... . ..... 155 Die Autoren . . .... .. ... . . . .... . ........... . ... . . .. . .. . .. . . . . .. . . . . . . . 171

EINLEITUNG Der Begriff des Extremismus hat sich - trotz oder gerade wegen seiner vergleichsweise bescheidenen begriffsgeschichtlichen Vorprägung - in Deutschland einen festen Platz im politischen Vokabular erobert. Als antithetischer Sammelbegriff zu konstitutionell-demokratischen Strömungen findet er sowohl in der einschlägigen Rechtsprechung als auch in der politikwissenschaftlichen Forschung Anwendung. Damit steht er in der Tradition negativer Verfassungsbegriffe, die seitAristoteles über die Jahrhunderte hinweg die wechselvolle Diskussion um die beste Staatsform bestimmten. So unterschiedlich die Vorstellungen über die Ausgestaltung dieser politischen Ordnung auch waren: Die meisten Autoren stimmten in der (wenn auch nicht selten nur verbalen) Ablehnung nackter Fremdbestimmung und Willkürherrschaft überein. "Tyrannis", "Despotismus", "Absolutismus", "Diktatur", "Totalitarismus" lauten die Begriffe der Regimenlehre, die eben dies zum Ausdruck bringen. Ihr Gegenpol ist der auf Grundrechte und institutionelle Mechanismen der Machtkontrolle gegründete Verfassungsstaat, der Individuen und soziale Gruppen wirksam vor Übergriffen des Staates und anderer Bürger schützt. Der Begriff des politischen Extremismus hat sich nicht zufällig auf dem Boden konstitutioneller Regime entwickelt, setzt das Bild von den Extremen und der politischen Mitte doch die Existenz eines sich halbwegs offen artikulierenden Spektrums politischer Strömungen voraus. Je weiter sich politische Kräfte von der Mäßigung verkörpernden Mitte entfernen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß ihnen grundlegende Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates aus dem Blick geraten oder gar als bekämpfenswert erscheinen. Extremistische Bewegungen stellen die Grundlagen konstitutioneller Demokratien in Frage und münden, wenn sie an die Macht gelangen, in Diktaturen unterschiedlicher ideologischer Couleur. Die deutsche Geschichte ist reich an Erfahrungen mit extremistischen Kräften. Allein im 20. Jahrhundert hat das Land in der europäischen Mitte die Machtübernahme einer rechts- (Nationalsozialisten 1933) und einer linksextremen (Kommunisten in der Sowjetischen Besatzungszone nach 1945) Bewegung erlebt. Schon aus diesem historischen Hintergrund erklärt sich die Aufmerksamkeit, die dem Phänomen des politischen Extremismus von der Gründung der zweiten deutschen Demokratie an in der Öffentlichkeit zuteil geworden ist. Daß der neugebildete Verfassungsstaat im westlichen Deutschland in vierzig Jahren seines Bestehens keine existenzgefährdende Krise zu bewältigen haben

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Einleitung

würde, konnte 1949 niemand voraussehen. Weit in die sechziger Jahre hinein stieß Fritz Rene Allemanns Diktum "Bonn ist nicht Weimar" auf mehr skeptische als zustimmende Reaktionen. Unter dem Eindruck periodischer Resonanzgewinne der extremen Rechten und Linken (SRP und KPD Anfang der fünfziger Jahre, NPD, K-Gruppen und Terrorismus seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre) waren besorgte Beobachter immer wieder geneigt, die sich vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders durchsetzende Lesart von der success story im westlichen Deutschland in Frage zu stellen. Dies ist auch nach der unverhofften Vereinigung der beiden deutschen Staaten wieder der Fall. Angesichts der Renaissance der extremen Rechten werden erneut die Schatten von Weimar beschworen. Vor allem ausländische Beobachter fragen besorgt, ob das Land im Herzen Europas, in dem sich der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus als so folgenreich erwiesen hat, durch die Annäherung seiner geopolitischen Situation an diejenige vor 1945 veranlaßt werden könnte, sich nun wieder politischen Traditionen zuzuwenden, die Deutschland und Europa schon einmal in eine beispiellose historische Katastrophe geführt haben. Aber auch besonnene Kommentatoren der politischen Ereignisse kommen um die Feststellung wachsender extremistischer Potentiale nicht umhin. Dies betrifft weniger die extreme Linke als die extreme Rechte. Zwar besteht mit der SED-Nachfolgepartei PDS vor allem in den neuen Bundesländern nach wie vor eine noch immer weit über 100.000 Mitglieder umfassende politische Kraft, die sich auf geistige Väter wie Marx und Lenin beruft. Aber der Zusammenbruch des realen Sozialismus in der DDR hat die politischen Kräfte der - ehedem an Moskau und Ostberlin orientierten - linksextremen Orthodoxie schrumpfen lassen. Dagegen verbuchen rechtsextreme und nationalpopulistische Protestparteien seit Mitte der achtziger Jahre wachsende Stimmenanteile bei Wahlen. Der Einzug einer Partei rechts von der Union in den Deutschen Bundestag ist in den Bereich des Möglichen gerückt. Zugleich verzeichnet das vereinte Deutschland in den letzten Jahren eine beispiellose Welle ausländerfeindlicher Gewalt, die von Gruppen jugendlicher Fanatiker mit vielfach rechtsextremem Hintergrund getragen wird. Die starke Beachtung, die die Medienöffentlichkeitjugendlichen Neonationalsozialisten und Skinheads zu Recht zuwendet, verdeckt ein weiterhin hohes Gewaltniveau auf der extremen Linken, wo vor allem die Gruppen der "Autonomen" die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden herausfordern. Besonders in den neuen Bundesländern, wo der Zusammenbruch der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnung einen Berg an Problemen aufgehäuft hat, finden rechts- und linksextreme Gewalttäter ein günstiges Resonanzfeld. So ist das Thema politischer Extremismus heute wieder von beklemmender Aktualität. Mit einer Ausnahme (Klaus Motschmann) gehen die Beiträge des Bandes auf eine Tagung zurück, die von der Fachgruppe Politikwissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung im November 1992 an der Universität Bayreuth

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Einleitung

veranstaltet wurde. Sowohl Praktiker des Verfassungsschutzes als auch Wissenschaftler kamen zu Wort. Bei der Auswahl der Themen wurde eine aktualistische Schwerpunktbildung bewußt vermieden. Im Gegensatz zu einer Vielzahl öffentlicher Veranstaltungen, die in den letzten Jahren ausschließlich der extremen Rechten gewidmet waren, sollte die ganze Breite antikonstitutioneller und antidemokratischer Strömungen erfaßt werden. Der Reigen der Beiträge setzt mit dem für die Bundesrepublik Deutschland spezifischen Verfassungskonzept der "streitbaren Demokratie" ein, durchläuft das Spektrum der politischen Extreme von rechts nach links und findet mit einer Analyse zum Ausländerextremismus seinen Abschluß. Bayreuth, im März 1994

Der Herausgeber

Eckhard J esse

STREITBARE DEMOKRATIE IN VERGANGENHEIT, GEGENWART UND ZUKUNFT Eine umstrittene Konzeption zwischen Kontinuität und Wandel I. Einführende Überlegungen

Der demokratische Verfassungsstaat ist ein großes Experiment, ein "Experiment der Freiheit" . 1 Zur Freiheit gehört auch ihr Mißbrauch. Dem will die Konzeption der streitbaren Demokratie - gleichsam ein "Experiment im Experiment" - entgegentreten. Auf diese Weise soll der demokratische Verfassungsstaat, "die erfolgreichste Institutionalisierung politischer Freiheit in der Geschichte der Menschheit, die wir kennen"2 , geschützt werden. Die Konzeption der streitbaren Demokratie ist höchst umstritten, weil die Auffassung vielfach dominiert, daß der demokratische Verfassungsstaat nicht durch Verbote oder durch "Feind"-Bestimmungen in den Willensbildungsprozeß politischer Kontrahenten eingreifen darf. Die streitbare Demokratie sieht jedoch Schutzvorkehrungen vor, die keineswegs erst bei gewaltsamen Verstößen gegen die demokratische Ordnung einsetzen. Sie reagiert auf den politischen Extremismus von links und rechts bereits im Vorfeld. Der folgende Beitrag, der sich fast ausschließlich auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik bezieht, gibt nach einführenden Bemerkungen (Kapitel I) zunächst einen knappen Überblick zur Entstehung des Konzepts der streitbaren Demokratie (Kapitel II). Anschließend geht es darum, verschiedene Varianten des Demokratieschutzes vorzustellen (Kapitel III). Sie bilden das Raster für die Einordnung der streitbaren Demokratie in der Bundesrepublik - und zwar in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft (Kapitel IV- VI). Welche Form der streitbaren Demokratie dominierte, dominiert und wird vermutlich dominieren? Natürlich läßt sich bei dieser tour d'horizon der jeweilige Verlauf nicht detailliert nachzeichnen. Knotenpunkte der Entwicklung stehen im Vordergrund. So soll die Kontinuität und der Wandel der streitbaren Demokratie vorgestellt 1 V gl. Peter Graf Kielmansegg, Das Experiment der Freiheit. Zur gegenwärtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart 1988. 2 Ebd., S. 43.

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Eckhard Jesse

werden, ohne immer ausreichend die Unterschiede zwischen den Positionen (staatlichen und intellektuellen etwa) zur Sprache zu bringen. Die Schlußbetrachtung (Kapitel VII) präsentiert vor allem in Form medizinischer Metaphern eine Zusammenfassung der stark emotionsbesetzten Materie. Die deskriptive und die präskriptive Sichtweise steht gleichermaßen im Vordergrund: Wie entwickelte sich die streitbare Demokratie bisher, wie hätte sie sich entwickeln sollen? Es wird also nicht nur auf die empirische, sondern auch auf die normative Ebene abgehoben. Die Abhandlung über die streitbare Demokratie gestattet zugleich indirekt auch Aussagen über den politischen Extremismus. Cum grano salis gilt: Wenn dieser nur ein Schattendasein fristet, so mag das auch an der Funktionsfähigkeit jener liegen. 1/. Die Entstehung der streitbaren Demokratie

Vor 60 Jahren, am 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler von dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, dessen Kamarilla ihm den "Trommler" einflüsterte, zum Reichskanzler ernannt -legal; am 28. Februar, einen Tag nach dem Reichstagsbrand des Holländers Marinus van der Lubbe, erließ der Reichstagspräsident die berühmt-berüchtigte Notverordnung "zum Schutz von Volk und Staat", die wichtige Artikel der Weimarer Reichsverfassung wie das Briefgeheimnis und das Recht der freien Meinungsäußerung einschließlich der Pressefreiheit "bis auf weiteres" außer Kraft setzte -legal; am 5. März erreichte die NSDAP bei allerdings nur noch als bedingt frei zu bezeichnenden Reichstagswahlen in einer aufgewühlten Atmosphäre 43,9 Prozent der Stimmen und mit den Deutschnationalen Alfred Hugenbergs die absolute Mehrheit, so daß sie die eigene Herrschaft ausbauen konnte - gleichsam legal; am 23. März verabschiedete der Reichstag in der Kroll-Oper das "Gesetz zur Behebung von Not und Volk" mit den Stimmen aller Parteien (bis auf jene der opponierenden SPD wie derbereits ausgeschalteten KPD) und entmachtete sich mit diesem "Ermächtigungsgesetz" selbst - gleichsam legal: Stationen auf dem Weg in die NS-Diktatur, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mit seinen bedrückenden Folgen mündete -weit über das Jahr 1945 hinaus, bis auf den heutigen Tag andauernd. Was legal oder doch überwiegend legal zu sein schien, war offenkundig nicht legitim. Die Lehre der Nationalsozialisten aus dem gescheiterten Putschversuch von 1923 bestand in ihrer Legalitätstaktik, wenngleich der parlamentarische Weg auch durch außerparlamentarische, die Gesetze nicht beachtende Aktionen (man denke an zahlreiche Übergriffe insbesondere der SA) begleitet wurde.3 Am 25. 3 Vgl. zu den Kämpfen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten: Jochen von Lang, Und willst du nicht mein Bruder sein ... Der Terror in der Weimarer Republik, Wien/Darmstadt 1989; siehe jetzt: Christian Striefter, Im Haß vereint. Nationalsozialisten und Kommunisten im Kampf um die Macht, Berlin 1993.

Streitbare Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

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September 1930 hatte Hitler, wenige Tage nach dem überraschenden Wahlerfolg bei der Reichstagswahl mit 18,3 Prozent der Stimmen, vor dem Leipziger Reichsgericht seinen berühmten "Legalitätseid" abgelegt. Die NSDAP werde nur mit "verfassungsmäßigen Mitteln" dafür arbeiten, "den Staat in die Form zu bringen, die unseren Ideen entspricht". Hitler ließ keinen Zweifel über die "Form" aufkommen: "Wenn die Bewegung in ihrem legalen Kampf siegt, wird ein deutscher Staatsgerichtshof kommen, und der November von 1918 wird seine Sühne finden, und es werden auch Köpfe rollen."4 Und 1932 hatte Goebbels in seinem Tagebuch notiert: "Haben wir die Macht, dann werden wir sie nie wieder aufgeben, es sei denn, man trägt uns als Leichen aus unseren Ämtern heraus." 5 So geschah es denn auch. Der Erfolg rechter antidemokratischer Bewegungen in der Zwischenkriegszeit beruhte auf vielen Gründen- politischen, wirtschaftlichen, sozialen. Er hing auch damit zusammen, daß die Demokratie des Weimarer Musters nicht angemessen auf diktatorische Bestrebungen zu reagieren wußte. Deren Verfechter hatten nämlich ihre Taktiken und Strategien vielfach geändert: Die Verfassung sollte legal, unter Umgehung des direkten Gesetzesbruchs, aus den Angeln gehoben werden. Ein seinerzeit weitverbreitetes formales Demokratieverständnis ließ es nicht zu, der propagandistischen Unterminierung der demokratischen Ordnung eine geistig-politische Auseinandersetzung im demokratischen Sinne entgegenzusetzen. So äußerte der SPD-Minister Eduard David bei den Verfassungsberatungen im Jahre 1919 gegenüber den Rechtsparteien: "[Die Verfassung ... ] gibt Ihnen die Möglichkeit, auf legalem Wege die Umgestaltung in Ihrem Sinne zu erreichen, vorausgesetzt, daß Sie die erforderliche Mehrheit des Volkes für Ihre Anschauungen gewinnen. Damit entfällt jede Notwendigkeit politischer Gewaltmethoden [... ]. Die Bahn ist frei für jede gesetzlich friedliche Entwicklung. Das ist der Hauptwert einer echten Demokratie. " 6 So entfiel in der "echten Demokratie" tatsächlich "jede Notwendigkeit politischer Gewaltmethoden" für den politischen Extremismus, aber keineswegs, was damals viele übersahen, das Erfordernis einer effektiven Sicherung der Verfassung und ihrer tragenden Elemente. Die von liberalem Ideengut getragene Vision eines free market place of ideas erstarrte zum demokratischen Dogma. Was nach David den Schutz der Demokratie verbürgen sollte, unterminierte ihn gerade. Die Möglichkeit der legalen Beseitigung der Demokratie war für die Feinde des "Systems" eine Verlockung. Der Verzicht auf Gewaltanwendung bedeutete - wie wir inzwischen aus leidvoller Erfahrung 4 Adolf Hitler vor dem Leipziger Reichsgericht, zitiert nach Karlheinz Dederke, Reich und Republik. Deutschland 1917-1933, 5. Auft., Stuttgart 1983, S. 222. 5 Joseph Goebbels, Tagebücher 1924-1945, hrsg. von Ralf Georg Reuth, Bd. 2: 19301934, München/Zürich. 6 Zitiert nach Gotthard Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922-1930, Tübingen 1963, S. 10.

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wissen sichten.

Eckhard Jesse

nicht notwendigerweise eine Preisgabe der politischen Umsturzab-

Es ist vielleicht charakteristisch, daß ausgerechnet zwei deutsche Emigranten - Karl Loewenstein und Karl Mannheim - als erste Konzepte zur streitbaren Demokratie ersonnen haben. Das Schicksal der Weimarer Republik mußte die Frage provozieren, ob die Demokratie nicht Mechanismen zum eigenen Schutz vorsehen kann und soll. Karl Loewenstein entwickelte während der Emigration in einer Reihe von Abhandlungen ein systematisches Konzept zum Schutz des demokratischen Staates. Angesichts totalitärer Ideologien wie Bewegungen müsse die Demokratie "militant" reagieren und jenen, die sie zu beseitigen trachten, die Rechte beschneiden, z. B. durch Partei- oder Vereinigungsverbote.? Vor allem verlangte Loewenstein von den demokratischen Kräften ein festes Zusammenstehen. Dem demokratischen System warf er vor, der extremistischen Technik nicht gewachsen gewesen zu sein. Bezeichnenderweise verstand Loewenstein die Schutzmechanismen als eine Art Krisenkonzept, das nach dem Zweiten Weltkrieg seine Gültigkeit eingebüßt habe. 8 Karl Mannheim führte die großen Umwälzungen auf den fortschreitenden Wandel der Sozialtechniken zmiick, welche die Zentralisation und die Planung förderten. 9 Dem von ihm kritisierten Laissez-faire-Liberalismus warf Mannheim vor, Toleranz mit Neutralität verwechselt zu haben. "Um zu überleben, muß unsere Demokratie eine streitbare Demokratie werden." 10 Streitbare Demokratie in diesem Sinne meint die Verbindung einer sozialen Neugestaltung mit den Werten wie Freiheit und Menschenwürde als den Grundlagen einer sozialen Ordnung. Die Chance für die von ihm etwas vage beschriebene streitbare Demokratie sah er in der Diskreditierung des Laissez-faire-Staates, des Faschismus und des Kommunismus. Zwischen den beiden Positionen besteht insofern ein interessanter Kontrast, als Loewenstein die streitbare Demokratie offenbar "nur" als eine Art situationsorientiertes Krisenkonzept interpretierte, während sie für Mannheim gleichsam 7 Vgl. Karl Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights (I und II), in: Ders., American Political Science Review 31 ( 1937), S. 417-432, S. 638-658; Legislative Control of Political Extremism (I und II), in: Columbia Law Review 38 (1938), S. 591622, S. 725-774. Später hieß es bei ihm: "Mehr als zwanzig Jahre hat der Verfasser einen großen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit dieser kritischen Frage gewidmet." Ders., Verfassungslehre, 3. Auft., Tübingen 1975 (1959), S. 349, Anm. 15. 8 Ausführlicher zu Loewensteins Konzept der "militant democracy" Gregor P. Boventer, Grenzen politischer Freiheit im demokratischen Staat. Das Konzept der streitbaren Demokratie in einem internationalen Vergleich, Berlin 1985, S. 59-82. Allerdings wird Loewensteins spätere Abkehr von wichtigen Prinzipien unzureichend erfaßt. 9 V gl. Kar! Mannheim, Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen (1941 ), Zürich u. a. 1951. 10 Ebd., S. 17.

Streitbare Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

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die Folge einer irreversiblen Entwicklung war. Zudem trägt Loewensteins Konzept ausgesprochen defensiv-repressiven Charakter, dagegen ist das von Mannheim offensiver und stärker wertorientiert Will dieser die Demokratie offensiv (auch im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit) festigen, so sucht Loewenstein deren Gegner - durch Ausschaltung von der politischen Willensbildung - zu schwächen. Beide waren sich jedoch darin einig, das eigene Konzept könnte durch unsachgemäße Anwendung diskreditiert werden. WeM auch direkte Verbindungslinien zwischen den Gedankengängen Loewensteins wie Mannheims und denen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates nicht nachzuweisen sind, so waren die" Väter des Grundgesetzes" von dem Untergang der Weimarer Republik gleichwohl geprägt- "geläutert" oder "traumatisiert", je nach Perspektive. Die Orientierung an der Vergangenheit überlagerte alle anderen Überlegungen. 11 Der in der Weimarer Republik praktizierten Legalitätstaktik von Extremisten wollte der Parlamentarische Rat vorbeugen. Die entsprechenden Schutzbestimmungen im Grundgesetz - insbesondere "Ewigkeitsklausel" von Art. 79 Abs. 3, Vereinigungsverbot (Art. 9 Abs. 2), Parteienverhot (Art. 21 Abs. 2), Grundrechtswirkung (Art. 18) 12 - sind nur vordiesem Hintergrund zu sehen. Sie firmieren als Konzeption der streitbaren Demokratie.

//1. Die Varianten des Demokratieschutzes

Mit der Berufung auf die streitbare Demokratie ist aber noch wenig über die Art des Schutzes ausgesetzt. Wie soll sich die streitbare Demokratie gegenüber dem politischen Extremismus verhalten? Der politische Extremismus ist der Widerpart des demokratischen Verfassungsstaates. 13 Mit dem Rechtsextremismus ist jene antidemokratische Variante gemeint, die im Gegensatz zum Linksextremismus das Ethos der fundamentalen Gleichheit der Menschen in Frage stellt (direkter oder indirekter Rassismus) und die eigene Nation als das Nonplusultra betrachtet (Chauvinismus). Rechtsextremistische Strömungen köMen sich in ganz unterschiedlichen Bewegungen und Ideologien zeigen, z. B. mehr die nationalrevolutionäre Komponente betonen oder eher die völkische. Der Linksextremismus hingegen verabsolutiert das Gleichheitspostulat und ignoriert damit 11 Vgl. Friedrich Kar! Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, 2. Aufl., Tübingen 1962 ( 1960). 12 V gl. beispielsweise Johannes Lameyer, Streitbare Demokratie. Eine verfassungshermeneutische Untersuchung, Berlin 1978. 13 Vgl. für Einzelheiten Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989.

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Eckhard Jesse

die Idee der individuellen Freiheit. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist für nahezu alle linksextremistischen Bestrebungen ein einigendes Band. Im übrigen divergieren linksextreme Konzepte, denkt man an leninistische, stalinistische, trotzkistische, maoistische, anarchistische und "autonome" Vorstellungen. Die streitbare Demokratie, wie im Grundgesetz verankert, ist jene Form der Demokratie, die sich durch den dreifachen Zusammenklang von Wertgebundenheit, Abwehrbereitschaft und Prävention auszeichnet. 14 Diese Konzeption will die Hilflosigkeit der relativistisch geprägten Demokratie des Weimarer Typus überwinden. Die streitbare Demokratie des Grundgesetzes basiert auf der Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Nicht nur Methoden, sondern auch Ziele können verfassungsfeindlich sein. Nach der Intensität und nach der Richtung des Vorgehens lassen sich verschiedene Varianten streitbarer Deutschlandkonzeptionen unterscheiden. Die wertrelativistische Variante (gleiche Freiheit den Feinden der Freiheit) geht davon aus, daß der Staat erst beim Überschreiten der Strafgesetze gegen Extremisten eingreifen darf. Zwar wahrt man so zunächst Liberalität, nährt unter Umständen aber den Aufstieg des politischen Extremismus. Die autoritäre Variante (keine Freiheit denFeindender Freiheit) hingegen will allen extremistischen Bestrebungen unnachsichtig entgegentreten- ohne Rücksicht auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Diesem jakobinischen Verständnis von Demokratie wohnt offenkundig die Gefahr vielfältiger Überreaktion inne. Die antikommunistische Variante (keine Freiheit den Linken) besteht darin, die ausschließlich oder doch zumindest die vorrangige Gefahr für den demokratischen Verfassungsstaat nur auf der linken Seite des politischen Spektrums zu verorten. Diese Position muß sich den Vorwurf der Einäugigkeit gefallen lassen. Die antifaschistische Variante (keine Freiheit den Rechten) wittert lediglich bei der politischen Rechten Demokratiefeindschaft, als sei jeder Antidemokrat ein Rechtsextremist. Hier gilt - mit umgekehrtem Vorzeichen - der gleiche Einwand wie bei der antikommunistischen Variante. Die liberal-demokratische Variante (keine Freiheit zur Abschaffung der Freiheit) meidet einerseits die Extrempositionen wertrelativistisch I autoritär, andererseits ist sie antiextremistisch fundiert, indem sie die antikommunistische und die antifaschistische Ausrichtung gleichermaßen als einlinig betrachtet. Die ersten vier Varianten weisen augenscheinlich alle beträchtlichen Defizite auf. Das fünfte Modell meidet die Einseitigkeiten der anderen. Wer die Instrumente der streitbaren Demokratie restriktiv angewendet wissen will, öffnet kei14 Vgl. demnächst Eckhard Jesse, Streitbare Demokratie und "Berufsverbote" , erscheint Bonn 1994; Hans-Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und innere Sicherheit. Grundlagen, Praxis und Kritik, Opladen 1991.

Streitbare Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

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neswegs die Büchse der Pandora. Allerdings fangen damit- zugegeben- erst die Schwierigkeiten an. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail: Wie lassen sich exakte Grenzlinien zwischen den verschiedenen Varianten ziehen? WaiUl soll der demokratische Staat offensiv reagieren, waiUl Zurückhaltung wahren? Wo fängt die Einseitigkeit an? Ist es wirklich notwendig, welll1 gegen die eine Variante des politischen Extremismus vorgegangen wird, zugleich auch die andere zu erwähnen? Kann der Staat seine "Definitionsmacht" mißbrauchen? Welche staatlichen Schutzvorkehrungen existieren? Ein Blick auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der streitbaren Demokratie kann Fragen dieser Art nicht ansatzweise zu beantworten suchen.

N. Streitbare Demokratie in der Vergangenheit

Wie wurde von den Schutzbestimmungen des Grundgesetzes in der Vergangenheit Gebrauch gemacht? 15 Hat sich die gleichsam kopernikanische Wende des Verfassunggebers -von einer wertrelativistischen zu einer wertgebundenen Ordnung - bewährt? Gibt es Unterschiede in den Reaktionen zwischen dem Staat und demmainstreamder Intellektuellen? Die im Kern berechtigte Befürchtung des Staatsrechtiers Werner Weber aus dem Jahre 1949 ist nicht Wirklichkeit geworden: Er vermißte die elastische Kraft der Weimarer Verfassung. Sie sei "durch ein düiUlwandiges Beziehungssystem von gläserner Sprödigkeit" 16 ersetzt worden. In der Tat wäre das Konzept in der von den Verfassungsvätern ins Auge gefaßten Form wohl nicht durchzuhalten gewesen. Einerseits hat die zunehmende, so nicht vorgesehene Orientierung an Gesichtspunkten politischer Opportunität der von Weber beschworenen Gefahr vorgebeugt. Auf diese Weise konnte die zweite deutsche Demokratie flexibel gegenüber extremistischen Herausforderungen reagieren. Die Schutzvorkehrungen, die den Verfassungsstaat in der Bundesrepublik Deutschland "diktaturfest" machen sollten, wurden nicht exzessiv praktiziert. Andererseits vollzog sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ein tiefgreifender Wandel der politischen Kultur, der den demokratischen Verfassungsstaat durch Zunahme der Liberalität teils gekräftigt, teils aber auch wieder-infolge marxistischer Grundsatzkritik- entkräftet hat. Es handelt sich um einen dialektischen Prozeß. Die zweite Entwicklung wäre ohne die erste nicht denkbar gewesen. 15 Vgl. zusammenfassend Uwe Backes I Eckhard Jesse, Extremismus und streitbare Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Vereinigung, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 2, Bonn 1990, S. 7-36. 16 Wemer Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz (1949) in: Ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Auft., Berlin 1970 (1951), S. 9.

