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German Pages 378 Year 2013
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung
Band 104
Teilung anerkannt, Einheit passé? Status-quo-oppositionelle Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom Grundlagenvertrag bis zur Friedlichen Revolution
Von Lutz Haarmann
Duncker & Humblot · Berlin
LUTZ HAARMANN
Teilung anerkannt, Einheit passé?
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 104
Teilung anerkannt, Einheit passé? Status-quo-oppositionelle Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom Grundlagenvertrag bis zur Friedlichen Revolution
Von
Lutz Haarmann Mit Geleitworten von Rainer Eckert, Stephan Hilsberg und Detlef Kühn
Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Wintersemester 2012/2013 als Dissertation angenommen.
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Geleitwort: Einheit und Freiheit der Deutschen Sobald im 19. Jahrhundert die Sprache darauf kam, was denn nun wirklich der Deutschen Vaterland wäre, ging es immer auch um die Einheit der Nation und ihre Freiheit. Zumindest im linksliberalen Milieu herrschte schnell Einigkeit, dass die Zukunft Deutschlands sowohl diese Einheit als auch die Freiheit bringen würde. Nach dem Krieg von 1870 / 71 konnte schließlich die Einheit erreicht werden, allerdings nur in ihrer „kleindeutschen“ Variante und unter preußischer Hegemonie. Die politische Freiheit garantierte dann erst die Weimarer Republik in der kurzen Zeit ihrer immer wieder gefährdeten Existenz. In den Jahren der nationalsozialistischen Barbarei schien die Freiheit schließlich für immer verloren zu sein. Nach dem Sieg der Alliierten über das „Dritte Reich“ am Ende eines grauenvollen von Deutschen begonnenen rassenideologischen Vernichtungskriegs sowie dem Zivilisationsbruch von Holocaust und Völkermord war Deutschland sowohl besiegt als auch befreit. Nach dem Verlust der deutschen Gebiete im Osten stellte sich zwischen Oder und Rhein die Frage nach Einheit und Freiheit erneut. Die Antworten darauf konnten unterschiedlicher nicht sein. In den westlichen Besatzungszonen bekamen die Menschen die Demokratie geschenkt und machten sie sich schnell in ihrer übergroßen Mehrheit zu eigen. In der sowjetischen Besatzungszone installierte Moskau mit Unterstützung deutscher Kommunisten eine stalinistische Diktatur, die ganz wesentlich auf politischer Repression und Unfreiheit beruhte. Damit wurden die Hoffnungen auf eine künftige Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten immer unrealistischer. Im Osten betonte die Führung der totalitären Staatspartei SED lange ihren angeblichen Willen zur Einheit, allerdings unter ihren Bedingungen. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 änderte sich dies und die kommunistischen Nomenklaturkader ließen eine eigenständige „sozialistische Nation“ als das Staatsvolk der DDR erfinden und von parteihörigen Wissenschaftlern „theoretisch fundieren“. Für die Bürgerbewegung der 1970er und 1980er in der SED-Diktatur war prägend, dass sie eine demokratische DDR aufbauen und deshalb die kommunistischen Machtstrukturen reformieren wollte. Im Zentrum dieses Kampfes stand die ersehnte Freiheit; viele akzeptierten dabei die Teilung Deutschlands als „Strafe für Auschwitz“. Bei den Reformhoffnungen der
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Geleitwort von Rainer Eckert
Mehrheit der Bürgerrechtler war die Bundesrepublik nicht das erstrebte Vorbild. Anders dachte die Mehrheit der Ostdeutschen, die immer auf die Bundesrepublik fixiert blieb. Aber vereinzelt thematisierten auch ostdeutsche Oppositionelle die „Deutsche Frage“. Robert Havemann und Rainer Eppelmann fragten nach dem Weg zur nationalen Einheit; andere, wie Edelbert Richter, vertraten das Konzept eines neutralen, konföderierten Deutschlands. Am klarsten formulierte die Initiative „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ 1986 und 1987 die Perspektive der deutschen Einheit. Trotzdem schien dies bis zum revolutionären Herbst 1989 ein Traum zu bleiben. In der Bundesrepublik war der Auftrag, die deutsche Einheit herzustellen im Grundgesetz verankert und durch das Bundesverfassungsgericht 1973 bestätigt worden. Trotzdem erschien vielen bundesdeutschen Politikern nach dem Mauerbau und verstärkt ab Anfang der 1970er Jahre mit dem deutschdeutschen Grundlagenvertrag 1972 die Einheit in weite Ferne gerückt. Es ging jetzt um „Realpolitik“, um Entspannung zwischen den Blöcken des Kalten Krieges und um alltägliche Erleichterungen für das Miteinander der Menschen in einem gespaltenen Land. Dieser Wandel vollzog sich auch angesichts einer Mehrheit der Westdeutschen, die passiv eine deutsche Einheit befürworteten, ihren Blick aber immer mehr nach Westen lenkten und so die DDR als „normales Ausland“ empfanden. Diese Situation führt zu der Frage, ob es auch politisch relevante Gruppen und Persönlichkeiten in der Bundesrepublik gab, die sich diesem Trend widersetzten. Und hier setzt Lutz Haarmann mit einer überzeugenden, gut recherchierten und lesbaren Analyse ein. Ausgehend davon, dass für die Mehrheit der „politischen Klasse“ die Wiedervereinigung Deutschlands auf absehbare Zeit ausgeschlossen war, gelingt es ihm, in verschiedenen politischen Milieus Gruppen auszumachen, die den Gedanken an die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands hochhielten. Zu diesen „status-quo-oppositionellen“ Gruppen gehörten die „Gesellschaft für Deutschlandforschung“, der „Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker“, die „Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML)“, der sozialdemokratische „Kurt-Schumacher-Kreis“, das Wirken des Liberalen Detlef Kühn sowie „grüne“ Anhänger der Wiedervereinigung im „Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion“ um Rolf Stolz. Die Angehörigen dieser Gruppen beharrten auf ihrer Hoffnung auf eine Wiedervereinigung bis zur Friedlichen Revolution von 1989. Dabei mussten sie in Kauf nehmen, dass sie in eine Außenseiterposition gedrängt und mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, sie seien „ewig Gestrige“ und gefährdeten Frieden bzw. Entspannung. Die SED-Führung setzte darüber hinaus ihre Geheimpolizei Staatssicherheit ein, um diese Gegner ihrer Politik zu diffamieren, zu isolieren und zu „zerset-
Geleitwort von Rainer Eckert7
zen“. Die an Parteien gebundenen Befürworter der Wiedervereinigung wurden auch dort oft isoliert oder verließen resigniert ihre politische Heimat. Haarmann kommt in seiner Analyse zu dem berechtigten Schluss, dass die sozialliberale Vertragspolitik und ihre Fortsetzung durch Bundeskanzler Helmut Kohl vermutlich die einzig durchsetzbare „operative Deutschlandpolitik“ war (Andreas Wirsching). Richtig ist darüber hinaus, dass die Entspannungspolitik letztlich die Diktatur in Ostdeutschland destabilisierte, da immer mehr Menschen – auch wegen der Aussicht, im „Notfall“ von der Bundesrepublik aus den DDR-Gefängnissen freigekauft zu werden – sich gegen das kommunistische System wandten. Dies war eine Voraussetzung für die Friedliche Revolution und ihren Sieg 1989 / 90, der den Weg zu Einheit und Freiheit in Deutschland frei machte. Und so ist es heute richtig und an der Zeit, an die Menschen zu erinnern, die sich nie mit der Spaltung unserer Nation abgefunden haben. Ihnen gebührt hohe Anerkennung und ein angemessener Platz in der Nationalgeschichte. Dazu hat Lutz Haarmann einen wichtigen Beitrag geleistet. Rainer Eckert
Geleitwort: Ostdeutsche Reflexionen über westdeutsche Wiedervereinigungsbefürworter Lutz Haarmann liefert mit seiner Dissertation einen Beitrag zur Geschichte des westdeutschen Festhaltens an der Wiedervereinigung, deren Vertreter sich in diesem Teil Deutschlands von ihrer ursprünglichen Mainstream-Position in den 50er Jahren zunehmend an den Rand der öffentlichen Debatte in den 80er Jahren gedrängt sahen. Diese Arbeit scheint mir ein Teil der überfälligen Neubewertung der Rezeptionsgeschichte der deutschen Teilung und ihrer Lösung zu sein. In den USA gibt es zu dieser Frage inzwischen ganz andere Beiträge als hierzulande. Jenseits des Atlantiks ist die deutsche Teilung der Schlüssel für die Entstehung des Kalten Krieges und logischerweise ihre Überwindung zu dessen Ende. In der deutschen Geschichtsdebatte sind indes noch immer zu sehr die Denkmuster der 80er Jahre zu spüren, wie unlängst bei den Reden zum 60. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 wieder zu merken war. Der Autor dieser Dissertation hat mich gebeten, als Vorwort einen Beitrag zu einer ostdeutschen Sicht auf die Wiedervereinigungsbefürworter zu schreiben. Solch ein Beitrag kann gar nicht anders als subjektiv sein, soll sich aber nicht auf die Beschreibung eigener Befindlichkeiten beschränken. Das heißt „subjektiv“ ja auch gar nicht. Vielmehr bedeutet Subjektivität das Sich-Einlassen auf die eigenen Reflexionen, eigenen Eindrücke, eigenen Empfindungen, wie sie im Laufe der eigenen Erlebnis-, Bildungs- und Kommunikationsgeschichte entstanden sind und sich darin entwickelt haben. Und so kann ich auch gar nicht nur wiedergeben, was ich zur Zeit der Teilung über sie als Ostdeutscher, zwangsweise DDR-Bürger, gedacht und erlebt habe, zumal die Sicht darauf sich im Laufe der beiden zurückliegenden Jahrzehnte selbstverständlich verändert hat. Meine These zum Verständnis der Überwindung der deutschen Teilung lautet, dass den Ostdeutschen die Lösung der Deutschen Frage vorbehalten war. Die wesentliche Schwäche der westdeutschen Einigungsbefürworter war ihre Ratlosigkeit in Bezug auf ein Konzept zur Überwindung der deutschen Teilung aus westdeutscher Handlungsperspektive. Heute sieht es so aus, als hätten die Einigungsbefürworter Recht gehabt, und in der Tat, die historische Entwicklung gibt ihnen selbstverständlich Recht. Doch das ändert nichts an ihrer vorherigen Ratlosigkeit.
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Geleitwort von Stephan Hilsberg
Ich muss zugeben, dass ich in dieser Frage auch als Ostdeutscher bis in die 80er Jahre lange selber ziemlich ratlos war. Subjektiv hielt ich die deutsche Einheit für ein Thema von gestern, wunderte mich aber über ihre faktische Substanz in geheimen Hinterzimmern ostdeutscher Seelen, denen ich mich gleichwohl verwandt fühlte. Sei es der sehnsuchtsvolle Blick eines Kollegen in den frühen Morgenstunden am Ende einer Nachtschicht in den Westen Berlins, damals vielleicht 500 m von uns entfernt, sein Blick nach „zu uns drüben“. Sei es die existenzielle Aufgabe der DDR, die jeder Ausreiseantragsteller in die BRD vollzog. Oder sei es das Wissen um die Parolen des 17. Juni, die so schnell in der Forderung nach Wiedervereinigung gipfelten. Diese Beobachtungen machten deutlich, dass mit der deutschen Einheit mehr als nur Denkverbote und Verdrängungen verbunden waren. Und natürlich spürte man die Angst der Kommunisten in der DDR vor einem Wiedervereinigungswunsch der Ostdeutschen, warum denn sonst wurde sie so hart geschmäht, und mit Verdikten wie Revanchismus, Kalter Krieg etc. versehen? Selbst harmlose Scherze mit dem 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ waren geeignet, einen als Ostdeutschen gegenüber seinen Chefs, bei der Armee gegenüber den Offizieren in eine arge Bredouille zu bringen. Mit Reagan und Gorbatschow wurden diese seelischen Hinterzimmer etwas gelüftet, und es trauten sich mehr Landsleute, wie ich es erinnere, selbst an die deutsche Einheit zu erinnern. Plötzlich tauchte die Perspektive auf, dass Gorbatschow tatsächlich die Mauer aufmachen könnte, wie Reagan es von ihm verlangt hatte. Szenenwechsel. Ich weiß noch, wie ich bei meiner ersten Westreise, das war 1986, verwundert durch das glitzernde Westberlin spazierte, allein, und mir den Kopf zermarterte über das, was ich hier empfand. Dieses Westberlin war Berlin, es war mein Berlin, wie das Ostberlin auch. Es war ein Teil jenes Deutschlands, das genauso zu mir gehörte, in gewissem Sinne mir gehörte, wie meine Heimat im Osten auch. Natürlich lag die Teilungsgeschichte dazwischen. Aber das ändert ja nichts an meinem Zugehörigkeitsgefühl. Und damals wusste ich nichts vom Artikel 23 im Grundgesetz, sicher etwas von seinem Wiedervereinigungsgebot, und der Forderung, Berlin zur Hauptstadt des einst wiedervereinigten Deutschlands zu machen. Doch das schienen Worthülsen zu sein, Phrasen, denen ich keine Bedeutung schenkte, genauso wenig, wie dem hohlen Pathos vieler Reden zum 17. Juni im Bundestag. Es war die Geschichte, die mich zu diesem Westberlin und später Westdeutschland zugehörig fühlen ließ. Aber es bedurfte erst des persönlichen Erlebens dieser West-Realität, bevor aus dem abstrakten Wissen gemeinsamer Geschichte ein substantielles, ein reales spürbares Gefühl wurde. Vielleicht war es ja das Vorenthalten der westlichen Realität durch Abschottung und Mauerbau, welches das Gefühl für die Einheit der deutschen Nation zum Verschwinden brachte.
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Mir fielen damals wieder meine Träume ein, die ich als sechs- und siebenjähriges Kind im zuvor durch den Mauerbau geteilten Berlin nachts träumte. Da sah ich mich nämlich in der U-Bahn sitzen, die – wie noch vor dem Mauerbau – zu unseren West-Verwandten nach Zehlendorf fuhr (wohin sie übrigens gar nicht fährt). Diese Träume hörten nach zwei Jahren auf. Und adäquat verlief mein Gewöhnungsprozeß an die Mauer. Die Wiederkehr des Wissens um die Gemeinsamkeiten mit dem westlichen Teil Deutschlands erfolgte bei mir mit meinen Westreisen in den 80er Jahren, ein Erfolg westdeutscher Politik, den ich gar nicht hoch genug loben kann. Und so begann mein geistiger Prozess der intellektuellen Wiederaneignung der Deutschen Frage, die ich so lange ausgeblendet hatte. Ich hatte damals keinen Kontakt mit Westdeutschen, die die Wiedervereinigung thematisierten. Und ich hätte sie wohl etwas belächelt. Doch als mir klar wurde, das war 1988, dass die Wiedervereinigung kommt, da hatte ich eine Begegnung, die mir westdeutsche Denkverbote zeigte, wie ich sie eigentlich nur bei unseren Kommunisten kannte. Denn in einem Gespräch mit Westberliner Gewerkschaftern, in welchem ich meine Erwartung eines Zusammenbruchs der DDR und einer anschließenden Wiedervereinigung äußerte, die so oder so unausweichlich sei, wurde ich als Revanchist bezeichnet, von einem Westberliner Gewerkschafter (sic!). Schlimmer noch als blind geboren zu sein, ist es, sich selber zu blenden. Nichts anderes tat dieser wackere Kämpfer für den Weltfrieden. Doch dies alles ist nur die Hälfte der Geschichte, die ich an dieser Stelle zu erzählen habe. Reflexionen bleiben bekanntlich nicht stehen, einmal angefangen, können sie nicht mehr aufhören. Meine Erlebnisse von damals waren erst der Anfang der Betrachtungen über die deutsche Einheit, rechtzeitig allerdings begonnen für mein politisches Engagement als erster Sprecher der neugegründeten sozialdemokratischen Partei in der DDR. Die friedliche Revolution in der DDR, der schnelle Zusammenbruch der SED-Herrschaft, der Ruf nach der deutschen Einheit in Leipzig und den anderen Städten in der DDR, traf den westdeutschen Politiker-Mainstream auf dem falschen Fuß. Niemand hatte damit gerechnet. 1989 schuf neue Tatsachen. Diese zur Kenntnis zu nehmen, war die eine Seite. Sie zu verarbeiten, eine andere. Ich kann ja verstehen, welchem Druck sich die Einheitsbefürworter im Westen Deutschlands angesichts der Anerkennungsrhetorik für die DDR ausgesetzt sahen. Hier war etwas passiert, unter dem wir alle zu leiden hatten, und an dem wir noch immer leiden. Es sind die Denkverbote und Irrwege unter alliiertem Vorbehalt. Der Zweite Weltkrieg hatte zwei Lager sich verbünden lassen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, die aber mit dem Krieg gegen den deut-
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Geleitwort von Stephan Hilsberg
schen Nationalsozialismus ein gemeinsames Anliegen verband. Die Unterschiede waren verschmerzbar, solange es Hitler zu besiegen galt, sie brachen auf, als dessen Ende nahte. Der Kampf um die Einflusssphären in der Nachkriegsperiode setzte schon in den letzten Kriegsjahren ein und er führte unmittelbar zur deutschen und Berliner Teilung. Der Kampf der beiden Lager war ein Kampf um Deutschland. Keines der beiden Lager konnte seinen Anspruch auf Deutschland preisgeben. Und ein Krieg zur Lösung dieses Machtkampfes kam wegen der neuartigen Atomwaffen aus Gründen der Selbsterhaltung und der Erhaltung der menschlichen Art nicht in Frage. So erstarrte der Konflikt am Eisernen Vorhang und schließlich an der Berliner Mauer. Deutschland war nicht souverän in diesen Jahren seiner Teilung. Die alliierten Vorbehaltsrechte bedeuteten die Fortsetzung von Besatzungsrecht. Niemals hätten die Amerikaner die deutsche Einheit erlaubt, wenn diese die Ausdehnung des kommunistischen Einflussbereiches bedeutet hätte. Und niemals hätte die SU die deutsche Einheit erlaubt, wenn sie westlich gewesen wäre. Und so konnten die Deutschen völkerrechtlich nicht über ihre Zukunft entscheiden. Und daran hielten sie sich, bis auf zwei Ausnahmen: die eine war der 17. Juni 1953, und die andere die friedliche Revolution 1989. Im Unterschied zu 53 war die SU so schwach geworden, dass es nicht mehr in ihrem Interesse lag, und wohl auch nicht mehr in ihren Möglichkeiten, ihren Einflussbereich in Mitteleuropa aufrecht zu erhalten. Dazwischen gab es die Entspannungspolitik der sozial-liberalen Koalition, die bereits in der großen Koalition Kiesinger / Brandt ansatzweise erkennbar wurde und von der Kohl / Genscher-Regierung fortgesetzt wurde. Doch die Entspannungspolitik veränderte nichts an der Teilung, das wollte und konnte sie auch gar nicht, sie versuchte die Teilung irgendwie erträglicher, „humaner“ zu machen, ein historisches Paradoxon. An ein Ende des Kalten Krieges dachte offenbar niemand. Wohl aber begannen, bezeichnenderweise nach dem Mauerbau, die verschiedensten Theorien über die Bedeutung und Zukunft der deutschen Teilung ins Kraut zu schießen. Sie alle ließen die alliierten Vorbehaltsrechte außer Acht. Mancher in Deutschland versuchte aus der Not eine Tugend zu machen, versuchte der Teilung einen Sinn zu geben, manchmal einen theologischen („Die Teilung bedeutet das Abtragen deutscher Schuld“), manchmal einen postnationalen („Deutschland hat den Nationalstaat überwunden.“). Man versuchte sich zu arrangieren, man verklärte die kommunistische Herrschaft, man suchte nach neuen Perspektiven in Ost und West, die heute manchmal lächerlich wirken. Wer denkt noch gerne an den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, an die religiös verklärten Vorstellungen der ostdeutschen Opposition? Wer gesteht sich noch ein, dass die Suche nach einem gemeinsamen „Haus Europa“ ohne die Amerikaner blanke Utopie war, uneinlösbar,
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und völlig unrealistisch? Es waren nicht nur Sozialdemokraten, die Salzgitter abschaffen oder die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen wollten. Es war offenbar schwer auszuhalten, dass die deutsche Einheit nur mit der Lösung des Kalten Krieges gemeinsam machbar war, dass sie sich gegenseitig bedingten. Und dass das eigentlich bedeutete, dass die deutsche Einheit nur dann machbar war, wenn die Kommunisten in der DDR abdankten, erschien genauso wenig vorstellbar. Folgerichtig geriet der Traum von der Wiedervereinigung in die Hinterzimmer der ostdeutschen Seelen und galt zunehmend auch im Westen als Zeichen unverbesserlicher Politiker, die geistig den 50er Jahren verhaftet blieben. Und je stärker sich der westdeutsche Mainstream von der deutschen Einheit verabschiedete, desto mehr Hoffnung auf eine bessere Zukunft erlosch in der DDR. Denn hier glaubten die Massen nicht an den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Und wäre er gekommen, wären jemals hier freie Wahlen von einer noch-immer-SED abgehalten worden, sie wäre weg vom Fenster gewesen. In den 50er Jahren gab es in der DDR noch etliche Widerstandsgruppen, die offen für eine Demokratisierung der DDR und die deutsche Einheit eintraten. Sie bezahlten einen hohen Blutzoll für ihre aktiv gelebten Überzeugungen. Nach dem Mauerbau hörte das alles auf. Der Kalte Krieg hatte eine neue Schlacht geschlagen. An deren Ende erschien er verfestigter denn je. Eine Lösung nicht in Sicht. All dies sah die Entspannungspolitik als die Ultima Ratio in den Beziehungen der beiden deutschen Staaten. Und so unterstützten selbstverständlich auch viele Anhänger der Wiedervereinigung diese Entspannungspolitik. Gab es denn eine Alternative? Dieses Einrichten auf die Realität der Teilung und des kommunistischen Regimes erzeugte Denkverbote und Traumata ganz eigener Art. Jeder, der in Ostdeutschland mögliche Veränderungen des Status quo der beiden deutschen Staaten thematisierte, der sich gar für ein Zusammengehen beider deutscher Staaten aussprach, dachte das entweder unter kommunistischen Vorzeichen, das war undiskutabel, oder er dachte es frei, dann war er ein Revanchist, Kalter Krieger und Kriegstreiber für die SED. Dann stellte er die Stabilität des ach so fragilen Gebildes des europäischen Friedens mit den Atommächten auf beiden Seiten in Frage. Das war die politische Grundlage, die Illusionen über die Zukunft Deutschlands ins Kraut schießen ließen. Illusionen, Denkverbote, Tabus, Verdrängungen, unterdrückte Schmerzen waren die politische Realität in Ostdeutschland jener Jahre. Der Traum von der deutschen Einheit traumatisierte sich. Und in Westdeutschland? Es war hier nicht viel anders. Und es waren nicht einfach die Medien, wie Hubertus Knabe schreibt, die in Westdeutschland für eine Abkehr von der Wiedervereinigungsrhetorik verantwortlich zu machen waren. Es war
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Geleitwort von Stephan Hilsberg
allgemeine Ratlosigkeit, in Wirklichkeit Zeichen intellektuellen Mangels. Das mag arrogant klingen, wenn ich das heute so schreibe. Aber Karl Jaspers durchschaute, als er 1959 die Frage nach dem Wert der deutschen Einheit stellte, die Verbindung von Kaltem Krieg und Deutscher Frage eben nicht, sonst hätte er die Frage anders stellen können. Etwa, was bedeutet das Recht auf Selbstbestimmung in Zeiten atomarer Konflikte für ein geteiltes Land wie Deutschland? Und doch hatte Westdeutschland auch Politiker, die mit untrüglicher Sicherheit die Realität Deutschlands empfanden, zumindest habe ich den Satz des Regierenden Bürgermeisters von Berlin kurz nach Mauerbau: „Die Mauer steht gegen den Strom der Geschichte!“, immer so empfunden. Doch gerade in Berlin geriet dieser Satz immer mehr in Vergessenheit. Die Deutschen vergaßen, was sie wussten. Psychologisch gesehen war für sie die friedliche Revolution 1989 eine Wiederbelebung alten Wissens. Es wäre gut um Deutschland bestellt, wenn sie sich das eingestehen würden. Dabei ist die Deutschlandpolitik der Westdeutschen keinesfalls eine Aneinanderreihung von Irrtümern. Es gelang ihr, die Deutschen im Gespräch miteinander zu halten. Der Gipfel der Entspannungspolitik, der KSZE-Prozess, löste mit dem verbindlichen Bekenntnis zu den Menschenrechten einen schleichenden Auflösungsprozess im kommunistischen Lager aus. Und bei Lichte betrachtet, waren die inneren Verflechtungen der beiden deutschen Staaten und ihrer Gesellschaften so dicht, wie zwischen keinen anderen Staaten, so dass man heute die Teilung nicht nur als Teilung begreifen kann, sondern als Bruch. Sicher, in dieser deutschen Teilungsgeschichte hatten die Ostdeutschen den weitaus schlechteren Teil getroffen. Die Westdeutschen hatten ihre offene Gesellschaft, hatten Individualisierung, öffentliche Meinung, Debatte, Demokratie, Freiheit, Entwicklung. Das alles gab es in der DDR nur in Rudimenten. Folgerichtig war die Tristesse hier mit Händen zu greifen. Die Ratlosigkeit, die kommunistische Unterdrückung, das totalitäre System der SED-Diktatur waren an sich schon schwer auszuhalten. Die Fluchtbewegung war ihr Symptom. Die eigenen Gefühle mussten so unterdrückt werden, dass die DDR-Bürger mir manchmal als gefühllos, unfähig zur Empathie erschienen. Erstaunlich, dass sich hier einige Menschen fanden, die an eine Zukunft glaubten und sich mit ihrem Leben dafür einsetzten. Es ist hier nicht der Platz, deren Entwicklungen zu schildern. Doch sie führten schließlich dazu, dass die Ostdeutschen den Schlüssel zur Überwindung ihrer eigenen Misere und der deutschen Teilung, der bekanntlich in Ostdeutschland selber lag, fanden und aufhoben. Den Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ sagte ein westdeutscher Politiker, der es in diesem Moment nicht
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mehr war, es vielleicht nie gewesen war. Das Schicksal meinte es nicht gut mit den Deutschen, solange sie geteilt waren. Doch mit der friedlichen Revolution wurden nicht nur hier lange unterdrückte Hoffnungen und Identitäten wieder lebendig, sondern auch die Schalter für das Heben des Eisernen Vorhangs in ganz Europa betätigt. Ich frage mich immer, was die ungeheure Dynamik der friedlichen Revolution hin zu dem Ruf „Wir sind ein Volk“ bewirkt hat. Wahrscheinlich waren es die unterdrückten Potentiale, die Hoffnung auf Demokratie und auf Selbstbestimmung, die das bewirkten, und eine politische Konstellation, die den Menschen erlaubte, sich wieder zu sich selbst zu bekennen. In den Jahren davor war es schwer gewesen und geworden, sich zu seiner Hoffnung auf eine Wiedervereinigung zu bekennen. Anfeindungen und Verunglimpfungen, im Osten nicht selten Knast, mussten ausgehalten werden. Und wenn es Lehren gibt, die daraus gezogen werden können, dann fallen mir zwei ein: an seinen Hoffnungen festhalten wie an sich selbst, und seinen Intellekt schärfen, um dem Zeitgeist widerstehen zu können und die Gelegenheiten des Handelns zu erkennen. Stephan Hilsberg
Geleitwort Es ist ja leider wahr: Die beiden Bundesregierungen der sozial-liberalen Ära und die Regierung Kohl-Genscher, sowie die sie tragenden Parteien CDU / CSU, SPD und FDP konnten sich in den 70er und 80er Jahren nicht entschließen, die Neue Ostpolitik, die 1969 eingeleitet wurde, durch eine operative, auf die staatliche Einheit Deutschlands ausgerichtete Politik zu ergänzen. Die jeweiligen Oppositionsparteien im Bundestag verzichteten ebenfalls darauf, in dieser Richtung politischen Druck auszuüben. Man begnügte sich mit einer Außen- und Deutschlandpolitik der „Entspannung“, die vor allem die Folgen der Teilung für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands erträglicher gestalten und im Übrigen den Weltfrieden sichern wollte. Dagegen war grundsätzlich nichts einzuwenden, zumal diese Politik auch Chancen bot, die Einheit der deutschen Nation trotz staatlicher Teilung zu wahren und zu stärken. Dennoch verbreitete sich in dieser Zeit im Inund Ausland der Eindruck, die Deutschen könnten sich dauerhaft mit der Teilung ihres Landes abfinden, zumal viele Angehörige der politischen Klasse in der Bundesrepublik öffentlich die Ansicht vertraten, eine Wiedervereinigung sei den europäischen Nachbarn nicht zuzumuten. Erst der Druck der Demonstranten auf den Straßen der DDR und die unverhohlene Drohung, die nach dem 9. November 1989 offenen Grenzen zur millionenfachen Abwanderung in den Westen zu nutzen, zwangen Politik und öffentliche Meinung im Westen zum Umdenken in der Wiedervereinigungsfrage. Das geschah im Dezember 1989, nicht früher! Selbstverständlich gab es schon vor diesem Zeitpunkt, als die Schwäche der kommunistischen Systeme nicht mehr zu übersehen war, zahlreiche Menschen in Politik und Gesellschaft, die sich nicht mit der Teilung abfinden wollten, sondern beharrlich auf eine aktive, auf die staatliche Einheit ausgerichtete Politik drangen. Ihnen, ihrem Werdegang, ihren politischen Zielen und organisatorischen Möglichkeiten, sowie den Schwierigkeiten, denen sie in Ost und West begegneten, widmet Lutz Haarmann seine nunmehr im Druck vorliegende Dissertation. Er betritt damit Neuland. Die von ihm behandelten Organisationen und Einzelpersönlichkeiten sind bisher von der zeitgeschichtlichen Forschung allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen worden. Sie haben allerdings dazu beigetragen, dass 1990 ein Meinungsklima im geteilten Deutschland herrschte, das eine zügige Wiedervereinigung ermöglichte.
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Geleitwort von Detlef Kühn
Der Autor dieses Vorworts kennt viele der hier behandelten Akteure aus seiner eigenen beruflichen Arbeit. Über die Parteigrenzen hinweg einte sie das Bestreben, die Einheit Deutschlands nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wir waren zwar eine Minderheit im Mainstream, wurden auch oft als Ewiggestrige verlacht oder gar als potentielle Kriegsbrandstifter diffamiert. Dennoch: Man kannte und unterstützte sich gegenseitig, so gut es ging. So lud der Bundesminister a.D. Johann Baptist Gradl als Vorsitzender der Exil-CDU der DDR den Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts und FDP-Mann Kühn zu einer Rede auf dem Parteitag seiner Organisation ein. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann bat mich im Dezember 1987, sein Buch „Einheit statt Raketen. Thesen zur Wiedervereinigung als Sicherheitskonzept“, dessen Anliegen Bundeskanzler Kohl bereits als „blühenden Unsinn“ abqualifiziert hatte, der Öffentlichkeit vorzustellen, was uns beide in der Gunst des späteren „Kanzlers der Einheit“ nicht gerade steigen ließ. Ich selbst wies bei meinen öffentlichen Auftritten häufig auf das Buch von Peter Brandt und Herbert Ammon „Die Linke und die nationale Frage“ hin, das als Beleg dafür diente, dass auch Linke sich für den deutschen Nationalstaat einsetzten. Hermann von Berg, den ich persönlich nie getroffen habe, nahm 1988 ein Interview, das die „Kulturpolitische Korrespondenz“ mit mir geführt hatte, in seinen Sammelband „Gespräche über Deutschland“ auf. Ich habe das damals als Ausdruck seiner Wertschätzung für mein deutschlandpolitisches Engagement empfunden. Wolfgang Seiffert wurde von mir bald nach seiner Übersiedlung in den Westen in den Rednerdienst des Gesamtdeutschen Instituts aufgenommen und war ein sehr gefragter, häufig eingesetzter freier Mitarbeiter. Als die Bundesanstalt Ende 1991 aufgelöst wurde, hielt er bei der Abschiedsveranstaltung die Laudatio. Wahrscheinlich hatten wir bei unseren Bemühungen in der schweigenden Mehrheit oft mehr Unterstützer als wir selbst annahmen. Menschen, die es sich nicht leisten konnten, sich selbst zu exponieren, zum Beispiel weil sie „politische“ Beamte waren, die sozusagen auf tägliche Kündigung arbeiteten, waren oft froh, dass andere das taten, und hielten im Stillen ihre schützende Hand über sie. Zu diesen zähle ich für meine Person für die Zeit der sozialliberalen Koalition im BMB den Ministerialdirektor Wolf-Eckhard Jaeger und dann unter der Regierung Kohl meinen Vorgänger im Amt des Präsidenten der BfgA, Ludwig Rehlinger, der als beamteter Staatssekretär einige Jahre unter dem Bundesminister Heinrich Windelen diente. Von Letzterem habe ich übrigens nie ein Wort der Kritik an meinen deutschlandpolitischen Auftritten und Meinungsäußerungen gehört, die im Bundeskanzleramt meist auf Ablehnung stießen. Unter den grundgesetzkonformen Befürwortern einer operativen Wiedervereinigungspolitik hatte sich also ein durchaus tragfähiges Netzwerk entwickelt. Zwanglos traf man sich vor allem auf Veranstaltungen des Kurato-
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riums Unteilbares Deutschland. Zu den linken und grünen Organisationen, die auch in dieser Studie behandelt werden, gab es dagegen – wenn überhaupt – deutlich weniger Kontakte. Dies lag nicht nur an einem teilweise prinzipiell, wie bei der KPD / ML, begründeten Misstrauen in deren Verfassungstreue, sondern vor allem an deren Abneigung gegen etablierte bürgerliche oder sonst staatstragende Kreise und Organisationen. Die Grünen wollten in den 80er Jahren als Fundamentalopposition wahrgenommen werden. Immerhin kann ich berichten, dass die Volksrepublik China, die seit 1972 diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland unterhielt, sich durch die Maoisten in den K-Gruppen nicht abhalten ließ, schon Mitte der 70er Jahre Kontakt zum Gesamtdeutschen Institut aufzunehmen. Der damalige Leiter der Kulturabteilung der Botschaft in Bonn, Wang Putao, sprach mich nach einer Rede auf einer Veranstaltung des Beamtenbundes an, zeigte sich erfreut über mein Eintreten für die Wiedervereinigung Deutschlands und besuchte mich bereits am Tag darauf in meinem Büro. Daraus entwickelte sich eine dauerhafte Beziehung. Ich wurde regelmäßig zu Empfängen eingeladen, bei denen es den chinesischen Diplomaten – ebenso wie übrigens auch den sowjetischen bei ähnlichen Gelegenheiten – stets ein diebisches Vergnügen bereitete, mich mit allen anwesenden Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der DDR bekannt zu machen und sich an deren Verlegenheit beim Umgang mit mir zu weiden. Die Chinesen wussten natürlich, dass die DDR das Gesamtdeutsche Institut schon wegen seines Namens als Feindorganisation betrachtete und jeden offiziellen Kontakt mit ihm ablehnte. Auch in diesem Bereich der Geschichte der Teilung Deutschlands ist noch viel zu erforschen. Lutz Haarmann hat mit seinem Buch eine materialreiche Untersuchung vorgelegt, die auch von der Methode her als musterhaft für weitere Untersuchungen dienen kann. Mögen er und sein „DoktorVater“ Professor Tilman Mayer bald Nachfolger finden. Berlin, den 17. Juni 2013
Detlef Kühn
Danksagung Der vorliegende Text ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2012 / 2013 der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn unter dem Titel „Teilung anerkannt, Einheit passé? Westdeutsche status-quo-oppositionelle Kräfte vom Grundlagenvertrag 1972 bis zur Friedlichen Revolution 1989“ vorgelegen hat. Mein herzlichster Dank gilt meinem sehr verehrten akademischen Lehrer, Professor Dr. Tilman Mayer, der mein Interesse an den westdeutschen Dissidenten in der Deutschlandpolitik geweckt und den Entstehungsprozess der Arbeit stets aufmerksam und geduldig gefördert hat. Sehr herzlich danken möchte ich ebenso Professor Dr. Volker Kronenberg, dem ich viele anregende Gespräche über den deutschen Patriotismus im 21. Jahrhundert verdanke und der freundlicherweise das Zweitgutachten der Arbeit übernommen hat. Dank schulde ich ferner Professor Dr. Wolfram Hilz, der den Vorsitz der Prüfungskommission übernommen hat sowie Professor Dr. Frank Decker, der als weiteres prüfungsberechtigtes Mitglied in der Kommission mitgewirkt hat. Herbert Ammon, Ulf Fink, Dr. Edda Hanisch, Detlef Kühn, Dr. Uwe Lehmann-Brauns, Fred S. Oldenburg, Dr. Michael Richter und Rolf Stolz danke ich für vielfachen mündlichen und schriftlichen Austausch über ihr deutschlandpolitisches Wirken sowie für das Überlassen einer Vielzahl von Unterlagen aus ihren privaten Sammlungen. Ohne den unermüdlichen Einsatz der Archivare Robert Camp vom Archiv Grünes Gedächtnis Berlin sowie von Matthias Dziomba, BStU Berlin, hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Für die Überbrückung mancher finanzieller Durststrecken bin ich meiner Familie und dem Vorstand der Gesellschaft für Deutschlandforschung sehr zu Dank verpflichtet. Last but not least möchte ich mich bei Alexander Oster M. A. für das umsichtige Korrektorat des Textes bedanken. Bonn, 12. Juli 2013
Lutz Haarmann
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I. Problemaufriss: Die Deutsche Frage 1972–1989 oder: Teilung anerkannt, Einheit passé? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 II. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 III. Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . 52 IV. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 V. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 B. Die Forderung nach aktiver Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes (Untersuchungsgruppe 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 I. Brücken bauen zur DDR-Opposition: Der deutschlandpolitische Arbeitskreis der CDA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 1. Die Deutschlandpolitik der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Akteure des deutschlandpolitischen Arbeitskreises . . . . . . . . . . . . . . 75 a) Ulf Fink: „Die Mauer wird keinen Bestand vor der Geschichte haben.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Uwe Lehmann-Brauns: Deutschlandpolitik als Kulturpolitik . . . . 77 3. „Innerdeutscher Dialog darf nicht nur Verkehr schwarzer Limou sinen sein“ – Aktionen des deutschlandpolitischen Arbeitskreises . . 80 4. Die Beobachtung des deutschlandpolitischen Arbeitskreises durch das MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 II. Antikommunismus und Berlin-Frage: Der Kurt-Schumacher-Kreis und die SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Die SPD und die Deutsche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Die deutschlandpolitische Biographie Hermann Kreutzers . . . . . . . . 98 3. Geschichte und Aktionen des Kurt-Schumacher-Kreises . . . . . . . . . . 100 a) Von der Initiative Willy Brandts zum Forum kritischer sozialdemokratischer Deutschlandpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) „Störung der Entspannung“? – Hermann Kreutzers Ausschluss aus der SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Gegen sozialdemokratische „Nebenaußenpolitik“ – Der Schumacher-Kreis in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4. Die Beobachtung Hermann Kreutzers und des Kurt-SchumacherKreises durch das MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Selbstbestimmungsrecht und Sicherheitspolitik: Der Liberale Detlef Kühn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Entwicklungslinien liberaler Deutschlandpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Detlef Kühns deutschlandpolitisches Wirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
24 Inhaltsverzeichnis a) Die deutschlandpolitische Biographie Detlef Kühns . . . . . . . . . . 118 b) Das Gesamtdeutsche Institut als Apparat für Kühns politische Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Detlef Kühn und die FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 d) Detlef Kühns deutschlandpolitische Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Die Beobachtung Detlef Kühns durch das MfS . . . . . . . . . . . . . . . . 127 IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung: Die Gesellschaft für Deutschlandforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Die DDR-Forschung als Konfliktfeld der Deutung deutscher Nachkriegsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Stationen auf dem Weg zur Gründung der GfD . . . . . . . . . . . . . . . . 134 a) Vom Forschungsbeirat zu einer Gesellschaft für DDR-Forschung? – Die Neuordnungsversuche des innerdeutschen Ministeriums 1975–1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Widerstand gegen die Pläne des innerdeutschen Ministeriums: Überlegungen zur Gründung einer Gesellschaft für Deutschlandforschung 1977 / 78 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Die Gründung der GfD 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 d) Erste Erfolge: Die GfD 1979–1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Impulse für die Deutschlandforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Das „Memorandum zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ 1983 / 84 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Das „Programm zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ 1984 / 85 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4. Die GfD und die Friedliche Revolution 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5. Die GfD in der Krise (1990–1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6. Persönlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Siegfried Mampel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Jens Hacker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 7. Die Beobachtung der Gesellschaft für Deutschlandforschung durch das MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“: Der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Die Gründung des Arbeitskreises im Mai 1987 . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Gefährden ehemalige DDR-Akademiker die Entspannung? – Der Konflikt des Arbeitskreises mit dem Europäischen Studienwerk Vlotho im Sommer 1987 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 c) Das Grundsatzprogramm des Arbeitskreises: „Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 d) Der Arbeitskreis und der Honecker-Besuch in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 e) Wissenschaftliche Tagungen und Resolutionen des Arbeitskreises 1987–1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Inhaltsverzeichnis25 f) Der Arbeitskreis und die Friedliche Revolution 1989 . . . . . . . . 195 g) Die deutschlandpolitische Bilanz des Arbeitskreises 1989 / 90 und seine Auflösung 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Akteure des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker . . . . . . . . . 204 a) Wolfgang Seiffert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 b) Franz Loeser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 c) Hermann von Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Die Beobachtung des Arbeitskreises durch das MfS . . . . . . . . . . . . . 227 VI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 C. Die Forderung nach aktiver Deutschlandpolitik als Friedenskonzept (Untersuchungsgruppe 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 I. „Vorwärts auf dem Weg zu einem einigen sozialistischen Deutschland!“ – Die westdeutsche Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML) und ihre „Sektion DDR“ . . . . . . . . . . . . . 235 1. Die KPD / ML in Westdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 b) Die nationale Programmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Die „Sektion DDR“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Deutschlandpolitische Aktionen in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . 250 4. Die Beobachtung der KPD / ML durch das MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 II. Die Grünen und die Deutsche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Skizzen grüner Deutschlandpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Strömungen statt Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Grüne Deutschlandpolitik in der Bundestagsfraktion . . . . . . . . . . 261 2. Deutschlandpolitische Standortbestimmungen der Grünen (1979– 1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 III. Die deutschlandpolitischen Kongresse der Grünen (1983–1984). . . . . . 267 1. Die „Kölner Konferenz“ im November 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Der „Deutschlandpolitische Kongreß“ in Karlsruhe im März 1984 . 272 3. „Die Deutschen und der Frieden“ – Der Kongress in München im November 1984 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 IV. Die Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste. 279 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 a) Die deutschlandpolitische Konfliktlage in der Alternativen Liste . 279 b) Akteure der AG Berlin- und Deutschlandpolitik . . . . . . . . . . . . . 282 2. Die deutschlandpolitischen Anfänge der Alternativen Liste 1980 / 81 . 285 a) Berlin-AG und Initiative für Paktfreiheit, Einheit und Frieden als Keimzellen grün-alternativer Deutschlandpolitik in Berlin . . . . . 285 b) Die Gründung der AG Berlin- und Deutschlandpolitik 1980 . . . 288 3. Zunehmende Differenzen der AG Berlin- und Deutschlandpolitik mit der AL (1983–1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 4. Konflikte mit der SED vermeiden – Die gescheiterte DDR-Reise der Alternativen Liste 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
26 Inhaltsverzeichnis 5. Der Austritt der AG Berlin- und Deutschlandpolitik aus der Alter nativen Liste 1987 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 6. Die Alternative Liste und die Friedliche Revolution 1989 . . . . . . . . 305 7. Die Beobachtung der AG Berlin- und Deutschlandpolitik und der Alternativen Liste durch das MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 V. Der Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD) . . . . . . . . . . . . 310 1. Geschichte der LDD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 a) Von der „Kölner Konferenz“ 1983 über den Arbeitskreis Linke und deutsche Frage zum Materialbrief Deutsche Probleme – Probleme mit Deutschland (1983 / 84) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 b) Die Gründung: Der „Anstoß für eine deutsch-deutsche Alterna tive“ des Initiativkreises Linke Deutschland-Diskussion (1984) . 311 c) Aktionen und Tagungen im ersten Jahr (1985) . . . . . . . . . . . . . . 314 d) Zeit der Übergänge: Das schwierige Jahr 1986 . . . . . . . . . . . . . . 318 e) Die LDD und das grüne Mainstream-Papier von Probst / Schnappertz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 f) Die LDD im Niedergang? – Die Jahre 1987–1989 . . . . . . . . . . . 326 g) Die LDD und die Friedliche Revolution 1989 . . . . . . . . . . . . . . . 328 2. Die Stellung der LDD innerhalb der Grünen und der westdeutschen Linken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 a) Rolf Stolz und die Grünen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 b) Zum Verhältnis der LDD zu den Grünen und der westdeutschen Linken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3. Die Beobachtung der LDD durch das MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 VI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 D. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 I. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 II. Mündliche und schriftliche Auskünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 III. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 IV. Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 V. Zeitungsartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
Abkürzungsverzeichnis AfaS
Archiv für alternatives Schrifttum
AG Arbeitsgemeinschaft AGG
Archiv Grünes Gedächtnis
AK Arbeitskreis AKG
Auswertung- und Kontrollgruppe
AL
Alternative Liste
APO
Außerparlamentarische Opposition
ARD
Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland
AStA
Allgemeiner Studierendenausschuss
AUD
Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher
BAG Bundesarbeitsgemeinschaft BAK
Bundesarchiv Koblenz
BDK Bundesdelegiertenkonferenz BDKD
Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands
BfgA
Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Auf gaben
BIOst
Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien
BMB
Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen
BMG
Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen
BRD
Bundesrepublik Deutschland
BStU
Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
BVfS
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit
CDA
Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft
CDU
Christlich-Demokratische Union
CSU
Christlich-Soziale Union
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DG
Deutsche Gemeinschaft
DGAP
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
DGB
Deutscher Gewerkschaftsbund
DKP
Deutsche Kommunistische Partei
28 Abkürzungsverzeichnis DM
Deutsche Mark
EVG
Europäische Verteidigungsgemeinschaft
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FDGB
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (DDR)
FDJ
Freie Deutsche Jugend
FDP
Freie Demokratische Partei
GA
Geschäftsführender Ausschuss
GfD
Gesellschaft für Deutschlandforschung
GG Grundgesetz GIM
Gruppe Internationaler Marxisten
GSA
German Studies Association
HA Hauptabteilung HV A
Hauptverwaltung Aufklärung
IM
Inoffizieller Mitarbeiter
IMB
Informeller Mitarbeiter Beobachtung
IMF
Inoffizielle Mitarbeiter der inneren Abwehr mit Feindverbindungen zum Operationsgebiet
IMS
Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit
IPW
Institut für Internationale Politik und Wirtschaft
KGB
Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR
KMK Kultusministerkonferenz KP
Kommunistische Partei
KPD
Kommunistische Partei Deutschlands
KPD / ML
Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten
KPdSU
Kommunistische Partei der Sowjetunion
KSZE
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
KUD
Kuratorium Unteilbares Deutschland
LDD
Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion
MdA
Mitglied des Abgeordnetenhauses
MDP
Materialbrief Deutsche Probleme – Probleme mit Deutschland
MfS
Ministerium für Staatssicherheit
NATO
North Atlantic Treaty Organization
NRW Nordrhein-Westfalen NSDAP
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NVA
Nationale Volksarmee
PID
Politisch-Ideologische Diversion
RAF
Rote Armee Fraktion
Abkürzungsverzeichnis29 RGW
Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe
RHG Robert-Havemann-Gesellschaft RIAS
Rundfunk im amerikanischen Sektor
SA Sturmabteilung SBZ
Sowjetische Besatzungszone
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
SEW
Sozialistische Einheitspartei Westberlins
SFB
Sender Freies Berlin
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
UdSSR
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
UFJ
Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen
USA
United States of America
VSP
Vereinigte Sozialistische Partei
ZA Zentralarchiv ZAIG
Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe
ZDF
Zweites Deutsches Fernsehen
ZK Zentralkomitee
A. Einleitung I. Problemaufriss: Die Deutsche Frage 1972–1989 oder: Teilung anerkannt, Einheit passé? „Gute Voraussetzungen für eine aktive Deutschland politik bestehen auch deshalb, weil Interesse und Engagement für die Deutsche Frage und die Wege zu ihrer Lösung auch außerhalb der Parteien allgemein zugenommen und sich verschiedene aktive Gruppen und Zentren gebildet haben […].“1
Teilung anerkannt, Einheit passé? Diese Frage haben sich die hier zu untersuchenden status-quo-oppositionellen Gruppen und Persönlichkeiten in der Deutschlandpolitik während der 1970er und 1980er Jahre in der Bundesrepublik gestellt. Sie haben versucht, auf ihre Weise, das heißt im Sinne der Offenheit der Deutschen Frage2, gegen den deutschlandpolitischen Mainstream zu argumentieren. Dabei sind sie auf erhebliche Widerstände im eigenen politischen Lager und im auf die Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgerichteten intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik gestoßen. Denn weitverbreitet wurde die sozialliberale Ost- und Deutschlandpolitik als „Anerkennung zweier Staaten in Deutschland“3 gefeiert.4 1 Wolfgang Seiffert, Das ganze Deutschland. Perspektiven der Wiedervereinigung, München 1986, S. 203–204. 2 Der Begriff Deutsche Frage wird hierbei als historischer Begriff verstanden und groß geschrieben. 3 Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011, S. 172. 4 Dabei wurde von Egon Bahr, Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt, bei den Vertragskonstruktionen strikt darauf geachtet, den deutschen Anspruch auf Selbstbestimmung zu wahren. Vgl. Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen. Um ein Nachw. erw., durchges. Taschenbuchausg. (auf Grund der 3. Aufl.), Frankfurt a. M. / Berlin 1994, S. 244. Hacker weist in diesem Zusammenhang allerdings auf die historische Leistung der CDU / CSU-Opposition hin, die mit ihrer berechtigten Kritik an den Verhandlungen erheblich mit dazu beigetragen habe, dass die Bundesregierung die Rechtsstandpunkte in den Verhandlungen mit den östlichen Verhandlungspartnern nachdrücklich vertrat. Vgl. ebd., S. 145–147. In den 1980er Jahren kam es dann bei Bahr zu einem „deutschlandpolitischen Positionswechsel“ (Jens Hacker), der ihn als Verfechter des deutschlandpolitischen Status quo auswies. Vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 245.
32
A. Einleitung
Allerdings begann sich das zuvor kritische westdeutsche DDR-Bild durch tatkräftige Mithilfe westdeutscher linksliberaler Medien in den 1960er Jahren zu wandeln: „Der Paradigmenwechsel setzte […] in den sechziger Jahren ein, als zunächst einzelne Medien einen neuen Tonfall anschlugen, dann andere ihnen folgten und schließlich auch die Politiker dem Umschwung der öffentlichen Meinung Rechnung trugen.“5
Der Historiker Hubertus Knabe macht dabei für das neue DDR-Bild in erster Linie den westdeutschen Medienbetrieb verantwortlich, der dieses „herbeigeschrieben und -gesendet“6 habe. Es sei zu einer Weichzeichnung der DDR, die gar zu einer „Wahrnehmungsblockade“7 (Hubertus Knabe) in der Bundesrepublik führte, gekommen. Seit Willy Brandt stand dann der bundesrepublikanische Geist der Zeit links8, die politische Option der Wiedervereinigung unterlag hier praktisch einem „De-facto-Verzicht“ (Volker Kronenberg).9 Wer gehörte zu den einflussreichen DDR-Bild-Veränderern in der westdeutschen Publizistik? Ein Jahr vor dem Mauerbau fragte der Philosoph Karl Jaspers in seiner 1960 erschienenen Schrift „Freiheit und Wiedervereinigung“ suggestiv: „[I]st die nationalstaatliche Einheit Deutschlands noch ein höchster politischer Wert, ja überhaupt noch ein wesentlicher Wert?“10 Das Streben der westdeutschen Politik nach Wiedervereinigung wurde von Jaspers kritisch als ein Sammelsurium von „Reden, Zusammenkünfte[n], Feierlichkeiten, Massenzustimmungen, Beifallslärm und Händeschütteln“11 – ohne politische Konsequenzen – gedeutet. Die „Idee des Weltfriedens“12 stand für Jaspers ganz oben auf der politischen Agenda, ein Topos, der auch in den 1970er und 1980er Jahren weiter verbreitet werden sollte. Einer der wichtigsten Vordenker der sozialliberalen Deutschlandpolitik, der Journalist Peter Bender, konstatierte 1964 in seiner Schrift „Offensive Entspannung“: „Eine Wiedervereinigung Deutschlands erscheint auf abseh5 Hubertus Knabe, Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, Berlin / München 2001, S. 19. 6 Ebd., S. 20. 7 Knabe, Der diskrete Charme der DDR, S. 15. 8 Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, Bonn 2004, S. IX. 9 Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine welt offene Nation, 2. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 218. 10 Karl Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik. Mit einem Vorwort von Willy Brandt, Neuausgabe, München 1990, S. 12. 11 Ebd., S. 13. 12 Ebd.
I. Problemaufriss: Die Deutsche Frage 1972–1989 33
bare Zeit ausgeschlossen.“13 Stattdessen lautete das Credo Benders, drei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer, zur deutschlandpolitischen Situation: „Die Alternative zum kalten [sic!] Krieg heißt offensive Entspannung. Sie gipfelt in dem Bemühen, Ost und West auf möglichst vielen Gebieten möglichst eng und fest miteinander zu verbinden; und sie wird gestützt auf die Hoffnung, daß vom Sachlichen eine mildernde und zivilisierende Wirkung auf die Politik ausgeht.“14
Gestützt auf Erfahrungen aus Polen und Ungarn empfahl Bender der westdeutschen Politik, mit folgenden – stabilisierend wirkenden – Prämissen die Liberalisierung des östlichen deutschen Teilstaates anzugehen: „[D]ie Führung [der DDR] darf nicht mehr fürchten und das Volk darf nicht mehr hoffen, daß sich an der Tatsache der kommunistischen Herrschaft etwas ändert. Praktisch bedeutet das: außenpolitisch muß das Land bei Moskau und auf Moskauer Kurs bleiben; innenpolitisch muß die Partei die Schlüsselpositionen und bei allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort behalten.“15
Damit nicht genug an klugen Ratschlägen. Wer musste in Benders Konzept auf wen zugehen? Selbstverständlich die Bundesrepublik auf die DDR: „Die Voraussetzungen, die für eine Liberalisierung in der DDR fehlen, können daher nur geschaffen werden, wenn der westliche Teil des geteilten Landes dabei mithilft. […] Der Schlüssel für eine relative Freiheit im östlichen Deutschland liegt, wenn es ihn gibt, in Bonn.“16
Im Jahre 1968 hatte Bender sich dann endgültig für die deutschlandpolitische Maßgabe der Anerkennung der DDR entschieden. Jetzt holte er hierfür seine „Zehn Gründe“17 hervor. Seine Hoffnungslosigkeit hinsichtlich einer möglichen Wiedervereinigung von Bundesrepublik und DDR mündete in dem Ratschlag – man ist eher geneigt zu sagen, in der politischen Kapitulation – sich „das Unvermeidliche […] nicht abnötigen zu lassen, sondern es rechtzeitig in die eigene Politik aufzunehmen.“18 Noch 1986 rechtfertigte Bender in seiner wissenschaftlichen Abhandlung der „neuen“ Ostpolitik Brandts die Grundannahme der sozialliberalen Deutschlandpolitik: „[…] Brandts neue Ostpolitik setzte voraus, daß die Westdeutschen sich mit der Teilung abfanden. Ihre Umwelt – in West wie Ost – hatte es längst getan und empfahl Bonn, sich auf das Unabänderliche einzustellen, um das Beste 13 Peter Bender, Offensive Entspannung. Möglichkeit für Deutschland, 4. Aufl., Köln / Berlin 1965, S. 9. 14 Ebd., S. 37. 15 Ebd., S. 65. 16 Ebd., S. 107–108. 17 Peter Bender, Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR, Frankfurt a. M. 1968. 18 Ebd., S. 23.
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A. Einleitung
daraus zu machen.“19 Nicht unterschätzt werden sollte, dass diese von Bender konstatierte – vermeintliche – deutschlandpolitische Alternativlosigkeit später in den Debatten als Totschlagargument gegen aktive Wiedervereinigungsoptionen fungierte. Mitte der 1960er Jahre unternahmen die „Zeit“-Journalisten Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt und Theo Sommer die „Reise in ein fernes Land“20: Gemeint war hier – damals noch nicht selbstverständlich – der Nachbarstaat der Bundesrepublik, die DDR. Auch Wilhelm Wolfgang Schütz, Vorsitzender des Kuratorium[s] Unteilbares Deutschland, einer ursprünglich pro Wiedervereinigung agierenden Institution, deren Entstehen maßgeblich vom gesamtdeutschen Minister Jakob Kaiser begleitet wurde21, beteiligte sich an der zunehmend entspannungsorientierten deutschlandpolitischen Debatte. Noch 1965 hatte Schütz den aktiven Charakter der Deutschlandpolitik betont als er empfahl: „Es gibt keine Formel für die deutsche Wiedervereinigung. […] Entscheidend ist, daß die deutsche Politik überhaupt in diese Richtung strebt, Maßnahmen zu diesem Ziel ergreift und Ergebnisse auf diesem Weg erzielt.“22 Zwei Jahre später, 1967, meinte Schütz in seiner deutschlandpolitischen Denkschrift „Was ist Deutschland?“ eine veränderte DDR-Wahrnehmung festzustellen: „Bisherige Aussagen verlieren immer mehr Glaubwürdigkeit im Laufe der Jahre, der Jahrzehnte. […] Von Deutschland ist immer weniger die Rede. Von der Bundesrepublik hier, von der DDR dort umso mehr.“23 Auch der erste Ständige Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Günter Gaus, beabsichtigte 1983 den Westdeutschen zu zeigen, „wo Deutschland liegt“24. Gaus meinte dabei zu erkennen, dass in der DDR eine „Nischengesellschaft“ entstanden sei: „Was also ist eine Nische in der Gesellschaft der DDR? Es ist der bevorzugte Platz der Menschen drüben, an dem sie Politiker, Planer, Propagandisten, das Kollektiv, das große Ziel, das kulturelle Erbe – an dem sie das alles einen guten 19 Peter Bender, Neue Ostpolitik. Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag, München 1986, S. 10. 20 Marion Gräfin Dönhoff / Rudolf Walter Leonhardt / Theo Sommer, Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR, Hamburg 1964. 21 Vgl. Tilman Mayer, Jakob Kaiser. Gewerkschafter und Patriot. Eine Werkauswahl, hrsg. und eingeleitet von Tilman Mayer, Köln 1988, S. 91. 22 Wilhelm Wolfgang Schütz, Reform der Deutschlandpolitik, Köln / Berlin 1965, S. 226. 23 Wilhelm Wolfgang Schütz, Was ist Deutschland? Die Denkschrift, abgedr. in: ders., Deutschland-Memorandum. Eine Denkschrift und ihre Folgen, Frankfurt a. M. 1968, S. 9–20, hier S. 9. 24 Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983.
I. Problemaufriss: Die Deutsche Frage 1972–1989 35 Mann sein lassen. […] Wie schon gesagt, nichts Besonderes, sondern wie bei uns zu Haus, wenn man anstelle der Überlegung, wie etwas zu besorgen sei, das Rechnen setzt, welche weitere Ratenzahlung noch möglich wäre.“25
So lautete das Gaussche Urteil über die DDR-Bewohner, hoffnungslos romantisch, gepaart mit einem Schuss westdeutscher Kapitalismuskritik. Wer wagte da zu widersprechen? Aber nicht nur in Politik und Medien wandelte sich das DDR-Bild, auch in der Wissenschaft wurde der Kalte Krieg beendet. Mit Peter Christian Ludz, dem aufstrebenden West-Berliner Professor für DDR-Forschung und ersten Habilitanden zu einem DDR-Thema26, kehrte die Politische Wissenschaft der Totalitarismustheorie den Rücken. Mit Ludz wurde das systemimmanente Paradigma zur gültigen Richtschnur einer Wissenschaft im Zeitgeist. Systemimmanent bedeutete an sich den wertfreien Vergleich von zwei Systemen, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, der – gut gemeint – jedoch manchen Unterschied (das Ministerium für Staatssicherheit war kein Thema der Systemimmanenten!) zu verwischen drohte, wie die in dieser Studie vorgestellten kritischen DDR- und Deutschlandforscher um Siegfried Mampel meinten. Ludz verhalf der sozialliberalen Bundesregierung, ihre Politik der Entspannung auch wissenschaftlich abzufedern. Im Gegenzug wurde Ludz von dieser mit mehreren Gutachten und weiteren deutschlandpolitischen Veröffentlichungsmöglichkeiten versorgt.27 In seinem Essay „Deutschlands doppelte Zukunft“ aus dem Jahre 1974 äußerte sich Ludz zufrieden hinsichtlich der erreichten Selbstanerkennung der Bundesrepublik: 25 Ebd.,
S. 160. Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln u. a. 1968. 27 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Deutschland 1971. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation. Wissenschaftliche Kommission: Peter Christian Ludz (Gesamtleitung), [Opladen] 1971; Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), BRD–DDR, Systemvergleich 2: Recht, Bericht und Materialien zur Lage der Nation. Vorwort von Egon Franke. Wissenschaftliche Kommission: Peter Christian Ludz (Gesamtleitung), [Opladen] 1972; Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bundesrepublik Deutschland–DDR. Systemvergleich 3: Nation, staatliche und gesellschaftliche Ordnung, Wirtschaft, Sozialpolitik. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974. Vorwort von Egon Franke. Wissenschaftliche Kommission: Peter Christian Ludz (Gesamtleitung), [Opladen] 1974. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch. Wiss. Leitung: Peter Christian Ludz unter Mitw. von Johannes Kuppe, Köln 1975; Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch. Wiss. Leitung: Peter Christian Ludz unter Mitw. von Johannes Kuppe, 2., völlig überarb. und erw. Aufl., Köln 1979. Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung, erstattet vom Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung unter Vorsitz von Peter C. Ludz, o. O. [Bonn] 1978. 26 Peter
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„Erst im Laufe der sechziger Jahre ist den Bundesdeutschen klar geworden, daß ein Gesamtdeutschland in absehbarer Zeit nicht zu realisieren, daß die Wiedervereinigung vorerst ausgeschlossen sein würde. […] Für die Bundesrepublik war der im Wiedervereinigungsgebot enthaltene nationale Anspruch gefährlich, weil er die innere Legitimität nicht erhöhte, sondern ein diffuses Gefühl hinsichtlich Staat und Gesellschaft begünstigte; weil er den provisorischen Charakter dieses Staates im Bewußtsein seiner Bürger wie vor der Weltöffentlichkeit lange, allzu lange aufrecht erhalten hat. Denn nur auf der Grundlage von Vorstellungen, daß die eigene politische Ordnung ein Provisorium sei, konnte der Anspruch auf Wiedervereinigung plausibel bestehen.“28
Die deutschlandpolitischen Debatten erlebten also in der Konsequenz eine gewisse Engführung, mit einem Austausch der immer gleichen Argumente. Tilman Mayer spricht so 1983 auch von einem „Unbehagen mit der nationalen Frage“, was auf ein „Arrangement mit der Teilung“ (Stichwort: BiNationalisierung) als vermeintlicher Problemlösung hinauslaufen könne. Das schwierige Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation lasse, so Mayer, den „antinationalen Affekt“ hervortreten.29 Gegenstimmen wie z. B. die des CDU-Bundestagsabgeordneten Johann Baptist Gradl, der sich 1971 in der Hochphase der sozialliberalen Vertragspolitik „Sorgen“ machte, die „deutsche Teilung [könnte] als endgültig“ bewertet werden, fanden kaum Gehör. Als Oppositionspolitiker blieb Gradl nur der Wunsch nach einer „Klarstellung durch die Bundesregierung“.30 Auch der Historiker Hellmut Diwald verkündete im Zuge der deutschdeutschen Annäherung – von ihm als „Anerkennung“31 tituliert – im Jahre 1970 traurig das Ende des Nationalstaates: „Wir geben damit aber auch unsere Identität als Volk auf, wir verzichten auf das oberste Recht aller Völker der Welt, auf das Recht der Selbstbestimmung.“32 Noch in den 1980er Jahren schrieb der Nationsforscher Bernard Willms den Westdeutschen, egal ob eher links oder rechts orientiert, ins Stammbuch: „ ‚Nation‘ bedeutet für Deutsche stets mehr als für andere, Arbeit an der Nation, an ihrer Verwirklichung; Nation ist nichts Naturwüchsiges, Selbstverständliches. Nation ist Kampf um die Nation, also Kampf gegen Partikularitäten, gegen Spal28 Peter Christian Ludz, Deutschlands doppelte Zukunft. Bundesrepublik und DDR in der Welt von morgen. Ein politischer Essay, München 1974, S. 104. 29 Vgl. Tilman Mayer, Prinzip Nation. Dimensionen der nationalen Frage, dargestellt am Beispiel Deutschlands. 2., durchges. Aufl., Opladen 1987, S. 48. 30 Vgl. Johann Baptist Gradl, Sorgen, in: ders., Im Interesse der Einheit. Zeugnisse eines Engagements. Hrsg. und eingeleitet von Karl Willy Beer, Stuttgart 1971, S. 332–333, hier S. 332. 31 Hellmut Diwald, Die Anerkennung. Bericht zur Klage der Nation, München / Eßlingen 1970. 32 Ebd., S. 12.
I. Problemaufriss: Die Deutsche Frage 1972–1989 37 tungen und gegen jene, die am Weiterbestehen von Teilen oder Teilungen interessiert sind.“33
War die deutsche Einheit in den 1970er und 1980er Jahren nicht mehr mehrheitsfähig? Nicht hoch genug einzuschätzen ist bei der Beantwortung dieser Frage der Verweis auf die deutschlandpolitische Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes34, auch und gerade was die intellektuelle Munitionierung des ersten Teils der hier untersuchten Wiedervereinigungsfreunde betrifft. Immerhin bekamen alle Deutschlandpolitiker vom Bundesverfassungsgericht seit den 1950er Jahren etliche deutschlandpolitische „Grundlagen und Grenzen“ (Josef Isensee) aufgezeigt. So hatten die „Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland […] von Verfassungs wegen [sic!] die Pflicht, im Rahmen des real Möglichen das Ziel [die Einheit Deutschlands; L. H.] anzustreben und alles zu unterlassen, was die Erreichung des Ziels hätte gefährden können.“35 Zudem stellte Karlsruhe fest, dass Bundesrepublik und DDR nur „völkerrechtsanaloge Beziehungen“ – der juristische Fachausdruck hieß hier „Inter-se“ – pflegen konnten. Ein „Verfassungswandel der Bundesrepublik“ als „Annäherung an das politische System der DDR“ war nicht möglich. Außerdem wurde der Fortbestand des „deutschen Staatsvolkes“, die einheitliche Staatsangehörigkeit aller Deutschen, betont.36 Aber das alles schien auf die „Realpolitik“ zunächst kaum Auswirkungen zu haben. Im Gegenteil: Auf den „Opportunismus der Mitte“ sowie die „Gesinnungsstrammheit der Linken“ hatten die Karlsruher Botschaften kaum Auswirkungen.37 Dass die Forderung nach Wiedervereinigung zudem in der westdeutschen Bevölkerung ohne Resonanzboden war, kann ebenfalls nicht konstatiert werden. Im Gegenteil: So belegen Meinungsumfragen in der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren den mehrheitlichen Wunsch der Bevölkerung, 33 Bernard Willms, Die Deutsche Nation, Köln 1982, S. 285. Siehe auch den Literaturbericht zur nationalen Frage in den 1980er Jahren von Tilman Mayer, Die nationale Frage in Deutschland, in: Neue Politische Literatur, Jg. 28, H. 3, 1983, S. 295–324. 34 Josef Isensee, Die deutsche Teilung und die deutsche Einheit im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Christian Hillgruber (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Symposium anlässlich des 70. Geburtstages von Frau Richterin des Bundesverfassungsgerichts a. D. Prof. Dr. Karin Graßhof, Berlin 2008, S. 7–38, hier S. 19–20. Siehe auch Tilman Mayer, Grundlage bleibt die Freiheit. Anmerkungen zur Lage Deutschlands, in: GfD-Rundbrief, Nr. 66, Juli 2012, S. 4–6. 35 Josef Isensee, Die deutsche Teilung und die deutsche Einheit im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 15. 36 Vgl. ebd., S. 16–17. 37 Vgl. ebd., S. 19.
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das Präambel-Gebot des Grundgesetzes nicht zu streichen.38 Zwar ging der Wiedervereinigungswunsch der jungen Menschen im westdeutschen Teilstaat seit den 1950er Jahren zurück, allerdings zeigte „[d]ie weitgehende Konstanz des Vereinigungswunsches im Bevölkerungsdurchschnitt“, dass sich in späteren Lebensjahren diese „Gleichgültigkeit und Ablehnung“ verflüchtigte.39 Die Fragestellung der Arbeit dreht sich demnach um folgenden Komplex, die Eingangsfrage nach der vermeintlichen Endgültigkeit der deutschen Teilung wieder aufgreifend: Warum konnte man sich trotz des intellektuellmedialen Trommelfeuers der Zweistaatlichkeitsbefürworter dennoch für die Wiedervereinigung Deutschlands einsetzen? Zudem: Wer setzte sich in den 1970er und 1980er Jahren für eine aktive Wiedervereinigungspolitik – gegen den herrschenden, status-quo-orientierten Zeitgeist – ein? Es geht hier also um das Phänomen von Befürwortern der deutschen Einheit. Welche Faktoren führten dazu, dass diese wiedervereinigungsbefürwortenden Akteure in der Bundesrepublik weitestgehend im politischen Abseits standen, obwohl beispielsweise doch die Präambel des Grundgesetzes die Vollendung der deutschen Einheit festhielt? Wie ist überhaupt der Spielraum – im politischen Diskurs – dieser Personen einzuschätzen? Nimmt man hier nun einen Perspektivwechsel hin zur offiziellen Deutschlandpolitik der Bundesregierungen vor, so war diese auf die Festigung des Status quo ausgerichtet: Die sozialliberale Entspannungspolitik wurde unter Helmut Kohl – bei erneuertem normativem Abstand zum SED-Regime – fortgesetzt.40 Diese deutschlandpolitische Linie galt bis zu den Botschaftsbesetzungen durch DDR-Flüchtlinge im Sommer und Herbst 1989. Im Zusammenhang mit der dann einsetzenden „Krisendiplomatie“ schreibt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte über das deutschlandpolitische Regierungshandeln Helmut Kohls: „Bis in den November 1989 hinein galt unverändert eine Art Stillhalteabkommen mit der DDR. Das schloß zwar keine zeitlose Bestandsgarantie für das politische System mit ein, doch signalisierte die Bundesregierung, daß auch sie an einer Massenausreise aus der DDR nicht interessiert war.“41 38 Vgl. Manuela Glaab, Deutschlandpolitik in der öffentlichen Meinung, Opladen 1999, S. 135–136. 39 Vgl. ebd., S. 134–135. 40 Vgl. Karl-Rudolf Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989, Stuttgart 1998, S. 479–480. HansPeter Schwarz bezeichnet die Politik Helmut Kohls gegenüber der DDR als „Politik des Abwartens“. Kohl habe, so Schwarz, in den 1980er Jahren „die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats in der überkommenen Form für unmöglich“ gehalten. Siehe Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, 2. Aufl., München 2012, S. 461–462. 41 Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft, S. 483.