2 Löw (Hrsg.)

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Eckhard Jesse

In denfünfzigerund auch noch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre dominierte die autoritäre Variante der Demokratie: Man wähnte sich in ständiger Alarmstimmung und sprach notorisch oft Verbote aus. Bis zum Jahre 1964 wurden insgesamt 64 Vereinigungen verboten - 40 links-, 24 rechtsextremistische. Angesichts der Atmosphäre des Kalten Krieges herrschte anfangs zuweilen ein antikommunistisches Klima vor 17 , das bis in die Reihen der Justiz reichte, freilich nicht den Rechtsextremismus begünstigte. Das Institut des Parteiverbots kam zweimal zur Geltung: Im Jahre 1952 verbot das Bundesverfassungsgericht die Sozialistische Reichspartei, im Jahre 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands. Durch diese Verbote ist ein Exempel statuiert worden. So ließ sich zeigen, daß die junge Demokratie nicht gewillt war, den Weg der Weimarer Republik einzuschlagen. Zweimal wurde sogar versucht, zwei Personen aus dem rechtsextremen Lager die Grundrechte zu entziehen. Doch das Bundesverfassungsgericht gab nach mehrjähriger Befassung den Anträgen der Bundesregierung gegen Otto Ernst Remer (195211960) und Gerhard Frey (1969/1974) nicht statt. Beide Personen stellten nach Meinung des Gerichts keine Gefahr für die freiheitliche Ordnung dar. In den achtziger Jahren kamen Verbote gegen inländische Vereinigungen nur vereinzelt vor- allenfalls gegen Organisationen der extremen Rechten: 1980 gegen die "Wehrsportgruppe Hoffmann", 1982 gegen die von Friedhelm Busse organisierte "Volkssozialistische Bewegung I Partei der Arbeit", 1983 gegen die von Michael Kühnen geleitete "Aktionsfront Nationaler Sozialisten I Nationale Aktivisten" und 1989 gegen die "Nationale Sammlung", eine weitere Gründung Kühnens. Das Opportunitätsprinzip hatte längst das Legalitätsprinzip abgelöst. Zum Teil wurde der Demokratieschutz nur äußerst lax gehandhabt, zumal nach links. Der vielzitierte und -befehdete "Radialenerlaß" aus dem Jahr 1972 steht der These nicht entgegen, bestätigt sie vielmehr. Der Extremistenbeschluß vom 28. Januar 1972 erinnerte bloß an die bestehenden Rechtsvorschriften, wonach sich jeder, der in den öffentlichen Dienst strebt, zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu bekennen hat. Neu war lediglich die Einführung der sogenannten "Regelanfrage": Die Einstellungsbehörden fragten beim Verfassungsschutz an, ob gerichtsverwertbare verfassungsfeindliche Aktivitäten gegen den Beamtenbewerber vorlägen. Kritiker bemängelten, dieser Beschluß habe "Duckmäusertum" und "Gesinnungsschnüffelei" gefördert. Das mag- in gewissen Grenzen jedenfalls- so sein, beruht vielfach aber weniger auf repressiven staatlichen Reaktionen als auf der überbordenden Kritik. Die Geschichte des "Radikalenerlasses" ist eine Geschichte seiner beständigen Rücknahrne. 18 Das Beispiel zeigt 17 Vgl. Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Frankfurt a.M. 1968. 18 V gl. für Einzelheiten demnächst Eckhard Jesse (Anm. 14); Gerard Braunthal, Politische Loyalität und Öffentlicher Dienst. Der "Radikalenerlaß" von 1971 und die Folgen, Marburg 1992.

Streitbare Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

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die Verschiebung des politischen Koordinatensystems, wie sie sich in den siebziger Jahren vollzog. Die politische Linke stand beim Komplex "Extremismus und streitbare Demokratie" vor einem Dilemma. Offenkundig war sie es, die am schärfsten dem politischen Rechtsextremismus widerstritt. Zugleich jedoch verstand sie sich vielfach als Gegner der streitbaren Demokratie. Wer sich gegen eine Ausgrenzung von linken Positionen aussprach, betrachtete zugleich eine Abgrenzung von rechten Auffassungen als bare Selbstverständlichkeit. Es war aber schlecht möglich, einerseits die extreme Rechte mit den Instrumentarien der streitbaren Demokratie bekämpfen zu wollen, andererseits diese als Ausfluß staatlicher Überreaktion, wenn nicht gar Willkür, strikt abzulehnen. Resümee: Die streitbare Demokratie in der Vergangenheit war- in dieser Abfolge - eine autoritäre und eine liberal-demokratische Variante. Spielten antikommunistische Elemente anfangs eine gewisse Rolle, so später antifaschistische. In den siebziger und achtziger Jahren machte sich stärker Liberalität nach links bemerkbar. Wertrelativistische Demokratievorstellungen existierten in der Vergangenheit praktisch nicht.

V. Streitbare Demokratie in der Gegenwart

Das Verhalten gegenüber dem Links- und Rechtsextremismus läßt heute nach dem Zusammenbruch des Kommunismus - vielfach zu wünschen übrig, denkt man an den Komplex der streitbaren Demokratie. Sie gilt keineswegs mehr als so selbstverständlich, wie dies noch die "Verfassungsväter" empfunden hatten. Die prinzipielle Perspektive, die sich von Augenblickserwähnungen löst, kommt zu kurz. Nur so kann man erklären, daß die aus der SED hervorgegangene "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) bisher nicht für extremistisch erklärt worden ist, obwohl sie sich in ihrem Programm u. a. auf Lenin beruft, eine "Kommunistische Plattform" in ihren Reihen duldet, vielfach eng mit anderen linksextremen Gruppierungen zusammenarbeitet und von ihrer Mitgliederschaft her praktisch den "harten Kern" der SED darstellt, wiewohl gravierende- programmatische und organisatorische- Veränderungen gegenüber früher durchaus einzuräumen sind. 19 Und die Entscheidung der Innenminister der Länder, die Partei der "Republikaner" (REP) in dem Moment als rechtsextremistisch zu deklarieren (und damit die Voraussetzung für eine Observation zu schaffen), in dem große 19 Zur PDS vgl. Patrick Moreau, PDS. Anatomie einer postkommunistischen Partei, Bonn/Berlin 1992; siehe auch, diese Partei positiver bewertend, Heinrich Bortfeld, Von der SED zur PDS. Wandlung zur Demokratie, Bonn/Berlin 1992.

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Teile der Öffentlichkeit von den politisch Verantwortlichen nach den Ausschreitungen einer rechtsextremistischen Subkultur Taten sehen wollten, wirft kein günstiges Licht auf die Glaubwürdigkeit von Politikern. Entweder war die Observation schon lange überfällig oder sie war eine Überreaktion auf Hoyerswerda, Rostock, Mölln. Terium non datur. Schließlich lagen gegenüber den REP augenscheinlich keine neuen Erkenntnisse vor. In der Tat sind alle Formen des Linksextremismus in der Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch des "realen Sozialismus" in eine Krise geraten. 20 Und es stimmt auch, daß verschiedene Ausprägungen des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik gegenwärtig auf einem deutlich höheren Niveau als in den meisten Jahren zuvor rangieren. 21 Doch reicht das schon aus, um mit zweierlei Maß zu messen? Zwei Maximen sollten unverbrüchlich gelten: 1. Die Frage nach der Verfassungsfeindlichkeit einer Partei läßt keinen Ermessensspielraum zu. 2. Jede Partei, die so bezeichnet wird, muß bei den Gerichten das Recht auf Prüfung haben, ob eine solche Einstufung zu Recht besteht. Die erste Vorkehrung stellt ein Gebot der Sicherheit dar, die zweite ein Gebot der Liberalität. Häufig wird der heutige Rechtsextremismus in Deutschland - Reaktion auf die drückende Last der Vergangenheit - mit dem (Neo-)Nationalsozialismus gleichgesetzt. Auf diese Weise verharmlost und dämonisiert man den Rechtsextremismus zugleich. Schließlich distanzieren sich die meisten rechtsextremistischen Gruppierungen deutlich vom Nationalsozialismus. Und viele derer, die mit nationalsozialistischen Symbolen hantieren, sind Karikaturen nationalsozialistischer Protagonisten, unfreiwillig komisch in ihrer Nachahmungssucht Diese sozialpsychologisch verständliche Fixierung der öffentlichen Meinung auf den Nationalsozialismus macht die Ursachenforschung schwierig und verstellt die geeignete Therapie. 22 So lassen die öffentlichen Reaktionen auf die gewalttätigen Provokationen einer rechtsextremen Subkultur häufig zu wünschen übrig. Kritikwürdig am Verhalten der Politiker erscheinen manche hektischen, sich nicht durch sonderliche Glaubwürdigkeit auszeichnenden Reaktionen. 23 War es wirklich sinnvoll, im Herbst 1992 drei eindeutig rechtsextremistische Organisationen durch den Bundesinnenminister verbieten zu lassen - die "Deutsche Alternative", die "Nationalistische Front" sowie die "Nationale Offensive"? Gewiß sind diese Verbotsmaßnahmen vor dem Hintergrund der Konzeption der 20 V gl. zusammenfassend Uwe Backes I Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufi., Berlin 1993, insbes. S. 125- 196. 21 Vgl. zusammenfassend ebd., insbes. S. 54-125. 22 Siehe dagegen jetzt die differenzierte Sicht bei Arrnin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus. Eine kritische Bestandsaufnahme nach der Wiedervereinigung, Bonn 1993. 23 Vgl. zahlreiche Beispiele bei Eckhard Jesse, Rechtsextreme Gewalt. Wie man mit politischer Gewalt umgeht - und wie man mit ihr umgehen sollte, in: Der Bürger im Staat 43 (1993), s. 123-127.

Streitbare Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

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streitbaren Demokratie verfassungsgemäß. Für ein Verbot müssen keine Verstöße gegen die Strafgesetze vorliegen. Kann so nicht der Eindruck entstehen, die übrigen rechtsextremistischen Organisationen wie etwa die Wiking-Jugend seien demokratisch, jedenfalls weniger schlimm? Und erst recht fragwürdig erscheint der Antrag, gemäß Art. 18 GG zwei Rechtsextremisten die Grundrechte zu entziehen- ein "Musterbeispiel symbolischer Sicherheitspolitik". 24 Thomas Diene! und Heinz Reisz sind in der Wolle gefärbte Neonationalsozialisten. Doch mußte man ihnen den Gefallen tun, einen solchen Antrag zu stellen? Wertet man sie damit nicht auf und die streitbare Demokratie in ihrer argumentativen Ausrichtung ab? Die Instrumente sind bei häufiger Anwendung nun einmal schnell "verbraucht". In gewisser Weise verhält man sich gegenüber dem Rechtsextremismus heutzutage so wie gegenüber dem Extremismus in den fünfziger Jahren. Als problematisch haben auch andere Reaktionen auf jüngste fremdenfeindliche Umtriebe zu gelten: Immer wieder war und ist warnend zu vernehmen, dadurch könnte die Zahl der Aufträge an die deutsche Wirtschaft zurückgehen und das Ansehen der Deutschen im Ausland in Mitleidenschaft geraten. Wäre denn Gewalt gegen Fremde ohne Entrüstung des Auslandes weniger schlimm? Dieses permanente Schielen nach draußen ist Ausdruck einer wenig selbstbewußten Identität, zeigt sich bei anderer Gelegenheit ebenso. Das Verbot von Michael Kühnens Vereinigung "Nationale Sammlung" (N.S.) im Jahre 1989 wurde- eigentümlich genug - auch mit dem Blick auf das Ausland begründet: Die N.S. "schädigt mit ihrem öffentlichen Bekenntnis zum Neonazismus das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland. " 25 Im Vergleich zur Vergangenheit stößt die präventive Vorgehensweise des Verfassungsschutzes heutzutage auf mannigfache Kritik. Vielen leuchtet die Vereinbarkeit mit demokratischen Grundsätzen nicht ein. So wird sogar die Abschaffung der Institution des Verfassungsschutzes gefordert. Er habe nach dem Ende des Ost-West-Konflikts keine Existenzberechtigung mehr. Freilich gilt das stärker für das intellektuelle Milieu als für die praktische Politik. Der Wandel der politischen Kultur - spielten in den fünfziger Jahren stärker obrigkeitsstaatliche Elemente eine Rolle, so hat sich seit den siebziger Jahren eine Änderung in Richtung Partizipation entwickelt26 - konnte nicht ohne Auswirkungen auf den Be24 Horst Meeier, Republikschutz- aber wie? "Innere Sicherheit" und fremdenfeindliche Gewalt, in: Claus Leggewie, Druck von rechts. Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1993, S. 130-142. 25 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann verbietet rechtsextremistische Vereingiung "Nationale Sammlung", Bonn 1989, S. l. Siehe auch Armin Pfahl-Traughber, Das Verbot der "Nationalen Sammlung", in: Uwe Backes I Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 2, Bonn 1990, s. 218-227. 26 Vgl. beispielsweise David P. Conradt, Changing German Political Culture, in: Gabriel A. Almond I Sidney Verba (Hrsg.), The Civic Culture Revisited, Boston 1980, S. 212-272.

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reich der streitbaren Demokratie bleiben. Antiextremistisches Denken hat sich partiell aufgelöst, jedenfalls in vielen intellektuellen Kreisen. Durch den Zusammenbruch des Kommunismus im anderen Teil Deutschlands ist allerdings eine balanciertere Einschätzung eingetreten. Resümee: Die gegenwärtige Form des Demokratieschutzes speist sich aus antifaschistischen und liberal-demokratischen Komponenten. Hingegen spielt ein antikommunistisch und ein autoritär motivierter Schutzmechanis so gut wie keine Rolle, noch weniger als eine wertrelativistische Demokratievorstellung.

VI. Streitbare Demokratie in der Zukunft

"Die repressive, in sich gekrümmte und exklusive Toleranz der streitbaren Demokratie[ ... ] wird schwerlich die politische Verfassung des vereinten Deutschland bleiben. Die Dritte Republik kann mehr Demokratie wagen als ihre Bonner Vorgängerio und sich jenem Risiko gelassen stellen, das politische Freiheit in sich schließt."27 Diese Sätze von Claus Leggewie und Horst Meier enthalten die Feststellung und die Hoffnung zugleich, daß die streitbare Demokratie an ihr Ende kommt. Vielleicht ist diese Annahme voreilig, wenngleich Wandlungstendenzen der streitbaren Demokratie auch in einer Fortsetzung der "Bonner Republik" möglich erscheinen. Für das Zukunftsszenario bieten sich drei Möglichkeiten an: Erstens: Sollte sich das Mauerblümchendasein der extremen Rechten ändern - und einige Anzeichen deuten darauf hin - , könnte man dem Konzept der streitbaren Demokratie in seiner antiextremistischen Ausformung wieder eine stärkere Legitimation zuschreiben. Auch die desaströse Hinterlassenschaft des "real existierenden Sozialismus" dürfte Äquidistanz gegenüber dem Rechts- und Linksextremismus fördern. Beide Faktoren könnten also zu einer Revitalisierung der streitbaren Form in der antiextremistischen Variante beitragen. Zweitens: Die Renaissance rechtsextremer Bestrebungen vermag jedoch auch eine andere Entwicklung zu begünstigen: Diejenige Richtung könnte an Boden gewinnen, die die streitbare Demokratie antifaschistisch zu interpretieren sucht. So ließe sich vorstellen, daß unter dem Banner des Antifaschismus ein breites Bündnis unterschiedlicher Kräfte entsteht, die als kleinsten gemeinsamen Nenner die Ablehnung rechtsextremer Vorstellungen ansehen. Die notwendigen Lehren aus dem Zusammenbruch des Kommunismus gingen durch die Fixierung auf 27 So Claus Leggewie I Horst Meier, Die Berliner Republik als Streitbare Demokratie? Vorgezogener Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 27 (1992), S. 604 (Hervorhebung im Original).

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eine antifaschistische Interpretation verloren. Zum faktischen Verfassungsbogen gehörten danach auch Repräsentanten linksextremistischer Bestrebungen. Drittens: Das stärkere Aufkommen wertrelativistischer Demokratievorstellungen ist auch nicht ausgeschlossen. Schon heute spielen diese Positionen eine gewisse Rolle28 : Die streitbare Demokratie sei ein Kind des Kalten Krieges gewesen. Das Ende des Ost-West-Konflikts erlaube den Verzicht auf Schutzvorkehrungen. Nur die Gewaltsamkeil der Methoden rechtfertige ein Eingreifen der Behörden. Zwar ist diese Position gegen jede Doppelbödigkeil gerichtet, aber bietet ein "radikaler Pluralismus"29 nicht ein Einfallstor für diejenige Variante des politischen Extremismus, die undemokratischer Methoden entsagt, gleichwohl den Pluralismus radikal abzuschaffen sucht? Was die im Leggewie I Meier-Zitat enthaltene Hoffnung auf ein Ende der streitbaren Demokratie betrifft, so muß daran erinnert werden, daß der demokratische Verfassungsstaat den Schutz vor dem nicht gewalttätigen politischen Extremismus damit mindert. Wer diesen Standpunkt einnimmt, hat, beispielsweise, konsequenterweise auch jene in den öffentlichen Dienst zu lassen, die gegen die demokratische Ordnung Stellung beziehen, ohne dabei gegen Gesetze zu verstoßen. Resümee: Die zukünftige Form des Demokratieschutzes ist aufgrund zahlreicher Imponderabilien schwer zu prognostizieren. Es spricht vieles dafür, daß sich alle Elemente bei den tragenden gesellschaftlichen Kräften finden lassen. Stärker als die autoritäre und die antikommunistische Variante dürfte die wertrelativistische, die antifaschistische und die liberal-demokratische sein- je nach Konstellation.

VII. Schlußbetrachtung Die streitbare Demokratie ist kein Allheilmittel, sondern eine Art Palliativum. Mit Medikamenten soll man bekanntlich sorgsam umgehen, will man die richtige Wirkung erzielen. Eine Überdosis kann schädlich sein - sei es dadurch, daß eine Roßkur den Körper vergiftet, sei es dadurch, daß er sich allmählich an das Gift gewöhnt und der schleichende Ruin einsetzt. Der Schaden resultiert dann nicht so sehr aus der Krankheit als aus den gegen diese eingesetzten Mitteln. Ähnliches 28 Neben Claus Leggewie ist Horst Meier zu nennen. Vgl. ders., Parteiverbote und demokratische Republik, Berlin 1993; ders., Als die Demokratie streiten lernte. Zur Argumentationsstruktur des KPD-Urteils von 1956, in: Kritische Justiz 20 (1987), S. 460-473; ders., Verfassungsschutz auf republikanisch, in: Claus Leggewie, Die Republikaner. Ein Phantom nimmt Gestalt an, Neuausgabe, Berlin 1990, S. 170-181; ders. (Anm. 24), s. 130-141. 29 Vgl. ders., Parteiverbot und demokratische Republik. Verfassungspolitische Perspektiven eines radikalen Pluralismus, in: Merkur 43 ( 1989), S. 719-723.

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gilt für den .,Volkskörper". Wer dauernd vom scharfen Schwert des Verbots gegen Organisationen Gebrauch macht, richtet den Verfassungsstaat letztlich zugrunde, schwächt ihn und lähmt seine Widerstandskräfte. Der Freiheitsraum wird immer mehr eingeengt, und aus Angst, man könne von einem Verbot heimgesucht werden, macht sich eine Art vorauseilenden Gehorsams bemerkbar. Medikamente haben oft die unangenehme Eigenschaft, eine betäubende Wirkung zu entfalten, ohne jedoch die Ursache des Übels zu bekämpfen. Auch hier gibt es eine Parallele: Die dauernde Gewöhnung an die Anwendung rigoroser Abwehrmechanismen stumpft ab, so daß diese ihre Wirkung verfehlen. Was für die Medizin gilt, trifft auch auf die Politik zu: Patentrezepte zur Sicherung des Überlebens gibt es nicht. Eine Impfung soll einer Infektion vorbeugen, doch ist man deswegen nicht vor jeder Krankheit immun. Einerseits schützt sie vor krankheitserregenden Einflüssen von außen, andererseits kann sie unter Umständen für andere Krankheitskeime anfällig machen. Ähnliches gilt für die streitbare Demokratie, die nicht ein für allemal die .,lebende Verfassung" (Dolf Sternberger) auf eine stabile Grundlage stellt. Das Abwehrsystem, ist es nicht völlig geschwächt, mobilisiert von sich aus Gegenkräfte. Wäre es nun besser, auf das Palliativum zu verzichten? Diese Auffassung entspräche einem hohen Maß an Lebensfremdheit Auch ein gesunder Mensch hält Mittel für den Notfall im Medizinschrank bereit und sucht von Zeit zu Zeit den Arzt auf. Das verleiht ihm ebenso Sicherheit wie dem demokratischen Staat streitbarer Prägung, dem Handhaben gegen seine Feinde zur Verfügung stehen. Allein die Vorsorge hat unter Umständen einen kathartischen Wert. Allerdings kann man die Parallele nicht weitertreiben. Denn während in der Politik eine Wechselwirkung zwischen dem Verhalten von Extremisten un der Institutionalisierung von Schutzmaßnahmen bestehen mag, so ist das bei der Medizin anders, es sei denn, man bezieht den Placebo-Effekt ein. Das Palliativum der streitbaren Demokratie stärkt die Abwehrkraft des demokratsichen Verfassungsstaates, wird in der richtigen Dosis von ihm Gebrauch gemacht. Ähnliches gilt für den medizinischen Bereich, wo es auch häufig auf die angemessene Dosierung ankommt. Würde die Arznei rigoros eingesetzt, so riefe sie schließlich die Krankheit erst verstärkt hervor, gegen die sie sich wendet. Es könnte aber auch ein Gewöhnungseffekt eintreten, und die Deutschland wähnte sich in dem Glauben, daß für eine engagierte Verteidigung des Verfassungsstaates Schutzmaßnahmen ausreichten. Es gibt eine weitere Parallele: Mikroorganismen, die im Körper keinen Schaden anrichten, geraten durch äußere Eingriffe in Bewegung und schaden dadurch dem Körper. Ähnliches gilt für die streitbare Demokratie: Erst die rigide Anwendung der Instrumente der streitbaren Demokratie mobilisiert die Kräfte des politischen Extremismus zum Aktivismus. Mikroorganismen können nicht nur die Gesundheit des Körpers schwächen, sondern ihn auch indirekt stärken, da sie die Produktion von "Antikörpern" veranlassen. Insofern ist der politische Extremis-

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musfür den demokratischen "Volkskörper" ebenso von Bedeutung. Schließlich macht er auf Defizite der Demokratie aufmerksam und stärkt - als eine Art "Frühwarnsystem" - das demokratische Leben, wenn auch wider Willen, vermag gar eine Art "Gesundbrunnen" für die Demokratie zu sein. Kann die Schutzimpfung den Körper schwächen und das Immunsystem durcheinanderbringen, so mag dies auch für vorbeugende Schutzmaßnahmen des Staates gelten. Eine Radikalkur beseitigte wohl alle Krankheitsherde, griffe jedoch auch den gesunden Körper an. Die Existenz politisch extremistischer Bestrebungen ist nicht nur ein unverwechselbares Merkmal des Verfassungsstaates, sondern auch ein Indikator für generelle Schwächen und provoziert Gegenkräfte, wie der kranke Körper von sich aus Antitoxine ausbildet. Wie der Mensch, der Raubbau an seiner Gesundheit treibt, nicht allein durch Medikamente zu gesunden vermag, so gilt das ebenfalls für den Verfassungsstaat, dessen verkümmertes Verfassungsleben sich nicht ausschließlich durch die Instrumente der streitbaren Demokratie am Leben erhalten läßt, wenn wichtige Voraussetzungen fehlen. Wer sich in der Diagnose irrt, darf dann nicht auf das therapeutische Wunder in Form der streitbaren Demokratie hoffen. Der beste Verfassungsschutz sind kritische und Verfassungstreue Bürger zugleich. Ohne sie kann der demokratische Verfassungsstaat nicht überleben. Häufig wird die These vertreten, die Instrumente der streitbaren Demokratie seien ,,rostige Schwerter" geworden. Die streitbare Demokratie erschöpft sich jedoch keineswegs in den von der Verfassung vorgesehenen Schutzvorkehrungen. Die Anwendungspraxis in der Bundesrepublik gestattet nur bedingt Rückschlüsse auf die Vitalität dieser Konzeption. Schließlich spielt es eine entscheidende Rolle, ob sich die demokratischen Kräfte über den politischen Extremismus einig und gewillt sind, die geistige Auseinandersetzung mit ihm zu führen. Es besteht ein auffallender Gegensatz zwischen zwei Diagnosen, die beide einer perspektivischen Verzerrung entspringen. Um im Bild zu bleiben: Sieht die eine nur den "Rost", so perzipiert die andere lediglich das "Schwert" . Beide Positionen unterliegen einer Art Als-ob-Annahme. Während die erste suggeriert, als ob in der Bundesrepublik die streitbare Demokratie schon seit längerem zu Grabe getragen worden wäre, tut die andere so, als ob sie in voller Blüte stünde. Stützt sich die erste Annahme für ihre Beweisführung vornehmlich auf die Diskrepanz zwischen den im Grundgesetz bereitgestellten Instrumenten und der Praxis, stellt die andere insbesondere auf vollmundige Äußerungen von Politikern zum Gebot der streitbaren Demokratie ab und auf Proteste von Gruppierungen, die sich als "ausgegrenzt" empfinden. Die bundesdeutsche Konzeption der streitbaren Demokratie unterscheidet sich sowohl von der formalen Demokratie des Weimarer Musters als auch von einem Demokratietyp, der nach außen streitbare Elemente meidet, faktisch aber- jedenfalls teilweise- für ihre Geltungskraft indirekt Sorge trägt. Der Unterschied zur Bundesrepublik liegt bei den anderen westlichen Demokratien wohl vor al-

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lern darin, daß die Bekämpfung von Extremisten in einer "diskreteren", jedenfalls weniger auffälligen Art geschieht. Damit unterscheidet sich weniger die Verfassungspraxis voneinander als vor allem die Verfassungstheorie.30 Das martialisch anmutende Abwehrsystem des Grundgesetzes ist nicht typisch für die hiesige politische Wirklichkeit, die Abwehrschwäche hingegen keineswegs charakteristisch für die Praxis anderer westlicher Demokratie. Man kann zu einem Verständnis von streitbarer Demokratie kommen, das auf administrative Maßnahmen (Sanktionen wider Individuen und Gruppen) gegen extremistische Kräfte weitgehend verzichtet (nicht aber auf die Verankerung bestimmter Schutzmechanismen). Von Anhängern wie von Gegnern streitbarer Demokratiekonzeptionen werden administrative Mittel in ihrer Wirkung weit über-, vielfältige Formen der geistig-politischen Auseinandersetzung hingegen sträflich unterschätzt. Die streitbare Demokratie basiert auf einer Reihe abgestufter Maßnahmen. An dem einen Ende der Skala sind die Parteiverbote angesiedelt, am anderen stehen vage gehaltene, praktisch folgenlose Aufrufe zur Verteidigung des demokratischen Verfassungsstaates. Im Gegensatz zum Wertrelativismus von Weimar eröffnet das sich zu einem Wertkodex bekennende Grundgesetz die Möglichkeit, Grenzen der Verfassungstreue zu definieren, die Feinde des demokratischen Verfassungsstaates beim Namen zu nennen, über sie Informationen zu sammeln, diese an die Öffentlichkeit zu bringen, den Bürger über die Gefahren zu unterrichten und sich mit extremistischen Bestrebungen argumentativ auseinanderzusetzen. Die geistig-politische Auseinandersetzung (um eine solche freilich muß es sich handeln) mag vielfach bereits genügen, um der Legalitätstaktik von Extremisten einen Riegel vorzuschieben. Funktioniert der innere Kompaß einer Gesellschaft nicht mehr, so ist fraglich, ob durch Verbote das Pendel wieder in die Ausgangslage zurückschwingt Im Gegenteil können sie die Nadel weiter ausschlagen lassen. Dadurch entsteht eine Hypothek, die nicht mehr zu den vor dem Verbot bestehenden Bedingungen abzutragen ist: Entweder wächst aufgrund von Solidarisierung politischer Extremismus, oder der Verfassungsstaat gibt einen Teil seiner Liberalität preis. Die freiheitliche Substanz könnte in jedem Fall Schaden nehmen. Wie die Entwicklung in der Bundesrepublik gezeigt hat, ist die zweite Gefahr größer gewesen als die erste. Für alle Instrumente des Demokratieschutzes gilt, daß ihre Anwendung einen Verfassungsstaat wie die Bundesrepublik in Schwierigkeiten bringt. Insofern sind sie weder ein Kern- noch gar ein Herzstück der streitbaren Demokratie, freilich auch kein Fremdkörper. Allein ihre Existenz hat eine für die Demokratie förderliche Eigenschaft: Repräsentanten des politischen Extremismus (müssen)

30 Vgl. für Einzelheiten Eckhard Jesse, Der Schutz demokratischer Verfassungsstaatenb vor extremistischen Bestrebungen, in: Ders. (Hrsg.), Extremismus in Deutschland und Europa, München 1993, S. 133-147.