I. Problemaufriss: Die Deutsche Frage 1972–1989 39
Erst im Zusammenhang mit dem Mauerfall erfolgte also seitens der Bundesregierung wieder eine aktive Wiedervereinigungspolitik.42 Bereits aber unter Helmut Kohls sozialdemokratischen Vorgängern Willy Brandt und Helmut Schmidt war es zu einer veränderten Wahrnehmung der DDR in der Bundesrepublik gekommen: „Offiziell hielten die Brandt-, Schmidt- und Kohl-Regierungen an der deutschen Einheit als Ziel fest und verwiesen die von der SED vertretene Zwei-NationenThese ins Reich propagandistischer Legenden. In der bundesdeutschen Gesellschaft aber wurde die DDR immer stärker als normales Ausland wahrgenommen.“43
Fragt man nicht zuletzt im deutsch-deutschen Vergleich nach der Anschlussfähigkeit der von westdeutschen status-quo-oppositionellen Gruppen vertretenen Idee der Wiedervereinigung für ähnliche Vorstellungen der DDROpposition, so wird diese positiv, sozusagen als Ost-West-Thema, beantwortet werden können. Nicht nur „Frieden“, „Umwelt“ und „Gerechtigkeit“ standen Mitte der 1980er Jahre auf der Agenda der DDR-Opposition, nein, es gab in Teilen zusätzlich eine Sensibilität für die Deutsche Frage.44 Nicht unterschätzt werden sollte auf dem deutsch-deutschen Spielfeld mit dem Ost-Berliner Ministerium für Staatsicherheit ein weiterer Akteur und seine Intention: Die versuchte und mitunter erfolgreiche Einflussnahme des MfS mit Hilfe seines IM-Spitzelapparates in der Bundesrepublik auf die deutschlandpolitische Debatte. Den hinterlassenen Stasi-Akten ist dabei – Ironie der Geschichte – eine gewisse Korrektivfunktion in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung nicht abzuerkennen.45 Der Schutz des Sozialismus in der DDR vor „Aufweichung und Zersetzung“46, nicht nur im eigenen 42 Vgl. Karl-Rudolf Korte, Das Heft in die Hand nehmen – Weichenstellungen im Kanzleramt, in: Tilman Mayer (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, Berlin 2010, S. 73–94, hier S. 92. 43 Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, Bonn 2009, S. 92. 44 Vgl. Andreas H. Apelt, Die Opposition in der DDR und die deutsche Frage, Berlin 2009, S. 82–83. Zu den „Wechselwirkungen“ (Manfred Wilke) gehörte auch die Zusammenarbeit von westdeutschen Linken mit DDR-Oppositionellen. Siehe dazu den Aufsatz zum Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus von Manfred Wilke, Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus, in: ders., Der SED-Staat. Geschichte und Nachwirkungen, hrsg. von Hans-Joachim Veen, Köln u. a. 2006, S. 111–121, insbes. S. 117–118. 45 Vgl. Sven Felix Kellerhoff, Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex, Hamburg 2010, S. 312. Zur Einordnung der Staatssicherheit in den Komplex der SED-Diktatur siehe jüngst Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013. 46 Siegfried Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei. Zur Bedeutung einer Heilslehre als Mittel zum Griff auf das Bewußtsein für das Totalitarismusmodell, Berlin 1996, S. 364.
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Herrschaftsbereich, sondern auch im „Operationsgebiet“, wie die Bundesrepublik bezeichnet wurde, stand für das MfS an vorderster Stelle.47 Dabei wurde für das gefürchtete „Einwirken von außen auf das Denken, Fühlen und Verhalten der Menschen im eigenen Machtbereich […] der Begriff der ‚politisch-ideologischen Diversion (PID)“ geprägt“48. Eben genau deshalb gerieten die Wiedervereinigungsfreunde im Westen ins Fadenkreuz der Staats sicherheit, weil sie – aus Sicht des MfS – jene für die SED gefährliche PID betrieben, da die SED-Herrschaft ja überwunden zu werden drohte, falls es zur Wiedervereinigung käme.
II. Forschungsstand Wenn man sich in der veröffentlichten Literatur auf die Suche nach Studien über Einheitsbefürworter macht, wird man kaum fündig.49 Konsultiert man exemplarisch einige seit der Wiedervereinigung erschienene große Untersuchungen über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise – nach dem Jahr ihres Erscheinens geordnet – von Heinrich August Winkler, Edgar Wolfrum, Eckart Conze und Michael Gehler50, werden in diesen regierungszentrierten Studien status-quo-oppositionelle Kräfte in Westdeutschland, die sich für eine aktive Wiedervereinigungspolitik eingesetzt haben, überhaupt nicht verhandelt. Wenn in diesen Studien das Thema der deutschen Einheit behandelt wird, wird rasch auf die weltpolitische Lage verwiesen, die aus entspannungspolitischen Erwägungen eine andere als eine status-quo-gemäße Deutschlandpolitik nicht zugelassen habe. Dennoch lässt sich anhand dieser Studien der zeithistorische Forschungsstand zur Geschichte der Bundesrepublik hinsichtlich der Einordnung der Wiedervereinigung mit Gewinn ablesen. 47 Vgl. Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Taschenbuchausgabe, München 2001, S. 9. 48 Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei, S. 364. 49 Dabei gab es in der deutschen Teilungszeit etliche Personen in der Bundesrepublik, die in den politischen Parteien und in der Wissenschaft, so z. B. in der hier zu untersuchenden Gesellschaft für Deutschlandforschung, stärker einheitsbezogene Positionen vertraten. Siehe Jens Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 179–449. 50 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, Bonn 2004; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2007; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009; Michael Gehler, Deutschland. Von der Teilung zur Einigung. 1945 bis heute, Bonn 2011.
II. Forschungsstand41
Heinrich August Winkler erkennt in seinem zweibändigen Werk „Der lange Weg nach Westen“ eine zunehmende Dominanz der Linken in den westdeutschen intellektuellen Diskursen. Diese von ihm konstatierte „intellektuelle Hegemonie“ dauere, so Winkler, seit sozialliberalen Zeiten an. Selbstkritisch äußert sich Winkler über seine Rolle als Diskursteilnehmer in der deutschen Teilungszeit.51 Winkler bezeichnet die deutsche Spaltung retrospektiv als „Anomalie“52, ein Argument, das von den hier versammelten deutschlandpolitischen Dissidenten, egal ob links- oder rechtsstehend, schon vor 1989 vertreten wurde. Edgar Wolfrum schreibt in der „geglückten Demokratie“ der Bundesrepublik für das Jahr 1989 „die höchste Stufe der Selbstanerkennung“53 zu. „Für die meisten unfassbar“, habe sich schon kurze Zeit später die Wiedervereinigung ereignet. 1989 habe sich die Bundesrepublik als „Definitivum“, nicht als „Provisorium“ präsentiert.54 So belegten Umfragen aus jener Zeit eine Abkehr der Westdeutschen von der „Realität Gesamtdeutschlands“, die „Eigenstaatlichkeit der DDR“ sei akzeptiert worden.55 Eckart Conze fragt in seinem Werk „Die Suche nach Sicherheit“, inwiefern die Ostpolitik von Brandt bis Kohl das SED-Regime möglicherweise stabilisiert habe. Im gleichen Zug wird die Frage nach der Alternative zu dieser Politik aufgeworfen. Diese hätte, so impliziert Conze, wohl nicht in einer „Politik aktiver Destabilisierung“ der DDR bestanden.56 Insgesamt konstatiert Conze, dass die Bundesrepublik bis zum Mauerfall eine Politik der „Stabilisierung des Status quo“ betrieben habe: „Ein Zusammenbruch der DDR gehörte nicht zu den Szenarien, auf welche die Regierungen Brandt, Schmidt und Kohl hingearbeitet haben.“57 Für die 1980er Jahre konstatiert Conze folgerichtig: „Jeder anderen Politik hätte, unabhängig von den mit ihr verbundenen außenpolitischen Problemen und Risiken, die innenpolitische und gesellschaftliche Grundlage gefehlt. Der Zwang zur Status-quo-Politik war enorm, und die Herausforderung bestand darin, aus der einstweilen unausweichlichen Anerkennung der Zweistaatlichkeit nicht eine prinzipielle Akzeptanz der Zweistaatlichkeit werden zu lassen.“58
51 Vgl.
Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. IX. ebd., S. X. 53 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 428. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 428–429. 56 Vgl. Conze, Die Suche nach Sicherheit, S. 427. 57 Ebd., S. 705. 58 Ebd., S. 622. 52 Vgl.
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Zumal, so möchte man ergänzen, diese der „Suche nach Sicherheit“ wohl auch widersprochen hätte. Michael Gehler wiederum betont den engen deutschlandpolitischen Handlungsspielraum der Bundesregierungen, da dieser von der internationalen Mächtekonstellation abhängig gewesen sei.59 Gleichwohl hebt Gehler Helmut Kohls aktive Deutschlandpolitik seit dem Herbst 1989 hervor, eben als sich die internationalen Rahmenbedingungen entscheidend gewandelt hatten.60 Einzig Andreas Wirsching setzt sich in seinem Teilband der „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, der die 1980er Jahre behandelt und im Jahre 2006 unter dem Titel „Abschied vom Provisorium“61 erschienen ist, mit den deutschlandpolitischen Spannungen im Regierungslager auseinander. So erfahren die Kohl-Kritiker Bernhard Friedmann und Detlef Kühn durchaus ihre Erwähnung.62 Ebenso fallen die Namen des DDR-Forschers Karl Wilhelm Fricke und des Juristen Wolfgang Seiffert.63 Wirsching lobt diese Stimmen als „moralischen Stachel im Fleisch des deutschlandpolitischen Konsenses“.64 Ebenfalls nicht erwähnt werden status-quo-oppositionelle Kräfte in den deutschlandpolitischen Standardwerken von Heinrich Potthoff65 und Peter Bender66, die ebenfalls beide nach der Wiedervereinigung entstanden. Potthoff erwähnt zwar das „breite und vielfältige“ Tableau der deutschlandpolitischen Stimmen in der Bundesrepublik, womit er neben „Politiker[n] und Parteien“ vor allem auch „Medien, Kirchen und selbst Gerichte“ zählt.67 Potthoff geht trotz dieses bunten Stimmengemisches in deutschlandpolitischen „Grundfragen“ von einem „Konsens“ aus.68 Nicht fehlen darf in der sozialdemokratischen Perspektive Potthoffs der Verweis auf die vermeint 59 Vgl.
Gehler, Deutschland, S. 354. ebd., S. 355. 61 Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006. 62 Vgl. ebd., S. 624–625. 63 Vgl. ebd., S. 626. 64 Ebd., S. 627. 65 Heinrich Potthoff, Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961–1990, Berlin 1999. 66 Peter Bender, Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945–1990, Bonn 2008. An sich stellt die Geschichte der Deutschen Frage im engeren Sinne, d. h. im Hinblick auf die Deutschlandpolitik – aus konservativer Sicht – ein eigenes Forschungsdesiderat dar. Zur Deutschen Frage siehe Wolf D. Gruner, Die deutsche Frage in Europa 1800–1990, München 1993 und Immanuel Geiss, Die deutsche Frage 1806–1990, Mannheim 1992. 67 Potthoff, Im Schatten der Mauer, S. 11. 68 Vgl. ebd. 60 Vgl.
II. Forschungsstand43
liche Irrelevanz der Wiedervereinigungsfrage in der westdeutschen Bevölkerung.69 Wichtig ist allerdings der Hinweis Potthoffs, dass die „Deutschlandpolitik, obwohl doch für die Menschen im geteilten Land gedacht, […] vor allem gouvernemental-etatistisch angelegt“70 war. Diese Feststellung ist zweifellos richtig, schließlich hatte der Bundeskanzler das deutschlandpolitische Heft des Handels in der Hand. Deutschlandpolitik war sozusagen „Chefsache“; der innerdeutsche Minister selbst hatte auf seinem ureigenen Terrain wenig zu entscheiden.71 Dennoch kann die Geschichte der Deutschlandpolitik nicht ohne die Stimmen pro Wiedervereinigung geschrieben werden, die außerhalb oder am Rande der Parteien vernehmbar waren. Dass es diese Stimmen gab, ist die Widerlegung der These Potthoffs vom „Konsens“ in der Deutschland politik und zugleich ihre Bestätigung, da sie sich eben nicht im Zentrum, „gouvernemental-etatistisch“, Gehör verschafften, wie zu zeigen sein wird. Noch in seinem Werk „Deutschlands Wiederkehr“72 verortet Peter Bender die Wegscheide in deutschlandpolitischen Fragen mit dem Regierungsantritt von Bundeskanzler Willy Brandt: „Das Neue an der neuen Ostpolitik war, daß die Einsicht in die Notwendigkeit ganz vollzogen und damit die Möglichkeit zu handeln gewonnen wurde. Die Verweigerung des Unvermeidlichen hatte nichts eingebracht außer ständig wachsenden Schwierigkeiten. […] Bonn mußte Ballast abwerfen, um manövrierfähig zu werden, aber der Osten mußte es auch werden. Öffnen zum Westen konnte er sich nur soweit, wie er sich nicht mehr bedroht fühlte. Zusammenarbeiten mit dem Westen vermochten die kommunistischen Führungen nur, wenn ihre Herrschaft unangefochten blieb.“73
Auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung betont Bender somit die regierungszentrierte Perspektive der sozialliberalen Ost- und Deutschlandpolitik, die den Menschen im geteilten Deutschland zwar mehr Verlässlichkeit brachte, aber die Mauer deshalb nicht zum Einsturz brachte. Die Menschen konnten zwar zueinander kommen74, blieben aber – dialektisches Prinzip? – trotzdem eingesperrt. In Benders Konzert der Mächte war für alternative deutschlandpolitische Inhalte und Formen kein Platz. Eine ähnliche – ebenso regierungszentrierte – Auffassung vertritt auch Egon Bahr, Vordenker der sozialliberalen Entspannungspolitik, wenn er in 69 Vgl.
ebd., S. 10–11. S. 342. 71 Vgl. ebd., S. 12. 72 Peter Bender, Deutschlands Wiederkehr, Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945–1990, Bonn 2008. 73 Ebd., S. 152. Hervorhebung durch den Verfasser. 74 Vgl. ebd., S. 171. 70 Ebd.,
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der Rückschau die Wirkungen seiner deutschlandpolitischen Konzeptionen bewertet: „ […] [O]hne die Entspannungspolitik von Willy Brandt in den 1970er Jahren wäre der Weg zur Einheit nicht möglich gewesen. Es ist der SPD oft vorgeworfen worden, ‚Wandel durch Annäherung‘ sei eine Politik gewesen, die die DDR unnötig lange am Leben erhalten hätte. Da kann ich immer nur sagen: Wir konnten die DDR gar nicht am Leben erhalten, wenn sie nicht durch die Sowjetunion am Leben erhalten worden wäre.“75
Die jüngere Spezialuntersuchung zur Wiedervereinigung Deutschlands wie „Deutschland einig Vaterland“ von Andreas Rödder geht ebenfalls davon aus, dass seitens der Bundesregierungen seit den 1960er Jahren keine aktive Wiedervereinigungspolitik mehr betrieben worden sei.76 Besonders die Bundesregierung unter Helmut Schmidt habe sich, so Rödder, im deutschlandpolitischen Status quo eingerichtet und die „revisionistischen Potentiale“ der sozialliberalen Deutschlandpolitik unter Brandt „abgestreift“.77 Auf dem intellektuellen Felde tat sich ein Übriges: Die Unsicherheit der Deutschen, nicht nur die der Politiker, im Umgang mit ihrer eigenen Geschichte gipfelte so in einer diffusen Identität, siehe den „Historikerstreit“ in den 1980er Jahren: „Aus den Debatten der achtziger Jahre gingen Nation und Nationalstaat auch auf bürgerlicher Seite geschwächt hervor.“78 Auch die ostdeutsche Stimme von Ilko-Sascha Kowalczuk verweist auf die offizielle Deutschlandpolitik der Bundesregierungen seit 1969, die samtens an der Wiedervereinigung als Ziel ihrer Politik festgehalten hätten. Gleichwohl sei die DDR in der bundesdeutschen Gesellschaft „immer stärker als normales Ausland wahrgenommen“79 worden. Auf die Entfaltung eines deutschlandpolitischen Panoramas pro Wiedervereinigung kommen Rödder und Kowalczuk ebenfalls nicht zu sprechen. Warum sind status-quo-oppositionelle Gruppen und Einzelpersönlichkeiten bislang – wie eben dargelegt – in der wissenschaftlichen Literatur kein Thema? Man kann diesen Befund als ein Fortwirken des deutschlandpolitischen Mainstreams der 1970er und 1980er Jahre, zumindest in Teilen der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, deuten. Edgar Wolfrum beispielsweise meint noch heute, eine wichtige Grundlage für den Erfolg der sozialliberalen Ostpolitik sei in der „Entdeckung“ der DDR durch die Westdeutschen 75 Egon Bahr, Ostwärts und nichts vergessen! Kooperation statt Konfrontation, hrsg. u. bearb. von Dietlind Klemm, Hamburg 2012, S. 79. 76 Vgl. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, Bonn 2010, S. 47. 77 Vgl. ebd., S. 48. 78 Ebd., S. 37. 79 Kowalczuk, Endspiel, S. 92.
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„als Industriegesellschaft, in der Landsleute lebten, Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen“80, zu sehen. Warum sollte man sich dann überhaupt mit dieser bislang historisch nicht eingeordneten deutschlandpolitischen Personengruppierung beschäftigen? Manfred Wilke, einer der ehemaligen Leiter des Forschungsverbundes SEDStaat an der Freien Universität Berlin, nennt hierfür zwei Gründe: Zum einen verweist er auf die in der alten Bundesrepublik in den 1980er Jahren zunehmend „ ‚ins geschichtspolitische Vergessen‘ abdriftende Verpflichtung des Grundgesetzes, Deutschland wiederzuvereinigen“81. Zum anderen nennt er diesen Vorgang einen „Prozeß öffentlicher Amnesie“, der „ein großes Forschungsdesiderat zur Geschichte der alten Bundesrepublik“ bedeute.82 Der Politikwissenschaftler Tilman Mayer zieht ebenfalls den Schluss, dass „die Geschichte der status-quo-oppositionellen Schriften noch nicht geschrieben“83 sei. In die gleiche Richtung zielt die Argumentation Detlef Kühns, des ehemaligen Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts und einer der zu untersuchenden Akteure: „Die Namen der ‚Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen‘ füllen ein dickes Buch von Jens Hacker. Die Namen derjenigen, die in dieser Zeit [gemeint sind die 1970er und 1980er Jahre; L. H.] die Wiedervereinigung als politisches Ziel nicht aus den Augen verloren und die Verhältnisse in der DDR so darstellten, wie jeder, der wollte, sie sehen konnte, benötigen deutlich weniger Platz. Dafür ist dieses Buch aber auch noch nicht geschrieben worden.“84
Was ist dann zu finden bzw. woran sollte man sich orientieren? Als das Themenfeld berührende Forschungsliteratur ist zunächst die Studie von Alexander Gallus „Die Neutralisten“85 aus dem Jahre 2001 zu nennen. Gallus untersucht für den Zeitraum von 1945 bis 1990 Gruppen und Einzelpersönlichkeiten, die als politisches Ziel – und zwar als Alternative zur Westbindung der Bundesrepublik – ein neutrales Gesamtdeutschland vor Augen hatten. Ihm geht es dabei insbesondere darum, „die Kritiker der außenpolitischen Westbindung der Vergessenheit zu entreißen und ihre Gedankenwelt 80 Wolfrum,
Die geglückte Demokratie, S. 285. Wilke, Rezension „Die deutsche Einheit kommt bestimmt!“ von Lutz Haarmann, in: ZdF 19 / 2006, S. 193–195, hier S. 195. 82 Ebd. 83 Tilman Mayer, Warum es zur Wiedervereinigungschance kam, in: Karl Eckart / Jens Hacker / Siegfried Mampel (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998, S. 233–242, hier S. 234, Fußnote 6. 84 Detlef Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, in: Sezession, H. 12, Januar 2006, S. 32–37, hier S. 37. 85 Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990, 2. unveränderte Aufl., Düsseldorf 2006. 81 Manfred
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darzulegen“86. Zudem soll mit der Thematisierung von „nationalneutralistischen Ideen“ der „Umgang mit der deutschen Frage und der Wiedervereinigung als einem wichtigen Bestandteil der politischen und geistigen Kultur“87 Deutschlands Rechnung getragen werden. Jedoch geht es Gallus, um es nochmals zu verdeutlichen, um die „Gegner einer außenpolitischen Westbindung“88, so wie sie von Bundeskanzler Konrad Adenauer konzipiert worden war. So fragt Gallus nach deren Formulierung eines „ideologischgesellschaftspolitischen dritten Weg[es]“89 bzw. ob sich diese Gruppen – trotz „ihrer Gegnerschaft zur außenpolitisch-militärischen Westbindung“ – dem „Westen“, d. h. seiner „politischen Kultur“ bzw. „dem politischen System der Bundesrepublik“ zugehörig gefühlt haben.90 Der Begriff des „Nationalneutralismus“ wird von Gallus dabei definiert als „das Streben nach einem wiedervereinigten Deutschland außerhalb der Blöcke.“91 Auch wenn die Nationalneutralisten ihre „zum Teil unausgegorenen und idealistischen Pläne nicht in die Wirklichkeit umsetzen“92 konnten, sind sie letztlich doch „eindringlich wie keine zweite Strömung für die Wiedervereinigung als Ziel einer handelnden Politik eingetreten“93. Einige Gruppen bei Gallus berühren zwar das Themenfeld der status-quooppositionellen Gruppen und Persönlichkeiten in der westdeutschen Deutschlandpolitik, denn auch in der vorliegenden Studie gibt es Befürworter eines konföderierten neutralen Gesamtdeutschlands (z. B. die Linke Deutschland-Diskussion um Rolf Stolz bzw. die AG Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste). Im Gegensatz zur vorliegenden Studie werden jedoch von Gallus keine Gruppen und Einzelpersönlichkeiten genannt, denen die Präambel des Grundgesetzes Richtschnur ihres deutschlandpolitischen Handelns war. Eine Abgrenzung zur rein auf „Neutralisten“ 86 Ebd., S. 24. Zu „Formen und Gruppen alternativer Deutschlandpolitik“ in den 1950er Jahren siehe Karl-Eckhard Hahn, Wiedervereinigungspolitik im Widerstreit. Einwirkungen und Einwirkungsversuche westdeutscher Entscheidungsträger auf die Deutschlandpolitik Adenauers von 1949 bis zur Genfer Viermächtekonferenz 1959, Hamburg 1993, S. 253–318. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 25. Gallus betont später, dass er den Neutralitäts-Begriff „wertfrei“ verwende, da dieser von den meisten Akteuren als Zuschreibung („Kollektiv-Verdächtigungen“) an sich abgelehnt werde. Siehe Alexander Gallus, Neutralistische Bestrebungen in Westdeutschland im ersten Nachkriegsjahrzehnt, in: Detlef Bald / Wolfram Wette (Hrsg.), Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzep tionen in Westdeutschland 1945–1955, Essen 2008, S. 37–51, hier S. 39. 89 Gallus, Die Neutralisten, S. 26. 90 Vgl. ebd. 91 Ebd., S. 25. 92 Ebd., S. 22. 93 Ebd., S. 485.
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konzipierten Studie Gallus’ erscheint hierbei dringlich, da das Spektrum der Wiedervereinigungsfreunde in der alten Bundesrepublik weit darüber hinaus reicht. Des Weiteren verzichtet Gallus auf die Berücksichtigung von Quellen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR. Weiterhin ist auf die Studie von Sören Roos „Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in der deutschen Kritik zwischen 1982 und 1989“94 zu verweisen. Roos arbeitet für den Zeitraum der Ära Kohl Argumentationslinien heraus, mit denen im intellektuellen und politischen Diskurs der 1980er Jahre versucht wurde, zu belegen, dass die Offenheit der Deutschen Frage, so wie sie in der Präambel des Grundgesetzes 1949 formuliert wurde, als doch inzwischen erledigt zu gelten habe.95 Als „Argumentationsmuster der Kritik am Wiedervereinigungsgebot“ arbeitet Roos insgesamt sieben Idealtypen96 heraus: Im Einzelnen sind dies das „friedenspolitische Argument“, das „Mitteleuropa-Argument“, das „Doppelstaatlichkeits-Argument“, das „Anti-Nationalstaatlichkeits-Argument“, das „Europa-Argument“, das „formal-juristische Argument“ sowie das „geschichtspolitische Argument“.97 Für die vorliegende Studie sind die von Roos herausgearbeiteten Argumente gegen eine mögliche Wiedervereinigung, das „formal-juristische“ und das „friedenspolitische“ Argument, von ausschlaggebender Bedeutung. Im linken Spektrum der Bundesrepublik war in den 1970er und 1980er Jahren die Meinung vorherrschend gewesen, die deutsche Teilung sichere den Frieden. Aus eben jenem Grund dürfe es nicht zu einer Wiedervereinigung kommen, da diese eine Friedensgefahr darstelle. Deutschland musste also geteilt bleiben98, die DDR demnach stabilisiert werden, um wenigstens zu ihrer inneren Liberalisierung beizutragen.99 Genau diese Argumentation hielt man den hier zu untersuchenden Wiedervereinigungsfreunden des grün-alternativen Spektrums entgegen. Ebenso war einem Teil der hier zu untersuchenden Gruppen die Präambel des Grundgesetzes auch noch in den 1970er und 1980er Jahren Richtschnur für ihr politisches Handeln: Den Auftrag des Grundgesetzes, die Einheit zu vollenden, galt es auch in dieser Periode der Entspannung ernst zu nehmen. Kritikern des Präambelgebotes, die meinten, dieses gelte als „historisch 94 Sören Roos, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in der deutschen Kritik zwischen 1982 und 1989, Berlin 1996. 95 Vgl. ebd., S. 11. 96 Ebd., S. 15. 97 Vgl. ebd., S. 7–8. 98 Vgl. Roos, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, S. 159. 99 Vgl. Tilman Mayer, Kontroversen zur deutschen Frage, in: Werner Weidenfeld / Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit 1949–1989–1999, aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Bonn 1999, S. 501–509, hier S. 505.
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überholt“100 bzw. Anhängern der „Interpretation des Grundlagenvertrages als eines ‚Teilungsvertrages‘ “101, wurde von diesen Gruppen entgegen getreten. Für diese „juristisch instrumentierte Opponentengruppe“102 (Tilman Mayer) war eben die Aufrechterhaltung der Rechtsstandpunkte im Grundgesetz, hier insbesondere das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel, geradezu eine Mahnung, sich für die Wiedervereinigung einzusetzen. Auch die Studie von Dong-Ki Lee „Option oder Illusion?“103, die sich mit der Idee der Konföderation als Ziel für ein wiedervereinigtes Deutschland im gesamten Zeitraum der deutschen Zweistaatlichkeit befasst104, berührt das Thema der vorliegenden Studie. Lee nimmt dabei das Wirken des Konföderationsgedankens „in der breiten Öffentlichkeit außerhalb der Machtzentren“105 in den Fokus. Aus der innerdeutschen Perspektive der „integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte“ nach den Modellen von Christoph Kleßmann und Konrad H. Jarausch106 wird nach den „wechselnden Eigendynamiken des Konföderationsgedankens in der Zweistaatlich keit“107 gefragt. Lees These, dass Ende der 1970er Jahre und zu Beginn der 1980er Jahre durch das Engagement von DDR-Oppositionellen, nationalen Linken und Nationalrevolutionären in Westdeutschland das Thema einer deutsch-deutschen Konföderation revitalisiert wurde108, ist sicher zuzustimmen. Allerdings geht Lee nicht über diesen Untersuchungsgegenstand hinaus. Der intellektuelle Diskurs in der Bundesrepublik umfasst mehr als das Nachdenken über eine deutsch-deutsche Konföderation von Seiten der na tionalen Linken und Nationalrevolutionären. Ganz zentral ist hierbei der Referenzpunkt des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973, der eben den Gedanken an eine „echte“ 100 Roos, 101 Ebd.
Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, S. 299.
102 Mayer,
Kontroversen zur deutschen Frage, S. 506. Lee, Option oder Illusion? Die Idee einer nationalen Konföderation im geteilten Deutschland 1949–1990, Berlin 2010. 104 Vgl. ebd., S. 24. 105 Ebd., S. 26. 106 Lee nimmt u. a. Bezug auf Christoph Kleßmann, Spaltung und Verflechtung. Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990, in: ders. / Peter Lautzas (Hrsg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Bonn 2005, S. 20–37 sowie Konrad H. Jarausch, „Die Teile als Ganzes erkennen“. Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), H. 1, S. 10–30. 107 Beide Zitate Lee, Option oder Illusion?, S. 28. 108 Vgl. ebd., S. 25. In jeweils kurzen Abschnitten befasst sich Lee mit der auch in dieser Studie analysierten Linken Deutschland-Diskussion und der AG Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin. 103 Dong-Ki
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Wiedervereinigung aufrecht erhielt. Das Urteil ist der zentrale Ausgangspunkt der Begründung einer Wiedervereinigung Deutschlands für die hier zu analysierende „juristisch instrumentierte Opponentengruppe“109 (Tilman Mayer). Obgleich von Lee die Konföderationsideen der SED aus den 1950er und 1960er Jahren ausgeführt werden110, das westdeutsche Echo für diese Periode dargestellt111 und auf Wechselwirkungen in den 1980er Jahren von west- und ostdeutschen Konföderationsbefürworten verwiesen wird112, verzichtet er in seiner Studie auf die Einsichtnahme in die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. In dieser Konsequenz wird die von der SED eingenommene Feindperspektive gegenüber westdeutschen Konföderationsfreunden nicht deutlich. Warum blieb es bei Modellen zur Konföderation? Lee lehnt den Verweis auf die internationalen Rahmenbedingungen während der deutschen Teilungszeit als „zu kurz gegriffen“ ab. Sein daraus abgeleitetes Urteil, das Modell einer Konföderation habe sich aus wirtschaftlichen Erwägungen seitens der DDR angeboten und sei aber aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwäche nicht aufgenommen worden113, erscheint schief. Zudem, so Lee weiter, sei der Konföderationsgedanke auch deshalb nicht umgesetzt worden, da dieser von „den politischen Eliten in beiden deutschen Staaten“ wegen „anderer politischer Ziele“ als der deutschen Einheit nicht verfolgt worden sei.114 Lag nicht der Schlüssel zur deutschen Einheit in Moskau?115 Hatte nicht der „Gorbatschow-Faktor“116 (Archie Brown) den Deutschen die Möglichkeit eröffnet, ihre Einheit zu vollenden? Als weitere Forschungsliteratur zum Debattenkomplex um die Nation in der Bundesrepublik ist die Studie von Florian Roth „Die Idee der Nation im politischen Diskurs“117 zu nennen. Roth gelingt es, die intellektuelle Debat109 Mayer,
Kontroversen zur deutschen Frage, S. 506. Lee, Option oder Illusion?, S. 119–176. 111 Vgl. ebd., S. 177–247. 112 Vgl. ebd., 312. 113 Vgl. ebd., S. 400. 114 Ebd., S. 401. 115 Vgl. Gehler, Deutschland, S. 354; vgl. Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 15; vgl. Kowalczuk, Endspiel, S. 24–34; vgl. Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, insbes. S. 35; vgl. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 720–722; vgl. Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 442. 116 Archie Brown, Der Gorbatschow-Faktor. Wandel einer Weltmacht, Frankfurt a. M. / Leipzig 2000. 117 Florian Roth, Die Idee der Nation im politischen Diskurs. Die Bundesrepublik Deutschland zwischen neuer Ostpolitik und Wiedervereinigung (1969–1990), BadenBaden 1995. 110 Vgl.
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te um die deutsche Nation bzw. um den deutschen Nationalstaat für die 1970er und 1980er Jahre detailliert nachzuzeichnen. Es entsteht ein Überblick über das intellektuelle Panorama der Bundesrepublik in Bezug auf die nationale Frage, in dem allerdings wiederum die Stimmen pro Wiedervereinigung nur am Rande Erwähnung finden, so durch Hinweise auf die „Linken Patrioten“ Peter Brandt und Herbert Ammon118, ohne dass jedoch ihre umfassende Würdigung bzw. eine Analyse von an der Präambel des Grundgesetzes orientierten Gruppen erfolgt. Allerdings ist Roth die Darstellung des damaligen intellektuellen Zeitgeistes der Bundesrepublik gelungen, gegen den auch die in der vorliegenden Studie zu untersuchenden deutschlandpolitischen Akteure anzukämpfen hatten. In seiner Studie „Geschichte im Schatten der Mauer“119 geht Günther R. Mittler der Frage nach, wie im Zeitraum nach dem Mauerbau 1961 bis zur Friedlichen Revolution 1989 „die deutsche Teilung als zeithistorische[r] Gegenstand in die akademische Diskussion“120 der Geschichtswissenschaft aufgenommen wurde. Dabei spielt die Quellengattung „Schulbuch“ in seiner Arbeit eine entscheidende Rolle.121 Mittlers Studie möchte, was auch für die vorliegende Arbeit entscheidend ist, eine Verbindung von der „Intellektuellen- mit [der] Wissenschaftsgeschichte“ leisten. Dabei wird die „Doppelrolle [des Historikers; L. H.] zwischen wissenschaftlichem Spezialisten und kritischem Intellektuellen“ herausgearbeitet122, was auch für einen Teil der in der vorliegenden Studie untersuchten Akteure gilt. Die Arbeit weiß sich ebenfalls in der wissenschaftlichen Tradition Jens Hackers. Sein bekanntestes Werk „Deutsche Irrtümer“123 markiert einen (letzten) Höhepunkt in seinem langjährigen zeitgeschichtlichen und juristischen Forschen zur Deutschen Frage. Hacker hatte relativ früh nach der Wiedervereinigung die intellektuelle deutschlandpolitische Landkarte Westdeutschlands während der deutschen Teilung für den Zeitraum von 1949 bis 1990 gezeichnet. Er stieß dabei auf vielfältige Stimmen aus Parteien, Ver118 Vgl.
ebd., S. 226–227. R. Mittler, Geschichte im Schatten der Mauer. Die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft und die deutsche Frage 1961–1989, Paderborn u. a. 2012. 120 Ebd., S. 20. Die Diskurse der deutschen Historikerzunft im Hinblick auf die Deutsche Frage in den 1980er Jahren beleuchtet auch die Studie von Tabea Reissenberger, Die deutsche Frage als Kontroversthema bundesdeutscher Zeitgeschichtsforschung im Vorfeld der Wiedervereinigung, unveröffentlichte Magisterarbeit, Bonn 2011. 121 Vgl. Mittler, Geschichte im Schatten der Mauer, S. 22. 122 Beide Zitate ebd., S. 23. 123 Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SEDDiktatur im Westen. Um ein Nachw. erw., durchges. Taschenbuchausg. (auf Grund der 3. Aufl.), Frankfurt a. M. / Berlin 1994. 119 Günther
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bänden und der Wissenschaft, die sich damals zur Deutschen Frage äußerten, nicht immer rühmlich, wie er zu recht meinte. Vom Verfasser der vorliegenden Arbeit selbst liegt eine das Themenfeld berührende Studie „ ‚Die deutsche Einheit kommt bestimmt!‘ “124 vor. Diese beinhaltet das in der Bundesrepublik gegen den deutschlandpolitischen Status quo gerichtete Wirken der „Linken Patrioten“ um Herbert Ammon und Peter Brandt, des Publizisten Wolfgang Venohr, des deutsch-deutschen Juristen Wolfgang Seiffert, des Freundeskreises Deutschland um den Journalisten Karl Feldmeyer sowie der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Die Studie „Die deutsche Einheit kommt bestimmt!“, deren Titel an den berühmten Sammelband von Wolfgang Venohr „Die deutsche Einheit kommt bestimmt“125 erinnern soll, beschränkte sich dabei auf das Wirken von Gruppen und Personen in den 1980er Jahren. Es liegen zudem weitere Vorarbeiten des Verfassers auf dem Gebiet der Deutschlandpolitikforschung vor, welche das Themenfeld der Wiedervereinigungsfreunde behandeln, so Aufsätze zur Deutschen Frage im Spiegel der westdeutschen Parteien126, über einen Besuch bei Hermann von Berg127, ein Überblick zur Deutschlandpolitik der Bundesrepublik 1949 bis 1990128 sowie „Die Gesamtdeutschen“129. Im Aufsatz „Die Gesamtdeutschen“, der als eine knappe Skizze der vorliegenden Studie gelten darf, kommen wiederum deutschlandpolitisch dissidente Gruppen und Einzelpersönlichkeiten zur Sprache, die noch nicht zufriedenstellend unter dem positiv zu würdigenden Gesichtspunkt der Infragestellung des deutschlandpolitischen Status quo behandelt wurden: Die Gesellschaft für Deutschlandforschung, der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, die Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML), Hermann Kreutzer und der KurtSchumacher-Kreis, der deutschlandpolitische Arbeitskreis der CDA, das 124 Lutz Haarmann, „Die deutsche Einheit kommt bestimmt!“ Zum Spannungsverhältnis von Deutscher Frage, Geschichtspolitik und westdeutscher Dissidenz in den 1980er Jahren, Berlin 2005. 125 Wolfgang Venohr (Hrsg.), Die deutsche Einheit kommt bestimmt, BergischGladbach 1982. 126 Lutz Haarmann, Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den 80er Jahren, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, Heft 3 / 2009, S. 178–197. 127 Lutz Haarmann, Geschichtsstunde. Zu Besuch bei Hermann von Berg, in: Rundbrief der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Nr. 63, Juli 2009, S. 22–26. 128 Lutz Haarmann, Die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1990, zus. mit Tilman Mayer, in: Politische Studien, Themenheft 1 / 2010, S. 57–66. 129 Lutz Haarmann, Die Gesamtdeutschen. Anmerkungen zur westdeutschen Dissidenz in der Deutschlandpolitik unter Berücksichtigung der aktuellen Lage 1989, in: Tilman Mayer (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, Berlin 2010, S. 39–70.
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Wirken des Liberalen Detlef Kühn sowie grüne Wiedervereinigungsfreunde im Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion um Rolf Stolz.130 Es bleibt festzuhalten: Eine Spezialuntersuchung – wie bereits eingangs erwähnt – ist in zufriedenstellender Weise bisher noch nicht erfolgt.
III. Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen Um sich den status-quo-oppositionellen Gruppierungen und Persönlichkeiten zu nähern, die in der vorliegenden Studie untersucht werden, wird der zeitgeschichtliche Zugriff gewählt. Dabei wird der Definition von Zeitgeschichte von Hans-Peter Schwarz gefolgt, der das spezifische Tun der Zeithistoriker wie folgt beschrieben hat: „Sie sind insofern Historiker, als sie anhand der Tatsachen diszipliniert zu erzählen verstehen, was sich zugetragen hat.“131 In der Zeitgeschichte herrscht zudem, wie Schwarz weiter ausführt, Konkurrenz zwischen „professionelle[n] Historiker[n]“, „HobbyHistorikern aus Politik, Diplomatie oder der Armee“, „Politologen“ und „Journalisten“.132 Das liegt vor allem daran, dass das zu Erzählende erst wenige Jahre zurückliegt, denn der Gegenstand der Zeitgeschichte ist „Geschichte, […] während sie noch qualmt“133 (Barbara Tuchman). Der Zeitgeschichte ist der Vorwurf des Quellenmangels entgegengebracht worden.134 Es galt lange das Diktum eines der Nestoren der bundesdeutschen Zeitgeschichte, Hans Rothfels, dass „die zeitgeschichtliche Forschung […] vor ungeheuren Lücken [stehe] und […] sich oft mit einem Nichtwissen [werde] bescheiden müssen.“135 Durch die Anpassung der Sperren für Archivbestände auf in der Regel 30 Jahre konnte dieser Einwand etwas entkräftet werden.136 Allerdings gilt somit heute für die jeweiligen Quellenlagen auch das genaue Gegenteil: Durch eine Vielzahl möglicher neuer Quellen, wie z. B. audiovisuelle Medien, oder durch verkürzte Sperrfristen 130 Abgehandelt werden in dem Aufsatz zudem Gruppen wie der Königsteiner Kreis, der eine rechtswissenschaftliche Vereinigung mit dem Ziel der Offenhaltung der Deutschen Frage war sowie der Bund der Mitteldeutschen, eine halbstaatliche Vertretung analog des Bund der Vertriebenen. 131 Hans-Peter Schwarz, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 1 / 2003, S. 5–28, hier S. 6. 132 Ebd. 133 Barbara Tuchman, Wann ereignet sich Geschichte?, in: dies., In Geschichte denken. Essays, Düsseldorf 1982, S. 31–39, hier S. 31. 134 Vgl. Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch (1993), S. 98–127, hier S. 106. 135 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 1 / 1953, S. 1–8, hier S. 5. 136 Vgl. Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland, S. 106.
III. Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen53
erweitert sich die Basis des Zeithistorikers erheblich.137 Gerade auf deutschdeutschem Gebiet sind die meisten hinterlassenen Akten der DDR seit der Wiedervereinigung geöffnet gewesen, was allerdings nicht für die staat lichen Bestände der Bundesrepublik gilt, die erst jetzt langsam die frühen 1980er Jahre erreicht haben. Der unbestrittene Vorteil des zeithistorischen Arbeitens – der allerdings zugleich auch seine größte Hürde darstellt – liegt nun darin, neue Quellenfunde verwenden zu können138 bzw. diese – wie Rothfels empfiehlt – in Form von Befragungen zu generieren, „ehe die Zeugen wichtiger Entscheidungen und Vorgänge dahinsterben“.139 Allerdings ist hier mit dem Münchner Zeithistoriker Hans Günter Hockerts einzuschränken: „[D]er Erklärungshorizont des Zeithistorikers ist nicht identisch mit dem Erlebnishorizont des Zeitzeugen.“140 Die Geschichte dieser hier untersuchten Gruppen und Persönlichkeiten in der Deutschlandpolitik wird anhand einer Quellenauswertung mit der hermeneutisch-historischen Methode dargelegt. Für die Darstellung werden Unterlagen der Akteure, die zum großen Teil in privaten Archiven lagern, herangezogen. Diese disparate Gruppe gilt es anhand von Aktenfunden, Zeitungsartikeln und Memoirenliteratur zu beleuchten und ernst zu nehmen. Ebenfalls wurden ergänzende Zeitzeugeninterviews geführt. Das anhand dieser Quellen ablesbare Selbstverständnis dieser recht unterschiedlichen deutschlandpolitischen Gruppen und Persönlichkeiten lässt erwarten, dass sie mehr als andere deutschlandpolitisch Aktive während der 1970er und 1980er Jahre verfassungspolitische Ziele aufrecht hielten141, dass sie sich gegen Widerstände auch im eigenen Lager energisch für die Wiedervereinigung einsetzten und sich hieraus ein moralischer und gleichsam realistischer Vorteil für diese disparate Gruppe von Akteuren in der Deutschlandpolitik ergibt. Wie ist dann die Geschichte der hier vorzustellenden Wiedervereinigungsfreunde142 in Westdeutschland zu schreiben? Ein vielversprechender Ansatz 137 Vgl.
ebd., S. 107. Schwarz, Die neueste Zeitgeschichte, S. 6. 139 Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, S. 5. 140 Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland, S. 109. 141 Die hier zu untersuchende K-Gruppe Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML) ist davon ausgenommen. Auch wenn, wie gezeigt werden wird, die grünen status-quo-oppositionellen Gruppen die Präambel des Grundgesetzes nicht explizit als Richtschnur ihres Handelns definierten, so diente ihre aktive Deutschlandpolitik dennoch der Beförderung des Wiedervereinigungsgebotes des Grundgesetzes. 142 Der Begriff stammt in deutschlandpolitischem Zusammenhang von Achim Franke. Siehe Achim Franke, Der Weg zur Deutschen Einheit von 1978–1990, o. O. [Gardessen] 2007, S. 8. 138 Vgl.
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einer Gegenüberstellung von staatlichen und nichtstaatlichen Kräften in der Deutschlandpolitik findet sich bei Andreas Wirsching, der das Feld der Deutschlandpolitik als „Feld für Spezialisten“ bezeichnet, das „wenig politisches Prestige“ versprochen habe. Die Deutschlandpolitik, die in der Regel regierungszentriert war, nahm weitestgehend keine Kenntnis von eben den auch hier darzulegenden nichtstaatlichen Akteuren bzw. diese „wurden sogar behindert“143. Wirsching plädiert daher energisch dafür, „der Versuchung [zu] widerstehen, der Geschichte der Bundesrepublik (alt) ex post einen wiedervereinigungsgeschichtlichen Subtext einzuschreiben. So sehr das Datum 1989 / 90 dazu verlockt, der Geschichte einen teleologischen Verlauf zu unterstellen, so wenig hat es einen solchen Subtext gegeben.“144
Hier soll also in Anlehnung an den Vorschlag Wirschings der methodische Versuch unternommen werden, dazu beizutragen, „die bundesrepublikanische Meistererzählung ebenso wie die negative Teleologie der DDR zu dekonstruieren, ihre Elemente zu sichten und in den Kontext zu stellen“145. Mittels der „pragmatischen Zeitgeschichtsforschung“ (Andreas Wirsching), die sich „pragmatischer Problemstellungen und Forschungen“ annimmt, wird hier also das Untersuchungsfeld eröffnet, mit dem Anspruch, einen Beitrag zu einer erst noch zu schreibenden „integrierte[n] deutsche[n] Nachkriegs- oder […] Nationalgeschichte“ zu leisten.146 Das Engagement der hier vorgestellten Gruppen und Persönlichkeiten für die Wiedervereinigung Deutschlands lässt sich dann auch in den größeren Rahmen einer intellektuellen Suche nach dem Ort der Bundesrepublik einbetten: „Seit der Gründung der Bundesrepublik ist über ihre Gestalt, ihre Idee und ihre Identität gestritten worden.“147 Im Prinzip wird in den hier dargelegten deutschlandpolitischen Debatten um die historische Verortung der Bundesrepublik gestritten. Fluchtpunkt der Geschichte der Bundesrepublik ist demnach die Frage nach der „nationale[n] Identität vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus.“148 So wurde vom „sozialliberalen Lager“ (J. Hacke) versucht, die Bundesrepublik als „Gegenbild“ zum Dritten Reich zu deuten. Konservative Debattierer waren im Gegensatz davon überzeugt, dass der Ort der Bundesrepublik nicht auf die zwölf Jahre Nationalsozialismus zu reduzieren sei. Hier setzte man vielmehr „auf positive Kontinuitäts143 Vgl. Andreas Wirsching, Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 3 / 2007, S. 13–18, hier S. 13. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Vgl. ebd., S. 18. 147 Jens Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit staatlicher Ordnung, Hamburg 2009, S. 8. 148 Ebd., S. 43.
III. Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen55
linien“ wie beispielsweise die Erinnerung an „Preußen“.149 Die Deutungshegemonie lag auf der Linken, denn im Prozess der Wiedervereinigung 1989 / 90 zeigte sich in den Debatten, dass die Bundesrepublik kein Provisorium, sondern Definitivum geworden war.150 Wirsching ordnet die für viele überraschend erfolgte Wiedervereinigung denn auch „in vieler Hinsicht quer zur bundesdeutschen ‚Identität‘ “ ein, als diese „auf die politische Tagesordnung gesetzt“151 wurde. Der Mauerbau 1961 in Berlin hatte auf die intellektuellen Debatten eine beruhigende Wirkung. Durch die Passivität der westlichen Alliierten war auch der territoriale Status quo erneut bestätigt worden. Wer jetzt noch von einer „friedlichen Grenzveränderung“ sprach, wie es nicht nur die Vertriebenenverbände taten, geriet in eine „argumentative Schräglage“.152 Die Vertreter der Gegenpositionen in der Deutschlandpolitik der 1970er und 1980er Jahre, die sich allesamt dem deutschlandpolitischen Mainstream, also dem westdeutschen Meinungsklimadruck in Medien und Publizistik, der für das Festschreiben des deutschlandpolitischen Status quo stand, widersetzten, konnten leicht z. B. als „Kalte Krieger“153 oder als „Friedens feinde“154 aus der Debattenarena gedrängt werden.155 Die Begrenzung des Untersuchungszeitraums auf die Zeit des Abschlusses des Grundlagenvertrages 1972 bis zur Friedlichen Revolution 1989156 ergibt sich dabei aus einer Periodisierung, die der Zeithistoriker Edgar 149 Vgl.
ebd. Volker Kronenberg, Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland, München 2010, S. 61. 151 Wirsching, Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, S. 14. 152 Vgl. Joachim Scholtyseck, Mauerbau und Deutsche Frage. Westdeutsche Intellektuelle und der Kalte Krieg, in: Dominik Geppert / Jens Hacke (Hrsg.), Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, S. 69–90, hier S. 80–81. 153 Tilman Mayer, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, Berlin 2010, S. 11–13, hier S. 13. 154 Ebd. 155 Vgl. die zeitgenössische Einordnung dieses Phänomens von Hannelore Horn und Siegfried Mampel, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Die deutsche Frage aus der heutigen Sicht des Auslandes, Berlin 1987, S. 7–13, hier S. 8. 156 Der Begriff der Friedlichen Revolution wird hier im Anschluss an das Plädoyer von Rainer Eckert verwendet. Demnach verdeutlicht der Begriff der Friedlichen Revolution die entscheidende Leistung der DDR-Bevölkerung beim Sturz des SEDRegimes. Zudem lässt er sich einbetten in (gesamt-)deutsche und europäische Freiheitstraditionen. Vgl. Rainer Eckert, Gegen die Wende-Demagogie – für den Revolutionsbegriff. Anmerkungen zu: Michael Richter, Die Wende. Plädoyer für eine umgangssprachliche Benutzung des Begriffs (Deutschland Archiv, 5 / 2007, S. 861– 868), in: Deutschland Archiv, 6 / 2007, S. 1084–1086. 150 Vgl.
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A. Einleitung
Wolfrum ursprünglich für die deutsche Geschichtswissenschaft vorgeschlagen hat. Wolfrum zufolge bedeutete der Grundlagenvertrag von 1972 „einen ähnlich tiefen Einschnitt für das bundesdeutsche Selbstverständnis wie Adenauers Westpolitik“157. Wolfrum weist nach, dass die Debatte – Staatsnation oder Kulturnation – die Historikerzunft an den Rand der Spaltung brachte. Es geht also auch den in dieser Studie vorgestellten Gruppen und Persönlichkeiten immer wieder um das Credo der Vertreter der Staatsnation: „Staat und Gebiet, nicht nur Bewusstsein und Wille machen eine Nation aus.“158 Im Zuge der Friedlichen Revolution 1989 kam es dann zu einer „Neuvermessung der Nation“.159 Im Gegenzug zum bereits oben dargelegten offiziellen Regierungshandeln der Bundesregierungen und zum verbreiteten weichgezeichneten DDR-Bild im intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik nahmen die hier zu untersuchenden deutschlandpolitischen Opponenten eine stärker einheitsbezogene Position ein. In der Konsequenz führte diese Haltung zu einer gewissen Außenseiterposition, zu einer Dissidenz in deutschlandpolitischen Angelegenheiten, ohne dass diese Gruppen und Persönlichkeiten, das sei besonders betont, damit zu Extremisten wurden.160 Dieser Personenkreis war Träger eines „umgekehrte[n] Bewusstsein[s]“161 (Wolfgang Schuller), das sich mit dem deutschlandpolitischen Status quo nicht abfinden wollte. Hier hielt man weiter an der unter Beschuss geratenen Präambel des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu voll 157 Edgar Wolfrum, Epilog oder Epoche? (Rück-)Blick der deutschen Geschichtswissenschaft vom Zeitalter der Zweistaatlichkeit bis zur Gegenwart, in: Herfried Münkler / Jens Hacke (Hrsg.), Wege in die neue Bundesrepublik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989, Frankfurt a. M. / New York 2009, S. 33–63, hier S. 35 und S. 49. 158 Ebd., S. 50. 159 Ebd., S. 58. 160 Eine Ausnahme bildet auch hier die KPD / ML, die den Ausläufern der Studentenrevolte 1967 / 68 entstammt. Diese K-Gruppe war als linksextremistisch zu verorten, allerdings war sie zugleich eine wichtige Ideenträgerin nationalen Gedankenguts für die späteren Grünen. Siehe dazu das Kap. C.1 in dieser Studie. 161 Wolfgang Schuller, Der Westen und die gewaltfreie Revolution, in: Andreas H. Apelt (Hrsg.), Der Weg zur Wiedervereinigung. Voraussetzungen – Bedingungen – Verlauf, Berlin 2010, S. 52–64, hier S. 53. Alexander Gallus verwendet für die Charakterisierung des deutschlandpolitischen Wirkens der ersten beiden Zeit-Chefredakteure Ernst Samhaber und Richard Tüngel, die – auch negativ zu lesende – Zuschreibung „deutschlandpolitische Querdenker“, ohne dabei diesen Begriff jedoch näher zu erläutern. Vgl. Alexander Gallus, Deutschlandpolitische Querdenker in einer konservativen ‚Zeit‘ – die ersten beiden Chefredakteure Samhaber und Tüngel 1946–1955, in: Christian Haase / Axel Schildt (Hrsg.), Die Zeit und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 225–244.
III. Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen57
enden“162 fest, verfiel nicht in Gleichgültigkeit angesichts der SED-Diktatur. Dieses Bewusstsein kam, wie Wolfgang Schuller schreibt, „durch den Mainstream der öffentlichen Meinung entweder gar nicht zur Sprache“ oder wurde – wie schon oben beschrieben – mit dem Schimpfwort des Antikommunismus, heißt: Rückständigkeit im Denken, belegt.163 Alle hier versammelten Akteure sind in gewisser Weise also „politische Intellektuelle, [die] als Teil der demokratischen Öffentlichkeit Kritik [üben] und sich für politische Belange einsetz[en].“164 Für einen Teil der hier zu behandelnden deutschlandpolitischen Kritiker hatte sich – wie bereits oben skizziert – die Frage nach der künftigen staatlichen Ordnung Deutschlands im Zuge des Grundlagenvertrags und des Karlsruher Urteils zu selbigem gestellt. Hatte nicht der deutschlandpolitische Mainstream die Anerkennung der DDR und der deutschen Teilung in diesem Baustein des deutschland- und ostpolitischen Vertragswerkes der sozialliberalen Bundesregierung erblickt? Der Einwand der Kritiker lautete: Wurde diese Sichtweise nicht durch Karlsruhe, sozusagen höchstrichterlich, widerlegt? Für den anderen hier zu untersuchenden Teil stellte sich im Zuge des ATO-Doppelbeschlusses die Frage, warum die Teilung endgültig sei bzw. N Deutschland nicht noch einmal Nationalstaat sein könne. Die deutsche Einheit als Friedensgarantie, das war zu dieser Zeit, Anfang der 1980er Jahre, eine unerhörte These in der Debatte über das Verhältnis der deutschen Linken zur geteilten Nation. Problematisch war zudem, dass es eine systematische Debatte innerhalb der Linken über die Deutsche Frage nicht gegeben hatte.165 Dennoch galt damals weithin: Wer sich als Linker dem Komplex der „deutschen Nation“ näherte, begab sich auf steiniges Terrain: „Die Angst der Linken vor der nationalen Einheit der Deutschen ist ein Paradoxon. Denn eigentlich hatte die demokratische Linke seit dem Vormärz für eine demokratische Republik gekämpft, die weit über das spätere Bismarcksche ‚Kleindeutschland‘ hinausgereicht hätte.“166 162 Hans D. Jarass / Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 1989, S. 4. 163 Vgl. Wolfgang Schuller, Der Westen und die gewaltfreie Revolution, S. 53. 164 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 116. 165 Eine Ausnahme von der konstatierten fehlenden systematischen linken Debatte zur Deutschen Frage hat es für Brandt mit der Partei „Die Grünen“ gegeben. Vgl. dazu Peter Brandt, Deutschlandpolitische Optionen im linken Spektrum zwischen Grundlagenvertrag und Wende (1998), in: ders., Schwieriges Vaterland, Deutsche Einheit. Nationales Selbstverständnis. Soziale Emanzipation. Texte von 1980 bis heute. 2., korr. Aufl., Berlin 2001, S. 344–359, hier S. 344–345. 166 Tilman Fichter, Die SPD und die Nation. Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit, Berlin u. a. 1993, S. 15.
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A. Einleitung
Was führte zu dieser linken Abwehrhaltung, die sich insbesondere in der Entspannungsära manifestierte? In der politischen Praxis war doch bis in die 1960er Jahre hinein auf der (West-)Linken, die der Westintegration ablehnend gegenüberstand und sich insofern als Interessenwahrer für Gesamtdeutschland verstand, die deutsche Einheit konsensuales politisches Ziel.167 Allerdings arrangierte sich genau diese westdeutsche Linke zunehmend mit einer Idee von der deutschen Nation, die im Verfassungspatriotismus gipfelte168; dieser wurde dabei „bewußt antinationalistisch“ unterfüttert. Bis auf wenige (prominente) Sozialdemokraten um Willy Brandt hoffte die Mehrheit der SPD auf ein nebulöses europäisches Deutschsein. Diese Schwierigkeiten mit der eigenen Nation führten dann im Vereinigungsjahr 1990 zu Befürchtungen hinsichtlich der neuen Größe und künftigen Rolle Deutschlands, weshalb häufig auf der Linken die Abwehrparole „Nie wieder Deutschland!“ zu vernehmen war.169 Durch die holzschnittartige Darlegung der Genese von „Linke und Na tion“ werden hierbei allerdings einheitsfreundliche Traditionslinien ausgeblendet, die aber unbedingt einer kritischen Würdigung bedürfen.170 Denn die deutschlandpolitische Lage innerhalb der „Neuen Linken“, den post68ern, die sich ideologisch und organisatorisch von der „klassischen Linken“, der Sozialdemokratie, getrennt hatte, stellte sich für diese entscheidend anders dar. Für den Historiker Peter Brandt, selbst in den 1970er und 1980er Jahren in diesem Spektrum deutschlandpolitisch aktiv, handelt es sich bei der Betrachtung des „linken Spektrums“ der Entspannungsjahre um ein „schwer durchschaubare[s] Konglomerat“171 von Organisationen, Strömungen, Zirkeln und unabhängigen Persönlichkeiten. Diese in Westdeutschland und Westberlin ansässigen Gruppen und Persönlichkeiten haben sich Brandt zufolge jenseits der klassischen, aus der Arbeiterbewegung hervorgegange167 Vgl. Peter Brandt / Herbert Ammon, Die deutsche Linke und die nationale Frage, in: dies. (Hrsg.), Die Linke und die nationale Frage, Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbek 1981, S. 13–28, hier S. 20. 168 Zur Einordnung des „Historikerstreites“ in die Geschichte der Bundesrepublik siehe Volker Kronenberg, Vorwort. Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der Historikerstreit – 20 Jahre danach, in: ders. (Hrsg.), Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der Historikerstreit – 20 Jahre danach, Wiesbaden 2008, S. 7–9. 169 Vgl. Stefan Bollinger (Hrsg.), Linke und Nation. Klassische Texte zu einer brisanten Frage, Wien 2009, S. 18; vgl. Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989 / 90, Bonn 2006, S. 474. 170 Siehe zum Komplex „Linke und Nation“ auch Tilman P. Fichter / Siegward Lönnendonker, Dutschkes Deutschland. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die DDR-Kritik von links, Essen 2011. 171 Brandt, Deutschlandpolitische Optionen im linken Spektrum zwischen Grundlagenvertrag und Wende, S. 344.
III. Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen59
nen parteipolitischen Formationen (SPD und SED) mit deutschlandpolitischen Alternativkonzepten beschäftigt.172 Brandt nennt hierbei, mit Hinweis auf ihre „unterschiedlichen, ja unvereinbaren Positionen“: die DKP / SEW, „Teile der Sozialdemokratie“ und Teile der Gewerkschaftsfunktionäre, „maoistische und trotzkistische Kaderorganisationen“, „locker verfasste linkssozialistische und spontaneistisch-anarchoide Gruppierungen“, „die neu entstandenen Bürgerinitiativen“, „links-alternative bzw. grüne Parteibildungen“ sowie unabhängige, „ ,freischwebende‘ Linksintellektuelle“173. Was wird in der vorliegenden Arbeit unter Deutscher Frage verstanden? Die Deutsche Frage wird hier anhand der Definition Wolfgang Seifferts aufgefasst: „Kern der Deutschen Frage ist […] seit ihrer Entstehung unverändert das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen (im Sinne von Artikel 116 des Grundgesetzes) geblieben, ihren eigenen Staat zu bilden und ihren politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Status frei zu bestimmen. […] Territorial bezieht sich das Selbstbestimmungsrecht unzweifelhaft auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, Berlins und der DDR. Die endgültige Festlegung der Grenzen eines auf dem Wege der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts entstandenen Gesamtstaates der Deutschen kann – einschließlich des Schicksals der 1945 unter sowjetische und polnische Verwaltung gekommenen Gebiete Deutschlands – erst in dem noch ausstehenden Friedensvertrag mit Deutschland entschieden werden.“174
Zur Sprache kommen hier daher ausschließlich Gruppen und Persönlichkeiten, die eine Wiedervereinigung primär aus den beiden Teilstaaten Bundesrepublik Deutschland und DDR anstrebten. Verdeutlichen wir es also nochmals: Der deutschlandpolitische bzw. intellektuell-mediale Diskurs der damaligen Bundesrepublik, so die These, sah in den Forderungen der zu untersuchenden Gruppen für eine deutsche Wiedervereinigung die Gefährdung der Entspannungspolitik. Es wurden friedenspolitische Argumente gegen die Wiedervereinigung ins Feld geführt, denen zufolge eine deutsche Einheit die Stabilität der europäischen Nachkriegsordnung unter den Bedingungen des Kalten Krieges ins Wanken bringen würde. Ebenso wurde die Präambel des Grundgesetzes, in der das Ziel der deutschen Einheit verankert war, als überholt angesehen, ebenfalls unter dem Hinweis darauf, dass die Zeit über diesen formaljuristischen Auftrag des Grundgesetzes hinweggegangen sei. Es werden also Gruppen und Persönlichkeiten untersucht, die sich diesen beiden Argumentationssträngen widersetzten. 172 Vgl.
ebd. S. 345. 174 Wolfgang Seiffert, Das ganze Deutschland. Perspektiven der Wiedervereinigung, München 1986, S. 9. Hervorhebung im Original. 173 Ebd.,
60
A. Einleitung
IV. Quellen Grundlegend für die Analyse der status-quo-oppositionellen Gruppen und Einzelpersönlichkeiten im Zeitraum nach Abschluss des Grundlagenvertrages 1972 bis zum Fall der Mauer 1989 sind die Privatarchive der untersuchten Akteure, die, obgleich nicht ohne Weiteres zugänglich, eine hervorragende Quellenlage bilden. Ebenfalls konnten zusätzliche Quellen durch Interviews generiert werden. Schließlich kommt auch diese Studie nicht ohne öffentlich zugängliches Archivgut aus. Die genutzten Hauptarchive sind hierbei das Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) und das Bundesarchiv Koblenz (BAK). Daneben wurden für die vorliegende Studie auch Bewegungsarchive konsultiert: Zu nennen sind hier das Archiv Grünes Gedächtnis in Berlin (AGG), das Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg (AfAS) und das Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft (RHG). Zur Quellen- und Archivlage der untersuchten Gruppen und Einzelpersönlichkeiten im Einzelnen: Die Unterlagen des deutschlandpolitischen Arbeitskreises der CDA, die sich in Privatbesitz des ehemaligen Leiters der Gruppe, Uwe Lehmann-Brauns, befinden, wurden zur Verfügung gestellt. Ergänzend wurde ein Zeitzeugeninterview mit Ulf Fink, dem damaligen CDA-Bundesvorsitzenden und Initiator des Arbeitskreises, geführt. Zudem wurde dem Verfasser die private Presseausschnittssammlung von Ulf Fink zur deutschlandpolitischen Thematik zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt. Eine hilfreiche veröffentlichte Quellenbasis für die Untersuchung des deutschlandpolitischen Arbeitskreises ist zudem die Mitgliederzeitschrift der CDA, die „Soziale Ordnung“. Außerdem konnten mit dem Einverständnis Finks seine personenbezogenen Stasi-Unterlagen in der BStU eingesehen werden. Zusätzlich wurde die organisationsbezogene Überlieferung des MfS über den deutschlandpolitischen Arbeitskreis der CDA ausgewertet. Für die Darstellung des Kurt-Schumacher-Kreises sind die umfangreich überlieferten organisationsbezogenen Unterlagen der BStU, die Zeitungsausschnitte zu den Aktionen und abgefangene interne Papiere des Kreises enthalten, von entscheidendem Wert. Ebenfalls wurden die personenbezogenen Unterlagen der BStU über Hermann Kreutzer eingesehen, die ein dichtes Bild seiner Beobachtung durch das MfS zeichnen. Die wichtigste öffentlich verfügbare Quellengrundlage für die Darstellung des Kurt-SchumacherKreises sind die im Jahre 2002 im Selbstverlag erschienenen Memoiren Hermann Kreutzers „In Deutschland für Freiheit“175. 175 Hermann Kreutzer, In Deutschland für Freiheit. Aufschlüsse über politische Ereignisse und Personen in sechs Jahrzehnten, Berlin 2002. Eine Einsichtnahme in
IV. Quellen61
Umfassende Unterlagen aus dem Privatarchiv des ehemaligen Präsidenten des Gesamtdeutschen Institutes, Detlef Kühn, die dem Verfasser zur Verfügung gestellt wurden, sowie die personenbezogenen Unterlagen in der BStU über Kühn konnten einen Erkenntnisgewinn zum Komplex „FDP und Deutsche Frage“ liefern. Weitere wichtige Quellen für die Darstellung des deutschlandpolitischen Wirkens von Kühn sind seine veröffentlichten Zeitzeugenberichte „Aus der Tätigkeit des Gesamtdeutschen Instituts“176 und „Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit“177. Über die Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD) liegen einige kürzere Darstellungen zu ihrer Tätigkeit und Geschichte vor, zuletzt von Günther Heydemann unter dem Titel „25 Jahre Gesellschaft für Deutschland forschung“178. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der GfD erschien im Jahre 1998 in einem Band der GfD-Schriftenreihe ein knapper Abriss ihrer Geschichte.179 In Jens Hüttmanns „DDR-Geschichte und ihre Forscher“180 behandelt ein kürzerer Abschnitt die Gründung und Forschungsschwerpunkte der Gesellschaft.181 Hüttmann bezeichnet dabei die GfD als „wichtige neue Institution im Bereich der DDR-Forschung“182. Eine ausführlichere Darstellung der Gesellschaft von ihrer Gründung 1978 bis zur Wiedervereinigung – insbesondere unter Verwendung der Bestände des innerdeutschen Ministeriums und der Unterlagen der BStU – ist bisher ein Forschungs desiderat. Für die Behandlung der Gesellschaft für Deutschlandforschung in der vorliegenden Studie wurden zunächst die Aktenbestände der GfD, die sich beim Vorsitzenden Tilman Mayer in Bonn befinden, genutzt. Reichhaltige Erkenntnis haben die Unterlagen des innerdeutschen Ministeriums, die bis die Unterlagen des Kreises konnte nicht vorgenommen werden, da der Hauptakteur des Schumacher-Kreises, Hermann Kreutzer im Jahr 2007 verstorben ist. 176 Detlef Kühn, Aus der Tätigkeit des Gesamtdeutschen Instituts (BfgA). 1969 bis 1991, o. O. [Bonn] 1991. 177 Detlef Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit. 3., erg. Aufl., Berlin 2011. 178 Günther Heydemann, 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung. Das geteilte Deutschland im Spiegel einer wissenschaftlichen Vereinigung, in: ders. / Jesse, Eckhard (Hrsg.), 15 Jahre deutsche Einheit. Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen, Berlin 2006, S. 361–376. 179 Eckart, Karl / Hacker, Jens / Mampel, Siegfried: Die Gesellschaft für Deutschlandforschung, in: dies. (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998, S. 5–12. 180 Jens Hüttmann, DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung, Berlin 2008. 181 Vgl. ebd., S. 277–280. 182 Ebd., S. 277.
62
A. Einleitung
zum Ende der 30-jähigen Sperrfrist (1981) für die Studie hinzugezogen werden konnten, erbracht. Hierbei ging es insbesondere um die Erweiterung der Perspektive der Gründungsgeschichte der GfD um die Sicht der offiziellen Deutschlandpolitik. Die Überlieferung des im Bundesarchiv Koblenz befindlichen Schrifttums des innerdeutschen Ministeriums enthält neben zahlreichen Ausarbeitungen zur Verhinderung der GfD-Gründung auch die bislang nicht ausgewertete Korrespondenz der Elite der systemimmanent orientierten DDR-Forscher (Peter C. Ludz, Hermann Weber, Ilse Spittmann) mit den Bonner Ministerialen. Des Weiteren wurden die organisationsbezogenen Unterlagen der BStU über die GfD sowie die personenbezogenen Unterlagen über den langjährigen GfD-Vorsitzenden Siegfried Mampel für die Analyse gesichtet. Ergänzend wurde ein Zeitzeugeninterview mit dem Mitglied des ersten GfD-Vorstandes, Fred S. Oldenburg, geführt. In wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker bisher nur jeweils mit einer kleinen Randnotiz in Hubertus Knabes „Die unterwanderte Republik“183 sowie in der gemeinsamen Publikation von Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff „Deutsche Legenden“184 erwähnt worden. Eine kritische Würdigung steht also noch aus. Die Akten des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker, die in zwei Privatarchiven ehemaliger Vorstandsmitglieder185 lagern, wurden für die vorliegende Studie zugänglich gemacht. Interviews zum Arbeitskreis wurden vom Verfasser mit den ehemaligen Vorstandsmitgliedern Edda Hanisch und Michael Richter geführt. Als wichtigste gedruckte Quellen für das Gedankengut des Arbeitskreises sind für die vorliegende Untersuchung die programmatischen Schriften der führenden Köpfe (Hermann von Berg, Franz Loeser, Wolfgang Seiffert), mit denen sie in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren die deutschlandpolitische Debatte vorangetrieben haben, ausgewertet worden. Im Einzelnen sind dies – in alphabetischer Sortierung – die Schriften „Marxismus-Leninismus. Das Elend der halb deutschen, 183 Hubertus
Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999. Keil / Sven Felix Kellerhoff, Deutsche Legenden. Vom „Dolchstoß“ und anderen Mythen der Geschichte, Berlin 2002. 185 Edda Hanisch ist während der Entstehung der Studie verstorben. Somit sind die Unterlagen aus ihrem umfangreichen Archiv zum Arbeitskreis ehemaliger DDRAkademiker, die sich in Kopie beim Verfasser befinden, von besonderem zeithistorischen Wert. Weitere Unterlagen zum Arbeitskreis wurden dem Verfasser von Dr. Michael Richter zugänglich gemacht. Zur Debatte um die MfS-Vergangenheit Richters, die nach der Sichtung der Akten aus seinem Privatarchiv einsetzte, siehe Dirk Banse / Uwe Müller, Das Geheimnis des CDU-Chronisten, in: Die Welt vom 17. November 2010 und Peter Schilder, Wer trägt die Schuld? Ein Stasi-Spitzel im Dresdner Hannah-Arendt-Institut, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. November 2010. 184 Lars-Broder
IV. Quellen63
halb russischen Ideologie“186 von Hermann von Berg, „Die unglaubwürdige Gesellschaft“187 von Franz Loeser sowie „Kann der Ostblock überleben?“188, „Das ganze Deutschland“189 und „Die Deutschen und Gorbatschow“190 von Wolfgang Seiffert. Eine Art Grundsatzprogramm des Arbeitskreises stellte das Werk „Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000“191 dar, welches von Berg, Loeser und Seiffert im Gründungsjahr 1987 gemeinschaftlich herausgaben. Hinzugezogen wurden ferner die Memoiren der führenden Köpfe des Kreises.192 Für die Analyse wurden außerdem die organisationsbezogenen Stasi-Unterlagen der BStU zum Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker hinzugezogen. Ergänzend sind auch die personenbezogenen Unterlagen zu Wolfgang Seiffert, Hermann von Berg und Franz Loeser, die einiges Entdeckungspotential beinhalten, gesichtet worden. Über das Wirken der Kommunistischen Partei Deutschlands / MarxistenLeninisten (KPD / ML) ist bisher in Jürgen Bacias Aufsatz „Die Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten“193, in Gerd Langguths Monographie „Protestbewegung“194 und in Andreas Kühns Dissertation „Stalins Enkel, Maos Söhne“195 ausführlicher berichtet worden. Torsten 186 Hermann von Berg, Marxismus-Leninismus. Das Elend der halb deutschen, halb russischen Ideologie. 2., überarbeitete Aufl., Köln 1987. 187 Franz Loeser, Die unglaubwürdige Gesellschaft. Quo vadis, DDR?, Köln 1984. 188 Wolfgang Seiffert, Kann der Ostblock überleben? Der Comecon und die Krise des sozialistischen Wirtschaftssystems, Bergisch Gladbach 1983. 189 Wolfgang Seiffert, Das ganze Deutschland. Perspektiven der Wiedervereinigung, München / Zürich 1986. 190 Wolfgang Seiffert, Die Deutschen und Gorbatschow. Chancen für einen Interessenausgleich, Erlangen u. a. 1989. 191 Hermann von Berg / Franz Loeser / Wolfgang Seiffert, Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000. Politik, Ökonomie, Ideologie. Plädoyer für eine demokratische Erneuerung, Köln 1987. 192 Nach den Jahren ihres Erscheinens geordnet sind dies: Franz Loeser, Die Abenteuer eines Emigranten. Erinnerungen, Berlin (Ost) 1980; ders., Sag nie, du gehst den letzten Weg. Ein deutsches Leben, Köln 1986; Hermann von Berg, Vorbeugende Unterwerfung. Politik im realen Sozialismus, München 1988; Wolfgang Seiffert, Selbstbestimmt. Ein Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Politik, Graz 2006. 193 Jürgen Bacia, Die Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten, in: Richard Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980. Sonderausgabe Bd. 3: EAP bis KSP, Opladen 1986, S. 1831–1851. 194 Gerd Langguth, Protestbewegung. Entwicklung – Niedergang – Renaissance. Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983. 195 Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre, Frankfurt a. M. 2005.
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A. Einleitung
Wunschik hat in einer kleinen Monographie der BStU über das Wirken der KPD / ML in der DDR berichtet.196 Um sich mit der Gedankenwelt der K-Gruppen vertraut zu machen, ist die über die KPD / ML abgefasste apologetische Darstellung „Die unbekannte Opposition in der DDR“ von Herbert Polifka197 als Hintergrundinformation für die Analyse verwendet worden. Als Quellen für die Darstellung der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML) unter besonderer Berücksichtigung ihrer Stellung gegen den damaligen deutschlandpolitischen Zeitgeist auf der Linken wurden Archivalien genutzt, die im Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum lagern, darunter eine hektographierte Sammlung von Flugblättern mit dem Titel „Der rote Stachel“, die in der DDR verteilt wurden. Ebenso wurden die Zeitschriftenbestände der Bibliothek des Ruhrgebiets in Bochum konsultiert: die in der Bundesrepublik erschienene Parteizeitung der KPD / ML „Roter Morgen“ sowie ihr theoretisches Organ „Der Weg der Partei“. Die reichhaltigen organisationsbezogenen Unterlagen der BStU zur KPD / ML und ihrer „Sektion DDR“ wurden ebenfalls eingesehen. Zum Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD) existiert bisher wenig veröffentlichte Literatur. Lediglich die Dissertationen von Alexander Gallus198 und Peter Fleischmann199 haben sich mit der Linken DeutschlandDiskussion näher beschäftigt.200 Um die Quellenlage über die LDD und Rolf Stolz, den Gründer und langjährigen Sprecher der Gruppe, ist es hingegen gut bestellt. Stolz hat für die vorliegende Studie die erstmalige und komplette Nutzung der in seinem Privatbesitz befindlichen Archivalien der LDD ermöglicht. Neben der dort enthaltenen Korrespondenz kommt dem von ihm herausgegebenen Materialbrief Deutsche Probleme – Probleme mit Deutschland als zeitgenössischer Quelle hohe Bedeutung zu. Verwendung fanden zudem die bislang nicht gedruckten Manuskripte zweier Buchprojek196 Tobias Wunschik, Die maoistische KPD / ML und die Zerschlagung ihrer „Sektion DDR“ durch das MfS, Berlin 1997. 197 Herbert Polifka, Die unbekannte Opposition in der DDR. Zur Geschichte der illegalen Sektion DDR der Kommunistischen Partei Deutschlands, Köln 2005. 198 Gallus, Die Neutralisten, S. 359–368. 199 Peter Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen. Eine Untersuchung der politischen Konzeptionen und Strategien der Partei Die Grünen von ihrer Gründung 1980 bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990, Berlin 1995, S. 110– 120. Zu den deutschlandpolitischen Konzepten Petra Kellys siehe auch Frederik Leven, Eine Deutschlandpolitik von unten? Petra Kelly, Die Grünen und die deutsche Frage, unveröffentlichte Magisterarbeit Universität Bonn, Bonn 2007. 200 Wenig innovativ zur Linken Deutschland-Diskussion sowie zur AG für Berlinund Deutschlandpolitik siehe Regina Wick, Die Mauer muss weg – Die DDR soll bleiben. Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1979 bis 1990, Stuttgart 2012, S. 93–101.
V. Aufbau der Arbeit65
te von Rolf Stolz aus den frühen 1990er Jahren: Zum einen „Die Grünen am Wendepunkt“201 und zum anderen „Nach der Einheit“202. Dank einer Einverständniserklärung von Stolz konnte der Verfasser in dessen personenbezogene Unterlagen bei der BStU Einsicht nehmen. Zusätzlich wurde die Abfrage der organisationsbezogenen Unterlagen zur LDD durchgeführt. Beide Recherchewege haben nur wenig Material zu Tage gefördert. Zweites Zentrum der grünen deutschlandpolitischen Debatte neben der LDD war die 1980 gegründete Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpoli tik der Alternativen Liste Berlin. Am Brennpunkt der deutschen Teilung in Berlin aktiv, war diese Gruppe eine wichtiges Sprachrohr der grünen Wiedervereinigungsfreunde. Auch Alexander Gallus203 und Peter Fleischmann204 haben sich in ihren Dissertationen mit der Geschichte und den Programmen der AG beschäftigt. Die Archivalien der AG Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin, die im Archiv Grünes Gedächtnis Berlin lagern, wurden für die Studie eingesehen. Ausgewertet wurde zudem das Theorieorgan der AL Berlin, die „Stachlige[n] Argumente“, in dem die deutschlandpolitischen Debatten öffentlich ausgetragen wurden. Die organisationsbezogenen Stasi-Unterlagen zur AG Berlin- und Deutschlandpolitik der BStU konnten ebenfalls eingesehen werden; zudem erfolgte mit Einverständnis Herbert Ammons, einem der Aktivisten der AG in den frühen 1980er Jahren, eine Einsichtnahme in dessen personenbezogenen Unterlagen.
V. Aufbau der Arbeit Ausgehend von ersten Erkenntnissen einer Vorstudie205 des Verfassers, die sich schwerpunktmäßig mit den 1980er Jahren beschäftigt, wird hier das Themenfeld der Wiedervereinigung als Ziel status-quo-oppositioneller Gruppen und Einzelpersönlichkeiten in der Deutschlandpolitik um die Zeit nach der Verabschiedung des Grundlagenvertrages (1972) bis zum Fall der Mauer 1989 erweitert. Der Zeitraum bietet sich deshalb an, da in Westdeutschland der Grundlagenvertrag vielfach fälschlicherweise als Teilungs201 Rolf Stolz, Die Grünen am Wendepunkt, o. O. und o. J. [ca. 1992], in: Privat archiv Rolf Stolz. 202 Rolf Stolz, Nach der Einheit: Die ganze Freiheit! Über eine mögliche Zukunft der Deutschen in ihrem eigenen Land, o. O. und o. J. [ca. 1992], in: Privatarchiv Rolf Stolz. 203 Gallus, Die Neutralisten, S. 347–358. 204 Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 97–109. 205 Lutz Haarmann, „Die deutsche Einheit kommt bestimmt!“. Zum Spannungsverhältnis von Deutscher Frage, Geschichtspolitik und westdeutscher Dissidenz in den 1980er Jahren, Berlin 2005.
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vertrag interpretiert worden war, somit die deutsche Spaltung endgültig zementiert schien.206 Bei der Analyse der hier ausgewählten deutschlandpolitischen Gruppen und Einzelpersönlichkeiten geht es zunächst um die Herausarbeitung ihrer Beweggründe, sich gegen den Zeitgeist mit der Deutschen Frage im Sinne einer aktiven Wiedervereinigungspolitik auseinanderzusetzen. Außerdem interessieren ihre Vorstellungen und Pläne zur Wiedervereinigung (auch und gerade weil diese nicht realisiert wurden); ebenso sollen ihre Konflikte mit dem bundesdeutschen status-quo-orientierten Mainstream in der Deutschlandpolitik aufgezeigt werden. Die Auswahl der zu untersuchenden Gruppen konzentriert sich in der Studie auf Einzelpersonen und Gruppen, die bisher in der Forschung noch gar keine oder noch keine angemessene Berücksichtigung gefunden haben. Die Auswahl orientiert sich dabei zum einen an Gruppen und Einzelpersönlichkeiten nichtstaatlicher Provenienz207, die sich dem Argumentationsmuster widersetzten, die Präambel des Grundgesetzes sei nach den vielen Jahren der deutschen Teilung obsolet geworden (Untersuchungsgruppe 1). In einem zweiten Schritt werden Gruppen und Einzelpersönlichkeiten beleuchtet, die quasi-friedensbewegt in die deutsche Einheit gehen wollten und sich dem Argument, ein vereintes Deutschland gefährde den Frieden, widersetzten (Untersuchungsgruppe 2). Dabei hatte für die Untersuchungsgruppe 1 – wie wir bereits oben festgestellt haben – das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1973 deutlich gemacht, dass die Bundesregierung weiter auf das Ziel eines einigen Deutschlands hinzuarbeiten hatte und der Grundlagenvertrag gerade kein Teilungsvertrag sei.208 In der vorliegenden Analyse wird an die These Tilman Mayers angeknüpft, wonach sich im Umfeld eben dieses Urteils eine „juristisch instrumentierte Opponentengruppe Geltung ver 206 Hacker,
Deutsche Irrtümer, S. 148. in den hiesigen – weil dieser sich doch eher freischwebend-intellektuell anlässt – Untersuchungsrahmen passend, aber sicher ein Forschungsdesiderat darstellend sind die (halb-)staatlichen Akteure Gesamtdeutsches Institut, Bund der Mitteldeutschen sowie eine neuere Untersuchung des Kuratorium Unteilbares Deutschland. Zum Gesamtdeutschen Institut siehe Detlef Kühn, Aus der Tätigkeit des Gesamtdeutschen Instituts (BfgA). 1969 bis 1991, o. O. [Bonn] 1991; ders., Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit. 3., erg. Aufl., Berlin 2011; ders., Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, in: Sezession, Heft 12, Januar 2006, S. 32–37. Zum Bund der Mitteldeutschen siehe Irene Gückel, Bund der Mitteldeutschen (BMD) e. V. Chronik eines Verbandes 1969–1993, Bonn 1993. Zum Kuratorium Unteilbares Deutschland siehe Leo Kreuz, Das Kuratorium Unteilbares Deutschland, Aufbau, Programmatik, Wirkung, Opladen 1979 sowie Christoph Meyer, Die deutschlandpolitische Doppelstrategie. Wilhelm Wolfgang Schütz und das Kuratorium Unteilbares Deutschland (1954–1972), Landsberg am Lech 1997. 208 Vgl. Mayer, Kontroversen zur deutschen Frage, S. 506. 207 Nicht
V. Aufbau der Arbeit67
schafft“209 habe. Im Zuge dieses Karlsruher Urteils bildeten sich Kreise heraus, die Träger eben eines juristisch instrumentierten Bewusstseins waren, dass die deutsche Zweistaatlichkeit nicht der Gipfel und das Ende der deutschen Geschichte sei. Wer gehörte zu dieser – idealtypischen – juristisch instrumentierten Opponentengruppe? Zunächst geht es um den deutschlandpolitischen Arbeitskreis der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), in dem sich auf Anregung des CDA-Bundesvorsitzenden Ulf Fink Vertreter einer christdemokratischen ‚Deutschlandpolitik von unten‘ – in der Tradition des ersten gesamtdeutschen Ministers Jakob Kaiser – zusammenfanden. Nach den erbitterten Auseinandersetzungen um die Ostverträge und um den Grundlagenvertrag zu Beginn der 1970er Jahre führte die CDU ab 1982 die operative Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition fort.210 Die neue Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl achtete im Gegensatz zu den Regierungen Brandt und Schmidt insbesondere wieder stärker auf eine normative Abgrenzung von der Führung des SED-Regimes.211 Jedoch gab es auch in der CDU deutschlandpolitische Irritationen, so etwa im Vorfeld des Bundesparteitages 1988, als das Bekenntnis zur Wiedervereinigung in einem Antragsentwurf zur Deutschlandpolitik fehlte. Dieses war aber im Antrag selbst wieder explizit enthalten.212 Hieran knüpfte man im deutschlandpolitischen Arbeitskreis der CDA an, der 1987 gegründet wurde. Der CDA-Chef Ulf Fink sowie der Leiter des Arbeitskreises, der Berliner Kulturpolitiker Uwe Lehmann-Brauns, äußerten sich wiederholt überzeugt, dass die Berliner Mauer und die deutsche Teilung nicht das ‚letzte Wort‘ in der deutschen Geschichte seien. Auch in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) erhob sich mit dem Kurt-Schumacher-Kreis anhaltender Widerspruch gegen die parteiund regierungsamtlich betriebene entspannungsorientierte Deutschlandpolitik ab 1969 / 70. Auch in der Phase der sog. „Nebenaußenpolitik“ der Partei in der bundespolitischen Oppositionszeit ab 1982 war der 1968 gegründete Schumacher-Kreis eine wichtige sozialdemokratische Proteststimme gegen diese Form der Deutschlandpolitik.213 Wichtigster Akteur der Gruppe war der langjährige Vorsitzende Hermann Kreutzer, der sich vom Protegé des gesamt209 Ebd. 210 Vgl.
Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 155. Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft, S. 479–480. 212 Vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 186–187. 213 Als eine weitere kritische Stimme in der Sozialdemokratie ist der Berliner Politikwissenschaftler und ehemalige Senator, Hartmut Jäckel, zu erwähnen. Siehe Hartmut Jäckel, Der Gegner als Partner. Egon Bahr und das Dilemma einer überzeugenden Friedensstrategie, in: Die Zeit vom 21. Mai 1982. 211 Vgl.
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A. Einleitung
deutschen Ministers Herbert Wehner Ende der 1960er Jahre zum scharfen Kritiker sozialdemokratischer Deutschlandpolitik in den 1980er Jahren entwickelte, als es im Rahmen einer „Politik der Sicherheitspartnerschaft“ zu verschiedenen bilateralen Vereinbarungen zwischen der SPD und der SED (z. B. „Zone des Vertrauens und der Sicherheit“ aus dem Jahre 1988) kam.214 Ein ebenfalls scharfer Kritiker der liberalen Deutschlandpolitik in den 1980er Jahren war der FDP-Politiker Detlef Kühn. Kühn, von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts, beklagte sich in einem 1983 erschienenen Essay über die deutschlandpolitische Linie der FDP.215 So sei es seit 1969 gelungen, einen beträchtlichen Wählerstamm für die Partei durch eine auf Verbesserungen für die Menschen im geteilten Deutschland zielende Deutschlandpolitik zu gewinnen, auch wenn konservative Teile der Wählerschaft das Bündnis mit der SPD ansonsten abgelehnt hätten. Nach 20 Jahren habe man die deutschlandpolitische Führungsrolle verloren, auf Parteitagen werde höchstens noch von Entspannungspolitik gesprochen und das ursprüngliche Ziel liberaler Deutschlandpolitik, die Wiedervereinigung, sei in den Hintergrund getreten. Seiner Partei empfahl Kühn, stärker den instrumentellen Charakter der Entspannungspolitik zu betonen und das nationale Interesse der Deutschen an der Wiedervereinigung wieder stärker in die internationale Diskussion zu bringen.216 Für die Darstellung der Konflikte über eine angemessene Bewertung des SED-Regimes in der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung während der Teilungszeit ist die 1978 in Berlin gegründete Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD) von zentraler Bedeutung. Die Gründer wollten mit dieser wissenschaftlichen Vereinigung, die bis heute fortbesteht, ein Forum für diejenigen mit der Teilung befassten Wissenschaftler schaffen, die sich mit dem zunehmenden Methodenmonismus, der sich in der Dominanz des systemimmanenten Ansatzes seit den 1970er Jahren in der DDRForschung äußerte, nicht abfinden wollten. In der GfD hielt man am grundgesetzlich festgelegten Selbstbestimmungsrecht der Deutschen fest und revitalisierte den totalitarismustheoretischen, systemtranszendenten Ansatz für die Erforschung der östlichen Hälfte Deutschlands. Der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker wurde 1987 im ostwest fälischen Vlotho von aus der DDR geflüchteten Professoren und Angehöri214 Vgl. Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent. Durchgesehene Taschenbuchausgabe, Frankfurt a. M. 1995, S. 467–469 und S. 474. 215 Vgl. Detlef Kühn, Verwelkender Lorbeer. Die FDP verschläft die Deutschlandpolitik, in: Rheinischer Merkur / Christ und Welt, Nr. 51 vom 23. Dezember 1983. 216 Vgl. ebd. Zu Kühns deutschlandpolitischem Wirken siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 327–330.
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gen anderer akademischer Berufe gegründet. Wichtigster Akteur der Gruppe war der Jurist Wolfgang Seiffert, der ein entschiedener Vertreter des im Grundgesetz verankerten Selbstbestimmungsrechtes war und somit auf die Überwindung der SED-Diktatur hoffte. Neben Seiffert waren im Arbeitskreis noch zwei weitere Professoren führend tätig: Hermann von Berg, der frühere Stoph-Vertraute, sowie der Philosoph Franz Loeser. Neben der regen Publikationstätigkeit der drei Führungskräfte bildete der Arbeitskreis mit seinen regelmäßigen Tagungen eine Plattform des Austausches, nicht nur deutsch-deutsch, sondern darüber hinaus mit Vertretern von Regimegegnern aus Mittel- und Osteuropa. Die Beschäftigung mit den deutschlandpolitischen Positionen des grünalternativen Spektrums stellt ein eigenes deutschlandpolitisches Forschungsdesiderat dar. Wer gehörte zu diesen oben angesprochenen Friedensfreunden von links (Untersuchungsgruppe 2), die sich dem westdeutschen und zugleich innerlinken Mainstream in der Deutschen Frage widersetzten? Zu Beginn des Abschnitts steht eine Analyse der deutschlandpolitischen Linie der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML). Diese gilt als eine wichtige Ideenträgerin nationalen Gedankenguts auf der Linken in den 1970er Jahren, aus der später nationale Positionen zu den Grünen transportiert wurden.217 Zudem unterhielt die KPD / ML in der DDR eine eigene Gruppierung, die „Sektion DDR“; diese deutsch-deutsche Verknüpfung macht sie als Untersuchungsgegenstand zusätzlich interessant. Auf die KPD / ML folgen die grün-alternativen Gruppen Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin und der Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD). Beide Gruppen übten Mitte der 1980er Jahre einen erheblichen Einfluss auf den grün-alternativen Friedensdiskurs aus. Die AG Berlin- und Deutschlandpolitik agierte dabei in Berlin, wo die Teilung täglich sichtbar war, an einer Nahtstelle des OstWest-Konflikts. Mit regelmäßigen Publikationen und Tagungen versuchte die LDD um ihren Hauptakteur Rolf Stolz die grüne deutschlandpolitische Debatte zu bestimmen. Eine besondere Perspektive gewinnt die Untersuchung durch die Berücksichtigung von Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR für jede hier vorgestellte Persönlichkeit und Gruppe, um die Beobachtung und Beeinflussung dieser in Westdeutschland aktiven Zirkel von OstBerliner Seite aufzuzeigen. In diesem Sinne beleuchtet die Arbeit einen Ausschnitt deutsch-deutscher Zeitgeschichte.
217 Vgl. Andrea Ludwig, Neue oder Deutsche Linke? Nation und Nationalismus im Denken von Linken und Grünen, Opladen 1995, S. 47 und S. 66.
B. Die Forderung nach aktiver Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes (Untersuchungsgruppe 1) I. Brücken bauen zur DDR-Opposition: Der deutschlandpolitische Arbeitskreis der CDA 1. Die Deutschlandpolitik der Union Bundeskanzler Konrad Adenauers Politik der Westbindung führte in den 1950er Jahren zu heftigem innenpolitischen Widerspruch. Insbesondere von Seiten der oppositionellen SPD wurde angenommen, dass der Kanzler das Ziel der Wiedervereinigung mit dieser Politik verunmöglichen würde.1 Zugleich hatte Adenauer auch prominente innerparteiliche Gegenspieler, die ebenso um die Erreichung des Ziels der Wiedervereinigung fürchteten. Eine zentrale Figur eines „alternativen deutschlandpolitischen Kurses“ war der erste Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser. Kaiser war 1945 an zentraler Stelle an der Gründung der sowjetzonalen CDU in Ost-Berlin beteiligt. Vom Widerstreit der Interessen der vier Alliierten in Berlin geprägt, ging er in seiner politischen Konzeption davon aus, dass Deutschland zukünftig die Funktion einer Brücke zwischen Ost und West einnehmen sollte. Zudem war Kaiser damals Anhänger der Konzeption eines „christlichen Sozialismus“, obgleich er diesen als antitotalitären Gegenentwurf zum Marxismus sowjetischer Prägung verstand.2 Nachdem Kaiser im Dezember 1947 von den sowjetischen Machthabern in der SBZ abgesetzt worden war, fungierte er von 1948 bis 1949 als Mitglied des Parlamentarischen Rates in Bonn. 1949 wurde 1 Vgl.
Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 95. Tilman Mayer, Jakob Kaiser, in: Udo Kempf / Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949–1998. Biographisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Baden-Baden 2001, S. 336–339, hier S. 336. Zu Jakob Kaiser siehe auch Tilman Mayer, Jakob Kaiser. Gewerkschafter und Patriot. Eine Werkauswahl, Köln 1988; Tilman Mayer, Jakob Kaisers Brückendenken, in: Jürgen Bellers / Ingo Haase (Hrsg.), „Innen“ und „Außen“ in der deutschen Geschichte. Innere gesellschaftliche sowie politische Entwicklungen in Deutschland und dessen Außenbeziehungen, Münster 1992, S. 103–115; Tilman Mayer, Ein christlicher Gewerkschafter im Widerstand. Jakob Kaiser und der 20. Juli 1944, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 41. Jg., H. 7 (1993), S. 593–604; Tilman Mayer (Hrsg.), „Macht das Tor auf“. Jakob-Kaiser-Studien, Berlin 1996. 2 Vgl.
I. Brücken bauen zur DDR-Opposition71
er Mitglied des Deutschen Bundestages. Im selben Jahr übernahm Kaiser zudem den Vorsitz der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), der CDU-Sozialausschüsse. Sein deutschlandpolitisches Wirken konnte Kaiser insbesondere im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen fortsetzen, das er im selben Jahr übernahm. Eingebunden in die Kabinettsdisziplin unter Bundeskanzler Adenauer, blieben die Möglichkeiten für die Realisierung von Kaisers alternativer Deutschlandpolitik aus, abgesehen von der „kleinen Wiedervereinigung“ an der Saar im Jahre 1957. Die Rolle des gesamtdeutschen Ministeriums blieb auf das „Propagandistische“ beschränkt, war aber kein „Propagandaministerium“, repräsentierte eher in der Person seines Ministers Kaiser eine Form des „nationalen Gewissens“.3 In den 1960er Jahren änderten sich die internationalen Rahmenbedingungen für die Deutsche Frage in Richtung Entspannung. In ihrem „Berliner Programm“ von 1968 rangierte für die CDU die Thematik „Deutschland politik“ immerhin noch an erster Stelle. Im ersten Punkt des Abschnitts „Deutschland in Europa und in der Welt“ hieß es: „Freiheit und Einheit für das ganze deutsche Volk zu erringen, ist Aufgabe der deutschen Politik. Das Selbstbestimmungsrecht für das deutsche Volk, die staat liche Einheit Deutschlands müssen zusammen mit der Überwindung der Teilung Europas angestrebt werden. Ein dauerhafter Frieden für Europa ist ohne die Lösung der deutschen Frage nicht möglich.“4
Doch hatte sich die CDU in der ersten Großen Koalition unter Bundeskanzler und Parteichef Kurt Georg Kiesinger in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre dem aufkommenden internationalen Entspannungsklima angenähert. In der ersten Regierungserklärung Kiesingers rückte das Bekenntnis zum Frieden vor das Ziel der Wiedervereinigung. Später kam es kam zum Briefwechsel mit dem DDR-Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph und schließlich wurde ein wiedervereinigtes Deutschland mit einer „kritischen Größenordnung“ gewichtet.5 3 Vgl. Tilman Mayer, Jakob Kaiser, in: Kempf / Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949–1998, S. 337 u. S. 339. Zum Wirken des gesamtdeutschen Ministeriums unter Jakob Kaiser siehe Stefan Creuzberger, Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges, Düsseldorf 2008, insbes. S. 41–77 und Rainer Zitelmann, Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit, Erlangen u. a. 1991, S. 38–40. 4 Christlich Demokratische Union Deutschlands, Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Protokoll des 16. Bundesparteitages der Christlich Demokratischen Union Deutschlands vom 4. bis 7. November 1968. Anlage zum Bericht des Generalsekretärs Dr. Bruno Heck. Anlage zum Bericht des Fraktionsvorsitzenden Dr. Rainer Barzel. Das Berliner Programm, Bonn 1968, S. 74, in: http: / / www.kas.de / upload / ACDP / CDU / Pro tokolle_Bundesparteitage / 1968-11-04-07_Protokoll_16.Bundesparteitag_Berlin_Teil2 .pdf (1. Mai 2012). 5 Vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 133–134 und S. 136.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
Während der sozialliberalen Regierungsphase stand die Union vor dem Dilemma, dass sie dieser Politik „wenig entgegenzusetzen“ hatte. So konnte die CDU / CSU-Bundestagsfraktion kein einheitliches Alternativmodell für eine andere Deutschlandpolitik ausarbeiten. Ihr blieb nur mehr übrig, die Vertragspolitik der Regierung mit Hinweisen auf Fehler in der Verhandlungsführung oder Warnungen vor der Aufgabe von Rechtspositionen zu begleiten.6 Allerdings landete die Union, hier insbesondere die CSU unter Parteichef Franz Josef Strauß, mit der Organklage der bayerischen Staatsregierung unter Ministerpräsident Alfons Goppel vor dem Bundesverfassungsgericht 1973 gegen den Grundlagenvertrag einen Coup. Das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des Grundgesetzes wurde bekräftigt, der Grundlagenvertrag war eben kein Anerkennungsvertrag der DDR.7 Für die sozialliberale Deutschlandpolitik bedeutete das Urteil in seiner Konsequenz einerseits einen stärkeren Fokus auf die Verfassungsmäßigkeit ihrer Politik, gab ihr andererseits aber auch in den Verhandlungen mit der östlichen Seite unter Verweis auf die Opposition im Bundestag ein gutes Druck-Argument an die Hand.8 Gleichwohl rückte die CDU spätestens 1977, was die „operative Vertragspolitik“ betraf, auf die sozialliberale Bundesregierung in der Deutschlandpolitik zu.9 So hieß es entsprechend parteiamtlich im Grundsatzprogramm der CDU von 1978: „Alle Verträge der Bundesrepublik Deutschland mit ausländischen Staaten und mit der DDR sind verbindlich.“10 Weiterhin stellte die CDU ganz klar fest: „Die deutsche Frage ist offen. Wir werden das Bewußtsein von Deutschland in allen seinen Teilen bewahren und lebendig erhalten.“11 6 Vgl. Matthias Zimmer, Nationales Interesse und Staatsräson. Zur Deutschlandpolitik der Regierung Kohl 1982–1989, Paderborn u. a. 1992, S. 62–63. 7 Vgl. Andreas Grau, Gegen den Strom. Die Reaktion der CDU / CSU-Opposition auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition 1969–1973, Düsseldorf 2005, S. 495–496. Zu den Wiedervereinigungsfreunden innerhalb der Union kann trotz deutschlandpolitischer Positionswechsel auch der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß gezählt werden. Siehe dazu Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 232–236. 8 Vgl. Grau, Gegen den Strom, S. 528. Vgl. auch Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 167–169. 9 Vgl. Zimmer, Nationales Interesse und Staatsraison, S. 73–75. 10 Christlich Demokratische Union Deutschlands, Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Protokoll des 26. Bundesparteitages der Christlich Demokratischen Union Deutschlands vom 23. bis 25. Oktober 1978. Anhang I: Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, o. O. [Bonn] und o. J. [1978], S. 54, in: http: / / www.kas.de / u pload / A CDP / C DU / P rogramme_Beschluesse / 1 978_Grundsatzpro gramm_Ludwigshafen.pdf (22. April 2012). 11 Ebd.
I. Brücken bauen zur DDR-Opposition73
Als Helmut Kohl die Kanzlerschaft 1982 antrat, setzte er – anders als seine sozialdemokratischen Vorgänger – deutschlandpolitisch stärker auf „normativen Dissens“ (Korte) zu dem SED-Regime. Dennoch blieb er im entspannungspolitischen Fahrwasser, da er die mit den DDR-Vertretern geschlossenen Verträge anerkannte. Dies war vor allem der Tatsache geschuldet, dass mit Genscher (FDP) einer der Akteure der sozialliberalen Entspannungsära am Kabinettstisch saß.12 Karl-Rudolf Korte ist in seiner Beurteilung der Deutschlandpolitik Kohls zuzustimmen: „Bundeskanzler Kohls deutschlandpolitische Programmatik war unmißverständlich auf die langfristige Perspektive der deutschen Einheit in Freiheit ausgerichtet. […] Kohl verfolgte allerdings keine operative Wiedervereinigungspolitik, wie sie ein Teil seiner Kritiker einforderte.“13
Mitte der 1980er Jahre rumorte es dann hinsichtlich der Deutschlandpolitik in der Union: So sah der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann 1986 / 87 im Rahmen der Abrüstungsgespräche zwischen US-Präsident Reagan und Sowjetführer Gorbatschow die Chance gekommen, die Deutsche Frage auf die Tagesordnung der Weltpolitik zu setzen. Zudem sorgte sich Friedmann um die Europapolitik seiner Partei. Hier befürchtete er, dass unter Bundeskanzler Kohl das Ziel der Wiedervereinigung im Vergleich zu dem Ziel der europäischen Einigung nicht angemessen berücksichtigt werde. Friedmanns Buch „Einheit statt Raketen“14, in dem er seine deutschlandpolitischen Pläne offenbarte, verärgerten den Bundeskanzler. Kohl kanzelte Friedmanns Thesen als „blühenden Unsinn“15 ab.16 Als Konsequenz wurde der aufmüpfige Bundestagsabgeordnete Friedmann an den Europäischen Rechnungshof „weggelobt“.17 12 Vgl.
Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft, S. 479–480. S. 481. 14 Bernhard Friedmann, Einheit statt Raketen. Thesen zur Wiedervereinigung als Sicherheitskonzept, Herford 1987. 15 Helmut Kohl über Bernhard Friedmanns Thesen, zit. nach Gallus, Die Neutralisten, S. 324. 16 Zu Bernhard Friedmann vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 320–327. Die Thesen Friedmanns wurden u. a. vom Freundeskreis Deutschland aufgenommen, einer Gruppe deutschlandpolitischer Opponenten um den „FAZ“-Journalisten Karl Feldmeyer. Siehe dazu Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 80–86. 17 Vgl. Detlef Kühn, Im Westen war die Einheit nicht gewollt, in: Junge Freiheit vom 5. November 2004. Nicht nur Friedmann sorgte für deutschlandpolitische Dissonanzen in der Unionsfraktion. Im Januar 1989 verliehen fünf Bundestagsabgeordnete der CDU / CSU-Bundestagsfraktion ihrer Sorge in einer Presseerkerklärung Ausdruck, dass das Ziel der Wiedervereinigung dem der europäischen Integration untergeordnet werden könnte. Im einzelnen waren dies Manfred Abelein, Heinrich Lummer, Michael von Schmude, Jürgen Todenhöfer und Herbert Werner. Siehe Gerd Langguth, Die deutsche Frage und die Europäische Gemeinschaft, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Deutschland zwischen Krieg 13 Ebd.,
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
Für weitere Irritationen sorgte im Februar 1988 der von CDU-Generalsekretär Heiner Geißler verkündete Diskussionsentwurf für ein Papier zu „Christlich-Demokratischen Perspektiven zur Außen-, Sicherheits-, Europaund Deutschlandpolitik“, in dem konstatiert wurde, dass die „Lösung der deutschen Frage […] gegenwärtig nicht zu erreichen“ sei.18 Auch wurde für die Wiedererlangung der staatlichen Einheit Deutschlands die Zustimmung der deutschen Nachbarstaaten in Ost und West vorgesehen. Pikant an der Sache war, dass insbesondere von der zuständigen CDU-Ministerin für innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms, zu diesen beiden Passagen kein Widerspruch erhoben worden war. An dem Programmentwurf hatten von Wissenschaftlerseite führende bundesdeutsche Politologen wie Christian Hacke, Hans-Peter Schwarz und Werner Weidenfeld mitgewirkt. In der Fassung, die dann dem Bundesparteitag im Juni 1988 in Bonn vorlag und an der ein Fachausschuss unter dem innerdeutschen Staatssekretär Ottfried Hennig mitgearbeitet hatte, wurde der ursprüngliche Diskussionsentwurf schließlich korrigiert.19 Nun berief sich die CDU wieder auf die Wurzeln ihrer Deutschlandpolitik, indem ein Zitat Konrad Adenauers dem Deutschland-Kapitel vorangestellt wurde: „Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit war und ist das vordringlichste Ziel unserer Politik …“20 Klar bekannte sich die CDU zur Gültigkeit der Präambel des Grundgesetzes und zum Selbstbestimmungsrecht. Auch zählte sie die diversen Vertragswerke zur Deutschlandpolitik (so u. a. den Deutschlandvertrag von 1952 / 54, das sozialliberale Vertragswerk zur Ost- und Deutschlandpolitik bis hin zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes) zu den Grundlagen ihrer und Frieden. Beiträge zur Politik und Kultur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans-Adolf Jacobsen, Düsseldorf 1991, S. 246–274, hier S. 247. 18 Diskussionsentwurf der vom CDU-Bundesvorstand eingesetzten Kommission „Unsere Verantwortung in der Welt. Christlich-Demokratische Perspektiven zur Außen-, Sicherheits-, Europa- und Deutschlandpolitik“, zit. nach Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 186. 19 Vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 187–188. 20 Christlich-Demokratische Union Deutschlands, Leitantrag „Unsere Verantwortung in der Welt. Christlich-Demokratische Perspektiven zur Deutschland-, Außen-, Sicherheits-, Europa- und Entwicklungspolitik“, in: Christlich-Demokratische Union Deutschlands, Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Protokoll des 36. Bundesparteitag vom 13. bis 15. Juni 1988 in Wiesbaden, [Bonn] [1988], S. 485–511, hier S. 488, in: http: / / www.kas.de / upload / ACDP / CDU / Protokolle_Bundesparteitage / 1988-06-1315_Protokoll_36.Bundesparteitag_Wiesbaden.pdf (22. April 2012). Siehe auch Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 188. Zu den (zahlenmäßig überschaubaren) unbedingten Wiedervereinigungsfreunden in der Union der 1970er und 1980er Jahre werden von Jens Hacker insbesondere die Bundestagsabgeordneten Manfred Abelein, Rainer Barzel, Karl Carstens, Herbert Czaja, Alfred Dregger, Johann Baptist Gradl, Claus Jäger, Heinrich Lummer, Werner Marx, Alois Mertes, Rupert Scholz und Gerhard Schröder gezählt. Siehe Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 188–191.
I. Brücken bauen zur DDR-Opposition75
Politik, deren Kenntnis man insbesondere an Schulen stärken wollte.21 Die DDR wurde als „kein demokratisch legitimierter Staat“ und der real existierende Sozialismus als „totalitäre Ideologie“ bezeichnet.22 Ebenfalls wurden die „Aufhebung des Schießbefehls und die Beseitigung der Mauer“ gefordert.23 Deutlicher konnte sich die CDU in der deutschlandpolitischen Programmatik nicht von SPD, Grünen und FDP absetzen. Allerdings betrieb auch die Kanzlerpartei Realpolitik. So lehnte sie „neutralistische Sonderwege“ ab und bekannte sich zum Grundsatz „Freiheit geht vor Einheit“.24 Dennoch, bis in den November 1989 hielt Bundeskanzler Kohl in seinem Regierungshandeln an seinem prinzipiellen Stabilitätskurs fest. Das Feld der „Deutschlandpolitik sollte bis auf Widerruf ein Reparaturunternehmen an der ansonsten akzeptierten Zweistaatlichkeit bleiben.“25 In diese deutschlandpolitische Debattenzeit der 1980er Jahren fügen sich die beiden nachfolgenden deutschlandpolitischen Akteure im Unionsspektrum, Ulf Fink und Uwe Lehmann-Brauns, ein. Die beiden CDU-Politiker fanden bislang noch keine Berücksichtigung in der Rubrik „Wiedervereinigungsfreunde in der Union“ und werden hier erstmalig ausführlich gewürdigt.26 2. Akteure des deutschlandpolitischen Arbeitskreises a) Ulf Fink: „Die Mauer wird keinen Bestand vor der Geschichte haben.“27 Ulf Fink wurde 1942 in Freiberg / Sachsen geboren. Sein Vater, ein Berufsoffizier, fiel im Krieg. 1950 siedelte Fink mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Bochum über. Dort legte er 1962 auch das Abitur ab. Zum Studium 21 Vgl. Christlich-Demokratische Union Deutschlands, Leitantrag „Unsere Verantwortung in der Welt. Christlich-Demokratische Perspektiven zur Deutschland-, Außen-, Sicherheits-, Europa- und Entwicklungspolitik“, in: Christlich-Demokra tische Union Deutschlands, Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Protokoll des 36. Bundesparteitag vom 13. bis 15. Juni 1988 in Wiesbaden, [Bonn] [1988], S. 485–511, hier S. 488, in: http: / / www.kas.de / upload / ACDP / CDU / Protokolle_Bundesparteitage / 1988-06-13-15_Protokoll_36.Bundesparteitag_Wiesbaden.pdf (22. April 2012). 22 Ebd., S. 490. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 489. 25 Karl-Rudolf Korte, Das Heft in die Hand nehmen – Weichenstellungen im Kanzleramt, in: Tilman Mayer (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, Berlin 2010, S. 73– 94, hier S. 73 und S. 76. 26 Siehe zum deutschlandpolitischen Arbeitskreis der CDA auch Haarmann, Die Gesamtdeutschen, S. 62–63. 27 Ulf Fink in seiner Antrittsrede als CDA-Bundesvorsitzender im Jahre 1987. Siehe Ulf Fink, Alte und neue Soziale Frage gemeinsam beantworten – Der Mensch
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
der Volkswirtschaftslehre ging er nach Marburg, Hamburg und Bonn, das er hier 1966 mit dem Diplom abschloss. Hieran schloss sich eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hilfsreferent im von Hans Katzer geführten Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung an.28 Nach dem Verlust der Regierungsmacht der Unionsparteien an die sozialliberale Bundesregierung wechselte Fink 1970 als Referent zur CDU / CSU-Bundestagsfraktion mit dem Schwerpunkt Renten- und Krankenhausreform. Nach einer Tätigkeit als Leiter der Planungsgruppe für Gesellschaftspolitik unter dem von Heiner Geißler geführten rheinland-pfälzischen Sozialministerium wurde Fink 1979 Bundesgeschäftsführer der CDU. Auch hier arbeitete er mit Geißler weiterhin eng zusammen. Im Juni 1981 wurde Fink schließlich vom Regierenden Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, zum Berliner Gesundheitssenator ernannt. Dieses Amt bekleidete Fink bis zum Verlust der Regierungsmacht der Berliner Union im Januar 1989. Von 1987 bis 1993 war Fink Nachfolger Norbert Blüms als Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). Noch vor der Wiedervereinigung wurde er 1990 zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gewählt. Nach der deutschen Einheit wurde Fink zwischen 1991 und 1992 Landesvorsitzender der CDU in Bandenburg. Dem Bundestag gehörte Fink von 1994 bis 2002 an.29 Worin bestand die deutschlandpolitische Motivation Ulf Finks? Bereits in seiner Antrittsrede im Oktober 1987 auf der Bundestagung der CDA in Hamburg richtete er als frisch gewählter Vorsitzender seine Agenda insbesondere auf das deutschlandpolitische Wirken der Sozialausschüsse aus: „Ich lebe in Berlin. Deshalb weiß ich, daß etwas nicht deshalb schon normal ist, nur weil es 40 Jahre existiert. Die Berliner Mauer wird keinen Bestand vor der Geschichte haben.“30 Zudem bezog sich Fink insbesondere auch auf die deutschlandpolitische Traditionslinie eines seiner Vorgänger im Amt des CDA-Bundesvorsitzes, des gesamtdeutschen Ministers Jakob Kaiser: „Wie mit kaum einem anderen ist mit dem Namen unseres ersten Vorsitzenden, Jakob Kaiser, das soziale, das deutschlandpolitische Engagement verknüpft. Ihm ist vorgeworfen worden, er hätte in manchem geirrt. Wir sagen: In der entscheidenden Frage irrte er nicht. Die Sehnsucht der Menschen in Deutschland, zueinist wichtiger als die Sache, in: Soziale Ordnung, 40. Jahrgang, Nr. 11 / 12 vom 3. Dezember 1987, S. 33–39, hier S. 38. 28 Vgl. den Eintrag „Fink, Ulf“, in: Munzinger Online / Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http: / / www.munzinger.de / document / 00000015557 (abgerufen von Universitätsbibliothek Bonn am 13.5.2011). Siehe auch das Interview des Verfassers mit Ulf Fink vom 1. April 2010. 29 Vgl. ebd. 30 Ulf Fink, Alte und neue Soziale Frage gemeinsam beantworten – Der Mensch ist wichtiger als die Sache, S. 38.
I. Brücken bauen zur DDR-Opposition77 ander zu kommen, stirbt nicht. Wer sieht, wie junge Menschen in Gera, in Leipzig, in Rostock und in Ostberlin nach über 40 Jahren Trennung anstehen und Formulare ausfüllen, um in den anderen Teil Deutschlands reisen zu können, der weiß: Wir haben kein Recht, diese jungen Menschen, unsere Landsleute abzuschreiben.“31
Zudem war Hans Katzer, der Schwiegersohn Jakob Kaisers, Finks Mentor in der Union und Fink hatte eine enge politische Verbindung zu ihm. Neben der Traditionslinie zu Kaiser und der Verbindung zu Katzer rührte Finks deutschlandpolitische Motivation aus seinem Amt als Berliner Senator für Gesundheit. In Berlin war die deutsche Teilung für Fink täglich sichtbar. Dort gelang es ihm, Hilfspakete zwischen dem West-Berliner Senat, dem Ost-Berliner Magistrat sowie der Ost-Berliner Charité zu vereinbaren. Auch gelang Fink unter Vermittlung von Uwe Lehmann-Brauns die Kontaktaufnahme zum Ost-Berliner oppositionellen Pfarrer Rainer Eppelmann. Ein weiteres Motiv für Finks deutschlandpolitisches Engagement war seine sächsische Herkunft. Regelmäßige Reisen in seine Heimatstadt Freiberg und Kontakte zu seinen Freunden aus Kindertagen förderten sein deutschland politisches Interesse.32 Wichtig war für Fink die Möglichkeit, mit seinem Engagement als Bundesvorsitzender der CDA und seiner Mitgliedschaft im deutschlandpolitischen Arbeitskreis, eine „spezifische Verknüpfung von nationalen und sozialen Aufgaben“ zu erreichen und so „etwas zur Überwindung der deutschen Teilung zu tun.“33 b) Uwe Lehmann-Brauns: Deutschlandpolitik als Kulturpolitik Der zweite Hauptakteur des deutschlandpolitischen Arbeitskreises war der Berliner Kulturpolitiker Uwe-Lehmann Brauns. Lehmann-Brauns wurde 1938 in Potsdam geboren. Er bezeichnete sich selbst als „Kriegskind“, das den Zweiten Weltkrieg „auf den Armen der Großeltern“ im umkämpften Berlin überlebte. Nach Kriegsende „kurzfristig im Westen gelandet“, kehrte die Familie Lehmann-Brauns 1946 nach Berlin zurück. Seiner Herkunft nach entstammte Lehmann-Brauns einem „konservativen Elternhaus“. Der Vater war Oberstabsarzt an der russischen Front, allerdings kein Anhänger Hitlers; der Großvater Lehmann-Brauns’ war Maler und Lehrer, der mit den Nationalsozialisten in Konflikt kam. Von beiden, Vater und Großvater, wurde Uwe Lehmann-Brauns, so die Selbsteinschätzung, die eindrückliche „Warnung vor [den] Parteien“ mitgegeben.34 31 Ebd. 32 Vgl.
33 Ebd.
das Interview des Verfassers mit Ulf Fink vom 1. April 2010.
34 Vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Die verschmähte Nation. Berliner Begegnungen, Wertungen. Mit einem Vorwort von Wolf Biermann, Stuttgart u. a. 2005, S. 16–17.
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Ursprünglich hatte Lehmann-Brauns politisch zur Sozialdemokratie tendiert. Beeindruckt war der Jurastudent von sozialdemokratischen Persönlichkeiten wie den ehemaligen Regierenden Bürgermeistern Ernst Reuter und Willy Brandt, aber auch von Kultursenator Adolf Arndt. Jedoch störte sich Lehmann-Brauns an der zunehmenden Status-quo-Orientierung der SPD. So blieb ihm nur noch die CDU als mögliche politische Heimat, denn „[a]llein die Union hielt Kurs in Sachen Einheit, glaubhaft vertreten durch Jakob Kaiser und Ernst Lemmer.“35 In der Berliner Union zählte LehmannBrauns schnell zu den Reformern, die begannen, Kinderläden zu betreiben, sich an Demonstrationen zu beteiligen und sich mit der APO auseinanderzusetzen. Drei gescheiterte Ausschlussverfahren aus der CDU waren die Folge; das letzte wurde von Richard von Weizsäcker verhindert.36 Seit 1979 gehörte Lehmann-Brauns dem Abgeordnetenhaus von Berlin an. Eine zwischenzeitliche Tätigkeit im Bonner diplomatischen Dienst war nur von kurzer Dauer, da sich Lehmann-Brauns nicht mit der von ihm empfundenen mangelnden Entschlossenheit, die deutsche Teilung zu überwinden, anzufreunden vermochte. Zurück in Berlin eröffnete Lehmann-Brauns eine Anwaltskanzlei. Als Abgeordneter und Rechtsanwalt wollte er fortan gegen die deutsche Teilung arbeiten, ein schwieriges Unterfangen: „Nie dachte ich an einen Erfolg, denn wie jedermann wußte auch ich, daß der Versuch, die Diktatur in der DDR abzuschütteln, die sowjetischen Panzer auf sich zöge. Aber sich davonzumachen in den sicheren Westen, kam nicht in Frage. Das hätte nicht gepaßt, pardon, zu dem Ethos meiner Stadt.“37
In den 1970er Jahren nahm Lehmann-Brauns eine zunehmende Tendenz zur Festschreibung des Status quo in Berlin wahr. Besorgniserregend war für den jungen Abgeordneten zudem die architektonische Veränderung von Berlin, und zwar nicht nur im Osten. Gegen den fortschreitenden Abriss ganzer Häuserzeilen, der für Lehmann-Brauns ein „Gesichtsverlust“ Berlins war, setzte er sich mit verschiedenen Aktionen zur Wehr. Eine Folge war der postalisch zugestellte Ausschlussbeschluss aus der Berliner CDU. Insgesamt nahm Lehmann-Brauns die politische Situation West-Berlins in den 1970er Jahren als eine „Mutlosigkeit von Geist und Politik“ wahr. Für die Stadt Berlin, in der Hochphase der Entspannungsepoche, sei „[d]ie Spaltung […] Teil der political correctness“ geworden: „Das Thema Wiedervereinigung störte den auf der Unterdrückung des halben Kontinents ruhenden faulen Frieden. Nach seinen ‚Kosten‘ wurde nicht gefragt. 35 Ebd., S. 22. Zu Ernst Lemmer siehe Tilman Mayer, Ernst Lemmer, in: Udo Kempf / Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949–1998. Biographisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Baden-Baden 2001, S. 424–428. 36 Vgl. Lehmann-Brauns, Die verschmähte Nation, S. 23–24. 37 Ebd., S. 25.
I. Brücken bauen zur DDR-Opposition79 Der Begriff Wiedervereinigung galt als reaktionär. Berlin nahm Abschied von seiner Zukunft.“38
Zu Beginn der 1980er Jahre registrierte Lehmann-Brauns ein verändertes Klima in West-Berlin. Mit dem neuen Regierenden Bürgermeister von Weizsäcker seien „Persönlichkeiten“ wie Fink, Blüm und Kewenig nach Berlin gekommen, mit denen die Zeit der bisher entspannungspolitisch propagierten „normalen Stadt“ der 1970er Jahre vergangen sei39: „Es öffnete sich, für die Status-quo-Liebhaber in Ost und West gleich unwillkommen, erneut die deutsche Frage. Von Berlin gingen wieder Botschaften aus. Weizsäcker ließ sich nicht auf kommunale Aufgaben festbinden.“40 Unter von Weizsäcker kam es beispielsweise 1983 zu Begegnungen mit Schriftstellern beim „Ost-Westdeutschen Schriftstellergespräch“ in der Ost-Berliner Akademie der Künste.41 Ronald Reagans Berlin-Besuch im Jahr 1987 und seine dortige Rede vor der Mauer konnten als weitere Belege für ein neues internationales Klima gelten, welches sich auf die Situation Berlins auswirken würde; von den meisten Deutschen aber sei dies in ihrer Status-quo-Fixiertheit kaum wahrgenommen worden, so Lehmann-Brauns in der Rückschau. Auch die West-Berliner hätten sich schwer damit getan, die Zeichen der Zeit zu deuten. Als Beleg hierfür galten Lehmann-Brauns die 750-JahrFeiern Berlins, die mit großem Aufwand in Ost und West zelebriert worden seien: „Über die Wunde der Stadt kaum ein Wort, als gäbe es die Mauer nicht, nicht die Todesschützen, die Stasi, den Widerstand. Man wollte sich den Spaß an den Spektakeln nicht nehmen lassen.“42 Die Kultur- und Städtebaupolitik war für Lehmann-Brauns von daher ein wichtiges deutsch-deutsches Spielfeld. So warnte er bereits 1984, anlässlich der bevorstehenden 750-Jahr-Feiern im geteilten Berlin, vor einer Okkupation der deutschen Geschichte durch die SED-Machthaber. Gezielt versuche Ost-Berlin einen „Alleinvertretungsanspruch“ über die deutsche Geschichte zu erlangen. Man müsse in West-Berlin nun alles tun, um sich diesbezüglich „nicht abhängen zu lassen“.43 Eine besonders wichtige Rolle bei der Neufindung bzw. Wiederentdeckung der Rolle Berlins als „Pfahl im Fleische der DDR“ spielten für Lehmann-Brauns in den späten 1980er Jahren die aus der DDR abgeschobenen Bürgerrechtler Jürgen Fuchs, Freya Klier und Roland Jahn. Gegen 38 Ebd.,
S. 53. ebd., S. 54. 40 Ebd., S. 55. 41 Vgl. ebd., S. 56. 42 Ebd., S. 58. 43 Vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Kultur von links nach rechts. Politische Einzelheiten in Ost und West, Berlin 1988, S. 26 und S. 36. 39 Vgl.
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den „Hohn der 68-iger“ und gegen die regierungsamtliche Entspannungs politik, die beide das Ziel Einheit zunehmend aufgegeben hätten, gaben für Lehmann-Brauns im Gegensatz dazu diese „Freiheitskämpfer aus der DDR“ dem geteilten Berlin sein Thema zurück.44 3. „Innerdeutscher Dialog darf nicht nur Verkehr schwarzer Limousinen sein“45 – Aktionen des deutschlandpolitischen Arbeitskreises Unmittelbar nach Amtsübernahme richtete der neue CDA-Chef Fink einen deutschlandpolitischen Arbeitskreis der CDA ein. Die Leitung übertrug er dem Berliner CDU-Politiker und Mitglied des Abgeordnetenhauses, Uwe Lehmann-Brauns. Anlässlich der Gründung des Kreises lud Fink die Presse nach Bonn ein. Hierzu fanden sich etwa fünfzig Medienvertreter ein. Ziel des Arbeitskreises war, eine „Deutschlandpolitik von unten“ zu entwickeln, die die offizielle Deutschlandpolitik ergänzen sollte. So waren die Mitglieder bestrebt, zu den Deutschen in der DDR direkten Kontakt aufzunehmen und ihre Probleme im Westen zu popularisieren. Bedeutsam waren dabei Finks Kontakte zu Rainer Eppelmann, der nach dem Tode Robert Havemanns zu einem der führenden DDR-Oppositionellen wurde.46 Konkret waren zunächst Reisen in die DDR von Betriebsräten und Auszubildenden aus dem Umfeld der CDA geplant. Gerade Menschen, die keine direkten verwandtschaftlichen Beziehungen in den anderen Teil Deutschlands hatten, sollten sich angesprochen fühlen. Mit diesem Lückenschluss erhoffte sich die CDA-Führung um Fink eine entsprechende Resonanz für ihr deutschlandpolitisches Vorhaben, den „[i]nnerdeutsche[n] Dialog […] nicht nur Verkehr schwarzer Limousinen sein“ zu lassen, zu erreichen.47 Geistiger Stichwortgeber für die deutschlandpolitische Arbeit sowohl von Lehmann-Brauns als auch von Fink war Jakob Kaiser. Der frühere gesamtdeutsche Minister stand für beide „in idealer Weise“ für eine gelungene Verbindung von Sozial- mit der Deutschlandpolitik, ja, seine deutschlandpoli tische Gedankenwelt wurde für die beiden CDA-Politiker in den 1980er 44 Vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Podiums-Statement auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung am 2. März 2010, in: Privatarchiv Dr. Uwe Lehmann-Brauns. 45 Dieter Dose, Fink: Innerdeutscher Verkehr darf nicht nur Verkehr schwarzer Limousinen sein, in: Die Welt vom 23. Januar 1988. 46 Vgl. Lehmann-Brauns, Die verschmähte Nation, S. 107. 47 Dose, Fink: Innerdeutscher Verkehr darf nicht nur Verkehr schwarzer Limousinen sein, in: Die Welt vom 23. Januar 1988.
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Jahren gleichsam wieder höchst aktuell.48 In der Tat hatten die Sozialausschüsse in den frühen Jahren der Bundsrepublik unter der Führung von Jakob Kaiser einen dezidiert auf die Wiedervereinigung ausgerichteten politischen Kurs gefahren.49 Ein weiterer Unterstützer des deutschlandpolitischen Arbeitskreises war der langjährige CDA-Chef und Arbeitsminister unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, Hans Katzer.50 Dessen Reaktivierung für die Arbeit in der CDA nach langer Pause ging auf das Engagement Ulf Finks zurück.51 Für Lehmann-Brauns war Katzer ein „große[r] Sozialpolitiker der Union, der rheinisch wie Adenauer redete und gesamtdeutsch wie Jakob Kaiser dachte.“52 Katzer unterstützte Finks Konzept einer „Deutschlandpolitik von unten“, gerade in einer von Lehmann-Brauns wahrgenommenen „mehr oder minder gleichgültigen westdeutschen Umgebung.“53 Wichtigste Initiative des deutschlandpolitischen Arbeitskreises war die DDR-Reise im Herbst 1988. Das Besondere an dieser Reise war ihre öffentliche Wahrnehmung. So nahmen neben bundesdeutschen Medienvertretern auch westdeutsche Betriebsräte an der Reise teil.54 Stationen der 14-köpfigen CDA-Delegation waren Weimar, wo man mit dem dortigen CDUOberbürgermeister zusammentraf, Dresden und schließlich Finks Geburtsstadt Freiberg in Sachsen. In Riesa besichtigte man das örtliche Stahlwerk, das beim Besuch der Westdelegation aber ohne einen einzigen Arbeiter angetroffen wurde. Die letzte Station der Reise war Ost-Berlin. Hier trafen die Christlich-Demokratischen Arbeitnehmer auf Vertreter der Evangelischen Kirche der DDR. Unter den Teilnehmern war auch der spätere brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe. Auch dieses Treffen mit DDR48 Vgl.
Lehmann-Brauns, Die verschmähte Nation, S. 107. Tilman Mayer, Der gesamtdeutsche Anspruch der Sozialausschüsse 1945–1961, in: ders. (Hrsg.), „Macht das Tor auf“. Jakob-Kaiser-Studien, Berlin 1996, S. 114–119, hier S. 118. 50 Vgl. Lehmann-Brauns, Die verschmähte Nation, S. 108. 51 Vgl. das Interview des Verfassers mit Ulf Fink vom 1. April 2010. 52 Lehmann-Brauns, Die verschmähte Nation, S. 108. 53 Ebd. 54 In Finks Erinnerung nahmen etwa 30 Personen an der Reise teil, u. a. die Journalisten Bub und Feldmeyer. Vgl. das Interview mit des Verfassers mit Ulf Fink vom 1. April 2010. Zur Presseberichterstattung über die Reise siehe Hans-Rüdiger Karutz, SED zeigt Unsicherheit über Kurs, in: Die Welt vom 17. Oktober 1988; „Fink reist in die DDR“, in: Der Tagesspiegel vom 14. Oktober 1988; „Sozialausschüsse regen Partnerschaften mit Betrieben in der DDR an“, in: Der Tagesspiegel vom 18. Oktober 1988; Michael L. Müller / Dirk Hoeren, Ost-Berlin offen zu deutsch-deutschen Partnerschaften zwischen Betrieben, in: Berliner Morgenpost vom 18. Oktober 1988. 49 Vgl.
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Offiziellen wurde von Fink unterlaufen, indem er Arm in Arm mit Rainer Eppelmann kam, um zu symbolisieren, dass ihm der Kontakt zu den Oppositionellen wichtiger war als zu den systemnahen Kirchenvertretern.55 Zu den weiteren Themen des deutschlandpolitischen Arbeitskreises gehörten die Probleme mit der verfallenden Altbausubstanz in der DDR, die Initiierung von Städtepartnerschaften und öffentliche Diskussionen mit DDRBürgerrechtlern, wie beispielsweise mit Ralf Hirsch.56 Getagt hatte der Arbeitskreis regelmäßig in Anwesenheit des Bundesvorsitzenden der CDA, Ulf Fink, in Königswinter bei Bonn. Wichtigstes Mitglied des Kreises neben Fink und Lehmann-Brauns war der ehemalige Bundesarbeitsminister und langjährige CDA-Vorsitzende Hans Katzer. Dieser widmete sich der Wiedererlangung der deutschen Einheit mit einer „tiefe[n] Entschlossenheit“, einer politischen Haltung, die „nicht im Zeitgeist“ lag. Rückblickend, so wurde vom Leiter des deutschlandpolitischen Arbeitskreises, Lehmann-Brauns, konstatiert, sei die Wahrnehmung des Kreises und seiner eigenen Person in Westdeutschland eher eine negative gewesen.57 Die öffentlich ausgesprochene Kritik an den Verhältnissen in der DDR war von Beginn an ein Konstituens des deutschlandpolitischen Arbeitskreises der CDA. Bereits auf der konstituierenden Sitzung des neuen CDABundesvorstandes unter Fink am 27. November 1987 in Herne wurden Übergriffe der DDR-Staatsmacht auf Mitglieder der Friedens- und Umweltbewegung verurteilt. Auch wurde an die erste (und zugleich letzte) gesamtdeutsche Tagung der CDU-Sozialausschüsse, die 40 Jahre zuvor ebenfalls in Herne stattgefunden hatte, erinnert. Fink hob in seiner Rede die damalige Rolle Kaisers hervor, der sich 1947 in Herne vehement gegen die deutsche Teilung stellte. Fink erhob Kaisers Vorstellungen von einer Form der Verständigung mit den Menschen im anderen Teil Deutschlands zur Richtschnur seines eigenen politischen Handelns: Die Wahrung des Willens zur Einheit, diesen vor der Welt zu bekunden und sich für die Verständigung der Menschen einzusetzen.58 55 Vgl. Lehmann-Brauns, Die verschmähte Nation, S. 108–110. Siehe auch Volker Bästlein, Fink: Im Guten und Bösen eine gemeinsame Geschichte. Betriebs- und Personalräte in der DDR, in: Soziale Ordnung, 41. Jahrgang, Nr. 8 vom 25. November 1988, S. 21. 56 Fink beispielsweise vermittelte Ralf Hirsch nach seiner Ausweisung aus der DDR eine Arbeitsstelle beim Berliner Senat. Vgl. hierzu das Interview des Verfassers mit Ulf Fink vom 1. April 2010. Siehe auch das Interview mit Ralf Hirsch anlässlich des Honecker-Besuchs in der Bundesrepublik unter dem Titel „Nur keine Politshow. Was junge Bürger der DDR von dem Besuch Honeckers in Bonn erwarten“, in: Soziale Ordnung, 40. Jahrgang, Nr. 9 vom 20. August 1987, S. 10–11. 57 Vgl. den Brief von Uwe Lehmann-Brauns an den Verfasser vom 31. Januar 2011.
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Die Gespräche zwischen der SPD und der SED, die in gemeinsamen Grundsatzpapieren endeten, bezeichnete Fink im Januar 1988 folgerichtig als „akademische Gespräche“. Diese entsprächen nicht den „Wünschen der Basis“. Fink betonte die Wichtigkeit direkter Kontakte zwischen den Menschen in Ost und West. Erneut stellte er die Beendigung der deutschen Teilung als Ziel der Sozialausschüsse heraus. Die praktische Deutschlandpolitik dürfe sich nicht in der Linderung von Teilungsfolgen erschöpfen.59 Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentierte Anfang Januar 1988 die Politik des deutschlandpolitischen Arbeitskreises und meinte: „Die Sozialausschüsse der CDU haben seit ihrer Gründung eine unglückliche Vorliebe für die Deutschlandpolitik.“60 Da das Thema der Deutschlandpolitik „so weit außerhalb des Aufgabengebietes“ der CDA läge, seien die CDU-Arbeitnehmer „einem ständigen Begründungszusammenhang für diese Neigung ausgesetzt.“61 Schon Kaiser sei mit seinem Brücken-Konzept gescheitert; auch Fink stehe deutschlandpolitisch „nur ein begrenzter Freiraum“ zur Verfügung.62 58
Diesen „begrenzten Freiraum“ aber wollten die deutschlandpolitisch engagierten Sozialausschüsse nutzen und sie taten dies auch, mehr als den Status-quo-Freunden in West und Ost lieb war. Auf ihrer Frühjahrskonferenz 1988 beschlossen die Deutschlandpolitiker in der CDA: „Die Sozialausschüsse fordern eine auf die Nation bezogene, volksnahe und realistische Deutschlandpolitik.“63 So bleibe die staatliche Einheit weiterhin das „zentrale politische Ziel deutscher Politik.“ Für dieses benötige man keine Zustimmung der deutschen Nachbarn. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl wurde aufgefordert, die DDR-Regierung zu unterstützen, falls diese eine die Teilung lindernde Politik betriebe. Eine repressive Politik des SEDRegimes gegenüber der DDR-Bevölkerung sei hingegen eine „schwere Störung der Dialogpolitik“. Das unter der Leitung des CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler von einer Kommission entworfene Papier für den Bundesparteitag 1988, in dem über die Dauer der Teilung spekuliert wurde, lehnten die Mitglieder des deutschlandpolitischen Arbeitskreises vehement ab. Dieses Papier sei „Ausdruck konzeptioneller Hilflosigkeit“. Erforderlich sei in diesem Zusammenhang vielmehr eine verstärkte Kontaktarbeit über die deutsch-deutsche Grenze hinweg, unter besonderer Berücksichtigung der 58 Vgl. „CDA-Bundesvorstand konstituiert“, in: Soziale Ordnung, 41. Jahrgang, Nr. 1 vom 22. Dezember 1987, S. 8. 59 Vgl. die „dpa“-Meldung vom 8. Januar 1988, in: Privatarchiv Ulf Fink. 60 „Finks Ehrgeiz“, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. Januar 1988. 61 Ebd. 62 Vgl. ebd. 63 „CDA für eine volksnahe Deutschlandpolitik“, in: Soziale Ordnung, 41. Jahrgang, Nr. 4 vom 30. März 1988, S. 4.
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Friedens- und Menschenrechtsbewegung in der DDR. Aber auch „Arbeitnehmer ohne Parteiabzeichen“, ja sogar „Repräsentanten des Systems“ sollten nach dem Willen des Sprechers des deutschlandpolitischen Arbeitskreises, Lehmann-Brauns, mit in die christlich-soziale Dialogpolitik einbezogen werden.64 Die deutschlandpolitischen Missverständnisse in der Union im Jahr 1988, wenige Monate vor der Friedlichen Revolution in der DDR, bezogen sich aber nicht nur auf den missglückten ersten, später aber korrigierten Parteitagsentwurf zur Deutschlandpolitik. Negative Äußerungen von Dorothee Wilms, der Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, im Januar 1988 in Paris, etwa, dass der Nationalstaat um seiner selbst willen nicht Ziel des Grundgesetzes sei bzw. dass für eine Lösung der Deutschen Frage das Einverständnis der europäischen Nachbarn Deutschlands erforderlich sei, riefen den Widerspruch des deutschlandpolitischen Arbeitskreises hervor. So erkenne die CDU-Regierungspolitik zu Recht die „Realität der Spaltung“ Deutschlands an, aber nur als Ausgangspunkt ihrer Deutschlandpolitik, meinte Lehmann-Brauns in Erwiderung der Thesen der innerdeutschen Ministerin Wilms. Die Formulierung von Wilms habe den Nebeneffekt einer Klarstellung des Verfassungsziels der Wiedervereinigung bewirkt. Jedoch könne eine gewaltsam herbeigeführte Einheit nicht Ziel und Auftrag der Bundesregierung sein. Die Einholung der Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung, etwa aus der Schweiz oder den Niederlanden, war nach Einschätzung von Lehmann-Brauns verzichtbar.65 So gelte es zuvörderst, das weitere Auseinanderleben der Deutschen zu verhindern. Die Übernahme der Verantwortung für ihre gesamte Geschichte durch die Deutschen sei selbstverständlich. Deutsches und europäisches Einigungsstreben stünden von daher nicht im Widerspruch zueinander, vielmehr seien beide Ziele legitim.66 Dass sich die Reformen in der Sowjetunion unter Gorbatschow zu Veränderungen in der sowjetischen Haltung in der Deutschlandfrage auswachsen würden, konnte Lehmann-Brauns hingegen auf seiner Reise durch die Sowjetunion im Mai 1988 erfahren.67 In seinem „Politischen Bericht“ auf der CDA-Bundestagung Anfang Juni 1989 in Königswinter hob Ulf Fink erneut auf das deutschlandpolitische 64 Vgl.
ebd. Uwe Lehmann-Brauns, Einheit, in: Soziale Ordnung, 41. Jahrgang, Nr. 5 vom 4. Mai 1988, S. 12–13, hier S. 12. Zur Presse-Berichterstattung über die Tagung des deutschlandpolitischen Arbeitskreises siehe auch „Einheit geht nur Deutsche an“, in: Frankfurter Rundschau vom 15. März 1988; vgl. auch „CDU-Sozialausschuß für mehr Kontakte zur DDR“, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. März 1988. 66 Vgl. Lehmann-Brauns, Einheit, S. 13. 67 Vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Auf den Spuren von Glasnost und Perestroika, in: Soziale Ordnung, 41. Jahrgang, Nr. 6 vom 5. Juli 1988, S. 17. 65 Vgl.
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Erbe Jakob Kaisers für die gegenwärtige Politik der Sozialausschüsse ab. Angesichts der Entwicklungen in den osteuropäischen Ländern hielt es der CDA-Vorsitzende für die Pflicht seiner Vereinigung, sich eben nicht nur mit sozialpolitischen Fragen zu beschäftigen: „Wir haben an die Tradition Jakob Kaisers wieder angeknüpft. […] Die Mauer wird nicht ewig stehen, Europa und Deutschland bleiben nicht ewig geteilt.“68 Auch Stimmen, die eine Änderung der Präambel des Grundgesetzes forderten, erteilte Fink eine Absage: „Manche wollten schon das Ziel der Einheit der Deutschen aus der Präambel des Grundgesetzes streichen, und Honecker ist gar der Meinung, daß die Mauer 100 Jahre alt wird. Die Geschichte wird ihn widerlegen.“69 Ein weiteres Thema des deutschlandpolitischen Arbeitskreises war die Einrichtung von deutsch-deutschen Städtepartnerschaften. Damit zusammenhängend wurde insbesondere die verfallende Altbausubstanz in der DDR thematisiert. Im Juni 1989 forderte Lehmann-Brauns von der innerdeutschen Ministerin Wilms eine „Aktivierung der innerdeutschen Städtepartnerschaften“. In westdeutschen Rathäusern, so Lehmann-Brauns weiter, mache sich zunehmend „Resignation“ ob der geringen Pauschale von nur 20 DM für jeden eingeladenen Teilnehmer breit. Zwei Aufgaben maß der Vorsitzende des deutschlandpolitischen Arbeitskreises solcherlei Koopera tionen zu: Erstens würden durch Städtepartnerschaften „Brücken […] im Kampf um den Verfall“ von historischer Altbausubstanz gebaut. Zweitens seien solche Partnerschaften auch „Instrumente“ für den deutsch-deutschen Austausch von Arbeitnehmern und Jugendlichen. Das innerdeutsche Ministerium wurde von Lehmann-Brauns aufgefordert, zu prüfen, ob es für im Westen lebende Eigentümer von DDR-Immobilien einen Weg gebe, die Sanierung dieser Gebäude unbürokratisch durch einen DM-Transfer zu unterstützen. Von der DDR-Regierung forderte Lehmann-Brauns, diese „partnerschaftliche Hilfe“ ebenso zu dulden wie dies bei der Sanierung von Kirchengebäuden geschehe.70 Im Rahmen der Aktion Lehmann-Brauns’ gegen die verfallende Altbausubstanz wurden von diesem auch rund 50 westdeutsche Bürgermeister angeschrieben.71 Für Lehmann-Brauns bedurfte das Thema „einer Sofort 68 Ulf Fink, Rückblick und Ausblick. Politischer Bericht auf der 23. Bundes tagung der CDA vom 2. bis 4. Juni 1989 in Königswinter, in: Soziale Ordnung, 42. Jahrgang, Nr. 5 / 6 vom 27. Juni 1989, S. 4–5, hier S. 4. 69 Ebd. 70 Vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Presseerklärung „Städtepartnerschaften“ vom 26. Juni 1989, in: Privatarchiv Dr. Uwe Lehmann-Brauns. 71 Vgl. den Brief von Uwe Lehmann-Brauns an Friedrich-Christian Schroeder vom 24. Juli 1989, in: Privatarchiv Dr. Uwe Lehmann-Brauns.