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wissen, daß einer Legalitätstaktik Schranken gesetzt sind. Auch das ist heute anders als in Weimar. Wie man inzwischen weiß, ist die Geschichte des Nationalsozialismus nicht zuletzt aufgrund seiner Legalitätsstrategie eine Geschichte seiner Unterschätzung gewesen. Nun sollte man nicht in den umgekehrten Fehler verfallen und diejenigen, die sich als seine Nachahmer ausgeben, aufgrund ihrer gewalttätigen Provokationen überschätzen. So wichtig die Bekämpfung der Gewalt auch sein muß: Es ist eine Lehre aus den Erfahrungen der Weimarer Republik, daß Verfassungsfeindschaft sich nicht notwendigerweise in gewalttätigen Aktionen niederschlägt. Jede politisch motivierte Gewalttat ist ein Ausfluß von Extremismus, aber nicht jeder Extremismus basiert immer auf Gewaltanwendung. Auf die "Lehre aus Weimar" berufen sich übrigens Anhänger und Gegner der streitbaren Demokraten. Die einen sehen (angesichts der abwehrschwachen ersten deutschen Demokratie) die Notwendigkeit des Demokratieschutzes, die anderen die Gefahr eines autoritären Staates (angesichts der menschenverachtenden NS-Diktatur). So spiegelt dieses Beispiel ein Dilemma der Konzeption der streitbaren Demokratie wider.

Erwin K. Scheuch

"FREMDENHASS" ALS AKUTE FORM DES RECHTSEXTREMISMUS? 1 I. Die Grundfehler der aktuellen Diskussion

Könnten sich Millionen Demonstranten für eine gute Sache-Ablehnung von Fremdenhaß-über den Zustand in diesem Land irren? Nach ihrem Selbstverständnis sind die empirischen Sozialwissenschaften besonders wichtig, wenn sich in einer Gesellschaft Gewißheiten verbreiten, die irrig sind. Eine erfahrungswissenschaftliche Soziologie ist besonders dann als Korrektiv gefordert, wenn irrige Gewißheiten vielleicht schädliche Folgen haben. Die nun anscheinend weltweite Sorge über Ausländerfeindschaft, ja Fremdenhaß, in Deutschland ist eine solche Situation für eine Soziologie, die es besser weiß. Mehr als 300 000 Menschen machten Anfang November 1992 in Berlin den Anfang mit Demonstrationen gegen Ausländerfeindlichkeit. Angeführt vom Bundespräsidenten vermeinten sie, aus diesem Anlaß auch vor einem Rechtsruck in der Bundesrepublik warnen zu müssen. Anschließend wurden Massendemonstrationen mit diesen Themen regelmäßig zum Gegenstand der Nachrichtensendungen. Schließlich hatten sie eine eigene Choreographie erhalten: Lichterketten. An Höhepunkten der Demonstrationen zog man mit brennenden Kerzen zum Läuten der Kirchenglocken durch Innenstädte. Kinder stellten Kerzen auf das Pflaster und brannten Wunderkerzen ab. Betroffenheitsdemonstrationen sind, so lehren uns Redakteure des WDR, Bürgerpflicht. Aber wer soll durch Demonstrationen von Betroffenheit bekehrt werden? Doch wohl nicht größere Teile der Bevölkerung; denn die Umfrageforscher zeigen uns, daß seit Beginn der Ausschreitungen gegen Asylbewerber die ausländerkritischen Einstellungen abnahmen; von "ausländerfeindlichen Einstellungen" kann man ohnehin nur bei ganz kleinen Minderheiten sprechen, die durch Massendemonstrationen nicht erreicht werden. "Sind Sie dagegen, daß es so viele Ausländer in der Bundesrepublik gibt?" fragte die Forschungsgruppe Wahlen im Januar 1992. Damals fanden das 45 Prozent nicht in Ordnung. Im September 1 Aktualisierte und erweiterte Fassung eines Vortrages über "Nationalpopulistischer Protest von rechts -eine normale Erscheinung?" am 13.11.1992 vor der Gesellschaft für Deutschlandforschung in Bayreuth.

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Erwin K. Scheuch

stieg die Ablehnung auf 64 Prozent, aber nach den Attacken auf Ausländerheime und den drei Toten von Mölln sank der Anteil auf 44 Prozent. "Haben Sie Verständnis für Gewalt gegen Asylbewerber?" wurde ebenfalls monatlich gefragt. Dies ist das Ergebnis eines Querschnitts der westdeutschen Bevölkerung2 : 1992

September %

Oktober

Dezember

%

%

Ja

14

12

5

Nein

85

87

94

Fast 90 Prozent der Menschen in Ost- und Westdeutschland üben Kritik an einer ungeordneten Zuwanderung mit der Begründung, man wolle politisches Asyl. Den selbsternannten Zensoren der Menschen in Deutschland wie Günter Grass oder dem gegenwärtigen Hätschelkind der Kulturlinken, Claus Leggewie, gilt dies als Beleg zumindest von Ausländerfeindlichkeit, aber auch als faschismusverdächtig. Obwohl eine Mehrheit die (zutreffende) Ansicht vertritt, die Mehrzahl der Zuwanderer mißbrauche das Asylrecht, ist die große Mehrheit dennoch dagegen, dann alle diese falschen Asylbewerber einfach aus dem Land zu schicken. Abschieben von Asylbewerbern3

"Was sollte Ihrer Meinung nach mit rechtskräftig abgelehnten Asylbewerbern hier in Deutschland geschehen?" September 1991 West

Ost

Grundsätzlich zurück in ihre Heimatländer ......... . .......... .

20,0

32,9

Nur zurückschicken, wenn zu Hause keine Gefahren für Leib und Leben drohen ....... ...... .. ... . .......... . ...... .. ... .

76,3

64,1

Grundsätzlich auf Dauer bei uns .. .... ..... ........ .. . .... .. .. . ..

3,6

3,0

%

%

Wo gibt es eine ausländerfreundlichere Bevölkerung?4 2 Politbarometer 12/92. Monatlliche repräsentative Umfrage Forschungsgruppe Wahlen e.V., Mannheim. 3 Kumulierte Politbarometer, Zentralarchiv Codebuch 2102, S. 218 (West) und 2114, S. 206 (Ost). 4 Die Ablehnung eines globalen Abschiebens ist unter CDU-Wählern häufiger als unter SPD-Wählem.

"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

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Ganz allgemein hat in den letzten zehn Jahren die Akzeptanz von Ausländern zugenommen. 1980 waren nach den Ergebnissen der Umfrageserie Allbus 33 Prozent der erwachsenen Westdeutschen der Meinung, Ausländer sollten nur unter sich heiraten. Zehn Jahre später war dieser Anteil auf 18 Prozent gesunken5 . Nach den Daten des Eurobarometers ist der Anteil der Westdeutschen, die über einen hohen Anteil an Ausländern in ihrem Land klagen, im Vergleich zu solchen Klagen in anderen Ländern eher unauffällig. Daraus schließt Wiegand: " . .. die Ergebnisse des Allbus haben gezeigt, daß in den achtziger Jahren kein zunehmend ausländerfeindliches Klima entstanden ist, sondern im Gegenteil die Einstellung der deutschen Bevölkerung im Zeitablauf toleranter geworden ist. Auch in der jüngsten Vergangenheit konnte keine gravierende Zunahme der Ausländerfeindlichkeit festgestellt werden" 6. Wie in allen anderen Ländern auch wird die Stimmung in Deutschland bei mehr Ausländern schlechter und bei einer geringeren Anzahl besser7 . Während Hunderttausende in der Bundesrepublik meinen, ihre Mitbürger zu mehr Toleranz auffordern zu müssen, bleiben die Gewaltakte. Sie sind ja nichtwie in den Massendemonstrationen suggeriert wird - die Folge einer verbreiteten Feindschaft gegen Ausländer, sondern Folge der Gewaltbereitschaft bei weniger als 7000 Jugendlichen. 70 Prozent davon befinden sich noch im Schulalter8. Diese gewaltbereiten Jugendlichen werden durch Demonstrationen mit Sicherheit bestenfalls nicht erreicht, schlimmstenfalls aber in ihrer Hochachtung für die eigene Gewaltbereitschaft noch bestärkt. Gestern war man noch ein gering geschätzter Skinhead, heute ist man Thema Nummer eins in den Medien! Mit den Demonstrationen gegen die nicht vorhandene allgemeine Ausländerfeindlichkeit - Fremdenhaß ist ein besonders unzutreffendes Etikett - wird verunklart, was das Problem ist. Völlig irreführend sind die Betroffenheitsdemonstrationen, wenn bei ihnen die Gewalttaten von Jugendlichen gegen Ausländer und das Hantieren mit NS-Symbolen als Ausdruck eines Rechtsrucks behauptet werden. Die Mutmaßung eines nur latenten Faschismus der Bevölkerung Deutschlands ist durch den größeren Teil der Kulturintelligenz immer am Leben erhalten worden9. Es bedarf nur geringer Anlässe, um diesen wachen Verdacht zu aktualisie5 Erich Wiegand: "Zunahme der Ausländerfeindlichkeit? Einstellungen zu Fremden in Deutschland und Europa". In: ZUMA-Nachrichten, 18.11.1992, S. 7-28. 6 Ibid., S. 16 f. 7 Erwin K. und Ute Scheuch: "Wie deutsch sind die Deutschen?", Bergisch Gladbach 1991, Kapitel2, 5. "Die Deutschen und ihre Ausländer". 8 Schätzungen des Bundesinnenministeriums im Dezember 1992. 9 Exemplarisch hierfür war und ist Jürgen Habermas. Anfang Dezember 1992 erschreckte er in der ,,zeit" vor der Möglichkeit, die Deutschen könnten sich für eine normale Bevölkerung halten.

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ren. Der Verdacht der Minderheit wird durch die Berichterstattung für die Welt zu einer Gewißheit und damit kontraproduktiv für ein Verständnis des Problems. Dies ist der Sache nach im Kern weniger ein Kampf um die Seelen der Deutschen als vielmehr ein Polizeiproblem - wenigstens vorerst noch.

II. Das Erklärungsobjekt: Gewalt bei Jugendlichen

Der Innenminister hat seine Aktionen gegen rechtsradikale Gruppen intensiviert. Mal wird eine Gruppe von 350 Personen verboten; mal gibt es bundesweit Nachtrazzien gegen irgend eine andere Gruppe mit rechtsextremem Vokabular. Den Fernsehzuschauern werden Arsenale von Waffen vorgeführt - vom Baseballschläger bis hin zu Pistolen. Bundesweit wird die Mitgliedschaft in extremistischen Organisationen der Rechten auf etwa 40 000 geschätzt. Es gibt keinen Nachweis, daß die Anzahl derjenigen, die sich in diesen rechten Gruppen zusammenfinden, wesentlich gestiegen ist. Es gibt jedoch einen Handlungsbedarf angesichts einer öffentlichen Meinung, die von der politischen Führung selber in einen Zustand höchster Erregheit versetzt wird. Gewalt mit politischen Begründungen ist seit den Konfrontationen im Jahre 1968 zu einem Teil des Lebens auch in der Bundesrepublik geworden 10. Diese Gewalt ging zunächst durchweg von "links" aus. Entschiedene Maßnahmen dagegen, wie etwa Hausdurchsuchungen oder Rasterfahndung, wurden damals von einer Publizistik, die für sich das Etikett "liberal" beansprucht, heftigst kritisiert und dann weitgehend unterbunden. Nach dem Bundesamt für Verfassungsschutz gab es im Jahre 1986 etwa 2000 Terrorakte mit "linker" Begründung. Jetzt erreicht die Zahl rechter Terrorakte ebenfalls 2000. Der "Spiegel" schrieb hierzu: "Der Terror wechselt die Front" 11 • Einen ersten Höhepunkt rechter Gewaltakte - in der kriminellen Energie, nicht so sehr in der Häufigkeit- gab es um 1980. Im September 1980 sollen es Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmann gewesen sein, die auf dem Münchener Oktoberfest eine Bombe zündeten, die 13 Menschen tötete; 213 wurden verletzt. Obwohl diese Terrortat weit höhere Opfer forderte als jeder einzelne Terrorakt des Jahres 1992, ist der Vorgang vergessen und blieb damals ohne Massenresonanz. Im Dezember 1980 erschossen Rechtsextreme den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und in der Nacht zu Neujahr 1981 in Ludwigsburg einen Türken. All dies blieb ohne auch nur annähernd vergleichbare Resonanz zu den Ereignissen des Jahres 1992. Zu Anfang der achtziger Jahre interessierte 10 Siehe hierzu H. D. Schwind und G. Baumann: "Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt". Berlin 1990, Bd. 1-4. 11 Der Spiegel: "Bestie aus deutschem Blut". 7.12.92, S. 25.

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diejenigen Gruppen, die man die Infrastruktur des Protestes nennen kann, der Kampf gegen die NATO-Nachrüstung. Die Mordopfer rechter Splittergruppen erschienen da nur als Ablenkung. Die ganzen achtziger Jahre hindurch kam es immer wieder zu Morden durch Rechtsextremisten, deren Opfer auch Soldaten der amerikanischen Armee waren. Zu den Untaten gehört Gewalt gegen Gesinnungsfreunde, wie der Mord durch Mitglieder der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei an einem 17jährigen, dem mit Springerstiefeln und Holzlatten der Schädel zertrümmert wurde. Allgemeine Resonanz: keine. Während der achtziger Jahre wurde auch in Deutschland die brutalste Gewalt in Fußballstadien zum alltäglichen Vorfall. Es war Gewalt von Jugendlichen, die als Gruppen auftraten und sich durch Kleidung und Gehabe von ihrer Umgebung abhoben. Durch die Gründung von Fanclubs und polizeiliche Maßnahmen wurde diese Randale in den Stadien in etwa kanalisiert 12. Aber immer noch ist der ProfiFußball am Samstag für gewaltbereite Jugendliche eine Gelegenheit, sich mit Polizisten und anderen zu prügeln. Gleichzeitig werden aus den Schulen erschreckende Nachrichten über die Bereitschaft zur körperlichen Aggression berichtet. Geprügelt wurde sich an Schulen gewiß immer, aber die Brutalität scheint explodiert zu sein 13. Streitigkeiten unter Heranwachsenden werden mit Messern, Schlägerringen und Würgegeräten ausgetragen, Straßenraub von Jugendlichen an Jugendlichen wird zum alltäglichen Delikt 14. Nach einer Erhebung an Kölner Schulen wurde fast die Hälfte der Schüler auf ihrem Schulweg mindestens einmal angegriffen; 25 Prozent der Schüler und I 0 Prozent der Schülerinnen gingen 1992 in Köln bewaffnet zur Schule15. "Die Bereitschaft junger Menschen zu politischem Aktionismus und auch zur Anwendung von Gewalt ist zwischen 1980 und 1990 dramatisch gestiegen", meint Gerhard Schmidtchen in einer Zusammenfassung von Umfrageergebnissen16. "Da steckten Unbekannte aus reiner Zerstörungswut parkende Autos an, andere schlugen reihenweise Schaufensterscheiben ein. Linke und rechte Jugendliche lieferten sich in der City eine Straßenschlacht. Ausländer und Behin12 G. Pilz: "Gewaltbereite Fußballfans - Was kann man tun, was sollte man nicht tun?". In: DVSJ-Joumal, Heft 1-2, 1992, S. 88 ff. 13 Gitta Deutz-Zaboji: "Aufrüstung auf dem Pausenhof'. Kölner Stadt-Anzeiger, 8.7.1992,S. 11. 14 L. Herrmann: "Gefahr im Verzug. Konfrontation mit jugendlicher Gewaltkriminalität". In: Der Kriminalist, Bd. 10 (1991), S. 414 ff. 15 Ergebnisse einer Befragung mit dem Anspruch auf Repräsentativität der Abteilung Polizei der Fachhochschule Köln. Befragt wurden 1921 Schüler von der 5. bis zur 10. Klasse. Eine Darstellung der Ergebnisse findet sich in: "SOS Kinder- Kinder in Gefahr". Rostock 1993. 16 Gerhard Schmidtchen: "Jugend und politischer Protest". In: Die politische Meinung, 37. Jg., Heft 277, Dezember 1992, S. 48.

3 Löw (Hrsg.)

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derte wurden gehetzt und geschlagen" -beschreibt Christiane Kohl den Alltag im ostdeutschen Kleinstädtchen Quedlinburg 17. Alles dieses ist keine deutsche Spezialität. Die Gewalttätigkeit Jugendlicher in England ist besonders auffällig. Neben Randale um Fußballspiele hat sich dort die Jagd auf "Fremde" zum stärksten Leitmotiv entwickelt. Aus Amerika berichtete die Organisation Klanwatch eine Rekordzahl der Mitgliedschaft im Ku Klux Klan und bei den Neonazis einschließlich Skinheads. Hier habe sich 1991 ein Zuwachs von 27 Prozent ergeben. Die jüdische Verteidigungsorganisation B'nei B 'rith gab für 1991 die Zahl antisemitischer Ausschreitungen in den USA mit 1879 an 18. In fünf amerikanischen Großstädten wurden 1991 1822 Fälle von Aggressionen gegen Homosexuelle und Lesbierinnen registriert. Das ist zweifellos erklärungsbedürftig, aber kein Sachverhalt für große öffentliche Besorgnis. In Deutschland kam es bereits im Herbst 1991 wiederholt zu Angriffen Rechtsextremer nun gegen Asylbewerber. Besonders spektakuläre Vorfälle waren die Ereignisse in Hoyerswerda und in Hünxe, denen aber verschiedene weitere Gewaltakte vorausgingen- so z. B. am 18. August 1991 Angriffe auf drei Asylantenheime in Sachsen und Sachsen-Anhalt. In der Nacht zum 22. September warfen dann Skinheads Steine und Brandflaschen auf ein Asylantenheim und ein Ausländerwohnheim im sächsischen Hoyerswerda, obgleich nach vorausgegangenen Ausschreitungen die Gebäude von Polizeieinheiten gesichert wurden. Während einer Gegendemonstration am gleichen Ort sieben Tage später kam es zu erneuten Ausschreitungen durch Skinheads, die auch die Polizei angriffen. Am 6. Oktober 1991 wurden neben Anschlägen auf Unterkünfte auch Ausländer auf offener Straße angegriffen. Nach weiteren Angriffen von Skins am 13. Oktober 1991 überfielen dann linke "Autonome" am 26. Oktober 1991 ein rechtes "Schulungszentrum". Am 3. November 1991 flogen Molotow-Cocktails auf ein Ausländerheim in Honnef, und am 10. November 1991 kritisierte der Generalsekretär des jüdischen Weltkongresses, Israel Singer, die Bundesregierung wegen Untätigkeit gegenüber "zunehmender Ausländerfeindlichkeit". Schließlich wurden am 11. November 1991 acht Neonazis in Zwickau wegen eines Überfalls auf ein Heim für ausländische Kinder zu Haftstrafen bis zu 15 Monaten verurteilt. Obgleich in den damaligen Wochen viel vorfiel, gab es keine Endlosfolge von Massendemonstrationen mit Prominenten, und die Vorfälle ebbten wieder ab. Um einen Begriff aus der Psychiatrie zu übertragen: Bei den Aggressionen im Jahre 1991 -die wahrscheinlich inszenierten Vorfälle einmal ausgeklammert handelt es sich nach bisher vorliegender Erkenntnis noch nicht um ein Anwachsen des Rechtsextremismus und schon gar nicht des Ausländerhasses, sondern um eine Symptomverschiebung 19. Eine Bereitschaft zur Gewalt begann sich auf "Hier herrscht seit '33 Diktatur". In: Der Spiegel, 9.11.1992, S. 97. Micheie St. George: "Die Bekämpfung von Haßverbrechen in Amerika". Amerika Dienst 49/92, 9.12.92. 17

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das Objekt Ausländer zu konzentrieren. Für solche Symptomverschiebung sind öffentliches Beklagen wie bei dem Rockkonzert in Frankfurt am 13. Dezember 1992 mit dem geschmacklos-kennzeichnenden Motto "Arsch buh" ein Anreiz. Daß es sich um eine Symptomverschiebung und nicht um eine Explosion der Gewaltbereitschaft handelt, ist aus Umfragen abzuleiten. Das Institut für Demoskopie in Allensbach ermittelte in einer Zeitreihe über 14 Jahren, daß allgemein die Gewaltbereitschaft im Vergleich zu Anfang der achtziger Jahre im Westen Deutschlands eher abgenommen hat20, wenngleich sie bei in Gruppen organisierten Minderheiten unter Jugendlichen sehr viel intensiver wurde. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, die sich ihrer "antifaschistischen" Erziehung rühmte, ist zudem die Gewaltbereitschaft deutlich steigend21 . Für die Erklärung dieser Symptomverschiebung ist das Alter der Täter äußerst bedeutsam. Durchweg handelt es sich um Jugendliche, oft noch in der Pubertät. "Die große Mehrzahl der Täter ist zwischen zwölf und 20 Jahre alt", berichtete Bundeskanzler Kohl am 10.12.1992 dem Bundestag. Damit wird die organisierte Betroffenheit wie in Hamburg, München oder Berlin, bei der Kinder Wunderkerzen anzünden, zu einer Demonstration Siebenjähriger, die auf ihre Lehrer hören, gegen Sechzehnjährige, die das Gegenteil tun. Neben dem Alter der Täter ist der Modus Operandi wichtig für eine Erklärung. Die Angriffe auf Personen mit dem Ziel, diese zu verletzen oder sogar zu töten, bewirkten während der achtziger Jahre keine allgemeine Aufmerksamkeit. Seit Rostock wird aber anders vorgegangen: Es wird ein Brandsatz gegen ein Asylantenheim geschleudert, meist der Machart Molotow-Cocktail. Den haben junge Menschen in der ehemaligen DDR zu basteln gelernt. Die Aggressoren verständigen sich über Walky-talky und weichen der Konfrontation mit starken Polizeikräften möglichst aus; schwächere werden dagegen attackiert. Ziel der Angriffe ist es, ein Haus anzuzünden, was die bildwirksamste Form der Aggression für das Fernsehen ist. Von den etwa 2000 Gewalttaten des Jahres 1992 "mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation" waren mehr als 650 Brand- und Sprengstoffanschläge22. Deren Zahl hat seit einem Höhepunkt mit 170 Anschlägen im September 1992 inzwischen wieder stark abgenommen23 . Selbstverständlich können beim Brandstiften auch Menschen zu Schaden kommen. Vor Mölln war dies bereits 1991 in Hünxe der Fall, als am "Tag der 19 So auch Edwin Kube, Leiter der Abteilung "Kriminalistisches Institut beim Bundeskriminalamt": "Kollektive Gewalt junger Menschen". In: Mut, Januar 1993, insbes. s. 32. 20 Renate Köcher: "Die Einstellung zur Gewalt ändert sich". In: FAZ, 12.11.1992, S. 5. 21 G. Kräupl: "Gruppengewalt Jugendlicher in den ostdeutschen Bundesländern". In: Magazin für die Polizei, Bd. 6 ( 1992), S. 20 ff. 22 Bulletin des Presse- und Informationsamtes, 11.12.1992. 23 FAZ: "Weniger Gewalt?", 21.12.92. 3.

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deutschen Einheit" zwei libanesische Kinder lebensgefährliche Brandverletzungen erlitten. In Mölln verbrannten dann im Herbst 1992 Menschen, wobei auch in diesem Fall die Verletzung von Personen wahrscheinlich nicht die Absicht, sondern eine eventuell in Kauf genommene Folge war. Primär geht es bei Brandanschlägen um das Herstellen von Bildern für das Fernsehen. Dafür spricht auch, daß von den 17 Menschen, die 1992 bei Gewaltakten durch Rechtsradikale, meist Jugendliche, zu Tode kamen, acht Ausländer, aber neun Deutsche waren24. Bei den organisierten Krawallen gegen Asylbewerber geht es zunächst nicht ums Mißhandeln oder Totschlagen von Ausländern (wie beim Paki-Bashing in England), sondern eben um das Herstellen von Bildern. Hoyerswerda und Rostock weisen alle Anzeichen einer Inszenierung auf, wobei dahingestellt sein kann, ob das Anzünden des eigenen Hauses durch Schwarze in den Ghettos im Stadtteil Watts von Los Angel es in den sechziger Jahren 25 Vorbild für das Herstellen von TV-Bildern bei uns war. Bei den Krawallen in Rostock wurden Stasi-Mitarbeiter geortet, und Fernsehreportern wurde vorgeworfen, sie hätten sich von den Krawallmachern mindestens instrumentalisieren lassen. In der rechten Krawall-Szene gibt es inzwischen Tarife dafür, bei laufender TV-Kamera den Hitler-Gruß zu schreien. Sicherlich sind die meisten Gewaltakte gegen Asylbewerber keine Inszenierungen durch ehemalige Funktionäre des SED-Regimes, aber vieles spricht dafür, daß durch die Inszenierung von Brandstiftungen in den besonders sorgfältig vorbereiteten Gewaltakten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR die Bundesrepublik (als einem ersten Schritt) diskreditiert werden sollte. Zugleich wird mit diesen Brandstiftungen die Aufarbeitung des Unrechts im SED-Regime völlig überlagert. Allerdings setzt auch das voraus, daß sich Jugendliche durch ausländerfeindliche Schlagworte ansprechen lassen und sich viele rechtsextremistische Parolen und Symbole zu eigen machen. Tatsächlich scheint sich bei Jugendlichen ein Klimawechsel abzuzeichnen; denn rechte Gesinnung wird zunehmend öffentlich demonstriert. War Rockmusik einmal der musikalische Ausdruck nur linksextremer Haltung ("Rock gegen rechts"), so hat jetzt Rock mit rechten Texten international Konjunktur26. Dabei werden die Formen der Musikrichtungen Heavy Meta!, teilweise auch Rap, mit aggressiven Texten kombiniert. Bekannte Rechtsrocker sind in Deutschland die Gruppen "Störkraft", "Sperrzone" oder "Kahlköpfe". Die !in24 Bulletin des Presse- und Inforrnationsamtes, Nr. 136/1992, S. 1241. In einem Kommentar des US-Schriftstellers Michael Peterson für die "International Herald Tribune" vom 8.1.1993 (der in die Literatur über Vorurteile als Beispiel für Germanophobie eingehen sollte) werden aus den 17 Opfern 17 erschlagene Ausländer. 25 Erwin K. und Ute Scheuch: "USA- ein maroder Gigant?", Freiburg 1992, insbes. Kapitel 2, 4 "Anders als darüber geschrieben wird: Die Situation der Schwarzen und Indianer inmitten der multikulturellen Gesellschaft Amerikas", S. 124 ff. 26 Peter Kemper: "Immer aggressiverer Flirt mit den Grauen" . FAZ, 14.11.1992, S. 29.

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ken Rocker reagieren darauf wie Personen, denen die Rechtsrocker ihr Eigentum entwendeten. Man darf beim Rechtsrock aber die Verwendung rechter Worte nicht so ernst nehmen wie die Bereitschaft zur Gewalt. Die Punkband "Böhse Onkelz" rockte erst mit linken Texten, wurde dann zur Fascho-Band und istjetzt wieder auf dem Weg nach links- was sich kommerziell durch die öffentlich-rechtlichen Musikredakteure besser auszahlen könnte. Die DDR-Linksrocker "Brutal Glöckel Terror" röcheln den Text "Vor mir steht ein Skin, ich tret ihn unters Kinn, Glatze, Glatze, ich tret Dir in die Fratze". Um Ernst Jandl zu zitieren: "Lechts und rinks sind zum velwechsern ähnlich". Für den Außenstehenden sind die Symbole der Links- und Rechtsrocker und ihres Anhangs erschreckend: Totenköpfe, Schlangen, Mordwerkzeuge vieler Art, schwarzes Leder, viele Metallknöpfe, SpringerstiefeL Das ist auch der Sinn dieser Symbole, zu denen auf der rechten Seite noch solche des NS-Staates und der früheren Wehrmacht gehören. In Kalifornien sollten brave Bürger von Punkern erschreckt werden, indem diese sich SS-Symbole ansteckten. "Wahrscheinlich wissen nur die wenigsten der jungen 'Faschos', was es bedeutet, den rechten Arm emporzureißen und auf Kommando 'Deutschland erwache' zu brüllen. Sie wissen nur, daß dies ein sicheres Mittel ist, ihre Eltern verstummen und ihre Lehrer blaß werden zu lassen. Und wenn es dies sein sollte, was sie wollen, verhalten sie sich völlig konsequent ...",diagnostiziert Konrad Adam. Die NS-Symbole sind ihm nicht ein Erstarken der Rechten; vielmehr sei der rechte Spuk die neueste Gewalt-Form des jugendlichen Aufbegehrens27 . An der teilweisen Auswechselbarkeil von Symbolik, die in erster Linie nur einschüchtern und Aufmerksamkeit erregen soll - am besten Aufmerksamkeit und tiefe Angst zugleich - , wird aber deutlich, daß mit den Massendemonstrationen eventuell ein gefährlicher Mechanismus in Gang gesetzt werden kann. Nach 1969 strömten viele Jugendliche zu den linksextremen Gruppierungen, gerade weil "die über 30" auf die gezielte Regelverletzung der 68er mit Erschrekken reagierten. Jetzt kann der gleiche Mechanismus in Gang kommen, daß nämlich Jugendliche sich mit denjenigen Gruppen von Jugendlichen solidarisieren, auf die sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit konzentriert. Gegenwärtig ist selbst bei Gewalttätern mit rechten Worten das, was diese Täter über NS-Ideologien oder rechtsextreme Positionen wissen, ganz verwaschen, keinesfalls der Antrieb. Bei den meisten bleibt vorerst die Identifikation mit Rechts eine Übernahme der Symbolik, kombiniert mit der Bereitschaft zu extremer Gewalt. In Jugendstudien wurde immer wieder nach beidem geforscht: der Bereitschaft zu Gewalt und der Anfälligkeit für extremistische Ideologien. Die verschiedenen Shell-Jugendstudien in den siebziger und achtziger Jahren zeigten 27

Konrad Adam: ,.Die verlassene Generation". FAZ, 4.1.1993, S. 27.

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hier bei einer beachtlichen Minderheit eine Bereitschaft zu Protest mit Gewaltsymbolik, kombiniert eher mit einer Anfälligkeit für linke Parolen. Ich selbst deute die Antworten dahin, daß etwa fünf bis sechs Prozent der Jugendlichen im kritischen Alter zwischen 14 und 19 Jahren für brutale Gewalt in Gruppensituationen anfällig sind. Dieneueste Jugendstudie wurde am 29.9.1992 von der IBM Deutschland vorgestellt. Hiernach sollen inzwischen 13 Prozent ausländer- bzw. fremdenfeindlich sein. Bundesjugendministerin Merkel erklärte aber: "Nur ein Prozent der Heranwachsenden spricht sich für Gewaltanwendung aus"28 . Trifft das zu, dann ist die Bereitschaft zur Gewaltanwendung gegen Ausländer dennoch viel größer, als das in der Ansprache des Bundeskanzlers vom 10.12.1992 mit einer Zahl von 6000 gewaltbereiten jugendlichen Ausländerfeinden geschätzt wurde. Es ist aus drei Gründen schwierig, solange zu angemessenen Schätzungen zu kommen, wie es sich bei den gewaltbereiten Jugendlichen eindeutig um kleine Minderheiten handelt. Erstens sind Gewalttaten dann besonders auffällig und werden entsprechend in ihrer Verbreitung überschätzt, wenn sonst der Alltag in westlichen Gesellschaften frei von Gewalt ist. Zugleich ist unsere Sensibilität gegenüber Gesundheitsschäden drastisch gestiegen. Körperverletzungen, die früher privat blieben, werden nun zu Delikten. Dabei schockiert uns Gewalt durch Jugendliche mehr als Gewalttätigkeit von Menschen anderen Alters29. Untersuchungen über Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen sind von seitender Bundesregierung verschiedentlich in Auftrag gegeben worden, wobei qualitative Verfahren vorherrschen; denn bei Anteilen unter fünf Prozent eines Kollektivs greifen die Routinen der quantitativen Sozialforschung nicht metrr3°. Hier müssen andere Forschungsanordnungen gewählt werden als die Befragung eines repräsentativen Querschnitts. Eike Hennig ermittelte bei 42 Gerichtsbiographien, daß die rechtsextremen Jugendlichen weniger etwaige extreme Einstellungen ihrer Eltern ausdrücken, daß sich aber die Eltern gegenüber den rechtsextremistischen Aktivitäten ihrer Jugend solange gleichgültig zeigten, wie es keine Gefahren für deren berufliches Fortkommen gibt31 . Zum damaligen Zeitpunkt- 1980- hatte es ein explosives Ansteigen neonazistischer Ausschreitungen gegeben. Die Gewaltanwendun28 "Studie über Jugend in Deutschland". FAZ, 30.9.1992, S. 2.

29 Näheres hierzu bei Erwin K. Scheuch: "Gewalt als politisches Kampfmittel in heutigen Industriegesellschaften". Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Bd. 22 (1977), S. 182-314. 30 Vergleiche Erwin K. Scheuch: ,,Auswahlverfahren in der Sozialforschung". In: Rene König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 3a: Grundlegende Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung. Zweiter Teil. 3. Auft., Stuttgart 1974, s. 1-96. 31 Eike Hennig: "Neonazistische Militanz und Rechtsextremismus unter Jugendlichen". In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/82, S. 36.

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genwaren dabei von 1975 auf 1980 um 438 Prozent gestiegen, und es gab auch bereits 21 Brand- und Sprengstoffanschläge. Diese damalige explosionsartige Vermehrung rechtsextremer Ausschreitungen blieb aber öffentlich weitgehend unbeachtet, und der Trend versickerte. In Reaktion auf gehäufte Taten von Rechtsextremisten in mehreren Ländern Westeuropas, insbesondere aber in Frankreich, sorgte sich das Europäische Parlament, ob es zu einer Neubelebung des Faschismus I Nationalsozialismus kommen könnte. In einer Expertise für den Europarat benutzten wir statistische Auswertungen von Strafverfahren gegen mußmaßlieh rechtsextremistische Täter. Nach sozialer Schichtung oder Berufe waren auch hier wiederum keine Auffälligkeiten zu beobachten- mit einer Ausnahme: 70 Prozent der Angeklagten erreichten nicht den beruflichen Erfolg ihrer Eltern32. Bereits Eike Hennig hatte in Tiefeninterviews festgestellt, daß rechtsextremistische Jugendliche kaum vorrangig ideologisch motiviert waren. Im Gegensatz zur Untersuchung des Sinus-Instituts wird von ihm die These vertreten, daß ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild nicht feststellbar ist33 ! Der gleiche Eindruck folgt auch aus der Darstellung des "Spiegels" in der Titelgeschichte "Die Nazi-Kids" vom 7.12.1992. Hier preisen rechtsextreme Jugendliche aus der ehemaligen DDR Gewalt als Mittel, um die Öffentlichkeit auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Zugleich bejahen sie ihre frühere Mitgliedschaft bei den jungen Pionieren in der DDR und loben das damalige Gemeinschaftsgefühl. Der "Spiegel" zitiert einen Henry: "Es gehört zu den Zerrbildern, die über uns verbreitet werden, daß wir gegen alles seien, was von links kommt. Genau betrachtet stimmen wir in vielem bei den Linken überein" 34. Wie bei den Versuchen, den Drogenkonsum durch eventuelle AuffäHigkeiten in der Biographie zu erklären35 , gibt ein solches Suchen auch bei Rechtsextremisten in der Mehrzahl der Fälle nicht viel her. Jetzt zitiert der "Spiegel" eine Anne: "Wenn Sie erwarten, daß wir aus zerrütteten Elternhäusern kommen, müssen wir Sie leider enttäuschen" 36. Das gilt selbst für rechtskräftig verurteilte Täter. ,;zwar sind hier Jugendliche mit Problemen beim Heranwachsen häufiger als beim Durchschnitt, aber für den größeren Teil läßt sich rechtsextremistische Aggression so nicht erklären37 . 32 Erwin K. Scheuch vor der Commission d'Enquete sur le Fascisme-Racisme des Europarats, 31.1.1985 (Band Nr. 1108); siehe auch H. H. Kalinowsky et al.: "Rechtsextremismus und Strafrechtspflege - eine Analyse von Strafverfahren wegen mutmaßlicher rechtsextremistischer Aktivitäten und Erscheinungen". Bonn 1985. 33 Hennig, op cit., S. 27. 34 Der Spiegel: "Die Nazi-Kids" , 7 .12.1992, S. 26 f. 35 Herbert Berger I Karl-Heinz Reuband I Ulrike Widlitzek: "Wege in die Heroinabhängigkeit Zur Entwicklung abweichender Karrieren". München 1980. 36 Der Spiegel, 5011992, S. 27.

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Ein rasches Anwachsen von Extremismus bei Jugendlichen läßt sich so ohnehin nicht strukturell ableiten. Hier ist es nützlich zu unterscheiden zwischen strukturellen und konjunkturellen Faktoren- d. h. Umstände, die kommen und gehen. Strukturelle Faktoren machen anfallig, konjunkturelle sind dann auslösend. Im gegebenen Fall sind die Sorgen in der erwachsenen Bevölkerung über die sozialen Auswirkungen hoher Zuwanderung ein wichtiger Konjunkturfaktor. Wie bei den 68er Revolten drücken sich auch jetzt Tendenzen bei Erwachsenen unter Jugendlichen überstark bis zur extremistischen Verfremdung aus38 . Noch zwei weitere Wirkungsgrößen sind zu beachten, wenn eine Erklärung für ein plötzliches Ausbreiten von Extremismen versucht wird: Extremismus muß belohnt werden, und bisher wirksame Hemmschwellen müssen entfallen. Letzteres dürfte für Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren inzwischen zutreffen. So wie die 68er zum Nachreden marxistischer Positionen gereizt waren, weil diese in der Zeit des Adenauer-Deutschlands zunehmend tabuisiert wurden- und darüber hinaus auch durch die Praxis der sozialistischen Länder diskreditiert waren! - , so dürften jetzt rechte Parolen einen Reiz ausüben, gerade weil sie in der Bevölkerung allgemein verpönt sind. Für die heute 14- bis 16jährigen ist ja nicht nacherlebbar, warum diese rechten Parolen bei denen Schrecken hervorrufen, die sich noch an die Praxis des Nazi-Staates erinnern 39. Die Betroffenheitsdemonstrationen mit ihrer pauschalen Beschimpfung "Fremdenhaß" und der Beschwörung eines verbreiteten latenten Faschismus, der sich jetzt zeige, mögen zunächst für das Ansehen Deutschlands bei politisch meinungsbildenden Kreisen des Auslandes nützlich sein40, sind aberangesichtsdieser Stimmungslage unter Jugendlichen in ihrer Wirkung bei weiterem Andauern nicht ungefährlich. Die Aufmerksamkeit nicht zuletzt in den Medien könnte wie 1968 und anschließend als Belohnung wirken, sich rechtsextremistischer Wendungen und Symbole zu bedienen. Dauert die Erörterung extremistischer Handlungen einer kleiner Minderheit durch die Öffentlichkeit als Thema Nr. 1 an, könnten sich in einem weiteren Schritt auch rechtsextremistische Ideologien ausbreiten. ( 1) An strukturellen Voraussetzungen für Rechtsextremismus unter Jugendlichen läßt sich kurzfristig nichts ändern, aber diese Voraussetzungen bleiben auf einen kleinen Kreis beschränkt41 . lbid., s. 24. Erwin K. Scheuch: "Soziologische Aspekte der Unruhe unter den Studenten". In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/1968, S. 3-39. 39 Erwin K. Scheuch: "Unbelehrbare und Neonazis- wer, wieviele, warum?" . In: Junge Union (Hrsg.): "Die Entscheidung", Nr. 5, 33. Jg., Mai 1985, S. 14. 40 Die "New York Times" ist zu Jahresende 1992 voll des Lobes, daß Millionen Deutsche fortdauernd gegen Ausländerfeindlichkeit demonstrieren. 41 Erwin K. ScheuchI Hans D. Klingemann: "Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften". In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 12. Jg. 1967, S. 11-29. 37

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(2) Die konjunkturelle Situation könnte durch politische Entscheidungen entschärft werden. (3) Bedenklicher ist das Sinken der Henunschwellen. Die Schulen jedenfalls haben einen Auftrag nicht umsetzen können. Das gilt ganz besonders für die ehemalige DDR, obgleich für 40 Jahre die Erziehung zum "Antifaschismus" Leitlinie war. (4) Gegenwärtig ist das Aufschaukeln von Betroffenheitsdemontrationen und Medienaufmerksamkeit das größte Stimulans für ein Ausbreiten rechtsextremistischer Orientierungen bei Jugendlichen.

J/1. Der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik

Verschiedentlich hat es in der Nachkriegszeit Bewegungen gegeben, die als rechtsextrem eingestuft wurden. Ob sie das tatsächlich waren, ist jeweils schwierig zu entscheiden, weil sich dabei immer das Motiv Protest mit einer eher ideologischen Orientierung als "rechts" durchmischte. Bei den Wahlen zum Ersten Bundestag konnte eine Deutsche Konservative Partei - Deutsche Rechtspartei als etwas wirre Mischung ideologisch unterschiedlicher Positionen mit 1,8 Prozent der Stimmen einen für Rechtsparteien hohen Anteil erringen, blieb aber weit unter der Fünf-Prozent-Marke, die inzwischen in der Bundesrepublik für eine Berücksichtigung bei der Mandatsverteilung im Parlament notwendig ist. Bis heute ist für Deutschland eher auffällig, daß es keiner sehr rechten Partei gelungen ist, bei den zwölf Bundestagswahlen auch nur einen Sitz zu erringen. Ergebnisse rechtsextremer Parteien bei den Bundestagswahlen von 1949 bis 199042 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 % % % % % % % % % % % % DKP/DReP DRP NPD

1,8 1,1

1,0

0,8 2,0

4,3

0,6

0,3

Republikaner

0,2

0,2

0,3 2,1

DKP/DReP =Deutsche Konservative Partei I Deutsche Rechtspartei DRP =Deutsche Reichspartei NPD = Nationaldemokratische Partei Deutschlands 42 Eckhard Jesse: "Links- und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland". In: Beiträge zur Konfliktforschung, 4 I 15. Jg. 1985, S. 51 -72, hier S. 64; Zahlen für Bundestagswahl 1990: Eckhard Jesse: "Wahlen 1990". In: Uwe Backes I Eckhard Jesse: "Jahrbuch Extremismus & Demokratie", 3. Jg. 1991, Bonn 1991, S. 101.

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Das wird bei der Erörterung einer Gefahr von rechts charakteristischerweise übersehen, weil die maßgeblichen Teile der öffentlichen Meinung noch immer vom NS-Regime traumatisierl sind. Dabei wird schlichtweg vergessen, daß die NSdAP in keiner freien Wahl auch nur an 40 Prozent kam: Hitler kam durch eine Koalition an die Macht, und seine diktatorischen Vollmachten wurden ihm vom Reichstagam 23. März 33 mit 441 gegen 94 Stimmen zuerkannt43 . Weimar ging nicht an seinen Wählern, sondern vor allem am politischen Establishment zugrunde. Die erste wirklich besorgniserregende Partei auf der extremen Rechten war die Sozialistische Reichspartei, die dann auch 1952 vom Bundesverfassungsgericht als Nachfolgeorganisation der NSdAP verboten wurde. Buchstäblich über Nacht war sie bei Landtagswahlen 1951 in Bremen (7 ,7 %) und Niedersachsen (11,0 %) erfolgreich. Nach den Inhalten ihrer Politik und auch wohl für ihre Funktionäre ist es vertretbar, sie als Nachfolgeorganisation der NSdAP (Schwerpunkt: Gregor-Strasser-Flügel) zu qualifizieren. Für die Wähler dieser Partei ist dies charakteristischerweise weniger eindeutig. Eine Gegenüberstellung eines Querschnitts aller Wähler mit den Anhängern der SRP ergab in der Einschätzung des Nationalsozialismus bei den SRP-Anhängern ein besonders ambivalentes Bild. Sie betonten am NS-Staat die Sozialpolitik, den Wohlfahrtsstaat. Im gleichen Maße wie in der Bevölkerung allgemein wurde am NS-Staat die Kriegspolitik und die Diktatur abgelehnt. Die folgenden beiden weiteren Antwortvorgaben sollen deutlich werden lassen, daß es selbst in diesem Fall problematisch war, von Funktionären und offiziell vertretenen Ideologien auf Beweggründe bei Wählern zu schließen. Schlechte Seiten des Nationalsozialismus Querschnitt %

SRP-Anhänger %

Rassenverfolgung I Morde an den Juden

19

37

Konzentrationslager, Terror

15

22

Diese äußerst einseitige Erinnerung an die wohlfahrtsstaatliehen Aspekte des NS-Regimes muß gedeutet werden unter Berücksichtigung des Zeitpunktes. 1951 43 Die höchste je von der NSDAP in einer freien Wahl erreichte Stimmenzahl gab es in der Reichstagswahl vom Juli 1932 mit 37,4 %; bei der nächsten Reichstagswahl im November 32 verlor die NSDAP mit einem Stimmenanteil von 33, 1 % 34 ihrer Sitze. Trotz zurückgehender Wahlerfolge wurde dann Hitler Kanzler einer Koalitionsregierung mit zunächst nur zwei weiteren Nationalsozialisten als Minister, Näheres siehe bei Jürgen W. Falter I Dirk Hänich: ,,Die Anfälligkeit von Arbeitern gegenüber der NSdAP bei den Reichstagswahlen 1928-1933". In: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 26 (1986).

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war die Bundesrepublik tatsächlich als Wohlfahrtsstaat sehr defizitär. Mit dem raschen Aufholen auch hier und nicht nur in der allgemeinen Wirtschaftskraft verschwand dieses Motiv, am NS-Staat gute Seiten wahrzunehmen. Die SRP-Wähler gingen entsprechend in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik auf. Bis zu den Republikanern- über deren Qualifizierung noch zu rechten istwar die erfolgreichste Rechtspartei in den späten sechziger Jahren die NPD, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands. Sie kam in einigen Landtagswahlen phänomenal schnell über zehn Prozent hinaus. Bei der Bundestagswahl 1969 verfehlte sie mit 4,3 Prozent der Stimmen den Bundestag relativ knapp. Wiederum ist es notwendig, die Zeitumstände für die Deutung heranzuziehen44. Dies war die Zeit der Großen Koalition, die allerlei Protestbewegungen provozierte. Die Bewegung gegen die Notstandsgesetze gehörte dazu, die 68er-Explosion des Linksextremismus und eben auch die NPD45 . Wir konnten nachweisen, daß die Mehrzahl der NPD-Wähler bloße Protestwähler waren, die insbesondere über ungenügende Sozialmaßnahmen klagten. NPD-Anhänger waren bedeutend positiver zur SPD eingestellt als zur CDU46. Die NPD wurde nach der Bundestagswahl 1969 bedeutungslos. Dann erzielte - ähnlich überraschend wie 1969 die NPD - 1989 eine bis dahin unbekannte Partei, von der lediglich der Parteiführer Schönhuber als Fernsehjournalist und früherer SS-Mann bekannt war, erhebliche Stimmanteile47 . Für die "Reps" waren die Erfolge in Berlin und Frankfurt so überraschend, daß sie nicht in allen Wahlkreisen kandidierten. Die Medien reagierten hierauf mit dem Etikett Rechtsruck. Das war nach der Agitation dieser Partei gar nicht so eindeutig und wohl eher eine Reaktion auf Schönhubers frühere SS-Mitgliedschaft. Gewiß agitierte die Partei gegen Asylanten und Ausländer allgemein in der Bundesrepublik, aber auch gegen die deutschstämmigen Aussiedler. 44 Erwin K. Scheuch: "Die NPD in der Bundesrepublik". In: Die Neue Gesellschaft, 1967, S. 292-301. 45 Gerd Langguth: "Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 19681976". Köln 1976. 46 Erwin K. Scheuch I Hans Dieter Klingemann: "Materialien zum Phänomen des Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik-Beiträge zur politischen Soziologie". Zentralarchiv Köln 1967. 47 Zur Zusammensetzung der Wählerschaft ist die bisher beste Übersicht Karl-Heinz Klär u. a. (Hrsg.): "Die Wähler der extremen Rechten". Bonn 1989, 3 Broschüren. Eckhard Jesse stellt in einem Übersichtsartikel fest, in dem 18 Veröffentlichungen zum Thema Republikaner besprochen werden, die 1989 erschienen: ,,Die Autoren und Herausgeber ... sind ohne Ausnahme im politisch linken Spektrum angesiedelt, manche gar ... im politisch linksextremen Spektrum". Gelingt es der Linken, die Republikaner als Neuauftage einer rechtsextremistischINS-nahen Partei zu kennzeichnen, kann sich die Linke ideell und politisch als antifaschistischer Widerstand stabilisieren. Eckhardt Jesse: "Die extreme Rechte im Aufwind? Der Rechtsextremismus und die Partei der Republikaner". In: Jahrbuch Extremismus und Demokratie, 2. Jg., Bonn 1990, S. 241-266, ZitatS. 265.

44

Erwin K. Scheuch

Frage: "Es wird zuviel getan für die Aussiedler"48.

Ja

Bevölkerung

Republikaner

58%

90%

Die Wahlkampfredner der Republikaner schockierten durch ihre martialische Sprache, und entsprechend wurde in der eben erwähnten Umfrage von 25 Prozent der Anhänger der "Reps" gesagt, sie wären bereit, in politischen Auseinandersetzungen Gewalt zu benutzen. Bei den Anhängern der Grünen sagten dies aber 35 Prozent! Selbstbild und Fremdbild fielen bei den Republikanern extrem auseinander. Sie selbst sahen sich zu 62 Prozent als konservativ, zu 35 Prozent als rechtsextrem. Demgegenüber herrscht bei der Bevölkerung die Sicht der REP als rechtsextrem mit 46 Prozent vor, und nur 18 Prozent werteten diese neue Partei als konservativ. Im Gegensatz zur NPD kam diesmal die Mehrheit der Protestwähler von der CDU, aber immerhin auch noch nennenswerte 13 Prozent von den Grünen49. Die wichtigsten Motive, die von den Wählern der Republikaner angegeben wurden, waren damals 50: Wahlgründe für die Republikaner Hohe Zuwanderung in die Bundesrepublik .. ......... ... .... ..... .

31 %

Ich will meiner Partei eine Lektion erteilen ....................... .

25%

Programm der Republikaner. ............................. ........... .

16% (nur!)

Bis jetzt sind die Republikaner für die Wähler und bei ihrem Personal - soweit bekannt- eine Protestpartei rechts von der Mitte mit gelegentlichen extremistischen Äußerungen. Daß von den im Bundestag vertretenen Parteien versucht wird, sie als rechtsextremistisch auszugrenzen, entspricht dem von Beginn der Bundesrepublik Deutschland an praktizierten Umgang mit Neugründungen von Parteien rechts der Mitte. Mit Erfolg wurde immer als extremistisch verdächtigt, was links von der SPD und rechts von der CDU als Konkurrenz auftrat. Nachdem aber der ganze Raum rechts von der Mitte von der jetzigen Bonner Koalition aufgegeben wurde, kann das auf Dauer nur dann Erfolg haben, wenn aus der verwaschenen rechten Protestpartei "Republikaner" tatsächlich eine extremistische Gruppierung würde. 48 Elisabeth Noelle-Neumann: "Eine gekränkte und isolierte Minderheit". In: FAZ, 11.9.1989. 49 Infas: "Europawah11989". Bonn 1989. 5 Forsa, Dortmund, August 1989.