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lösung, wenn von deutscher – mitteleuropäischer – Identität noch etwas übrig bleiben soll.“72 Die Reaktionen auf die Schreiben beurteilte LehmannBrauns insgesamt als „positiv-skeptisch“. Der Journalist Dirk Sager und die Kulturschaffende Lea Rosh hatten sich demnach an der Initiative interessiert gezeigt.73 Bis Juli 1989 lagen Lehmann-Brauns zehn positive Antwortschreiben westdeutscher Bürgermeister vor.74 Auch Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zeigte sich offenbar von der Initiative angetan. Er schlug vor, die Städtepartnerschaft zwischen Karlsruhe und Halle für die Rettung der „Frankeschen Stiftungen“ zu nutzen.75 Auch nach der Fried lichen Revolution 1989 setzte sich Lehmann-Brauns weiter für die vom Substanzverfall bedrohten ostdeutschen Städte ein, insbesondere für seine Geburtsstadt Potsdam sowie für die Goethe-Stadt Weimar.76 Der Friedlichen Revolution in der DDR stand der deutschlandpolitische Arbeitskreis uneingeschränkt positiv gegenüber. So verwies man mit Genugtuung auf das von den Mitgliedern gepflegte Erbe Jakob Kaisers. Dieser habe bis 1989 in der Bundesrepublik größtenteils als „ein gescheiterter Idealist“ gegolten, aber die Menschen in der DDR hätten seinen Ideen 1989 am 9. Oktober in Leipzig und am 9. November in Berlin „zum Durchbruch“ verholfen. Auch manchen Mitgliedern der westdeutschen Christlich-Sozialen habe der Status quo in Europa zeitweise unveränderbar erschienen. Jedoch sei für die Sozialausschüsse die Deutsche Frage stets offen gewesen, „gelegentlich auch gegen Stimmungen in der CDU“.77 Für Lehmann-Brauns war im Herbst 1989 eine – damals durchaus diskutierte – fortgesetzte deutsche Zweistaatlichkeit keine Option. Vielmehr schien ihm sein an Willy Brandt angelehntes deutschlandpolitisches Credo zeitgemäß: „Die Nation ist kein Allheilmittel für Krisen und Brüche, aber sie hält und führt zusammen, was geschichtlich zusammen gehört.“78 72 Uwe Lehmann-Brauns, Muster-Anschreiben an einen westdeutschen Bürgermeister, o. D., in: Privatarchiv Dr. Uwe Lehmann-Brauns. 73 Vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Brief an Volkmar Hoffmann vom 21. September 1989, in: Privatarchiv Dr. Uwe Lehmann-Brauns. 74 Vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Brief an Volkmar Hoffmann vom 24. Juli 1989, in: Privatarchiv Dr. Uwe Lehmann-Brauns. 75 Vgl. Roland Jacob, Brief an Uwe Lehmann-Brauns vom 31. Mai 1989, in: Privatarchiv Dr. Uwe Lehmann-Brauns. 76 Vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Vorschläge zur Bekämpfung der verfallenden Altbausubstanz in der DDR, 1. Dezember 1989, in: Privatarchiv Dr. Uwe LehmannBrauns; vgl. Uwe Lehmann-Brauns, Kulturstiftung zur Rettung Weimars? Presseerklärung vom 27. Dezember 1989, in: Privatarchiv Dr. Uwe Lehmann-Brauns. 77 Uwe Lehmann-Brauns, Eine gerade Linie, in: Soziale Ordnung, 43. Jahrgang, Nr. 2 vom 2. Februar 1990, S. 11. 78 Lehmann-Brauns, Die verschmähte Nation, S. 117.
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Rückblickend hatte es aus Finks Sicht in deutschlandpolitischen Fragen mit Bundeskanzler Kohl keine Probleme gegeben. Wenn es mit dem Kanzler Konflikte gegeben habe, dann die soziale Frage betreffend. Schwieriger sei das Verhältnis in deutschlandpolitischen Angelegenheiten zum Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, gewesen. Diepgen passte angesichts seiner „praktizierte[n] Realpolitik“ die engen Kontakte seines Gesundheitssenators Fink zu DDR-Oppositionellen nicht so recht in das eigene politische Konzept.79 Für Fink bedeutete die Orientierung der OstCDU im Jahre 1990 hin zum Erbe Jakob Kaisers eine besondere Genugtuung: „Wer hätte das alles gedacht, als wir als CDA 1987 unsere erste größere Reise nach Weimar, Dresden, Freiberg und Ost-Berlin antraten. Es ist gut, daß wir die Deutschlandpolitik zu einem Schwerpunkt unserer Arbeit machten.“80 Gleichwohl führte die Betonung des gesamtdeutschen Anspruchs der Sozialausschüsse nicht dazu, dass der Ost-CDU „Wege zur Wiedervereinigung“ aufgezeigt wurden. Trotzdem bleibt es das Verdienst der CDA und insbesondere ihres deutschlandpolitischen Arbeitskreises, die Idee eines geeinten Deutschlands gegen erhebliche Widerstände vertreten zu haben.81 4. Die Beobachtung des deutschlandpolitischen Arbeitskreises durch das MfS Durch das MfS erfolgte eine intensive Überwachung des deutschlandpolitischen Arbeitskreises der CDA. So erstellten Mielkes Mitarbeiter im März 1988 einen Bericht über „verstärkte Kontaktaktivitäten“82 Ulf Finks in die DDR. Der CDA-Vorsitzende, so vermutete die Staatssicherheit, wolle neue „Räume in der Deutschlandpolitik […] erschließen, die von der Bundesregierung nicht in vollem Maße genutzt werden können.“ Zudem wolle Fink „die CDA zum Vorreiter einer breit angelegten Kontaktwelle aus der BRD in Richtung DDR“ machen.83 Außerdem beabsichtige der CDA-Chef, die CDU in deutschlandpolitischen Fragen die „Meinungsführerschaft“ erlangen zu lassen.84 Im Juni 1988 schätzte die Staatssicherheit Ulf Fink daher wie folgt ein: 79 Vgl.
das Interview des Verfassers mit Ulf Fink vom 1. April 2010. Fink, Auf neuen Gleisen, in: Soziale Ordnung, 43. Jahrgang, Nr. 5 / 6 vom 31. August 1990, S. 3. 81 Vgl. Mayer, Der gesamtdeutsche Anspruch der Sozialausschüsse, S. 118–119. 82 Verstärkte Kontaktaktivitäten der CDA in Richtung DDR, März 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 3911, Bl. 141–147. 83 Ebd., Bl. 142. 84 Vgl. ebd., S. 143. 80 Ulf
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
„In jüngster Zeit erweist sich Fink als Inspirator und Verfechter einer Intensivierung der Kontakttätigkeit der CDA gegenüber der DDR. Nach seiner Auffassung müsse die CDA die offizielle Politik der Bundesregierung auf diesem Gebiet ergänzen. Außerdem habe er als ehemaliger DDR-Bürger ein besonderes Interesse an Kontakten zu ‚Landsleuten‘.“85
Nicht nur an der Person Ulf Finks war die Staatssicherheit interessiert, ebenfalls wurde die Gründung des deutschlandpolitischen Arbeitskreises registriert. Diesen habe Fink mit Unterstützung und im Wissen von Heiner Geißler und Rita Süssmuth gegründet. Erwähnt wurden in dieser Personeneinschätzung des MfS außerdem Finks Kontakte zu oppositionellen kirch lichen Gruppen in der DDR und seine Gespräche mit DDR-Bürgern, die sich zu Besuchszwecken in West-Berlin aufhielten.86 Ein weiteres MfS-Papier, das „Dossier zu Ulf Fink“, ebenfalls vom Juni 1988, schätzte den CDA-Vorsitzenden unionsintern als „relative[n] Einzelgänger“87 und als „aufstrebende[n] Karrieretyp[en]“88 ein. Gleichwohl befinde dieser sich, so habe eine inoffizielle Einschätzung ergeben, mit seiner „Kontaktpolitik“ zu einfachen Bürgern in der DDR „in Übereinstimmung mit dem Entwurf der Geißler-Kommission ‚Christlich-demokratische Perspektiven zur Außen-, Sicherheits-, Europa- und Deutschlandpolitik‘ “89. Das Vorgehen des Berliner Gesundheitssenators, übergesiedelte ehemalige DDR-Bürger beruflich in CDA- und Berliner Senatsverwaltungsstellen zu bringen, wurde vom MfS als praktische Umsetzung des Finkschen deutschlandpolitischen Programms gewertet.90 Weiterhin wurde im MfS-Bericht wiedergegeben, dass offenbar zwei CDU-Politiker, deren Namen in den MfS-Akten geschwärzt sind, die Aktivitäten von Fink und seinen Mitstreitern als „störende und unkoordinierte Aktivitäten in Richtung DDR“ bewertet hätten, welche die „offizielle Dialoglinie“ konterkarierten.91 Obwohl ein Objekt der Beobachtung, schätzte das MfS daraufhin die Erfolgsaussichten des deutschlandpolitischen Arbeitskreises – scheinbar beruhigt – als gering ein: „Intern wird eingeschätzt, daß der Einfluß der CDA durch Fink und […] Uwe Lehmann-Brauns im Westberliner Landesverband nicht groß 85 Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe, Personeneinschätzung zu Ulf Fink, Senator für Gesundheit, Sozialwesen und Familie in Westberlin und Vorsitzender der Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Juni 1988, in: BStU, ZA, MfS – ZAIG 24024, Bl. 335. 86 Vgl. ebd. 87 Dossier zu Ulf Fink, Juni 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 3911, Bl. 171. 88 Ebd., Bl. 174. 89 Ebd., Bl. 172. 90 Vgl. ebd., Bl. 173. 91 Ebd.
I. Brücken bauen zur DDR-Opposition89
enug ist, um eine erneute Grundsatzdiskussion zu deutschlandpolitischen g Fragen zu entfachen.“92 Wie schätzte das MfS hingegen Uwe Lehmann-Brauns ein? Die Staatssicherheit schrieb dem zweiten Inspirator des deutschlandpolitischen Arbeitskreises folgende „Charakteristika“ zu: Lehmann-Brauns sei „Anwalt in der BRD“. Zudem gehöre er „dem liberalen Flügel der CDU an“. Als „ehemal[iger] APO-Anhänger“ habe er „sich öffentlich zu Rudi Dutschke bekannt“, woraufhin Lehmann-Brauns „beinahe aus der CDU ausgeschlossen worden“ sei.93 An sich waren dies keine wesentlich neuen Informationen, jedoch wurde die Gefahr, die von der Person Lehmann-Brauns’ für die SED ausging, in den „Nachinformationen“ desselben Dokuments der Staatssicherheit deutlich. So wurde das Mitglied des Abgeordnetenhauses von der Stasi verdächtigt, seine „Reiseziele in der DDR zu vertuschen“, mit der Konsequenz, dass „Maßnahmen […] durch die erf[assende] D[iensteinheit] eingeleitet“ würden.94 Die spektakuläre Reise der CDA-Delegation in die DDR im Herbst 1988 löste erwartungsgemäß die größten Besorgnisse und somit auch die größte Aktion der Staatssicherheit gegen den deutschlandpolitischen Arbeitskreis der CDA aus. In einem MfS-Bericht vom November 1988 wurde den einreisenden westdeutschen Christdemokraten die „Organisierung einer politischen Untergrundtätigkeit in der DDR“ vorgeworfen. So sei die Delegation als aus Betriebsräten bestehend angemeldet worden. Unter den 21 Einreisenden seien tatsächlich dann jedoch allein sieben Journalisten, zehn CDAVorstände und nur vier echte Betriebsräte gewesen. Die Staatssicherheit vermutete daher eine Tarnung der wirklichen Ziele der westdeutschen Reisegruppe. Am Rand der MfS-Akte war die Einschätzung eines Mitglieds der Delegation angestrichen worden. Dieser Mitreisende hatte offenbar dafür plädiert, auf DDR-Reisen den einfachen Leuten kritische Fragen zum SEDRegime zu stellen und zwar „immer und immer wieder“. Mit dieser Art der Anregung zum Selbstdenken hoffte dieses Mitglied offenbar „erzieherisch“ auf die einfachen DDR-Bürger einwirken zu können, sodass diese ihrerseits irgendwann in der Konsequenz den „Aufschrei der Straße“ wagen würden.95 Zu Recht hatte die Stasi diese Stelle in ihrem Bericht markiert, beschrieb sie doch das Szenario ein Jahr später im deutschen Herbst 1989. 92 Ebd.
93 [Kurzbeschreibung von Uwe Lehmann-Brauns], o. D., in: BStU, ZA, MfS – HA VI 2087, Bl. 183. 94 Ebd., Bl. 185. Zu den erfolgten „Maßnahmen“ sind in der Akte keine weiteren Vermerke gemacht worden. 95 Vgl. Information über Aktivitäten der CDA zur Organisierung einer politischen Untergrundtätigkeit in der DDR, November 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
Eine weitere MfS-Information über die DDR-Reise der CDA-Delegation bewertete deren Verlauf als „nützlich und für die Darstellung des Sozialismus in der DDR erfolgreich“96. So hätten die Teilnehmer geäußert, „daß sie mit einem veränderten DDR-Bild in die BRD zurückfahren“97 würden. Die Vielzahl der mitreisenden Journalisten (der Bericht nennt „sieben schreibende Journalisten“ sowie je ein Fernsehteam von ARD und ZDF) sei angeblich für die meisten Teilnehmer störend gewesen. Diese sei nur „Show“ gewesen für den Wahlkämpfer Fink.98 Ulf Fink reiste aber nicht nur mit der CDA in die DDR ein. Vielmehr unternahm er etliche private Besuche in die DDR. So verzeichnete das MfS zwischen 1981 und 1989 insgesamt 32 private und dienstliche Einreisen Finks in die DDR.99 Im zweiten deutschen Staat erfolgte die Überwachung Finks unter dem Codewort „Aktion Bogen“. Zeitweilig war dem CDA-Chef wegen seiner Bekanntschaft zu „feindlich-negativen Personen“ die Einreise in die DDR verwehrt worden.100 So stand Fink im Oktober 1988 auf einer MfS-Liste mit westdeutschen Persönlichkeiten, denen die Einreise in die DDR nur nach „Rückfrage vor Entscheid“ gestattet wurde.101 Die personenbezogenen Unterlagen der Staatssicherheit zu Ulf Fink enthalten zudem zwei Berichte über die Reise des West-Berliner Gesundheitssenators mit Mitarbeitern der West-Berliner Senatsverwaltung am 4. Oktober 1984 in die DDR. Der auf Tonband gesprochene Bericht wurde dabei von XX / AKG 7256, Bl. 191. Der Name des mitreisenden CDA-Mitglieds, der diese weitsichtigen Aussagen getroffen hatte, ist in der Kopie der MfS-Unterlagen von der BStU geschwärzt worden. 96 Information über den Aufenthalt einer Gruppe der Sozialausschüsse der „Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft“. (CDA) der CDU der BRD vom 14. bis 16. Oktober 1988 in der DDR, in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 1618, Bl. 160. 97 Ebd. Diese Aussage lässt sich durchaus doppelbödig interpretieren. Angesichts des positiv gefärbten Gesamtberichts ist jedoch von einer für die SED-Führung günstig gestimmten Version auszugehen. 98 Vgl. Information über den Aufenthalt einer Gruppe der Sozialausschüsse der „Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft“. (CDA) der CDU der BRD vom 14. bis 16. Oktober 1988 in der DDR, in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 1618, Bl. 157 und Bl. 160. 99 Übersicht zur Reisetätigkeit: Fink, Ulf, o. D., in: BStU, ZA, MfS – HA VIII 4625, Bl. 001–004. 100 Vgl. Hauptabteilung VI, Information über die beabsichtigte Einreise von Persönlichkeiten der Kategorie I gemäß der 2. Durchführungsbestimmung zur Dienstanweisung 3 / 75 des Genossen Minister, „Aktion Bogen“, 23. Juni 1989, in: BStU, ZA, MfS – HA VIII 4625, Bl. 021. 101 Vgl. Hauptabteilung VI, Abteilung Objektsicherung und Tourismus, Einleitung von durchgängigen Beobachtungsmaßnahmen zu ausgewählten Persönlichkeiten der BRD bzw. Westberlins vom 21. Oktober 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA VI 3765a, Bl. 007.
II. Antikommunismus und Berlin-Frage91
einer IMB „Vera“ geliefert. Das Dokument umfasste neben spekulativen Einschätzungen des persönlichen Verhältnisses von Finks Pressereferent und Finks persönlichen Referenten („nicht richtig ‚grün‘ “) eine Schilderung des Besuchsprogramms inklusive der Grenzabfertigung. Der Bericht schloss mit dem für Stasi und SED beruhigenden Schlusssatz: „Mir [also IMB „Vera“; L. H.] sind keine Kontakte oder Kontaktversuche durch Bürger der DDR zur Gruppe bekannt geworden und auch keine derartigen Erscheinungen seitens der Touristen zu Bürgern der DDR.“102 Der zweite Bericht über Finks Reise wurde am 10. Oktober 1984 von einem IMS „Harry“ geliefert. „Harry“ zufolge habe sich Fink „insgesamt positiv“ über seine Reise in die DDR geäußert. Zudem sei Fink „unarrogant“ aufgetreten und habe „aufmerksam“ dem Reiseleiter und den „Führungskräften in den [besuchten; L. H.] Einrichtungen“ zugehört.103
II. Antikommunismus und Berlin-Frage: Der Kurt-Schumacher-Kreis und die SPD 1. Die SPD und die Deutsche Frage Die Spaltung der deutschen Sozialdemokratie setzte unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein. Kurt Schumacher repräsentierte die SPD in den Westzonen, Otto Grotewohl war bis zur Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED der führende Sozialdemokrat im Berliner Zentralausschuss in der Sowjetisch Besetzen Zone (SBZ). Im Jahre 1946 wurde Schumacher zum Vorsitzenden der westzonalen SPD gewählt und residierte im „Büro Dr. Schumacher“, das in Hannover zur inoffiziellen Parteizentrale wurde. Das Amt des Vorsitzenden behielt er bis zu seinem Tod im Jahre 1952.104 Schumacher war ein energischer Verfechter der Einheit der deutschen Nation. Staat und Nation gehörten für den SPD-Vorsitzenden dabei untrennbar zusammen. In der deutschen Teilung sah Schumacher eine Gefahr für den Frieden begründet. Eine mögliche deutsche Wiedervereinigung war für Schumacher nur in den Grenzen von 1937 denkbar. Die Westbin102 Auswertung der inoffiziellen Sicherung der Reisegruppe Senatsangestellte vom 4. Oktober 1984, unter Berücksichtigung des teilnehmenden Westberliner Senators für Gesundheit, soziales und Familie, Fink, Ulf. Tonbandabschrift vom 4. Oktober 1984, gesprochen durch IMB „Vera“, entgegengenommen von Major Behncke, in: BStU, ZA, MfS – HA VI 2879, Bl. 024–025. 103 Information zur Fahrt mit dem Senator Fink am 4. Oktober 1984 in der DDR zum touristischen Aufenthalt vom 10. Oktober 1984, in: BStU, ZA, MfS – HA VI 2879, Bl. 026–027. Handschriftliche Aufnahme des IMS-Berichts durch Major [Henrich?]. Kopie der BStU nur schwer lesbar. 104 Vgl. Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 25.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
dungspolitik Adenauers lehnte er ab, weil er befürchtete, dass die Deutschen von ihren Nachbarn in die Pflicht genommen würden, während sie selbst den Preis des Verzichts auf die deutsche Einheit zahlen müssten.105 Der ehemalige KZ-Häftling erklärte in diesem Sinne im August 1945 in seinen „Politische[n] Richtlinien für die SPD“: „Für das deutsche Volk ist das Recht der nationalen Selbstbehauptung und ihr Ausdruck in einem eigenen Staat unverzichtbar. Bei der heutigen Kräfteverteilung auf dem Kontinent widerspricht eine solche Linie auch durchaus nicht den Interessen der westlichen Alliierten. Mag das Verbrechen des deutschen Nazismus an der Welt noch so schwer [wiegen], das deutsche Volk kann und darf nicht darauf verzichten, sein Reich, mögen dessen Grenzen noch so stark beschränkt sein, als nationales und staatliches Ganzes zu behaupten.“106
Noch in ihrem „Aktionsprogramm“ von 1952 / 54 fühlte sich die westdeutsche Sozialdemokratie ganz in der Tradition der „Politischen Richtlinien“, wenn sie die Oder-Neiße-Linie nicht anerkannte oder sich klar zur „Abwehr des östlichen Totalitarismus“ bekannte, wie der todkranke Vorsitzende Schumacher in seinem Vorwort für das „Aktionsprogramm“ vermerkte.107 Nach dem Tode Kurt Schumachers im Jahre 1952 führte der Deutschland-Experte und spätere Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Fritz Erler die deutschlandpolitische Linie des verstorbenen SPD-Vorsitzenden fort. Die Idee eines paktfreien Gesamtdeutschlands, eingebettet in ein europäisches System kollektiver Sicherheit, lief durchaus auf ein neutrales Gesamtdeutschland hinaus, auch wenn die SPD den Begriff der „Neutralität“ zu vermeiden versuchte.108 Ende der 1950er Jahre, insbesondere nach der gescheiterten Genfer Außenministerkonferenz, reifte in der deutschen Sozialdemokratie der Gedanke, die deutsche Einheit sei nur in einem evolutionären Prozess zu erreichen. Der ‚Deutschlandplan‘ vom März 1959, der maßgeblich von Herbert Wehner, Gustav Heinemann und Helmut Schmidt entworfen wurde, trug der neuen Sichtweise Rechnung. Die geplante Zone in Mitteleuropa, bündnis105 Vgl. ebd., S. 26–27. Zu den Positionen Schumachers siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 65–73 sowie Zitelmann, Adenauers Gegner, S. 53–86. 106 Kurt Schumacher, Politische Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren, in: Dieter Dowe (Hrsg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie. Hrsg. und eingeleitet von Dieter Dowe und Kurt Klotzbach, 3., überarb. u. akt. Aufl., Bonn 1990, S. 249–281, hier S. 253. 107 Vgl. Aktionsprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Dortmund 1952 und erweitert auf dem Parteitag in Berlin 1954, in: Dieter Dowe (Hrsg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie. Hrsg. und eingeleitet von Dieter Dowe und Kurt Klotzbach, 3., überarb. u. akt. Aufl., Bonn 1990, S. 299–347, hier S. 300–301. 108 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 72–73.
II. Antikommunismus und Berlin-Frage93
frei, sollte helfen, die beiden getrennten Teile Deutschlands zusammenwachsen zu lassen. Erst am Ende dieses Prozesses sollten freie gesamtdeutsche Wahlen stehen und nicht, wie in vorherigen Konzepten, am Beginn. Der Deutschlandplan wurde allerdings rasch Makulatur, da sich die SPD ein Jahr später mit der Rede Herbert Wehners zu Adenauers Westbindungspolitik bekannte.109 Der Mauerbau in Berlin am 13. August 1961 begünstigte zusätzlich das Umdenken der SPD in deutschlandpolitischen Fragen. Von der Berliner SPD um den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt gingen entscheidende Impulse für eine neue sozialdemokratische Deutschlandpolitik aus, so beispielsweise im Juli 1963 durch die Tutzinger Rede von Egon Bahr, Sprecher des Berliner Senats, aber auch durch das erste Berliner Passierschein-Abkommen im Dezember 1963.110 Versuche der SED, mit der SPD ins Geschäft zu kommen, beispielsweise durch einen „Redneraustausch“, scheiterten aber Mitte der 1960er Jahre noch. Die erste Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und seinem sozialdemokratischen Außenminister Willy Brandt betrieb eine Politik der langsamen Anerkennung der DDR als Staat, auch wenn durch die sowjetische Niederschlagung des „Prager Frühlings“ die Entspannungshoffnungen zunächst zerstoben.111 Ein wesentliches Motiv, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, war im Herbst 1969 für Sozialdemokraten und Liberale die Überzeugung, dass es zu einer „Neuen Ostpolitik“ kommen müsse. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der sozialliberalen Entspannungsbemühungen war im dafür günstigen internationalen Klima zu finden. Als besondere Unterstützer der Brandtschen Ostpolitik sind dabei die USA im Verbund mit den west lichen Alliierten zu nennen.112 Die sozialdemokratische Vertragspolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt schließlich sollte „menschliche Erleichterungen“ bringen, die Teilung schien gleichzeitig aber zementiert, wenn man die erhitzte Debatte um den Grundlagenvertrag und das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in den Jahren 1972 und 1973 betrachtet. In seinem Beschluss „Zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunismus“ aus dem Jahr 1971 zog der SPD-Parteivorstand eine klare ideologische Trenn linie zu den kommunistischen Parteien.113 In der Debatte um den Grund lagenvertrag 1972 / 73 zeigte sich zunehmend die Dialektik, mit der die SPD 109 Vgl.
Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 38–39. ebd., S. 40–42. 111 Vgl. ebd., S. 43–45. 112 Vgl. Dieter Groh / Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992, S. 288. 113 Vgl. Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 47. 110 Vgl.
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deutschlandpolitisch zu reüssieren versuchte. In einem Aufsatz mit dem Titel „Der Test auf die Entspannung“ äußerte sich der sozialdemokratische innerdeutsche Minister Franke zur laufenden Debatte um den Grundlagenvertrag: „Wenn in absehbarer Zukunft die deutsche Einheit in Aussicht stünde, hätte es dieses Vertrages nicht bedurft; insofern ist er kein Anlaß zur Freude oder zum Jubel. Leider besteht eine derartige Aussicht nicht. Also müssen wir versuchen, für die unabsehbare Zeit der Teilung ein geregeltes Nebeneinander und, wo es eben geht, ein Miteinander mit der DDR zum Wohle der Menschen in beiden Staaten zu erreichen.“114
Auch der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt, der 1974 auf Brandt folgte, knüpfte mit seinem Slogan „Modell Deutschland“ an seinen Vorgänger an. Später, in den 1980er Jahren, sollte sich dennoch der Sprachgebrauch der SPD ändern, als man den Begriff „Deutschland“ vermied und stattdessen lieber von der „Bundesrepublik“ sprach.115 Vor der Bundestagswahl 1976 war man sich in der westdeutschen Sozialdemokratie sicher, mit der „neuen“ sozialliberalen Deutschlandpolitik „die deutsche Frage offengehalten“ zu haben. Grundlage der SPD-Erfolgsstrategie sei dabei gewesen, so Egon Franke, „von großen Worten [gemeint waren die Unionsparteien; L. H.] zu kleinen praktischen Schritten über[zu] gehen.“116 Im August 1976, anlässlich des 15. Jahrestages des Mauerbaus, war sich die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung noch sicher: „Der Zweck der Mauer und der übrigen von der DDR errichteten und zu verantwortenden Grenzanlagen ist nicht der Schutz gegen Angreifer von außen, sondern die Abwehr jener, die dahinter leben. Ein einziger Blick auf die Mauer beweist das mehr als viele Worte.“117 Ebenso musste Franke im selben Jahr eingestehen, dass die Bundesregierung über kein „politisches Patentrezept“ zur Wiederherstellung der deutschen Einheit verfüge.118 Zugleich konnte dies allerdings auch im Umkehrschluss nicht bedeuten, die Entspannungspolitik sozialdemokratischer Provenienz sei alternativlos und 114 Egon Franke, Der Test auf die Entspannung. Zur Diskussion um den Grundlagen-Vertrag, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 27. Februar 1973, S. 1–2, hier S. 2. Hervorhebung durch den Verfasser. 115 Vgl. Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 52. 116 Egon Franke, Wir haben die deutsche Frage offengehalten. Die sozialliberale Deutschlandpolitik kann große Leistungen aufweisen, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 13. Mai 1976, S. 1–2, hier S. 1. 117 Egon Franke, Gerade wegen der Mauer! Unsere Deutschlandpolitik muß fortgesetzt werden, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 12. August 1976, S. 1–2, hier S. 1. 118 Vgl. Egon Franke, Bilanz der Deutschlandpolitik, in: Neue Gesellschaft 23 (1976), H. 8, S. 620–623, hier S. 621.
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die Idee eines einheitlichen deutschen Nationalstaates münde in „eine Rückkehr zum Kalten Krieg“.119 Vier Jahre später, im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes 1980, erteilte die sozialliberale Bundesregierung allen Wiedervereinigungsträumen eine deutliche Absage. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 17. Juni 1953 erhob der innerdeutsche Minister Egon Franke im Juni 1980 den Aufstand in der DDR nicht nur zum „Datum der nationalen Einheit“, nein, jetzt sollte die gescheiterte Revolution 1953 in der DDR in sozialdemokratischer Lesart eines „der wichtigsten Freiheitsdaten unserer Geschichte“ sein.120 Zudem verlautbarte Franke: „Der Wille zur Einheit ist nicht daran abzulesen, ob in der politischen Auseinandersetzung bestimmte Formulierungen oder Bezeichnungen gebraucht oder vermieden werden.“121 Die vom innerdeutschen Minister etwas despektierlich angesprochenen „Bezeichnungen“ und „Formulierungen“ sollten sich aber gerade in den Jahren 1989 / 90 noch als sehr hilfreich erweisen, als es darum ging – auch und gerade auf der internationalen Bühne – namens der Bundesregierung den Anspruch der Deutschen auf die staatliche Einheit zu formulieren und letztlich auch erfüllt zu bekommen. Der von Franke geäußerte Verdacht, die oppositionelle CDU / CSU-Fraktion erliege mit ihren deutschlandpolitischen Forderungen „Illusion[en]“122 bzw. betreibe eine „Flucht vor der politischen Realität“123, erwies sich schließlich später doch als eine einseitige, voreilig eingenommene deutschlandpolitische Haltung. Nach Ablösung der sozialliberalen Bundesregierung im Jahre 1982 zog der ehemalige sozialdemokratische innerdeutsche Minister, Egon Franke, Bilanz seiner Deutschlandpolitik.124 So könne man, so Franke, trotz „Rückschläge[n] und Hemmnisse[n]“ in der „Vertragspolitik“125 mit OstBerlin, in der „Gesamtrechung“ zu einem „positive[n] Gesamteindruck“ 119 Egon Franke, Wo steht die Deutschlandpolitik heute? Politik des Ausgleichs vor Gegnern und falschen Freunden in Schutz nehmen, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 31. Juli 1978, S. 4–5, hier S. 4. 120 Vgl. Egon Franke, Bewußtsein von der Einheit der Nation. Deutschlandpolitik braucht Sachlichkeit und Realitätssinn, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 20. Juni 1980, S. 1–4, hier S. 2. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 4. 123 Ebd. 124 Egon Franke, Solidarität mit den Deutschen in der DDR. Vernunft und Verantwortung gebieten die konsequente Fortsetzung der Normalisierungspolitik, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 6. Oktober 1982, S. 1–3. 125 In der Überschrift von Frankes Bilanz war ja auch von „Normalisierungs politik“ die Rede. Beide Begriffe verdeutlichen nach Ansicht des Verfassers die Tatsache, dass die sozialliberale Deutschlandpolitik die DDR als „normalen Staat“ angesehen hatte.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
gelangen. Der „substantielle Ertrag“ der sozialliberalen Deutschlandpolitik liege demnach in den vier Punkten „Verbesserung der gegenseitigen Information“, „Erleichterung, Beschleunigung und rechtliche Absicherung des Transitverkehrs“, „Verbesserung der Lebensqualität von West-Berlin als Wohnort“ sowie in der „Erweiterung der Möglichkeiten, Menschen aus der DDR mit ihren Angehörigen in der Bundesrepublik Deutschland zusammen zuführen.“126 Von Wiedervereinigung – als positivem politischen Ziel – war im sozialdemokratischem Sprachgebrauch schon lange keine Rede mehr. Nach dem Verlust der Regierungsmacht 1982 wandelte sich in der Opposition der deutschlandpolitische Kurs der Sozialdemokratie.127 Die SPD suchte sich von der christlich-liberalen Bundesregierung unter Kohl abzugrenzen, was dazu führte, dass sie Positionen einnahm, die sie, als sie noch Regierungsverantwortung trug, nicht annehmen wollte. Im Bundestagswahlprogramm von 1987 beispielsweise sicherte die SPD im Falle des Wahlerfolges zu, Honeckers „Geraer Forderungen“ (Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, Abschaffung der Erfassungsstelle Salzgitter, Respektierung der DDR-Staatsangehörigkeit, Elbe-Grenzverlauf in der Mitte des Flusses) – mit Ausnahme der Staatsangehörigkeitsfrage – aus dem Jahr 1980 zu entsprechen.128 Die „Dialogpolitik“ bzw. „Nebenaußenpolitik“ der SPD mit der SED gipfelte schließlich 1987 im Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, das ohne Hinweise auf innerdeutsche Kooperationen blieb. In der SPD wurde das Papier vor allem von Annemarie Renger, ehemalige Vertraute Kurt Schumachers, sowie von AltBundeskanzler Helmut Schmidt kritisiert.129 Sozialdemokraten, wie z. B. der Bundestagsabgeordnete Gert Weisskirchen, die Kontakte zur DDR-Oppo sition unterhielten, wurden vom Parteiestablishment als „Einzelgänger“ (Oskar Lafontaine) verlacht.130 Ein Jahr vor der Friedlichen Revolution suchte Egon Bahr nach „Chancen in der Teilung“. In einem gleichnamigen Vortrag zum 125-jährigen Jubiläum der Würzburger SPD sprach sich der Architekt der „neuen“ Ost- und 126 Franke,
Solidarität mit den Deutschen in der DDR, S. 1. SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung widmete im Jahre 1993 der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik in der Opposition (seit 1982) immerhin einen eigenen Kongress. Siehe Dieter Dowe (Hrsg.), Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982–1989, Bonn 1993. 128 Vgl. Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 64–65. 129 Vgl. Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 97. Zur sozialdemokratischen „Nebenaußenpolitik“ siehe auch ebd., S. 75–103 sowie Haarmann, Warten auf die Wiedervereinigung?, S. 181–183. 130 Vgl. Christian von Ditfurth, Angst vor den Akten. Archive enthüllen den Umgang von SPD- mit SED-Politikern, in: Der Spiegel vom 24. August 1992, S. 50–62, hier S. 62. 127 Die
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Deutschlandpolitik im Juli 1988 dafür aus, „die Geschichte [nicht] zurückzudrehen.“ Bahr sorgte sich zudem um die Verankerung der „Unumkehrbarkeit“ der europäischen Integration. Mit der vorgesehenen Schaffung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes für das Jahr 1992 stand für Bahr ein möglicherweise anzumeldender „Vorbehalt“ seitens der Bundesregierung im Raume, ähnlich wie es beim NATO-Beitritt der Bundesrepublik geschehen sei. Indirekt warnte der SPD-Vordenker also davor, die Europäische Gemeinschaft (Zukunft) und die deutsche Wiedervereinigung (Vergangenheit) gegeneinander auszuspielen. Ein „bloße[r] Anschluß der DDR“ könnte zudem als ein Bruch des Grundlagenvertrages angesehen werden, war eine weiterer Einwand Bahrs, den er sich in Würzburg nicht sparen mochte.131 Bahr schloss in Würzburg mit dem Bekenntnis, in dem er auch die Rangfolge seiner Identitäten offenlegte: „Als Sozialdemokrat, als Deutscher, als Europäer, bin ich mehr denn je davon überzeugt, daß es unsere Aufgabe ist, die Chancen in der Teilung zu suchen.“132 Zur teilweisen „Ehrenrettung“ der sozialdemokratischen Deutschland politik der 1980er Jahre trug wesentlich Erhard Epplers Rede am 17. Juni 1989 vor dem Deutschen Bundestag bei. Dort nahm der programmatische Vordenker seiner Partei Bezug auf die politischen Entwicklungen im Baltikum und in Teilen Westeuropas (u. a. auf Belgien und Schottland) und wies die Abgeordneten darauf hin, dass man die „nationale[n] Realitäten im Blick haben“ müsse. Gleichwohl warnte er auf Deutschland bezogen in guter Entspannungsmanier davor, die Statik Europas zu gefährden.133 Aber Eppler holte noch weiter aus: Auch wenn die Deutschen aus historischen und eben dargelegten gegenwärtigen Gründen eine quasi europäische Deutschlandpolitik betreiben müssten, so hätten sie doch „ein Recht auf Selbstbestimmung“, auch bei Berücksichtigung der Verbrechen des Nationalsozialismus.134 Indirekt fragte Eppler sogar, ob die DDR noch eine Zukunft habe. Allerdings versah er diesen Gedanken gleich mit der Einschränkung, dass sich seiner Einschätzung nach die Menschen eher die Reform der DDR wünschten als ihre Abschaffung.135 Auch wenn Eppler zum Teil in seiner Rede typisch entspannungspolitisch lavierte, vor der Verwendung des Begriffes „Wiedervereinigung“ warnte, so kann man in 131 Vgl. Egon Bahr, Die Chancen in der Teilung suchen, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 18. Juli 1988, S. 5–6, hier S. 5. 132 Ebd., S. 6. 133 Vgl. Erhard Eppler am 17. Juni 1989 im Deutschen Bundestag zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, zur Frage der deutschen Einheit und zur Situation in der DDR, in: Ilse Fischer (Hrsg.), Die Einheit sozial gestalten. Dokumente aus den Akten der SPD-Führung 1989 / 90, Bonn 2009, S. 71–80, hier S. 71–72. 134 Vgl. ebd., S. 73. 135 Vgl. ebd., S. 76.
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ihm durchaus eine sozialdemokratische Position jenseits einer stupiden Verteidigung des Status quo entdecken, die in der Partei in den 1980er Jahren vorherrschend war.136 Die Politik der SPD in der Phase der „Nebenaußenpolitik“ hatte auch Rückwirkungen, als die deutsche Einheit 1989 / 90 doch scheinbar urplötzlich auf der Tagesordnung der Weltpolitik stand, einer Weltpolitik, mit der sich eben doch auch die eben angesprochene „Nebenaußenpolitik“ der Partei zu befassen glaubte. Die Folgen der sozialdemokratischen deutschlandpolitischen Konzeption führte dazu, dass gerade jüngeren Sozialdemokraten „Mailand [näher] lag […] als Magdeburg.“137 Durch die Akzeptanz des Status quo wurden die Verhältnisse in der DDR somit z. T. „relativiert“, indem die Bundesrepublik stärkerer Kritik ausgesetzt war als die DDR, was beispielsweise das Thema der sozialen Sicherheit betraf.138 Wie hätte die SPD während der Friedlichen Revolution denn am besten den Menschen in Ost und West gedient? Hier ist mit Daniel F. Sturm zu antworten, dem Chronisten der deutschen Sozialdemokratie der Jahre 1989 / 90: Mehr Erhard Eppler, der die Agonie der SED früh erkannte, mehr Norbert Gansel, der sich unbedingt zur ostdeutschen Sozialdemokratie bekannte, mehr Willy Brandt, der den ostdeutschen Wunsch der Wiedervereinigung aufgriff und mehr Hans-Jochen Vogel, der ein geduldiger Begleiter des Prozesses der deutschen Einheit gewesen ist.139 2. Die deutschlandpolitische Biographie Hermann Kreutzers Ein bislang nicht in der Literatur gewürdigter sozialdemokratischer Wiedervereinigungsfreund war der 1924 im thüringischen Saalfeld geborene Hermann Kreutzer. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er zu den Mitbegründern der thüringischen Sozialdemokratie. 1949 wurde Kreutzer von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.140 Die Urteilsbegründung lautete auf „Spionage und antisowjetische Hetze“. Die Haftzeit verbrachte Kreutzer in den Gefängnissen Bautzen und Brandenburg. 1955 wurde das Strafmaß auf zehn Jahre herabgesetzt. Ein Jahr 136 Vgl. zu Epplers Rede am 17. Juni 1989 auch Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 111–115; vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 208; vgl. Fischer, Die Einheit sozial gestalten, S. 25. 137 Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 459. 138 Vgl. ebd., S. 460. 139 Siehe ebd., S. 474. 140 Vgl. Rudolf Stiege, Hermann Kreutzer – ein Sozialdemokrat warnt die SPD vor Flirt mit dem Kommunismus, in: Berliner Morgenpost vom 12. April 1979.
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später, 1956, wurde er dann nach West-Berlin entlassen.141 In Berlin-Tempelhof avancierte er rasch zum SPD-Bezirksverordneten und zum Bezirksstadtrat für Sozialwesen.142 Im Jahre 1968 schließlich gehörte Kreutzer zu den Mitbegründern des Kurt-Schumacher-Kreises, einer Vereinigung von ehemals in kommunistischen Lagern inhaftierten Sozialdemokraten. Zwischen 1973 und 1975 fungierte er schließlich als Präsident des Bundes der Mitteldeutschen, einer Vereinigung – ähnlich dem Bund der Vertriebenen – geflüchteter Menschen aus der SBZ bzw. DDR.143 In den Jahren 1977 und 1978 gehörte Kreutzer zu den Initiatoren der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Nach seinem Ausschluss aus der SPD im Jahre 1981 wurde er Sprecher des Kurt-Schumacher-Kreises.144 Neben seinen eben genannten politischen Ehrenämtern war Kreutzer von 1967 bis 1980 leitender Beamter im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Der frisch ins Amt gekommene gesamtdeutsche Minister Herbert Wehner holte Kreutzer 1967 als Abteilungsleiter in das Ministerium nach Bonn. Zwei Jahre später, 1969, ernannte Wehner Kreutzer zum Ministerialdirektor und Leiter der Berlin-Abteilung des gesamtdeutschen Ministeriums.145 Dort kam Kreutzer wegen seiner deutschlandpolitischen Positionen, die sich gegen den sozialliberalen Entspannungskurs richteten, mit dem innerdeutschen Minister Franke (als Nachfolger von Kreutzers Förderer Wehner) in Konflikt und wurde 1980 von diesem in den einstweiligen Ruhestand versetzt. In den 1980er Jahren wirkte Kreutzer weiter im Schumacher-Kreis. 2007 verstarb Hermann Kreutzer in Berlin.146
141 Vgl. Auskunftsbericht zu Hermann Kreutzer vom 6. Januar 1989, in: BStU, ZA, MfS – HA IX 9990, Bl. 297. 142 Vgl. „Wehner führt Kreutzer ein“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. August 1969. 143 Zum Bund der Mitteldeutschen, der auch ein deutschlandpolitisches Forschungsdesiderat darstellt siehe Irene Gückel, Bund der Mitteldeutschen (BMD) e. V. Chronik eines Verbandes 1969–1993, Bonn 1993 und Haarmann, Die Gesamtdeutschen, S. 59–60. 144 Vgl. Kurzauskunft zur Person [Hermann Kreutzers] vom 24. März 1987, in: BStU, ZA, MfS – ZAIG 24152, Bl. 014. 145 Vgl. „Wehner führt Kreutzer ein“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. August 1969. 146 Siehe auch Bernd Florath, Hermann Kreutzer, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftung-aufarbeitung.de / wer-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B-1424.html?ID=1908 (28. Mai 2012).
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3. Geschichte und Aktionen des Kurt-Schumacher-Kreises a) Von der Initiative Willy Brandts zum Forum kritischer sozialdemokratischer Deutschlandpolitik 1968 konstituierte sich „auf Empfehlung von Willy Brandt in Berlin“147 der sozialdemokratische Kurt-Schumacher-Kreis. Die dort versammelten Mitglieder waren Sozialdemokraten, die als ehemalige politische Häftlinge in der SBZ von sowjetischen Militärtribunalen als sog. „Schumacher-Agenten“ zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Zu den Aufgaben des Kreises gehörten daher u. a. die Aufarbeitung der Verfolgung von So zialdemokraten im Nationalsozialismus und unter der SED-Diktatur, der Schutz der jungen freiheitlichen Demokratie in Westdeutschland vor totalitären Ideologien sowie der „Kampf um Freiheit und Einheit Deutschlands gegen die SED“. In seinen Hochzeiten, etwa in den 1970er Jahren, hatte der Kurt-Schumacher-Kreis rund 600 Mitglieder. Angesichts des fortgeschrittenen Alters vieler Aktivisten nahm diese Zahl aber wieder ab.148 Für das Jahr 1988 gab der Schumacher-Kreis die Anzahl seiner Mitglieder mit 112 Personen an, von denen 98 bereits aus der SPD ausgetreten waren. Die Mitgliedschaft der Vereinigung setzte sich aus meist ehemaligen sozialdemokratischen Abgeordneten, Senatoren, Bezirksbürgermeistern und Stadträten zusammen. Als Ziele definierte der Kreis in den 1980er Jahren u. a. „die ständige Behandlung der Berlin- und Deutschlandpolitik“, die Behandlung der Berlin-Frage sowie die „geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus“, womit hier insbesondere die Kommunisten der SED gemeint waren.149
147 Hermann Kreutzer, In Deutschland für Freiheit. Aufschlüsse über politische Ereignisse und Personen in sechs Jahrzehnten, Berlin 2002, S. 262. 148 Vgl. ebd. Auf den Namen Kurt Schumachers nahm die Vereinigung insbesondere wegen dessen „Freiheitspolitik“ Bezug, da – wie bereits geschildert – viele Mitglieder des Kreises von sowjetischen Militärgerichten wegen ihrer sozialdemokratischen Überzeugungen zu Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Siehe KurtSchumacher-Kreis, Statement über den Kurt-Schumacher-Kreis anläßlich seines 20jährigen Bestehens, Dezember 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 021. Zum Schumacher-Kreis siehe auch Hans-Günther Weber, Abschied von Deutschland. Die Wandlung der SPD von Schumacher bis Lafontaine, München 1996, S. 83–90. Weber spricht von „über zweihundert Mitgliedern allein in Berlin“, ebd., S. 83. 149 Vgl. Kurt-Schumacher-Kreis, Statement über den Kurt-Schumacher-Kreis anläßlich seines 20jährigen Bestehens, Dezember 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 021. Diese Ziele des Kurt-Schumacher-Kreises sind ein beredtes Zeugnis davon, wie weit sich die SPD in den 1980er Jahren von ihrer ursprünglichen Konzeption einer „neuen Deutschlandpolitik“ entfernt hatte. Siehe auch Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt, S. 85 und S. 87.
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Zurück zu den Anfängen des Kurt-Schumacher-Kreises: Im Jahr 1970, während der Hochphase der Verhandlungen über die „neue“ Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung, diskutierten Mitglieder des SchumacherKreises mit Bundeskanzler und SPD-Chef Willy Brandt, sowie mit Präsidiumsmitgliedern der Partei über den ost- und deutschlandpolitischen Kurs. Enttäuscht mussten die Mitglieder des Schumacher-Kreises die spätere Nichtbeachtung ihrer Vorschläge zur Kenntnis nehmen.150 Daraufhin richteten im Dezember 1970 zwei Aktivisten des Schumacher-Kreises, Wilhelm van Ackern und Willi Weber, einen kritischen Brief hinsichtlich der Ost politik der Bundesregierung an die eigene Mitgliedschaft. Darin äußerten die Verfasser ihre Enttäuschung über die nicht eingetretenen „optimistischen Erwartungen“ für die Stadt Berlin im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages. So habe die SED-Führung mitnichten ihren Plan einer Herauslösung West-Berlins aus seiner Bindung an die Bundesrepublik aufgegeben. Behinderungen des Warenverkehrs nach West-Berlin durch die Führung in Ost-Berlin seien mit Sicherheit nicht ohne Billigung durch die sowjetische Vormacht erfolgt.151 Zudem wurde in dem Schreiben vor den „politischen Träumer[n]“ gewarnt, die eine Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung befürworteten.152 Im April 1971 fand in Berlin anlässlich des 25. Jahrestages der SPD / KPDZwangsvereinigung zur SED ein deutschlandpolitisches Seminar des Schumacher-Kreises mit rund 40 Teilnehmern aus der mittleren Funktionärsschicht der SPD statt. In Berlin betonten die abtrünnigen Sozialdemokraten, die ja überwiegend sowohl unter Hitler als auch unter Ulbricht in Zuchthäusern gesessen hatten, dass es „keinerlei ideologische Koexistenz“ zwischen dem System der Bundesrepublik und dem System der DDR geben könne. Den Vorwurf, sie seien „kalte Krieger“, wiesen die Teilnehmer des Seminars zurück. Die Ostpolitik verfolgten sie demnach wohlwollend, jedoch „ohne Euphorie“.153 Am 5. Februar 1975 richtete der Schumacher-Kreis einen Brief, der vom damals noch amtierenden Leiter der Berliner Außenstelle des innerdeutschen Ministeriums, Hermann Kreutzer, unterzeichnet war, an den SPD-Parteivorstand. Inhalt war die Klage über eine fortschreitende „Verleumdung“ der ehemaligen Mitglieder des SPD-Ostbüros sowie der ehemaligen sozialde150 Vgl.
ebd. den Brief von Wilhelm van Ackern und Willi Weber an die Mitglieder des Kurt-Schumacher-Kreises vom 10. Dezember 1970, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 589, Bl. 032. 152 Vgl. ebd., Bl. 033. 153 Vgl. „Kritik an Bonn aus dem Kurt-Schumacher-Kreis“, in: Berliner Morgenpost vom 3. April 1971. 151 Vgl.
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mokratischen DDR-Häftlinge in den eigenen Reihen. Diese würden, so die Vorwürfe, „als reaktionäre Elemente, als Störenfriede der Entspannung, als Feinde des Sozialismus bezeichnet“. Vom Parteivorstand wurde Widerspruch gegen diese Tendenzen gefordert. Diese Anwürfe hatten dann zur Folge, dass es zu „internen Auseinandersetzungen“ zwischen dem SchumacherKreis und der SPD-Parteispitze kam.154 Im April 1977 forderte der Schumacher-Kreis eine stärkere Verbindung zwischen der Entspannungs- und der Menschenrechtspolitik. So wollte man die Verbesserung der Kommunikation zwischen beiden deutschen Staaten, den Erhalt Berlins als „Herzstück der Nation“, die „Verwirklichung der Menschenrechte“ für jeden Deutschen sowie die Ausrichtung der Deutschlandpolitik im Sinne eben dieser Menschenrechte erreichen. Vertragliche Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR sollten nach Ansicht des Schumacher-Kreises an die Verwirklichung der Menschenrechte geknüpft werden.155 b) „Störung der Entspannung“?156 – Hermann Kreutzers Ausschluss aus der SPD Im Jahr 1979 nahmen die Konflikte des Schumacher-Kreises mit der SPD zu. Was war geschehen? Kreutzer sorgte mit seinem öffentlich gemachten Vorwurf, in der Bundesrepublik seien 12.000 östliche Agenten unterwegs, davon 1500 allein in seiner Partei, für einigen medialen Wirbel. Diese Personen würden, so meinte der Vorsitzende des Schumacher-Kreises, diskret im Sinne der Sowjetunion und der DDR versuchen, die Politik in der Bundesrepublik in ihrem Sinne zu beeinflussen.157 Dieser Konflikt läutete das endgültige Ende seiner Karriere in der deutschen Sozialdemokratie sowie seiner Tätigkeit im innerdeutschen Ministerium ein. Bereits drei Jahre zuvor, 1976, hatte Kreutzer eine Debatte um die Vergangenheit des ehemaligen DDR-Unterhändlers in der deutsch-deutschen Vertragsphase und amtieren154 „Klage
des Schumacher-Kreises“, in: Die Welt vom 27. Mai 1975. „Vereinbarungen mit der DDR an die Menschenrechte binden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. April 1977. 156 Vorwurf des Ortsvereins SPD-Charlottenburg an Hermann Kreutzer, in: Hermann Kreutzer, Deutschland für Freiheit, S. 266. 157 Vgl. Anton Andreas Guha, „Einflußagenten in der SPD“. Schumacher-Kreis macht 12000 DDR-Interessenvertreter aus, in: Frankfurter Rundschau vom 16. März 1979. Zum Komplex des Einflusses des DDR-Staatssicherheitsdienstes in der Bundesrepublik siehe Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Taschenbuchausgabe, München 2001; ders., Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, Berlin / München 2001; Sven Felix Kellerhoff, Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex, Hamburg 2010. 155 Vgl.
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den Ständigen Vertreters der DDR in der Bundesrepublik, Michael Kohl, ausgelöst. Diese Auseinandersetzung hatte seine Stellung in der Partei und im Ministerium bereits stark geschwächt. Kreutzer hatte damals Kohl in einem Brief bezichtigt, als Student an der Universität Jena Ende der 1940er Jahre sozialdemokratische Kommilitonen an den sowjetischen Geheimdienst verraten zu haben. Bereits im Jahre 1973 hatte Kreutzer nach eigenen Aussagen Egon Bahr über die angebliche Vergangenheit Kohls informiert; 1975 sei dann Bundeskanzler Helmut Schmidt in Kenntnis gesetzt worden. Ebenfalls seien der Parteivorsitzende Willy Brandt und der Vorsitzende der SPDBundestagsfraktion, Herbert Wehner, von Kreutzer über die Vergangenheit des Ständigen Vertreters informiert worden. Durch eine von Kreutzer vermutete Indiskretion im SPD-Parteivorstand sei die Sache 1977 publik geworden. In der SPD reagierte man auf die Hinweise Kreutzers dessen Erinnerungen zufolge zwischen „Um Gottes Willen, wenn das rauskommt“ (Helmut Schmidt) und „entsetzt“ (Egon Bahr).158 Wie reagierte man im innerdeutschen Ministerium auf Kreutzers Mutmaßungen? Hier wurde Kreutzer vorgeworfen, auf das im Beamtenrecht verankerte „Zurückhaltungsgebot“ verstoßen zu haben. Zudem sollte der Ministerialdirektor auch noch gegen eine Weisung des Ministers Franke verstoßen haben, die man als „Verletzung der Gehorsamspflicht“ Kreutzers interpretierte.159 In seinen Erinnerungen war sich Kreutzer bewusst, dass er mit seinen Ende der 1970er Jahre getätigten Äußerungen über eine mögliche StasiTätigkeit bundesdeutscher Personen des öffentlichen Lebens in ein Wespennest gestochen hatte: „In der SPD gab es zu diesem Artikel einen Sturm der Entrüstung. Mich wunderte das nicht, denn erstens wehrten sich die tatsächlichen Einflussagenten mit zur Schau getragenen Entrüstung gegen meine Enthüllungen und zweitens fürchteten alle die Linken, die in Teilfragen mit der Politik der SED und der Sowjets übereinstimmten und sich dafür einsetzten, dass sie als ‚Einflussagent‘ bezeichnet werden könnten.“160
Sein Berliner Ortsverein, die SPD-Charlottenburg, sowie der Landesverband Berlin leiteten in der Konsequenz ein Parteiverfahren gegen Kreutzer 158 Vgl. dazu „Kreutzer will sich äußern dürfen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Juli 1980. 159 Vgl. Heinz Vielain, Dienstrecht soll Kreutzer zum Schweigen bringen, in: Die Welt vom 18. April 1980. Der Petitionsausschuss des Bundestages kritisierte Franke später für sein Verhalten Kreutzer gegenüber, da er diesen vor seiner Abmahnung, die Kreutzer ja als „Maulkorb“ bezeichnet hatte, nicht vom Minister angehört worden war. Jedoch stimmte der Ausschuss der Entscheidung Frankes in der Sache zu. Vgl. Manfred Schell, Fall Kreutzer: Petitionsausschuß rügt Franke, in: Die Welt vom 30. Juni 1981. 160 Kreutzer, In Deutschland für Freiheit, S. 265.
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ein. Kreutzer wurde in diesem Verfahren bezichtigt, „die Entspannung gestört zu haben.“161 Auch der innerdeutsche Minister Franke reagierte auf die vermeintlichen Unbotmäßigkeiten seines Berliner Noch-Mitarbeiters und Noch-Parteifreundes empört. Allerdings wurde das Verfahren zugunsten des Beklagten eingestellt, da Franke vom Verfassungsschutz die Richtigkeit der Äußerungen Kreutzers bedeutet wurden, wie er sich erinnerte.162 Wie verarbeitete Kreutzer die Vorwürfe? Die Querelen um seine Haltung zur sozialliberalen Deutschlandpolitik bedeuteten für ihn eine zunehmende Belastung: „Die zehn Jahre als Leiter der Berlin-Abteilung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen waren für mich seelisch schwerer zu ertragen als die gewiss nicht leichten Jahre politischer Haft bei den Kommunisten.“163
Letztlich wurde Kreutzer am 31. Juli 1980 von Franke beurlaubt. Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte ein Schreiben Kreutzers an Bundestagspräsident Richard Stücklen (CSU) wenige Tage zuvor, in dem er sich über den von Minister Franke ihm gegenüber verhängten „Maulkorb“ beschwert hatte.164 Ende Oktober 1980 wurde Kreutzer von Franke in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Diese Entscheidung wurde von der oppositionellen CDU / CSU-Bundestagsfraktion scharf kritisiert.165 Dem Druck nachzugeben und „einfach so“ aus der SPD auszutreten, kam für Kreutzer aber nicht in Frage. Im Rahmen des Wahlkampfes zu den Berliner Abgeordnetenhauswahlen 1981 unterstützten Kreutzer und der Schumacher-Kreis den siegreichen Bürgermeister-Kandidaten der CDU, Richard von Weizsäcker. Die Berliner SPD war nach Ansicht Kreutzers und seiner Unterstützer inzwischen zu sehr auf „Moskau-Kurs“ und zu sehr „zu Gunsten von Chaoten und Hausbesetzern“ engagiert. Nach den Wahlen erfolgte der Ausschluss Hermann Kreutzers aus der SPD. Die Zeit eingerechnet, als er 1932 als Kind Flugblätter für die Sozialdemokratie verteilt hatte, gingen damit 50 Jahre Engagement für die SPD zu Ende.166 161 Ebd., 162 Vgl.
163 Ebd.
S. 266. ebd.
164 Vgl. „ ‚Man kann mir doch keinen Maulkorb verpassen‘. Der Berliner Ministerialdirektor Kreutzer will jetzt einen jahrelangen Streit klären lassen“, in: Hannoversche Allgemeine vom 1. August 1980. 165 Vgl. „Kreutzer nach Konflikt mit Franke im einstweiligen Ruhestand“, in: Der Tagesspiegel vom 31. Oktober 1980. 166 Vgl. Kreutzer, In Deutschland für Freiheit, S. 266–268. Der Aufruf des Schumacher-Kreises kostete der SPD in Berlin 3 % Wählerstimmen. Siehe dazu KurtSchumacher-Kreis, Statement über den Kurt-Schumacher-Kreis anläßlich seines 20jährigen Bestehens, Dezember 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 022.
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c) Gegen sozialdemokratische „Nebenaußenpolitik“167 – Der Schumacher-Kreis in den 1980er Jahren Die Übernahme der Regierungsverantwortung durch Helmut Kohl im Jahre 1982 verknüpfte Kreutzer mit Hoffnungen auf eine Veränderung des deutschlandpolitischen Kurses. Insbesondere erhoffte er sich eine verstärkte Beachtung der Rechtspositionen in der Deutschlandpolitik, namentlich des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 1973. Seiner ehemaligen Partei empfahl der Zwangs-Ruheständler eine Rückkehr zu den Vorstellungen eines freien und demokratischen Berlins (und somit für Gesamtdeutschland) im Sinne der Politik Kurt Schumachers.168 Die politische Praxis der sozialdemokratischen „Nebenaußenpolitik“ konnte von den Mitgliedern des Schumacher-Kreises keine Unterstützung finden. In den Jahren 1982 und 1983 kam es zu wiederholten Auseinandersetzungen des Schumacher-Kreises mit der SPD wegen ihres neuen deutschlandpolitischen Kurs in der Opposition, den die Mitglieder des SchumacherKreises als „Abkehr vom westlichen Bündnis“ interpretierten. Zwei Jahre später, 1985, rief der Schumacher-Kreis bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus erneut zur Stimmabgabe für die CDU auf. Dass die SPD mit 32 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis eingefahren hatte, schrieben sich die Kritiker der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik als Erfolg ihres Aufrufes auf die Fahnen.169 In einem „Offenen Brief“ an das Politbüro der SED vom 18. April 1986 erinnerte der Kurt-Schumacher-Kreis an den 40. Jahrestag der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED. Darin bewerteten sie diese als „Vergewaltigung der sozialdemokratischen Mitgliedschaft“, die von Moskau gesteuert worden sei. Im Zuge der Vereinigung sei vor Einschüchterungen, Verhaftungen und Mord nicht zurückgeschreckt worden.170 Vom Politbüro forderten die Mitglieder des Schumacher-Kreises eine Verurteilung der damaligen Verbrechen an den Sozialdemokraten durch das SED-Politbüro, die „Wiedergutmachung für das an Sozialdemokraten begangene Unrecht“, in dessen Folge alle politischen Gefangenen in der DDR freizulassen seien, 167 Siehe
von Ditfurth, Angst vor den Akten, S. 58. Hermann Kreutzer, Deutschlandpolitik der SPD total gescheitert (Leserbrief), in: Berliner Morgenpost vom 17. Oktober 1982. 169 Vgl. Kurt-Schumacher-Kreis, Statement über den Kurt-Schumacher-Kreis anläßlich seines 20jährigen Bestehens, Dezember 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 022. 170 Vgl. „Offener Brief“ [des Kurt-Schumacher-Kreises] an das Polit-Büro des Zentralkomitees der SED vom 18. April 1986, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 589, Bl. 070. 168 Vgl.
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und eine Entschädigung für die in DDR-Gefängnissen sowie in „sibirischen Kohlegruben“ (Workuta) geleistete Zwangsarbeit.171 Gerade in Zeiten, in denen die SPD mit der SED eine ausgiebige „Dialogpolitik“ betrieb, musste dieser Brief im scheinbar entspannten Osten und Westen Deutschlands auf Unverständnis stoßen. Von den Mahnungen, den Frieden in Europa nicht zu gefährden, ließen sich die Mitglieder des Schumacher-Kreises aber nicht beirren. Der Kurt-Schumacher-Kreis beschäftigte sich in den 1980er Jahren allerdings nicht nur mit Menschenrechtsfragen. Vielmehr forderte man von der Bundesregierung eine proaktive Wiedervereinigungspolitik ein. Hiermit wandte sich der Schumacher-Kreis gegen den auch in der Kohl-Ära vorherrschenden entspannungsorientierten deutschlandpolitischen Zeitgeist. Dies machten die 1987 beschlossenen „Frankfurter Thesen“172 deutlich: Dort bezog sich der Kreis im achten Punkt explizit auf das Selbstbestimmungsrecht und erklärte: „Wir fordern eine Deutschlandpolitik, die entsprechend der Präambel unseres Grundgesetzes als Ausgang und Ziel die Einheit Deutschlands anstrebt.“173 Weiterhin forderte der Schumacher-Kreis – offenbar argumentativ angelehnt an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundlagenvertrag von 1973 – „eine […] Strategie, die immer wieder aktiv Anlässe schafft, schrittweise dem Ziel [der Wiedervereinigung; L. H.] näher zu kommen und jeden Schritt vermeidet, der dieses Ziel gefährden könnte.“174 Neben einer Absage an Honeckers „Geraer Forderungen“ wurde insbesondere einer Abtrennung Berlins von der Bundesrepublik widersprochen. Die kurz vor der Bundestagswahl 1987 erstellten „Frankfurter Thesen“ warnten zudem vor einer Stimmabgabe „verantwortungsbewußter Bürger“ zugunsten der SPD, der vorgeworfen wurde, die Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik zu gefährden: „Es geht nicht um die Partei, es geht um Deutschland in Freiheit.“175 Positiv gewendet bedeutete dies faktisch, dass für die Aktivisten des Schumacher-Kreises die nationale Frage einen höheren Stellenwert als Parteibeschlüsse einnahm. Deutlicher konnte in den 1980er Jahren eine Kritik an der sozialdemokratischen „Nebenaußenpolitik“ kaum formuliert werden. Hatte sich Kreutzer nun vom dissidenten Sozialdemokraten zum Christdemokraten entwickelt? Vermutlich nicht, wie ein Gespräch mit der „Berliner Morgenpost“ im August 1987 anlässlich des Honecker-Besuchs in der 171 Vgl.
ebd., Bl. 073.
172 Kurt-Schumacher-Kreis,
– ZKG 16672, Bl. 255–257. 173 Ebd., Bl. 256. 174 Ebd., Bl. 256–257. 175 Ebd., Bl. 257.
Frankfurter Thesen, o. D. [1987], in: BStU, ZA, MfS
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Bundesrepublik offenbarte. Kreutzer warf der christlich-liberalen Bundesregierung vor, ihre in Oppositionszeiten vertretenen Positionen seit der Regierungsübernahme nicht mehr zu verfolgen. Diese von Kreutzer festgestellte falsche Richtung in der regierungsamtlichen Deutschlandpolitik gipfelte in seiner Vermutung, dass die Bundesregierung quasi ahnungslos mit den OstBerlinern Machthabern verkehre.176 Ein Jahr später, 1988, veröffentlichte der Kurt-Schumacher-Kreis seine „Forderungen nach gemeinsamen Offensiven in der Deutschlandpolitik“, die an die Parteivorstände und Redaktionen der Zeitungen in Westdeutschland gerichtet waren.177 Darin appellierte man als „Vereinigung von Menschen, die für Freiheit und Demokratie in Deutschland große Opfer an Freiheit und Gesundheit erbracht haben“178, für mehr Mut und Offensivkraft in der Auseinandersetzung mit den Vertretern der SED-Diktatur. Der Forderungskatalog des Schumacher-Kreises umfasste insgesamt fünf Punkte. Als erster Punkt wurde eine Einigung auf eine Generallinie für die „geistig-politische Auseinandersetzung“ mit Ost-Berlin genannt. Damit zusammenhängend gab man den Rat, in der Auseinandersetzung mit den SED-Genossen „nicht mehr immer nur […] [zu] reagieren“, vielmehr sei die „Auseinandersetzung offensiv“ zu führen. Als dritte Forderung wurde das unmissverständliche Eintreten für die Menschenrechte in der DDR genannt. So solle sich jeder politisch Handelnde oder journalistisch Arbeitende fragen, ob er sich in ausreichender Form für die Menschenrechte in der DDR, also für die eigenen Landsleute, einsetze. Viertens empfahlen die Mitglieder des Schumacher-Kreises den Charakter der SED-Diktatur „ungeschminkt“ bekannt zu machen. Fünftens empfahl man die uneingeschränkte Solidarität mit den Landsleuten in der DDR, wollte diesen so die moralische Unterstützung bei ihrem Kampf gegen das Unrechtssystem in der DDR signalisieren. Zudem sollte man auch den aus der DDR geflüchteten bzw. übergesiedelten Deutschen Hilfe zukommen lassen.179 Eine geplante Reise im Mai 1988 von rund 100 Berliner Sozialdemokraten an die „Stätten der deutschen Arbeiterbewegung“ in Thüringen nahmen die Mitglieder des Schumacher-Kreises zum Anlass, den Landesvorstand und die Kreisvorstände der Berliner SPD an das Unrecht, das den Sozialdemokraten in der SBZ, insbesondere in Thüringen, angetan wurde, zu erinnern. So solle man sich beispielsweise nicht nur das Konzentrationslager in 176 Vgl. „Hermann Kreutzer warnt Politiker vor Euphorie zum Honecker-Besuch“, in: Berliner Morgenpost vom 2. August 1987. 177 Vgl. Kurt-Schumacher-Kreis, Forderungen nach gemeinsamen Offensiven in der Deutschlandpolitik, o. D. [ca. 1988], in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 023. 178 Ebd. 179 Vgl. ebd.
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Buchenwald zeigen lassen, sondern auch das (sowjetisch geführte) Untersuchungsgefängnis des ehemaligen Landgerichts in Weimar besuchen, in dem viele sozialdemokratische Gegner der Zwangsvereinigung von KPD und SPD eingesessen hatten.180 Zudem schrieben die beiden Vorstandsmitglieder des Schumacher-Kreises, Heinz Gerull und Hermann Kreutzer, im Sommer desselben Jahres einen Brief an den sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow, in dem der KPdSU-Führer gebeten wurde, sich für eine Rehabilitierung der in der Stalin-Zeit aus der SBZ in die UdSSR verschleppten Deutschen einzusetzen.181 Bemerkenswert war auch die Initiative im Jahr 1988, während der Hochzeit von Glasnost und Perestroika, finanzielle (1000 DM) und ideelle Unterstützung für die Errichtung eines in Tschita / Sibirien geplanten Denkmals für die Opfer des Stalinismus anzubieten. Pikanterweise war der Bau dieses Denkmals vom KGB und den Komsomolzen initiiert worden. Die Mitglieder des Schumacher-Kreises ließen sich davon nicht abschrecken, machten sie aus ihrer Unterstützung doch quasi einen praktischen „Glasnost-Test“.182 Im Jahre 1988 betätigte sich der Schumacher-Kreis weiterhin auch innenpolitisch. Im Juni schlugen die Mitglieder des Kreises dem Landesvorstand der Berliner SPD vor, angesichts ihrer „peinlichen Anbiederungsversuche“ an die SED-Führung die sozialdemokratische Parteizentrale in Berlin von „Kurt-Schumacher-Haus“ in „Otto-Grotewohl-Haus“ umzubenennen.183 Eine Antwort der Berliner Landesführung auf dieses Schreiben des Schuma180 Vgl.
1988.
„Mahnbrief vom Schumacher-Kreis“, in: Welt am Sonntag vom 8. Mai
181 Vgl. Brief von Heinz Gerull und Hermann Kreutzer an Michail Gorbatschow, Mai 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 589, Bl. 088. Vgl. auch „KurtSchumacher-Kreis appelliert an Gorbatschow“, in: Der Tagesspiegel vom 20. Mai 1988. In diesem Zusammenhang erging auch eine Spende über 1000 DM für ein Mahnmal für die Opfer stalinistischer Gewaltherrschaft in Tschita / UdSSR. Vgl. dazu „Tausend Mark aus West-Berlin nach Tschita“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. August 1988. 182 Vgl. Kurt-Schumacher-Kreis, Statement über den Kurt-Schumacher-Kreis anläßlich seines 20jährigen Bestehens, Dezember 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 022; vgl. auch den Brief des Kurt-Schumacher-Kreises an die Redaktion der sowjetischen Zeitung „Komsomolez Sabailkalja“ in Tschita / Sibirien vom 28. Juli 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 024. Über die Mahnmal-Aktion des Schumacher-Kreises berichtete auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Siehe dazu Ralf Georg Reuth, Ein Mahnmal für die Opfer Stalins, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Januar 1989. 183 Vgl. den Brief von Heinz Gerull und Hermann Kreutzer an den Landesvorstand der SPD Berlin vom 23. Juni 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 589, Bl. 093.
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cher-Kreises ist nicht überliefert. Im Dezember beklagten die opponierenden Sozialdemokraten zudem den schlechten baulichen Zustand eines Denkmals für Kurt Schumacher in Berlin-Reinickendorf. Die Aktivisten des Kreises säuberten das Denkmal von umliegendem Schmutz, erhielten dafür aber keine Anerkennung von der Berliner SPD. Entrüstet hieß es auf einem Flugblatt: „Der Vorgang [um das verwahrloste Schumacher-Memorial; L. H.] dokumentiert, wie sehr sich diese SPD von ihrem einstigen Vorsitzenden Kurt Schumacher distanziert; […]. ‚Abtrünnige‘ werden in dieser Partei ignoriert und mit Verachtung gestraft, selbst wenn sie für die SPD beschämende Hilfe leisten … Der Kranz des Kurt-Schumacher-Kreises war übrigens das einzige Zeichen des Gedenkens an einen bedeutenden sozialdemokratischen Politiker.“184
Auch im Jahr der Friedlichen Revolution war man im Schumacher-Kreis weiterhin politisch aktiv. Im Januar 1989 schrieb man einen Brief an verschiedene Schulen in der DDR. Darin erinnerten sie die Lehrer unter Berufung auf Gorbatschow an eine Erziehung zum Miteinander der kapitalistischen und der sozialistischen Welt, in der künftig „Haß und Klassenfeindschaft“ keinen Platz haben sollten. Die beiden Unterzeichner, Kreutzer und Gerull, empfahlen der DDR das „Neue Denken“ aus der Sowjetunion zu übernehmen, da sie ansonsten leicht den Anschluss an „bessere Verhältnisse“ verlieren könnte.185 Abschließend hieß es in diesem an die Lehrer gerichteten Brief, neun Monate vor dem Fall der Berliner Mauer: „Denken Sie bitte einmal darüber nach, wenn Sie vor ihren Schülern stehen. Menschlichkeit war schon immer besser, als antiquierte und menschenverachtende Richtlinien.“186 Über die Aktion war die SED-Führung bereits im Vorfeld informiert worden. Spitzel der Staatssicherheit hatten bereits eine Vorstandssitzung des Schumacher-Kreises am 5. Januar 1989 abschöpfen können, auf der das Vorgehen der Brief-Aktion besprochen worden war.187 Wenige Tage nach dem Brief an verschiedene Schulen in der DDR, schrieben die Vorstandsmitglieder des Schumacher-Kreises am 18. Januar 1989 einen „Offenen Brief“, der die Rehabilitierung der Opfer stalinistischer Verfolgung forderte. Dieses Schreiben richteten die Unterzeichner Kreutzer und Gerull an das Politbüro der SED, den Staatsrat sowie an den 184 Flugblatt des Kurt-Schumacher-Kreises, o. D. [ca. Dezember 1988], in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 589, Bl. 115. 185 Kurt-Schumacher-Kreis, Brief an das Lehrerkollegium der Polytechnischen Oberschule vom 9. Januar 1989, in: BStU, Ast. Potsdam, BVfS – Potsdam, AKG 638, Bl. 009. 186 Ebd. 187 Vgl. den MfS-Bericht: Vorstandssitzung Kurt-Schumacher-Kreis e. V. am 5.1.1989, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 028–029.