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"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

45

Auch wenn die rechtsextremen Gruppierungen vielleicht sogar mehrheitlich keine rechtsextremen Wähler haben und bisher noch kleine Parteien blieben, darf selbstverständlich die Bedeutsamkeit nicht unterschätzt werden. Wären 1969 weitere 0,7 Prozent Stimmen zu den von der NDP errungenen 4,3 Prozent hinzugekommen, dann wäre angesichts unseres Parteiensystems wohl eine Fortführung der Großen Koalition notwendig geworden. In Baden-Württemberg wurde diese jetzt mit dem Wahlerfolg der Reps begründet. Eine Große Koalition aber bedeutet ein unkalkulierbares Element. Kommt es dann zu bedenklichen Entwicklungen, ist es wiederum aber nicht eine große Zahl von Wählern, die als Schicksalsmacht unser Parteiensystem verändern, sondern die Reaktionen der Parteien auf die ProtestwahL Auch als Organisation haben rechtsextreme Gruppen bisher zahlenmäßig keine große Bedeutung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählte Ende 1984 34 Neonazigruppen mit 1150 Mitgliedern. Hinzu kamen dann eine ganze Anzahl von sehr nationalistischen bzw. militaristischen Gruppen sowie Sympathisanten mit rechtsextremen Symbolen. Das ergab eine Mitgliedschaft (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) von 22 10051 . Bis heute haben die Republikaner es nicht vermocht, eine parteiähnliche Organisation aufzubauen. Ihre gesamte Mitgliedschaft dürfte im Bundesgebiet um die 10 000 betragen, von denen fast die Hälfte in Bayern organisiert ist52 . Vergleicht man links- und rechtsextremistische Gruppen, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Die Wahlerfolge linksextremistischer Gruppen sind meist geringer, sogar sehr viel geringer. Die Linksextremisten als Gründer von Organisationen sind dagegen sehr viel effektiver. Eckhard Jesse schätzt die Zahl der Mitte der achtziger Jahre in linksextremen Gruppierungen organisierten Personen aufüber 60 000. Zugleich sitzen Sympathisanten in den Institutionen, vor allem des Kommunikations-, Bildungs- und Kulturbetriebes. Darin drückt sich aus, daß linksextremistische Positionen nicht in dem gleichen Maße delegitimiert sind wie rechtsextremistische. Untersuchungen über die politischen Grundeinstellungen lassen in der Bundesrepublik keinerlei Besonderheiten erkennen, die sich von den Einstellungen in anderen westeuropäischen Ländern unterschieden.53 Eine Zeitreihe über die Links-Rechts-Orientierung, beginnend mit dem Jahr 1979, zeigt eine noch zu51 Eckhardt Jesse: ,,Links- und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland". In: Beiträge zur Konfliktforschung, Heft 4, 15. Jg. 1985, S. 51-72. Die Mitgliedschaft in rechtsextremistischen Gruppen könnte bis Ende 1993 auf 40 000 angewachsen sein. 52 Die Republikaner: "Ideologie, Programm, Organisation und Wahlergebnisse". Konrad-Adenauer-Stiftung, Studie Nr. 13/1989. 53 Hans D. Klingemann I Pranz U. Pappi: "Politischer Radikalismus". München 1972, insbesondere Kapital 7. Siehe auch Erwin K. Scheuch: "Rechtsextremismus in westlichen Industriegesellschaften". In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. 1967, s. 11-29.

46

Erwin K. Scheuch

nehmende Orientierung an der Mitte einer Links-Rechts-Skala, ein eindeutiges Vorherrschen von Mitte-Positionen54. Allerdings haben in dieser Zeit extreme Rechte oder linke Einstellungen bei Minderheiten in der heutigen Größenordnung von etwa einem bis zwei Prozent etwas zugenommen. Die Linksextremen sind dabei etwas stärker gewachsen als die Rechtsextremen. Die Unterschiede liegen allerdings innerhalb der Schwankungsbreite von Umfragen, so daß nicht einmal das leichte Ansteigen als gesicherte Erkenntnis gelten kann. Das Grundmuster der Verteilung auf dem Links-Rechts-Kontinuum ist außerordentlich stabil. Links-Rechts-Selbsteinschätzung der W ähte,-55

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Eine eigene Auswertung von Allbus-Erhebungen- eine Gemeinschaftsuntersuchung der Institute Zuma und Zentralarchiv für empirische Sozialforschung im Abstand von zwei Jahren- ergab bei einer sehr großzügigen Auslegung dessen, was als extremistisch angesehen werden kann, eher eine kleine Abnahme der 54 Zur Kennzeichnung politischer Programme sind inzwischen die Etikette "links" und "rechts" nur begrenzt nützlich, aber bei den Wählern sind die zu Symbolworten gewordenen Bezeichnungen "links" und ,,rechts" immer noch die wichtigsten Bezüge für das Orten der eigenen politischen Grundeinstellung. Hierzu Erwin K. Scheuch: "Extremismus und die Bedeutung des Links-Rechts-Schemas". In: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): "Verfassungsschutz in der Demokratie". Köln 1990, S. 369-405. 55 Kordt-Krieger I Mundt: "Praxis der Wahlforschung". Frankfurt/New York 1986, S. 77.

47

"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

Zahl rechtsextremer Personen, bei gleichzeitiger leichter Steigerung des Anteils der Linksextremen. Wird so großzügig definiert, wie wir das hier tun, so kommt man zur Diagnose, für rechtsextremistische Propaganda Anfällige dürften etwas unter zehn Prozent, die für linksextremistische Propaganda Offenen dagegen knapp unter fünf Prozent liegen56. Es ist auch nicht gerechtfertigt, den Deutschen eine besondere Anfälligkeit für autoritäre Einstellungen zu unterstellen, die dann bei Krisensituationen vielleicht doch in Befürwortung von NS-Gesinnung und -Untaten umschlagen könnte. Ein gutes Indiz ist hier die Reaktion auf Kriminalität. Nach einer Langzeit-Beobachtung, die von Reuband ausgewertet wurde, ist der Anteil derjenigen, die dem Schutz vor dem Verbrechen eine politische Priorität beimessen, seit 1975 halbiert worden57 . Das ist um so bemerkenswerter, als in diesem Zeitraum die tatsächliche Kriminalität stark anstieg. In einer Umfrage in Ost- und Westberlin, bei der als Persönlichkeitsmerkmal Autoritarismus erfaßt wurde, erhielt man folgende Werte58 : Autoritarismus Westhertin

Osthertin

niedrig

mittel

hoch

niedrig

mittel

hoch

%

%

%

%

%

%

32

54

14

8

55

37

18-24 Jahre

41

51

8

16

56

28

Insgesamt Altersgruppen 25-34 Jahre

48

48

4

12

66

22

35-49 Jahre

33

57

10

6

60

34

ab 50 Jahre

9

58

33

42

57

Bemerkenswert ist hieran, daß das autoritäre Potential im Ostteil der Stadt fast dreimal so hoch ist wie im Westen. Dabei betonte doch die DDR sogar als Raison d'etre ihren Antifaschismus. Aber die real existierende DDR erwies sich nach unseren eigenen Auswertungen als Weiterführung eher des traditionellen Deutschlands, wogegen eben die vom intellektuellen Establishment so vielgeschmähte Bundesrepublik (alt) Teil des Westens wurde59. Das wird bei der demonstrativen Bußfertigkeit unserer Führungsgruppen nicht berücksichtigt. 56

Erwin K. und Ute Scheuch: "Wie deutsch sind die Deutschen?". Bergisch-Gladbach 1991.

57 Karl-Heinz Reuband: "Über das Streben nach Sicherheit und die Anfälligkeit der

Bundesbürger für 'Law and Order'-Kampagnen". In: Zeitschrift für Soziologie, 21. Jg., Heft 2 (April 1992), S. 139-147. 58 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): "Datenreport 1992". Bonn 1992, S. 631. 59 Siehe hierzu mit Details Erwin K. und Ute Scheuch, op. cit. 1991.

48

Erwin K. Scheuch

Besonders auffällig wird dieser Unterschied bei einem Vergleich der höchsten Bildungsgruppen in Ost- und Westberlin. Im Westen ermittelte die Sozialforschung hier fünf Prozent Autoritärer, im Osten 27 Prozent. Dabei sind die Menschen in der höchsten Bildungsgruppe in besonderem Maße der propagandistischen und pädagogischen Einwirkung der DDR-Führung ausgesetzt gewesen. Damit ist ein solches Ergebnis ein exemplarischer Ausdruck der Unwirksamkeit eines Versuches, den neuen Menschen als allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit heranzuzüchten. Nach wie vor glauben linke Autoren an die törichte Kommunisten-These: Der Rechtsextremismus ("Faschismus") schlummere im Kapitalismus und breche bei einer Krise desselben mit Urgewalt hervor. So meint auch jetzt der 68er Reinhard Kühnl, da der Kapitalismus weiter bestehe, den er ablehne, müsse weiter an eine Gefahr von rechts geglaubt werden60. Wenn dafür aktuell keine ausreichenden Akteure benannt werden können, werden (latente) ,,faschistoide" Tendenzen behauptet. Solche Befürchtungen, die auch in den Institutionen der öffentlichen Meinung bei uns verbreitet sind, machen sich an sozialwissenschaftliehen Veröffentlichungen fest. Eine Untersuchung von Wemer Habermehl, die als kommentierende Zitatensammlung veröffentlicht wurde, hatte Ende der siebziger Jahre eine besondere Öffentlichkeitswirkung. Wemer Habermehl nannte die Deutschen faschistoid61, und wenig später gab es rechtsextremen Terror, der in den Medien sofort in seiner Akzeptanz überschätzt wurde. Gleichzeitig mit Habermehl ermittelte Infratest ein rechtsextremes Potential von nur 1,7 Prozent, wogegen einige Jahre früher das gleiche Institut das linke Protestpotential mit 4,4 Prozent bezifferte. Da weckte Anfang der achtziger Jahre eine Untersuchung mit dem Absender SINUS-Institut nicht zuletzt durch den knalligen Titel "Fünf Millionen Deutsche: Wir sollten wieder einen Führer haben . . ." alte Befürchtungen: 13 Prozent der deutschen Wähler haben ein rechtsextremes Weltbild, hieß es, und der Politologe Martin Greiffenhagen folgerte in dem Bericht: "Die Verfassungsschutzämter wissen jetzt, daß die Gefahr eines rechtsextremistischen Terrorismus und das entsprechende Gewaltsympathiepotential dem linksextremen mindestens gleichkommt, wenn nicht überlegen ist"62. Das war ebenso wie die Äußerung von Hans Novakund Wemer Sörgel (die beiden Eigner von SINUS), es gebe sechs Prozent Deutsche, die Akzeptanz für rechtsextreme Gewalthandlungen hätten, eine waghalsige Interpretation und kein Ergebnis im eigentlichen Sinn63 . 60 Reinhard Kühn!: "Gefahr von rechts. Vergangenheit und Gegenwart der extremen Rechten". Heilbronn 1990. 61 Wemer Habermehl: "Sind die Deutschen faschistoid?" . Harnburg 1979. 62 SINUS-Institut: "Fünf Millionen Deutsche: Wir sollten wieder einen Führer haben". Reinbek 1981. 63 Friedhelm Neidhardt: ,,Fünf Millionen Deutsche: 'Wir sollten wieder einen Führer haben"'. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 33. Jg. ( 1981 ), S. 794-796.

"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

49

Die Befunde sind schon deshalb nicht brauchbar, weil zur Eichung einer Skala, mit der der Anteil von Extremisten ermittelt wurde, nur die Vorstellungen von Extremisten selbst benutzt wurden. Die Art der Konzeptualisierung bei politischen Ideologen und in der Bevölkerung insgesamt weicht im Grunde voneinander ab. "Man kann nicht alles, was von den Ansichten und Einsichten allgemeiner Wahlbevölkerung abweicht, schon deshalb als Hinweis für eine extremistische Einstellung nehmen, weil es von Extremisten geteilt wird"64. Die SINUS-Studie wirkte irritierend genug, um das Bundesinnenministerium zu bewegen, beim Institut für Demoskopie in Allensbach eine Kontrollstudie in Auftrag zu geben. In diesem Fall wurden 3,7 Prozent "aktive Rechtsextremisten" ermittelt gegen 9,4 Prozent "aktive Linksextremisten". Auch gegen diese Untersuchung sind methodische Einwände notwendig65 . "Gibt es eine Gefahr von rechts? Wurde das demokratische System der Bundesrepublik jemals von einer rechtsradikalen Partei bedroht? Nein, beidesmal nein" 66. Diese Behauptung relativieren Uwe Backesund Eckhard Jesse als Beruhigung über zukünftige Entwicklungen. Wenn die Extremismen in der Bundesrepublik erfolglos blieben, dann vor allem als Folge einer Diskreditierung durch politische Praxis. Linksextreme Positionen wurden unglaubwürdig auch durch die real existierende DDR, Rechtsextremismus durch den NS-Staat 7. Aber diese Hemmschwellen für Extremismus können niedriger werden, und gerade bei einem Teil der Jugendlichen könnte die Erinnerung an die Untaten des NS-Staates verblassen. Der systematische Vergleich extremistischer Bewegungen in europäischen Demokratien ergibt nach Uwe Backesund Eckhard Jesse für die Bundesrepublik eine günstige Position68 . Eine Betrachtung ab 1949 zeigt die Bundesrepublik eher als einen gegen Extremismen in der allgemeinen Bevölkerung besonders resistenten Staat mit einer äußerst nervösen veröffentlichten Meinung. Sie liegt offensichtlich auf der Lauer nach Bestätigung für die Furcht, jetzt geht 1933 wieder los, oder doch zumindest: Jetzt ist es 1929/30.

64 Elisabeth Noelle-Neumann I Erp Ring: "Das Extremismuspotential unter jungen Leuten in der Bundesrepublik Deutschland 1984". Allensbach 1985, S. 14. 65 Friedhelm Neidhardt: "Meinungsbefragung und Meinungsmache". In: Kötner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37. Jg. (1985), S. 768-775. 66 Thomas Arssheuer I Hans Sarkowicz: "Rechtsradikale in Deutschland" . München 1990, s. 9. 67 Uwe Backes I Eckhard Jesse: "Extremistische Gefahrenpotentiale im demokratischen Verfassungsstaat". In: Jahrbuch Extremismus und Demokratie, 3. Jg. (1991), S. 23. 68 "Politischer Extremismus in europäischen Demokratien". In: Backes I Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus und Demokratie, 1. Jg. (1989), S. 7-44.

4 Löw (Hrsg.)

50

Erwin K. Scheuch

IV. Ausländeifeindlichkeit Ein Nachweis, daß es absehbar keine Gefahr durch rechtsextreme politische Organisationen gibt, reicht für das kulturelle Establishment nicht. Vielleicht habe heute der Rechtsextremismus einen Ersatzausdruck gefunden: die Ausländerfeindlichkeit. Die Rufe fanatisierter kleinerer Gruppen "Ausländer raus", das Verständnis einer größeren Zahl von Personen für solche Rufe und die mehrheitliche Sorge um die Fähigkeit dieses Landes, Zuwanderer im Umfang von 1992/3 weiter aufnehmen zu können - als dies wird weiterhin in der veröffentlichten Meinung als Ausdruck eines steigenden Nationalismus gedeutet. Dieser wird dann noch in Verbindung gebracht mit dem Kult des Nationalismus in der NSZeit, und schon scheint der Vorwurf plausibel, wir stünden am Anfang einer neuen Deutschtümelei. Davon kann keine Rede sein. Unter den Ländern Westeuropas erwiesen sich die Deutschen in der Nachkriegszeit als besonders wenig nationalbewußt69 . Diese von uns vielfach belegte Diagnose gilt auch weiter für die jetzige Zeit. Im Juni 1992 ermittelte das Emnid-lnstitut, wie sich Menschen in Deutschland identifizieren: Zugehörigkeitsgefühl70 Gesamt

West

Ost

An 1. Stelle genannt: Ich fühle mich als ... Angehöriger des Ortes hier, der Gemeinde, des Kreises

39

38

42

Angehöriger der Region, in der ich wohne

10

10

11

Angehöriger meines Bundeslandes

7

7

7

West- bzw. Ostdeutscher

4

2

12

31

33

23

Europäer

5

6

Weltbürger

3

3

100

100

100

1471

1163

308

Deutscher

2

keine Angabe Summe Basis(= 100 %)

69 Erwin K. und Ute Scheuch: "Wie deutsch sind die Deutschen?", insbes. Kapitel 2: Sind die Deutschen Nationalisten?. Bergisch-Gladbach 1991. International weist nur noch Japan ähnlich niedrige Werte auf.

"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

51

Eine solche Identifikation hatten wir in einer Tourismusuntersuchung schon vor 20 Jahren beobachtet. Damals fragten wir, wie man sich einem Ausländer gegenüber beschreibt, wenn der nach der Herkunft fragt, und auch hier war der Lokalbezug der wichtigste. Wir ermittelten auch keine besondere Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Nach unserer Auswertung des Eurobarometers "Rassismus und Ausländerfeindlichkeit"71 ist die Ablehnung rassistischer Bewegungen in der Bundesrepublik so stark wie in fast keinem anderen Land. Diese Ablehnung ist allerdings weniger eng mit der Befürwortung antirassistischer Aktivitäten verbunden als in anderen Ländern. Ablehnung rassistischer und Befürwortung antirassistischer Bewegungen in EG-Ländern72

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Die Grundorientierung der Bevölkerung der Bundesrepublik wird dominiert von der Selbstzuordnung zu rechts und links. Seit 1968 ist allerdings noch eine 70 Befragungszeitraum war vom 4.6. bis 23.6.92. Die Frage lautete: "Deutschland ist ziemlich vielfaltig aufgeteilt. Da gibt es Gemeinden, Kreise, Regionen, Bundesländer verschiedener Sprachregionen, die alte Bundesrepublik und die ehemalige DDR. Sagen Sie mir bitte anband der Liste, als was Sie sich persönlich vor allem fühlen?" 71 Eurobarometer: ,,Rassismus und Ausländerfeindlichkeit". Brüssel (Sonderausgabe), November 1989, S. 17. 72 Ibid; "D" = Deutschland.

4*

52

Erwin K. Scheuch

andere Spannung hinzugetreten, die wir mit der Bezeichnung Romantik und Biedermeier kennzeichnen. Der politische Orientierungsraum der Bevölkerunl3

....... ...

Romantik

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Rot-GrUbe ("FUndis")',

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Als Bestätigung der Sorge um eine wache Bereitschaft der Deutschen, Rechtsextremen nachzulaufen, gelten Wahlerfolge der Republikaner. Diese sind jedoch eher als eine Art passiver Protest von Menschen zu verstehen, die sich in ihrer unauffälligen Existenz durch Zustrom Fremder gestört sehen. Entsprechend war ja auch der erste Wahlerfolg der Republikaner verbunden mit der Ablehnung eines weiteren Zuzuges von Aussiedlern, die von sich deutsche Herkunft behaupten und bereit sind, sich sofort zu assimilieren. Im Dezember 1991 hat das Deutsche Jugendinstitut mit seiner Außenstelle in Leipzig hundert Aufsätze von 14- bis 15jährigen zum Thema "Deutsche und Ausländer" inhaltsanalytisch ausgewertet. Eindeutig wurde hier gefunden, was wir selbst an anderer Stelle74 ausgeführt hatten: Es gibt keine Ablehnung der Ausländer, wohl aber eine Einteilung nach der Herkunft aus solchen Kulturen, mit denen man gut, und anderen, mit denen man nicht gut leben kann. "Als die Guten werden zum Beispiel ausländische Studierende, im Dienstleistungsbereich Tätige und die ... nicht von der deutschen Norm abweichenden Ausländer akzeptiert75 . Abgelehnt (in der Ex-DDR!) werden eher Ausländer aus Jugoslawien, der Türkei und Polen, vor allem aber Ausländer, die sich mit illegalen Handlungen ihren Unterhalt finanzieren. Den Vertretern des Deutschen Jugend-Instituts erschien diese Einteilung nicht unbedenklich. Wer sich aber von Sentimentalitäten freimachen kann, wird zu fragen haben, warum man denn pauschal 73 Erwin K. und Ute Scheuch: "Wie deutsch sind die Deutschen?". Bergisch-Giadbach 199 1, s. 393. 74 ibid. 75 Wilfried Schubarth: "Klischees vom Buhmann? Wie ostdeutsche Jugendliche Ausländer sehen". Mitteilungen des Deutschen Jugendinstituts, Herbst 1992, S. 9.

"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

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Menschen besonders schätzen soll, nur weil sie nicht aus dem eigenen Land kommen. Und ganz eindeutig ist auch bei der Leipziger Untersuchung mit über 90 Prozent die Ablehnung von Gewalttaten gegen Ausländer gewesen. Wäre es ungeachtet dieser Ergebnisse vorstellbar, daß eine so auf die unmittelbare Umgebung konzentrierte Bevölkerung - siehe die EMNID-Ergebnisse - alles Fremde ablehnt, wenn nicht aus Nationalismus, so dann doch vielleicht aus Provinzialität? Auch dies trifft nicht zu. In der EMNID-Erhebung Juni 1992 war auch gefragt worden, ob die Anwesenheit von Menschen anderer Nationalität, Religion oder Kultur als störend empfunden werden: "Manche Leute empfinden die Einstellungen, Gebräuche und Lebensweisen von Menschen, die von ihnen selbst verschieden sind, als störend". Bloße Verschiedenheit wird von mehr als zwei Dritteln nicht als störend empfunden! Dabei wirkt Verschiedenheit nach Nationalität etwas irritierender als Unterschiede der Kultur und diese wieder als Verschiedenheit der Religion. Selbstverständlich gibt es Unterschiede nach demographischen Gruppen, deren auffälligste die Verschiedenheit nach Bildungsniveau ist. Verschiedenheit der Nationalität empfinden als störend 39 Prozent der Volksschüler, aber nur 25 Prozent der Befragten mit mittlerer Reife und nur noch 17 Prozent der Abiturienten. Nach den Ausführungen in Abschnitt II ist auf den ersten Blick vielleicht der Befund über die Einstellung zu Ausländern in verschiedenen Altersstufen überraschend. Je jünger, um so weniger wird Verschiedenheit nach Nationalität, Kultur oder Religion als irritierend empfunden. Auch wenn bei Straftaten gegen Ausländer die Täter meist Jugendliche sind, ist die Einstellung zu Ausländern bei Jugendlichen am positivsten. Erneut wird deutlich: Das Erklärungsobjekt bei Gewalttaten ist nicht die Verteilung von Einstellungen in Großgruppen, sondern eine Minderheit, eine sehr kleine zudem. In Befragungen, die vom Statistischen Amt der Stadt Köln Anfang der achtziger Jahre in Auftrag gegeben worden waren, konnte genauer eingegrenzt werden, wo Irritationen im Zusammenleben mit Ausländern zu beobachten sind. Dabei ist zu bedenken, daß die Ausländer, auf die sich die Fragen bezogen, meist schon zehn Jahre und mehr in der Bundesrepublik lebten. Am Arbeitsplatz gibt es fast keine Konflikte, und auch das Zusammenwohnen in einem Wohnbezirk ist durchweg frei von manifesten Konflikten. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine großen Ghettos, und in der Stadt mit einem besonders hohen Anteil einer türkischen Bevölkerung wie Köln gibt es keine Homogenität türkischen Wohnens, die über drei benachbarte Häuser hinausginge. Eine Befragung für den Westdeutschen Rundfunk in Köln bei Schulkindem ergab, daß die Mehrzahl der Türken in einem Haus leben will, in dem es auch Deutsche gibt; die Mehrzahl der Deutschen in einem Haus, wo es auch Türken gibt. Es besteht weder bei türkischen noch bei deutschen Kindem vorherrschend der Wunsch, unter sich zu sein. Aber jeder möchte gegenüber dem

54

Erwin K. Scheuch

anderen in der Mehrheitssituation sein, möchte die Standards des Zusammenlebens setzen. Irritationen im Zusammenleben gibt es in erster Linie in einer Distanz, die man als "öffentlichen Halbnahbereich" kennzeichnen könnte: das Einkaufen und das Bild auf der Straße. Hier sind es Kleidungsstücke mit hohem Symbolwert wie das Kopftuch, die irritieren. Sie irritieren allerdings in erster Linie bei jemandem, den man nicht persönlich kennt. Diese Irritation kann gedeutet werden als Abwehr einer Möglichkeit, selbst in eine kulturelle Minderheitensituation zu geraten. Die heftigen Auseinandersetzungen über Kopftücher bei Schülerinnen in Frankreich sind ebenso zu deuten. Wenn im Nahbereich, wenn bei persönlicher Bekanntschaft, für die ganz große Mehrheit Formen des guten Auskommens beobachtet, bei einem Betonen der kulturellen Fremdheit aber Irritationen ermittelt werden, dann geht es nicht um "Fremdenhaß", sondern um Verteidigung der eigenen Identität. Die Deutschen möchten nicht in die Situation einer Minderheit geraten, und das ist keine Besonderheit der Deutschen. So steht auf der seit Jahrzehnten in Deutschland meistverbreiteten türkischen Zeitung "Hürriyet" auf der Titelseite das Motto: "Türkiye Türklerindir"- die Türkei den Türken76. Inzwischen leben fast 1,8 Millionen Türken in der Bundesrepublik -das ist die größte Minderheit in Deutschland. Es ist als Ausdruck eines spannungsarmen Zusammenlebens von Deutschen mit den schon länger hier lebenden Türken zu werten, daß die ganz große Mehrheit sich gut integriert fühlt. Nach einer Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien in Essen wollen etwa 80 % lebenslang bleiben77. Die Tendenz hierzu ist steigend. 76,2% der Haushalte verfügen über mindestens ein Auto, 11 % wurden bereits zu Hausbesitzern. Das ist zwar noch weit entfernt von den ca. 46 % der Deutschen mit Haus- oder Wohnungseigentum, aber die vielen Bausparverträge der türkischen Haushalte lassen erwarten, daß sich auch hierin die Lebensverhältnisse angleichen. 1985 gaben 70 Prozent der in Deutschland lebenden Türken der zweiten Generation an, gut deutsch zu sprechen, 1989 waren es 74 Prozent78 . Integration bedeutete aber noch nicht Assimilation: Es überwiegen bei engen Freunden die eigenen Landsleute, aber das ist weitgehend von der Länge des Aufenthaltes abhängig. Annetin Ertek: ,,'Hürriyet' darf es". Leserbrief in: FAZ, 19.11.1992, S. 11. Die im September 1992 durchgeführte Untersuchung wurde von Professor Faruk Sen Mitte September 1992 auf einer Tagung des Clubs deutsch-türkischer Geschäftsfreunde in Stuttgart vorgestellt. 78 Auswertung des Sozioekonomischen Panels (SOEP). Die Ausländerstichprobe darin hatte den Umfang 3000. Wolfgang Seifert: "Die zweite Ausländergeneration in der Bundesrepublik". In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 44. Jg. (1992), S. 677-696, hier S. 682. 76 77

55

"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus? Es fühlten sich79 :

Ausländer insgesamt Zweite Generation Türken

mehr als Deutsche

nicht als Deutsche

1985 %

1989 %

1985 %

1989 %

10

II

49

41

9

8

47

56

Die bereits weitgehend integrierten Ausländer stehen dem ungeregelten Zuzug kritisch gegenüber. Sie fürchten zum Teil, daß bei steigender Sorge in der deutschen Bevölkerung diese keinen Unterschied mehr macht zwischen ihnen und den jetzigen Zuwanderern. So ist zu erklären, daß sich die Interessenvertretung der Sinti gegen eine Einwanderung von Roma in die Bundesrepublik ausspricht - übrigens mit diskriminierenden Wendungen. Kritik an ungesteuerter Zuwanderung und die Erörterung ihrer Folgen wird jedoch durch intellektuelle Totschlags-Vokabeln wie "Ausländerfeindschaft" oder "Fremdenhaß" abgeblockt. Eine Bereitschaft zur Ablehnung von ausländischen Gruppen ist eine Kombination zweier Einftußgrößen: der Zahlen und der kulturellen Distanz. Die Zuwanderung der neunziger Jahre war hier ohne Präzedenz sowohl nach der kulturellen Distanz der Zuwanderer zur deutschen Bevölkerung als auch ihrer Zahl nach. Deru10ch wurde mehrheitlich die Anwesenheit von Ausländern akzeptiert - im Westen Deutschlands erheblich mehr als im Osten. Ausländer in Deutschlancf3° Alle Befragte (Ost)

30

20

tO

92 79

80

Ibid., S. 683. Politbarometer 1992: "Das Jahr im Rückblick". I I. 12.1992, S. 92.

Erwin K. Scheuch

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Alle Befragte (West)

aor-------------------------------------------, 150

20

oL-~--~---L--~--~--~--L---~~--~--~

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2

8

8

11

Die wiederholt herangezogene EMNID-Untersuchung fand im Juni 1992 noch zu einem Zeitpunkt statt, da das Asylthema nicht die Intensität erlangt hatte wie nach den Krawallen in Rostock. Damals war auch gefragt worden, wie man denn die Anzahl der Menschen aus anderer Nationalität, Religion oder Kultur in der Bundesrepublik beurteilt: "Sind das viel zu viele, genügend oder gar nicht viele?" Bei der Frage zur Verschiedenheit nach Nationalität antworten etwa gleich viele, es gebe viel zu viele Ausländer oder genügend. Nur sieben Prozent behaupteten, es gebe nicht viele Ausländer und sagten damit per Implikation, weitere könnten kommen. Damals also war bereits deutlich, daß ein weiterer Zuzug, über welchen Weg auch immer, auf weitestgehende Ablehnung stoßen würde. Bei der Untersuchung, welcher Einfluß verschiedene demographische Faktoren auf die Bereitschaft haben, das Land bereits als überfüllt anzusehen (bzw. im Gegenteil zu meinen, es gebe doch gar nicht so viele), war der wichtigste Faktor wiederum der Unterschied nach Bildung. An dieser Stelle sollte verständlich werden, warum ein Teil der veröffentlichten Meinung und die Einstellung der Bevölkerung so in Gegensatz geraten ist. Menschen mit höherer Bildung werten den Anteil, den Ausländer jetzt an der Wohnbevölkerung in Deutschland haben, sehr anders als Menschen mit Volksschulbildung. Das kann auch nicht verwundern, weil es ja in erster Linie Menschen mit Volksschulbildung sind, die den ausländischen Mitbewohnern jenseits der Edellokale dieses Landes begegnen. Menschen mit Abitur sind dagegen öfters in solchen Wohnlagen und Berufen anzutreffen, in denen die Problematik der Zuwanderung eher über die Medien bekannt wird. Daß sich daraus ein unterschiedliches Gefühl der Dringlichkeit ergibt, ist selbstverständlich.

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"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus? Beurteilung der Zahl von Menschen anderer Nationalität81 Ges. %

Landesteil West %

Schulbildung Ost %

Volks%

Mittel%

Abi/Uni %

viel zu viele

46

48

38

56

41

27

genügend

47

46

52

40

53

56

nicht viele

7

6

10

3

6

17

100

100

100

100

100

100

1471

1163

308

750

421

294

keine Angabe Summe Basis(= 100 %)

0

0

0

Es ist auch selbstverständlich, daß dieses Auseinanderdriften der jeweiligen Lebenswelten eine explosive Entwicklung ist. Im Oktober 1992 ermittelte die Forschungsgruppe Wahlen im Westen einen Anteil von 73 Prozent, der die Asylproblematik für eines der wichtigsten Themen hielt- Problem der Einheit folgte mit 23 Prozent und Arbeitslosigkeit mit 15 Prozent erst mit weitem Abstand. Auch im Osten, wo lange Zeit neben der Arbeitslosigkeit kaum ein anderes Problem mit hoher Dringlichkeit gewertet wurde, ist jetzt die Asylfrage das zweitwichtigste Thema. Wird nach Problemen allgemein gefragt, wie dies EMNID im Herbst 1992 tat, so sind die entsprechenden Werte noch höher. Es würde der politischen Führung keine Schwierigkeiten bereiten, die Bevölkerung für eine Lösung der Probleme mit der unkontrollierten Zuwanderung über eine Änderung im Grundgesetz zu gewinnen. Seit Aprill992 betrug in den Politbarometern der Anteil der Befürworter einer Grundgesetzänderung immer mindestens zwei Drittel der Befragten, die Ablehnung erreichte nie auch nur 30 Prozent. Diese überwältigende Zustimmung galt für die Anhänger von CDU, CSU, FDP, aber auch der SPD. Die politische Klasse nimmt oft die Lage völlig falsch wahr: Entgegen verbreiteter Vorstellungen im kulturellen Establishment gibt es keine allgemeine Mehrheit für eine Verminderung der hier bereits befindlichen Ausländer, aber eine überwältigende Mehrheit gegen einen weiteren Zuzug. Daß hier die Politik als handlungsunfähig gesehen wird, weil das taktische Kalkül gegenüber der inhaltlichen Lösung im Vordergrund steht, führt zu einer verbreiteten Besorgnis. Allensbach ermittelte im Juni 1992 einen Anteil von 78 81 EMNID-Institut: Befragungszeitraum war vom 4.6. bis 23.6.92. Die Frage lautete: "Was würden Sie - ganz allgemein gesehen - zur Anzahl der Menschen anderer Nationalität, anderer Religionszugehörigkeit, anderer Kultur in unserem Lande sagen: sind das viel zu viele, genügend oder nicht viele. Sagen Sie mir das bitte für die Zahl der Menschen ...".

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Erwin K. Scheuch

Prozent besorgter Mitbürger in den alten und von 71 Prozent in den neuen Bundesländern. Wird darauf reagiert mit dem Beschimpfen der Bevölkerung als Ausländerhasser in Fortführung des NS-Geistes, so ist das nicht nur eine völlige Verkennung der Sachlage, sondern wirkt als Provokation.

V Was ist Demonstration gegen Ausländeifeindlichkeit wirklich? Die öffentliche Reaktion zu den Angriffen auf Asylbewerber ist, verglichen mit ähnlichen Vorkommnissen in Frankreich oder in England, ungewöhnlich. Sie wird im Herbst 1992 zum Teil verständlich aus einer Einstellung in den Führungsgruppen dieser Bundesrepublik. Hier sieht sich die Mehrzahl immer noch als Demokraten auf Bewährung, umstellt von einem internationalen Mißtrauen, das bei dem geringstenAnlaß sofort eine Wiederholung des Nationalsozialismus in Deutschland heraufkommen sieht. Daraus ergibt sich die Neigung, in vorauseilender Bußfertigkeit diese vermutete internationale Bereitschaft zur Verdammung der Deutschen zu beschwichtigen. So verstanden, als Signal an die meinungsbildenden Kreise unserer westlichen Nachbarn und vor allem der USA, hat die eingangs erwähnte, vom Bundespräsidenten angeführte Demonstration Anfang November 1992 in Berlin einen nachvollziehbaren Sinn. Und immerhin hatte sich ja auch in Frankreich die politische Prominenz in Reaktion auf Ausschreitungen gegen Ausländer zu einer Großdemonstration zusammengefunden; allerdings blieb es bei dieser und wurde nicht der Anfang einer Demonstrationswelle. Keinen Sinn macht diese Welle in Deutschland, ja sie wirkt irreführend, wenn sie in der Öffentlichkeit gedeutet wird als Widerstand gegen einen großen Teil der Bevölkerung ergreifenden Ungeist von Ausländerfeindschaft In der Reaktion auf die Sühne-Demonstrationen und die vorausgegangenen Brandanschläge wiederholte sich, was bereits bei der Wiedervereinigung zu beobachten war: Deutschfeindlichkeit bis hin zu rassistischen Beschimpfungen in den Führungsschichten westlicher Gesellschaften und Gelassenheit in den Bevölkerungen. "Diese teutonische Rasse hat Hitlers Tiraden von der deutschen Hegemonie nicht vergessen - was Übergriffe gegen alle beweisen, die nicht nach arischer Rasse riechen. Die Chromosomen dieses Volkes bleiben unverändert", stand in einer süditalienischen Zeitung82 . Immer wieder bricht in führenden Zeitungen der Ostküste der USA eine Deutschfeindlichkeit durch, die den Feindbildern entspricht, welche die Nazis pflegten. So angesehene Blätter wie 82 Das Zitat ist der "Spiegel"-Geschichte: "Der gute Ruf ist schwer erschüttert" (Nr. 50 aus 1992) entnommen. Hier findet sich auch eine Zusammenstellung von ausländischen Stimmen, die eine differenziertere Kommentierung erkennen lassen, als in deutschen Befürchtungen angenommen war.

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"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

die "New York Times" und der "Boston Globe" verdienen es, hier genannt zu werden83 . Es ist gewiß von führenden Politikern dieses Landes zu berücksichtigen, daß es so etwas Unsinniges gibt. Es ist aber auch zu beachten, was durchweg nicht geschieht, daß dies in den gleichen Ländern nicht die Einstellung in den Bevölkerungen ist. Auf die Frage, ob man die Deutschen für sympathisch halte, antworteten84:

Deutsche sind sympathisch

November 1991 %

Dezember 1992 %

Belgien

99

99

Niederlande

70

67

Dänemark

77

75

Frankreich

91

89

Großbritannien

88

86

Italien

73

70

Spanien

96

97

Portugal

91

91

Griechenland

93

93

In der deutschen Öffentlichkeit wurde nach der Großdemonstration in Berlin verbreitet, Ausländer fürchteten, in dieses Land zu reisen, und Firmen aus Japan und den USA zögen Investitionszusagen zurück. Dann erwies sich das alles als Ausdruck von Befürchtungen und Folge der eigenen überzogenen Erwartung von deutscher Vorbildlichkeit85 . Der Demonstration des Bundespräsidenten waren andere Demonstrationen vorausgegangen; denn Anlaß zum Protest gegen Angriffe auf Asylbewerber gab es seit 1991. Organisatorischer Kern dieser Demonstrationen war und ist das Netzwerk der Friedensbewegung. Jedoch erst mit der Legitimierung und Aufwertung von Demonstrationen gegen "Ausländerhaß" durch die Teilnahme des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Parlamentspräsidentin an einer großen Demonstration zu diesem Thema wurden Großdemonstrationen zu etwas, was sich jede Großstadt als Ausdruck der Betroffenheit ihrer Bürger schuldig ist. 83 Viele Belege finden sich in Hans-Helmuth Knütter: "Deutschfeindlichkeit". Asendorf 1991. 84 Nach einer Mitteilung des Wickert-Instituts vom 19.12.1992 über den Bericht "Quo vadis Deutschland und EG 2000?". Grundlage war eine Befragung bei fast 15 000 Personen in den angeführten Ländern. 85 "Gewalt von rechts- wie das Ausland reagiert". FAZ, 8.12.1992, S. 16.

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Seither entwickelte sich eine eigene Choreographie des Betroffenheitsprotestes: Personenketten mit Lichterschmuck. Zeitungen veröffentlichten in Großinseraten Aufstellungspläne für solche Lichterketten, in denen genau angegeben ist, wo Demonstranten des Vorortes A zu stehen haben und wo die aus dem Vorort B. Unterzeichnet sind die Aufrufe von Dutzenden von Organisationen, darunter bemerkenswerterweise immer auch obskure Grüppchen. Das Läuten von Kirchenglocken gab zusätzliche Legitimation als Betroffenheits-Gottesdienst. Mit einer aufwendigen Beilage zur Bildzeitung feierte Anfang Januar 1993 die Bundesregierung die Demonstrationen als "Ein Volk wehrt sich gegen Gewalt". Die Großdemonstrationen wurden umrahmt von Kulturveranstaltungen der Unterhaltungsbrauche (Rock-Konzerte) und der E-Kunst. Meist hat das wie Dichterlesungen nur einen metaphorischen Bezug zu dem Problem: Wie stoppt man die Angriffe einer winzigen Minderheit auf Asylantenheime? Ginge es darum, so wären dauernde Mahnwachen als Schutzzaun vor Asylantenheimen selbstverständlich wirksamer als Rockkonzerte zentral für die Bundesrepublik in einer Stadt wie Frankfurt. Eine Rückbesinnung auf die Zeit vor fast drei Jahren ist hilfreich. Am Samstag, dem 12. Januar 1991, gab es in hundert Städten Deutschlands Aktionen gegen eine Intervention im Auftrag der UNO, mit der dem Aggressor Saddam Hussein Kuweit wieder entrissen werden sollte. Drei Tage vor Ablauf des UNO-Ultimatums zogen Mahnwachen vor die Botschaft der USA. Nach Aufrufen verschiedener Friedensinitiativen des DGB und der Evangelischen Kirche fanden sich auf dem Kurfürstendamm 50 000 Menschen zusammen, die schließlich mit Bischof Kruse in der Gedächtniskirche beteten. Das Motto: "Kein Blut für Öl". Auf dem Höhepunkt der Betroffenheits-Welle gab es Großdemonstrationen wie die Ende Januar 1991 in Bonn mit über 200 000 Teilnehmern. Hauptsprecher war dort neben dem Vorsitzenden des DGB, Heinz-Werner Meyer, der brandenburgisehe Landesbischof Gottfried Forck, zuvor überzeugter Befürworter der DDR und ihres Sozialismus. Großdemonstrationen wurden flankiert durch Blokkaden, Mahnwachen, Proteste von Schauspielern in Theateraufführungen und "Rockkonzerte für den Frieden". Ziel der Aktionen war das Verbreiten von Angst, weshalb Friedensforscher Mechtersheimer sie die "Angstbewegung" nannte. Eine Besonderheit der Angstbewegung war die Mobilisierung von Kindern zu allerlei Aktionen wie Schweigeminuten in Schulpausen86. Lehrer ließen Unterricht für Aktionen mit dem Motto "Kein Blut für Öl" ausfallen - Rechtswidrigkeiten, für die Kultusminister Hans Schwier ausdrücklich seine Sympathie aussprach. In linken Flugblättern wurden die Aktionen gegen ein Eingreifen der 86 Zur Choreographie der Aktionen "Kein Blut für Öl" siehe die Darstellung "Nie mehr Täter sein". In: Spiegel, Nr. 5 (1991), S. 28-31. Eine Übersicht zum Verhalten der Medien findet sich in "Kein Blut für Öl", Spiegel, Nr. 5 ( 1991 ), S. 194-198.

"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

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UNO dann in Bezug gesetzt zu den Massendemonstrationen gegen die Nachrüstung im Jahre 1983. Die zunächst plötzlich aufgeflammten Proteste waren ausgelöst worden durch Aufforderungen über den Westdeutschen Rundfunk, seine Betroffenheit zu demonstrieren87. Dazu gehörte das Umfunktionieren von Theaterveranstaltungen zur Friedensdemonstration gegen die UNO und das Aushängen von Bett-Tüchern. Mit letzterer Art der Demonstration wurde Gesinnungsdruck auf Nachbarn ausgeübt nach der Formel: "Wer kein Bett-Tuch heraushängt, ist wohl dafür, daß man Krieg für Öl führt". Die Parallelen zu einem Gesinnungsdruck, für Ausländerfreundlichkeit auf die Straße zu gehen und eine brennende Kerze weithin sichtbar ins Fenster zu stellen, zu dem Protest gegen die Intervention am Golf sind offensichtlich. Die Friedensbewegung hat seit der Entscheidung zur Nachrüstung keinen eigentlichen Fokus mehr gehabt88 . Die Infrastruktur für Demonstrationen ist aber intakt geblieben. So gibt es hier eine Latenz für einen moralischen Protest, der mit der Sache, um die es geht, durchweg kaum etwas zu tun hat89 . Wer von den Demonstranten konnte schon wirklich wünschen, daß Saddam Hussein seine Fähigkeit zum Angriff mit Chemiewaffen auf Israel behielt, sein Atomprogramm mit Hilfe deutscher und englischer Firmen weiter vorantreibt und die Minderheiten in seinem Land foltert und ermordet? Aber warum gab es die Betroffenheit über die Gewalt im Nahen Osten, dagegen keine Massendemonstrationen gegen das spätere Morden? Es gibt eine sehr einfache Antwort: Nur diejenigen Themen werden von der Infrastruktur für moralische Proteste als geeignet angesehen, die moralisierend gegen die ungeliebte bürgerliche Gesellschaft gewandt werden können. Ein solches Objekt war jetzt dringend nötig, um von dem Thema Untaten der Sozialisten abzulenken. Jetzt, wo Hunderttausende für Ausländerfreundlichkeit rocken, ist das Thema Stasi und das Schicksal ihrer Opfer vom Tisch. In diesem Demonstrationsklima müssen die linken Netzwerke sich nicht damit auseinandersetzen, daß die SED in denfünfzigerund sechziger Jahren Rechtsextremisten in der Bundesrepublik förderte und Anschläge auf jüdische Friedhöfe organisierte, um die "BRD" als faschistischen Staat zu diskreditieren. Es ist gelungen, eine Nachforschung nach Stasi-Mitwirkung bei Brandanschlägen zu verhindern und 87 Klaus Bednarz hatte in der Monitor-Sendung vom 15.1.1991 sogar Soldaten aufgefordert, mit Verweis auf die UNO-Aktion am Golf zu desertieren. 88 Zur Bedeutung der Stasi für die bundesdeutsche Protestszene siehe Günter Sohnsack/ Herbert Brehmer: "Auftrag: Irreführung- wie die Stasi Politik im Westen machte" . Harnburg 1992. 89 Die Bedeutsamkeil einer vor Beginn einer Protestbewegung existierenden Infrastruktur und die Wichtigkeit der Reaktionen am Anfang einer Bewegung wird gezeigt in J. Graig Jenkins: "Resource Mobilization Theory and the Study of Social Movements". In: Annual Review of Sociology, 9. Jg. (1983), S. 527-553.

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vergessen zu machen, daß die Stasi der RAF beim Morden half. Vom Tisch ist auch, daß die Friedensbewegung sich von der SED mitfinanzieren und -organisieren ließ, und auf dem Tisch ist die Behauptung, Dauerprotest sei nötig im antifaschistischen Kampf. Das war ja auch die einzig wirkliche und wirksame Rechtfertigung, welche die DDR-Führung für die Existenz dieser Abspaltung von Deutschland anführte. Daß es eine Phrase war, zeigt die Bereitschaft zum Angriff auf Ausländer gerade auf dem Gebiet des ehemaligen "antifaschistischen Staates". Seit der "Studentenbewegung" von 1968 ist die Taktik der linken Netzwerke bekannt. Man wartet auf ein Thema, bei dem ein Protest wegen des Inhalts auf breite Zustimmung rechnen darf. Das waren damals Aktionen gegen die Erhöhung der Gebühren für das Straßenbahnfahren, an Universitäten öfters Proteste gegen Mieten in Studentenheimen oder Preise in den Mensen. Solche Themen interessierten an sich die linken Netzwerke nicht, sondern waren für sie lediglich eine Chance, die nun einmal zum Protest Mobilisierten anschließend für andere Zwecke in Bewegung zu setzen. Aus dem Gemeinschaftserlebnis einer Demonstration sollte die Motivation für einen weiteren Kampf nun für andere Ziele kommen. Dieses Stadium erreichen die Klagen gegen "Ausländerhaß" inzwischen. Sie sollen umfunktioniert werden zu einer Bewegung, die eine völlige Öffnung der Bundesrepublik für Einwanderung beliebiger Art und Umfang durchsetzt90. So erklärten Günter Grass und Claus Leggewie, daß man "nach Mölln" keine Asylbewerber abweisen dürfe91 . Beispielhaft rief das "Antifaschismus-Referat" desAStAder Universität zu Köln zur "Woche gegen Rassismus" auf. In bekannt kommunistischer Manier wurde die Bevölkerung getrennt nach Organisationsorten angesprochen: Da gibt es einen Tag des Sports, dann der Schulen, der Gewerkschaften, der Kirchen und Moscheen, der Parteien und Vereine. An einem Samstag wurden dann die verschiedenen Zielgruppen zu einer Abschlußdemonstration zusammengeführt. Auf diesen Demonstrationstagen wurde über solche Themen gesprochen wie "Universität zu Köln im Dritten Reich und Kontinuität im Bereich Rassismus und Sexismus". Letzteres hat nun überhaupt nichts zu tun mit Rostock oder Mölln, aber darum geht es ja auch nicht, sondern um das Umlenken einer Bewegung hin zu den eigenen Zielen. Das Ziel heißt: Destabilisierung der Bundesrepublik durch ungesteuerte Einwanderung. Die Destabilisierer konnten sich Hoffnung machen, daß die SPD sich auf eine Politik hinbewegen ließe, die das bewirkt. Und daß zugleich jeder Widerspruch 90 Dagegen sieheUte und Erwin K. Scheuch: "Keine ethnischen Ghettos oder kulturelle und religiöse Konfliktlinien entstehen lassen". In: der Iandkreis, Heft 1, 1990, S. 14-19. 91 Die Formulierung "nach Mölln" wurde gewählt als Übernahme der Formel "nach Auschwitz". Sie wurde im Kreis um Adomo verwandt, um alles Mögliche zu delegitimieren - etwa den Aufbau der Bundeswehr oder die Wiedervereinigung.

"Fremdenhaß" als akute Form des Rechtsextremismus?

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moralisch diffamiert wird. Das war zu Beginn der siebziger Jahre völlig anders. Zu diesem Zeitpunkt verhängte die SPD/FDP-Bundesregierung einen Ausländerstopp, der in der Bevölkerung unumstritten war. Und auch zu Beginn der achtziger Jahre war die Situation noch anders. Helmut Schmidt hatte vor den Dimensionen des Zuzugs in die Bundesrepublik gewarnt, als die Zahlen noch viel geringer und die kulturelle Distanz zu den Zuwanderern kleiner war. Im Kabinett kündigte der damalige Bundeskanzler Schmidt an: An Artikel 16 (Asyl) "müssen wir ran" 92. Am 15. Februar 1982 warnte Herbert Wehner in einer Sitzung des SPD-Parteivorstandes: "Wenn wir uns weiterhin einer Steuerung des Asylproblems versagen, dann werden wir eines Tages von den Wählern, auch unseren eigenen, weggefegt. Dann werden wir zu Prügelknaben gemacht werden. Ich sage Euch- wir sind am Ende mitschuldig, wenn faschistische Organisationen aktiv werden. Es ist nicht genug, vor Ausländerfeindlichkeit zu warnen - wir müssen die Ursachen angehen, weil uns sonst die Bevölkerung die Absicht, den Willen und die Kraft abspricht, das Problem in den Griff zu bekommen". Erst nach langem Zögern stimmte dann am 6. Dezember 92 die SPD einem mäßig wirksamen neuen Artikel 16a zur Kontrolle des Zustroms zu. ca. 400 000 kamen 1993 dennoch nach Deutschland. Ein Widerspruch gegen wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Zuwanderung folgt also somit keinesfalls aus den Grundpositionen der SPD. Der heutige Widerstand muß anders erklärt werden. Nach dem Zeugnis der Kritiker der sogenannten Petersberger Beschlüsse geht es auch nicht so sehr um den Zuzug als reales Problem. Vielmehr wird der Artikel 16 als Symbol für den Grad an Liberalität verstanden, den es zu verteidigen gilt. Gibt man hier nach- so wird argumentiert-, so hat man eine Schleuse geöffnet, und da die Bundesrepublik nach Meinung Linker ohnehin ein latent faschistischer Staat ist, wird der Faschismus, so ermutigt, dann manifest. Wie weit das eine bloß vorgeschobene Argumentation ist, dürfte sich bald erweisen. Dazu kommt eine Diskussion auch in der CDU um die Wünschbarkeit einer sogenannten multikulturellen Gesellschaft. Dieser Begriff ist aus Amerika übernommen worden, offensichtlich aber, ohne die dortige Bedeutung zu kennen. Multikulturelle Gesellschaft ist in Amerika die Bezeichnung für den Anspruch, daß die Minoritäten insbesondere ethnischer Art sich nicht in die dominante Kultur integrieren sollen. Vielmehr wird diese als Unterdrückung des eigenen Wertekanons diffamiert, was mit dem Anspruch verbunden wird, an die Stelle der europäisch zentrierten Kultur habe mindestens gleichberechtigt afrikanische oder asiatische oder hispanische Kultur zu treten. Ein Wunsch nach multikultureller Gesellschaft in diesem Sinn ist bei Angehörigen der Mehrheitskultur eine Form des Selbsthasses. 92

"Finished, aus, you go, hau ab". In: Spiegel, 6.6.1980,S. 42.

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Erwin K. Scheuch

Diejenigen, die jede Einschränkung einer Zuwanderung auch von ethnisch und kulturell von Deutschland besonders weit entfernten Menschen bekämpfen, wollen mehr: ein destabilisiertes Land. Das erklärt sonst Unerklärliches: Moslemische Einwanderer, die sich nicht integrieren wollen, sollen den Vorzug erhalten vor integrationswilligen Aussiedlern. Ein durch ungesteuerte Zuwanderung verändertes Deutschland - so die DestabilisiereT - würde dann endlich seinen latenten Faschismus ausgetrieben erhalten. Damit wird der Kampf für ungebremste Einwanderung zum antifaschistischen Kampf, die Sorge um die Folgen hoher Einwanderung aber als protofaschistisch verdächtigt. Die Ablehnung von Ausländern, die das Asylrecht mißbrauchen, wird sogar als ein Rechtsruck diffamiert- eine heillose Konfusion. Sie wurde bereits durch die Hinnahme des völlig verfehlten Wortes Ausländerfeindlichkeit so verwirrt, daß sie durch die Parteien des Bundestages auf absehbare Zeit nicht mehr zu reparieren ist. Im Jahr 1992 stieg die Zahl derjenigen, die unter Berufung auf das Asylrecht einwanderten, um 71 %. Knapp 440 000 Einwanderer kamen in die Bundesrepublik und erhielten Anrechte auf Leistungen aus dem System der sozialen Sicherheit. Durch Uneinigkeit bis hin zu grundsätzlichen Widersprüchen erwies sich das politische System als nur eingeschränkt handlungsfähig. Bereits jetzt läßt sich mit der Berufung auf Ausländerfeindlichkeit das System beschädigen: Zwischen und in den Parteien FDP, CDU/CSU und vor allem SPD lassen sich Konflikte schüren, die sich moralisch-unversöhnlich gestalten lassen. Und der immer noch hohe Zuzug belastet die Republik zunächst fiskalisch, dann aber auch sozial. Die Kriminalität steigt, die Irritationen werden zunehmen, wenn in größerem Umfang Räume zwangsbelegt werden. Die Bevölkerung erschrickt ob der Handlungsunfähigkeit der Politik- erschrickt mehr als beim Golfkrieg und der zugehörigen Angstbewegung. Und bei alledem läßt sich das Land international gut verleumden als fremdenfeindlich, ja als Land des Ausländerhasses, obwohl es in dieser Frage keine grundsätzlichen Unterschiede zu England oder Frankreich oder Holland gibt.