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Ministerrat der DDR.188 Wie schon 1971 und 1986 wiesen die Mitglieder des Schumacher-Kreises die Spitzen des SED-Staates auf die Verfolgung der Sozialdemokraten vor und nach der Zwangsvereinigung mit der KPD hin. Vorbild für die Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen, wozu Kreutzer und Gerull auch die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zählten, sei (im sozialistischen Lager) die Sowjetunion: „Das neue sowjetische Rechts- und Demokratieempfinden weist hierfür den Weg zur Wahrheit.“189 Letztlich hatte das MfS Erfolg bei der eingeleiteten „Fahndungsmaßnahme“, wie die Überwachung in der Stasi-Akte vermeintlich neutral betitelt wurde. Beide Schreiben des Schumacher-Kreises konnten abgefangen werden. Über den Brief zur Vergangenheitsbewältigung vom 18. Januar 1989 hieß es in einem „Operativen Hinweis“ vom 2. Februar 1989: „Es konnten insgesamt 140 Sendungen erarbeitet werden, die, mit Ausnahme der an das Politbüro, den Staatsrat und den Ministerrat gerichteten Schreiben, von der Weiterbeförderung ausgeschlossen werden.“190 Von den Schreiben an die Lehrerkollegien der Polytechnischen Oberschulen in der DDR stellte das MfS insgesamt „168 Materialien“ sicher.191 In der Konsequenz wurden vom MfS am 8. März 1989 „Fahndungsmaßnahmen zu Briefsendungen“ mit dem Absender des Kurt-Schumacher-Kreises angeordnet. „Alle Briefsendungen“ waren zu konfiszieren und letztlich der HA XX / 5, der Schaltstelle im MfS für die „Aufklärung“ der „politisch-ideologischen Diver sion“, zu übermitteln.192
188 Kurt-Schumacher-Kreis, Aufruf zur Vergangenheitsbewältigung, zur Rehabilitierung der Opfer stalinistischer Verfolgungsmaßnahmen und zur historischen Wahrheit in der DDR vom 18. Januar 1989, in: BStU, Ast. Potsdam, BVfS – Potsdam, AKG 638, Bl. 015. Dieser Brief wurde zur Kenntnisnahme auch an die Vorstände und Bezirksleitungen der SED, der CDU, der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands, der Bauernpartei, der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds, der FDJ, des Frauenbunds, der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und dem Kulturbund geschickt. Vgl. BStU, Ast. Potsdam, BVfS – Potsdam, AKG 638, Bl. 013. 189 Kurt-Schumacher-Kreis, Aufruf zur Vergangenheitsbewältigung, zur Rehabilitierung der Opfer stalinistischer Verfolgungsmaßnahmen und zur historischen Wahrheit in der DDR vom 18. Januar 1989, in: BStU, Ast. Potsdam, BVfS – Potsdam, AKG 638, Bl. 018. 190 Operativer Hinweis vom 2. Februar 1989, in: BStU, ZA, MfS – HA XX / AKG 7257, Bl. 166. 191 Vgl. ebd. 192 Vgl. Hauptabteilung XX, Fahndungsmaßnahmen zu Briefsendungen des „Kurt-Schumacher-Kreises“ vom 8. März 1989, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 192, Bl. 032.
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4. Die Beobachtung Hermann Kreutzers und des Kurt-Schumacher-Kreises durch das MfS Schon seit seiner Gründung im Jahre 1968 stieß der Kurt-SchumacherKreis auf hohes Interesse des MfS.193 Im Februar 1970 erstellte das MfS einen „Zusammenfassende[n] Bericht über den ‚Kurt-Schumacher-Kreis‘ “, der auf Informationen eines IM „Nielsen“ beruhte.194 „Nielsen“ konnte so auch nach Ost-Berlin berichten, dass der Schumacher-Kreis beabsichtigte, „direkt in die DDR“ zu wirken. Zudem soll Hermann Kreutzer vor einer Beeinflussung der Jugend in West-Berlin durch die SED-Propaganda gewarnt haben.195 Dies waren wichtige Hinweise für Mielkes Männer, um den Kreis weiter zu beobachten. In einer „Kurzeinschätzung über Hermann Kreutzer“ vom 30. Dezember 1972, erstellt mitten in der Hochphase der deutsch-deutschen Vertragsvereinbarungen, wurde Kreutzer als „Mitbegründer des ‚Kurt-Schumacher-Kreises‘ “ bezeichnet, welcher – so die Stasi-Interpretation – eine „Vereinigung besonders rechts-stehender sozialdemokratischer Funktionäre“ sei.196 Um eben genau diese Kreise ging es Ost-Berlin. Diese, so könnte man hinzufügen, stellten nach MfS-Logik die regierungsamtlichen Entspannungsbemühungen in Frage bzw. könnten diese stören. Beruflich wurde Kreutzer in diesem Dossier vom MfS ein Niedergang vorausgesagt. So habe das BMB dem Wunsch Kreutzers, von Bonn nach Berlin versetzt zu werden, „sofort zugestimmt“. Auch von Egon Bahr, Willy Brandts Staatssekretär im Bundeskanzleramt, würde Kreutzer „immer mehr geschnitten“.197 Die eigentliche Gefahr ging somit aus Sicht des MfS von seinen Positionen in deutschlandpolitischen Fragen aus. Nicht nur wurde Kreutzers „ausgesprochen antikommunistische und hetzerische“ Einstellung gegenüber der DDR angesprochen, zudem störte sich die Staatssicherheit an der von ihm vertretenen kritischen Position gegenüber der sozialliberalen Ost- und Deutschlandpolitik.198 193 Vgl. Hauptabteilung XX, Information zum Kurt-Schumacher-Kreis vom 23. September 1968, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 589, Bl. 004–005; vgl. Hauptabteilung XX, Information Nr. 566 / 68, Tätigkeit des „Kurt-Schumacher-Kreises“ vom 9. Dezember 1968, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 589, Bl. 015–018A. 194 Hauptabteilung XX / 5, Zusammenfassender Bericht über den „Kurt-Schumacher-Kreis“ auf der Grundlage der durch den IM „Nielsen“ erarbeiteten Informationen vom 26. Februar 1970, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 589, Bl. 022–027. 195 Vgl. ebd., Bl. 025. 196 Vgl. die Kurzeinschätzung über Hermann Kreutzer, Leiter der Abteilung III des Bundesministeriums für „innerdeutsche“ Beziehungen in Westberlin vom 30. Dezember 1972, in: BStU, ZA, MfS – ZAIG 24152, Bl. 005. 197 Vgl. ebd. 198 Vgl. ebd., Bl. 006.
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In den 1980er Jahren wurde Kreutzer vom MfS als „Straußfreund“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang wurde ebenfalls das „unbedingte Eintreten für die CDU“ des ehemaligen Sozialdemokraten registriert.199 Das MfS selbst bewertete den Januar-Aufruf 1989 an die SED-Führung und die Schreiben des Schumacher-Kreises an die Schulen als „übles Machwerk“. Zudem wurden diese Briefe als „insbesondere im Hinblick auf [die im Mai 1989 in der DDR anstehende; L. H.] Kommunalwahl sehr zu beachtende Aktivitäten“ eingeschätzt.200 War der Gedanke an die deutsche Einheit in der Sozialdemokratie während ihrer Regierungszeit und vor allem in der sich anschließenden Oppositionsphase schwächer geworden, so stand es in der FDP, ihrem (früheren) Regierungspartner, um die Idee der Wiedervereinigung nicht viel besser.
III. Selbstbestimmungsrecht und Sicherheitspolitik: Der Liberale Detlef Kühn 1. Entwicklungslinien liberaler Deutschlandpolitik Auch in der FDP wandelte sich der Stellenwert der deutschen Wiedervereinigung. Gingen die Liberalen bei ihrer Gründung von einem operativ unbedingt zu erreichenden positiven politischen Ziel aus, so lavierte man seit Mitte der 1970er Jahre mit eher nebulösen entspannungsorientierten Begriffen (z. B. „Friedenspolitik“). Hier setzte in den 1970er und 1980er Jahren der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts, Detlef Kühn, an, dem seine eigene Partei in deutschlandpolitischen Fragen zunehmend fremd geworden war. Zu den liberalen Anfängen in der Deutschlandpolitik: Die FDP der 1950er Jahre verfocht eine betont nationale Position in der Deutschlandpolitik. Für die Liberalen war – anders als für die CDU unter Adenauer, welche die Westbindung der Wiedervereinigung überordnete – die Überwindung der deutschen Teilung das Hauptziel ihrer Politik.201 Hierzu zwei Beispiele: In ihrem „Berliner Programm“ von 1957 bekannte sich die FDP unmissverständlich zur Wiedervereinigung Deutschlands: 199 Vgl. Information über das Auftreten des Hermann Kreutzer in einer Veranstaltung der „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“, Landesverband Westberlin vom 22. Dezember 1983, in: BStU, ZA, MfS – HA XX / ZMA 2470, Bl. 119–120. 200 Aktivitäten des „Kurt-Schumacher-Kreises“ WB [West-Berlin], o. D. [Januar 1989], handschriftl., in: BStU, Ast. Potsdam, BVfS – Potsdam, AKG 638, Bl. 019– 020. 201 Vgl. Michael Schmidt, Die FDP und die deutsche Frage 1949–1990, Hamburg 1995, S. 222.
III. Selbstbestimmungsrecht und Sicherheitspolitik113 „Die friedliche Wiedervereinigung mit Mitteldeutschland und den ostdeutschen Gebieten in einem Deutschen Reich mit freiheitlicher Ordnung ist unser oberstes Ziel. Alle innen- und außenpolitischen Anstrengungen müssen in erster Linie der Erreichung dieses Zieles dienen.“202
Um dieses Ziel zu erreichen, forderte die FDP die Deutschen auf, „durch klare und unermüdliche Willensbekundungen“ die Teilung zu überwinden. Die Wiedervereinigung mit dem Saarland sei hierfür ein gutes Beispiel. Zudem empfahl das Programm Kontaktaufnahmen zu den Menschen in der DDR, um ihnen moralisch beizustehen.203 In dieselbe Richtung wies das „Aktionsprogramm“, mit dem die Partei 1957 in den Bundestagswahlkampf zog. Hier stand die Forderung nach der Wiedervereinigung Deutschlands an erster Stelle, als es hieß: „Die Wiedervereinigung, mit Berlin als Deutschlands Hauptstadt, muß oberstes Ziel des Bundestages und jeder deutschen Regierung sein.“204 Um diese Ziele zu erreichen wurden u. a. eine „gemeinsame Außenpolitik aller Parteien“, eine „Politik der Entspannung unter Wahrung der Vertragstreue“ sowie „[i]ntensive Bemühungen“ für die Unterstützung der Welt für die Wiedervereinigung Deutschlands gefordert.205 Zwar unterstützte die FDP im Prinzip Adenauers Westbindungspolitik, aber schon relativ früh, im Jahre 1952, während der Verhandlungen über den EVG-Vertrag, schlug der Bundestagsabgeordnete Karl Georg Pfleiderer eine Politik des Ausgleichs zwischen Ost und West vor. Diese Konzeption, die an Überlegungen Gustav Stresemanns aus den 1920er Jahren anknüpfte, sah Deutschland als Mitte in einem Kräftefeld aus Ost und West. Freie Wahlen als Vorbedingung für Verhandlungen mit der Sowjetunion lehnte Pfleiderer ab, da er davon ausging, dass diese niemals solchen zustimmen würde. In ihrem Deutschlandplan von 1959 griff die FDP Pfleiderers Gedanken auf, indem hier das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion berücksichtigt wurde.206 Als Vertreter einer nationalliberal orientierten FDP ist ebenfalls Thomas Dehler zu erwähnen. Während seiner Amtszeit als Justiz202 Freie Demokratische Partei, Berliner Programm 1957. Beschlossen vom 8. Bundesparteitag am 26. Januar 1957 in Berlin, in: Peter Juling, Programmatische Entwicklung der FDP 1946 bis 1969. Einführung und Dokumente, Meisenheim am Glan 1977, S. 145–154, hier S. 154. 203 Vgl. ebd. 204 Freie Demokratische Partei, Aktionsprogramm 1957. Verkündet auf dem Wahlkongreß am 5. Juni 1957 in Hamburg, in: Peter Juling, Programmatische Entwicklung der FDP 1946 bis 1969. Einführung und Dokumente, Meisenheim am Glan 1977, S. 155–158, hier S. 155. 205 Ebd. 206 Vgl. Michael Schmidt, Die FDP und die deutsche Frage 1949–1990, S. 222– 223. Zu Pfleiderer siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 85–93.
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minister unter Adenauer unterstützte er zwar dessen „Politik der Stärke“, eine Position, die er bis Mitte der 1950er Jahre, während seiner Zeit als Fraktions- und Bundesvorsitzender der Freien Demokraten, zunehmend in Frage stellte. Dehler wandelte sich zum Entspannungspolitiker, der die Sicherheitsinteressen Moskaus bei der Lösung der Deutschen Frage berücksichtigt sehen wollte bzw. direkte Verhandlungen mit der Sowjetunion befürwortete.207 Obgleich er mit Adenauer bereits heftige Konflikte um die „Bindungsklausel“ im Deutschland-Vertrag von 1952 / 54 und um die Lösung der Saarfrage ausgefochten hatte208, rechnete er erst in seiner Bundestagsrede vom 23. Januar 1958 mit dem Kanzler ab: Dehler warf Adenauer vor, dass dieser die Wiedervereinigung gar nicht mehr ernsthaft anstrebe. Das Hauptaugenmerk in der Deutschlandpolitik sollte laut Dehler auf der Aktivierung des Willens der Deutschen für die Einheit liegen.209 Trotz eindeutiger Entspannungstendenzen seit etwa Mitte der 1960er Jahre war die FDP – wenn auch etwas schwächer – nach wie vor auf das konkrete Ziel der Überwindung der deutschen Teilung orientiert. Die 1969 verabschiedete „Nürnberger Wahlplattform“ forderte zwar den Verzicht auf den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, um Verhandlungen mit der DDR und anderen Ostblockstaaten aufnehmen zu können, markierte aber auch die besondere deutsche Lage mit der Bemerkung, dass eben Bundesrepublik und DDR füreinander nicht Ausland sein könnten. Auf das Verhältnis zu den beiden Supermächten USA und Sowjetunion gemünzt forderte die FDP: „Ihre Einflußsphären [der USA und der UdSSR; L. H.] dürfen nicht zu einer dauerhaften Teilung Europas und damit Deutschlands führen.“210 In der Nürnberger Plattform war der einige deutsche Nationalstaat also nicht mehr vorrangiges Ziel der Liberalen – wie noch 1957 – und es hatten sich in Franken die entspannungsbereiten Kräfte gegenüber den nationalliberalen Deutschlandpolitikern durchsetzen können. Die Forderung nach einer wie auch immer konkret auszugestaltenden „europäische Friedensordnung“ wurde im Programm verankert. Im Rahmen dieser Ordnung sollte dann auch die staatliche Einheit der Deutschen erreicht werden.211 207 Vgl.
Zitelmann, Adenauers Gegner, S. 140–141. zu Dehlers Konflikten mit Adenauer über die „Bindungsklausel“ und in der „Saarfrage“ ausführlich Zitelmann, Adenauers Gegner, S. 131–139 sowie Herbert Elzer, Die deutsche Wiedervereinigung an der Saar. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und das Netzwerk der prodeutschen Opposition 1949–1955, St. Ingbert 2007. 209 Vgl. Zitelmann, Adenauers Gegner, S. 116–117. 210 Freie Demokratische Partei, Nürnberger Wahlplattform 1969, in: Günter Verheugen (Hrsg.), Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P., Baden-Baden 1979, S. 15–32, hier S. 29. 211 Vgl. Michael Schmidt, Die FDP und die deutsche Frage 1949–1990, Hamburg 1995, S. 90–91. 208 Siehe
III. Selbstbestimmungsrecht und Sicherheitspolitik115
Wie sehr sich die FDP bereits Mitte der 1970er Jahre mit der deutschen Zweistaatlichkeit abgefunden hatte, zeigte sich in ihren „Perspektiven liberaler Deutschlandpolitik“, die der Bundesparteitag im Oktober 1975 in Mainz verabschiedete.212 Unter der Rubrik „Voraussetzungen der Deutschlandpolitik“ wurde von den Liberalen festgehalten: „Einheit um jeden Preis ist kein Ziel liberaler Politik. Ob Angehörige eines Volkes oder einer Volksgruppe oder mehrerer Volksgruppen in einem Einheitsstaat, einem Bundesstaat, einer Konföderation oder in getrennten Staaten leben wollen, ist jeweils von den Betroffenen selbst zu entscheiden. Die Deutschlandpolitik der Liberalen orientiert sich deshalb nicht am nationalstaatlichen Einheitsbegriff, sondern am unveräußerlichen Grundrecht der Selbstbestimmung.“213
In der Rubrik „Ziele der Deutschlandpolitik“ hielt das Programm verschiedene Punkte fest, die von der „Erhaltung des Friedens in Europa“ über „die Bewahrung der Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und von Berlin (West)“ bis hin zur „Normalisierung und Ausbau der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR“ reichten. Zwar wurde auch hier eine „gesamteuropäische Friedensordnung“ gefordert, die eines Tages die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen ermöglichen sollte.214 Resigniert stellte die FDP aber fest: „Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander kann sich nur in dem Maß verbessern, wie der Stand der Ost-West-Beziehungen dies zuläßt.“215 Mit ihrem 1975 in Mainz verabschiedeten Programm war die liberale Partei offenbar bestrebt, auch nach der ost- und deutschlandpolitischen Vertragsphase deutschlandpolitische Perspektiven für die kommenden Jahre aufzuzeigen. Diese verortete sie in einer stärkeren Zusammenarbeit von Bundesrepublik und DDR. Zudem sollten weitere deutsch-deutsche Verträge geschlossen werden. Auch wurde die Deutschlandpolitik nun programmatisch um die Bereiche der Friedens- und Entspannungspolitik erweitert216, mit keinem Wort aber wurde der Begriff „Wiedervereinigung“ erwähnt. Ganz im Gegenteil: Man bezog sich – sicher zur freundlichen Beruhigung der Verhandlungspartner in der DDR – nur negativ auf die deutsche Einheit, indem man diese faktisch zum Nicht-Ziel liberaler Deutschlandpolitik erklärte und eben die besondere Abhängigkeit der Fortschritte in den deutsch212 Vgl. Freie Demokratische Partei, Perspektiven liberaler Deutschlandpolitik. Beschluß des 26. Ordentlichen Bundesparteitags der F.D.P. vom 27. Oktober 1975 in Mainz, in: Günter Verheugen (Hrsg.), Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P., Baden-Baden 1979, S. 222–228. 213 Ebd., S. 225. 214 Vgl. ebd., S. 226–227. 215 Ebd., S. 225. 216 Vgl. Michael Schmidt, Die FDP und die deutsche Frage, S. 135.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
deutschen Beziehungen von der internationalen Großwetterlage betonte. Diese Abhängigkeit ist in der wissenschaftlichen Analyse sicher unbestreitbar, hatte aber eben auch die politische Folge, sich zu sehr im Status quo einzurichten, dieses deutsch-deutsche Nebeneinander als Daueraufgabe zu betrachten und auszugestalten. Mögliche liberale Wiedervereinigungsinitiativen – wie später von Detlef Kühn gefordert – sind mit diesem Programm sicher wenig kompatibel gewesen. Hier tat sich das programmatische Defizit auf, aus dem heraus es sich gegen den liberalen parteipolitischen Mainstream für eine aktive Wiedervereinigungspolitik einzusetzen galt. Die liberale Deutschlandpolitik nach dem Koalitionswechsel 1982 war im Kern eine Fortschreibung der entspannungspolitischen Linie, welche die Partei seit Mitte der 1960er Jahre verfocht. Im Bundestagswahlprogramm von 1983 beispielsweise erschien keine eigene Kategorie „Deutschlandpolitik“; dieses Politikfeld wurde – ganz im Sinne des Entspannungsgeistes der 1970er Jahre – unter der Rubrik „Friedenspolitik“ subsumiert. Unter Bezugnahme auf die sozialliberale Ost- und Deutschlandpolitik wurde von den Liberalen beschlossen: „Deutschlandpolitik verstehen wir als europäische Friedenspolitik.“217 Auch das Programm zur Bundestagswahl 1987 enthielt wenig Neues im Bereich liberaler Deutschlandpolitik. Unter der Rubrik „Neue Phase realistischer Entspannungspolitik“ führte die Partei ihr deutschlandpolitisches Erbe – mit den typischen gestelzten Formulierungen – aus sozialliberaler Zeit fort: „Diese Politik der Friedenssicherung in Europa ist unabdingbare Vorbedingung für einen Zustand, in dem unser Volk in freier Selbstbestimmung über seine nationale Einheit entscheiden kann.“218 Zudem forderten die westdeutschen Liberalen: „Die Beziehungen zur DDR sind weiter zu verbessern.“219 Auch 1987 wurde also keine politische Forderung einer Wiedervereinigung Deutschlands erhoben, ebenso kein Bekenntnis zu Menschenrechtsverletzungen in der DDR. 217 Freie Demokratische Partei, Wahlaussage der Bundestagswahl 1983. Bundesparteitag Freiburg, 29. / 30. Januar 1983, in: Hans-Jürgen Beerfeltz u. a. (Red.), Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P. 1980 bis 1990, Baden-Baden 1990, S. 191–213, hier S. 199. Gallus zählt in der FDP Außenminister Hans-Dietrich Genscher und den Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Wolfgang Mischnick, zu den „Garanten einer antineutralistischen Haltung“. Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 330. In der Tat lässt sich eine proaktive Wiedervereinigungspolitik Genschers in den 1980er Jahren nicht nachweisen. Siehe auch Schmidt, Die FDP und die deutsche Frage, S. 229–230. 218 Freie Demokratische Partei, Wahlplattform ’87. Bundeshauptausschuß Augsburg, 13. September 1986, in: Hans-Jürgen Beerfeltz u. a. (Red.), Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P. 1980 bis 1990, Baden-Baden 1990, S. 502–524, hier S. 504. 219 Ebd.
III. Selbstbestimmungsrecht und Sicherheitspolitik117
Ein Jahr vor der Friedlichen Revolution in der DDR beschloss der Bundeshauptausschuss der Partei die programmatische Fortschreibung des liberalen Entspannungskurses: „Unsere Außen- und Deutschlandpolitik ist europäische Friedenspolitik. Beides, die Einheit der Nation und den Frieden in Europa zu bewahren, ist der Auftrag unserer Verfassung.“220 Der Beschluss forderte auch die Selbstbestimmung des deutschen Volkes. Zudem bestehe, so der Beschluss weiter, eine Nation auch aus „ihrem Willen, als eine Nation zusammenzuleben.“ Hier wurde auf das Grundgesetz (und somit auch auf die Präambel) verwiesen, in dem die Deutschen ihren Willen zum Zusammenlebens in einer Nation bekundet hätten.221 Außerdem sollte es nach dem Willen des Bundeshauptausschusses eine „Weiterentwicklung des politischen Dialogs auf allen Ebenen“ geben. Da die Liberalen eine Deutschlandpolitik mit „spektakuläre[n] Aktionen“ nicht wollten222, konnte die unverklausulierte Forderung nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Programm entfallen. Diese wäre in den 1980er Jahren in der Tat eine zumindest spektakuläre liberale politische Forderung gewesen. Nur wenige in der FDP der 1980er Jahre können neben dem hier untersuchten liberalen Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts, Detlef Kühn, als Wiedervereinigungsfreunde benannt werden. Zwar hob die liberale Bundestagsfraktion in einem Beschluss aus dem Jahre 1984 die Künstlichkeit der deutschen Teilung hervor, die den Interessen Europas zuwider laufe, doch blieb dieses Papier ohne konkrete Folgen für eine aktive Deutschlandpolitik.223 Eine der wenigen liberalen Stimmen im Bundestag, die durchgängig für die Wiedervereinigung plädierten, war der Vorsitzende des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen, Hans-Günter Hoppe. Auch der langjährige Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Wolfgang Mischnick, hielt das Präambelgebot des Grundgesetzes hoch, auch und insbesondere gegen die linksliberalen Einflüsse von William Borm224, einem IM der DDR-Staatsicherheit. Zu nennen ist zudem Otto Graf Lambsdorff, der 1987 die Einheit Deutschlands auch bei einem neutralen Status des wiedervereinigten Landes nicht ausschloss. Auch das FDP-Präsidiumsmit220 Freie Demokratische Partei, Thesen der F.D.P. zur Deutschland- und Berlinpolitik, Beschluss des Bundeshauptausschusses in Berlin vom 19.11.1988, in: HansJürgen Beerfeltz u. a. (Red.), Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P. 1980 bis 1990, Baden-Baden 1990, S. 773–778, hier S. 773. 221 Ebd. 222 Vgl. ebd., S. 776. 223 Vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 223. 224 Vgl. ebd., S. 225 und S. 227–228. Zu den Stasi-Kontakten Borms siehe Knabe, Die unterwanderte Republik, S. 67–70. Wolfgang Mischnick war allerdings gegen eine Verknüpfung der Deutschen Frage mit Abrüstungsbemühungen wie von Gallus, Die Neutralisten, S. 330, belegt ist.
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glied Manfred Brunner gehörte, ebenso wie zeitweise auch der Bundestagsabgeordnete Uwe Ronneburger, zu den liberalen Freunden der deutschen Einheit.225 2. Detlef Kühns deutschlandpolitisches Wirken a) Die deutschlandpolitische Biographie Detlef Kühns Im Folgenden wird der Fokus der Analyse auf einen liberalen deutschlandpolitischen Dissidenten, Detlef Kühn, gerichtet. Kühn wurde 1936 in Potsdam geboren. 1952 erfolgte die Übersiedlung aus der DDR nach WestBerlin. Zwischen 1956 und 1960 studierte Kühn Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin und legte 1960 und 1965 die juristischen Staatsexamina ab. Politisch geprägt wurde Kühn durch seinen Vater, ein „rückgesiedelter“ Baltendeutscher, der den jungen Detlef mit „deutsch-na tionalen“ Denktraditionen vertraut machte. Seine Vorbilder in der FDP, der Kühn während seiner Referendarzeit 1964 beitrat, waren folgerichtig dann auch Nationalliberale wie Erich Mende und Ernst Achenbach. Gleichwohl erkannte Kühn in der sozialliberalen Ostpolitik auch Möglichkeiten, den deutsch-deutschen Zusammenhalt zu stärken. In den Jahren von 1966 bis 1970 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag in Bonn tätig, wo er zeitgleich den Posten des Geschäftsführers des Arbeitskreises für Außen- und Deutschlandpolitik bekleidete. Zwischen 1970 und 1972 diente Kühn dem Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Günter Hartkopf, als persönlicher Referent.226 Im Jahre 1972 wurde Kühn zum Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn ernannt. Ursprünglich hatte Hans-Dietrich Genscher für diesen Posten Wolfgang Schollwer vorgesehen. Dieser hatte allerdings kein Interesse an dem „Verwaltungsposten“ (Kühn). Im Vorstellungsgespräch bei Egon Franke, der als innerdeutscher Minister der oberste Dienstherr Kühns werden sollte, überzeugte Kühn den Minister als „offensive[r] Vertreter der neuen Ostpolitik“.227 Dies bedeutete in der Lesart Kühns, mit der sozial liberalen Entspannungspolitik das Zusammengehörigkeitsgefühl der Westund Ostdeutschen zu stärken und somit die Einheit der Nation zu wahren. 225 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 329–330. Zu den Positionswechseln Uwe Ronneburgers vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 223–224. 226 Vgl. Eintrag „Kühn, Detlef“, in: Munzinger Online / Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http: / / www.munzinger.de / document / 00000020130 (abgerufen von der Universitätsbibliothek Bonn am 12.4.2011). 227 Vgl. Detlef Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, in: Sezession, Heft 12, Januar 2006, S. 32–37, hier S. 34.
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Hierzu schienen ihm möglichst viele Begegnungen der Menschen aus beiden Teilen Deutschlands das probate Mittel zu sein, bis es eben zur staatlichen Wiedervereinigung kommen würde.228 Neben seiner Tätigkeit im Gesamtdeutschen Institut engagierte sich Kühn für seine Partei auf Kreis- und Landesebene. In den Jahren 1969 bis 1977 war Kühn Kreisvorsitzender der Bonner FDP. Auf Landesebene war Kühn zwischen 1972 und 1976 Mitglied des Vorstandes der NRW-Liberalen. Im Laufe der 1970er Jahre ging Kühn aber zunehmend auf Distanz zu seiner Partei. Dies hatte auch damit zu tun, dass seine Bundestagskandidaturen 1972 und 1976 am links ausgerichteten FDP-nahen Jugendverband Jungdemokraten gescheitert waren. Kühns Kritik an den Positionen der Jungdemokraten bezog sich auf seinen Eindruck, dass im Jugendverband deutschlandpolitische Parolen der SED kritiklos übernommen und wiedergegeben würden. Nach der 1991 erfolgten Auflösung des Gesamtdeutschen Instituts arbeitete Kühn in den neuen Bundesländern als Verwaltungsdirektor des „Sachsen-Radio“ sowie als Direktor der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk.229 b) Das Gesamtdeutsche Institut als Apparat für Kühns politische Arbeit Das Gesamtdeutsche Institut230 war eine nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen.231 Als Produkt der ersten Großen Koalition lag seine Gründung im politischen Verantwortungsbereich des damaligen gesamtdeutschen Ministers Herbert Wehner (SPD). Seit 1968 versuchte dieser im Rahmen einer Neuordnung aus zahlreichen privatrechtlich organisierten Vorgängereinrichtungen im Bereich der deutschlandpoliti228 Vgl.
ebd., S. 36. Eintrag „Kühn, Detlef“, in: Munzinger Online / Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http: / / www.munzinger.de / document / 00000020130 (abgerufen von der Universitätsbibliothek Bonn am 12.4.2011). Siehe auch Detlef Kühn, Der Sturz von Mende war das Ende einer nationalen Partei, in: Junge Freiheit vom 30. Januar 1998. 230 Bislang hat das Gesamtdeutsche Institut in der zeitgeschichtlichen Forschung wenig Aufmerksamkeit erfahren, die erschienene Literatur ist überschaubar. Siehe dazu Detlef Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit. 3., erg. Aufl., Berlin 2011, S. 4–5. 231 Zur Geschichte des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen siehe Gisela Rüß, Anatomie einer politischen Verwaltung. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen – innerdeutsche Beziehungen 1949–1970, München 1973; Stefan Creuzberger, Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges, Düsseldorf 2008. 229 Vgl.
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schen Bildungsarbeit eine einheitliche Organisation unter dem Dach einer oberen Bundesbehörde zu schaffen. Für Wehner lagen die Vorteile darin, dass er nun beispielsweise den Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen (UFJ)232 oder den Verein zur Förderung der Wiedervereinigung Deutschlands unter einem Dach vereinen konnte. Zwar waren diese Organisationen auch vorher vom gesamtdeutschen Minister gefördert worden, aber mit dem neuen Gesamtdeutschen Institut konnten diese stärker im Sinne der neuen deutschlandpolitischen Linie gesteuert werden.233 Per Erlass des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen vom 25. Juni 1969 wurde schließlich das Gesamtdeutsche Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, wie die vollständige amtliche Bezeichnung lautete, zum 1. Juli 1969 errichtet. Zu den Aufgaben, die der neuen Behörde mit ihren vier Abteilungen, davon eine in Berlin ansässig, zugewiesen wurden, zählten die „Sammlung und wissenschaftliche Auswertung von Informationsmaterial für die politische Arbeit des BMG (BMB)“, die „Festigung und Verbreitung des gesamtdeutschen Gedankens durch Informationsvermittlung“ sowie die „Förderung von Hilfs- und Betreuungsmaßnahmen.“234 Zu den Themen in der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit der Behörde zählten u. a., „die Lage in der DDR“ darzustellen, „die Entwicklung der deutschen Teilung“ aufzuzeigen, „die deutsche Nation in Geschichte und Gegenwart“ zu analysieren und ebenso auch besonders heikle Themen anzusprechen, wie die „rechtliche[n] Probleme der Deutschen Frage, einschließlich der Ostgrenze und der ehemaligen Ostgebiete“ sowie eine „Grundauseinandersetzung mit dem Kommunismus“.235 Kühn selbst empfand die „Steuerung“ seiner Behörde aus dem innerdeutschen Ministerium allerdings zunächst nicht so gravierend, als dass diese seinen Tätigkeitsradius eingeschränkt hätte. So habe er in der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit, ein Schwerpunkt der Arbeit des Instituts, seine Linie durchsetzen können. Hierzu gehörte etwa, den im Grundgesetz verankerten Wiedervereinigungsanspruch wach zu halten oder die von ihm vertretende Forderung nach einer aktiven Wiedervereinigungspolitik. Seine deutschlandpolitischen Grundsätze seien aber in den 1970er und 1980er Jahren „immer weniger selbstverständlich“ geworden.236 232 Siehe hierzu auch Frank Hagemann, Der Untersuchungsausschuß Freiheit licher Juristen 1949–1969, Frankfurt a. M. 1994. 233 Vgl. Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, S. 33. 234 Detlef Kühn, Aus der Tätigkeit des Gesamtdeutschen Instituts (BfgA). 1969 bis 1991, o. O. [Bonn] 1991, S. 8. 235 Ebd., S. 24. 236 Vgl. Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, S. 36.
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Wie kam es zu dieser Veränderung des deutschlandpolitischen Zeitgeistes? Für Kühn ist es „bis heute […] nicht klar“, wie es zu den Verschiebungen kommen konnte. Seine Deutungsangebote reichen von einem politischen Ruhebedürfnis nach den Wiederaufbauleistungen, den Spätfolgen der Re education nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu den 68ern, die laut Kühn für eben diese Situation verantwortlich zeichneten.237 In den 1970er Jahren jedenfalls stellte Kühn die Arbeit des Gesamtdeutschen Instituts in die Traditionslinie seines „Gründervaters“ Herbert Wehner. Kühn bekannte sich zu dessen „Gründungserlaß“ aus dem Jahre 1969: „[W]ir [haben] die Aufgabe, zur Festigung und Verbreitung des gesamtdeutschen Gedankens durch Informationsvermittlung beizutragen.“238 Nun sollte aber nach Ansicht Kühns nicht jeden Tag ein „Appell zur Wiedervereinigung Deutschlands“ abgehalten werden. Jedoch wünschte sich der Liberale mehr Unterstützung durch „alle politischen Kräfte in diesem Lande“ bei seiner Aufgabe, der Informationsvermittlung über die DDR. Des Weiteren sprach sich Kühn für eine bessere Verankerung des Nationalbewusstseins in der Bundesrepublik aus, insbesondere auf dem Feld der Schulpolitik. Für Kühn war im Jahre 1977 also die deutsche Nation noch existent.239 Wie auch andere Politikbereiche, welche die Deutsche Frage berührten, war das spezielle Gebiet der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit abhängig von politischen Konjunkturen. So war laut Kühn in den 1970er Jahren deutschlandpolitische Bildungsarbeit aufgrund der lebhaften bundesdeutschen Kontroversen um die sozialliberale Politik ein gut vermittelbares Themenfeld. Trotzdem sei für einige Lehrer die Beschäftigung mit der Deutschen Frage zunehmend nur noch ein Thema gewesen, dessen Vermittlung die Lehrpläne vorschrieben. Auch hier habe – so Kühn rückblickend – das Gesamtdeutsche Institut einiges an Pionierarbeit zur Verbesserung der Lage beigetragen.240 Auch nahm Kühn retrospektiv keine „wesentliche[n] Konflikte“ in der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit wahr, wie es diese in der DDR-Forschung zwischen dem systemimmanenten und totalitarismustheoretischen Paradigma gegeben habe. Mit der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit habe er, so Kühn, versucht, den „verfestigten Vorurteilen auf beiden Seiten entgegenzuwirken.“241 Besondere Relevanz für seine deutschlandpolitischen Initiativen hatte für Kühn der Leitsatz 4 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Grund237 Vgl.
ebd., S. 37. Goos, „Die deutsche Nation ist noch existent“. Interview mit Detlef Kühn, in: Die Welt vom 26. Mai 1977. 239 Vgl. ebd. 240 Vgl. Kühn, Aus der Tätigkeit des Gesamtdeutschen Instituts, S. 25. 241 Ebd. 238 Diethart
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lagenvertrag, der sich auf das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des Grundgesetzes bezog: „Aus dem Wiedervereinigungsgebot folgt: Kein Verfassungsorgan darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Ziels hinzuwirken – das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Innern wachzuhalten und nach Außen beharrlich zu vertreten – und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde.“242
In der Rückschau konnte Kühn allerdings feststellen, dass dieser Satz des Urteils offenbar „weder von der Regierung Schmidt noch von der Regierung Kohl als verbindliche Handlungsanweisung betrachtet oder gar befolgt“ worden sei. Im Interesse des Friedens in der Welt erschien es in seiner Lesart den Bonner Politikern wichtiger, die DDR durch finanzielle Mittel zu stabilisieren. „Entspannung“ war demnach nicht mehr Mittel zum Zweck, wie noch die ursprüngliche Intention der sozialliberalen Ost- und Deutschlandpolitik gelautet hatte, sondern war zum Selbstzweck geworden.243 Zum Ende der 1970er Jahre, als wenige Jahre nach Abschluss des Grundlagenvertrages ein erhoffter grundlegender Wandel in der DDR ausgeblieben war, nahm das Interesse an deutschlandpolitischer Bildungsarbeit wieder ab, trotz der klaren Positionen der Kultusministerkonferenz (KMK) 1978 zur Deutschen Frage. Mit dem Beschluss zur Behandlung der Deutschen Frage im Unterricht wollte die KMK ja auf die deutschlandpolitische Bildungsarbeit einwirken, um dem zunehmenden Nichtwissen der jungen Generation über die DDR entgegenzuwirken. Als sich dann in den 1980er Jahren die Stimmen für die endgültige Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit in der Bundesrepublik mehrten, wurde es für die deutschlandpolitische Bildungsarbeit des Gesamtdeutschen Instituts noch schwerer, die junge Generation für deutsch-deutsche Themen bzw. für das Ziel Überwindung der deutschen Teilung zu sensibilisieren. Erst mit dem Amtsantritt Gorbatschows konnte neues Interesse an deutschlandpolitischen Themen im Gesamtdeutschen Institut registriert werden, so Kühn.244 Wie wurde der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts von den westdeutschen Medien eingeschätzt? Kühns nationalliberale deutschlandpolitische Einstellung konnte z. B. dem sozialliberal orientierten „Spiegel“ nicht gefallen. In einem Artikel vom Dezember 1981 urteilte das Blatt über den Liberalen: „Wenn sich Detlef Kühn, 45, zu Deutschlands geteiltem Leid meldet, 242 Leitsatz 4 des Urteils des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973, zit. nach Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, S. 37. 243 Vgl. Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, S. 37. 244 Vgl. Kühn, Aus der Tätigkeit des Gesamtdeutschen Instituts, S. 25–26.
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sind sachliche Beiträge selten zu erwarten.“245 Die Kritik des „Spiegel“ bezog sich dabei auf Kühns vermeintlich defizitäres Führungsverhalten in der Berliner Abteilung seines Instituts, das mit Streikdrohungen der dortigen Mitarbeiter goutiert wurde. Besonders ärgerlich für den „Spiegel“ war aber die Einstellung eines deutschlandpolitischen Referenten, eines „Vertrauensmannes des Präsidenten“, der aus der DDR übergesiedelt war. Dieser teilte aus Sicht des Hamburger Nachrichtenmagazins zu allem Überfluss auch noch dieselbe deutschlandpolitische Einstellung mit seinem Chef Kühn: „Obwohl erfahrene Referenten vor scharfmacherischen und entspannungsfeind lichen Positionen des Aspiranten, die den deutschlandpolitischen Vorstellungen der Bonner Sozialliberalen zuwiderlaufen, gewarnt haben, mußte Mleczkowski auf ausdrückliche Weisung Kühns beschäftigt werden.“246
Anders wurde Kühn in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ beschrieben. Hier fanden seine deutschlandpolitischen Positionen mehr Verständnis. In einem Artikel aus dem Jahr 1986 wurde Kühn wegen seiner auf die Wiedervereinigung ausgerichteten Positionen als „vielen Politikern aus allen Parteien lästig“ beschrieben247, so „FAZ“-Herausgeber Johann Georg Reißmüller in einem Portrait über den Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts. Kühn schmerzte demnach vor allem, dass die FDP nur noch aus Linksliberalen und Wirtschaftsliberalen bestehe. Das „nationalliberale Element“ im deutschen Liberalismus schien ihm ausgetrocknet. Besserung erhoffte sich Kühn in deutschlandpolitischen Fragen allerdings auch nicht von Union und SPD.248 Detlef Kühn bilanzierte 1991 die Tätigkeit des Gesamtdeutschen Instituts wie folgt: „Das Gesamtdeutsche Institut konnte immer nur subsidiär und nur im Rahmen seiner vorgegebenen Möglichkeiten tätig werden. Es erfüllte unter der Aufsicht des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen einen öffentlichen Auftrag. Doch es hätte dies nicht ohne die eigenständige Tätigkeit und Hilfe all jener tun können, die sich in ihrem jeweiligen Bereich der deutschen Frage gewidmet haben.“249
Das Gesamtdeutsche Institut überlebte wie seine „Mutterbehörde“, das BMB, die Wiedervereinigung nicht. Es wurde zum 31.12.1991 aufgelöst. 245 „Mach
mal“, in: Der Spiegel, Nr. 52 vom 21.12.1981, S. 56–57, hier S. 56. S. 57. Auch das MfS beobachtete die Entlassung von 5 Honorarreferenten aus der Berliner Dependance durch Kühn 1981 skeptisch, handelte es sich doch dabei um eher linksliberal eingestellte Mitarbeiter. Vgl. Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit, S. 47–48. 247 Vgl. Johann Georg Reißmüller, Zuversichtlicher Deutscher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Oktober 1986. 248 Vgl. ebd. 249 Kühn, Aus der Tätigkeit des Gesamtdeutschen Instituts, S. 5. 246 Ebd.,
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Die verbliebenen rund 250 Mitarbeiter fanden eine neue Verwendung im Bundesministerium des Innern, dem Bundesarchiv, der Bundeszentrale für politische Bildung und in der „Gauck-Behörde“.250 c) Detlef Kühn und die FDP Zu seiner Partei war Kühn in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend in deutschlandpolitischen Fragen auf Distanz gegangen. So warf er seiner Partei im Jahr 1983 vor, ihre einst führende Rolle auf dem Politikfeld der Deutschlandpolitik „kampflos“ aufgegeben zu haben. Gegenwärtig sei auf Parteitagen nur noch von „Entspannungspolitik“ die Rede. Dabei sei die „ursprüngliche Zielsetzung dieser [neuen Ost- und Deutschlandpolitik; L. H.] Politik, die Wiedervereinigung“, absichtlich in den Hintergrund getreten. Die seit sechs Jahren andauernde Debatte über die deutsche Identität finde demnach ohne die FDP statt. Mit der jüngsten Nationaldebatte hatte Kühn offenbar die Zeit seit dem KMK-Beschluss zur Deutschen Frage 1978 im Auge, der vom damaligen Berliner Schulsenator Walter Rasch angestoßen wurde – ausgerechnet einem FDP-Mann. Im Aufkeimen eines „linken Patriotismus“251 entdeckte der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts eine neue Sensibilität der deutschen Linken für die nationale Frage. Zu dieser Zeit habe die FDP den Wiedereinstieg in das nationale Thema verpasst. Seiner Partei empfahl Kühn eine Anknüpfung an ihre deutschlandpolitischen Positionen der 1950er und 1960er Jahre. Er blieb aber skeptisch, ob die Liberalen dazu noch die Kraft besäßen. Hierzu erschien es Kühn wichtig, den „instrumentellen Charakter“ der ursprünglichen Entspannungspolitik wieder stärker in den Vordergrund zu rücken, also Entspannung als Mittel zum Zweck und eben nicht als Selbstzweck zu begreifen.252 d) Detlef Kühns deutschlandpolitische Initiativen Der politische Wirkungskreis Kühns war nicht auf die Bundesrepublik beschränkt. Auch im Ausland warb er für die Idee der deutschen Wiedervereinigung. So hielt Kühn beispielsweise 1981 einen Vortrag in Südkorea zum Thema der deutschlandpolitischen Bildung. Darin plädierte er für einen 250 Vgl. Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, S. 32. Die ehemalige Bibliothek des Gesamtdeutschen Instituts ist als Bibliothek zur Geschichte der DDR weiterhin in Bonn ansässig und ist als Abteilung im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgegangen. 251 Vgl. Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 61–68. 252 Vgl. Detlef Kühn, Verwelkender Lorbeer. Die FDP verschläft die Deutschlandpolitik, in: Rheinischer Merkur / Christ und Welt vom 23. Dezember 1983.
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Schulunterricht, der keine Patentlösungen für eine Wiedervereinigungspolitik liefern sollte. Jedoch stellte Kühn klar: „Die Vision eines wiedervereinigten Deutschlands ist notwendig, […] auch dann, wenn die Realisierbarkeit dieser Vision in absehbarer Zeit nicht wahrscheinlich erscheint, wobei man sich allerdings angesichts der rasanten Veränderungen der weltpolitischen Lage nicht auf zu genaue zeitliche Überlegungen einlassen sollte. Ohne das deutliche Fernziel einer Konstellation, die es den Deutschen gestattet, wieder unter einem gemeinsamen staatlichen Dach zusammenzuleben, können auch unsere bildungspolitischen Bemühungen auf die Dauer nicht von Erfolg sein.“253
Während einer USA-Reise im Herbst 1987 sprach Kühn im Rahmen der elften Jahrestagung der „German Studies Association“ in St. Louis / Missouri über die „Zusammenhänge zwischen Sicherheitspolitik und Deutschland politik“.254 In seinem Vortrag wies Kühn auf sich eventuell ergebende sowjetische Initiativen für einen Abzug aller fremden Truppen aus den europäi schen Ländern hin. Hier sei der Westen gefragt, um auf ein solches Angebot angemessen vorbereitet reagieren zu können. Am Ende einer solchen Ini tiative könne ein konföderiertes Deutschland stehen. Die erhoffte Friedensdividende nach Abrüstungsverhandlungen durch eine finanzielle Entlastung der Sowjetunion beurteilte Kühn jedoch skeptisch. Er befürchtete, dass dies nur zu einer Verlängerung des Status quo in Europa führen würde, da die Sowjetunion diesen Zustand in Europa durch die finanziellen Einsparungen quasi vergünstigter aufrechterhalten könnte. Für Kühn bedeutete der von US-Präsident Ronald Reagan in Berlin an Sowjetführer Michail Gorbatschow gerichtete Ausruf, die Mauer niederzureißen, quasi den Ruf nach dem Ende des SED-Regimes. Kühn verlangte, realistische Forderungen an Gorbatschow zu stellen, die eine Lösung der Deutschen Frage ermöglichen sollten. Nach seiner Vorstellung hatten sich die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten auf eine solche Situation vorzubereiten, in der mit der Sowjetunion über wirtschafts- und sicherheitspolitische Vorstellungen verhandelt werden würde.255 Als Bilanz seiner USA-Reise musste Kühn feststellen, dass man in den Vereinigten Staaten den Honecker-Besuch in der Bundesrepublik im September 1987 offenbar als Anerkennung der deutschen Teilung interpretiert hatte. Er schlussfolgerte, dass das Ziel der deut253 Detlef Kühn, Entwicklung und Stand der deutsch-deutschen Beziehungen und die Aufgaben der deutschlandpolitischen Bildung. Internationale Tagung über die Probleme der Wiedervereinigung 21.–24. Juli 1981, o. O. und o. J. [1981], in: Bibliothek zur Geschichte der DDR, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Signatur P81 / 53, S. 13. Hervorhebung im Original. 254 Detlef Kühn, Zusammenhänge zwischen Sicherheitspolitik und Deutschlandpolitik. Rede auf der 11. Jahrestagung der German Studies Association in St. Louis / Missouri am 17. Oktober 1987, in: Privatarchiv Detlef Kühn. 255 Vgl. ebd.
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schen Einheit von westdeutschen Politikern – auch in den USA – offensiver vertreten werden sollte, auch wenn viele Amerikaner der Entspannungs politik anhingen, wie er während seiner Reise festzustellen glaubte.256 Unter dem programmatischen Titel „Für eine aktive Wiedervereinigungs politik“257 fasste Kühn 1987 seine deutschlandpolitischen Überlegungen in einem Aufsatz für die Zeitschrift „Deutschland Archiv“ zusammen. Darin forderte der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts – in Anlehnung an die Thesen des CDU-Dissidenten Bernhard Friedmanns258 – die bisher getrennt betrachteten Bereiche der Sicherheitspolitik und der Deutschlandpolitik in einem Zusammenhang zu denken. Diese Verknüpfung habe beispielsweise der Harmel-Bericht von 1967 noch geleistet.259 Um das Ziel der deutschen Einheit zu erreichen, brauche man nicht beständig neue staatsrechtliche Modelle, vielmehr sei jetzt angesichts der Reformpolitik Gorbatschows ein „auf Veränderung angelegtes strategisches Denken“ der Deutschen gefordert.260 Die Sowjetunion müsse überzeugt werden, dass ein vereinigtes Deutschland in ihrem Interesse liege. Gegebenenfalls müssten auch die Strukturen von NATO und Warschauer Pakt in die Überlegungen für eine operative Wiedervereinigungspolitik mit einbezogen werden.261 Im Hinblick auf die staatliche Form eines wiedervereinigten Deutschlands legte sich Kühn selbst keine Denkverbote auf. Die staatliche Form Gesamtdeutschlands könne demnach von einer „Konföderation über den Bundesstaat bis zum europäischen Einheitsstaat“ reichen. Dennoch war auch in diesem Artikel Kühns Präferenz für den einigen deutschen Nationalstaat unübersehbar262, auch wenn er über den militärischen Status keine Festlegungen traf.263 In den Jahren 1988 bis 1990 war Kühn auch außerhalb der FDP in Sachen Wiedervereinigung politisch aktiv. Der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts wurde Mitglied im Freundeskreis Deutschland. Diese Gruppe um den „FAZ“-Journalisten Karl Feldmeyer war von der deutschlandpolitischen Initiative des CDU-Politikers Bernhard Friedmanns und der Reformpolitik Gorbatschows inspiriert worden, in der Bundesrepublik für eine aktive Wie256 Vgl. Hans Krump, ‚Deutsche Frage in USA offensiv vertreten‘, in: Die Welt vom 2. Dezember 1987. 257 Detlef Kühn, Für eine aktive Wiedervereinigungspolitik, in: Deutschland Archiv, 6 / 1987, S. 595–599. 258 Bernhard Friedmann, Einheit statt Raketen. Thesen zur Wiedervereinigung als Sicherheitskonzept, Herford 1987. Zu Friedmann siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 320–327. 259 Vgl. Kühn, Für eine aktive Wiedervereinigungspolitik, S. 595. 260 Vgl. ebd., S. 596. 261 Vgl. ebd., S. 598. 262 Vgl. ebd., S. 599. 263 Vgl. auch Gallus, Die Neutralisten, S. 328.
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dervereinigungspolitik einzutreten. Hier konnte Kühn aber nur im Hintergrund wirken, da er in seiner beruflichen Position Beamter war und daher Gefahr lief, durch diese private Initiative seine Stellung zu gefährden.264 In einem Interview mit dem „Deutschlandfunk“ im August 1989 konstatierte Kühn ein gesteigertes Interesse an deutschlandpolitischen Fragestellungen. Auf die Frage, ob es in der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit Tabus gebe, antwortete Kühn: „Tabus gibt es natürlich in der Deutschlandpolitik eine ganze Menge.“265 Seine deutschlandpolitische Bildungsarbeit nahm er aber ausdrücklich von irgendwelchen Denkverboten aus: „Darunter leidet wahrscheinlich die politische Bildungsarbeit weniger als die Parteien und Institutionen, die solche Tabus aufbauen, selbst.“266 Eine weit reichende zeitliche Perspektive für den real existierenden Sozialismus sah Kühn in Anbetracht der beginnenden Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über Ungarn im Sommer 1989 nicht mehr. Jetzt sei es eine besonders dringliche Aufgabe, „daß wir also den Status quo energisch in Frage stellen.“267 Wenn Kühn in seinen Seminaren und Vorträgen über die Verbindung von operativer Wiedervereinigungspolitik und der Sicherheitspolitik sprach, wurde ihm oft der Vorwurf gemacht, aufgrund seiner deutschlandpolitischen Positionen ein Neutralist zu sein. Diese Anwürfe bezeichnete Kühn retrospektiv als „Totschlagargument“, mit dem schon die deutschlandpolitischen Gegner Adenauers bedacht worden seien. Allerdings sei er damals, als es um die Möglichkeiten der Vorbereitung einer operativen Wiedervereinigungspolitik gegenüber der Sowjetunion ging, im Bereich der Sicherheitspolitik „zu Zugeständnissen“ bereit gewesen.268 3. Die Beobachtung Detlef Kühns durch das MfS Bereits seit 1964 erfolgte eine Bearbeitung der Person Detlef Kühns durch das MfS. Bis zum Ende seines Studiums 1965 war Kühn als Fremdenführer in Berlin tätig. Im Jahr zuvor hatte Kühn mit dem AStA Heidel264 Zum Freundeskreis Deutschland siehe Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 80–86. 265 Staatliches Komitee für Rundfunk, Redaktion Monitor, Interview im Deutschlandfunk mit Detlef Kühn am 17.8.1989 um 19.15 Uhr, in: BStU, ZA, MfS – ZAIG 24174, Teil 2, Bl. 373. 266 Ebd. 267 Ebd., Bl. 375. 268 Vgl. Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit, S. 36. Auch Gallus subsumiert Kühn grobmaschig unter die Rubrik der deutschlandpolitischen Neutralisten ein. Siehe Gallus, Die Neutralisten, S. 328.
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berg an einer Studienreise nach Moskau teilgenommen. Zudem nutzte er das Passierscheinabkommen, um 1964 und 1965 seinen Verwandten im Ostsektor Berlins private Besuche abzustatten. Auch Kühns Tätigkeit für den deutschlandpolitischen Arbeitskreis der FDP-Bundestagsfraktion ab 1966 dürfte ihn für die Ost-Berliner Tschekisten zu einer interessanten Figur gemacht haben.269 Offenbar hielt die Stasi Kühn bis 1970 für eine „operativ interessante Person“270. Anbahnungsversuche des MfS hatte Kühn dann allerdings immer seinem Vorgesetzten, dem damaligen Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Hans-Dietrich Genscher, mitgeteilt. Was Kühn in seiner Bonner Bundestagszeit nicht ahnen konnte, war die Einflussagententätigkeit William Borms, eines FDP-Bundestagsabgeordneten und Landesvorsitzenden der Partei in West-Berlin. Mit seiner Hilfe wurde Kühn offenbar „einem groß angelegten Test unterzogen“271, der aber negativ verlief, d. h. Kühns und Borms deutschlandpolitische Einstellungen lagen für eine mögliche Anwerbung durch Borm einfach zu weit auseinander. Kühn wollte die Wiedervereinigung, Borm sprach sich stets für eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR aus.272 Als Leiter des Gesamtdeutschen Instituts war Kühn aus Sicht des MfS Chef einer „feindlichen“ Behörde. Bearbeitet wurde Kühn von Markus Wolfs Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), aber z. T. auch von der für die Spionageabwehr zuständigen Hauptabteilung II (HA II), da das MfS das Gesamtdeutsche Institut als Geheimdienst einschätzte. Kühns dienstliche und private Telefongespräche wurden abgehört, zudem verdächtigte ihn das MfS, seine Verwandten bei DDR-Reisen auszuspionieren.273 Private Reisen in die DDR wurden in der Tat von Kühn immer wieder dazu genutzt, um in direkten Kontakt mit den dort lebenden Deutschen zu treten. So urteilte das MfS Anfang der 1980er Jahre über den Liberalen: „Kühn nutzt bewußt als Methode der Forcierung der politisch-ideologischen Diversion die Möglichkeit der privaten Einreisen in die DDR, um unkontrolliert Verbindungen aufzunehmen und auszubauen.“274 269 Vgl.
67.
Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit, S. 64–
270 BStU, AIM Halle 2904 / 87 I, Bl. 80, zit. nach Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit, S. 66. 271 Vgl. Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit, S. 69. 272 Vgl. ebd., S. 67–69. 273 Vgl. ebd., S. 70–72. 274 Hauptabteilung VI, Abteilung Objektsicherung und Tourismus, Information über die beabsichtigte Einreise in die DDR durch den Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts der Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, Kühn, Detlef, vom
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Im April 1983 beispielsweise reiste Kühn nach Dresden, Potsdam und Halle. Das MfS vermutete hinter dieser Reise die Absicht, seine hierbei gewonnenen Erkenntnisse auf einem geplanten deutschlandpolitischen Podium zum Thema des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der Volkshochschule Bonn gegen die DDR propagandistisch auszuwerten. Für Minister Mielke war Kühn eine gefährliche Person. Der Stasi-Chef for derte von seinen Mitarbeiten „eine genaue Analyse des Verhaltens, der Pläne, Absichten und Ziele“ des durch die DDR reisenden Besuchers aus Bonn.275 Der bereits erwähnte Beitrag Kühns 1987 im „Deutschland Archiv“, in dem er über die Chancen für die deutsche Wiedervereinigung nachdachte, behagte dem MfS erwartungsgemäß ebenfalls nicht. So hatte sich in der Lesart der Ost-Berliner Tschekisten der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts „massiv“ für eine aktive Deutschlandpolitik ausgesprochen, was ja sachlich richtig war. Besonderes Gewicht erhielt Kühns Aussage aber dadurch, dass sie von einem Mann stammte, der als Behördenchef „erheb lichen Einfluß auf den gesamten Bereich der ‚DDR-Forschung‘ in der BRD hat“, wie Mielkes Männer feststellten.276 Gegen das Gesamtdeutsche Institut wurden ungefähr 20 Inoffizielle Mitarbeiter des MfS eingesetzt.277 Darunter befanden sich unterschiedliche Personen, z. B. einfache Honorarreferenten des Gesamtdeutschen Instituts278, ein Landesgeschäftsführer des Verbandes der Opfer des Stalinismus279, ein Professor für Wirtschaftswissenschaften der Gesamthochschule Kassel280, ein Politikwissenschaftler281, ein Vorsitzender der SPD-Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Kreuzberg282, ein Referatsmitarbeiter des Gesamtdeutschen Instituts283 31.3.1983 bis 10.4.1983 nach Dresden, Potsdam und Halle, in: BStU, ZA, MfS – ZOS 1806, Bl. 004. 275 Vgl. ebd. 276 IPW, Präsident des Gesamtdeutschen Instituts fordert „aktive Wiedervereinigungspolitik“, Interne Information, 13. Juli 1987, in: BStU, ZA, MfS – ZAIG 24174, Teil 2, Bl. 346. 277 Diese Schätzung wurde von Kühn vorgenommen. Seine Liste der auf das Gesamtdeutsche Institut angesetzten IM ist zudem mit dem Hinweis ohne „Anspruch auf Vollständigkeit“ versehen. Siehe Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit, S. 95–97. 278 Günter Schmidt (IM „Zady“); Dr. Andreas Kurjo (IM „Thaer“, „Alexander“), „Walter Krause“. 279 Kurt Thiele (IM „Nielsen“). 280 Prof. Dr. Ludwig Bress (IM „Berger“). 281 Dr. Dietrich Staritz (IM „Erich“). 282 Rainer Klebba (IM „Kleinert“). 283 Dr. Götz Schlicht (IM „Dr. Lutter“, „Dr. Luther“, „Dr.“).
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
sowie ein Regierungsdirektor im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen284. Detlef Kühn hatte zunehmend mit einer zum Selbstzweck gewordenen Entspannungspolitik seiner Partei zu kämpfen. Doch sah es in der Sozialdemokratie nicht viel besser aus, wie wir gesehen haben. Der Stellenwert der Deutschen Frage in der operativen Politik war nur noch in der Union leidlich relevant. Auch im Bereich der Wissenschaft, hier jetzt am Beispiel der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung illustriert, kann man von einer Verschiebung in der Wahrnehmung der ungelösten Deutschen Frage sprechen.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung: Die Gesellschaft für Deutschlandforschung285 1. Die DDR-Forschung als Konfliktfeld der Deutung deutscher Nachkriegsgeschichte Die Geschichte der DDR-Forschung war während der deutschen Teilungszeit politischen Konjunkturen unterworfen.286 Von seinem Anspruch 284 Knut Gröhndal (IM „Töpfer“, „Hanson“). Vgl. die vollständige Liste der auf das Gesamtdeutsche Institut angesetzten IM bei Kühn, Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit, S. 95–97. 285 Zum Gründungsprozess der Gesellschaft für Deutschlandforschung siehe auch Haarmann, Die Gesamtdeutschen, S. 42–46. 286 Auch nach der Wiedervereinigung wurden (und werden auch gegenwärtig weiterhin) Deutungskämpfe über die Leistungen und Versäumnisse dieses Forschungszweiges geführt. Siehe dazu beispielhaft Klaus Schroeder / Jochen Staadt, Der diskrete Charme des Status quo: DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik, in: Leviathan, 1 / 1993, S. 24–63; Sigrid Meuschel, Auf der Suche nach der versäumten Tat – Kommentar zu Klaus Schroeders und Jochen Staadts Kritik an der bundesdeutschen DDR-Forschung, in: Leviathan, 2 / 1993, S. 407–423; Jens Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 409–449 sowie das Nachwort ebd., S. 616–631; ders., Leistungen und Defizite der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung. Eine kritische Reflexion, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), DDR-Forschung: Bilanz und Perspektiven, Berlin 1995, S. 29–39; Jens Hüttmann, „De-De-Errologie“ im Kreuzfeuer der Kritik. Die Kontroverse und die ‚alte‘ bundesdeutsche DDR-Forschung vor und nach 1989, in: Deutschland Archiv, 4 / 2007, S. 671–681; Klaus Schroeder / Jochen Staadt, Geschichtsbegradigung. Die „systemimmanente DDR-Forschung“ soll besser gewesen sein als ihr Ruf. Zu Jens Hüttmanns Eloge auf die „De-De-Errologie“, in: Deutschland Archiv, 5 / 2007, S. 890–899. Zum verbesserungswürdigen Stellenwert der DDR in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur siehe Klaus Schroeder / Monika Deutz-Schroeder / Rita Quasten / Dagmar Schulze Heuling, Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt a. M.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 131
her war dieser Forschungszweig dominiert von den jeweiligen „Mutterwissenschaften“. Eine eigenständige Disziplin war die DDR-Forschung somit zu keiner Zeit, was, wie Eckhard Jesse konstatiert, der „Politisierung gewisse Grenzen“ gesetzt habe.287 Die Geschichte der westdeutschen DDR-Forschung bis zur Friedlichen Revolution 1989 kann in drei Abschnitte unterteilt werden. In der ersten Phase, die „Zeit des Kalten Krieges“, die bis etwa Mitte der 1960er Jahre andauerte, wurde demnach nicht von DDRForschung, sondern von SBZ-Forschung gesprochen. Eine „simplifizierende Form der Totalitarismuskonzeption“ (Eckhard Jesse) habe demnach die immanente, aus sich selbst heraus zu verstehende Herangehensweise an den Forschungsgegenstand DDR behindert.288 Gleichwohl, so ist an dieser Stelle – etwas ketzerisch – mit Jens Hacker zu fragen, welcher Zweig denn wohl das realistischere Bild von der DDR gezeichnet hatte.289 Wichtige Vertreter der frühen DDR-Forschung waren Forscher der sog. „Berliner Schule“ um Ernst Richert290, Arkadij R. L. Gurland291, Otto Stammer292 und Carola Stern293. Nicht zu vergessen Karl Wilhelm Fricke, der im Auftrag des Gesamtdeutschen Ministeriums über „Selbstbehauptung und Widerstand“294 in der DDR berichtete. In der zweiten Phase, bis etwa Anu. a. 2012, S. 113–119. Zur Geschichte der DDR-Forschung siehe auch die dem systemimmanenten Paradigma zugeneigten Monographien von Jens Hüttmann, DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung, Berlin 2008 und Heinz Peter Hamacher, DDR-Forschung und Politikberatung 1949–1990. Ein Wissenschaftszweig zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, Köln 1991. 287 Vgl. Eckhard Jesse, Die DDR-Forschung vor und nach der „Wende“ 1989 / 90, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“. (13. Wahl periode des Deutschen Bundestages). Acht Bände in 14 Teilbänden, Baden-Baden / Frankfurt a. M. 1999, Bd. IV / 2, S. 1191–1221, hier S. 1192. 288 Vgl. ebd., S. 1192–1193. 289 Vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 422. 290 Ernst Richert, Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Mit einer Einleitung von Martin Drath, Köln 1958. 291 A. R. L. Gurland, Einleitung zu M. G. Lange, Totalitäre Erziehung (1954), in: Bruno Seidel / Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 228–266. 292 Otto Stammer, Aspekte der Totalitarismusforschung (1961), in: Bruno Seidel / Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 414–437. 293 Carola Stern, Portrait einer bolschewistischen Partei. Entwicklung, Funktion und Situation der SED, Köln 1957; dies., Ulbricht. Eine politische Biographie, Köln u. a. 1964. 294 Karl Wilhelm Fricke, Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Bonn u. a. 1964.
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fang der 1980er Jahre, hatte der immanente Ansatz um Peter C. Ludz, der 1968 die erste Habilitationsschrift295 auf dem Feld der DDR-Forschung lieferte, Konjunktur. Werke wie „Materialien zur Lage der Nation“296 oder das „DDR-Handbuch“297 entstanden maßgeblich unter ihrer Ägide. Auch das später bei der Gründung der GfD zum Zankapfel avancierte „Gutachten zur Lage der DDR-Forschung“298 entstand unter der Federführung von Peter C. Ludz bis 1978.299 Insgesamt gesehen war die systemimmanente Phase der DDR-Forschung unter der sozialliberalen Bundesregierung geprägt von einer Normalisierung des Verhältnisses zum zweiten deutschen Staat, die nun auch in der Wissenschaft durchgesetzt, etwas vornehmer ausgedrückt: gefördert, wurde. Jetzt sollte das Verhältnis Bundesrepublik – DDR möglichst wenig belastet werden, eben auch in der Wissenschaft, was sich u. a. in der Auflösung des Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung zeigte. Die Auflösung dieses Gremiums, das im Jahre 1952 vom gesamtdeutschen Minister Jakob Kaiser eingesetzt worden war, war „Herzensangelegenheit“ der DDR-Seite während der deutsch-deutschen Sondierungen in Kassel 1970.300 Der For295 Peter C. Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln u. a. 1968. 296 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Deutschland 1971. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation. Wissenschaftliche Kommission: Peter Christian Ludz (Gesamtleitung), [Opladen] 1971; Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), BRD – DDR, Systemvergleich 2: Recht, Bericht und Materialien zur Lage der Nation. Vorwort von Egon Franke. Wissenschaftliche Kommission: Peter Christian Ludz (Gesamtleitung), [Opladen] 1972; Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland – DDR. Systemvergleich 3: Nation, staatliche und gesellschaftliche Ordnung, Wirtschaft, So zialpolitik. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974. Vorwort von Egon Franke. Wissenschaftliche Kommission: Peter Christian Ludz (Gesamtleitung), [Opladen] 1974. 297 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch. Wiss. Leitung: Peter Christian Ludz unter Mitw. von Johannes Kuppe, Köln 1975; Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch. Wiss. Leitung: Peter Christian Ludz unter Mitw. von Johannes Kuppe, 2., völlig überarb. und erw. Aufl., Köln 1979. 298 Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung, erstattet vom Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung unter Vorsitz von Peter C. Ludz, o. O. [Bonn] 1978. 299 Vgl. Jesse, Die DDR-Forschung vor und nach der „Wende“ 1989 / 90, S. 1193– 1194. 300 Vgl. Jens Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 415. Zum Forschungsbeirat siehe auch Markus Gloe, Planung für die deutsche Einheit. Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands 1952–1975, Wiesbaden 2005 sowie Roland Wöller, Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 133
schungsbeirat war für den DDR-Ministerpräsidenten und die gesamte SEDFührung von seiner Aufgabenstellung her ein Störfaktor im Entspannungshoch: Dieser sollte u. a. die Ausarbeitung eines wirtschaftlichen „Sofortprogramms“ für den Fall der Wiedervereinigung vornehmen.301 Die Relevanz des Forschungsbeirates war aber auch in der Bundesrepublik bereits in Frage gestellt worden, sowohl von den Medien als auch von der ersten sozialliberalen Bundesregierung unter Willy Brandt. Diese schränkte seine Tätigkeit „systematisch“ ein, was schließlich zur formellen Auflösung am 8. April 1975 führte.302 Nach Auflösung des Forschungsbeirates wurde als „Nachfolgeorganisa tion“ der Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung eingerichtet. Zwar wurden Mitglieder des aufgelösten Gremiums in das neue Gremium berufen, jedoch führte der Arbeitskreis keine eigene Forschung mehr durch. „Vergleichende Deutschlandforschung“ deutete auch nicht mehr auf ein zu schaffendes Gesamtdeutschland hin, vielmehr sollte dieser Begriff für das Nebeneinander der zwei deutschen Staaten stehen.303 Hauptaufgabe des Arbeitskreises war es, ein Gutachten zum Stand der DDR-Forschung anzufertigen.304 In der dritten Phase der DDR-Forschung, etwa ab 1977 / 78, kam es zu einer Gegenbewegung der totalitarismustheoretisch orientierten Forscher. Resultat war die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Entgegen der weiterhin dominanten systemimmanenten Herangehensweise an den Forschungsgegenstand DDR betonte die GfD wieder die offene Deutsche Frage.305 Das Besondere, ja ‚Gefährliche‘, an der Neugründung dieser wissenschaftlichen Gesellschaft lag aber nicht nur in der Betonung der Offenheit der Deutschen Frage. Vielmehr wollte man „grundsätzlich kritisch“ an den Forschungsgegenstand DDR herangehen306, stellte somit den Herrschaftsanspruch der SED auf den zweiten deutschen Staat in Frage.