Armin Pfahl-Traughber

RECHTSEXTREME SUBKULTUREN Verbindungen und Divergenzen im westlichen und östlichen Deutschland "Die Themen der neunziger Jahre werden Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Nationalismus ... sein." 1 So die Einschätzung des Leiters der Hamburger Verfassungsschutzbehörde, Ernst Uhrlau, im September 1992. Unabhängig davon, ob man dieser Bewertung in ihrer Dramatik so zustimmt, läßt sich doch seit Mitte der achtziger Jahre ein stetiges Ansteigen des Rechtsextremismus auf nahezu allen Ebenen beobachten: Die Parteien der extremen Rechten verzeichneten zunächst auf relativ niedriger Ebene, dann aber mit Unterbrechungen auch im größeren Maßstab Wahlerfolge; neonationalsozialistische Gruppen erhielten stärkeren Zulauf und betätigten sich in Form von immer gewalttätiger werdenden Aktionen; die jugendliche Subkultur-Szene der Skinheads machte einen Politisierungsprozeß durch und übernahm rechtsextremistische Auffassungen; es bildeten sich um neue Publikationsorgane lockere Denkzirkel von Jungakademikern, die eine Intellektualisierung der extremen Rechten betreiben wollen; und schließlich belegen Meinungsumfragen die steigende Akzeptanz für rechtsextreme Ideologieelemente und entsprechendes Wahlverhalten. Hier soll nun das Verhältnis der einzelnen rechtsextremen Subkulturen zueinander, ihre Verbindungen und Divergenzen, dargestellt und problematisiert werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß Rechtsextremismus ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Phänomene ist und es sich dabei keineswegs um eine homogene politische Kraft handelt. Vielmehr können sich rechtsextreme Subkulturen in Form, Inhalt, Handeln und Niveau durchaus unterscheiden. Es gibt nicht nur rechtsextreme Parteien, sondern auch Kulturvereine; es gibt nicht nur neonationalsozialistische, sondern auch konservative oder nationalrevolutionär ausgerichtete Strömungen; es gibt nicht nur gewaltbereite, sondern auch den "Legalismus" durchaus glaubwürdig vertretende Aktivisten; es gibt nicht nur unter Alkoholkonsum rassistische Parolen brüllende Rabauken, sondern auch geschickt argumentierende Intellektuelle. Sie alle eint aber die Ablehnung der Prinzipien 1 "Anfang der Todesspur". Interview mit VerfassungsschützeT Ernst Uhrlau über Gewalt von rechts, in: Der Spiegel46 (1992), H. 38, S. 30 f., hier S. 30.

5 Löw (Hrsg.)

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Armin Pfahl-Traughber

und Werte des demokratischen Verfassungsstaates mit traditionell rechts ausgerichteten ldeologieelementen, und genau diese Gemeinsamkeit rechtfertigt die Einordnung unter den Sammelbegriff Rechtsextremismus.

I. Begriffsdefinitionen: Politischer Extremismus- Subkultur Bevor nun die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im deutschen Rechtsextremismus erörtert werden sollen, bedarf es einer Definition der Begriffe, die der folgenden Untersuchung zugrunde liegen. Dies ist um so notwendiger, da sich mit politischer Extremismus und Subkultur in der Öffentlichkeit, aber auch in den Politikwissenschaften keineswegs einheitliche Vorstellungen verbinden. Es geht bei der Definition also nicht um ein belangloses Spiel mit Begriffen, sondern um eine theoretische Eingrenzung des zu beschreibenden und zu analysierenden politischen Phänomens. Politischer Extremismus2 soll hier im Sinne der beiden Politikwissenschaftler Uwe Backesund Eckhard Jesse verstanden werden "als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen ... , die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen . ..". 3 Wir haben es hier also mit einem Abgrenzungsbegriff und einer Negativ-Definition zu tun. Politischer Extremismus wird über die Ablehnung der Minimalbedingungen des demokratischen Verfassungsstaates definiert. Zu ihnen gehören folgende Werte und Grundregeln: das Ethos menschlicher Fundamentalgleichheit, Menschen- und Bürgerrechte, der Konstitutionalismus mit dem Prinzip der Gewaltenteilung und dem Schutz der persönlichen Freiheitssphäre des einzelnen Bürgers, rechtsstaatliche Vorgaben, ein Pluralismus in politischer und gesellschaftlicher Sphäre sowie das Repräsentativ-Prinzip. Die Allgemeinheit dieser Merkmale macht bereits auf das immer wieder aufkommende Problem der Grenzziehung von demokratischem Verfassungsstaat und politischem Extremismus aufmerksam. Hierbei handelt es sich zweifellos um eines der wichtigsten Defizite bisheriger Extremismusforschung, die trennscharfe Kriterien zur Meßbarkeit von politischem Extremismus entwikkeln muß, um Bewertungen nicht als willkürliche Einschätzungen erscheinen zu lassen. Ein Schritt in diese Richtung ist die Ergänzung der Negativ- durch eine Positivdefinition des Extremismus, wie sie Backes vorgenommen hat. Hinsichtlich 2 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung um den Extremismus-Begriff. Definitionen - Kritik- Alternativen, in: Uwe Backes I Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 4, Bonn 1992, S. 67-86. 3 Uwe Backes I Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. II: Analyse, Köln 1989, S. 33.

Rechtsextreme Subkulturen

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einer inhaltlichen Weiterentwicklung des Extremismusbegriffs weist er auf Gemeinsamkeiten extremistischer Doktriken bei der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates hin und sieht in entsprechenden Strukturmerkmalen den positiven Bestandteil des Extremismusbegriffs. Als solche werden genannt: Dogmatismus, Utopismus und kategorischer Utopieverzicht, Freund-Feind-Stereotype, Verschwörungstheorien, Fanatismus und Aktivismus. 4 Ergänzend können hier genannt werden: ein antipluralistisches Politik- und Gesellschaftsverständnis, identitäre Auffassungen von der Homogenität des Volkes und der Autoritarismus. Mit den genannten Strukturmerkmalen faßt Extremismustheorie eine Reihe ganz unterschiedlicher politischer Ideologien unter den Sammelbegriff des Extremismus, "sei es, daß das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus), sei es, daß der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es, daß jede Form von Staatlichkeil als 'repressiv' gilt (Anarchismus)".5 Hierbei muß deutlich hervorgehoben werden, daß es nicht um eine inhaltliche Gleichsetzung, sondern um Gemeinsamkeiten hinsichtlich bestimmter Strukturmerkmale und des damit verbundenen Gegensatzes zum demokratischen Verfassungsstaat geht. Im Gegensatz zum Begriff Politischer Extremismus ist Subkultur kein direkt politikwissenschaftlicher, sondern mehr ein soziologischer Begriff. Er bezieht sich primär auf einen gesellschaftlichen und nicht unbedingt auf einen politischen Aspekt. Subkultur bedeutet so viel wie "Unterkultur" und meint eine gesellschaftliche Gruppe, die sich in Abgrenzung von der Mehrheitskultur bzw. der allgemein akzeptierten Kultur definiert. Bei einer Subkultur handelt es sich um ein System von Normen, Symbolen, Verhaltensweisen und Werten, das sich von der Gesamtkultur unterscheidet und ein relatives Eigenleben führt. Abweichendes Verhalten, Desintegration und Konflikt bestimmen das Verhältnis zur Mehrheitskultur. Wir haben es hier also mit einem formalen Begriff zu tun, der auf nahezu alle sich von der Mehrheitskultur in der genannten Form unterscheidenden besonderen Teil-Gruppen angewendet werden kann. Diese definieren sich über eine bestimmte Gesinnung, Lebenshaltung, Mode oder Religion und müssen nicht unbedingt etwas mit Politik im engeren Sinne zu tun haben. Bei diesem Begriffsverständnis dürfte deutlich geworden sein, daß der Terminus Subkultur auf einer ganz anderen Ebene als der Terminus politischer Extremismus liegt. Beide Bezeichnungen können also keinesfalls gleichgesetzt werden. Um den formalen soziologischen Begriff Subkultur hier in Zusammenhang mit dem Phänomen Rechtsextremismus zu bringen, bedarf es seiner inhaltlichen Fül4 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 289-318. 5 Backes I Jesse (Anm. 3), S. 33.

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Annin Pfahl-Traughber

lung. Dabei wird als Unterscheidungsmerkmal der Subkultur bzw. Subkulturen von der Mehrheitskultur eine bestimmte politische Auffassung verstanden, die hier eine rechtsextreme ist. In Abgrenzung von der demokratischen Mehrheitskultur und damit auch vom demokratischen Verfassungsstaat definieren sich die rechtsextremen Subkulturen, und dieser Zusammenhang erlaubt es auch, beide so unterschiedliche Begriffe im hier skizzierten Sinne miteinander zu verbinden.6

li. Rechtsextreme Ideologieelemente

Rechtsextremismus7 kann entsprechend der oben definierten Auffassung von politischem Extremismus als eine Sammetbezeichnung für antidemokratische Auffassungen und Bestrebungen mit traditionell politisch rechts einzuordnenden Ideologieelementen bezeichnet werden. Sammetbezeichnung meint hier, daß man es mit einer Reihe zum Teil ganz verschiedener politischer Ausdrucksformen zu tun hat, die bei allen Gemeinsamkeiten ideologisch nicht unbedingt gleichgesetzt werden können. Übereinstimmungen bestehen zum einen hinsichtlich der Ablehnung der Prinzipien eines demokratischen Verfassungsstaates und zum anderen darin, daß es verschiedene ideologische Grundelemente gibt, die allen Erscheinungsformen von Rechtsextremismus mehr oder minder eigen sind. Einige können als allgemeine Strukturmerkmale von politischem Extremismus angesehen werden, andere gelten als typisch rechtsextrem. Zu den für den Rechtsextremismus der Gegenwart typischen Ideologieelementen gehört der Nationalismus. Einerseits wird in der Literatur in diesem Zusammenhang immer von einem "übersteigerten" oder "völkisch fundierten" Nationalismus gesprochen und eine "normale" Variante offenbar als nicht-rechtsextrem empfunden, andererseits interpretiert man Nationalismus auch als Auffassung, wonach die eigene Nation einer oder allen anderen Nationen überlegen sei. Beides hängt mit einem ungeklärten Begriffsverständnis von Nationalismus zusammen, denn von Nationalismus kann bereits dann gesprochen werden, wenn die "Nation" die Kategorie ist, die bei der Bindung an Werteam höch6 Ein solches Begriffsverständnis findet man auch bei Politologen, die der Extremismustheorie kritisch gegenüber stehen; vgl. bspw. Hans-Gerd Jaschke, Subkulturelle Aspekte des Rechtsextremismus, in: Dirk Berg-Schlosser I Jakob Schissler (Hrsg.), Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987, s. 322-330. 7 Vgl. hinsichtlich umfassender Definitionen von Rechtsextremismus auch Willibald I. Holzer, Rechtsextremismus - Konturen und Definitionskomponenten eines politischen Begriffs, in: Dokumentationszentrum des Österreichischen Widerstands (Hrsg.), Rechtsextremismus in Österreich nach 1945, Wien 1980, S. 8-97; Hans-Gerd Jaschke, Rechtsextremismus, in: Iring Fetscher I Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 5, München 1987, S. 487-495.

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sten über allen Werten, also auch den Menschenrechten steht. In diesem Fall bildet "Nation" den primären Bezugsrahmen für das Individuum, diesem sind alle anderen Werte und Interessen unterzuordnen. Von daher kann der Nationalismus in einem demokratischen Verfassungsstaat auch als "antidemokratische lntegrationsideologie"8 bezeichnet werden. Differenzierter einzuschätzen wäre der Autoritarismus, der zwar immer wieder als typisches Merkmal von Rechtsextremismus verstanden wird, aber eher als ein allgemeines Strukturmerkmal extremistischer Doktrinen anzusehen ist. Autoritarismus meint auf der gesellschaftlichen Ebene einen Gehorsam um des Gehorsams willen und auf der politischen Ebene ein Staatsverständnis, das den Staat über die Gesellschaft stellt und diesen nicht als ihr Instrument, sondern als die Gesellschaft einseitig dominierend ansieht. In diesem Zusammenhang zu sehen sind auch Forderungen nach einem "Führer" oder "starken Mann", der mit großen Vollmachten bestimmen bzw. regieren soll. Insofern ist auch der Definition des Politologen Richard Stöss, der meint "Rechtsextremismus ist Demokratiefeindschaft"9, als Teil-Definition zuzustimmen. Aber dies gilt nicht allgemein und ausschließlich, denn dem Umkehrschuß "Demokratiefeindschaft ist (nur) Rechtsextremismus" kann man angesichts anders ausgerichteter demokratiefeindlicher Strömungen so nicht zustimmen. Ähnlich differenziert eingeschätzt werden muß der Antipluralismus mit der Vorstellung von der Identität von Regierung und Volk, der sich individuelle oder gruppenspezifische Interessen bedingungslos zu unterwerfen hätten. Im Rechtsextremismus artikulieren sich derartige Vorstellungen in der Ideologie von der "Volksgemeinschaft", die angesehen wird als natürliche Ordnung, in der Volk und Staat als Einheit verschmelzen. Teil-Interessen gelten als diese Einheit störend und werden entsprechend negiert, sie sollen dem Ganzen untergeordnet sein. Aufgrund des besonderen ideologischen Ausdrucks dieses Antipluralismus ("Volksgemeinschaft") entstand vielfach der Eindruck, es handele sich um ein lediglich für den Rechtsextremismus zutreffendes Ideologieelement Aber auch hier gilt es zu berücksichtigen, daß sich antipluralistische und identitäre Politikund Gesellschaftsvorstellungen ebenfalls in anderen Politikformen finden und von daher in diesem Zusammenhang auch von einem allgemeinen Strukturmerkmal extremistischer Doktrine gesprochen werden kann. 10 Demgegenüber ist ein typisch rechtsextremes Ideologieelement die Ideologie der Ungleichheit, verbunden mit der Ausgreniung und Abwertung der nicht zur 8 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Nationalismus: Eine antidemokratische Integrationsideologie, in: Vorgänge 29 (1990), H. 106, S. 89-97. 9 Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik. Entwicklung, Ursachen, Gegenmaßnahmen, Opladen 1989, S. 18. 10 Vgl. zum Pluralismus I Antipluralismus allgemein Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (1964), Frankfurt/M. 1991.

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Eigengruppe gehörenden Menschen. Gemeint ist damit selbstverständlich nicht die Feststellung natürlicher Unterschiede bei Menschen, sondern die daraus abgeleitete Ablehnung bestimmter Rechte für Gruppen von Individuen, die sich durch ethnische Merkmale abheben. Verbunden sind solche Vorstellungen häufig mit der Aufwertung der Eigengruppe (Rassismus I Ausländerfeindlichkeit), der Behauptung natürlicher Hierarchien (zwischen verschiedenen Völkern, aber auch innenpolitisch) und/oder der Betonung des Rechts des Stärkeren (Sozialdarwinismus). All diese Auffassungen münden in einem biologistischen Weltbild: Soziale Ungleichheit ist demnach die ausschließliche Folge genetischer Prädispositionen. Im Kern laufen derartige Vorstellungen auf die bewußte Negierung der Menschenrechte als Grundlage von sozialem Handeln hinaus. Eine ganze Reihe hier nicht gesondert beschriebener rechtsextremer Ideologieelemente sind integrale Bestandteile der vier genannten Grundelemente, etwa die Ablehnung von Interessenverbänden (z. B. der Gewerkschaften) als Element des Antipluralismus oder die fehlende innerorganisatorische Demokratie als Ausdruck von Autoritarismus. Zwar findet man die vorgestellten Ideologieelemente bei allen Rechtsextremisten, dies bedeutet aber nicht, daß sie sich in einheitlicher Form ausdrücken. Je nach besonderer ideologischer Ausrichtung und Organisationsform der einzelnen rechtsextremen Subkulturen können diese ganz unterschiedliche Gestalt annehmen. Von daher müssen auch die Ebenen bzw. Verbreitungsformen und ideologischen Orientierungen des Rechtsextremismus differenziert betrachtet werden.

III. Verbreitungsformen von Rechtsextremismus Der politisch organisierte Rechtsextremismus - die soziologische Seite dieses Phänomens muß hier unberücksichtigt bleiben -kann nach formalen Kriterien im Sinne einer Organisationstypologie unterschieden werden. Erstens geht es dabei um die Parteien, einerseits bezüglich ihrer politischen und organisatorischen Entwicklung, andererseits hinsichtlich ihrer Wirkung, vor allem bei Wahlen. Zweitens verdienen nichtparteilich organisierte Zusammenschlüsse von Rechtsextremisten, also Gruppierungen, Organisationen und Medien, Beachtung, und zwar hinsichtlich ihrer internen Entwicklung, aber auch bezogen auf ihre Außenwirkung. Drittens geht es um jene gesellschaftliche Gruppen, die zunächst eher unpolitisch wirken, aber rechtsextreme Orientierungen aufweisen, also der Rechtsextremismus im vorpolitischen Bereich. Hier kann nicht zu den einzelnen Ebenen eine ausführliche Darstellung geliefert werden 11 , die folgende kurze Skizze willlediglich einige Basisinformationen geben. 11 V gl. Annin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus nach der Wiedervereinigung; Eine kritische Bestandsaufnahme, Bonn 1993.

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Zu den Parteien gehören die "Republikaner" (REP) 12, die 1983 zunächst als Rechtsahspaltung der CSU gegründet wurden und seit Mitte der achtziger Jahre einen je nach gewählter Anpassungsstrategie mehr oder minder starken rechtsextremen Kurs vertreten. Bei Wahlen erhielt die Ende 1992 rund 23.000 Mitglieder zählende Partei ganz unterschiedliche Ergebnisse: Bis 1989 und zwischen 1990 und 1991 blieben die REP um die ein Prozent der Stimmen, 1989 erlangten sie um die sieben Prozent und 1992/93 um die zehn Prozent der Stimmen. Die von den Wahlergebnissen- um die sieben Prozent 1991/92 im Norden Deutschlands -und von derMitgliederzahl-rund 24.000- zweitwichtigste rechtsextreme Partei ist die "Deutsche Volksunion" (DVU) 13. Sie entstand 1987 aus einem Verein gleichen Namens als Wahlpartei, besitzt abertrotzder vergleichsweise hohen Mitgliederzahl keinen funktionsfähigen Parteiapparat und ist nur durch das Kapital ihres Vorsitzenden überhaupt handlungsfähig. Die älteste rechtsextreme Partei, die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 14, dürfte nach dem Abflauen einiger Wahlerfolge auf niedriger Ebene in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und einer parteiinternen Spaltung mit einem damit verbundenen Mitgliederschwund auf 6700 zwar weiter existieren, aber selbst im rechtsextremen Lager an Bedeutung verlieren. Eine sich als Sammetpartei verstehende Neugründung von 1991, die "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (DL) 15 , versuchte die traditionelle Schwäche der bundesdeutschen extremen Rechten, ihre Zersplittertheit, zu überwinden, scheiterte aber an dem Beharren auf Eigenständigkeil der anderen Parteien und kommt mit dem Aufbau eigener Parteistrukturen nur schwer voran. Und schließlich wäre als rechtsextreme Partei noch die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) 16 zu nennen, eine bei Wahlen lediglich zwischen 0,1 und 0,2 Prozent der Stimmen erhaltende, durch Abspaltungen auf 150 Mitglieder geschrumpfte neonationalsozialistische Organisation. 12 Vgl. u. a. Hans-Gerd Jaschke, Die "Republikaner". Profile einer Rechtsaußenpartei, Bonn 1990; Claus Leggewie, Die Republikaner. Ein Phantom nimmt Gestalt an, Berlin 1990. 13 Vgl. Hans-Jürgen Doll, Die Entwicklung der "Deutschen Volksunion-Liste D" (DVU-Liste D), in: Bundesminister des Inneren (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Extremismus, Bonn 1989, S. 99-107; Heinrich Sippe!, NPD und DVU- Bilanz einer schwierigen Beziehung, in: Uwe Backes I Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie 1, Bonn 1989, S. 174-184. 14 Vgl. u. a. Peter Dudek I Hans-Gerd Jaschke, Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, Bd. 1, Opladen 1984, S. 280355; Peter M. Wagner, Die NPD nach der Spaltung, in: Uwe Backes I Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie 4, Bonn 1992, s. 157-167. 15 Vgl. Neue rechtsextreme Partei "Deutsche Liga für Volk und Heimat" (Deutsche Liga), in: Innere Sicherheit, Nr. 1/1992, S. 3. 16 Vgl. Georg Christians, "Die Reihen fest geschlossen". Die FAP- Zu Anatomie und Umfeld einer militant-neofaschistischen Partei in den 80er Jahren, Marburg 1990 (eine informative, die politische Bedeutung der FAP aber überschätzende Darstellung).

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Zu den nicht an Parteien gebundenen rechtsextremen Organisationen gehören neben Gruppen, Vereinen und Zirkel auch Medien und Verlage. Es existieren eine ganze Reihe von neonationalsozialistischen Aktivistengrupen 17 wie u. a. die "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF), die zwischenzeitlich verbotene "Deutsche Alternative (DA), die "Nationale Alternative" (NA), eine NSDAP-Aufbauorganisation, die ebenfalls verbotene "Nationalistische Front" (NF) und einige ältere neonationalsozialistische Organisationen. Die zunächst beeindruckende Zahl dieser Zusammenschlüsse darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß deren Mitgliedschaft aus taktischen Gründen häufig deckungsgleich ist und sie mit einer (zwar ansteigenden) Mitgliederzahl von über 6000, weniger politisch, sondern mehr aufgrund ihrer Gewaltbereitschaft bedeutsam sind. Neben derartigen Aktivistengruppen existieren noch rechtsextreme Kulturvereinigungen wie etwa die "Gesellschaft für freie Publizistik" (GfP) oder die "Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung" (GfbAEV) und Theorie-Zirkel als Organisation wie das "ThuJe-Seminar" oder als lockere Zusammenschlüsse meist um Publikationsorgane herum. Zu den rechtsextremen Verlagen zählen neben den Nationalsozialismus verharmlosenden und die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg beschönigende Verlage wie "Grabert" und "Schütz", den antisemitisch-antifreimaurerischen Verschwörungsmythos propagierende Verlage wie "Diagnosen" oder "Verlag für ganzheitliche Forschung und Kultur" und Verlage im Sinne der Neuen Rechten wie "Hohenrain" oder "Arun". 18 Zu den rechtsextremen Medien zählen politische Boulevard-Blätter wie die "Deutsche National-Zeitung" mit einer Auflage von 80.000, Theorieorgane wie "Nation und Europa" mit einer Auflage von 10.000 oder "Europa vom" mit einer Auflage von 3000, aber auch Zeitungen und Zeitschriften, die ganz bewußt in den demokratischen Konservatismus hineinwirken wollen wie "Junge Freiheit" mit einer Auflage von 35.000 oder "Zeitenwende" mit einer Auflage von 3500. 19 Rechtsextremismus im vorpolitischen Raum bezieht sich auf Zusammenschlüsse von Personen, die sich in erster Linie nicht als politisch verstehen, aber sehr wohl rechtsextreme Orientierengen aufweisen. Dies gilt etwa für die Skin17 Vgl. Bundesminister des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutz 1991, Bonn 1992, S. 90-105; ID-Archiv im ISSG (Hrsg.), Drahtzieher im braunen Netz. Der Wiederaufbau der NSDAP. Ein Handbuch des antifaschistischen Autorenkollektivs Berlin, Ber1in 1992 (eine informative Darstellung aus der Sicht linksextremer Autonomer, die stellenweise zu Übertreibungen neigt). 18 Vgl. zu den genannten Verlagen ausführlicher Pfahl-Traughber (Anm. 11), Kap. III. 19 Vgl. Astrid Lange, Was die Rechten lesen. Fünfzig rechtsextreme Zeitschreiften. Ziele, Inhalt, Technik, München 1993; Siegfried Jäger (Hrsg.), Rechtsdruck. Die Presse der Neuen Rechten, Bonn 1988; Annin Pfahl-Traughber, Rechte Intelligenzblätter und Theorieorgane, in: Vorgänge 31 (1992), H. 116, S. 37-50.

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head-Bewegung20, die sich als jugendliche Subkultur gegründet hat und in der Bundesrepublik Deutschland erst im Laufe der achtziger Jahre einen Politisierungsprozeß durchmachte. Als deren Ergebnis kristallisierte sich bei der Mehrheit der Skinheads- fast zeitgleich auch in der damaligen DDR 21 -eine diffuse rechtsextreme Orientierung heraus, bestehend aus einem aggressiven Rassismus und der Verherrlichung des historischen Nationalsozialismus und seiner Vertreter. Trotz der ideologischen Affinitäten zum Neonationalsozialismus gelang es Aktivisten aus diesem Lager, Skinheads nur begrenzt bei sich zu organisieren; die Mehrheit verweigerte sich aufgrundder dieser Subkultur eigenen Undiszipliniertheit organisatorischen Einbindungen, vertritt aber sehr wohl rechtsextreme Auffassungen. Auf einer ganz anderen gesellschaftlichen Ebene lassen sich ebenfalls rechtsextreme Tendenzen im vorpolitischen Raum feststellen und zwar innerhalb bestimmter studentischer Korporationen. 22 Diese haben ebenfalls keine direkt politische Funktion, sie stellen mehr einen gesellschaftlichen Zusammenschluß ("Lebensbund"), auch stark motiviert durch das Erhoffen persönlicher Vorteile, dar. Aufgrund der "nationalen" Orientierung von Burschenschaften und der Überbewertung von "nationaler Identität" bei aus demokratietheoretischer Sicht nicht ausreichend geklärtem Verhältnis zu Menschenund Bürgerrechten entwickelten sich in einzelnen Korporationen rechtsextreme Tendenzen heraus. Es entstehen kleinere Arbeitsgruppen und Denkzirkel, die sich als intellektuelle Elite einer sich möglicherweise bei Wahlen stärker etablierenden rechtsextremen Partei verstehen.

IV Ideologische Formen des Rechtsextremismus Der deutsche Rechtsextremismus unterscheidet sich nicht nur hinsichtlich seiner Organisationsformen, sondern auch bezüglich der ideologischen Orientierungen. Entgegen einer weit verbreiteten Vorstellung sind keineswegs alle Rechtsextremisten Anhänger des historischen Nationalsozialismus, es gibt darüber hinaus noch ganz andere ideologische Formen, die mit Nationalismus, identitärem 20 Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (Hrsg.), Skinheads, Stuttgart 1991; Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Aufuellung des rechtsextremistischen Hintergrundes der Skinhead-Szene, München 1992; Klaus Farin I Eberhard Seidel-Pielen, Skinheads, München 1993. 21 Vgl. Waltraud Arenz, Skinheads in der DDR, in: Dieter Voigt I Lothar Mertens (Hrsg.), Minderheiten in und Übersiedler aus der DDR, Berlin 1992, S. 141-171; Wolfgang Brück, Skinheads vor und nach der Wende in der DDR, in: Wolfgang Gessenharter I Helmut Fröchling (Hrsg.), Minderheiten- Störpotential oder Chance für eine friedliche Gesellschaft, Baden-Baden 1991, S. 163- 173. 22 Vgl. Uwe Spindler, Rechtsextreme Tendenzen in der Deutschen Burschenschaft in den siebzigerund achtziger Jahren, Berlin 1990, unveröffentliche Diplomarbeit

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Politikverständnis, Autoritarismus und der Ideologie der Ungleichheit ebenfalls die Wertvorstellungen des demokratischen Verfassungsstaates ablehnen. Es können die folgenden ideologischen Varianten unterschieden werden: -

ein antidemokratischer Konservativismus. Damit gemeint sind jene Strömungen des politischen Konservatismus, die sich nach 1945 die Prinzipien und Wertvorstellungen eines demokratischen Verfassungsstaates nicht zu eigen gemacht haben. Zwar geben diese sich in der Regel ein "staatstragendes" Image, vertreten aber autoritäre und antipluralistische Politikvorstellungen im oben definierten Sinne. Einer solchen ideologischen Form des Rechtsextremismus wäre etwa die Partei der REP oder auf publizistischer Ebene die Zeitung "Junge Freiheit" zuzurechnen.