1952–1975. Zur politischen und wissenschaftlichen Diskussion der wirtschaftlichen Wiedervereinigung, Düsseldorf 2004. 301 Vgl. ebd., S. 413–415. 302 Vgl. ebd., S. 415. 303 Vgl. Gloe, Planung für die deutsche Einheit, S. 283. 304 Vgl. ebd., S. 285. Nach Abschluss des Gutachtens wurde der Arbeitskreis 1978 aufgelöst. Siehe ebd., S. 290. 305 Vgl. Jesse, Die DDR-Forschung vor und nach der „Wende“ 1989 / 90, S. 1194. 306 Vgl. Oskar Anweiler, Deutschlandforschung, in: Uwe Andersen / Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 4., völlig überarb. u. akt. Aufl., Bonn u. a. 2000, S. 151–154, hier S. 152.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
2. Stationen auf dem Weg zur Gründung der GfD a) Vom Forschungsbeirat zu einer Gesellschaft für DDR-Forschung? – Die Neuordnungsversuche des innerdeutschen Ministeriums 1975–1977 Im Zuge der oben angesprochenen Auflösung des Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung diskutierte man ab 1975 im innerdeutschen Ministerium die Gründung einer Forschungsgesellschaft, um die DDR „wissenschaftlich“ – d. h. im Sinne des systemimmanenten Vergleichs – zu untersuchen. Hierzu wurde vom innerdeutschen Ministerium ein Gutachten mit dem Titel „Vorschläge für die Gründung einer Gesellschaft zur wissenschaftlichen Erforschung der DDR“307 erarbeitet. In diesem Papier wurde unter „Zweck“ der zu gründenden Institution angegeben, dass die Gesellschaft den Mitgliedern „Möglichkeiten der Kooperation“ schaffen und „Kontakte zu DDR-Forschern im Ausland“ ermöglichen sollte. Ebenso beabsichtigte man mit der Gründung, eine Plattform für den Informationsaustausch „zwischen Wissenschaftlern, Publizisten, Politikern, Wirtschaftskreisen oder sonstigen an der DDR interessierten Personen und Organisationen“ zu schaffen. Mit der „Herausgabe einer eigenen Zeitschrift und anderer Veröffentlichungen“ sowie „durch Vorträge, Tagungen, Seminare“ sollte die Gesellschaft breit in die deutsche Öffentlichkeit wirken.308 Als mögliche Vorbilder für die zu gründende Gesellschaft wurde auf die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik und die Deutsche Gesellschaft für Ostasienkunde verwiesen. Offenbar sah man im Jahre 1975 im innerdeutschen Ministerium eine besondere Dringlichkeit für die Gründung einer Plattform für DDRForscher: „Die Schaffung einer wissenschaftlichen Gesellschaft erscheint umso dringlicher, als die DDR-Forschung, anders als die Ost- und Asienforschung, nicht an einem oder mehreren Instituten konzentriert ist. Die DDR-Forscher arbeiten über das Gebiet des Bundes oder Berlins verstreut in kleinen Gruppen oder als ein [sic!] Einzelforscher.“309
Was das innerdeutsche Ministerium allerdings auch mit der geplanten Gründung der Gesellschaft bezweckt haben könnte, konnte man der Konzeption einen Absatz später entnehmen. Offenbar war die Gründung einer „staat307 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Vorschläge zur Gründung einer Gesellschaft zur wissenschaftlichen Erforschung der DDR vom 24. Oktober 1975, in: BAK, B137 / 6997. 308 Vgl. ebd. 309 Ebd.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 135
lichen“ Gesellschaft zur DDR-Forschung eben auch eine Möglichkeit, die Wissenschaftler stärker „auf Linie“ zu bringen bzw. die Forschungsgelder an die der sozialliberalen Koalition wohl gesonnenen Forscher zu lenken: „Die zu gründende Gesellschaft sollte den Kontakt zwischen BMB und der BfgA einerseits und den Wissenschaftlern, Publizisten, Praktikern aus der Wirtschaft und anderen interessierten Personen andererseits noch vertiefen.“310
Das Mitgliederpotential wurde vom innerdeutschen Ministerium auf 150 bis 200 Personen geschätzt. Man vermutete, dass etwa ein Drittel der Mitgliedschaft aus Berlin kommen würde. „[W]egen der ungünstigen geographischen Lage“ wurde Berlin allerdings nicht als Sitz der Gesellschaft favorisiert.311 Diese Aussage ist ebenfalls als politische zu bewerten und nicht als vermeintlich sachliche. Die im Papier angesprochene Vermeidung einer Berliner „Majorisierung“ der neuen Gesellschaft konnte eher damit übersetzt werden, dass Bonn eine Nachfolgeorganisation des gerade erst abgewickelten Forschungsbeirates den Ost-Berliner Machthabern direkt vor der Haustür nicht zumuten wollte: Keine Anerkennung der (geographischen) Realitäten also, sondern ein Einknicken vor dem politischen Tabu der Wiedervereinigung. München kam als Sitz der DDR-Forscher laut BMB-Papier ebenfalls nicht in Frage, da an der dortigen Universität Peter C. Ludz lehrte und man seinen „zu großen Einfluß“ fürchtete.312 Auch hier wird umgekehrt „ein Schuh daraus“: Gerade die Wahl auf München bzw. Ludz wäre ein zu deutliches Signal gewesen, wer die Richtung der sozialliberalen, staatlichen DDR-Forschung bestimmen würde. Ebenso wurde Bonn wegen der befürchteten „Politiknähe“ aus der Liste möglicher Standorte gestrichen. Blieb also nur noch Köln. Hier würde – inmitten einer als positiv bewerteten Nähe zu Institutionen wie dem Deutschlandfunk, der Zeitschrift „Deutschland Archiv“ und dem Bundesinstitut für ostwissenschaftliche Studien – also „ein gewisser Abstand zu den Bonner Institutionen gewahrt“ bleiben können.313 Zu den Persönlichkeiten, die für die zu gründende Gesellschaft angesprochen werden sollten, verzeichnete das BMB-Papier insgesamt 41 Personen. Neben den eher sozialliberalen Wissenschaftlern wie Hartmut Zimmermann, Hermann Weber, Ernst Riechert, Wilhelm Bruns und Eberhard Schulz wurden auch eine Reihe späterer GfD-Gründer bzw. GfD-Mitglieder wie Siegfried Mampel, Karl C. Thalheim, Doris Cornelsen, Oskar Anweiler, Dieter Voigt und Fred S. Oldenburg für eine mögliche DDR-Forschergesellschaft 310 Ebd. 311 Vgl.
ebd. ebd. 313 Vgl. ebd. 312 Vgl.
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seitens des Ministeriums als geeignet erachtet. Zudem sollte die staatliche DDR-Forschergesellschaft „kein reiner Wissenschaftler-Verein“ werden und es sollte möglichst keine politische Richtung bevorzugt werden: „Selbstverständlich müßte überdies darauf geachtet werden, daß nicht eine politische Richtung von vornherein überrepräsentiert ist.“314 Während eines Gesprächs im innerdeutschen Ministerium am 27. Oktober 1975 wurden die Möglichkeiten für eine Gründung einer DDR-Forschergesellschaft weiter erörtert. Zu den innerministerialen Beratungen wurde Ilse Spittmann, Chefredakteurin des „Deutschland Archiv“, hinzugezogen. Im Gesprächsprotokoll wurden deutliche Vorbehalte gegenüber einer möglichen Fachgesellschaft vermerkt. Ebenfalls wurden Bedenken ob der Anzahl der beitrittswilligen Mitglieder vorgetragen. Verschiedene DDR-Forscher, deren Namen im Protokoll nicht genannt sind, hätten „vorwiegend aus politischen Gründen“ eine Mitgliedschaft in der Gesellschaft abgelehnt. Daher stelle sich die Frage nach der Repräsentativität der Organisation.315 Die Hauptaufgaben für die neue Gesellschaft beschrieb man im Ministerium mit der Vermittlung von Grundlagenwissen, der „Beobachtung von Staat und Gesellschaft der DDR“ und der Koordination von „Forschungsaktivitäten“. Allerdings vermerkten die Ministerialen ebenfalls: „Zu einem Instrument der Politikberatung könnte die Gesellschaft kaum werden.“316 Falls es überhaupt zu einer Gründung kommen sollte, so habe die Vorbereitung hierzu durch den Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung zu erfolgen.317 Den einzigen Vorteil einer staatlichen Gesellschaft für DDR-Forschung sahen die Gesprächsteilnehmer in einer möglichen Zusammenarbeit aller an der DDR Interessierten. Die Nachteile wogen nach Ansicht der Ministerialen aber schwerer: So habe man für eine solche Gesellschaft nur wenige Mittel zur Verfügung. Ebenso wurde das Argument der hohen öffentlichen Erwartungshaltung in die Debatte eingeführt. Schon der Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung habe die „hochgespannten Erwartungen der Öffentlichkeit nicht erfüllen können“318. Weiter hieß es im Vermerk aufschlussreich, weshalb eine Gründung scheitern könnte: „Mehr als der Arbeitskreis, wäre eine Gesellschaft Einflüssen der Öffentlichkeit unterworfen. Das aber könnte ihre Arbeit negativ beeinflussen. Gerade im kom314 Ebd. Hervorhebung im Original. Erklärungsbedürftig wäre allerdings auch der Zusatz „von vornherein“ in diesem Papier. 315 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Neuordnung der DDR-Forschung, Vermerk vom 11. November 1975, in: BAK, B 137 / 6997. 316 Ebd. 317 Vgl. ebd. 318 Ebd.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 137 plizierten Bereich der innerdeutschen Beziehungen kann unkontrollierbare Einflußnahme von außen politischen Schaden anrichten.“319
Auch dieser Hinweis zeigt das deutschlandpolitische Vorgehen des so zialdemokratisch geführten Ministeriums nur allzu deutlich. Man befürchtete offenkundig den Konflikt mit Ost-Berlin, falls es im Rahmen der Tätigkeit einer Forschungsgesellschaft für DDR-Fragen zu öffentlichen bundesdeutschen Kontroversen käme, die zu einer Belastung für das Verhältnis zum zweiten deutschen Staat werden könnten. Die ratlosen Ministerialen beauftragen schließlich Ilse Spittmann, bei „privaten Gesprächen“ die „Meinungen“ von „Wissenschaftlern und Publizisten“ hinsichtlich der Gründung einer staatlichen DDR-Forschergesellschaft einzuholen, mit der brisanten Anweisung: „Dabei soll sie sich nicht auf das Gespräch vom 27. Oktober [an dem Spittmann im BMB zum Gespräch geladen war; L. H.] beziehen und nicht durchblicken lassen, daß im BMB diesbezügliche Erörterungen angestellt werden.“320 Die Gründung der staatlichen DDR-Forschungsgesellschaft als Geheimaktion? Auch dieser Satz offenbart die vorhandene Angst Bonns vor einer Störung der Entspannung, falls die geplante Gründung öffentlich werden würde, und dieses möglicherweise ausgerechnet ein Jahr vor der Bundestagswahl 1976. Auch ein Gespräch zwischen dem innerdeutschen Ministerium und Peter C. Ludz im Dezember 1976 brachte nicht die erwünschte Klarheit hinsichtlich des weiteren Vorgehens der Gründung einer Forschungsgesellschaft für DDR-Fragen. In dieser Unterredung machte Ludz gegenüber dem BMB deutlich, sich nach dem voraussichtlichen Abschluss des Gutachtens zur DDR-Forschung Anfang 1978 anderen Aufgaben widmen zu wollen321 und kam damit auch möglichen Gedankenspielen um seine Rolle in der zu gründenden Gesellschaft zuvor. Das innerdeutsche Ministerium versuchte im Juni 1977 auf der Lerbacher Tagung, die jährlich stattfand und bis dato das Forum für DDR-Forscher darstellte, weitere Stimmungsbilder unter den Wissenschaftlern hinsichtlich der Gründung einer Forschungsgesellschaft einzuholen. Allerdings war der Erkenntnisgewinn gering: „Soweit ersichtlich, wird die Idee einer Gesellschaft für DDR-Forschung in dem genannten Kreis [Lerbach-Tagungsteilnehmer; L. H.] z. Z. unverbindlich und ganz 319 Ebd. 320 Ebd.
321 Vgl. den Vermerk „DDR-Forschung“ aus dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vom 22. Dezember 1976, in: BAK, B137 / 6997. Natürlich war dieser Hinweis von Ludz unter dem Vorbehalt gegeben worden, dass es ein (vermutlich finanziell) besseres Angebot aus dem innerdeutschen Ministerium geben würde. Vgl. ebd.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
allgemein (und von Einzelnen) diskutiert. Konkrete Vorschläge zur Realisierung eines bestimmten Projekts bestehen (noch) nicht.“322
b) Widerstand gegen die Pläne des innerdeutschen Ministeriums: Überlegungen zur Gründung einer Gesellschaft für Deutschlandforschung 1977 / 78 Die Sorge um den schwindenden Methodenpluralismus in der DDR-Forschung – weg vom totalitarismustheoretischen Paradigma in der Betrachtung der DDR hin zu einer systemimmanenten Herangehensweise – gab den letzlich entscheidenden Impuls für die Gründung einer Gesellschaft für Deutschlandforschung.323 Was bedeutete diese methodische Verschiebung für kritische Deutschlandforscher, die sich um Siegfried Mampel im Herbst 1977 in Berlin mit der Gründung einer privat organisierten wissenschaft lichen Fachgesellschaft für DDR-Fragen befassten? Zunächst einmal bedeutete die Methode des innerdeutschen systemimmanent angelegten Systemvergleichs einen Verzicht auf die moralische Bewertung der DDR, den die Akteure um Mampel zu leisten nicht bereit waren. Im Klima der zeitgeistigen sozialliberalen Entspannungspolitik war es der Bundesregierung und dem fachlich zuständigen innerdeutschen Ministerium nicht immer angenehm, mit Forderungen nach einer allzu offensiven Deutschlandpolitik in Richtung einer kritischen Bewertung der DDR-Verhältnisse beschäftigt zu werden; die mit der „neuen“ Deutschlandpolitik erhofften gutnachbarschaftlichen Beziehungen zur DDR sollten nicht gefährdet werden. Diese These konnte ja bereits mit der Analyse der Dokumente aus dem innerdeutschen Ministerium aus den Jahren 1975 bis 1977 belegt werden, als dort Überlegungen zur Gründung einer staatlichen DDR-Forschergesellschaft angestellt wurden. Nicht nur bei der (geplatzten) Gründung einer staatlichen DDRForschergesellschaft nahm man Rücksicht auf Ost-Berliner Befindlichkeiten, auch der Gründungsprozess der GfD stand unter keinem günstigen politischen Stern. Der Gründerkreis der kritischen Deutschlandforscher um Doris Cornelsen, Wolfgang Förster, Maria Haendcke-Hoppe, Hermann Kreutzer, Siegfried Mampel, Joachim Nawrocki und Karl C. Thalheim versammelte sich am 15. September 1977 in Berlin, um für den 27. Oktober 1977 zur Grün322 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Vermerk „Gründung einer Gesellschaft für DDR-Forschung“ vom 8. Juni 1977, in: BAK, B137 / 6997. 323 Vgl. Günther Heydemann, 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung. Das geteilte Deutschland im Spiegel einer wissenschaftlichen Vereinigung, in: ders. / Eckhard Jesse (Hrsg.), 15 Jahre deutsche Einheit. Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen, Berlin 2006, S. 361–376, hier S. 362.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 139
dungsversammlung einer Gesellschaft für Deutschlandforschung aufzurufen.324 In einer Presseerklärung versuchte das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen unter dem Hinweis auf die kurz vor dem Ende stehenden Untersuchungen des Arbeitskreises für vergleichende Deutschlandforschung die Gründung zu verhindern. Ohne das noch ausstehende Gutachten zur DDR-Forschung könne demzufolge der neue Forschungskreis auch nicht mit einer finanziellen Förderung durch das innerdeutsche Ministerium rechnen. Über seinen Staatssekretär Dieter Spangenberg versuchte der innerdeutsche Minister den Mitgründern Hermann Kreutzer, der zur damaligen Zeit Ministerialdirektor im BMB war, und Siegfried Mampel, damals Abteilungsleiter des Gesamtdeutschen Instituts in Berlin, die Mitwirkung an der GfD-Gründung zu verbieten.325 Trotz der Turbulenzen tagte die GfD-Gründungsversammlung am 27. Oktober 1977 in Berlin. Man nahm aber hier zunächst von einer formalen Gründung der Gesellschaft Abstand, um dem innerdeutschen Minister Franke die Gelegenheit zu geben, seine in der Pressemeldung geäußerten Bedenken zu zerstreuen. Hinsichtlich der Anwürfe aus dem BMB, eine Konkurrenzveranstaltung zum Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung zu sein, stellte die Gründungsversammlung mittels einer „Entschließung“ fest: „Die Gründung läßt den Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung nicht außer acht. Der Arbeitskreis hat nur zeitlich begrenzte Aufgaben zu erfüllen. Die Gesellschaft soll unbefristet tätig sein. Die Aufgaben sind andere. Zudem sollte unbestritten sein, daß in der Deutschlandforschung eine überparteiliche, dem wissenschaftlichen Pluralismus verpflichtete, von privater Ini[ti]ative getragene Gesellschaft tätig sein darf.“326
Weiter hieß es in dem Papier: „Die Sprecher werden verpflichtet, den Gründerkreis spätestens im Frühjahr 1978 über das Ergebnis der Ge spräche zu unterrichten.“327 Zu den Sprechern des Gründerkreises wählte 324 Vgl. das Schreiben von Siegfried Mampel an Maria Haendcke-Hoppe vom 4. Oktober 1977, in: Gesellschaft für Deutschlandforschung, Dokumentation über die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, o. O. und o. J. [ca. 1982], in: GfD-Archiv. 325 Vgl. Gesellschaft für Deutschlandforschung, Dokumentation über die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, S. 1, in: GfD-Archiv. Vgl. zur Gründung der GfD auch Heydemann, 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung, S. 362. Für Heydemann äußerte sich der eminent politische Charakter der Gesellschaftsgründung auch darin, dass in der Presseerklärung fälschlicherweise von einer Gesellschaft für Deutschlandpolitik gesprochen wurde. Vgl. ebd. 326 Entschließung [des Gründerkreises der Gesellschaft für Deutschlandforschung] vom 27. Oktober 1977, in: Gesellschaft für Deutschlandforschung, Dokumentation über die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, in: GfD-Archiv. 327 Ebd.
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die Versammlung Siegfried Mampel, Jens Hacker und Maria HaendckeHoppe.328 Jetzt schrillten im innerdeutschen Ministerium die Alarmglocken, wie aus internen Vermerken und Korrespondenzen hervorgeht. Zugleich wird anhand dieser Schriftstücke deutlich, wie eng das politische Zusammenwirken des BMB und des auf Ministeriumslinie liegenden Sprechers des Arbeitskreises für vergleichende Deutschlandforschung, Peter C. Ludz, gewesen war. Ein Vermerk vom Oktober 1977 aus dem innerdeutschen Ministerium befasste sich mit einem Anruf von Ludz im Ministerium am 10. Oktober 1977. Ludz warnte darin das BMB vor „Unzuträglichkeiten“, die seinem Arbeitskreis aus der Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung erwachsen könnten. Zudem fühlte er sich offenbar auch von Doris Cornelsen, einem Mitglied seines Arbeitskreises und nunmehrige Mitgründerin der GfD, verraten. Ihr Verhalten bezeichnete Ludz gegenüber den Ministerialen als „grobe[n] Vertrauensbruch“.329 Zudem setzte sich der prominente DDRForscher für die Beibehaltung der Formulierung in der Presseerklärung des BMB anlässlich der GfD-Gründung ein, wonach die neue Vereinigung mit keiner Förderung durch das innerdeutsche Ministerium rechnen könnte.330 Vom BMB verlangte Ludz eine „unmissverständliche Distanzierung“ von der GfD. Er beurteilte die neue Fachgesellschaft als Gründung gegen das BMB, den Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung und nicht zuletzt auch gegen seine eigene Person. Hinsichtlich der Erfolgsaussichten der neuen Forschungsgesellschaft äußerte sich Ludz skeptisch. So deute die „ängstlich wirkende Konspiration“ der Gründungsmitglieder darauf hin, dass der GfD „nur ein sehr bescheidener Start beschieden“ sein werde. Auch der Tagungsort Berlin würde viele potentielle Mitglieder von einer Teilnahme an Veranstaltungen der neuen Organisation abhalten, da diese keine materielle Unterstützung für die Anreise der Teilnehmer leisten könne.331 In einem an den Minister für innerdeutsche Beziehungen „persönlich“ gerichteten Brief vom 12. Oktober 1977 fasste Ludz seine Bedenken hinsichtlich der anstehenden Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung noch einmal zusammen. In diesem Schreiben bezeichnete Ludz die Gründung als ein „Politikum“, da sich die GfD „bewußt über den Berliner Raum hinaus an alle interessierten Wissenschaftler, Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland“ 328 Vgl.
ebd. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Vermerk „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ vom 11. Oktober 1977, in: BAK, B137 / 6997. 330 In diesem Telefongespräch wurde Ludz der Entwurf der Erklärung vorgelesen. Vgl. ebd. 331 Vgl. ebd. 329 Vgl.
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richte.332 Auch das von Ludz als Illoyalität wahrgenommene Verhalten von Doris Cornelsen fand in seinem Brief erneut Erwähnung. Schlimmer als dieses wogen für den Münchner Professor aber die „sachliche[n] Argumente“. Seiner Einschätzung nach würden nämlich durch die geplante Gründung „in jedem Fall Kompetenzen der öffentlichen Forschungsförderung und Wissenschaftspolitik“ berührt. Erneut plädierte Ludz dafür, die Fertigstellung seines Gutachtens zur Situation der DDR-Forschung abzuwarten, auf dessen Grundlage das innerdeutsche Ministerium das weitere Vorgehen im Bereich der DDR-Forschung objektiv bewerten könne.333 Nach „grundsätzliche[n] Erwägungen“ Ludz’ sprachen drei weitere Argumente gegen die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Erstens sei die DDR-Forschung „niemals eine eigenständige wissenschaft liche Disziplin gewesen und sollte dies auch künftig nicht sein.“ Eine eigen ständige Fachgesellschaft auf diesem Gebiet würde die bisherige enge Anbindung der DDR-Forscher an ihre jeweiligen Mutterwissenschaften lockern und zu Qualitätsverlusten führen. Zweitens sei der Verweis der GfD-Gründer auf die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde als Begründung für die Notwendigkeit einer eigenen Fachgesellschaft nicht stichhaltig. Eine „gesonderte Interessenvertretung“ der DDR-Forscher halte er hier insbesondere aus zahlenmäßigen Gründen für nicht erforderlich. Drittens sprach nach Ludz ein „wissenschaftspolitisches Argument“ gegen die Gründung der GfD. Unter dem Verweis, dass es in der DDR-Forschung „aufgrund der politischen Nähe des Gegenstandes“ und daraus resultierend starke „Auffassungsunterschiede“ gebe, sollte angesichts der GfD-Gründung seitens des Ministeriums „der Eindruck vermieden werden“, dass „hier […] eine Fraktionsbildung institutionalisiert“ werde. Ebenso würden mit der Gründung auch in der Zukunft liegende Maßnahmen des innerdeutschen Ministeriums „zur Neuordnung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung davon nicht unwesentlich präjudiziert“334. Letzlich lehnte Ludz das Vorhaben rundweg ab: „Ich schließe daher (beim Stand der Dinge) jede Form der Mitarbeit in der geplanten Gesellschaft für meine Person aus.“335 Bereits am 5. Oktober 1977 hatte das innerdeutsche Ministerium ein Anruf der Chefredakteurin des „Deutschland Archiv“, Ilse Spittmann, erreicht. In diesem Telefonat informierte sie das BMB über ihre Einladung zur Gründungsversammlung der GfD für den 27. Oktober 1977. Bereits auf 332 Peter C. Ludz, Brief an den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen vom 12. Oktober 1977, in: BAK, B137 / 6997. 333 Vgl. ebd. 334 Ebd. 335 Ebd. Auch seine Einladung zur Gründungsversammlung der GfD erwähnte Ludz gegenüber dem Minister. Vgl. ebd.
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der Lerbach-Tagung seien ihr Gerüchte hinsichtlich einer bevorstehenden Gründung zu Ohren gekommen. Allerdings, so heißt es im Vermerk des innerdeutschen Ministeriums weiter, habe sie den Eindruck einer gelungenen Geheimhaltung durch die Gründer gewonnen. Spittmann befürchtete offenbar im Zusammenhang mit der Gründung eine „Absetzbewegung“ von „ihren“ Lerbach-Tagungen. Ihre Tagungen in Lerbach seien den GfD-Initiatoren ihrem Eindruck nach offenbar zu „linkslastig“.336 Am 11. Oktober 1977 beantwortete Ilse Spittmann dann auch Mampels Einladung zur geplanten Gründungsversammlung der GfD. In diesem Schreiben begründete sie ihre Nichtteilnahme mit denselben Einwänden, die sie zuvor im Telefonat mit dem innerdeutschen Ministerium angeführt hatte. Sie sei „traurig“ über die Entwicklungen, da sich ihrer Ansicht nach ein „so kleiner Zweig“ wie die DDR-Forschung „institutionalisierte Richtungskämpfe nicht leisten“ könne. Die an der Gründung beteiligten Persönlichkeiten schätze sie „alle ausnahmslos“. Zugleich sicherte Spittmann Mampel zu, dass das „Deutschland Archiv“ „für alle offen“ bleiben werde. Ebenso wie Ludz schloss Spittmann eine Mitgliedschaft ihrer Person in der neuen Vereinigung aus.337 Wenige Tage später, am 19. Oktober 1977, schrieb Peter C. Ludz erneut einen Brief an das innerdeutsche Ministerium. In diesem Schreiben, das er als „vertraulich – persönlich“ kennzeichnete, berichtete er über seine jeweils offenbar längeren Einzelgespräche mit den Gründungsmitgliedern der GfD, namentlich mit Siegfried Mampel, Hermann Kreutzer und Karl C. Thalheim. Von Mampel erfuhr Ludz dabei, dass dieser der „eigentliche Initiator“ der Gesellschaftsgründung gewesen sei. Zudem hatte sich Mampel gegenüber Ludz offenbar auf Hermann Rudolph, einen Journalisten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, berufen, der ihn demnach nach einem Zeitungsbericht über die Lerbach-Tagung 1976 erst auf die Idee einer Gesellschaftsgründung gebracht habe. Ludz zufolge hatte Mampel 98 Persönlichkeiten angeschrieben und bis zum Zeitpunkt des Gesprächs mit ihm bereits 22 Zusagen über die Teilnahme an der Gründungsversammlung erhalten.338 Aufgrund eigener Recherchen hatte Ludz zudem von Plänen erfahren, dass das Mitglied des Arbeitskreises für vergleichende Deutschlandforschung, der Soziologe Dieter Voigt, als Vorsitzender der Gesellschaft für 336 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Vermerk „Gründung einer ‚Gesellschaft für Deutschlandforschung‘ vom 5. Oktober 1977, in: BAK, B137 / 6997. 337 Vgl. Ilse Spittmann, Brief an Siegfried Mampel vom 11. Oktober 1977, in: BAK B137 / 6997. 338 Vgl. Peter C. Ludz, Brief an Ministerialdirektor Edgar Hirt (Leiter des Ministerbüros) vom 19. Oktober 1977, in: BAK, B137 / 6997.
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Deutschlandforschung installiert werden sollte. Im Gespräch mit Mampel schließlich konnte Ludz diesem die vorgeblich ablehnende Haltung Voigts übermitteln, woraufhin Mampel geäußert habe, so Ludz, dass er dann die Präsidentschaft der GfD wohl selbst übernehmen müsse. Mampel sicherte Ludz die Pluralität der neuen Vereinigung zu und bot diesem einen Sitz im Vorstand an. Der Münchner Professor plädierte gegenüber dem späteren GfD-Vorsitzenden dafür, angesichts der bisherigen Turbulenzen die Versammlung „hinter verschlossenen Türen“ durchzuführen und die Gründung dann versanden zu lassen.339 Zweiter Gesprächspartner von Ludz war der Ministerialdirektor im innerdeutschen Ministerium, Hermann Kreutzer. Dieser bestätigte gegenüber Ludz den Hergang der Gründungsgeschichte der GfD. So sei Mampel an ihn, Kreutzer, wegen einer Gesellschaftsgründung herangetreten. Inzwischen habe er jedoch die Einsicht gewonnen, dass eine Gründung die DDR-Forschung noch weiter zersplittern würde, so die Reaktion Kreutzers in den Erinnerungen von Ludz. Aus Gründen des „Stolzes“ beabsichtigte er trotzdem an der Gründungsversammlung teilzunehmen, auch weil er im innerdeutschen Ministerium hinter seinem Rücken scharf kritisiert worden sei. Falls es auf der Versammlung jedoch zu Angriffen auf den innerdeutschen Minister Franke oder das BMB insgesamt käme, wollte er die Versammlung „unter Protest“ verlassen.340 Auch der Ökonom Karl C. Thalheim wurde in einem Gespräch von Peter C. Ludz angehalten, von der Gesellschaftsgründung Abstand zu nehmen. So sollte Thalheim möglichst auf Mampel einwirken, „die Sache abzublasen.“341 Letztlich fasste Ludz in seinem Schreiben an das innerdeutsche Ministerium seine scheinbaren Gesprächserfolge in sechs Punkten zusammen: Demnach ging er erstens davon aus, dass es ihm im Rahmen der drei geführten „Intensivgespräche“ gelungen sei, Mampel, Kreutzer und Thalheim von dem ungünstigen Zeitpunkt ihrer beabsichtigten Gründung zu überzeugen. Zweitens nahm er an, dass die Gründung „hinter verschlossenen Türen ohne Presse etc.“ stattfinden würde. Drittens meinte er zu wissen, dass man mit „einer angemessenen Einbindung der im DDR-Forschungsbereich tätigen prestigebewußten Forscher“ künftige Konflikte würde vermeiden können. Viertens glaubte Ludz, eine Netzwerkbildung von ehemaligen Mitgliedern oder nahestehenden Wissenschaftlern des Forschungsbeirates im Rahmen der Gesellschaftsgründung vorgefunden zu haben. Fünftens sei für ihn die Beteiligung von Dieter Voigt und Doris Cornelsen, die Mitglieder seines Arbeitskreises waren, befremdlich. Sechstens hätten ihm die befragten Per339 Vgl. 340 Vgl.
341 Ebd.
ebd. ebd.
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sonen zugesichert, im Geiste der „Integration“ der DDR- und Deutschlandforscher zu handeln, was er diesen aber offenbar nicht ohne Weiteres abnehmen wollte.342 Ebenso aus dem Gesamtdeutschen Institut wurde das innerdeutsche Ministerium mit Strategien für den richtigen Umgang mit der anstehenden Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung versorgt. So wurden in einem Aktenvermerk folgende vier Möglichkeiten des Umgangs mit der neuen Vereinigung durchgespielt: „Das BMB kann auf die geplante Gründung einer Gesellschaft für Deutschlandforschung nach meiner Auffassung auf verschiedene Weise reagieren: a) Man könnte die Gesellschaft ignorieren und hoffen, daß sie ‚austrocknet‘ und in die Bedeutungslosigkeit versinkt. b) Man könnte Druck ausüben, um dadurch u. U. zu erreichen, daß nur wenige in der Gesellschaft mitarbeiten und ihre Wirkung begrenzt bleibt. c) Es könnte durch die Gründung einer (großzügig mit finanziellen Mitteln ausgestatteten) Gegengesellschaft u. U. die Auszehrung der Berliner Gesellschaft [womit die GfD gemeint war; L. H.] erreicht werden. d) Das BMB könnte sich in die Gründungsverhandlungen mit dem Ziel einschalten, den Gründungstermin hinauszuschieben, Vertrauenspersonen in den Gründungsausschuß zu bringen und die Gesellschaft im eigenen Sinne ‚umzufunktio nieren‘.“343
Letztlich wurde vom Gesamtdeutschen Institut die Regelung nach dem vierten Punkt, also der „Umfunktionierung“ der GfD und der damit einhergehenden Beeinflussung aus dem innerdeutschen Ministerium, präferiert.344 Im innerdeutschen Ministerium bereitete man im Oktober 1977 eine Erklärung anlässlich der – zunächst noch verschobenen – Gründung der GfD vor. In dieser Pressemitteilung, die ursprünglich als Erklärung des zuständigen Ministers Franke erscheinen sollte, erklärte nun „ein Sprecher des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen“ die Haltung des Hauses ob der Turbulenzen um die Gründung der Gesellschaft. Neben dem Hinweis auf das noch nicht abgeschlossene Gutachten zum Stand der DDRForschung, dessen Ergebnisse man erst einmal entgegennehmen wollte, schloss das BMB eine ideelle und finanzielle Förderung der GfD aus.345 342 Vgl.
ebd. aus der Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, „Gründung einer ‚Gesellschaft für Deutschlandforschung‘, hier: Bericht über Gespräche während der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Stuttgart am 13. und 14.10.1977“ vom 17. Oktober 1977, in: BAK, B137 / 6997. Hervorhebungen im Original. 344 Vgl. ebd. 345 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Pressemitteilung vom 21. Oktober 1977, in: Gesellschaft für Deutschlandforschung, Dokumentation 343 Vermerk
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Auch in der westdeutschen Medienlandschaft wurde über die Querelen im Zusammenhang mit der verschobenen Presse GfD-Gründung berichtet. So führte ein Bericht unter dem Titel „Das innerdeutsche Ministerium legt sich quer“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 18. Oktober 1977 als Hauptknackpunkt der Gründung den politischen Hintergrund an. Ludz habe seine totalitarismustheoretisch orientierten Kollegen dahingehend verärgert, als er diese Forschungsrichtung „als naiv bezeichnet“ habe. Zudem habe das Auftreten Rudi Dutschkes bei einigen Teilnehmern der Lerbach-Tagung 1977 Irritationen hervorgerufen. Es sei aber allen Beteiligten daran gelegen, zu einer Abkühlung der aufgeheizten Situation beizutragen.346 Jens Hacker selbst bezeichnete das Vorgehen des innerdeutschen Ministeriums gar als „unglaubliche Einmischung.“347 Auch Joachim Nawrocki berichtete im „Ost-West-Forum“ am 29. Oktober 1977 unter dem Titel „DDR-Forschung im Zwiespalt“ über die Querelen im Zusammenhang mit der letztlich abgesagten Gründungsversammlung: „Zur Überraschung aller Beteiligten leistete aber das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen offen und verdeckt massiven Widerstand gegen die Gründung dieser Forschungsgesellschaft, die nach dem Vorbild der renommierten Gesellschaft für Osteuropakunde entstehen sollte. In der bereits zitierten Pressemitteilung wurde die Gründung der Gesellschaft behördlich gerügt; den Beteiligten wurde unterstellt, [s]ie wollten die Förderung der DDR-Forschung behindern. Schon dies ist eine ungewöhnliche Einmischung des Staates in einen absolut privaten Vorgang. […] Zahlreiche Wissenschaftler wurden direkt oder indirekt aufgefordert, sich nicht an der Gründung zu beteiligen. Es gab erzürnte Gespräche, Drohungen und Beschimpfungen, die vor allem von einigen wenigen Mitgliedern des Arbeitskreises ausgingen.“348
Nach der zunächst gescheiterten Gründung erhielt das innerdeutsche Ministerium zustimmende Reaktionen aus der etablierten DDR-Forschung. Eberhard Schulz beispielsweise, Mitarbeiter des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, berichtete an den innerdeutschen Minister, dass er nur aus der Zeitung von der geplanten Gründung erfahren habe. Er wandte sich im Schreiben gegen eine (weitere) Verüber die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, o. O. und o. J. [ca. 1982], in: GfD-Archiv. Vgl. auch den Vermerk des BMB „Gründung einer ‚Gesellschaft für Deutschlandforschung‘ “, 18. Oktober 1977, in: BAK, B137 / 6997. 346 Vgl. „Das innerdeutsche Ministerium legt sich quer. Gründung der Gesellschaft für Deutschland-Forschung verschoben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Oktober 1977. 347 „Unglaubliche Einmischung“, in: Die Welt vom 29. / 30. Oktober 1977. 348 Joachim Nawrocki, DDR-Forschung im Zwiespalt. Sender Freies Berlin, OstWest-Forum, gesendet im SFB und WDR am 29. Oktober 1977, in: BAK, B 137 / 6997. Nawrocki gehörte zu den Gründern der GfD und war zeitweise Vorstandsmitglied.
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schlechterung des Klimas unter den Deutschlandforschern. „Glaubensbekenntnisse“ in der Deutschlandforschung lehnte Schulz ab. Den Wissenschaftlern müsse eingeräumt werden, sich mit dem Forschungsgegenstand „unvoreingenommen auseinanderzusetzen“. Dies gelte insbesondere für denjenigen Forscher, der das Grundgesetz ernst nähme. Andernfalls drohe eine Degeneration der Forschung zur „Propaganda“. Diese Windungen Schulz’ bedeuteten wohl nichts anderes, als dass er das in der Präambel des Grundgesetzes verankerte Wiedervereinigungsgebot indirekt für überholt hielt und vermutlich – im Gegensatz zu den in der GfD versammelten Wissenschaftlern – eine weitere Orientierung seiner Forschungsrichtung an dieser Präambel für überflüssig bzw. die Deutsche Frage eben nicht mehr für offen hielt: „Muß etwa ein Wissenschaftler, der eine bestimmte Formulierung nicht für angemessen hält und sich weigert, sie zu unterzeichnen, damit rechnen, moralisch disqualifiziert zu werden?“349 Schulz plädierte in seinem Schreiben an den innerdeutschen Minister Franke zudem dafür, „daß private Hexenjagden im Bereich der Deutschlandforschung vermieden werden.“350 Eine gegenüber der Gründung positive Stimme war hingegen die des Direktors des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst), Heinrich Vogel. Unter Bezugnahme auf Parallelitäten im Falle der Osteuropakunde mit der Ressortforschungseinrichtung BIOst sowie der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde konnte Vogel in seinem Brief vom Oktober 1977 an den innerdeutschen Minister Franke einer ähnlichen Entwicklung in der Nachbardisziplin DDR-Forschung durchaus positive Seiten abgewinnen. Als Begründung für eine eigene Fachgesellschaft im Bereich der DDR-Forschung diente ihm dabei das Vorbild der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. Laut Vogel seien im Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung eben nicht alle mit dem Forschungsgegenstand befassten Wissenschaftler versammelt. Diesem Mangel könne durch die Gründung einer speziellen Gesellschaft Abhilfe geschaffen werden.351 In einem Brief an den innerdeutschen Minister vom 9. November 1977 wehrte sich das GfD-Gründungsmitglied Karl C. Thalheim gegen die Pressemitteilung des BMB. So führte Thalheim an, dass seit der ersten DDRForschertagung 1967 in Tutzing wiederholt über eine Gründung einer speziellen Fachgesellschaft nachgedacht worden sei. Auch zu den Differenzen 349 Eberhard Schulz, Brief an Bundesminister Egon Franke vom 31. Oktober 1977, in: BAK, B 137 / 6997. 350 Ebd. 351 Vgl. Heinrich Vogel, Brief an Bundesminister Egon Franke vom 28. Oktober 1977, in: BAK, B 137 / 6997.
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innerhalb der DDR-Forschergemeinschaft nahm Thalheim Stellung. Gerade eine unabhängige Gesellschaft bot seiner Ansicht nach eine wichtige Voraussetzung, um Differenzen innerhalb der Forschergemeinde abzubauen und zu überwinden. Ebenso sei für eine solche Aufgabe der (staatliche) „Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung“ nicht geeignet, da dort eben nur 20 Wissenschaftler versammelt seien, die nur einen „schmalen Ausschnitt“ repräsentierten. Nachdrücklich wies Thalheim den Minister auf die parteipolitische Neutralität der geplanten Gesellschaft hin.352 Ende Dezember 1977 wurden im BMB erneut Überlegungen zur Gründung einer eigenen DDR-Forschergesellschaft angestellt. Obgleich man 1975 das Vorhaben ad acta gelegt hatte, sah man es nun angesichts der Turbulenzen um die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung im Laufe des Jahres 1977 mit „neuer Dringlichkeit“. In einem internen Vermerk wurde das „obstruktive Vorgehen des Initiatorenkreises um Dr. Mampel“ kritisiert. Dieser habe für die letztlich ja geplatzte Gründerversammlung der GfD „[e]igenartige Formen der Werbung“ betrieben, zudem eine ausformulierte Satzung bereits vor der Gründungsversammlung verteilt sowie die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde für die Werbung neuer Mitglieder der GfD genutzt. Zudem betreibe Mampel die Gesellschaftsgründung „aus einem tiefen Ressentiment heraus“. Im BMB vermutete man außerdem, dass der GfD trotz einer möglichen Projektförderung aus dem eigenen Hause für den laufenden Geschäftsbetrieb das nötige Geld fehlen könnte. Letztlich sollte das innerdeutsche Ministerium „die Gründung ignorieren“ und „seine Haltung in geeigneter Form der Öffentlichkeit gegenüber […] verdeutlichen“.353 Wissenschaftspolitisch hingegen wurde im selben Vermerk die generelle Notwendigkeit einer Fachgesellschaft zur Erforschung der DDR bejaht. Gleichwohl war man im BMB überzeugt, dass der Arbeitskreis als Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche Fachgesellschaft nicht geeignet sei. Für eine erste Sondierungsversammlung kamen nach Ansicht des innerdeutschen Ministeriums „ein Kreis von etwa 15 bis 20 Personen“354 in Frage. 352 Vgl. Karl C. Thalheim, Brief an Bundesminister Egon Franke vom 9. November 1977, in: BAK, B 137 / 6997. 353 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Aktenvermerk „Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft für DDR- und Deutschlandforschung vom 16. Dezember 1977, in: BAK, B 137 / 6997. 354 Der Vermerk des BMB nennt systemimmanente DDR-Forscher wie Peter C. Ludz, Hartmut Zimmermann und Hermann Weber als mögliche Kandidaten. Aber auch spätere GfD-Gründer bzw. Mitglieder wie Oskar Anweiler, Karl C. Thalheim oder Jens Hacker wurden in die Überlegungen des Ministeriums einbezogen. Zum Kreis der Erwählten zählten u. a. zudem die Journalisten Peter Bender, Hermann Rudolph, Joachim Nawrocki und auch Ilse Spittmann. Vgl. ebd.
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Zu diesen sollte unter Umständen auch Siegfried Mampel stoßen dürfen, „sofern er von der Sondergründung Abstand“ nehme.355 Auch die vom BMB initiierte Gründung einer (staatlichen) DDR-Forschergesellschaft durfte und sollte nicht ohne eine Präambel auskommen. Statt – wie es Mampel für die GfD beabsichtigte – im Bewusstsein der offenen Deutschen Frage zu arbeiten, wollte man für die Ministeriumsgesellschaft die Präambel der ursprünglich von Herbert Wehner geplanten Deutschlandakademie356 verwenden: „Je länger die Teilung Deutschlands dauert, umso zahlreicher werden die Fragen, die wissenschaftlich unabhängig untersucht und im Gespräch zwischen Wissenschaft und Politik geklärt werden müssen …“357 Die Mitgliedschaft in der neuen staatlichen Forschergesellschaft sollte auf „graduierte Wissenschaftler“ beschränkt bleiben, um „Ausuferungen“ wie bei den letzten Lerbach-Tagungen (u. a. DutschkeAuftritt) zu verhindern. Gleichwohl sollte es zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein, „fachlich besonders ausgewiesene[n] Journalisten“ die Mitgliedschaft in der Gesellschaft zu ermöglichen. Da der Name „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ von Mampel bereits „ideell okkupiert“ worden sei, wollte man die neue Forschergruppe „Gesellschaft für vergleichende Deutschlandforschung“ bzw. „Gesellschaft für DDR- und vergleichende Deutschlandforschung“ nennen. Sitz der staatlichen DDR-Forschergesellschaft sollte Berlin sein, „trotz der Einsicht in die durch ortsbedingte Besonderheiten bedingte[n] Problematik.“358 Was das hieß war klar: Man wollte Ost-Berlin durch die Anwesenheit einer DDR-Forschungsgesellschaft, gerade im freien Teil Berlins, nicht verärgern, fürchtete vielleicht Repressio nen beim Grenzübertritt für Mitglieder aus Westdeutschland, wenn sie sich für eine Veranstaltung in Berlin (West) einfinden wollten. Das Zentralorgan der neuen Gesellschaft sollte das „Deutschland Archiv“ werden, wenngleich man Einbußen hinsichtlich der „relativen Unabhängigkeit“ für die Redak tion um Ilse Spittmann befürchtete. Auch ein Scheitern des eigenen Vorhabens kalkulierten die Mitarbeiter des BMB bereits ein. In diesem Falle käme „zwangsläufig die Mampel-Gründung“, also die GfD, als Empfängerin für 355 Vgl.
ebd. den Plänen für eine Deutschlandakademie siehe Wöller, Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands 1952–1975, S. 242–247. 357 Zit. nach Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Aktenvermerk „Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft für DDR- und Deutschlandforschung vom 16. Dezember 1977, in: BAK, B 137 / 6997. 358 Vgl. ebd. Im BMB rechnete man mit einer Mitgliederzahl von 120 für die eigene Gesellschaft, die zu einer Jahrestagung analog der Lerbach-Veranstaltungen zusammenfinden sollte. Außerdem plante man jährlich fünf Arbeitstagungen mit je 30 Teilnehmern ein. Die Geschäftsstelle sollte mit zwei Angestellten bestückt werden. Vgl. ebd. 356 Zur
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Fördergelder aus dem innerdeutschen Ministerium ins Spiel. Als Gegenpol empfahlen die Ministerialen dann die Fortexistenz des Arbeitskreises für vergleichende Deutschlandforschung.359 c) Die Gründung der GfD 1978 Zum Jahreswechsel 1977 / 78 schien sich die Situation um die GfDGründung merklich zu entspannen. Am 16. Januar 1978 kam es zu einem Gespräch zwischen dem Staatssekretär im innerdeutschen Ministerium, Dietrich Spangenberg, und dem Initiator der GfD, Siegfried Mampel. Der Staatssekretär hatte Mampel gegenüber in der Unterredung offenbar die Gründung „sehr begrüßt“. Diese vermeintlich positive Bemerkung des Staatssekretärs, die von Mampel gegenüber dem BMB verbreitet wurde, stieß dann auf Abteilungsebene bei den Ministerialen auf Unverständnis. Man gab die Anregung, „die Einstellung des BMB zu der Mampel-Gründung unmißverständlich zunächst einmal intern zu klären.“360 Schon am 25. Januar 1978 war der offenbar doch noch nicht beigelegte Gründungsdisput um die GfD allerdings erneut Gegenstand der öffentlichen Debatte geworden, so im Bundestag anlässlich der Beratung des Haushalts des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen. In seiner Rede bezog sich der zuständige Bundesminister Egon Franke auf öffentliche Vorwürfe seines Abgeordnetenkollegen Jürgen Wohlrabe von der CDU.361 Wohlrabe hatte demnach das BMB bezichtigt, die Gründung der GfD „mit Drohungen und anderen Machenschaften“ zu „verhindern“.362 Gegen diesen Vorwurf Wohlrabes indes verwahrte sich der Minister in seiner Rede entschieden. Die Gesellschaft für Deutschlandforschung sei eine private Vereinigung. Es würden schließlich auch Vereinigungen gegründet, „denen es nicht so sehr um die Sache geht“. Vielmehr würden solche Zusammenschlüsse auch deswegen gegründet, um an öffentliche Mittel heranzukommen. Seine Befürchtungen fasste Franke in einem Satz zusammen: „Damit wird systematische Ordnung verhindert.“363 Zudem solle das Gutachten aus dem Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung erst zum 1. April 1978 vorliegen. Auf Grundlage dieses Papiers würden dann 359 Vgl.
ebd.
360 Vermerk
des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen, „Betr.: Gesellschaft für Deutschlandforschung“ vom 26. Januar 1978, in: BAK, B 137 / 6997. 361 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Rede des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Egon Franke. Auszug aus dem BT-Protokoll. Pressemitteilung vom 25. Januar 1978, in: BAK, B 137 / 6997. 362 Ebd. 363 Ebd.
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alle weiteren Schritte im Bereich der DDR-Forschung getroffen, so Franke in seiner Rede weiter.364 Am 10. Februar 1978 nahmen die drei Sprecher des Gründerkreises der Gesellschaft für Deutschlandforschung365 in einem Schreiben an Egon Franke zu dessen Anwürfen in der Bundestagsdebatte „tief betroffen“ Stellung. So habe doch das Gespräch am 16. Januar im Ministerium (mit dem innerdeutschen Staatssekretär Spangenberg), also wenige Tage vor der Haushaltsdebatte, in „angenehme[r] und […] vertrauensvoller Atmosphäre“ stattgefunden. Zudem sei man im Zuge dessen von einer Beseitigung der „Mißverständnisse“ ausgegangen. Den Vorwurf eines rein finanziellen Interesses der GfD-Gründer, der ja quasi den Vorwurf der Erschleichung öffentlicher Gelder beinhaltete, wies man als „völlig unbegründet“ zurück. Auch habe man den „Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung“ nicht „beeinträchtigen“ wollen.366 Betont wurde in diesem Schreiben erneut der Anspruch des wissenschaftlichen Pluralismus innerhalb der neuen Vereinigung, allerdings versehen mit der eindeutigen Botschaft, das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen bzw. daran festzuhalten: „Allerdings halten wir es für geboten, daß die Arbeit der Gesellschaft, getreu dem Auftrag des Grundgesetzes davon auszugehen hat, daß die Deutsche Frage offen ist. […] [D]arüber sollte es keine Mißverständnisse geben.“367
Insgesamt konnten die Sprecher des Gründerkreises „kein[en] vernünfti ge[n] Grund […] erkennen“, warum die Gründung der Gesellschaft weiterhin aus dem innerdeutschen Ministerium torpediert werden sollte. So bekräftigte man am Schluss des Briefes noch einmal den Willen, die Gründung der GfD auch nun tatsächlich vorzunehmen: „An der Festigkeit unseres Entschlusses, an unserer Absicht festzuhalten, dürfen wir Sie, sehr geehrter Herr Bundesminister, nicht zweifeln lassen.“368 Erst am 5. April 1978, also knapp zwei Monate später, erhielten die Sprecher des Gründerkreises ein Antwortschreiben des Ministers Franke. Darin wehrte dieser sich gegen die Vorwürfe der GfD-Gründer. Der „projektierten 364 Vgl.
ebd. drei Sprecher des Gründerkreises waren Siegfried Mampel, Maria Haendcke-Hoppe und Jens Hacker. 366 Siehe den Brief der Sprecher des Gründerkreises der Gesellschaft für Deutschlandforschung (Siegfried Mampel, Maria Haendcke-Hoppe und Jens Hacker) an den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen vom 10. Februar 1978, in: Gesellschaft für Deutschlandforschung, Dokumentation über die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, o. O. und o. J. [ca. 1982], in: GfD-Archiv. 367 Ebd. 368 Ebd. 365 Die
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Gesellschaft“ wolle er „selbstverständlich keine Hindernisse in den Weg“ legen, auch wenn er „die Gründung […] z. Z. […] für [noch nicht] zweckmäßig“ erachte.369 Indirekt warf Franke den Sprechern des Gründerkreises vor, mit der Initialisierung der GfD zu einer Spaltung der Deutschland- und DDR-Forschergemeinde in der Bundesrepublik beizutragen.370 Am 25. Januar 1978 beschäftigte man sich im BMB weiterhin mit dem Problem der Organisation der zukünftigen bundesdeutschen DDR-Forschung. Folgende vier hinlänglich diskutierte Varianten standen zur Diskussion: Als erste Möglichkeit wurde die Weiterexistenz des Arbeitskreises für vergleichende Deutschlandforschung ins Auge gefasst. Die zweite Variante wäre die Umwidmung des Arbeitskreises in einen losen Gesprächskreis zu aktuellen Fragen der DDR-Forschung gewesen. Drittens dachte man an die völlige und ersatzlose Auflösung des Arbeitskreises und stattdessen eine punktuelle Förderung der DDR-Forschung. Als vierte und letzte Möglichkeit standen die Auflösung des ministeriellen Arbeitskreises und die gleichzeitige Unterstützung der Gründung einer staatlichen „wissenschaftlichen Gesellschaft für DDR-Forschung“ zur Debatte.371 Das lang ersehnte „Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ wurde letztlich im März 1978 vorgelegt. In vier Bänden umfasste dieses Konvolut insgesamt 1228 eng bedruckte Schreibmaschinenseiten.372 Im Gutachten wurde eine „dezentralisierte Institutionalisierung der Grundlagenforschung“ empfohlen. Die Einrichtung eines „Zentralinstituts für DDR- und vergleichende Deutschlandforschung“ wurde hierfür als kontraproduktiv eingeschätzt. Auch befürchtete man eine unnötige Bürokratisierung. Als Lösung wurde „ein System von anspruchsvollen wissenschaftlichen Tagungen vorgeschlagen“. Diese Veranstaltungen sollten mit in- und ausländischen Deutschland- und Osteuropaforschern, einer Berücksichtigung von Fachjournalisten und „kompetente[n] Politiker[n]“ bestückt werden. Neben „fachspezifische[n] Tagungen einzelner Disziplinen“ 369 Brief des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen an Siegfried Mampel vom 5. April 1978, in: Gesellschaft für Deutschlandforschung, Dokumentation über die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, o. O. und o. J. [ca. 1982], in: GfD-Archiv. 370 Vgl. ebd. 371 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Vermerk „Förderung der DDR-Forschung; hier: Organisationsfragen“ vom 25. Januar 1978, in: BAK, B 137 / 6997. 372 Vgl. Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung, erstattet vom Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung unter Vorsitz von Peter C. Ludz, o. O. [Bonn] 1978. Zur (Entstehungs-)Geschichte des Gutachtens siehe Markus Gloe, Planung für die deutsche Einheit, insbes. S. 285– 289.
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sollten „[r]epräsentative interdisziplinäre Tagungen mit geeigneten Rahmenthemen“ stehen. Hier empfahl man eine Orientierung an vergleichbaren Veranstaltungen in Tutzing und Lerbach, versehen mit dem warnenden Hinweis einer „sorgfältige[n] Auswahl der Referenten“. Ganz ohne Bürokratie konnten aber auch diese Reformvorschläge des Arbeitskreises nicht auskommen. So wurde die Einrichtung eines Tagungssekretariates vorgeschlagen, das im Gesamtdeutschen Institut beheimatet sein könnte.373 Auffallend ist die zeitgeistgemäße Ignoranz des Themenkomplexes „Nation“ im Gutachten. Dieser Bereich und andere Bereiche wie Teilbereiche der Psychologie, des Denkmalschutzes oder auch der Kybernetik wurden nicht behandelt. Als Begründung führte man Zeitprobleme, eine „Nichtzuständigkeit“ für „bestimmte Spezialfragen“ sowie mangelnde Informationen an. Für Bereiche wie den Denkmalschutz oder die Kybernetik scheint die Begründung des Ludz-Kreises nachvollziehbar, nicht hingegen für die Nichtbefassung mit dem Bereich „Nation“.374 Nach Entgegennahme des Gutachtens und wenige Tage vor der Gründungsversammlung der GfD fasste das innerdeutsche Ministerium am 10. April 1978 seine vier Positionen hinsichtlich der neuen Forschungsgesellschaft in einem Aktenvermerk zusammen, welcher die Hilflosigkeit der Ministerialen erneut unter Beweis stellte. Als erster Punkt wurde über eine mögliche „Gegengesellschaft“ zur GfD nachgedacht. Diese wurde demzufolge von Ilse Spittmann und dem Lerbach-Vorbereitungskreis aber nicht ins Auge gefasst. Erwogen wurde im BMB in diesem Zusammenhang ferner, die Gesellschaft für Zeitgeschichte, die in Nürnberg unter Hans Lades residierte, mit einem künftigen Schwerpunkt DDR-Forschung auszustatten. Ansonsten bliebe zweitens das Modell einer finanziellen Förderung von GfD-Tagungen, unter den gleichen Konditionen, wie sie beispielsweise dem Kuratorium Unteilbares Deutschland gewährt würden. Die eigentliche Forschungsförderung des BMB sei dann von solchen Projekten getrennt zu betreiben. Als dritte Möglichkeit des Umgangs des innerdeutschen Ministeriums mit der GfD kam die Schaffung von zweijährlich stattfindenden DDR-Forschertagungen ins Gespräch, die in Kooperation mit dem Kuratorium Unteilbares Deutschland oder dem Erlanger Lades-Institut stattfinden könnten. Als vierte und letzte Möglichkeit wurde die Schaffung einer Arbeitsgruppe innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik 373 Vgl. Ergebnisse und Empfehlungen aus dem Gutachten zum und vergleichenden Deutschlandforschung, in: Gesellschaft für schung, Dokumentation über die Gründung der Gesellschaft für schung, o. O. und o. J. [ca. 1982], in: GfD-Archiv. 374 Vgl. Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden schung, S. 55–56.
Stand der DDRDeutschlandforDeutschlandforDeutschlandfor-
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(DGAP) gesehen, welche sich mit den beiden deutschen Staaten und ihrer Stellung in der internationalen Politik befassen sollte.375 Auch innerhalb des GfD-Gründerkreises kam es zu Beginn des Jahres 1978 zu Dissonanzen. Der Streit entzündete sich an den in der Satzung festzulegenden Aufgaben der neuen Vereinigung. Siegfried Mampel legte Wert auf einen Passus, der den Begriff „Wiedervereinigung“ enthielt. Das Gründungs- und spätere Vorstandsmitglied Fred S. Oldenburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche Studien in Köln, bevorzugte den Terminus des „Selbstbestimmungsrechts“ in der Satzung. Dieser Begriff führe, so Oldenburg, bei seiner konsequenten Anwendung sehr wahrscheinlich ebenso auf ein geeintes Deutschland hinaus, jedoch ohne dass den Menschen hinter der Mauer die Entscheidung vorweggenommen würde. Der Begriff „Selbstbestimmung“ sei überall positiv besetzt, die Verwendung des Reizwortes „Wiedervereinigung“ könne dagegen unnötige Vorbehalte im wissenschaftlichen Bereich provozieren.376 Letztlich wurde in § 2 der Satzung, der die Aufgaben der GfD beschrieb, festgehalten, dass die Gesellschaft „im Bewußtsein der offenen deutschen Frage“ tätig sein würde. Zudem arbeite sie „unabhängig auf der Grundlage des wissenschaftlichen Pluralismus.“377 Auf der Gründungsversammlung am 19. April 1978 wurde schließlich auch der erste reguläre Vorstand gewählt: Vorsitzender der GfD wurde Siegfried Mampel, als sein Stellvertreter amtierte Fred S. Oldenburg. Weitere Vorstandsmitglieder wurden Siegfried Baske vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Jens Hacker vom Institut für Ostrecht der Universität Köln, Maria Haendcke-Hoppe von der Berliner Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, Alfred Jüttner, Syndikus der Hochschule für Politik München und der Journalist Joachim Nawrocki aus der Berliner „Zeit“-Redaktion. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied 375 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Vermerk „Betr.: DDR-Forschung (Zusammenarbeit und Kooperation)“ vom 10. April 1978, in: BAK, B 137 / 6997. Der Vorschlag, eine Fachgruppe für DDR-Forschung in der DGAP zu gründen, erscheint geradezu naiv und zeugt von Hilflosigkeit, war doch das Politikfeld „Deutschlandpolitik“ eine innenpolitische Angelegenheit. 376 Vgl. das Interview des Verfassers mit Fred S. Oldenburg vom 28. April 2011. Auch Gerhard Wettig hatte Bedenken bezüglich einer satzungsgemäßen Wendung „im Bewußtsein der offenen deutschen Frage“. Wettig trat im Sommer 1978 wieder aus der GfD aus. Siehe dazu das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 14. Juli 1978, in: GfD-Archiv. 377 Gesellschaft für Deutschlandforschung, Satzung der Gesellschaft für Deutschlandforschung e. V. vom 19. April 1978, in: Memorandum zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung vom 26. Januar 1984, Anhang, o. O. u. o. J. [1984], in: GfD-Archiv.
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wurde Horst Rögner-Franke, der für die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Staatsbürger Berlin tätig war.378 In einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 24. April 1978 berichtete der Vorsitzende Siegfried Mampel über die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Deutschlandforschung zu betreiben bedeutete demnach für Mampel insbesondere „Vergleiche zu ziehen zwischen den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland und den Verhältnissen in der DDR“. In der GfD werde nicht eine bestimmte Forschungsrichtung betrieben, vielmehr wolle man „die Forscher der verschiedenen Richtungen zusammenführen“. Die neue Gesellschaft habe, da sie wissenschaftlich arbeite, sicher nicht das Potential für eine „Massenbewegung“. Doch könne man bereits jetzt auf einen Mitgliederbestand von 84 Personen zurückgreifen, unter denen sich rund 30 Hochschullehrer befänden. Zudem habe man sich bemüht, Wissenschaftler aus der DDR mit in die neue Gesellschaft einzubeziehen.379 Am 6. Juli 1978 schließlich erfolgte die Eintragung der GfD in das Vereinsregister Berlin-Charlottenburg. Die Gemeinnützigkeit wurde ihr am 13. September 1978 zuerkannt.380 Über die erfolgreiche Gründung wurde allerdings nicht nur freundlich berichtet. In einem „Spiegel“-Artikel wurde die Gesellschaft für Deutschlandforschung als „rechter Pfosten“ charakterisiert.381 Prompt folgte die Erwiderung des GfD-Vorsitzenden. Dieser wies dazu in einer Sendung des „Deutschlandfunks“ Ende Juni 1978 diese Zuschreibung „entschieden zurück“. Mampel zufolge betrachte sich die Gesellschaft „zwar als Pfosten der Deutschlandforschung, aber zweifellos nicht als rechter Pfosten der Deutschlandforschung“.382 Der GfD-Chef betonte nochmals die Offenheit der neuen Fachgesellschaft, die sich dem wissenschaftlichen Pluralismus verpflichtet fühle. „Allerdings“, so Mampel weiter, „ziehen wir eine Grenze. Und das [sic!] ist: Wir wünschen von unseren Mitgliedern, daß sie sich
378 Vgl.
den GfD-Rundbrief, Nr. 1 vom 2. Juni 1978, in: GfD-Archiv. Nachrichtenabteilung, Prof. Dr. Siegfried Mampel, Initiator der Gesellschaft für Deutschlandforschung, über die Ziele der neugegründeten Gesellschaft für Deutschlandforschung. Gesendet im Deutschlandfunk am 24. April 1978 um 5.17 h, in: BAK, B 137 / 6997. Ende 1978 betrug der Mitgliederbestand bereits 90 Personen. Siehe dazu das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 15. Februar 1979, in: GfD-Archiv. 380 Vgl. den GfD-Rundbrief, Nr. 2 vom 1. Dezember 1978, in: GfD-Archiv. 381 Vgl. „Der rechte Pfosten“, in: Der Spiegel Nr. 20 / 1978 vom 15. Mai 1978, S. 80–84. 382 Peter Joachim Lapp, DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland: Ziele, Aufgaben, Probleme, gesendet im Deutschlandfunk am 30. Juni 1978 von 20.15 bis 21.00 Uhr, in: BAK, B 137 / 6997. 379 Bundespresseamt,
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bewußt sind, daß die deutsche Frage noch nicht erledigt ist. Die Einheit der Nation ist für uns Ausgangspunkt.“383 d) Erste Erfolge: Die GfD 1979–1982 Nach dem schwierigen Gründungsprozess nahm die neue Gesellschaft rasch an Fahrt auf. Die erste Jahrestagung im Februar 1979 befasste sich mit dem Thema „Die DDR – Satellit oder Partner der Sowjetunion?“384 Für diese Tagung beantragte der Vorsitzende Siegfried Mampel im August 1978 Gelder beim innerdeutschen Ministerium.385 Am 16. und 17. Februar 1979 fand schließlich die erste Jahrestagung der GfD in der Berliner Kongresshalle statt. Mit 120 Teilnehmern war diese Veranstaltung recht gut besucht.386 383 Ebd.
384 Von der geplanten Veranstaltung erhielt das innerdeutsche Ministerium im Juli 1978 durch Hermann Weber Kenntnis. Der Mannheimer DDR-Forscher hatte am 15. Juli 1978 eine Referatsanfrage von Siegfried Mampel für die Februar-Tagung in Berlin erhalten. Um sich beim BMB rückzuversichern, wie das Ministerium inzwischen zur Gesellschaft stehe, fügte er seinem Schreiben an das BMB am 20. Juli 1978 kurzerhand eine Kopie des Mampel-Schreibens bei. Vgl. Hermann Weber, Brief an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vom 20. Juli 1978, in: BAK, B 137 / 6997; vgl. Siegfried Mampel, Brief an Hermann Weber vom 15. Juli 1978, in: BAK, B 137 / 6997. Zur Reaktion des BMB siehe den Antwortbrief des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen an Hermann Weber vom 27. Juli 1978, in: BAK, B 137 / 6997. Vgl. zur ersten Jahrestagung der GfD Klaus Machnow, Auch für die SED ist die deutsche Frage noch offen, in: Berliner Morgenpost vom 20. Februar 1979; vgl. Matthias Walden, Zur Ohnmacht nicht verpflichtet, in: Die Welt vom 26. Februar 1979. 385 Vgl. Siegfried Mampel, Brief an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vom 18. August 1978, in: BAK, B 137 / 6997. In seinem Antwortschreiben stellte Peter Dietrich vom BMB dem GfD-Vorsitzenden Siegfried Mampel eine finanzielle Förderung durch sein Haus in Aussicht. Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Peter Dietrich), Brief an Siegfried Mampel vom 25. Oktober 1978, in: BAK, B 137 / 6997. 386 Vgl. Karl Eckart / Jens Hacker / Siegfried Mampel, Die Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD), in: dies. (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998, S. 5–12, hier S. 7. Die erste Jahrestagung der GfD erfuhr ein beachtliches Presseecho. So erschienen verschiedene Berichte in renommierten Printmedien: „Tagung über ‚DDR‘ in Berlin, in: Die Welt vom 17. Februar 1979; „ ,DDR‘ – Sowjetunion“, in: Berliner Morgenpost vom 16. Februar 1979, Lokalausgabe; „Deutschland-Forscher tagen in Berlin“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Februar 1979; „Weder Partner noch Satellit der Sowjetunion“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Februar 1979; Klaus Machnow, Auch für die SED ist die deutsche Frage noch offen, in: Berliner Morgenpost vom 20. Februar 1979; Joachim Nawrocki, Nur Satellit oder Partner?, in: Die Zeit vom 22. Februar 1979; Joachim Nawrocki, Partner oder Satellit?, in: Berliner Stimme vom 24. Februar 1979; Matthias Walden, Zur Ohnmacht
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Im innerdeutschen Ministerium hatten sich inzwischen die Wogen geglättet. Deutlich wurde dies im Vermerk eines BMB-Beamten anlässlich seiner Teilnahme an der Tagung der Fachgruppe Rechtswissenschaft der GfD zum Thema „Deutschland und die Vereinten Nationen“, die Anfang Oktober 1979 in Berlin stattfand: „Zusammenfassend ist zu sagen, daß das fachliche Niveau der Referate höher war als von mir erwartet. Referate und Diskussionsbeiträge enthielten sich darüber hinaus weitgehend jeder Polemik gegen die Deutschlandpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung. Die Tagung erreichte ein normales wissenschaftliches Niveau. Nach außen wurde in keiner Weise bemerkbar, daß sich die Gesellschaft für Deutschlandforschung in irgendeiner Weise in einem antagonistischen Verhältnis zum BMB befindet.“387
Der Beamte empfahl seinem Ministerium, zukünftig mehr Mitarbeiter zu den GfD-Tagungen zu entsenden. Damit könne nicht nur ein großes Interesse der Bundesregierung an der Arbeit dokumentiert werden, sondern dies böte zugleich die Chance einer stärkeren Einflussnahme auf die Entwicklung der Gesellschaft für Deutschlandforschung.388 Im Jahre 1980 bemühte sich insbesondere der Vorsitzende Mampel, das Verhältnis der Gesellschaft zum innerdeutschen Ministerium weiter zu verbessern. Mampel wollte dabei erreichen, dass das BMB eine institutionelle Förderung für die GfD ermöglichen würde. Erfreulich sei, so konnte Mampel seinen Vorstandskollegen im Oktober 1980 berichten, dass das BMB insgesamt 80 Exemplare des 1979er Jahresbandes der Gesellschaft abgenommen habe. Auch sei die Förderung der Tagung der Fachgruppe Rechtswissenschaft durch das Ministerium anstandslos erfolgt. Gefördert wurde die GfD im Jahre 1980 zudem von der Konrad-Adenauer-Stiftung, die aber nur einen kleinen Beitrag zahlte. Von der Hanns-Seidel-Stiftung erhielt man eine Absage, da satzungs- und haushaltsrechtliche Gründe eine Förderung nicht zuließen. Die „kalte Schulter“ wurde der GfD von der Friedrich-EbertStiftung gezeigt, obgleich man dorthin gute Kontakte durch das Mitglied Wilhelm Bruns, der zugleich Mitarbeiter der Stiftung war, besaß.389 nicht verpflichtet, in: Die Welt vom 26. Februar 1979; Joachim Nawrocki, Wissenschaftliche Tagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, in: Recht in Ost und West, Heft 2 vom 15. März 1979, S. 75–76; Maria Haendcke-Hoppe, Die DDR – Satellit oder Partner der Sowjetunion. Erste Tagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, in: Deutschland Archiv, 4 / 1979, S. 422–424. 387 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Gesellschaft für Deutschlandforschung (Fachgruppe Rechtswissenschaft) / Symposium: „Deutschland und die vereinten Nationen“ am 2. und 3. Oktober 1979 im Bundeshaus in Berlin, Vermerk vom 9. Oktober 1979, in: BAK, B 137 / 6997. 388 Vgl. ebd. 389 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 8. Oktober 1980, in: GfDArchiv.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 157
Ein Jahr später, 1981, konnte Mampel in seinem Bericht an den Vorstand vermelden: „Das Verhältnis zum Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hat sich deutlich entspannt. Es ist auch dort die Einsicht vorhanden, daß die Gesellschaft institutionelle Förderung verdient.“390 Erfolge, wie z. B. Bundesländer als Förderer zu gewinnen, blieben jedoch zunächst noch aus.391 Die Anerkennung der GfD setzte sich zu Beginn der 1980er Jahre jedoch rasch fort. So trat im Januar 1982 das Land Berlin als förderndes Mitglied der GfD bei. Im selben Jahr warben die kritischen Deutschlandforscher finanzielle Mittel des Freistaats Bayern und des Saarlands ein. Weitere Unterstützung in Form von Projektförderung gewährten die Länder Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen sowie Rheinland-Pfalz.392 Nach dem Wechsel der Bundesregierung hin zu Bundeskanzler Helmut Kohl im Herbst 1982 hoffte der GfD-Vorstand auf die verstärkte Entwicklung zu „vertrauensvolle[n] Beziehungen“ zum innerdeutschen Ministerium. Eine erneute Initiative für eine institutionelle Förderung der GfD durch den Bund über die Projektförderung hinaus sei anzustreben. Mampel betonte allerdings während der Vorstandssitzung am 13. Oktober 1982 erneut, dass es eine deutliche Klimaverbesserung zu den Bonner Ministerialen bereits vor dem Wechsel zur christlich-liberalen Bundesregierung gegeben habe.393 Auch die Entwicklung der Mitgliederzahlen verlief zwischen 1978 und 1983 insgesamt positiv: Belief sich diese bei der Gründung im Jahr 1978 auf 17 Personen, so stiegen die Zahlen 1979 auf 92, 1980 auf 124, 1981 auf 150, 1982 auf 201 und bis März 1983 auf insgesamt 248 Personen.394 Im Jahre 1983 konnte schließlich die GfD-Geschäftsstelle im Berliner Deutschlandhaus eröffnet werden. Zudem hatte man einen Antrag auf eine institutionelle Förderung beim innerdeutschen Ministerium gestellt. In ei390 Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 25. März 1981, in: GfD-Archiv. Gleichwohl sperrte sich das BMB zunächst, die dritte Tagung der Fachgruppe Rechtswissenschaft im selben Jahr zu fördern. Als Begründung gab man an, diese habe „keinen ‚wissenschaftlichen Charakter‘ “ und stelle eine „Potpourritagung“ dar. Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 14. Oktober 1981, in: GfD-Archiv. 391 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 25. März 1981, in: GfDArchiv. 392 Vgl. Eckart / Hacker / Mampel, Die Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD), S. 8. Vgl. zu den erfolgreichen „Aufbaujahren“ der GfD auch Heydemann, 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung, S. 367–370. 393 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 13. Oktober 1982, in: GfDArchiv. 394 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 9. März 1983, Anlage 1: Bericht des Vorsitzenden und geschäftsführenden Vorstandsmitgliedes über die Entwicklung und Lage der Gesellschaft, in: GfD-Archiv.
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nem Gespräch zwischen GfD-Chef Siegfried Mampel und dem innerdeutschen Staatssekretär Ludwig Rehlinger wurde eine institutionelle Unterstützung durch das BMB ausgelotet.395 Auch wissenschaftlich kam man voran: Im Jahre 1979 wurden die Fachgruppe Rechtswissenschaft (erster Leiter Gottfried Zieger, Göttingen), 1980 die Fachgruppe Erziehungswissenschaft (erster Leiter Siegfried Baske, Berlin), 1981 die Fachgruppe Politische Wissenschaft (erster Leiter Konrad Löw, Bayreuth), 1982 die Fachgruppe Wirtschaftswissenschaft (erster Leiter Gernot Gutmann, Köln), 1983 die Fachgruppe Sozialwissenschaft (erster Leiter Dieter Voigt, Bochum), 1984 die Fachgruppe Geschichtswissenschaft (erster Leiter Alexander Fischer, bis 1986 Frankfurt, später Bonn), 1985 die Fachgruppe Entwicklungspolitik (erster Leiter Hans F. Illy, Speyer) und schließlich 1990 die Fachgruppe Geographie und Raumplanung (erster Leiter Karl Eckart, Duisburg) ins Leben gerufen.396 Auch in der Regionalarbeit tat sich etwas. Die erste Zweigstelle der GfD eröffnete 1985 in Bochum, wo hauptsächlich Abendveranstaltungen geplant waren. Ebenso wurde die GfD international wahrgenommen: Ihre „Aufgaben und Ziele“ wurden im Herbst 1985 auf dem III. Weltkongress für sowjet- und osteuropäische Studien in Washington vorgestellt. 1987 erfolgte der Beitritt der GfD als institutionelles Mitglied der German Studies Association (GSA). 1988 fand in London die erste Tagung im Ausland als Koopera tionsveranstaltung mit dem Ealing College of Higher Eduacation statt.397 3. Impulse für die Deutschlandforschung a) Das „Memorandum zur Intensivierung der DDRund vergleichenden Deutschlandforschung“ 1983 / 84 Im Mai 1983 konstatierte der neue christdemokratische Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Heinrich Windelen, einen Rückgang der deutschlandpolitischen Forschungen an den Universitäten. Der Minister bekräftigte zugleich den Nutzen der entsprechenden Forschungsrichtung für die Politik und für die öffentliche Meinungsbildung. Als besonders wichti395 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 14. September 1983, in: GfD-Archiv. 396 Vgl. Eckart / Hacker / Mampel, Die Gesellschaft für Deutschlandforschung, S. 7–8. 397 Vgl. ebd., S. 9. Neben der Vielzahl der durchgeführten wissenschaftlichen Fachtagungen ist ebenso die rege Publikationstätigkeit der Gesellschaft für Deutschlandforschung hervorzuheben. Diese ist abgebildet in Anlage 4, Publikationen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, in: Eckart / Hacker / Mampel, Wiedervereinigung Deutschlands, S. 741–746.
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ges Ziel deutschlandpolitischer Forschungen erachtete Windelen dabei die „Gesamteinschätzungen der deutschlandpolitischen Situation“ und in diesem Zusammenhang „eine Klärung der moralisch-politischen Fragen“.398 Windelen erklärte das nachlassende Interesse an deutschlandpolitischen Forschungen mit allgemeinen Tendenzen in der Bundesrepublik. Neben den ihm von Forschern vorgetragenen Schwierigkeiten, zu für sie „fremden Vorgängen in der DDR einen Zugang zu finden“, beklagte der innerdeutsche Minister zudem eine Abnahme an „Zahl und Gewicht der deutschlandpolitischen Experten in den Fraktionen des Deutschen Bundestages“.399 Was war zu tun? Für die Zukunft erwartete der innerdeutsche Minister zwei Aufgaben für die DDR- und vergleichende Deutschlandforschung: Zum einen müsse es den Wissenschaftlern trotz aller Schwierigkeiten gelingen, sich durch „kontinuierliche Forschung“ mit dem Gegenstand DDR wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Zum anderen habe eben diese Forschung das „Interesse der Öffentlichkeit“ am zweiten deutschen Staat zu fördern. In Zukunft könne die Politik die DDR- und vergleichende Deutschlandforschung nicht mehr „in dem Masse [sic!] allein lassen […], wie dies seit langem der Fall war.“ Die Tagungen in Lerbach und die der Gesellschaft für Deutschlandforschung wurden dabei von Windelen nicht als Konkurrenzveranstaltungen bewertet. Von den betreffenden Wissenschaftlern erhoffte sich der innerdeutsche Minister „Anregungen“, wie das Ministerium helfen könnte, das öffentliche Interesse an solchen Veranstaltungen zu steigern.400 Die Ausführungen Windelens wurden vom GfD-Vorsitzenden rasch aufgegriffen. Im Juni 1983 schickte Mampel einen Brief an den Vorstand sowie an die Fachgruppenleiter der Gesellschaft. In diesem Schreiben forderte er dazu auf, „eine Konzeption [zu] entwerfen, mit deren Hilfe der Deutschlandforschung aus ihrer jetzigen krisenhaften Lage herausgeholfen werden kann.“401 Mampel kritisierte in seinem Brief auch nochmals die Entwicklung der Lerbach-Tagungen, die in den letzten Jahren nur noch mit Referenten der systemimmanenten Forschungsrichtung bestückt worden seien. Im gleichen Atemzug bedauerte der GfD-Vorsitzende die „Ächtung des Totalitarismuskonzepts“ sowie die Verneinung der „Offenheit der Deutschen Frage“ in dieser Forschungsrichtung. Trotz der erfreulichen Entwicklung der GfD, die solchen Tendenzen entgegenwirken wolle, solle jetzt verstärkt 398 Heinrich Windelen, Rede vor der DDR-Forschertagung in Lerbach am 26. Mai 1983, in: GfD-Archiv. 399 Ebd. 400 Vgl. ebd. 401 Siegfried Mampel, Brief an den Vorstand der Gesellschaft für Deutschlandforschung vom 21. Juni 1983, in: GfD-Archiv.
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versucht werden, Vorschläge für eine Überwindung der Krise der gesamten Deutschlandforschung zu entwickeln.402 Im Oktober 1983 kündigte Mampel dann die Einsetzung einer Kommission für Dezember 1983 an, die Vorschläge für eine Denkschrift „zur Förderung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ erarbeiten solle.403 Zuvor hatte sich der Staatssekretär im innerdeutschen Ministerium, Ludwig Rehlinger, bereits positiv gegenüber einem solchen Ansinnen der Gesellschaft für Deutschlandforschung geäußert.404 An der Tagung zur Erstellung des „Konzepts für die Förderung der DDRund vergleichenden Deutschlandforschung“ im Berliner Bundeshaus am 2. Dezember 1983 nahmen 13 Wissenschaftler teil.405 Grundlage war neben dem Schriftwechsel der Vorstandsmitglieder untereinander insbesondere das „Konzept zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“, das aus der Feder von Siegfried Mampel stammte. In dem 23-seitigen Papier untersuchte er die Situation der DDR- und Deutschlandforschung in ihrer Gesamtheit. Nicht nur wurde die Lage der Forschung und Lehre an den deutschen Universitäten im Bereich der DDR- und Deutschlandforschung angesprochen, Mampel wies zugleich auf Verbesserungsmöglichkeiten der Kommunikation der in der DDR- und Deutschlandforschung tätigen Wissenschaftler hin. Dies sollte insbesondere durch die Gründung einer wissenschaftlichen Zeitschrift jenseits des „Deutschland Archiv“ geschehen.406 Mampel lieferte mit seinem Entwurf erneut eine Zusammenfassung seines deutschlandpolitischen Credos, das auf alle Anhänger der inzwischen auch von Helmut Kohl fortgeführten Entspannungspolitik äußerst provokativ wirken musste: „Das Urteil über Erfolg oder Mißerfolg der bisherigen DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung ist naturgemäß nicht unabhängig vom politischen und wis402 Vgl.
ebd. Siegfried Mampel, Aktenvermerk „Erarbeitung eines Konzept[s] zur Förderung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ vom 20. Oktober 1983, in: GfD-Archiv. 404 Vgl. Ludwig Rehlinger, Brief an Siegfried Mampel vom 12. September 1983, in: GfD-Archiv. 405 Im einzelnen waren dies: Prof. Dr. Oskar Anweiler, Prof. Dr. Siegfried Baske, Prof. Dr. Alexander Fischer, Prof. Dr. Gernot Gutmann, Dipl.-Vw. Maria HaendckeHoppe, Prof. Dr. Gert Leptin, Prof. Dr. Konrad Löw, Prof. Dr. Siegfried Mampel, Prof. Dr. Alfred Schüller, Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder, Prof. Dr. Karl Christian Thalheim, Prof. Dr. Dieter Voigt, Prof. Dr. Gottfried Zieger. Vgl. dazu die Teilnehmerliste der Tagung, in: GfD-Archiv. 406 Vgl. [Siegfried Mampel], Arbeitspapier. Konzept zur Intensivierung der DDRund vergleichenden Deutschlandforschung, o. D. [ca. November 1983], in: GfD-Archiv. 403 Vgl.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 161 senschaftlichen Standort des Urteilenden. Wer die DDR nur nach ihren eigenen Wertvorstellungen messen will, der vergleichenden Deutschlandforschung mit Skepsis gegenübersteht und vor allem wertende Vergleiche ablehnt, muß zwangsläufig zu einem anderen Urteil gelangen, wie der, der die DDR als Teil Deutschlands behandelt wissen will, den innerdeutschen Vergleich als Notwendigkeit empfindet, weil seine Ergebnisse zwangsläufig Ausdruck der Offenheit der deutschen Frage sind und die Voraussetzung für deren Lösung, wenn auch in einer fernen Zukunft zu sein versprechen.“407
Welche Positionen wurden im Memorandum bezogen und welche Schlussfolgerungen enthielt es für die zukünftige Arbeit der DDR- und Deutschlandforschung? Anders als beispielsweise das „staatliche“ Gutachten von 1978, das vom BMB initiiert wurde, wurde im GfD-Papier explizit politisch Stellung für die Wiedervereinigung bezogen. Hier gelangte man zu der Ansicht, dass man sich mit der andauernden deutschen Teilung nicht abfinden mochte.408 Im ersten Kapitel („Die Notwendigkeit verstärkter Bemühungen“), das als eine Art Präambel verstanden werden kann, wurde eine Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen deutschen Lage dargeboten. Neben dem Hinweis auf zunehmende „Gefahr der Entfremdung“ machte dieser Teil des Memorandums insbesondere auf zwei Entwicklungen aufmerksam. Erstens wurde die veränderte Wahrnehmung der DDR unter den Jugendlichen in Westdeutschland mit Besorgnis registriert. So werde von diesen das Wertesystem der DDR „nicht mehr aus grundsätzlichen Überlegungen abgelehnt“. Vielmehr werde dieses „in manchen Fällen“ als „Idee“ dem bundesdeutschen System sogar als überlegen angesehen. Der zweite Punkt, der überhaupt nicht dem deutschlandpolitischen Zeitgeist der 1980er Jahre entsprach, bestand in der Warnung vor den Versuchen der SED-Führung, sich der deutschen Geschichte in einer Art Traditionsokkupation (hier verwies man auf die Luther-Gedenkfeierlichkeiten 1983) zu Eigen zu machen. Zudem führe die DDR mit einem hohen personellen und finanziellen Aufwand eine „geistige Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik Deutschland“, ganz anders also, als dies von westdeutscher Seite gegenüber der DDR betrieben werde.409 Als Schlussfolgerung dieser Erkenntnisse wurde eine verstärkte Auseinandersetzung mit der DDR in Forschung und Lehre gefordert. Neben einer intensiveren Erforschung der DDR an Universitäten sowie an universitätsunabhängigen Instituten sollte dabei immer die Leitidee sein, „daß die 407 Ebd.,
S. 4. vollständige Text des Memorandums ist u. a. abgedruckt in: Karl Eckart / Jens Hacker / Siegfried Mampel (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998, S. 725–737. 409 Vgl. ebd., S. 725–726. 408 Der
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DDR ein Teil Deutschlands ist.“410 Im Bereich der Lehre forderte das Memorandum ein größeres Lehrveranstaltungsangebot im Bereich der DDRund vergleichenden Deutschlandforschung. Neben einer intensivierten Nachwuchsförderung wurde insbesondere „wegen der gemeinsamen nationalen Verantwortlichkeit“ der Abschluss einer Bund-Länder-Vereinbarung vorgeschlagen. Diese sollte sich u. a. mit den strukturellen Entwicklungstendenzen in der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung auseinandersetzen, etwa mit der Ausstattung von entsprechenden Lehrstühlen.411 Als „Sofortmaßnahmen“ schlugen die Verfasser die Erhöhung von Haushaltsmitteln für die diagnostizierten Defizitbereiche vor.412 Zur Verbesserung der Lage sah sich die GfD jedoch auch selbst in der Pflicht. Neben der Fortsetzung ihrer Tagungs- und Publikationstätigkeit setzte sie auf eine verstärkte Nachwuchsförderung, die Bildung weiterer Fachgruppen sowie die Eröffnung von Zweigstellen.413 Heinrich Windelen selbst empfing den GfD-Vorstand am 26. Januar 1984 in Bonn. Dort wurde dem innerdeutschen Minister das „Memorandum zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ übergeben. Windelen zeigte sich erfreut über das Papier und versprach, dieses nach einer Prüfung durch sein Haus für die eigenen Planungen zur Forschungsförderung zu nutzen.414 b) Das „Programm zur Intensivierung der DDRund vergleichenden Deutschlandforschung“ 1984 / 85 Die Anregung aus dem innerdeutschen Ministerium an den GfD-Vorstand, ein Nachfolgepapier mit einem inhaltlichen Forschungsprogramm zu erstellen, wurde von der Gesellschaft rasch aufgegriffen. Das Memorandum selbst bewertete Mampel als „durchschlagenden Erfolg“. Das auszuarbeitende Forschungsprogramm sollte auf Vorschlag des Vorsitzenden in „DDR-Forschung“, „vergleichende Deutschlandforschung“ und „Deutschlandpolitische Rahmenbedingungen“ gegliedert werden.415 Mampel lud schließlich für den 20. Dezember 1984 zu einer Kommissionssitzung nach 410 Ebd.,
S. 727. ebd., S. 729–733. 412 Vgl. ebd., S. 733. 413 Vgl. ebd., S. 737. 414 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Pressemitteilung Nr. 2 / 84 vom 26. Januar 1984, in: GfD-Archiv. 415 Siegfried Mampel, Brief an die Mitglieder der Kommission zur Erarbeitung des Memorandums zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung vom 26. April 1984, in: GfD-Archiv. 411 Vgl.
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Berlin ein.416 Hier wurde das Programm, an dem etwa 70 Wissenschaftler mitgearbeitet hatten, beraten und verabschiedet. Bearbeitet wurden insbesondere Gebiete, in denen die GfD eine Fachgruppe unterhielt: Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Soziologie, Politologie, Geschichtswissenschaft und Militärwissenschaft. In einem ersten Abschnitt wurden Desiderate der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung aufgelistet, in denen die Arbeit intensiviert werden sollte. Hier betonte die Kommission nochmals das wissenschaftliche Credo der GfD, nach dem die DDR-Forschung, also die Erforschung der DDR, Voraussetzung einer komparativen Deutschlandforschung sei.417 Der zweite Abschnitt umfasste den Bereich „Rahmenbedingungen der Deutschlandpolitik“, welcher der brisanteste Teil des „Intensivierungs“-Programms war, da man den Bereich der wissenschaftlichen Politikberatung betrat. Hier wurden Themen aufgelistet, die nach Ansicht der Kommissionsmitglieder in Zukunft die deutschlandpolitische Agenda bestimmen würden. Dazu zählte man die Analyse von Grundbegrifflichkeiten der Deutschen Frage wie „Deutschland“, „Deutsches Volk“ und „Deutsche Nation“, alles Begriffe, mit denen der intellektuelle Mainstream Westdeutschlands in Presse und Publizistik seine Schwierigkeiten hatte. Zudem wurden u. a. die Themenfelder „Selbstbestimmungsrecht der Deutschen“, „Nationsbegriff und Deutschlandpolitik der SED“ oder die „Behandlung der Deutschen Frage im Unterricht der Bundesrepublik Deutschland“ angesprochen.418 In einem dritten Abschnitt wurde der Bedarf der Universitäten und außeruniversitären Institute nach zusätzlichem Personal aufgelistet, um eine zuverlässige Umsetzung des Programms zu erreichen.419 Hierüber sollte es eine regelmäßige Berichterstattung geben; favorisiert wurde die Form eines Jahrbuchs. Zudem wurde hier erneut der Vorschlag unterbreitet, zusätzlich zu bestehenden Zeitschriften wie dem „Deutschland Archiv“ eine neue Zeit416 Vgl. Siegfried Mampel, Brief an die Mitglieder der Kommission zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung vom 8. Oktober 1984, in: GfD-Archiv. Im Verteiler des Briefes waren Prof. Dr. Oskar Anweiler, Prof. Dr. Siegfried Baske, Prof. Dr. Georg Brunner, Prof. Dr. Alexander Fischer, Prof. Dr. Gernot Gutmann, Dr. Jens Hacker, Dipl.-Vw. Maria Haendcke-Hoppe, Prof. Dr. Gert Leptin, Dr. Erika Lieser-Triebnigg, Prof. Dr. Konrad Löw, Prof. Dr. Siegfried Mampel, Prof. Dr. Gerhard Ritter, Prof. Dr. Alfred Schüller, Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder, Prof. Dr. Karl C. Thalheim, Prof. Dr. Dieter Voigt, Prof. Dr. Gottfried Zieger aufgeführt. 417 Vgl. Gesellschaft für Deutschlandforschung, Programm zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung vom 26. Januar 1985, S. 1, in: GfD-Archiv. 418 Vgl. ebd., S. 23. 419 Vgl. ebd., S. 24–25. Insgesamt listete das Programm rund 50 zusätzlich zu schaffende Stellen auf.
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schrift zu etablieren. Schwerpunktmäßig sollten darin „Grundsatzfragen“ sowie „umfassende historische Abhandlungen“ veröffentlicht werden, und zwar in „intersystemarer und intrasystemarer Art auf allen Gebieten“.420 Genau ein Jahr nach der Verabschiedung des „Memorandums“ sandte Mampel am 26. Januar 1985 das „Intensivierungs“-Papier an den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Heinrich Windelen.421 Der Minister bedankte sich prompt für die Übersendung des Programms und schlug gemeinsame Beratungen mit dem Vorstand der GfD vor. Konkreter Vorschlag Windelens war außerdem, auszuloten, ob es nicht die Möglichkeit einer gemeinsam von Bund und Ländern getragenen deutschlandpolitischen Projektfinanzierung geben könne.422 Trotz zunehmender Anerkennung ihrer Tätigkeit wurde der GfD seitens des innerdeutschen Ministeriums auch für das Jahr 1985 keine institutionelle Förderung gewährt. Bedenken des Bundesfinanzministeriums hatten dieses Vorhaben scheitern lassen. Jedoch sollte die Arbeit der Gesellschaft „ungestört weiter gehen“, wie der Vorsitzende Mampel seinen Vorstandskollegen im Dezember 1984 berichten konnte.423 Im Herbst 1985 musste Mampel dann dem Vorstand das endgültige Scheitern der Verhandlungen über eine institutionelle Förderung der GfD durch das innerdeutsche Ministerium verkünden. Jedoch konnte erreicht werden, dass sich das BMB künftig mit einem Festbetrag an der Erreichung der Ziele der Gesellschaft beteiligen würde.424 Wie wichtig der GfD die Akzeptanz durch die staatliche Deutschland politik auch Mitte der 1980er Jahre immer noch war, verdeutlicht ein Vermerk im Protokoll der Vorstandssitzung vom September 1986. Unter dem Punkt „Anerkennung“ wurde dort vermerkt: „Die Aktivitäten der Gesellschaft fanden beim parlamentarischen Staatssekretär im BMB, Ottfried Hennig, anläßlich der Jahrestagung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland am 6. Juni 1986 ein sehr anerkennendes Echo.“425 420 Vgl.
ebd., S. 2. Siegfried Mampel, Brief an den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen vom 26. Januar 1985, in: GfD-Archiv. 422 Vgl. Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Brief an Siegfried Mampel vom 22. Februar 1985, in: GfD-Archiv. 423 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 19. Dezember 1984, in: GfD-Archiv. 424 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 23. September 1985, in: GfD-Archiv. Für das Jahr 1985 waren dies immerhin 36.000 DM. 425 Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 24. September 1986, in: GfD-Archiv. Für die Jahrestagung 1987 lag der GfD ein Grußwort des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen vor, das ebenfalls als wichtiger Indikator einer Anerkennung 421 Vgl.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 165
Die GfD versuchte im Jahr 1987 erneut, eine institutionelle Förderung durch das BMB zu erlangen. Das hauptsächliche Ziel des Antrages war dabei, ausreichende Gelder für das Jahr 1988 einzuwerben, um einen hauptamtlichen Geschäftsführer einstellen zu können. Die Eröffnung weiterer Zweigstellen erwies sich dabei als schwierig. Solche Außenstellen bestanden im Jahr 1987 tatsächlich nur in Bochum und Würzburg.426 Im Dezember 1987 musste Mampel dem Vorstand das erneute Scheitern seiner Versuche, eine institutionelle Förderung der GfD durch das BMB zu erreichen, mitteilen. Als Grund gab er Widerstände aus dem Bundesministerium der Finanzen an, dem sich das innerdeutsche Ministerium beugen musste. Jedoch konnte er als positive Nachricht eine Zusage für eine weitere Projektförderung der Gesellschaft aus den Töpfen des innerdeutschen Ministeriums vermelden.427 Mit diesen Geldern konnte dann im Jahr 1988 ein hauptamtlicher Geschäftsführer eingestellt werden.428 Die wirtschaftliche Lage der GfD konnte Mitte der 1980er Jahre als gut bezeichnet werden. So betrug das Haushaltsvolumen im Jahr 1986 rund 208.000 DM.429 Aus Mitgliedsbeiträgen (1986: 416 Mitglieder430) und Spenden erhielt man etwas über 20.000 DM. Die staatlichen Fördergelder der Länder Niedersachsen und Bayern und die Zuschüsse des BMB beliefen sich insgesamt auf rund 64.000 DM. Aus Vorschüssen des innerdeutschen Ministeriums für vier geplante Tagungen kamen noch einmal genau 112.000 DM zusammen. Für Personal- und Sachausgaben standen etwas über 72.000 DM zur Verfügung.431
der Gesellschaft dient. Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 4. März 1987, in: GfD-Archiv. 426 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 4. März 1987, in: GfDArchiv. 427 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 4. Dezember 1987, in: GfD-Archiv. 428 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 2. Mai 1988, Anlage 1: Tätigkeitsbericht für das Jahr 1988, in: GfD-Archiv. Vgl. auch Heydemann, 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung, S. 369–370. 429 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 4. März 1987, Anlage 1: Bericht des geschäftsführenden Vorstandsmitgliedes über die finanzielle Lage der Gesellschaft, in: GfD-Archiv. 430 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 4. März 1987, in: GfDArchiv. 431 Vgl. ebd., Anlage 1: Bericht des geschäftsführenden Vorstandsmitgliedes über die finanzielle Lage der Gesellschaft.
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4. Die GfD und die Friedliche Revolution 1989 Auch wenn die GfD regelmäßige Jahrestagungen durchführte und es eine intensive Betätigung der Fachgruppen gab, stellte die Zweigstellenarbeit Ende der 1980er Jahre einen „Schwachpunkt“ in der Arbeit der Gesellschaft dar.432 Für 1989 wurden Veranstaltungen in Göttingen, Bochum, Marburg und Würzburg angekündigt.433 Zum Jahreswechsel 1988 / 89 hatte die GfD einen Mitgliederbestand von 510 Personen, unter denen sich 52 Ausländer befanden.434 Im Juni 1989 schlug Mampel in einem Schreiben seinen Vorstandskollegen das Thema für die anstehende nächste Jahrestagung im Frühjahr 1990 vor. Dieses sollte „Die Reformen in Polen und der Sozialismus in den Farben der DDR – Intrasystemare Betrachtungen“ lauten. Der Clou dieses Vorschlages bestand für den GfD-Vorsitzenden eben in einem Vergleich zweier sozialistischer Systeme435, von denen man 1989 einen unterschiedlichen Entwicklungsstand hinsichtlich einer Demokratisierung erwarten durfte. So führte Polen bereits umfassende Reformen an seinem politischen System durch, während der andere zu untersuchende Staat, die DDR, als Reformverweigerer dastand, in dem es aber schon längere Zeit gärte – und der nicht, wie manche westdeutschen Kommentatoren noch 1989 meinten, das bessere Deutschland repräsentierte.436 Mit der Friedlichen Revolution 1989 und der wenig später erfolgten Wiedervereinigung Deutschlands erfüllte sich für die GfD das Hauptziel ihrer Tätigkeit. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 wurde daher von der Gesellschaft sehr begrüßt. Wie es der Zufall wollte, fand zwischen dem 8. und dem 10. November 1989 im Reichstagsgebäude eine Tagung der Fachgruppe Geschichtswissenschaft statt. Das Thema der langfristig vorbereiteten Veranstaltung lautete „40 Jahre Deutschlandpolitik im internationalen Kräftefeld“. Im Zentrum der Diskussionen der Tagung standen dann auch die revolutionären Entwicklungen des östlichen deutschen Teilstaates.437 In 432 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 14. September 1988, in: GfD-Archiv. 433 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 1. März 1989, in: GfDArchiv. 434 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 2. Mai 1988, Anlage 1: Tätigkeitsbericht für das Jahr 1988, in: GfD-Archiv. 435 Vgl. Siegfried Mampel, Brief an den GfD-Vorstand vom 5. Juni 1989, in: GfD-Archiv. 436 Vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 323–324. 437 Vgl. den GfD-Rundbrief, Nr. 24 vom 8. Januar 1990, in: GfD-Archiv. Zur Geschichte der GfD im Vereinigungsprozess siehe auch Heydemann, 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung, S. 371–372.
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einem Schreiben von Siegfried Mampel an seinen Vorstandskollegen Gottfried Zieger vom 13. November 1989 stellte dieser klar: „Niemand von uns hat ja daran gedacht, daß sich das deutsche Volk in der DDR so bald erheben würde, um in Ausübung der Selbstbestimmung eine ‚revolutionäre Erneuerung‘ (Christa Wolf am 4. November auf dem Alexanderplatz) zu erkämpfen.“438
Zugleich wagte Mampel eine Prognose zum weiteren Verlauf der Fried lichen Revolution: „Wenn auch noch nicht alles erreicht ist, ein Zurück wird es nicht geben.“439 Die GfD öffnete sich jedenfalls rasch für neue Mitglieder aus der DDR. Diese wurden im März 1990 wegen fehlender Konvertierbarkeit der Mark der DDR bis zur endgültigen Klärung der Währungsumstellung sogar beitragsfrei gestellt.440 5. Die GfD in der Krise (1990–1993) Mit der Wiedervereinigung 1990 stand die GfD vor existentiellen Problemen, ging ihr doch der Forschungsgegenstand, das geteilte Deutschland, verloren.441 Mit Geschick des Vorsitzenden Mampel und seines Nachfolgers Hacker erwuchsen der GfD jedoch neue Aufgaben. Zunächst zu den Herausforderungen des Jahres 1990. Im Juli 1990 richtete Mampel ein Schreiben an den innerdeutschen Staatssekretär Walter Priesnitz, in dem dieser über den Willen der Gesellschaft informiert wurde, auch über den Tag der staatlichen Einheit hinaus weiter tätig zu sein.442 Dem Schreiben beigefügt war das Positionspapier „Die Aufgaben der Gesellschaft für Deutschland forschung e. V.“, das eine Lageschilderung des Forschungsgegenstandes „Deutschland“ und zudem einige mögliche künftige Arbeitsschwerpunkte der GfD enthielt. So sah man künftig die Aufgaben der Gesellschaft etwa in der Be- und Verarbeitung der Teilungsfolgen („angewandte Begleitforschung“), wie beispielsweise auf den Gebieten des Staatsrechts oder auch der sozialen Verhältnisse. Neben der „wissenschaftliche[n] Beobachtung des weiteren Integrationsprozesses in Deutschland“ wollte man auch eine „Aus438 Siegfried Mampel, Brief an Gottfried Zieger vom 13. November 1989, in: GfD-Archiv. 439 Ebd. 440 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 8. März 1990, in: GfDArchiv. Der Mitgliederbestand umfasste im Jahr 1989 insgesamt 592 Personen. Vgl. ebd. 441 Siehe zur Geschichte der GfD nach 1990 auch Heydemann, 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung, S. 372–376 sowie Eckart / Hacker / Mampel, Die Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD), S. 9–12. 442 Vgl. Siegfried Mampel, Brief an Staatssekretär Walter Priesnitz vom 3. Juli 1990, in: GfD-Archiv.
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einandersetzung mit den Resten totalitären und kommandowirtschaftlichen Denkens bei den Wissenschaftlern“ führen.443 Um diesen Aufgabestellungen gerecht zu werden, benötigte die GfD allerdings weiterhin entsprechende finanzielle Mittel, die man sich vom innerdeutschen Ministerium erhoffte. Die Antwort von Priesnitz fiel für Mampel und die gesamte Gesellschaft enttäuschend aus. So begrüßte der Staatssekretär zwar die angedachte Weiterführung der GfD, konnte für dieses Vorhaben jedoch keine neuen Gelder in Aussicht stellen. Indirekt empfahl Priesnitz Mampel, sich mit seinen Bemühungen an andere Fachressorts zu wenden.444 Die Reaktion Mampels auf das Schreiben aus dem innerdeutschen Ministerium fiel entsprechend heftig aus. Der GfD-Vorsitzende erinnerte Priesnitz daran, dass „die Arbeit der Gesellschaft sich stets von richtigen Prämissen leiten ließ.“445 Zudem ließ der Jurist Mampel durchblicken, dass das Ministerium der GfD finanzielle Förderung in Form einer „rechtsgültige[n] Verpflichtungserklärung“ bis zum Jahr 1991 zugesagt habe.446 Gegenüber dem Vorstand platzte Mampel endgültig der Kragen. In einem Schreiben vom 17. September 1990 konnte der Vorsitzende, was die Weiterfinanzierung der GfD anging, einerseits von vielversprechenden Telefonaten mit Beamten aus dem innerdeutschen Ministerium berichten, andererseits fiel Mampels Urteil über die Ministerialen vernichtend aus: „Es kann mir deshalb nicht verargt werden, daß ich das Facit [sic!] ziehe: Als Dank für eine jahrelange, erfolgreiche Arbeit unter richtigen Prämissen (im Gegensatz zu nicht unerheblichen Teilen der DDR-Forschung) wird die Gesellschaft fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Motto: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.“447
Die Konsequenzen, die Mampel ins Auge fasste, ja fassen musste, waren dramatisch: „Unter diesen Umständen müssen wir ernstlich überlegen, die Gesellschaft aufzulösen.“448 Zudem dachte der Vorsitzende daran, auf der nächsten Vorstandssitzung die Niederlegung seines Amtes zum 3. Oktober 1990 zu verkünden.449 443 Vgl. Siegfried Mampel, Brief an Staatssekretär Walter Priesnitz vom 3. Juli 1990 mit der Anlage „Die Aufgaben der Gesellschaft für Deutschlandforschung e. V.“ vom 2. Juli 1990, in: GfD-Archiv. 444 Vgl. Walter Priesnitz, Brief an Siegfried Mampel vom 6. August 1990, in: GfD-Archiv. 445 Siegfried Mampel, Brief an Staatssekretär Walter Priesnitz vom 14. August 1990, in: GfD-Archiv. 446 Vgl. ebd. 447 Siegfried Mampel, Brief an den Vorstand der GfD vom 17. September 1990, in: GfD-Archiv. 448 Ebd. 449 Vgl. ebd.
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Bis zur Vorstandssitzung am 26. September 1990 hatte sich die Lage wieder beruhigt. Zwar musste die Tagung der Fachgruppe Rechtswissenschaft kurzfristig Ende September aus dem Reichstagsgebäude, das für andere Zwecke benötigt wurde (konstituierende Sitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestages), in die Geschäftsstelle verlegt werden. Doch konnte für den Zeitraum bis Ende 1991 die Fortsetzung der GfD-Förderung aus Bundesmitteln verkündet werden. Die Krise der Gesellschaft war aber noch nicht vorüber: Auf der Mitgliederversammlung im Frühjahr 1991 sollte ein Beschluss über die Fortsetzung der Tätigkeit der GfD gefällt werden.450 Auf der Vorstandssitzung im Februar 1991 kündigte Mampel schließlich seinen Rückzug aus Altersgründen für das nachfolgende Jahr an. Zudem war sich der Vorstand einig, die Arbeit der Gesellschaft fortzuführen, sofern es eine Finanzierung hierfür gäbe.451 Dass das finanzielle Niveau zu halten schwierig werden würde, verdeutlicht das Haushaltvolumen der GfD im Jahre 1990. Dieses betrug laut Geschäftsbericht rund 432.000 DM. Auf der Einnahmenseite schlugen die Mitgliedsbeiträge mit nur rund 35.000 DM zu Buche. Der Gesellschaft flossen alleine 12.000 DM aus Beiträgen des institutionellen Mitglieds „Land Berlin“ zu. Das BMB stellte 118.000 DM, das Land Niedersachsen 5.000 DM sowie der Freistaat Bayern 3.500 DM an Fördermittel für Personal- und Verwaltungskosten zur Verfügung. Für die im Jahr 1991 geplanten neun Tagungen stellte das BMB noch einmal knapp 260.000 DM zur Verfügung. Auf der Ausgabenseite standen die Personalkosten mit rund 120.000 DM. Für Tagungen wurden etwa 220.000 DM an Projektmitteln ausgegeben.452 Dass die Arbeit der GfD weitergehen würde, machte der Beschluss „Die Aufgaben der Gesellschaft für Deutschlandforschung im geeinten Deutschland“ deutlich. Beschlossen wurde dieses Papier auf der Mitgliederversammlung im Februar 1991. Es war eine erweiterte Fassung des Positionspapiers aus dem Sommer 1990. Darin machte die Gesellschaft in zehn Punkten deutlich, worauf es ihr in ihrer Arbeit im zusammenwachsenden Deutschland ankam. Hierzu zählten u. a. die „[w]issenschaftliche Begleitung und Förderung des Vereinigungs- und Integrationsprozesses in Deutschland“, die „Integration von fachlich ausgewiesenen, unbelasteten Wissenschaftlern in der bisherigen DDR, die sich mit der Deutschlandforschung befassen“, die „Auseinandersetzung mit dem Zerrbild der gesamten deut450 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 26. September 1990, in: GfD-Archiv. 451 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 27. Februar 1991, in: GfDArchiv. 452 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 27. Februar 1991, Anlage: Geschäftsbericht für das Jahr 1990, in: GfD-Archiv.
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schen Geschichte in der DDR“, die „Förderung der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der Entwicklung in der SBZ / DDR einschließlich der friedlichen Revolution von 1989“ sowie die „Bekräftigung des Bildes eines friedlichen Deutschland in einem vereinten Europa“453. Im Jahre 1991 beendete das Land Berlin die Förderung der GfD. Bereits im Jahr zuvor hatten das Land Niedersachsen und der Freistaat Bayern ihre Zahlungen eingestellt.454 Mampel kandidierte – wie angekündigt – auf der Mitgliederversammlung im März 1992 nicht erneut für das Amt des Vorsitzenden der Gesellschaft. Eine Ära ging zu Ende. Mampels Nachfolger wurde der Regensburger Politikwissenschaftler (und zudem – wie sein Vorgänger – Jurist) Jens Hacker, der bereits seit 1978 dem Vorstand angehört hatte.455 Hacker setzte die Arbeit in Mampels Sinne fort. In seine Amtszeit fielen vor allem eine Verkleinerung der Geschäftsstelle sowie eine Mitgliederbefragung, ob eine Fortsetzung der GfD-Tätigkeit gewünscht sei. Falls sich hierbei keine Mehrheit für eine Fortsetzung der Arbeit finden würde, sollte die Gesellschaft aufgelöst werden.456 Jens Hacker hatte den Mitgliedern im März 1993 für ihre Entscheidung zur Fortsetzung der GfD-Tätigkeit gute Gründe an die Hand gegeben: „Wir sind der festen Überzeugung, daß die Gesellschaft zur Herstellung der Einheit Deutschlands, für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit sowie für die Darstellung des vereinigten Deutschlands im Ausland auch in Zukunft wichtige Aufgaben zu erfüllen hat. Nach der Öffnung der DDR- und SED-Archive ist – wie wir Anfragen entnehmen können – sowohl im westlichen als auch im öst lichen Ausland das Interesse an der ‚Deutschland‘-Forschung gestiegen. Dies scheint man in Bonn aus kurzsichtigen Erwägungen über Einsparungen im Haushalt jedoch nicht zu erkennen. Die Auflösung der Gesellschaft würde nach unserer Meinung einen schweren Verlust für Deutschland bedeuten.“457
An der Umfrage beteiligten sich etwa die Hälfte der knapp 700 Mitglieder (Stand: 31.12.1993), die sich mehrheitlich für eine Fortsetzung der Arbeit der GfD aussprachen.458
453 Gesellschaft für Deutschlandforschung, Die Aufgaben der Gesellschaft für Deutschlandforschung im geeinten Deutschland. Beschlossen auf der Mitgliederversammlung am 28.2.1991, in: Rundbrief der GfD, Nr. 27 vom 1. Juli 1991, in: GfDArchiv. 454 Vgl. das Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 31. August 1991, in: GfDArchiv. 455 Vgl. den Rundbrief der GfD, Nr. 29 vom 1. Juli 1992, in: GfD-Archiv. 456 Vgl. den Sonder-Rundbrief der GfD vom 25. März 1993, in: GfD-Archiv. 457 Ebd. 458 Vgl. den Rundbrief der GfD, Nr. 31 vom 25. September 1993, in: GfD-Archiv.
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6. Persönlichkeiten a) Siegfried Mampel Die prägende Figur der Gesellschaft für Deutschlandforschung seit ihrer Gründung 1978 war der bis 1992 amtierende erste Vorsitzende, der Jurist Siegfried Mampel. Mampel wurde 1913 in Halle an der Saale geboren. Er studierte Jura und absolvierte die erste juristische Staatsprüfung 1936, der das Ende seiner juristischen Ausbildung im April 1939 mit dem Ablegen des Assessorexamens folgte. Noch im Jahr des Beginns des Zweiten Weltkrieges wurde Mampel zur Wehrmacht einberufen. Er diente in verschiedenen Teilen der Luftabwehr, in der Hauptsache auf dem Gebiet des Deutschen Reiches.459 Nach dem Ende des Krieges war Mampel in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Nachdem er im Herbst 1945 in seine Heimatstadt Halle zurückkehrte, trat er der CDU bei. Er wurde zunächst ehrenamtlicher Justiziar des Landesverbandes Sachsen-Anhalt, ehe er 1946 Sekretär der CDU-Landtagsfraktion wurde. Mampels dortige Initiativen zur Etablierung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit wurden von der Sowjetischen Militäradministration nicht geduldet. In der Folge musste Mampel auf sowjetischen Druck hin im Jahre 1947 seine Tätigkeit beenden. Er blieb aber weiter in der CDU aktiv.460 Auch die daraufhin aufgenommene Tätigkeit als Mitarbeiter der Landesversicherungsanstalt war für Mampel 1950 nur eine Übergangsstation, ehe er sich 1951 zur Flucht nach West-Berlin entschloss. Dort arbeitete Mampel im Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen (UFJ), 459 Vgl. Rainer Eppelmann, Zum Tod von Professor Dr. Siegfried Mampel, in: Deutschland Archiv, 4 / 2003, S. 554–555, hier S. 554. Nach Informationen des langjährigen Vorsitzenden der GfD, des Duisburger Geographen Karl Eckart, bestand Mampel 1932 sein Abitur am Humanistischen Gymnasium in Halle / S. In Naumburg legte er dann 1935, und nicht 1936 – wie Eppelmann annimmt – seine erste juristische Staatsprüfung ab. 1939 legte Mampel seine Große juristische Staatsprüfung in Berlin ab. Vgl. dazu Karl Eckart, Nachruf auf Prof. Dr. Siegfried Mampel, in: Deutschland Archiv, 4 / 2003, S. 555–556, hier S. 555. Eine „Auskunft“ des MfS verzeichnet eine Mitgliedschaft Mampels ab dem 1. Oktober 1933 in der SA, zudem eine „wenige Jahre später“ vollzogene Mitgliedschaft im NS-Fliegerkorps. Zum 1. Mai 1937 erfolgte nach diesen Unterlagen auch Mampels Mitgliedschaft in der NSDAP. Zudem sei Mampel Mitglied des „Stahlhelms“ gewesen. Vgl. zu diesen biographischen Informationen Hauptabteilung XX / 5, Auskunft zu Siegfried Mampel vom 20. Oktober 1982, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 18114, Bl. 092. Siehe auch die Kopie des Studienbuches von Mampel aus dem Jahr 1934, in dem er mit seiner Unterschrift seine SA-Mitgliedschaft quittiert hat, in: BStU, ZA, MfS – HA IX / 11 PA 3150, Bl. 013–014. 460 Vgl. ebd., S. 554–555. Vgl. auch Siegfried Mampel, So fing es an. Politische Erinnerungen aus Halle (Saale) 1945 bis 1950, in: Deutschland Archiv, 3 / 1997, S. 417–437.
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einer Menschenrechtsorganisation.461 1967 wurde Mampel in Köln promoviert. Nach der Eingliederung des UFJ in das Gesamtdeutsche Institut war Mampel bis 1978 stellvertretender Abteilungsleiter der Berliner Dependance des Gesamtdeutschen Instituts. Ein Jahr zuvor, 1977, wurde Mampel zum Honorarprofessor am rechtswissenschaftlichen Fachbereich an der Freien Universität Berlin berufen.462 Mampel wurde 1978 Vorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung, die er maßgeblich mitgegründet hatte und über viele Jahre prägen sollte. Das Amt des Vorsitzenden hatte er bis 1992 inne, danach wurde er Ehrenvorsitzender. 1983 wurde Mampel das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Im Mai 2003 verstarb Mampel im Alter von 89 Jahren in Berlin.463 In einem Nachruf schrieb der seinerzeitige Vorsitzende der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann über Mampel: „Siegfried Mampel zählte zu jenen Zeitzeugen des Jahrhunderts der Extreme, die ihre doppelte Diktaturerfahrung zum Anlass nahmen, sich vorbehaltlos und bis ins höchste Alter politisch und wissenschaftlich erst mit der Realität und dann mit der Geschichte einer Diktatur auseinanderzusetzen, deren Schein und Wirklichkeit er mit größtem Sachverstand akribisch sezierte.“464
Und weiterhin auf das Engagement Mampels für die Wiedererlangung der deutschen Einheit gerichtet schrieb Eppelmann: „Siegfried Mampel hat mit seinem unermüdlichen Engagement mit dazu beigetragen, dass der Gedanke an die deutsche Einheit auch dann nicht in Vergessenheit geriet, als der Zeitgeist den Status Quo für unveränderbar erachtete.“465
Zu den wichtigsten Publikationen Mampels zählen vor der Wiedervereinigung seine beiden Studien zur DDR-Verfassung.466 Nach der deutschen 461 Zum UFJ siehe insbes. Siegfried Mampel, Der Untergrundkampf des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen in West-Berlin, 4., neubearb. u. wesentlich erw. Aufl., Berlin 1999; Frank Hagemann, Der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen 1949–1969, Frankfurt a. M. u. a. 1994. 462 Vgl. Eppelmann, Zum Tod von Professor Dr. Siegfried Mampel, S. 555; vgl. Eckart, Nachruf auf Prof. Dr. Siegfried Mampel, S. 555. 463 Vgl. Eckart, Nachruf auf Prof. Dr. Siegfried Mampel, S. 556. 464 Eppelmann, Zum Tod von Professor Dr. Siegfried Mampel, S. 555. 465 Ebd. 466 Siegfried Mampel, Die Verfassung der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Frankfurt a. M. / Berlin 1962; Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar, Frankfurt 1972. Jens Hacker lobte die 1982 erschienene zweite Auflage des Mammutwerkes mit 1364 Seiten in einer Besprechung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als „eine der umfassendsten Informationsquellen über das Recht und die Verfassungsordnung der DDR“.
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Einheit erschienen seine Studien zum Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen467 und zur Staatssicherheit468. b) Jens Hacker Neben Siegfried Mampel war der Regensburger Jurist und Politologe Jens Hacker die prägende Figur der Gesellschaft für Deutschlandforschung.469 Zwischen 1992 und 1994 war er deren Vorsitzender. Hacker wurde 1933 in Kiel geboren. Nach seinem Studium der Rechte, Politischen Wissenschaft und Geschichte in München, Kiel und Köln wurde 1974 seine juristische Dissertation mit dem Titel „Der Rechtsstatus Deutschlands aus Sicht der DDR“470 veröffentlicht.471 Nach seiner Tätigkeit als Mitarbeiter von Boris Meissner am Kölner Institut für Ostrechtsforschung und der mehr als 1000-seitigen Habilitationsschrift472 im Fach Politische Wissenschaft, lehrte Hacker von 1982 bis zu seiner Emeritierung 1998 an der Universität Regensburg Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Internationalen Politik. Im Jahr 2000 ist Jens Hacker verstorben.473 Hacker gehörte 1978 zu den Mitgründern der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Zwischen 1986 und 1994 war er Mitglied im Beirat der Siehe dazu Jens Hacker, Wie die SED ihre Führungsrolle sichert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. März 1984. 467 Siegfried Mampel, Der Untergrundkampf des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen in West-Berlin, 4., neubearb. u. wesentlich erw. Aufl., Berlin 1999. 468 Siegfried Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei. Zur Bedeutung einer Heilslehre als Mittel zum Griff auf das Bewußtsein für das Totalitarismusmodell, Berlin 1996. 469 Neben Mampel und Hacker sind als weitere prägende Figuren der GfD-Historie der Historiker Alexander Fischer und der Ökonom Karl C. Thalheim zu erwähnen. Zu Fischer siehe die Nachrufe von Karl Eckart, Zum Tod von Alexander Fischer, in: Deutschland Archiv, 8 / 1995, S. 789–790 und Michael Richter, Zum Tode von Alexander Fischer, in: Historisch-Politische Mitteilungen, 2. Jahrgang (1995), S. 341–343. Zu Karl C. Thalheim siehe Jens Hüttmann, DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung, Berlin 2008, S. 73–81 und Friedrich Haffner, Zum Tod von Karl C. Thalheim, in: Deutschland Archiv, 6 / 1993, S. 640. 470 Jens Hacker, Der Rechtsstatus Deutschlands aus Sicht der DDR, Köln 1974. 471 Vgl. Peter Joachim Lapp, In memoriam Jens Hacker, in: Deutschland Archiv, 2 / 2000, S. 180. 472 Jens Hacker, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939–1980, Baden-Baden 1983. Eine zweite Auflage erfolgte 1985. 473 Vgl. Lapp, In memoriam Jens Hacker, S. 180. Vgl. ebenso Tilman Mayer / Tanja Wagensohn, Nachruf auf Jens Jacker, in: Politische Studien, Heft 370, 51. Jahrgang, März / April 2000, S. 114–116, hier S. 114–115.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
Bundeszentrale für politische Bildung. Hacker konnte mit Fug und Recht das Etikett eines „streitbaren Wissenschaftlers“ zugeschrieben werden, der sich gegen den „Meinungsklimadruck der 70er-Jahre“ für die deutsche Wiedervereinigung eingesetzt hatte.474 Dabei kam es ihm nie auf ein natio nal-neutralistisches Deutschland an, wie Peter Joachim Lapp in seinem Nachruf vermerkte. Hacker sei vielmehr als Anhänger eines wiedervereinigten Deutschlands „in Frieden und Freiheit“ aufgetreten. Auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts habe Hacker die Offenhaltung der Deutschen Frage angemahnt, gegen die Verteidiger des deutschlandpolitischen Status quo.475 In seinem Spätwerk, das den bezeichnenden Titel „Deutsche Irrtümer“ trägt, setzte sich Hacker mit eben jenen Verfechtern des deutschlandpolitischen Status quo in der Bundesrepublik auseinander. Auch hier schlug ihm viel Rechtfertigendes von den Angesprochenen entgegen476, der Meinungsdruck aus den Tagen der deutschen Zweistaatlichkeit war offenkundig noch nach der staatlichen Einheit aktualisierbar. Hacker hatte die westdeutschen Status-quo-Befürworter in Politik, Wissenschaft, Publizistik und Journalismus scharf kritisiert: „Wer die widernatürliche Teilung Deutschlands mit Hinweis auf die jüngere Geschichte oder auf sicherheitspolitische Aspekte in Europa für gut oder gar gerecht gehalten hatte, dachte ahistorisch.“477 Im „Nachwort“, das der dritten Auflage beigefügt wurde, verdeutlichte Hacker noch einmal sein Credo als Deutschlandforscher während der deutschen Teilungszeit: „Meine Kritik [am Umgang u. a. von Wissenschaftlern mit der Deutschen Frage in Westdeutschland während der deutschen Teilungszeit; L. H.] suchte nicht festzustellen, wer ‚Recht‘ hat, sondern was gerechtfertigt erscheinen mußte. In diesem Sinne ging es mir darum, im Zusammenhang mit der ‚deutschen Frage‘ die Stellung des Rechts und die Stellung der Theorie in Bezug auf die politischen Auswirkungen herauszuarbeiten. Die Streitpunkte um die ‚deutsche Frage‘ bewegten sich zwischen den Extremen der Anerkennung einer endgültigen, auch rechtlich besiegelten Teilung und der völligen Negierung eines zweiten deutschen Staates. Dazwischen lag jene Position, die unter Fortsetzung der deutsch-deutschen Bezie474 Vgl. Mayer / Wagensohn, Nachruf auf Jens Hacker, S. 114–116. Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer war Hacker Mitglied des Außenpolitischen Arbeitskreises der CSU und hatte Auftritte in Richard Löwenthals „ZDF-Magazin“. Vgl. ebd. 475 Vgl. Lapp, In memoriam Jens Hacker, S. 180. 476 Vgl. dazu auch ebd. und Mayer / Wagensohn, Nachruf auf Jens Hacker, S. 115; vgl. Tilman Mayer, Wider die Irrtümer: Zum Tode des Politologen Jens Hacker, in: Die Welt vom 22. Januar 2000. 477 Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 450. Siehe auch die Hackers Positionen zustimmenden Rezension von Tilman Mayer, Kader, Kleingläubige und Kollaborateure, in: Rheinischer Merkur, Nr. 24 vom 12. Juni 1992.
IV. Opposition gegen die herrschenden Tendenzen in der DDR-Forschung 175 hungen nach dem Grundlagenvertrag die rechtlich begründete Option einer staatlichen Wiedervereinigung nicht aufgeben wollte. Diese Auffassung hat meine wissenschaftliche Arbeit über die Jahrzehnte hinweg angeleitet.“478
7. Die Beobachtung der Gesellschaft für Deutschlandforschung durch das MfS Der öffentlich ausgetragene Streit um die Gründung der GfD 1977 / 78 wurde auch in Ost-Berlin registriert. Bereits die „Aktuelle Informationsübersicht Nr. 42 / 77 vom 17. Oktober 1977“ des MfS führte die „Beabsichtigte Gründung einer ‚Gesellschaft für Deutschlandforschung‘ in Westberlin“ auf.479 Der MfS-Bericht charakterisierte darin die geplante Vereinigung als „Formierungsbewegung rechtskonservativer sog. Deutschland-Forscher.“480 Mit dieser „Aktion“, gemeint war die GfD selbst, solle – nach Ansicht der Staatssicherheit – entsprechender „Druck“ auf die Bundesregierung ausgeübt werden, die politische Entspannungslinie zu verlassen. Außerdem befürchtete die Stasi, dass mit Hilfe der Speerspitze GfD versucht werde könnte, regierungsfreundliche „sog. DDR-Forschungskreise zu unterwandern und zu spalten“.481 Seit 1979 war die Staatssicherheit zudem mit dem IMF „Berger“, hinter dem sich der Kasseler Wirtschaftsprofessor Ludwig Bress verbarg, im Vorstand der GfD vertreten.482 In einem Bericht aus den frühen 1980er Jahren schätzte das MfS die Gesellschaft für Deutschlandforschung in ihrer „Gefährlichkeit“ für die SED-Diktatur wie folgt ein: „Die Gesellschaft strebt die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen und Persönlichkeiten in der BRD, in der DDR und in anderen Ländern an und ist somit als ein neu entstandenes Zentrum der politisch-ideologischen Diversion zu charakterisieren.“483 478 Hacker,
Deutsche Irrtümer, S. 617. Ministerium für Staatssicherheit, Aktuelle Informationsübersicht, Nr. 42 / 77 vom 17. Oktober 1977, in: BStU, ZA, MfS – HVA 83, Teil 1, Bl. 092. 480 Ebd., Bl. 094–095. Siehe zur Stasi-Beobachtung der GfD auch Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei, S. 267– 268. 481 Ebd., Bl. 095. Den Gründungsprozess der GfD aus Sicht der Staatssicherheit bildet auch ab: Information über die Zielstellung und Situation der „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ in Westberlin, Nr. 500 / 78 vom 30. August 1978, in: BStU, ZA, MfS – HA XX / AKG 5800, Bl. 168–173. 482 Vgl. Knabe, Die unterwanderte Republik, S. 388–389. 483 MfS, BV Berlin, Aufgabenstellung und Organisationsstruktur der Gesellschaft für Deutschlandforschung und Inhalt eines am 15. / 16.10.1981 stattgefundenen Symposiums der Fachgruppe Rechtswissenschaft dieser Gesellschaft zum Thema „Zehn 479 Vgl.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
Die Einschätzung der GfD als „Zentrum der politisch-ideologischen Diversion“ führte dann zu ihrer fortgesetzten Beobachtung durch das MfS. So wurde der GfD etwa Mitte der 1980er Jahre von der Staatssicherheit eine „zentrale Stelle bei der Koordinierung der DDR-Forschun[g] in der BRD“ zugebilligt. Dieser besondere Status wurde auf die Erstellung des „Memorandums zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ sowie des „Programms zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung“ seitens der GfD zurückgeführt, die nach Einschätzung des MfS beide der „Leitung und Steuerung der ‚DDR-Forschung‘ “ dienen sollten.484 Auch von höchster Stelle, so von Politbüro-Mitglied Egon Krenz, wurde die Arbeit der GfD „gewürdigt“. Krenz, damaliger „Kronprinz“ Erich Honeckers, bezeichnete die Gesellschaft während einer staats- und rechtswissenschaftlichen Konferenz im Juni 1985 in Ost-Berlin als ein „antikommunistisches Strategie- und Koordinierungszentrum“.485 Gegen den GfD-Vorsitzenden Mampel bestand seit 1982 „wegen seiner feindlichen Tätigkeit“ eine Einreisesperre in die DDR. Diese wurde nur zu besonderen Anlässen, wie 1987 zum Besuch eines Empfangs der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, aufgehoben. Eine „Kurzauskunft“ zu Mampel bestätigte noch im März 1988 das geltende Einreiseverbot.486 Mampel war seit seiner Flucht aus der DDR 1950 für die SED-Machthaber ein Staatsfeind. So urteilte das MfS über Mampels UFJ-Tätigkeit in West-Berlin während der 1960er Jahre: „Er arbeitete mit Agenten zusammen und veröffentlichte unter wissenschaftlicher Aufmachung Hetzartikel gegen die DDR.“487 Auch auf den späteren DDR-Forschertagungen sei Mampel „in antikommunistischer Weise in Erscheinung“488 getreten. Die Überwachung der GfD durch das MfS erfolgte bis in das Jahr 1989 hinein. So existiert eine „Information“ aus dem März des Revolutionsjahres, die praktisch einen Bericht über die Aktivitäten der Gesellschaft für 1988 Jahre Berlin-Abkommen 1971–1981 – Versuch einer Bilanz –“, in: BStU, Außenstelle Berlin, MfS – BV Berlin Abt. XV 68, Bl. 230. 484 Vgl. „Gesellschaft für Deutschlandforschung e. V.“ (GfD), ohne Datum [ca. Mitte der 1980er Jahre], in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 1302, Bl. 111–112. 485 Egon Krenz am 26. Juni 1985, zit. nach dem Protokoll der GfD-Vorstandssitzung vom 5. März 1986, Anlage 2: Bericht über das Geschäftsjahr 1985, in: GfDArchiv. 486 Vgl. Hauptabteilung XX / 5, Kurzauskunft zu Siegfried Mampel vom 4. März 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 18114, Bl. 065. Siehe auch das „Fahndungsersuchen zur Einleitung einer Reisesperre“ gegen Siegfried Mampel vom 8. Oktober 1982, in: BStU, ZA, MfS – HA VI 3699, Bl. 001–002. 487 Hauptabteilung XX / 5, Auskunft vom 20. Oktober 1982, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 18114, Bl. 092. 488 Ebd., Bl. 093.
V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“177
und das beginnende Jahr 1989 (u. a. deutsch-deutsche Städtepartnerschaften, Tagungen, Vorstandswahlen, Verhältnis der GfD zum BMB) darstellt.489 Ein Engagement für die Erreichung des Ziels der deutschen Einheit im wissenschaftlichen Bereich war nicht ausschließlich in der GfD vorzufinden. Auch in einer Gruppe ehemaliger DDR-Wissenschaftler, organisiert im Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, wurde leidenschaftlich für die Wiedervereinigung Deutschlands gestritten.
V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“490: Der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker 1. Geschichte a) Die Gründung des Arbeitskreises im Mai 1987 Am 9. Mai 1987 wurde in den Räumlichkeiten der Europäischen Stu dienakademie in Vlotho der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker gegründet. Vorsitzender des Vorstandes dieser „akademischen Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“491 wurde der Kieler Völkerrechtler Wolfgang Seiffert. Zum Geschäftsführer wurde der ehemals als Philosophieprofessor an der Ost-Berliner Humboldt-Universität tätige Franz Loeser bestellt. Weiteres Vorstandsmitglied wurde Edda Hanisch, die früher in der DDR an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, einem Eliteinstitut der Staatspartei, beschäftigt war.492 Zum Zusammenschluss von aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelten Akademikern kam es im Zuge des gemeinsam in Westdeutschland durchgeführten 489 Vgl. Information über Bestrebungen der rechtskonservativen „Gesellschaft für Deutschlandforschung e. V.“ (GfD) zum Missbrauch der Städtepartnerschaften zwischen BRD und DDR, März 1989, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 120, Teil 1, Bl. 051–057. 490 Uwe-Eckart Böttger, Ohne Theorie kein neuer Sozialismus. Ehemalige DDRAkademiker organisieren sich in der Bundesrepublik, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. August 1987. 491 Ebd. 492 Vgl. „Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Mai 1987. Vgl. auch das Protokoll über die Gründung des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker in Vlotho am 9. Mai 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. Neben den oben erwähnten Vorstandsmitgliedern gehörten noch Johannes Metzner, Dr. Gernot Schneider, Dr. Manfred Tröder, Dr. Reinhold Lofy, Heide-Marie Lofy und der ehemalige Stoph-Vertraute Prof. Dr. Hermann von Berg zu den insgesamt neun Gründungsmitgliedern. Vgl. dazu Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Protokoll über die Weiterführung der Diskussion zur Satzung vom 9. Mai 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
Buchprojektes „Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000“493, in dem Wolfgang Seiffert, Franz Loeser und der Ökonom und ehemalige Stoph-Vertraute Hermann von Berg jeweils den zweiten deutschen Staat auf den Gebieten Politik, Ökonomie und Ideologie kritisch unter die Lupe nahmen.494 Als das Hauptziel des Arbeitskreises wurde von seinen Gründern – in vielleicht etwas hölzernem SED-Jargon formuliert – „das Studium der Entwicklung der DDR unter dem besonderen Ziel der Möglichkeit ihrer Demokratisierung“495 ausgegeben. Die Gründungsmitglieder waren der Überzeugung, dass „die DDR auf allen Gebieten an die Grenzen ihrer Entwicklung“496 gekommen sei. Durch eigene Forschungstätigkeit wollte man einen Beitrag zum Erschließen möglicher Wege zur Demokratisierung der DDR leisten, eine Zielformulierung, die in ihrer gedachten Konsequenz das Ende des zweiten deutschen Staates mit einschloss. In der Reformpolitik des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschows erblickte man einen Hoffnungsschimmer für die Umsetzung der eigenen Ziele. An die Bundesregierung wurde appelliert, den Gedanken der Demokratisierung der DDR in ihrer Deutschlandpolitik zu berücksichtigen497 – eine kühne Forderung auch noch in den späten 1980er Jahren. Auf der Gründungsversammlung wurde zudem über eine Satzung beraten. In dieser wurden dann in § 1, Absatz 2 als Ziele des Arbeitskreises festgelegt: – „das Studium der Entwicklung der DDR unter dem besonderen Ziel der Möglichkeiten ihrer Demokratisierung zu fördern, in diesem Sinne zu einer fruchtbaren Deutschlandpolitik beizutragen und daran interessierte ehemalige DDR-Akademiker zusammenzuführen; – Solidarität mit in Bedrängnis geratenen Akademikern in der DDR zu üben und ehemaligen DDR-Akademikern bei der Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland und der Wahrung ihrer sozialen und akademischen Belange behilflich zu sein; – einen aktiven Beitrag zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen zu leisten.“498 493 Hermann von Berg / Franz Loeser / Wolfgang Seiffert, Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000. Politik, Ökonomie, Ideologie. Plädoyer für eine demokratische Erneuerung, Köln 1987. 494 Vgl. Uwe-Eckart Böttger, Ohne Theorie kein neuer Sozialismus. Ehemalige DDR-Akademiker organisieren sich in der Bundesrepublik, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. August 1987. 495 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Pressemitteilung vom 10. Mai 1987, in: Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Informationsbrief 1, Juni 1987, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 496 Ebd. 497 Vgl. ebd. 498 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Satzung vom 9. Mai 1987, in: Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Informationsbrief 1, Juni 1987, in: Pri-
V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“179
Über die Fassung der Satzung wurde auf der Gründungsversammlung am 9. Mai 1987 kontrovers debattiert. Besonders umstritten war die Formulierung des Vereinsziels hinsichtlich einer möglichen Wiedervereinigung von Bundesrepublik und DDR. So hieß es im Satzungsentwurf in § 1 (2): „Zweck des Arbeitskreises ist es, – das Studium der Entwicklung der DDR unter dem besonderen Ziel ihrer demokratischen Erneuerung zu fördern und daran interessierte ehemalige DDR-Akademiker zusammenzuführen; – ehemaligen DDR-Akademikern bei der Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland und der Wahrung ihrer sozialen und akademischen Belange behilflich zu sein; – einen aktiven Beitrag zur Erreichung der friedlichen Wiedervereinigung in freier Selbstbestimmung zu leisten.“499
Eine so offensive Formulierung des Ziels der deutschen Wiedervereinigung mochten die Mitglieder in der Satzung dann doch nicht verankert wissen, abgesehen von Wolfgang Seiffert. Dieser wies darauf hin, dass sich „Chancen zur Wende“500 aus der Reformpolitik Gorbatschows ergeben könnten, die ein „Bekenntnis zur Einheit der Nation und zum Selbstbestim mungsrecht“501 notwendig werden lassen könnten. Seiner Meinung nach stehe die Mehrheit der Deutschen in der DDR nicht hinter dem kommunistischen System. Der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker solle es sich daher zur Aufgabe machen, die Möglichkeiten einer „Wende“502 in der DDR zu erforschen. In der endgültigen Satzung wurde dann der Begriff „Wiedervereinigung“ aus dem Text gestrichen und stattdessen der etwas offenere Terminus des „Selbstbestimmungsrechts“ eingefügt.503 Wo gedachte sich der Seiffert-Kreis in der bundesdeutschen DDR- und Deutschlandforschung zu positionieren? Wolfgang Seiffert sprach sich – davatarchiv Dr. Michael Richter. Als Sitz des Arbeitskreises wurde Köln festgelegt. Mitglied konnte „jeder deutsche Staatsangehörige werden, der in der DDR wissenschaftlich tätig war, mindestens ein Jahr in der Bundesrepublik Deutschland oder Berlin (West) seinen ständigen Wohnsitz hat[te], sich wissenschaftlich ausgewiesen hat[te] und sich zu den Zielen dieses Arbeitskreises“ bekannte. Vgl. hierzu ebenfalls die Satzung des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker. 499 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Entwurf der Satzung vom 10. Mai 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. Hervorhebung durch den Verfasser. 500 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Protokoll: Weiterführung der Diskussion zur Satzung, 9. Mai 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 501 Ebd. 502 Ebd. 503 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Satzung vom 9. Mai 1987, in: Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Informationsbrief 1, Juni 1987, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
bei unterstützt von Franz Loeser – für eine Eigenständigkeit des Arbeitskreises im Feld der bundesdeutschen DDR-Forschung aus, da man für kommende Projekte bereits finanzielle Mittel beantragt habe. Loeser wies ergänzend auf die zu behandelnden Themen des Arbeitskreises hin, die „eine ganz besondere Spezifik“504 hätten. Auch Hermann von Berg sah Probleme in der aktuellen Deutschlandforschung, die man „konsequent anfassen“505 müsse. Eine eigenständige Vereinigung sei hierfür erforderlich. Wer in dieser mitmachen wolle, müsse „Flagge zeigen“, und zwar „öffentlich und sachlich“. Alles andere sei „nicht diskutabel“506, so der ehemalige Ökonom an der Ost-Berliner Humboldt-Universität. Weitere Diskussionen drehten sich um die Satzungs-Passage der geforderten „Solidarität mit in Bedrängnis geratenen Akademikern in der DDR“. Hierbei sprach sich Seiffert für jenem Passus in § 1(2) der verabschiedeten Satzung aus, da diese Solidaritätsbekundung mit bedrängten Akademikern in der DDR für ihn ein Instrument für einen freien Meinungsaustausch mit den Kollegen in der DDR darstellte.507 Die Diskussion über die Satzung wurde von Franz Loeser dahingehend zusammengefasst, dass der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker keine traditionelle Wissenschaftsorganisation sein wolle. Gleichwohl hielt er fest, dass die Vorstellungen über die neue Vereinigung doch recht weit auseinander lägen. Die Satzung wurde schließlich mit zehn Ja-Stimmen verabschiedet.508 Die wissenschaftliche Arbeit des neuen deutschlandpolitischen Vereins sollte von drei Forschungsgruppen bewältigt werden. Unter der Leitung von Hermann von Berg sollte sich eine erste Gruppe mit dem „Modell einer pluralistischen Demokratie in der DDR“509 beschäftigen. Der Wirtschaftswissenschaftler Harry Maier und der Philosoph Franz Loeser sollten sich in einer zweiten Forschungsgruppe mit dem „Modell einer sozialistischen Demokratie in der DDR“510 auseinandersetzen. Die „Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten unter den Bedingungen einer 504 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Protokoll: Weiterführung der Diskussion zur Satzung, 9. Mai 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 505 Ebd. 506 Alle Zitate ebd. 507 Vgl. ebd. 508 Vgl. ebd. Bei der sich anschließenden Vorstandswahl gab es kritische Stimmen bezüglich der nicht beteiligten Jugend und es wurde angeregt, die Wahl zurückzustellen. Die Höhe des jährlichen Mitgliedsbeitrages wurde auf 30 DM festgesetzt. 509 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Arbeitsprogramm, in: Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Informationsbrief 1, Juni 1987, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 510 Ebd.
V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“181
möglichen Demokratisierung der DDR“511 sollte als dritte wissenschaftliche Gruppe des Arbeitskreises von dem Juristen Wolfgang Seiffert geleitet werden. Die Forschungsergebnisse sollten regelmäßig publiziert werden. Ein „Informationsbrief“ des Arbeitskreises sollte sechsmal im Jahr erscheinen.512 Als soziale Aufgaben des Kreises wurden die „Unterstützung der übergesiedelten DDR-Akademiker“, die „Hilfe bei ihrer Eingliederung“ und die „Be ratung in Sach- und Familienfragen“513 festgelegt. In einer Presseerklärung am 10. Mai 1987 wurde die Gründung des Arbeitskreises schließlich bekannt gegeben. In diesem Text wurde zudem auf die „Orientierung [der DDR] auf die Einheit der Nation und [auf] die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen“514 hingewiesen, ohne das es nach Ansicht der im Arbeitskreis versammelten ehemaligen DDRWissenschaftler „für die DDR keine Perspektive“ gebe. Wenn es in der DDR zu keiner „grundlegenden Wende“ komme, drohe ein noch größerer Rückstand gegenüber der Bundesrepublik. Man wolle im Arbeitskreis mit „Forschungstätigkeit“515 einen Beitrag zur Eruierung möglicher Wege zur Demokratisierung der DDR leisten. An die Bundesregierung wurde appelliert, ihre Deutschlandpolitik stärker auf den Gedanken einer Demokratisierung der DDR auszurichten516, ein Ziel, das die staatliche Wiedervereinigung des geteilten Landes ausdrücklich nicht ausschloss. Über die Gründung des Arbeitskreises wurde u. a. in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“517 und der „Süddeutschen Zeitung“518 berichtet. In den Artikeln wurden die west-östlichen Biographien Wolfgang Seifferts, Franz Loesers und Hermann von Bergs hervorgehoben und über die deutschlandpolitischen Ziele der neuen Gruppe berichtet. Im Artikel in der „FAZ“ wurde vom Verfasser Karl Feldmeyer auch das Ziel einer Demokratisierung der DDR erwähnt519, was eine mediale Provokation für die entspannungsorientierten Kräfte in der Bundesrepublik bedeuten musste. Die Forderung nach einer demokratisierten DDR bedeutete in letzter Konsequenz nichts 511 Ebd. 512 Vgl.
513 Ebd.
ebd.