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der traditionelle Deutsch-Nationalismus. Diese Ideologie ist durch einen völkischen Nationalismus und besitzbürgerliches Denken gekennzeichnet und steht in der Tradition der "Deutschnationalen Volkspartei" (DNVP) der Weimarer Republik. Man findet derartige Vorstellungen im bundesdeutschen Rechtsextremismus vor allem in der DVU und NPD. Trotz mancher Anklänge an NS-Ideologieelemente können diese Parteien bzw. Strömungen nicht als neonationalsozialistisch verstanden werden, weil ihnen der verbale Antikapitalismus und Radikalismus der Nationalsozialisten meist fehlt. 23

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die Neue Rechte. Dabei handelt es sich meist um Intellektuellengruppen, die sich auf die Theoretiker der "Konservativen Revolution" der Weimarer Republik (Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger, Carl Schmitt etc.) und der Neuen Rechten Frankreichs (Alain de Benoiost, Guillaume Faye etc.) berufen. Sie lehnen die Theoriefeindlichkeit der alten traditionellen extremen Rechten sowie deren Fixierung auf die Vergangenheit ab und beziehen sich nicht nur auf die eigene Nation, sondern auf ihr besonderes Europa-Bild. Insbesondere der letztgenannte Aspekt und die erklärte Gegnerschaft zum Christentum unterscheidet diese Gruppen von dem oben genannten antidemokratischen Konservatismus. Man findet Vertreter der Neuen Rechten etwa im "Thule-Seminar" oder als lockere Zusammenschlüsse um Publikationsorgane wie "Europa Vom" oder "Junge Freiheit".

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Nationa/revo/utionäre. Sie verstehen sich als Befreiungsnationalisten, sind weniger auf den Staat und mehr auf Region und Volk bezogen und knüpfen verbal ganz bewußt an einen eher linken politischen Diskurs an. Gerade diese Besonderheiten unterscheiden sie auch von der Neuen Rechten, und von daher wären sie auch als eine eigenständige ideologische Variante der extremen Rechten anzusehen. Zu der Gruppe der Nationalrevolutionäre gehört vor al-

23 Vgl. hierzu auch die differenzierte Einschätzung von Dudek I Jaschke (Anm. 14), S. 349-355. In der NPD, vor allem in der Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN), kamen ab und an aber auch "antikapitalistische Auffassungen" im Sinne von "nationalrevolutionären" Einsprengseln eines "Dritten Weges" auf.

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lern der Kreis um die Zeitschrift "Wir selbst", aber auch Vertreter aus dem Umfeld anderer Publikationsorgane wie etwea "Europa Vom". der Neonationalsozialismus. Darunter sind jene politischen Strömungen zu verstehen, die sich ausdrücklich auf die historische NS-Ideologie beziehen und die Errichtung eines "Vierten Reiches", basierend auf den programmatischen Forderungen der NSDAP von 1920, anstreben. Allerdings wird der Nationalsozialismus keineswegs einheitlich gesehen und bewertet. Es haben sich etwa neonationalsozialistische Aktivistengruppen herausgebildet, die sich eher im Sinne der Gehrüder Strasser oder Ernst Röhms denn Hitlers, eher im Sinne der SA denn der SS als Nationalsozialisten verstehen.

Die hier mehr im idealtypischen Sinn getroffene Unterscheidung verschiedener rechtsextremer Ideologieformen will selbstverständlich nicht behaupten, es seien keine Übergänge und Verbindungslinien vorhanden. Über die gemeinsame Akzeptanz der oben genannten vier ideologischen Grundelemente rechtsextremer Doktrine hinaus bestehen zwischen den einzelnen Ideologieformen und ihren personellen und organisatorischen Trägem Gemeinsamkeiten, die sich vor allem im publizistischen Bereich, teilweise aber auch in der politischen Tätigkeit zeigen. Trotzdem gilt es zu beachten, daß der Rechtsextremismus keineswegs ideologisch einheitlich orientiert ist, sondern in diesem Bereich eine Reihe von Divergenzen bestehen.

V. Handlungsstil und Orientierungen

Ein weiteres Unterscheidungskriterium für den organisierten Rechtsextremismus ist der gewählte Handlungsstil, womit hier das strategisch I taktische Verhältnis zum politischen System gemeint ist. Neben der Frage "strenge Legalitätsorientierung oder Militanz"24 geht es dabei um die offiziell bekundete Einstellung zum demokratischen Staat und seiner Verfassung. Offen abgelehnt wird beides von neonationalsozialistischen Aktivistengruppen und Skinheads, die ausdrücklich betonen, das "System" abschaffen zu wollen. Ähnlich deutliche Auffassungen werden auch in bestimmten Publikationsorganen vertreten, etwa den "Staatsbriefen", die das parlamentarische System durch ein "Viertes Reich" (im Sinne der Staufer) ablösen wollen; dazu müßten "die herrschenden Musterschüler westlicher Demokratie durch Politiker von deutscher Art" abgelöst werden.25 24 Vgl. Uwe Backes I Eckhard Jesse, Extremistische Gefahrenpotentiale im demokratischen Verfassungsstaat -Am Beispiel der ersten und der zweiten deutschen Demokratie, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie 3, Bonn 1991, S. 7-32, hier s. 13. 25 Vgl. Pfahl-Traughber (Anm. 19), S. 41 f.

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Die Mehrheit der rechtsextremen Parteien, REP, DVU, NPD und DL, lediglich die FAP bildet eine Ausnahme, und die meisten Organisationen, mit Ausnahme der neonationalsozialistisch orientierten, bekennen sich verbal zum Grundgesetz. Mit ihrer "Legalismus"-Strategie wollen sie den in der jetzigen politischen Situation als nachteilig empfundenen Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit von sich weisen. Eine offene Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates steht für diese rechtsextremen Kräfte darüber hinaus auch aus taktischen Gründen nicht auf der politischen Tagesordnung. Allerdings hat die "Legalismus"-Strategie die Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz ebensowenig wie die politikwissenschaftliche Rechtsextremismus-Forschung davon abgehalten, derartige Erklärungen als "Lippenbekenntnisse" zu bewerten. Eine Ausnahme waren hier zeitweise die REP, die durchaus geschickt bemüht sind, sich durch eine bestimmte Außenwirkung den relativ eng gefaßten verfassungsrechtlichen Untersuchungskriterien zu entziehen. Und schließlich können die rechtsextremen Parteien und Organisationen nach ihrer Orientierung im traditionellen oder modernen Sinne unterschieden werden: Gemeint ist mit ersterem der primäre Bezug auf überkommene Politikvorstellungen und politische Systeme sowie die thematische Orientierung auf die Vergangenheit. In diesem Sinne betätigen sich DVU, NPD, DL und FAP, die Neonationalsozialisten, die meisten älteren rechtsextremen Verlage und Publikationsorgane. Die sich modern verstehenden rechtsextremen Strömungen wollen weg von der Vergangenheitsfixierung und sich stärker den gegenwärtigen Problemen und Themen stellen, weil sie der Auffassung sind, nur so über das politische Ghetto hinauszukommen. Hierzu gehören die REP als Partei sowie die sich herausbildenden IntellektuellenzirkeL Selbstverständlich kann die formulierte Unterscheidung nicht immer eindeutig getroffen werden. So stellen sich etwa auch die DVU oder NPD mit ihrer ausländerfeindlichen Agitation dem Thema der gegenwärtigen Ausländerpolitik. Sie sind aber hinsichtlich ihrer ideologischen Vorstellungen wie Themenschwerpunkte sehr stark auf die Vergangenheit bezogen. Auf der anderen Seite spielt etwa die öffentliche Auseinandersetzung um die NS-Zeit durchaus eine Rolle für eine moderne rechtsextreme Partei wie die REP, indessen primär als Bestandteil gegenwärtiger Diskussion um Vergangenheitsbewältigung. Die unterschiedlichen Orientierungen in diesem Sinne behindern die Zusammenarbeit der extremen Rechten, allerdings meist mehr aus taktischen denn inhaltlichen Gründen. Entlang der genannten drei Unterscheidungsfaktoren gruppieren sich die diversen rechtsextremen Subkulturen, die somit nicht über eine ideologisch homogene Ausrichtung und gemeinsame strategisch I taktische Optionen verfügen und von daher auch keine einheitliche politische Kraft darstellen, wie in den Medien, aber auch in politikwissenschaftlichen Arbeiten 26, ab und an suggeriert wird. Vielmehr sind sie in hohem Maße zersplittert, was einer Kooperation und einem Zusammenschluß gewisse Grenzen setzt. Gemeinsame politische Arbeit wird

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dariiber hinaus noch durch die persönliche Feindschaft ihrer führenden Funktionäre und das machtpolitisch begrundete Beharren auf der Eigenständigkeil der jeweiligen Organisationen weiter erschwert. Dies sieht man auch so im Lager der extremen Rechten; Beiträge zur Strategiedebatte mit Schlagzeilen wie "Hauptfeind der nationalen Rechten: Die Konkurrenz im eigenen Lager" 27 sind dafür typisch. Allerdings bedeutet diese Zersplitterung keineswegs, daß damit eine gemeinsame politische Aktivität einzelner Teilgruppen grundsätzlich ausgeschlossen ist. Eine Vereinheitlichung der extremen Rechten dürfte jedoch kaum möglich sein, wie für die Parteiebene das politisch offensichtlich gescheiterte Projekt der DL vermuten läßt. Die Zersplitterung der extremen Rechten hat deren politisches Wirken in der Vergangenheit beschränkt, weil die jeweiligen Teilgruppen sich gegenseitig blockierten. Dies bedeutet für die Zukunft allerdings keinesfalls, daß sich von seiten des organisierten Rechtsextremismus keine Gefahren für die demokratische Kultur in Deutschland ergäben, denn einzelne Teilgruppen können sehr wohl in bestimmten Zusammenhängen politisch erfolgreich wirken.

VI. Rechtsextremismus im östlichen und westlichen Deutschland Rechtsextremismus gab und gibt es nicht nur in den alten, sondern auch in den neuen Bundesländern - und zwar schon zu DDR-Zeiten.28 Dies zeigt, daß es einer sich als "antifaschistisch" verstehenden Erziehungsdiktatur nicht gelungen ist, ihre Bevölkerung gegen rechtsextreme Ideologieelemente zu immunisieren. Die durch den Beitritt der Länder der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik möglich gewordene vergleichende Betrachtung des Rechtsextremismus im Westen und Osten Deutschlands erlaubt es, aus extremismustheoretischer Sicht aufschlußreiche Analysen zu den Folgen politischer Sozialisation in unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen anzustellen. Allerdings gibtestrotz der Bedeutung und Relevanz damit zusammenhängender Fragestellungen bislang noch keine systematischen Untersuchungen. Von daher können hier auch lediglich vorläufige Trendeinschätzungen formuliert werden. 26 Vgl. bspw. Margret Feit, Die "Neue Rechte" in der Bundesrepublik. OrganisationIdeologie- Strategie, Frankfurt/M. 1987, S. 243 mit einem Schaubild, das die Existenz eines eng verflochtenen rechtsextremen Netzwerkes suggeriert. 27 Werner Bräuninger, Die Konkurrenz im eigenen Lager, in: Europa vorn aktuell 6 (1993), H. 46, S. 6-8. 28 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3-4 v. 10. Januar 1992, S. 11-21; siehe auch Ders., Das rechtsextreme und ausländerfeindliche Einstellungspotential in den neuen Bundesländern, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 42 (199 1), S. 765-775.

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Auf der Ebene der Parteien kann man feststellen, daß diese im Westen organisatorisch als auch bei Wahlen stärker entwickelt sind. Dies ist insofern auch verständlich, weil es selbst für größere Parteien des Westens, die nicht mit einer ehemaligen Blockpartei kooperierten, überaus schwierig war, funktionierende Parteistrukturen aufzubauen. Kleinparteien sind von diesen Rahmenbedingungen wesentlich stärker betroffen. Ähnliches gilt für den organisatorischen Aufbau parteiungebundener politischer Organisationen, seien dies Vereine oder Medien. Von daher kann auch nicht das Übergewicht rechtsextremer Stimmabgabe im Westen verwundern: Bei der bislang einzigen gesamtdeutschen Wahl, der Bundestagswahl von 1990, erzielten die rechtsextremen Parteien in allen neuen Bundesländern jeweils unter zwei Prozent der Stimmen und blieben damit unter den Resultaten in den alten Bundesländern. Auch hinsichtlich des rechtsextremen Einstellungspotentials lassen vergleichende Untersuchungen ein Übergewicht im Westen vermuten, was offenbar sogar für die Ausländerfeindlichkeit gilt. 29 Für den Osten Deutschlands muß jedoch noch mitberücksichtigt werden, daß die Verbreitung bestimmter extremistischer Strukturmerkmale als Mentalitätsbestände sich eben nicht nur in Richtung der extremen Rechten, sondern auch und gerade in die andere politische Ecke, hier in Gestalt der POS, orientieren kann. Das erklärt wohl auch, warum der Autoritarismus im Osten stärker als im Westen verbreitet ist und daß es sich beim rechtsextremen Einstellungspotential zur Zeit umgekehrt verhält. Allerdings kann die Auffassung vom Übergewicht des Rechtsextremismus im Westen nicht verallgemeinert werden, denn in bestimmten Teilbereichen der extremen Rechten läßt sich ein Übergewicht im Osten Deutschlands feststellen: Die neonationalsozialistischen Aktivistengruppen haben dort ebenso wie die Skinhead-Szene größeren Zulauf. Deren primäres Betätigungsfeld sind militante Aufmärsche und Aktionen, bei denen das erkennbare Gewaltpotential höher als das bislang aus dem Westen bekannte war. Offensichtlich gibt es darüber hinaus auch in der Bevölkerung eine stärkere Gewaltakzeptanz, wenn sich diese gegen Ausländer richtet, zumindest ist solches in manifester Form (offener Beifall bei gewalttätigen Übergriffen auf Asylbewerberheime) feststellbar. Bestätigt wird diese Einschätzung auch durch die 1992er Bilanz der rechtsextremen Gewalttaten, die belegt, daß die Quote solcher Delikte in den neuen Bundesländern auf die Einwohnerzahl bezogen doppelt so hoch ist wie im Westen.30 Als weitere Besonderheiten des Rechtsextremismus im Osten Deutschlands wären darüber hinaus 29 Vgl. Arm in Pfahl-Traughber, Ängste, Ideologien und Sozialprotest Das rechtsextreme und ausländerfeindliche Einstellungspotential im vereinten Deutschland, in: Namo Aziz (Hrsg.), Fremd in einem kalten Land. Ausländer in Deutschland, Freiburg 1992, S. 56-74, hier S. 70 f. 30 Die durchschnittliche Häufigkeit rechtsextremer Gewalttaten auf jeweils 100.000 Einwohner bezogen, betrug in den östlichen Bundesländern 5,7, in den westlichen Bundesländern 2,4, vgl. Mehr Terror im Osten, in: Der Spiegel, Nr. 2 I 11. Januar 1992, S. 16.

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zu nennen: neue Aktionsformen, die man bislang noch nicht in der extremen Rechten beobachten konnte (etwa Hausbesetzungen), die größere Bereitschaft zur Zusammenarbeit von im Westen stärker zersplitterten Teilgruppen (etwa von REP-Mitgliedern und neonationalsozialistischen Aktivisten) und die größere Akzeptanz für das Verknüpfen politischer Aktivitäten mit Gesetzesübertretungen.

VII. Das Gefahrenpotential des Rechtsextremismus

Die oben beschriebene relative Zersplitterung der extremen Rechten in Deutschland sollte nicht den Eindruck vermitteln, als gehe von ihr keine politische Gefahr für den demokratischen Verfassungsstaat und seine Wertvorstellungen aus. Zwar zeigen historische Vergleiche mit der Weimarer Republik und intenationale Vergleiche mit der Situation im Ausland 31 , daß der Rechtsextremismus das politische System in seinem Grundbestand nicht bedroht, aber es zeichnen sich doch aus demokratietheoretischer Sicht problematische Tendenzen im Sinne eines Gefahrenpotentials ab. Dabei handelt es sich im wesentlichen um drei Aspekte, die sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegen und nicht direkt gleichgesetzt werden dürfen. Erstens droht die Weiterentwicklung eines rechtsextremen Terrorismus. Für das Jahr 1992 verzeichnete das Bundesamt für Verfassungsschutz mit fast 2300 Gewalttaten einen Anstieg von mehr als 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 17 Menschen wurden getötet und zahlreiche zum Teil schwer verletzt. 32 Allein das Ausmaß des rechtsextremen Terrors forderte somit im Jahr 1992 mehr Todesopfer als der RAF-Terror in seiner blutigsten Phase: 1977 fielen dem Linksterrorismus zehn Menschen zum Opfer. Auch hinsichtlich anderer Aspekte erweist sich der Terror der extremen Rechten als gefährlicher: Die Opfer werden willkürlich ausgewählt, potentiell ist jeder Ausländer oder Angehörige anderer Minderheiten bedroht. Darüber hinaus sind die Rechtsterroristen nicht so straff organisiert wie die RAF. Beides erschwert somit auch die Maßnahmen von Politik, Behörden und Polizei gegen den Terror aus der extremen Rechten. Allerdings muß auch kritisch festgestellt werden, daß es hinsichtlich der klaren Verurteilung des Rechtsterrorismus im Vergleich zur Reaktion auf den Linksterrorismus der siebziger Jahre mitunter an dem nötigen Nachdruck fehlt. Die Nationalität oder der soziale Status eines Opfers sollten eigentlich zu keinen unterschiedlichen Bewertungen terroristischer Handlungen führen! Klare Verurteilungen des Rechtsterrorismus, der auch so genannt werden sollte, sind darüber hinaus nicht primär aus Gründen des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland im Ausland, sondern um der praktischen Vgl. Pfahl-Traughber(Anm. 11), Kap. VII. Vgl. Zahl rechtsextremer Gewalttaten stieg um mehr als 50 Prozent, in: Süddeutsche Zeitung v. 8. Februar 1993. 31

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Wahrung der Grundwerte des demokratischen Verfassungsstaates notwendig. Der Terror der extremen Rechten könnte noch zunehmen, denn die Zersplitterung der neonationalsozialistischen Szene schließt keine gemeinsamen Aktionen aus. Gegenüber diesem Problem der inneren Sicherheit zeichnet sich auf einer anderen politischen Ebene, ohne damit in direktem Zusammenhang zu stehen, ein weiterer Aspekt des vom Rechtsextremismus ausgehenden Gefahrenpotentials ab, nämlich die mögliche Etablierung einer rechtsextremen Partei im Parteienspektrum. Wie aufgezeigt, gibt es eine Reihe von rechtsextremen Parteien, die allerdings aus den verschiedensten Gründen nicht miteinander zusammenarbeiten. Dies hat u. a. lange Zeit zur Schwächung der extremen Rechten bei Wahlen geführt, da sich die Zustimmung aufsplitterte und angesichts der Fünf-ProzentKlausel politisch relevante Erfolge durch das gegenseitige Blockieren verhindert wurden. Eine Sammelpartei wie die "Front National" in Frankreich fehlt. Indessen schließt das nicht aus, daß sich von den genannten Parteien eine innerhalb der extremen Rechten als wichtige Wahlpartei durchsetzt und in dieser Form dort eine hegemoniale Stellung einnimmt. Dies dürfte sich in Form der REP abzeichnen, da sie modern ausgerichtet sind, geschickter die "Legalismus"-Strategie vertreten, über einen ausreichenden Bekanntheitsgrad verfügen und Wahlerfolge vorweisen können. Die Ergebnisse der hessischen Kommunalwahlen vom März 1993, insbesondere in Frankfurt/M., wo die REP gegen drei andere rechtsextreme Parteien erfolgreich kandidierten, bestätigen diese Einschätzung. Sollte sich die Partei im Laufe der Zeit allerdings tatsächlich im Parteienspektrum und damit auch in den Parlamenten fest etablieren können, so wäre dies, wie die Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, keineswegs notwendigerweise mit einer Bestandsgefährdung des demokratischen Verfassungsstaates verbunden. Dies setzt allerdings die klare und eindeutige Abgrenzung von einer solchen Partei und ihren Politikvorstellungen voraus. Und schließlich muß noch auf das von einer sich herausbildenden rechtsextremen Intellektuellenszene ausgehende Gefahrenpotential für die Akzeptanz der Werte des demokratischen Verfassungsstaates hingewiesen werden. Zur Zeit entstehen kleinere Diskussionszirkel, die eine lntellektualisierung der extremen Rechten bewirken wollen. Im Kern geht es diesen erst im Herausbildungsprozeß stehenden Arbeitsgruppen darum, Theoriearbeit für eine aufkommende rechtsextreme Partei zu leisten. Mit dieser Intention orientiert man trotz gewisser Vorbehalte angesichts der mangelnden intellektuellen Qualität der meisten Mitglieder zur Zeit auf die REP. Ideologisch orientiert sich diese Gruppe an den Theoretikern der "Konservativen Revolution"33 der Weimarer Republik, insbesondere 33 Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Nationalismus und Ethnopluralismus. Zum Wiederaufleben von Ideen der "Konservativen Revolution", in: Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Aspekte der Fremdenfeinlichkeit. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Frankfurt/rn. 1992, s. 101-116.

Rechtsextreme Subkulturen

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dem Staatsrechtier Carl Schmitt, der ganz allgemein eine gewisse Renaissance erlebt. Darüber hinaus bezieht man sich auf italienische Intellektuelle wie die Elite-Theoretiker und Gegner des demokratischen Verfassungsstaates Robert(o) Michels und Vilfredo Pareto. Recht selbstgefällige Behauptungen wie "Jetzt kommen die Rechtsintellektuellen" sind indessen übertrieben: Zum einen ist der große theoretische Wert dieser Theoriezirkel nicht erkennbar, zum anderen erreichte man bislang nicht im entferntesten die öffentliche Resonanz, wie zeitweilig ihr strategisches Vorbild, die französische Neue Rechte. 34 Gleichwohl könnte diese sich herausbildende Intellektuellen-Szene die traditionelle Theoriefeindlichkeit der extremen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland überwinden und deren Politikvorstellungen intellektuell attraktiver gestalten. Im Zusammenhang mit einer gleichzeitigen Etablierung einer rechtsextremen Partei im Parteienspektrum könnte dies wiederum zu einer aus demokratietheoretischer Sicht bedenklichen Rechtsverschiebung in der Politischen Kultur führen.

34 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Die "Junge Freiheit". Ein publizistischer Brückenschlag zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus, in: Neue Gesellschaft I Frankfurter Hefte 40 (1993), S. 44-49.

6Löw (Hrsg.)

Klaus Motschmann

SPÄTE FRUCHT DER FRÜHEN JAHRE Notwendige Erinnerungen zur Zersetzung des Rechtsbewußtseins In den Auseinandersetzungen um die deutsche Asylpolitik im allgemeinen, um die Gewalttätigkeiten von Jugendlichen gegen Asylbewerber im besonderen wird allseits ein erheblicher Mangel an politischer Toleranz, demokratischer Gesittung und gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein in unserem Volke beklagt. Er dokumentiere sich weniger in den Aktionen jugendlicher Gewalttäter in Hoyerswerda, Rostock und anderswo, sondern vor allem in dem "erschreckenden Verhalten braver Bürger", die dem schändlichen Treiben der Jugendlichen nicht nur nicht Einhalt gebieten, sondern vielfach sogar noch mit Beifall bedenken und sie damit zu weiteren Gewaltakten ermuntern. Erinnerungen an den Zusammenbruch der Weimarer Republik und an die Entwicklung der NSDAP werden beschworen: Eben diese Passivität "braver Bürger" habe das Aufkommen des Nationalsozialismus begünstigt und damit die Machtübernahme Hitlers ermöglicht. Inzwischen hat sich eine breite Volksbewegung "gegen rechts" formiert, die in großen Massendemonstrationen, z. B. in der Form von Lichterketten, einen nachhaltigen Einfluß auf den Prozeß der Urteilsbildung innerhalb und außerhalb Deutschlands ausübt. Es bleibe in diesem Zusammenhang dahingestellt, ob die vielfach grobschlächtige "Argumentation" tatsächlich geeignet ist, zu einer Lösung der schweren Probleme unseres Volkes beizutragen. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß sie auf ganz naheliegende Fragen so gut wie überhaupt nicht eingeht. Dazu gehört doch wohl als erstes die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen dieser Defizite unserer vielzitierten politischen Kultur. Niemand wird ernsthaft die Feststellung von Jürgen Habermas, einem maßgebenden Repräsentanten der deutschen Linken, bestreiten wollen, daß sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg trotz der "massiven gesellschaftlichen Restauration - mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von der intellektuellen Linken" 1 geprägt werden konnte. Und was für Westdeutschland gilt, traf erst recht für die ehemalige DDR zu, der bei aller sonstigen Kritik an ihrem Herrschafts1 Jürgen Habermas: Einleitung zu "Stichworte zur ,Geistigen Situation derZeit' ", Bd. I. edition suhrkamp Bd. 1000. Frankfurt/M. 1979, S. 7 f.

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Klaus Motschmann

und Wirtschaftssystem eine konsequent "antifaschistische" Jugend- und Schulpolitik testiert wurde, die auch in Westdeutschland zahlreiche Bewunderer fand. Es kennzeichnet den Geist und den Stil unserer politischen Kultur, daß zwar immer wieder auf die Erfahrungen der Geschichte verwiesen wird, sofern es sich dabei um die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus handelt, daß aber die Erfahrungen von 45 Jahren realexistierendem Sozialismus in der DDR und von 25 Jahren sozialistischer Kulturrevolution in der alten Bundesrepublik bewußt verdrängt werden und ganz offensichtlich keine Rolle bei der Erklärung der jetzt beklagten Zustände in Deutschland spielen. 2 Es widerspricht den einfachsten Grundregeln der Pädagogik, der politischen Soziologie und der Gesellschaftskommunikation, daß man nicht plötzlich- wie es jetzt geschieht - die Einhaltung von gesellschaftlichen Konventionen, von "Recht und Ordnung" und von politischer Toleranz erwarten, geschweige denn verlangen kann, wenn diese in der Tat elementaren Grundsätze einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung nicht nur in der DDR, sondern auch in den alten Bundesländern durch eine Erziehung zum Haß gegen die bürgerliche Gesellschaftsordnung ersetzt worden ist, wobei sehr wohl beachtet werden sollte, daß erhebliche Unterschiede sowohl in der Motivation als auch in der Form dieser Haß-Pädagogik zu beachten sind. 3 Politisch verantwortliches Denken und Handeln hat alle Aspekte eines Problems zu berücksichtigen. Jeder Therapie muß eine gründliche Diagnose vorangehen. Einige Erinnerungen sind zur Vermeidung von Fehlurteilen dringend geboten:

I. Verständnis, klammheimliche Freude und Beifall nach linksextremistischen Gewaltakten seit 1968

Als Andreas Baader und Gudrun Ensslin im April 1968 mit Brandanschlägen auf zwei Frankfurter Kaufhäuser, "Symbolen des kapitalistischen Konsumterrors", die buchstäbliche Initialzündung für den "langandauernden Kampf gegen das repressive Establishment der spätbürgerlichen Gesellschaft" auslösten, gab es im Unterschied zu Hoyerswerda und Rostock zwar keinen emotionalen und 2 Selbstverständlich liegen einige vorzügliche Untersuchungen vor, die allerdings nur als Ausnahme von der Regel angesehen werden können. Erwähnt seien: Jens Hacker: Deutsche Irrtümer. Schönf