514 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Pressemitteilung vom 10. Mai 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 515 Alle Zitate ebd. 516 Vgl. ebd. 517 „Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Mai 1987. 518 Uwe-Eckart Böttger, Ohne Theorie kein neuer Sozialismus. 519 Vgl. „Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Mai 1987.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
weniger als die Forderung nach der staatlichen Abschaffung des zweiten deutschen Staates. Dass eine „andere“ DDR keine Chance haben würde zu existieren, haben die historischen Ereignisse rund zwei Jahre später eindrucksvoll bestätigt. Uwe-Eckart Böttger bezeichnete in der „Süddeutschen Zeitung“ die Mitglieder des Arbeitskreises als „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“520, was keine Übertreibung darstellte. So wurde in den Artikeln auf die früheren Tätigkeiten der drei Hauptakteure des Arbeitskreises verwiesen: Seiffert als Berater Erich Honeckers, Loeser als Philosophieprofessor an der Ost-Berliner Humboldt-Universität und Mitglied des DDR-Friedensrates sowie von Berg als früherem Berater des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph.521 b) Gefährden ehemalige DDR-Akademiker die Entspannung? – Der Konflikt des Arbeitskreises mit dem Europäischen Studienwerk Vlotho im Sommer 1987 Wenige Wochen nach Gründung des Arbeitskreises – und wenige Wochen vor dem Honecker-Besuch in der Bundesrepublik – kam es im Juni 1987 zu einem Konflikt des Arbeitskreis-Vorstandes mit dem Gesamteuropäischen Studienwerk in Vlotho, das man als künftigen dauerhaften Tagungsort angedacht hatte. In einem Brief an Franz Loeser vom 23. Juni 1987 bat der Vorsitzende des Studienwerks, Walter Hildebrandt, diesen, „rein vereinsinterne Veranstaltungen nicht in unserem Hause stattfinden zu lassen.“522 Begründet wurde diese Bitte mit dem Hinweis, dass man von Seiten des Gesamteuropäischen Studienwerks durch Veranstaltungen des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker im Tagungshaus in Vlotho die „laufende Kontaktarbeit mit den sozialistischen Ländern nicht […] gefährden“523 wolle. Zu diesen Vorgängen erschienen in der „Welt“ am 11. Juli 1987 ein Bericht unter dem Titel „Europa-Studienwerk lädt SED-Kritiker wieder aus“524 sowie ein Kommentar unter dem sinnigen Titel „Gebeugte Akademie“525. In 520 Uwe-Eckart
Böttger, Ohne Theorie kein neuer Sozialismus. ebd. Vgl. auch „Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Mai 1987. 522 Walter Hildebrandt, Brief an Franz Loeser vom 23. Juni 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 523 Ebd. 524 Werner Kahl, Europa-Studienwerk lädt SED-Kritiker wieder aus. Rücksicht auf „Kontaktarbeit“ mit sozialistischen Ländern, in: Die Welt vom 11. Juli 1987. 525 Werner Kahl, Gebeugte Akademie, in: Die Welt vom 11. Juli 1987. 521 Vgl.
V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“183
beiden Texten wurde über eine Einflussnahme aus Ost-Berlin auf die Entscheidung der Akademie in Vlotho spekuliert, da es sich beim Seiffert-Kreis bekanntlich um „gegen das SED-Regime oppositionell eingestellte Wis senschaftler“526 handele. Der Adressat des Brandbriefes aus Vlotho, Franz Loeser, fragte sich demzufolge, „ob Kollegen, die sich für die Demokratisierung in der DDR einsetzen, weniger willkommen sind als Kollegen, die diese Diktatur unterstützen“527. Auch Wolfgang Seiffert zeigte sich empört über das Verhalten des Studienwerkes: Die Begründung aus Vlotho führe dazu, so Seiffert, „Kontakte abhängig zu machen von einer Basis, die in diesem Fall der Osten ist.“528 Damit war der Konflikt aber noch nicht beigelegt. Im Laufe des Sommers 1987 spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen dem Studienwerk und dem Seiffert-Kreis weiter zu. In einem Brief vom 21. Juli 1987 wandte sich der Vorsitzende des Arbeitskreises an den Leiter des Studienwerkes. In seinem Schreiben unterstrich Seiffert nochmals die „demonstrative Diffamie rung“529, die „nicht ohne Reaktion bleiben“530 könne. Zum wiederholten Male wies Seiffert darauf hin, dass die Entscheidung des Studienwerkes dahingehend ausgelegt werden könne, dass man sich den Bedingungen des Ostens einseitig unterwerfe. Außerdem suche der Arbeitskreis mit seiner Arbeit nach „wissenschaftliche[r] Wahrheit“531. Zudem sei das Studienwerk in Vlotho auch nicht Sitz des Arbeitskreises, da die Satzung als Sitz des Vereins eindeutig die Stadt Köln ausweise.532 In seinem Antwortschreiben an Seiffert vom 14. August 1987 kritisierte der Studienwerks-Chef Hildebrandt das Öffentlichmachen der Vorgänge durch Franz Loeser in der Presse. Somit sei eine Verständigung „zusätzlich [ver]kompliziert worden.“533 Er verbat sich zudem die Interpretation einer „Ausladung“534 des Arbeitskreises aus seinen Räumlichkeiten in Vlotho. Bislang habe für die geplante Tagung sowieso nur eine mündliche Anfrage von Seiten des Seiffert-Kreises vorgelegen.535 526 Werner 527 Ebd. 528 Ebd.
Kahl, Europa-Studienwerk lädt SED-Kritiker wieder aus.
529 Wolfgang Seiffert, Brief an Walter Hildebrandt vom 21. Juli 1987, in: Privat archiv Dr. Edda Hanisch. 530 Ebd. 531 Ebd. 532 Vgl. ebd. 533 Walter Hildebrandt, Brief an Wolfgang Seiffert vom 14. August 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 534 Ebd. 535 Vgl. ebd.
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Zwischenzeitlich schwelte der Konflikt weiter, sodass sich das Studienwerk veranlasst sah, in einer Presseerklärung zu den Vorgängen Stellung zu beziehen. In dem Papier kritisierten der Vorsitzende Hildebrandt und der Vorsitzende des Fachbereichsrates, Harry Blink, „die aktive politische Zielsetzung des Arbeitskreises“536, die in „Divergenz zwischen Satzungszweck und der sensiblen Arbeit unseres Hauses“ stehe. Die „starke Publizität“ und die „sehr konkreten Absichten“537 habe die Prüfung einer weiteren Zusammenarbeit seitens der überparteilichen Bildungsstätte Vlotho erforderlich gemacht.538 In einem erneuten Schreiben an Walter Hildebrandt teilten Wolfgang Seiffert und Franz Loeser diesem ihre Verärgerung über die „vielen Diffamierungen“539 – auch in der Presseerklärung – von Seiten des Stu dienwerkes mit. Die beiden Vorstände des Arbeitskreises wollten nun von Hildebrandt definitiv wissen, ob die für Dezember 1987 geplante Tagung des Kreises in Vlotho würde stattfinden können.540 Beendet wurde dieser mehrwöchige briefliche Schlagabtausch durch die definitive Absage aus Vlotho hinsichtlich künftiger Tagungsmöglichkeiten, die den Vorstand des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker am 10. September 1987 erreichte. Eine „unbefangene Zusammenarbeit“ sei nach den vorherigen Schriftwechseln mit den dort ausgetauschten Vorwürfen nicht mehr zu gewährleisten, teilte Hildebrandt lapidar dem Vorstand des Arbeitskreises – ebenfalls in Briefform – aus seinem Schweizer Urlaubsort Sigingen mit.541 c) Das Grundsatzprogramm des Arbeitskreises: „Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000“542 Als Grundsatzprogramm des Arbeitskreises – wenn auch als informelles – kann die gemeinsame Publikation „Die DDR auf dem Weg in das Jahr 536 Gesamteuropäisches Studienwerk, Presseerklärung, unterzeichnet von Walter Hildebrandt und Harry Blunk, ohne Datum [ca. August 1987], in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 537 Alle Zitate ebd. 538 Vgl. ebd. 539 Vgl. Wolfgang Seiffert / Franz Loeser, Brief an Walter Hildebrandt vom 24. August 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 540 Vgl. ebd. 541 Vgl. Walter Hildebrandt, Brief an den Vorstand des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker vom 10. September 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 542 Hermann von Berg / Franz Loeser / Wolfgang Seiffert, Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000. Politik, Ökonomie, Ideologie. Plädoyer für eine demokratische Erneuerung, Köln 1987.
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2000“543 angesehen werden. Hier unterzogen die drei Vorstandsmitglieder Hermann von Berg, Franz Loeser und Wolfgang Seiffert die Bereiche Ökonomie, Ideologie und Politik der DDR einer scharfen Analyse. Seifferts Analyse der Politik der DDR führte zu dem Ergebnis, dass die DDR keine Alternative habe als die einer „gesamtdeutschen, gemeinsamen Zukunft der Nation“.544 Für Hermann von Berg hatte die DDR angesichts unübersehbarer Schwächen nur dann eine Zukunft, wenn sie mit der Bundesrepublik einen „finanziell-ökonomischen Grundlagenvertrag“ abschließen würde. Von Berg taxierte die Leistungskraft der DDR kühn auf den 25. Platz unter den Industrienationen. In einem Programm der ökonomischen Verflechtung mit der Bundesrepublik sah er eine Chance für die DDR, wieder auf den zehnten Platz vorrücken zu können, einen Platz, den sie unter Ulbricht eingenommen habe.545 Im „Programm für die demokratische Erneuerung der DDR“, das von den drei Verfassern gemeinsam entwickelt worden war und sich im selben Werk befand, stellten sie hinsichtlich der Chancen für eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands fest: „Die DDR müßte sich der Nation der Deutschen öffnen, zur Einheit der Nation bekennen und die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands anstreben, wie dies die Verfassung von 1968, die durch Volksentscheid angenommen wurde, vorsah, bevor Honecker die ersatzlose Streichung aller gesamtdeutschen Bezüge staatsstreichartig 1974 durch einfaches Gesetz erzwang. Unter diesen Voraussetzungen wäre es durchaus realistisch, sich auf Formen, Bedingungen und Übergangszeiten der Vereinigung mit der Bundesrepublik zu einigen, die ein bestimmtes Maß an Chancengleichheit für die DDR sichern.“546
Die Verfasser warfen den bundesdeutschen Politikern eine „naive Haltung gegenüber der DDR“ vor. Diese, so wurde argumentiert, müssten „offensiv“ auf den „friedlichen Wandel“ in Richtung Wiedervereinigung hinwirken. Dies könne im Rahmen weiter ausgebauter Wirtschaftsbeziehungen geschehen.547 Für die DDR eröffneten sich demzufolge zwei Optionen. Bei der ersten Option würde in der DDR alles so weitergehen wie bisher, inklusive einer Verschärfung der Repressionen. Bei Wahl der zweiten Option würde es zu einer „Wende nach vorn“ kommen und sich der DDR neue Perspektiven erschließen.548 Welche Möglichkeiten dies dann sein würden, konnte man sich leicht ausmalen: Ein wiedervereinigtes Deutschland. 543 Ebd. 544 Vgl.
ebd., S. 45. ebd., S. 90. 546 Ebd., S. 183–184. 547 Vgl. ebd., S. 187–188. 548 Vgl. ebd., S. 188. 545 Vgl.
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Dass das Werk der drei deutschlandpolitischen Dissidenten in Westdeutschland auf Ablehnung stoßen würde, war zu erwarten gewesen. So verurteilte Manfred Lentz das Buch in seiner Rezension im Berliner „Tagesspiegel“ als verzichtbar für an der DDR interessierte Bundesbürger. So gebe es im Westen in den Bibliotheken eine überbordende Literaturfülle über die DDR, was den drei Verfassern offenbar „verborgen geblieben zu sein“ schien, so die Unterstellung weiter. Von Berg habe in diesem Band nichts als „billige Polemik“ geliefert. Loeser hingegen sei gegenüber vorherigen Publikationen „endlich ein Niveauanstieg“ zu attestieren. Einzig der Beitrag Seifferts über die politische Situation in der DDR fand teilweise Gnade. Die Rezension schloss mit der süffisanten Bemerkung, dass man „sich besser aus anderen Quellen“ über den zweiten deutschen Staat informieren möge.549 Alles in allem also ein weiteres typisches Beispiel für die Ignoranz und Fehleinschätzung des Establishments der westdeutschen Publizistik! d) Der Arbeitskreis und der Honecker-Besuch in der Bundesrepublik Anlässlich des Besuches von DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker in der Bundesrepublik, der im September 1987 anstand, veröffentlichte der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker vorab im August 1987 eine Erklärung. Unter dem Titel „Auch die DDR braucht die Demokratie wie die Luft zum atmen“550 wandte man sich mit einem Zehn-Punkte-Programm, das auf die aktuelle deutsch-deutsche Lage abzielte, an die Öffentlichkeit. „Aggressive Feindseligkeiten“551 gegen den bevorstehenden Besuch Honeckers wurden dabei von der Seiffert-Gruppe abgelehnt. Die „notwendige und unvermeidliche Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur“552 müsse mit demokratischen Mitteln ausgetragen werden. Der 549 Vgl. Manfred Lentz, Kenntnisstand über die DDR unterschätzt, in: Der Tagesspiegel vom 20. September 1987. 550 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Auch die DDR braucht die Demokratie wie die Luft zum Atmen! Erklärung zum bevorstehenden Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik, August 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. Die Erklärung wurde im Wortlaut in der Frankfurter Rundschau vom 5. September 1987 veröffentlicht. Auch hier wurde die provokative, den Status quo störende Forderung für die deutsche Wiedervereinigung öffentlichkeitswirksam verbreitet. Das abgewandelte Zitat stammte übrigens von Michail Gorbatschow. Dieser sagte in einer Rede im Januar 1987: „Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen.“ Zit. nach György Dalos, Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums, Bonn 2011, S. 64. 551 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Auch die DDR braucht die Demokratie wie die Luft zum Atmen! Erklärung zum bevorstehenden Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik, August 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 552 Ebd.
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DDR, die in der Erklärung hellsichtig und für die damalige Zeit glasklar als „SED-Diktatur“553 bezeichnet wurde, wurde attestiert, dass sie trotz Abschaffung der Todesstrafe noch immer kein Rechtsstaat sei und dass diese und andere Maßnahmen (z. B. Amnestien für politische Gefangene) mitnichten als „ ‚DDR-Glasnost und -Perestroika‘ “554 anzusehen seien. Mit dem erwartbaren nahen Ende der Honecker-Ära stehe die DDR nicht nur vor einem Generationswechsel, vielmehr stehe sie vor einem grundsätzlichen politischen Wandel.555 Anlässlich der Erklärung des Arbeitskreises wurde ein Beitrag von Uwe-Eckart Böttger im „Deutschlandfunk“ gesendet. Darin äußerte Böttger: „Die akademische Elite prominenter DDR-Übersiedler lehnt zugleich alle Aktionen des Hasses und der Feindseligkeiten gegen Honecker ab, macht aber auch darauf aufmerksam, daß in der Bundesrepublik Mill[ionen] von Deutschen leben, die das System der DDR auf unterschiedliche Art und Weise am eigene Leib erfahren haben und deren aufgewühlte Gefühle nur zu verständlich sind. […] Sie [die Verfasser der Erklärung; L. H.] wollen im öffentlichen Meinungsstreit das tun, was ihren Kollegen in der DDR verwehrt ist, theoretischen Vorlauf in der Frage nach Inhalten und Realisierungschancen für die Demokratisierung der DDR erarbeiten.“556
Mit seinem Beitrag fasste Böttger die Ziele des Arbeitskreises in wenigen Sätzen zusammen: Aufklärung aus erster Hand über die DDR mit dem Anspruch, unter der Prämisse ihrer Demokratisierung für eine Möglichkeit der Überwindung der deutschen Teilung zu werben. Um die Demokratisierung der DDR zu erreichen, wurden im Programm die „Herstellung von Meinungsfreiheit und innerparteilicher Demokratie in der SED“, die „Chancengleichheit für alle Blockparteien und Einstellung ihrer Bevormundung durch die SED“, eine „demokratisch zu wählende Volkskammer“, die „Unabhängigkeit der Justiz“, die Unabhängigkeit des staatlichen Gewerkschaftsbundes FDGB von der SED, die Freiheit der Medien, die „Freiheit der Andersdenkenden“, das „uneingeschränkte Recht auf Freizügigkeit“, „Versammlungsund Vereinigungsfreiheit für alle Bürger“ sowie ein verbesserter Umweltschutz gefordert.557 Als letzten und deutschlandpolitisch wichtigsten Punkt 553 Ebd. 554 Ebd. 555 Vgl.
ebd.
556 Uwe-Eckart
Böttger, Erklärung ehemaliger DDR-Akademiker zum HoneckerBesuch, gesendet im Deutschlandfunk am 23. August 1987 um 6.00 Uhr, in: BStU, ZA, MfS – HA IX 4051, Bl. 435. Böttger war selbst Mitglied des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker. 557 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Auch die DDR braucht die Demokratie wie die Luft zum Atmen! Erklärung zum bevorstehenden Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik, August 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch.
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wurden die Anerkennung des „Prinzip[s] der Einheit der deutschen Nation“558 und das Anstreben der Wiedervereinigung, wie sie in der DDR-Verfassung von 1968 vorgesehen gewesen sei, gefordert: „Die DDR muß sich zum Prinzip der Einheit der deutschen Nation bekennen und die Wiedervereinigung anstreben, wie dies die Verfassung von 1968 vorsah.“559 Im Laufe des Jahres 1987 beschäftigte den Arbeitskreis zudem die Gründung einer eigenen Zeitschrift, die unter dem Arbeitstitel „Der Insider“ vom Vorstand entwickelt wurde. Im „Insider“ sollten die Mitglieder über ihre „spezifischen Erfahrungen und Kenntnisse“560 aus der DDR berichten können und diese in die „deutschlandpolitische Bildung der Bundesrepublik einbringen“. Angestrebt wurde darüber hinaus ein „Dialog mit unseren Kollegen in der DDR“. Neben ehemaligen DDR-Akademikern sollten auch Dissidenten aus Polen und der Tschechoslowakei im „Insider“ Artikel für die Arbeitskreis-Zielgruppen, d. h. für Studenten und für Beschäftigte in der politischen Bildung, verfassen. Dabei gab es für die Zeitungsmacher einen wichtigen Grundsatz für ihre journalistische Tätigkeit: „[W]ir [orientieren] uns insbesondere am Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen sowie am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes.“561 Um die Zeitschrift wirtschaftlich zu führen, sah man vor, dass das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen pro Ausgabe (bei sechs geplanten Heften jährlich) eine garantierte Abnahme von 15.000 Exemplaren je Ausgabe zu je 4 DM vornehmen sollte.562 Mit dieser Bitte wandte sich das Arbeitskreis-Mitglied Uwe-Eckart Böttger an das innerdeutsche Ministerium.563 Offenbar hatte man mit dem Ansinnen wenig Erfolg und auch der Ersatzantrag für den „Insider“, ein angedachtes „Jahrbuch ’88 des Arbeits558 Ebd.
559 Ebd. In der Frankfurter Rundschau vom 5. September 1987 wurde die Erklärung abgedruckt unter dem Titel „… wie die Luft zum Atmen“. Im Wortlaut: Akademiker aus der DDR. In einem Brief vom 18. September 1987 bedankte sich der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Deutschlandpolitik und Berlinfragen der CDU / CSUBundestagsfraktion, Eduard Lintner, für die Übersendung der Erklärung. Lintner bat um zukünftige Übersendung von Informationen des Arbeitskreises und stellte seine gelegentliche Hilfe in Aussicht; die Ziele des Seiffert-Kreises würden von Fraktion und Bundesregierung geteilt. Vgl. dazu Eduard Lintner, Brief an Wolfgang Seiffert vom 18. September 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 560 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Konzeption für die Zeitschrift des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker, o. D. [etwa November 1987], in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 561 Alle Zitate ebd. 562 Vgl. ebd. 563 Vgl. Uwe-Eckart Böttger, Brief an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vom 16. November 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch.
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kreises ehemaliger DDR-Akademiker“564, fand keinen Anklang bei den Bonner Ministerialen. Im August 1988 erhielt Uwe-Eckart Böttger aus dem innerdeutschen Ministerium die Nachricht, dass man noch über Haushaltsmittel verfüge, die für einen Projektantrag des Arbeitskreises verwendet werden könnten.565 Der Vorstand nahm daraufhin die Arbeiten an einem Antrag für einen „Erweiterten Informationsbrief“566 auf. Auch diese Publikation, ein verschlankter „Insider“, sollte über die Tätigkeit des Arbeitskreises ehemaliger DDRAkademiker berichten.567 Weder der „Insider“ noch ein „Erweiterter Informationsbrief“ erblickten letztlich das Licht der (deutschlandpolitischen) Welt. Eine DDR-kritische Position in der wissenschaftlichen Publizistik – sozusagen „aus erster Hand“ – wäre aber angesichts der Monopolstellung des „Deutschland Archivs“ sicher eine Bereicherung gewesen. e) Wissenschaftliche Tagungen und Resolutionen des Arbeitskreises 1987–1989 Nachdem das Studienwerk in Vlotho als Veranstaltungsort des Arbeitskreises ausgefallen war, wechselte man nach Königswinter bei Bonn, in das von der Jakob-Kaiser-Stiftung getragene Adam-Stegerwald-Haus. Hier fand im Dezember 1987 die erste wissenschaftliche Tagung des Arbeitskreises mit dem Thema „Reformnotwendigkeit und Reformmöglichkeit in der DDR“568 statt. Prominenter Referent war Thomas Meyer, Mitglied der GrundwerteKommission der SPD, der das im August 1987 verabschiedete Grundsatzpapier von SPD und SED mitgeprägt hatte und auf der Tagung einen Vortrag zum Thema „Aktuelle Probleme des Dialogs zwischen SPD und SED“569 564 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Brief an Uwe-Eckart Böttger vom 18. April 1988, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. Auch ein Schreiben Seifferts in Sachen „Jahrbuch ’88“ an die innerdeutsche Ministerin Dorothee Wilms vom 6. April 1988 brachte die Angelegenheit nicht voran. Vgl. dazu Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Brief an Wolfgang Seiffert vom 13. Mai 1988, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 565 Vgl. Edda Hanisch, Brief an Wolfgang Seiffert vom 19. August 1988, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 566 Uwe-Eckart Böttger, Brief an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vom 26. Oktober 1988, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 567 Vgl. ebd. 568 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Tagungsprogramm „Reformnotwendigkeit und Reformmöglichkeit in der DDR“, 5.–6.12.1987, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 569 Ebd. Eine Dokumentation des Tagungsreferates von Thomas Meyer ist nicht überliefert. Offenbar entschied man sich für Königswinter als Tagungsort, da das Mitglied Edda Hanisch als Bildungsreferentin im Stegerwald-Haus arbeitete.
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hielt. Weitere Referate wurden von Wolfgang Seiffert, der sich mit „Menschenrechtsauffassungen in der DDR“570 auseinandersetzte und von Franz Loeser571, der die Möglichkeiten einer sozialistischen Demokratie in der DDR auslotete, gehalten. In seinem Vortrag betonte Seiffert das Fehlen von Menschenrechten in der DDR, die direkter Nachbar der Bundesrepublik Deutschland war: „Man muß nicht bis nach Chile reisen, um ein Land kennenzulernen, in dem die Menschenrechte nicht die Realität der Lebensverhältnisse prägen. Es genügt in die nahe DDR zu reisen, um zu erfahren, daß es sich bei ihr um ein Land handelt, in dem die Menschenrechte nicht gewährleistet sind.“572
Seiffert warnte vor einer Naivität in Westdeutschland mit Blick auf die parteioffiziellen Menschenrechtsauffassungen der SED und deren Wahrnehmung in der Bundesrepublik. So seien die von der SED propagierten Menschenrechte in der DDR nichts weiter als „parteilich-staatliche Leitungsinstrumente […], um die Bevölkerung in das System zu integrieren und zu systemtreuen Aktivitäten anzustiften.“573 Drei Punkte empfahl der Kieler Völkerrechtler für die künftige Auseinandersetzung mit den Menschenrechten in der DDR: Erstens müsse der „Fehlinterpretation der Menschenrechte in der DDR entschieden entgegengetreten“ werden. Zweitens müsse „die DDR immer wieder an die universelle Geltung der Menschenrechte erinnert und zur Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen gedrängt werden.“ Drittens wollte Seiffert auch den „innerstaatlichen Rechtsschutz der Menschenrechte in der DDR“574 verwirklicht sehen, welches sicherlich das anspruchvollste Ziel seines Forderungskataloges darstellte. Der Hauptknackpunkt war für Seiffert, dass die DDR nicht im Zuge der Selbstbestimmung entstanden war, sondern dass den Deutschen in der SBZ das sozialistische System aufgezwungen worden war. Ein „Nachholen“ dieses fehlenden Punktes, dieser fehlenden Legitimation, hielt Seiffert jedoch für „unrealistisch“. Dennoch hielt er „Schritte in dieser Richtung“575 570 Wolfgang Seiffert, Menschenrechtsauffassungen in der DDR. Vortrag in Königswinter am 5. Dezember 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 571 Franz Loeser, Dialog mit der A. d. W. [Akademie der Wissenschaften] der DDR zur sozialistischen Demokratiediskussion, o. D. [Vortrag gehalten am 5. Dezember 1987 auf der ersten Tagung des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker], in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 572 Wolfgang Seiffert, Menschenrechtsauffassungen in der DDR. Vortrag in Königswinter am 5. Dezember 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 573 Ebd. 574 Alle Zitate ebd. 575 Ebd. Seifferts Hoffnungen auf eine Änderung der Menschenrechtsauffassungen in der DDR beruhten auf der Tätigkeit seiner ehemaligen DDR-Rechtswissenschaftlerkollegen Eberhard Poppe und Uwe-Jens Heuer. Vgl. ebd.
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für möglich, wohl wissend, dass bei freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes sich die Deutschen in der DDR für die Wiedervereinigung entscheiden würden. Franz Loeser kennzeichnete in seinem Vortrag als Ziele des Arbeitskreises erstens „die kompromißlose Auseinandersetzung mit der neo-stalinistischen Ideologie der SED-Führung“ und zweitens „de[n] gleichzeitigen Dialog mit unseren Kollegen in der DDR zu Fragen der Demokratisierung“576. In der DDR beobachtete der Philosoph eine zunehmende „Tapetenwechsel-Ideologie“, d. h. das starre Festhalten der SED-Führung an ihrer überholten Linie. Für Loeser bedeutete die Gorbatschowsche Reformpolitik eine Chance, der sich seiner Auffassung zufolge auch die Wissenschaftler in der DDR nicht mehr lange verschließen würden können. Den Grund für die – gemessen an seinen Vorstellungen – nicht vorhandene sozialistische Demokratie verortete Loeser in der „hinter sozialistischen Losungen versteckte[n] Diktatur des SED-Parteiapparates und seines Politbüros“577. Seine Ausführungen stellten eine Diagnose dar, die an den Grundfesten des zweiten deutschen Staates rührte. Am Ende seines Vortrages stellte Loeser „Philosophische Thesen zur sozia listischen Demokratie“ auf. Darin lobte er die Aufstände gegen die kommunistischen Regime in Osteuropa, so in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Zugleich warnte er vor den Modellen Jugoslawiens und Chinas: Deren Wege zum Sozialismus müssten Loeser zufolge scheitern, da eine Liberalisierung (des Wirtschaftssystems) ohne Demokratisierung des politischen Systems misslingen müsse. Mit anderen Worten: Ohne einen Wandel der Kommunistischen Partei(en) hin zu demokratisch-sozialistischen Parteien innerhalb eines pluralistischen Systems könne es keine sozialistische Demokratie nach seinem Vorbild geben. Allerdings, so merkte Loeser an, könne eine sozialistische Demokratie weder von der Parteiführung verordnet noch verhindert werden.578 Die Ereignisse des deutschen und (ost-)europäischen Herbstes 1989 bestätigten die Thesen Loesers nicht: Vor die Wahl gestellt, haben die Menschen nicht eine sozialistische Demokratie im Sinn gehabt, sondern sich für die komplette Befreiung von jeglichem sozialistischen Ideengut entschieden. So scheinen uns aus heutiger Perspektive insbesondere die Gedanken Loesers zu einer von ihm vertretenen Reformfähigkeit der DDR naiv, wenn er mit seinen Thesen implizit annahm, dass eine DDR ohne das Machtmonopol der SED existieren könne. 576 Franz Loeser, Dialog mit der A. d. W. [Akademie der Wissenschaften] der DDR zur sozialistischen Demokratiediskussion, o. D. [Vortrag gehalten am 5. Dezember 1987 auf der ersten Tagung des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker], in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 577 Ebd. 578 Vgl. ebd.
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Der Arbeitskreis konnte auf seiner ersten Tagung als prominentes neues Mitglied den Kommunismusexperten Wolfgang Leonhard begrüßen, der zur aktuellen sowjetischen Reformpolitik unter Gorbatschow sprach.579 Auf dem Treffen des Arbeitskreises im Jahre 1987 wurde zudem eine „Erklärung des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker“580 verabschiedet, welche die Erstürmung der Umwelt-Bibliothek in der Zionskirche durch die Staatssicherheit in Ost-Berlin im November 1987 verurteilte.581 Besorgnis wurde darin aufgrund des arroganten Verhaltens der SED-Führung in der Hinsicht geäußert, dass diese nach dem SPD-SED-Dialogpapier und dem HoneckerBesuch in der Bundesrepublik, die ja erst wenige Monate zurücklagen, „immer wieder ihr Machtmonopol“582 hervorhebe. Mit der Friedens- und Umweltbewegung sowie allen „Verfolgten und Bedrängten“583 in der DDR erklärte sich der Arbeitskreis solidarisch. Im Frühjahr 1988 arbeitete Wolfgang Seiffert für den Arbeitskreis eine weitere „Erklärung des Arbeitskreises ehem. DDR-Akademiker zu den Vorgängen in Ostberlin und der DDR“584 aus. In diesem Memorandum wurden die „verkrusteten bürokratischen und totalitären Formen ihres Systems“ kritisiert. Ebenso wurde die fehlende Distanzierung der SED-Führung vom Stalinismus bemängelt. Diese sei, so Seiffert, noch einmal deutlich geworden bei dem gewaltsamen Vorgehen der Staatspartei gegen Teilnehmer der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 18. Januar 1988 in Ost-Berlin. Die Reaktion der SED sei demzufolge auch kein „Rückfall“ in alte Zeiten gewesen, vielmehr habe sich die Parteiführung nur aus taktischen Gründen – wegen des Honecker-Besuchs in der Bundesrepublik im September 579 Vgl. Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Pressemitteilung vom 6. Dezember 1987, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. Aufgenommen als ordentliches Mitglied des Arbeitskreises wurde Wolfgang Leonhard am 18. März 1988. Vgl. Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Mitgliederliste, o. D. [März 1988], in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. Das Manuskript von Leonhard ist nicht überliefert. 580 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Erklärung [zur Erstürmung der Berliner Umweltbibliothek durch das MfS am 24. / 25. November 1987], o. D. [Dezember 1987], in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 581 Zum Ablauf der Erstürmung der Bibliothek in Ost-Berlin vgl. auch Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR. 2., durchges. Aufl., Bonn 1999, S. 297. 582 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Erklärung [zur Erstürmung der Berliner Umweltbibliothek durch das MfS am 24. / 25. November 1987], in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 583 Ebd. 584 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Erklärung zu den Vorgängen in Ostberlin und der DDR vom 1. Februar 1988, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Wolfgang Seiffert auch Franz Loeser, Edda Hanisch und Reinhold Lofy.
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1987 – eine zeitlang mit offenkundig repressiven Maßnahmen gegen die Bürgerrechtsbewegung zurückgehalten. Verlautbarungen aus Westdeutschland, die zur Mäßigung der bundesdeutschen Reaktionen gegenüber der SED-Führung aufgerufen hatten, erteilte Seiffert eine klare Absage. Diese Stimmen ließen die Deutschen in der DDR „im Stich“. Zudem fragte er: „Wo ist da die Glaubwürdigkeit solcher Losungen wie ‚Freiheit geht vor Einheit‘?“. An die Bundesregierung gerichtet, wurde vom Arbeitskreis erneut das konsequente Eintreten für Menschenrechte gegenüber der DDRFührung gefordert. Zudem sprach sich der Kreis für eine Reform der DDR „an Haupt und Gliedern“585 aus. Im März 1988 fand die zweite wissenschaftliche Tagung des Arbeitskreises mit dem Thema „Vergangenheitsbewältigung in der DDR“586 ebenfalls wieder im Stegerwald-Haus in Königswinter statt. Als wichtigste Referenten konnten der Mannheimer DDR-Forscher Hermann Weber, der über „Stalinismus und [die] SED“587 vortrug, sowie erneut Wolfgang Leonhard gewonnen werden, der ein Referat zum Thema „Aktuelle Diskussionen über den Stalinismus in der UdSSR“588 hielt. Im Zusammenhang mit dem Tagungsthema wurde von den Mitgliedern des Arbeitskreises das Papier „Politisch Andersdenkende jetzt rehabilitieren – Die Chance zum Dialog nutzen“589 verabschiedet. Darin wurde von der SED eine Auseinandersetzung – analog zu den Diskussionen der KPdSU über die Verbrechen des Stalinismus – mit ihrer eigenen Geschichte, die noch viele unaufgearbeitete Kapitel beinhalte, gefordert. Hierbei wurden die Ausschaltung von Sozialdemokraten und die Kriminalisierung ihrer politischen Ideen nach dem Zwangszusammenschluss von KPD und SPD zur Einheitspartei SED, ein „latent vorhandene[r] Antisemitismus“ in der DDR und die nicht erfolgte Aufarbeitung des Stalinismus auf deutschem Boden, namentlich der DDR, als zu bearbeitende Problemfelder angesprochen. „Die sich ständig vertiefende innenpolitische Krise des Systems“ ließe sich demzufolge auch nicht durch Abschiebungen und Inhaf585 Alle
Zitate ebd. ehemaliger DDR-Akademiker, Tagungsprogramm des 2. Wissenschaftlichen Symposiums „Vergangenheitsbewältigung in der DDR“, 19.–20.3.1988, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. Zum Zeitpunkt der Tagung im März 1988 zählte der Kreis 25 Mitglieder. Vgl. Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Mitgliederverzeichnis, o. D. [März 1988], in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 587 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Tagungsprogramm des 2. Wissenschaftlichen Symposiums „Vergangenheitsbewältigung in der DDR“, 19.–20.3.1988, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 588 Ebd. 589 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Politisch Andersdenkende jetzt rehabilitieren – Die Chance zum Dialog nutzen, Appell des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker, o. D. [März 1988], in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 586 Arbeitskreis
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tierungen überwinden. Das Memorandum schloss mit dem Appell: „Jetzt kommt es auch in der DDR darauf an, Lehren aus der eigenen Geschichte zu ziehen und endlich Schritte in Richtung auf eine umfassende Demokratisierung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten.“590 Neben deutsch-deutschen Angelegenheiten befasste man sich im Arbeitskreis auch mit der antikommunistischen Opposition in Osteuropa, der sich die Seiffert-Gruppe ebenfalls sehr verbunden fühlte. Im August 1988 wurde eine „Gemeinsame Erklärung zum 20. Jahrestag des Prager Frühlings“591 veröffentlicht. Zusammen mit der exil-tschechoslowakischen Dissidentengruppe „Gruppe Listy“ um den ehemaligen Direktor des tschechoslowakischen Fernsehens, Jiri Pelikan, wurde vom Arbeitskreis in dieser Erklärung die sowjetische Intervention von 1968, die die reformsozialistischen Ansätze unter dem tschechoslowakischen KP-Chef Alexander Dubcek brutal beendete, als „verbrecherisch“ kritisiert. Die Unterzeichner der „Gemeinsamen Erklärung“ forderten als Grundlage der künftigen Beziehungen der Warschauer-Pakt-Staaten untereinander „Eigenständigkeit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit“. Darüber hinaus wurden – „der unverzügliche Rückzug der sowjetischen Truppen aus der CSSR; – das Bekenntnis der UdSSR und der anderen Teilnehmer an der Intervention von 1968, daß dies ein politisch und rechtlich verwerflicher Akt war, der sich nirgendwo und nirgendwann wiederholen wird; – die politische und juristische Rehabilitierung aller Personen, die für die Reformpolitik in der CSSR eintraten und sich gegen die Intervention wandten“592
gefordert. Zu den weiteren (prominenten) Unterzeichnern des Appells gehörten Wolfgang Seiffert, Franz Loeser, der Ökonom und ehemalige tschechoslowakische Wirtschaftsminister Ota Šik, der Grünen-Politiker Milan Horacek, der ehemalige Tito-Vertraute Milovan Djilas, Wolfgang Leonhard und die aus der DDR vertriebenen Schriftsteller Erich Loest, Reiner Kunze, Ulrich Schacht und Hans Noll.593 590 Ebd.
591 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker / Gruppe Listy, Gemeinsame Erklärung zum 20. Jahrestag des Prager Frühlings, [August 1988], in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 592 Ebd. 593 Vgl. ebd. In der westdeutschen Publizistik wurde aus der „Gemeinsamen Erklärung“ des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker und der „Gruppe Listy“ ebenfalls zitiert. Vgl. dazu „Bürgerrechtler erinnern an ‚Prager Frühling‘ und 1968er Verbrechen“, in: Trierischer Volksfreund vom 11. August 1988; „Prager KP-Führung greift früheren Parteichef Dubcek scharf an“, in: Der Tagesspiegel vom 11. August 1988; „Bürgerrechtler: Moskau soll aus CSSR abziehen. Bruch mit der Vergangenheit gefordert“, in: Berliner Morgenpost vom 11. August 1988; „ ‚Charta 77‘ fragt nach der Wahrheit von 1968“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. August
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Ein drittes „Wissenschaftliches Symposium“ des Arbeitskreises im November 1988 hatte die „Innerdeutsche[n] Beziehungen und [das] Selbstbe stimmungsrecht“594 zum Thema. Prominentester Redner war Gottfried Zieger, Jurist an der Universität Göttingen, Vorsitzender des Königsteiner Kreises und GfD-Vorstandsmitglied, der über den „Rechtscharakter der innerdeutschen Beziehungen“595 sprach. f) Der Arbeitskreis und die Friedliche Revolution 1989 Das „4. Wissenschaftliche Symposium“ des Arbeitskreises im März 1989 thematisierte die „Möglichkeiten der Demokratisierung der DDR – internationaler Erfahrungsaustausch“596. Das Symposium wurde mit einem Vortrag von Franz Loeser, der „Philosophische Überlegungen zur Demokratisierung der DDR“597 anstellte, eröffnet. In seinem Referat betonte Loeser den Zusammenhang von Sozialismus und Demokratie. Für ihn war die Überwindung des von ihm als stalinistisch empfundenen Systems in der DDR nicht gleichbedeutend mit der Überwindung des Sozialismus im Allgemeinen. Loeser hielt an seiner Position einer prinzipiellen Reformfähigkeit des Sozialismus (in der DDR) fest.598 Das zweite Hauptreferat über „Praktische Erfahrungen in der CSSR“599 hielt der tschechoslowakische Dissident Zdenek Mlynar, der unter Dubcek 1988; „ ‚Charta 77‘ fordert von UdSSR und CSSR: Sagt die Wahrheit über den ‚Prager Frühling‘!“, in: Berliner Morgenpost vom 18. August 1988. 594 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Programm des 3. Wissenschaft lichen Symposiums „Innerdeutsche Beziehungen und Selbstbestimmungsrecht“, 12.–13. November 1988, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. Die Vortragsmanuskripte der Referenten sind nicht überliefert. 595 Ebd. Auf der Mitgliederversammlung wurden die Zwecke des Vereins in der Satzung um zwei Punkte ergänzt. So sollten nun auch „regelmäßige wissenschaftliche Tagungen“ durchgeführt und die Ergebnisse der Tagungen veröffentlicht werden, „zur Bereicherung der Wissenschaft“. Siehe dazu Arbeitskreis ehemaliger DDRAkademiker, Satzung in der Fassung vom 11. November 1988, in: Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Informationsbrief I / 1990, März 1990, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. Zum Königsteiner Kreis siehe Haarmann, Die Gesamtdeutschen, S. 46–48; Friedrich-Christian Schroeder, Fünfzig Jahre Königsteiner Kreis, in: Deutschland Archiv, 5 / 1998, S. 709–711. 596 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Programm des 4. Wissenschaftlichen Symposiums „Möglichkeiten der Demokratisierung der DDR – internationaler Erfahrungsaustausch“, 17.–19. März 1989, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 597 Ebd. 598 Vgl. Edda Hanisch, Kurzinformation: „Möglichkeiten der Demokratisierung der DDR – internationaler Erfahrungsaustausch“, 18. / 19. März 1989 vom 15. April 1989, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 599 Ebd.
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Sekretär der Tschechoslowakischen KP gewesen war.600 Mlynar wiederum betonte in seinem Vortrag, dass der Prager Frühling 1968 scheitern musste, weil sich in Moskau zu diesem Zeitpunkt nichts bewegt habe, ganz im Gegensatz zur Situation im Frühjahr 1989. Hellsichtig prophezeite er das Scheitern der politischen Führungen des Ostblocks, wenn sie sich im Zuge der sowjetischen Reformpolitik nicht öffnen würden.601 Ein weiteres Referat hielt der ehemalige ungarische Ministerpräsident András Hegedüs, der das Land zwischen 1955 und 1956 führte. Er betonte in seinen Ausführungen die Wichtigkeit eines Mehrparteiensystems und die geplante Aufgabe des Führungsanspruchs der ungarischen KP für das Gelingen des Reformprozesses in seinem Land. Für einen Eklat auf der Tagung sorgte der aus der Sowjetunion eingeladene Redakteur der Zeitung „Moskowskije Nowosti“, Wladimir Krasnokutsky. Dieser behauptete, dass die Deutschen Marx und Engels hervorgebracht hätten und somit die sowjetische Entwicklung erst ermöglicht hätten.602 Auf einmütige Ablehnung der Teilnehmer stieß der Vorschlag von Seiffert und Loeser, für den anstehenden SED-Parteitag, der für 1990 geplant war, einen Reformvorschlag auszuarbeiten und diesen dem Politbüro zu unterbreiten. Zustimmung hingegen fand ihr zweiter Vorschlag, für die BundesCDU eine Ausarbeitung „deutschlandpolitischer Rahmenbedingungen aus der Sicht ehemaliger DDR-Akademiker“603 in Form eines Arbeitspapiers zu erstellen. Von der neuen Geschäftsführerin des Arbeitskreises, Edda Hanisch, wurde zudem auf die Gefahr einer Spaltung der Gruppe hingewiesen. So sei ein „redegewaltiger kleinerer Teil“604 von der sowjetischen Reformpolitik begeistert, während der größere Teil skeptisch hinsichtlich der Reformmöglichkeiten des sozialistischen Systems – nicht jedoch hinsichtlich seiner Notwendigkeit – bleibe.605 Im April 1989 erschien in der „Zeit“ unter dem Titel „Im Schatten des großen Irrtums. Wie DDR-Ideologen sich ändern“606 ein negativ gefärbter 600 Am Symposium nahmen etwa 100 Personen teil. Vgl. Wolfgang Seiffert, Presse-Mitteilung [des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker] vom 19. März 1989, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 601 Vgl. Edda Hanisch, Kurzinformation: „Möglichkeiten der Demokratisierung der DDR – internationaler Erfahrungsaustausch“, 18. / 19. März 1989 vom 15. April 1989, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 602 Vgl. ebd. 603 Ebd. In den vorliegenden Archivalien finden sich hierzu allerdings keine weiteren Unterlagen. 604 Ebd. 605 Vgl. ebd. 606 Conrad Lay, Im Schatten des großen Irrtums. Wie DDR-Ideologen sich ändern, in: Die Zeit vom 21. April 1989.
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Bericht von Conrad Lay über den Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker. In diesem Artikel wurde zunächst auf das „vage Mißtrauen“607 verwiesen, das den aus der DDR übergesiedelten Wissenschaftlern in der Bundesrepublik von Links bis Rechts entgegengebracht werde. Hierzu wurde insbesondere auf die Disziplinen verwiesen, aus denen sich die Mitglieder des Arbeitskreises mehrheitlich rekrutierten. Da die sich im Arbeitskreis organisierenden Ökonomen und Soziologen eben keine „Eiskunstläufer“ oder „Dirigenten“ in der DDR gewesen seien, müsse von ihnen die ideologische Abkehr besonders glaubhaft vollzogen werden.608 Dass es Lay in der Hauptsache nicht um die Überprüfung bzw. den Nachweis der ideologischen Brüche der ehemaligen DDR-Akademiker ging, sondern eigentlich um ihre Orientierung an der nationalen Frage, dem „kleinste[n] gemeinsame[n] Nenner“609 des Kreises, wie Loeser von Lay zitiert wurde, legt der folgende Absatz des Artikels nahe: „Wie kommt nur eine Generation, die in den vergangenen fünfzig Jahren, also in dem, was ihr Leben prägte, zuerst die Hitler-Diktatur, dann den Stalinismus in der DDR erlebt hat, wie kommt diese Generation ausgerechnet darauf, den Stolz der Nation wiederzuentdecken? Manchmal scheint es so, als habe sich die staatlich verordnete Arbeiter- und Bauernstaat-Identität der DDR wie ein Tarnmantel über das Land gelegt, unter dem das alte preußisch-deutsche Nationalbewußtsein weiterschlummert.“610
Weiter wurde von Lay über die Motive der Seiffert-Gruppe gemutmaßt: „Statt dessen entdecken sie die nationale Selbstbestimmung wieder, kehren vom 20. Jahrhundert ins 19. zurück, ohne sich auszumalen, was eine vereinigte deutsche Zentralmacht in der Mitte Europas wohl ausrichten würde. […] Merkwürdig altmodisch muten sie uns an, diese ehemaligen Ideologen der anderen Seite. Während ringsherum die Postmoderne gefeiert wird und ein neuer Europa-Taumel sich ankündigt, ziehen sie sich auf alte Gewißheiten zurück: auf einen messianischen Glauben wie Franz Loeser […] oder auf nationale Visionen wie Wolfgang Seiffert.“611
Mit dieser Argumentation wurden von Lay drei typische Abwehrmuster der bundesdeutschen, von der Zweistaatlichkeit geprägten Identität, jedenfalls der linksliberalen Meinungsmacher, gleichsam im Brennglas gebündelt. Zum ersten wird auf den verlorenen Zweiten Weltkrieg rekurriert, verbunden mit dem impliziten Vorwurf an die aus der DDR stammenden Wiedervereinigungsfreunde, aus der (eigenen) Geschichte nichts gelernt zu haben. 607 Ebd. 608 Vgl.
ebd.
610 Ebd.
Hervorhebung im Original.
609 Ebd. 611 Ebd.
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Das zweite Abwehrargument, das sich direkt aus dem ersten ableitet, ist der Hinweis auf eine möglicherweise den Status quo und somit den Frieden gefährdende Zentralmacht in Europa, die ein wiedervereinigtes Deutschland darstellen könnte. Zum dritten wird das Europa-Argument ins Feld geführt: Der Gedanke an alles Nationale sei in Zeiten eines (kommenden neuen) postmodernen „Europa-Taumels“ gleichsam ein alter Hut, der nicht mehr in den Zeitgeist passe.612 Im November 1989, während der Friedlichen Revolution in der DDR, fand das „5. Wissenschaftliche Symposium“ des Arbeitskreises statt. Als Thema wurde „Der KSZE-Prozeß und die DDR“613 gewählt. Als Referenten betätigten sich Georg Brunner vom Institut für Ostrecht der Universität Köln, der das Hauptreferat „Der KSZE-Prozeß und die DDR“ hielt, sowie der DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin, der, 1988 aus der DDR ausgewiesen, über „Chancen und Vorstellungen der oppositionellen Kräfte in der DDR“614 sprach. Über die revolutionären Vorgänge in der DDR wurde auf der Tagung heftig diskutiert: In seinem Statement versuchte Wolfgang Leonhard der Frage nachzugehen, inwieweit die westdeutsche Öffentlichkeit auf die revolutionären Vorgänge im Osten Europas und der DDR vorbereitet gewesen sei. Er verwies dabei auf westliche Politiker und Journalisten, die oppositionelle Gruppierungen nicht beachtet und Menschenrechtsverletzungen in der DDR ignoriert hätten. Ebenso sprach er über eigene Erfahrungen aus seinen Gesprächen mit westlichen Politikern, die seinen schon vor Jahren vorgenommenen Einschätzungen eines bevor stehenden politischen Wandels in Osteuropa keinen Glauben schenken wollten.615 In einer Erklärung des Arbeitskreises vom 19. November 1989 wurde als Voraussetzung für eine neue Qualität der deutsch-deutschen Zusammenarbeit u. a. die „Brechung des Machtmonopols der SED und [die] Zerschlagung ihres Zwangsapparates“ gefordert. Weiterhin sollte es rasch zu einer „Trennung von Partei und Staat – Gewaltenteilung (Exekutive, Legislative, Justiz)“ kommen. Neben einer „konsequente[n] Selbstreinigung der Blockparteien und der anderen gesellschaftlichen Organisationen“ gehörten „In612 Vgl. auch Mayer, Kontroversen zur deutschen Frage, S. 504–505 sowie Roos, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in der deutschen Kritik, S. 354– 356. 613 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Programm des 5. Wissenschaft lichen Symposiums „Der KSZE-Prozeß und die DDR“, 18.–19. November 1989, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 614 Ebd. 615 Michael Richter, Der KSZE-Prozeß und die DDR, Manuskript für das Deutschland Archiv, o. D. [November 1989], in: Privatarchiv Dr. Michael Richter.
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formations- und Pressefreiheit“, „freie und geheime Wahlen auf allen Ebenen“ sowie „freie, unbehinderte (kein Zwangsumtausch) Reisemöglichkeit[en] von Ost nach West und West nach Ost (gesetzlich garantiert)“616 zur deutschlandpolitischen Reformagenda des Arbeitskreises. Den politischen Parteien der Bundesrepublik und den Oppositionskräften in der DDR bot man die Expertise des Arbeitskreises in den neu zu gestaltenden deutsch-deutschen Beziehungen an.617 Noch vor Helmut Kohls „Zehn-Punkte-Programm“ vom 28. November 1989 forderte demnach der Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker eine qualitative Veränderung in den deutsch-deutschen Beziehungen, die – bei konsequenter Beachtung aller Punkte – in ihrer Finalität nichts weniger als die Wiedervereinigung Deutschlands bedeuten würde. g) Die deutschlandpolitische Bilanz des Arbeitskreises 1989 / 90 und seine Auflösung 1995 Im Zuge der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 begannen Diskussionen in der Mitgliedschaft über die Bilanz des deutschlandpolitischen Wirkens des Arbeitskreises und seine zukünftige Rolle im möglicherweise bald vereinten Deutschland. Im November 1989 wurde dem Vorstand von der Mitgliedschaft ein gemischtes Zeugnis ausgestellt. So sei die Forderung des Arbeitskreises nach demokratischer Erneuerung der DDR nicht wirksam genug artikuliert worden. Ebenso sei das Presseecho auf die Arbeit eher dürftig gewesen. Gelobt hingegen wurden die durch das innerdeutsche Ministerium geförderten Tagungen. Jedoch hätten auch diese nicht die notwendige Breitenwirkung erzielt.618 Alle diese vorgebrachten Punkte würden die „Frage nach der Existenzberechtigung des Arbeitskreises auf[zu]werfen“619. Folgerichtig wurde dann für die nächste Mitgliederversammlung im März 1990 ein Auflösungsantrag gestellt. Begründet wurde dieser Antrag mit der 616 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Erklärung vom 19. November 1989, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 617 Vgl. ebd. Der Arbeitskreis bot den bundesdeutschen Parteien seine Unterstützung an, die jedoch nicht nachgefragt wurde. Nach einer Auskunft der ehemaligen Geschäftsführerin des Arbeitskreises, Edda Hanisch, wurden vom damaligen CDUGeneralsekretär Volker Rühe bevorzugt junge und in deutsch-deutschen Fragen unerfahrene CDU-Mitglieder zur Beratungszwecken in die DDR geschickt. Vgl. dazu das Interview des Verfassers mit Dr. Edda Hanisch vom 18. Oktober 2006. 618 Vgl. Paul Frenzel, Einschätzung der bisherigen Ergebnisse des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker e. V., November 1989, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 619 Ebd.
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schon im November 1989 monierten insgesamt fehlenden Wirksamkeit des Arbeitskreises.620 Eine andere Richtung schlugen die Gegner einer Auflösung ein, die dem Seiffert-Kreis ein besseres Zeugnis ausstellten. Erst durch die Revolution in der DDR sei eine aktive Förderung einer Demokratisierung der DDR möglich geworden. Man gab zu bedenken, dass es nach dem Sturz des SEDRegimes Aufgabe des Arbeitskreises sein könnte, an der Beseitigung der alten Strukturen mitzuwirken. So könne die Erfahrung der Mitglieder mit den Verhältnissen in der DDR zu einer Art Mittlerfunktion zwischen den Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik führen. Der Bundesregierung und dem Ministerrat der DDR (unter dem frei gewählten Ministerpräsidenten Lothar de Maizière) sollte jedenfalls die Expertise des Arbeitskreises angeboten werden.621 Nach den Diskussionen um die Versäumnisse und die Zukunft des Arbeitskreises erschien im März 1990 ein neuer Mitgliederrundbrief, der dritte insgesamt. Dieser enthielt neben einer großformatigen Todesanzeige für den im Januar 1990 verstorbenen Mitbegründer des Kreises, Franz Loeser, lediglich einen aktuellen Beitrag von Michael Richter über das vergangene wissenschaftliche Symposium des Arbeitskreises. Zudem enthielt das Heft eine Satzung sowie einen Hinweis, dass die nächste Tagung wegen „der Entwicklungen in der DDR“622 vom März in den Mai 1990 verschoben worden sei. Von den im Herbst 1989 geführten Diskussionen über die Zukunft des Arbeitskreises fand sich hingegen in diesem Heft nichts wieder.623 Trotz der Diskussionen um den Fortbestand des Arbeitskreises fand wie geplant in Königswinter im Mai 1990 das „6. Wissenschaftliche Symposium“ unter dem Titel „Auf dem Weg zur Einheit – Wirtschafts-, Rechts- und Hochschulsystem der DDR“624 statt. Über die Veränderungen im Wirtschaftssystem der DDR sprach Rolf Merkel von der Universität Lüneburg. Wolfgang Seiffert hielt das Referat zum Thema „Das Rechtssystem im 620 Vgl. Paul Frenzel, Antrag zur Auflösung des „Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker e. V.“ gemäß § 3 der Satzung wegen Wegfall seines Zweckes, 19. März 1990, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 621 Vgl. Horst Laatz, Bemerkungen zur Debatte um den Arbeitskreis [e]hemaliger DDR-Akademiker, 19. April 1990, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 622 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Informationsbrief I / 1990, S. 2, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 623 Vgl. ebd. 624 Vgl. Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Programm des 6. Wissenschaftlichen Symposiums „Auf dem Weg zur Einheit – Wirtschafts-, Rechts-, und Hochschulsystem der DDR“, 25.–26. Mai 1990, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter.
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Umbruch“625. Edda Hanisch beschäftigte sich mit dem Umbruch des Hochschulwesens. Wolfgang Leonhard hielt einen Vortrag zum Thema „Wie geht es weiter in Osteuropa?“626 Das siebte (und vorletzte) „Wissenschaftliche Symposium“ fand kurz nach der staatlichen Wiedervereinigung im November 1990 erneut in Königswinter statt. Dieses Kolloquium hatte als Arbeitsthema „DDR-Forschung und DDR-Akademiker im vereinten Deutschland“627. Die Referate der Tagung erstreckten sich dabei auf die Situation der ostdeutschen Geschichtswissenschaft (Alexander Fischer, Universität Bonn), die Lage der nun gesamtdeutschen DDR-Forschung (Werner Müller, Universität Mannheim) bis hin zur Umgestaltung des ostdeutschen Hochschulwesens insgesamt (Michael Hartmer, Deutscher Hochschulverband).628 Erneut wurde kontrovers über die Zukunft des Arbeitskreises debattiert. Dabei wurden insbesondere die weitsichtigen deutschlandpolitischen Analysen Wolfgang Seifferts und die ebenso wichtigen Beiträge Wolfgang Leonhards gewürdigt. Der Arbeitskreis beschloss, über das bisherige Potential an ehemaligern DDR-Akademikern hinaus Mitglieder gewinnen zu wollen.629 In einer Erklärung vom 27. November 1990 wurde noch einmal Bilanz gezogen und die Richtung für den Neuanfang des Arbeitskreises im vereinten Deutschland skizziert: So habe man entgegen „der weitverbreiteten Auffassung“ einer unabänderlichen Zweistaatlichkeit immer auch die Perspektive einer Wiedervereinigung Deutschlands „prognostiziert“. Gewarnt wurde vor den immer noch im Hochschulwesen tätigen ehemaligen SEDFunktionären. Das Hauptgebiet der zukünftigen Tätigkeit des Arbeitskreises sah man fortan in den neuen Bundesländern. Dort wollte man den Hochschulen bei ihrer Neustrukturierung zur Seite stehen.630 Ein „8. Wissenschaftliches Symposium“ des Arbeitskreises war für Mai 1991 zum Thema „Wissenschaft im Umbruch – Zur Situation der Universitäten und Hochschulen in den neuen Bundesländern“631 vorgesehen. Als 625 Ebd. 626 Ebd.
627 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Programm des 7. Wissenschaft lichen Symposiums „DDR-Forschung und DDR-Akademiker im vereinten Deutschland“, 17.–18. November 1990, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 628 Vgl. ebd. 629 Vgl. Tilman Mayer, DDR-Forschung und DDR-Akademiker im vereinten Deutschland. 7. Wissenschaftliches Symposium des „Arbeitskreises ehemaliger DDR Akademiker“, in: Deutschland Archiv, 1 / 1991, S. 89–90, hier S. 89. 630 Vgl. Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Erklärung vom 27. November 1990, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 631 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Programm des 8. Wissenschaft lichen Symposiums „Wissenschaft im Umbruch. Zur Situation der Universitäten und
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Tagungsort wählte man Leipzig, als ein Zeichen für die Expansion des Kreises in die neuen Bundesländer. Geplant war hier die Verabschiedung einer „Erklärung zur geistigen Situation an den Hochschulen und Universitäten der neuen Bundesländer“632. Im Entwurf der Erklärung wurde die „Idee eines ‚Dritten Weges‘, jenseits von stalinistischer Diktatur und den Prinzipien des Grundgesetzes“633, die immer noch in den Hochschulen der neuen Bundesländer vorherrschend sei, kritisiert. Zudem sei die Rehabilitierung von Opfern der SED-Diktatur im ostdeutschen Hochschulwesen bislang nur ungenügend vorangekommen.634 Das erste Treffen auf dem Boden der neuen Länder musste jedoch aufgrund mangelnden Interesses der Mitglieder abgesagt werden. Von insgesamt 32 Mitgliedern hatten nur neun Personen zugesagt. Auch war es dem Arbeitskreis offensichtlich nicht mehr möglich, über die bisherige Mitgliederzahl hinaus Teilnehmer für die Tagung zu gewinnen, so wie dies zu Teilungszeiten möglich war. Als Ursache für die eigene negative Entwicklung sah man die staatliche Vereinigung an; eine Mitgliederversammlung mit der endgültigen Klärung der Zukunft des Arbeitskreises wurde als erforderlich angesehen.635 Trotz der Turbulenzen um das gescheiterte Symposium in Leipzig wurde im November 1991 an gewohntem Ort in Königswinter das achte (und tatsächlich letzte) „Wissenschaftliche Symposium“ des Arbeitskreises mit dem Thema „Die nachgeholte oder noch offene Revolution – von der politisch-staatlichen zur sozial-geistigen Vereinigung“636 durchgeführt. Das Hauptreferat hielt dabei Fred S. Oldenburg vom Bundesinstitut für ostwisHochschulen in den neuen Bundesländern“, 25.–26. Mai 1991, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 632 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Entwurf der Erklärung zur geistigen Situation an den Hochschulen und Universitäten der neuen Bundesländer, [Mai 1991], in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 633 Ebd. 634 Vgl. ebd. 635 Vgl. Vorstand des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker, Brief „An alle Mitglieder“ vom 24. Juni 1991, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. Vorstandsintern wurden als „Gründe für [die] Absage benannt: „Termin ungewohnt, ungünstig“; „Ort Leipzig eher abschreckend“; „Kostenübernahme möglichst Privatquartier“; „keine Organisatoren vor Ort“, „in den neuen Bundesländern keine Mitglieder“; „manche haben sich Unterstützung und Vorteile versprochen, die jetzt wegfallen“, vgl. dazu die handschriftlichen Notizen des Vorstandsmitglieds Dr. Michael Richter von der Vorstandssitzung am 19. Juni 1991, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 636 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Programm des 8. Wissenschaft lichen Symposiums „Die nachgeholte oder noch offene Revolution – von der politisch-staatlichen zur geistig-sozialen Vereinigung“, 16.–17. November 1991, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch.
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senschaftliche Studien in Köln mit dem Titel „Implosion oder Revolution?“.637 Die Mitgliederversammlung beschloss am 15. November 1991 die Fortsetzung der Tätigkeit des Arbeitskreises und formulierte eine neue gesamtdeutsche Satzung.638 Als Vereinszwecke wurden nun u. a. die Herstellung von Kontakten zwischen Wissenschaftlern aus den alten und neuen Bundesländern, das Zurückdrängen „stalinistischer Elemente“ in den Wissenschaftseinrichtungen der neuen Länder und die Aufarbeitung des Unrechts in der DDR angegeben.639 Dennoch stand das Ende des Arbeitskreises bevor, wie die Entwicklung seit 1990 zeigte. Die Mitgliederzahl, die in den 1980er Jahren in der Spitze bis zu 34 Personen (so im Jahre 1989) betragen hatte, sank bis 1991 auf 24 Personen.640 In den Austrittserklärungen wurde als Hauptgrund für die Beendigung der Mitgliedschaft größtenteils die Erfüllung des Vereinsziels der deutschen Einheit angegeben.641 In den Jahren 1992 und 1993 versuchte der Vorstand des Arbeitskreises mit Symposien zu den Themen „Verantwortung der Herrschenden des SED-Regimes“642 und „Warum machen wir uns die innere Einheit so schwer?“643 neuen Schwung zu gewinnen. Beide Symposien konnten aber mangels Interesse und fehlender Finanzierung nicht mehr stattfinden. Stattdessen bewahrheitete sich die Befürchtung des Mitglieds Horst Laatz, der sich im Juli 1991 zur Zukunft des Arbeitskreises äußerte: „Aber was kann der Arbeitskreis […] denn machen? Es drängen doch zahlreiche Einrichtungen unserer Art (KUD, DDR-Forschertagung, Gesamtdeutsches Institut usw.) an die nun bei weitem nicht mehr so reichlich gefüllte Krippe. Aber, sich 637 Vgl.
ebd. Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Protokoll der Mitgliederversammlung vom 15. November 1991, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 639 Vgl. Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Satzung vom 15. November 1991, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 640 Vgl. Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Mitgliederliste, Stand Oktober 1991, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. Vgl. zur Mitgliederzahl 1989 die Personallisten des Arbeitskreises, Stand 21.8.1989, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 641 Vgl. z. B. die Austrittserklärungen von Horst Laatz (15. Juli 1991), Gernot Schneider (31. Juli 1991) und von Friedrich Hoffmann (25. September 1991), in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 642 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker, Programmentwurf des 9. Wissenschaftlichen Symposiums „Die Verantwortung der Herrschenden des SED-Regimes, das Schicksal ihrer Opfer und Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsstaat[s]“, 21.–22. März 1992, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 643 Vgl. Edda Hanisch, Brief an die Mitglieder vom Juli 1993, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. Auch dieser letzte Versuch ein Symposium durchzuführen scheiterte am Interesse der Mitglieder und an der Finanzierungsabsage der JakobKaiser-Stiftung. Vgl. dazu Edda Hanisch, Brief an die Vorstandsmitglieder vom 8. November 1993, in: Privatarchiv Dr. Michael Richter. 638 Vgl.
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dort zu rangeln, ist nicht das Problem. Das besteht in einer sinnvollen Aufgabe. Und die sehe ich nicht mehr.“644
Das stille Ende des Arbeitskreises stand im völligen Gegensatz zu seiner turbulenten Gründung: Per Rundschreiben bestätigten die verbliebenen Vorstandsmitglieder dem Finanzamt Köln-Altstadt die Auflösung.645 Wie fällt die Bilanz des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker aus? Der Arbeitskreis bildete eine einzigartige Plattform des deutsch-deutschen Austausches während der Teilungszeit. Wissenschaftler aus der DDR, der Bundesrepublik und Osteuropa diskutierten auf den Tagungen Probleme der Deutschen Frage und nahmen mögliche Wege zur Wiedervereinigung in den Blick. Institutionell war man eher schwach aufgestellt, öffnete sich erst nach 1989 – viel zu spät – für westdeutsche Mitglieder. Nach 1990 sank der Arbeitskreis in die Bedeutungslosigkeit herab. Hervorzuheben ist zudem: Die Idee von der Überwindung der SED-Diktatur wurde von früheren DDRAkademikern – nicht wenige darunter waren ehemals führende und nun geläuterte SED-Genossen – in der Bundesrepublik vertreten. Dies war eine Konstellation, die, hätte es sie nicht gegeben, an sich jenseits der Vorstellungskraft des deutschlandpolitischen Mainstreams in Westdeutschland anzusiedeln gewesen wäre. 2. Akteure des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker a) Wolfgang Seiffert Wer waren die Persönlichkeiten des Arbeitskreises ehemaliger DDRAkademiker? Drei Akteure sind an dieser Stelle entscheidend. Begonnen wird mit Wolfgang Seiffert, dem „Motor“ des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker. Seiffert wurde 1926 in Breslau geboren und wuchs auch dort auf. Nach dem Besuch einer Klosterschule und eines katholischen Gymnasiums wurde Seiffert 1944 noch vor dem Abitur zur Kriegsmarine einberufen. Nach einer Station als Infanterist an der Ostfront kam er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, in der er fünf Jahre seines Lebens verbrachte. Seiffert ließ sich dort für den Kommunismus begeistern und wurde daher ab 1948 auf sowjetischen „Antifa-Schulen“ ausgebildet. Im Jahre 644 Horst Laatz, Brief an Edda Hanisch vom 15. Juli 1991, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch. 645 Das Finanzamt hatte Wolfgang Seiffert 1995 aufgefordert, eine Steuererklärung für den Arbeitskreis für das Jahr 1994 abzugeben. Darauf hin wandte sich Seiffert, der davon ausging, dass der Arbeitskreis längst aufgelöst sei, an Edda Hanisch. Vgl. Wolfgang Seiffert, Brief an Edda Hanisch vom 1. Oktober 1995, in: Privatarchiv Dr. Edda Hanisch.
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1949 kam er zu seinen Eltern, die inzwischen in der Nähe von Osnabrück lebten, in das geteilte Deutschland zurück.646 1950 wurde Seiffert in der Bundesrepublik hauptamtlicher FDJ-Funktionär. Bei den Weltfestspielen 1951 in Ost-Berlin lernte er den FDJ-Chef der DDR, Erich Honecker, kennen, zu dem er jahrelange gute Beziehungen pflegte. Seiffert arbeitete nach seiner Rückkehr aus Ost-Berlin beim FDJVerbandsorgan „Junges Deutschland“ in Düsseldorf. Nachdem die FDJ kurze Zeit später in Westdeutschland verboten wurde, arbeitete Seiffert in der Illegalität weiter. 1953 wurde er verhaftet und wegen Geheimbündelei, Staatsgefährdung und Hochverrats angeklagt. Die vierjährige Gefängnisstrafe, zu der Seiffert 1955 verurteilt wurde, kürzte er durch seine spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis nach Ost-Berlin ab. Seifferts Haftstrafe in Westdeutschland wurde 1968 im Zuge des neuen Straffreiheitsgesetzes ausgesetzt und schließlich 1969 ganz erlassen.647 Nach Erwerb des Abiturs 1956 studierte Seiffert an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Rechtswissenschaften und wurde 1963 promoviert; 1967 erfolgte dort auch die Habilitation. Im selben Jahr wurde er zum Direktor des Instituts für ausländisches Recht und Rechtsvergleiche an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR berufen. 1969 wurde er dort ordentlicher Professor, 1973 verlieh man ihm dem Grad eines Doktor sc. jur.648 Deutschlandpolitisch zunächst ganz auf SED-Linie, veränderte sich Seifferts Haltung zur DDR-Staatspartei Anfang der 1970er Jahre. Zunehmend verfocht die SED das Konzept der „sozialistischen Nation“, was das Ziel einer staatlichen Einheit der Deutschen aus Seifferts Sicht in weite Ferne rücken ließ.649 Nach Streichung des Wiedervereinigungsziels aus der DDRVerfassung von 1974 reifte in Seiffert der Gedanke, die DDR zu verlassen: „Der Hauptgrund [die DDR zu verlassen; L. H.] war für mich, dass Honecker aus der Präambel der Verfassung der DDR das Ziel der Wiedervereinigung streichen ließ. […] Ich betrachtete das als einen politischen Verrat und habe daraufhin die Gelegenheit genutzt, in die Bundesrepublik zu kommen.“650 646 Vgl. Eintrag „Seiffert, Wolfgang“ in: Munzinger Online / Personen – Interna tionales Biographisches Archiv, URL: http: / / www.munzinger.de / document / 000000 19248 (abgerufen von der Universitätsbibliothek Bonn am 21. April 2011). 647 Vgl. ebd. 648 Vgl. ebd. 649 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 423; vgl. Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 75. 650 Wolfgang Seiffert, in: Henning von Löwis, Held der DDR. Gespräch mit dem Autor Wolfgang Seiffert, in: Deutschlandfunk, Politische Literatur. Sendung vom 9. Oktober 2006, in: http: / / www.dradio.de / dlf / sendungen / politischeliteratur / 554109 / (1. Mai 2012).
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Auch unerfreuliche Gespräche mit Erich Honecker bestärkten den Wissenschaftler in seiner Ansicht, dass er mit seinen national orientierten Positionen in Zukunft in der DDR nicht würde reüssieren können. In Seifferts Erinnerung hatte Honecker auf seinen Vorwurf, dass das Zwei-NationenKonzept „Unsinn“ sei, geantwortet: „Du immer mit Deiner Wiedervereinigungsidee. Wenn wir das jetzt machen, sind wir doch weg vom Fenster.“651 Eine Flucht aus der DDR kam für Seiffert nicht in Frage, da er seine Familie nicht alleine zurücklassen wollte.652 1978 reiste er in die Bundesrepublik aus, um eine Gastprofessur am Kieler Institut für Recht, Politik und Gesellschaft anzutreten.653 Völlig reibungslos lief die Übersiedlung Seifferts von Ost-Berlin in die Bundesrepublik aber dann doch nicht ab, wie Unterlagen des MfS belegen. Diesen Funden zufolge war Seiffert zwischen 1972 und 1975 für das MfS unter dem Decknamen „Havel“ als Inoffizieller Mitarbeiter aktiv.654 In seiner „operativen Funktion“ als „Reisekader“ wollte und sollte Seiffert seine auf Auslandsreisen gewonnenen Erkenntnisse für den SED-Staat nutzbar machen.655 Zu seinen Kontaktpersonen in Westdeutschland gehörten vornehmlich „SPD-Kreise“, aber auch zum Institut für Ostrechtsforschung in Köln sowie zum Max-Planck-Institut in Hamburg unterhielt Seiffert den MfS-Unterlagen zufolge Verbindungen.656 Seiffert lieferte „insgesamt 24 Informationen mit guten und befriedigenden Bewertungen durch Abschöpfung“ ab. Als „aktive Maßnahmen“ des IM vermerkt der MfS-Bericht u. a. die Vertretung des DDR-Standpunktes auf Tagungen sowie eine „[p]olitisch-beratende und finanzielle Unterstützung von drei linken Kandidaten der SPD (‚Weser‘, ‚Ems‘ und …) zu den Landtagswahlen in Niedersachsen“. Pikant war hierbei, dass diese Kandidaten alle in den Landtag gewählt wurden.657 Etwa Mitte 1974 wandelte sich allerdings offenbar Seifferts Einstellung hinsichtlich seiner Zusammenarbeit mit dem MfS, wie der „Bericht“ vermerkt: „Einmal äußerte der IM, daß er sich eine so weitreichende Zusammenarbeit zu Beginn der operativen Tätigkeit nicht vorgestellt hätte.“658 Seiffert ließ sich offenbar 651 Erich Honecker im Gespräch mit Wolfgang Seiffert, zit. nach Wolfgang Seiffert, Selbstbestimmt, Ein Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Politik, Graz 2006, S. 99. 652 Vgl. ebd., S. 100. 653 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 423; vgl. Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 75. 654 Vgl. HVA Abt. X / 5, Bericht, entsprechend der DA 7 / 71: Doppelagententätigkeit vom 4. Februar 1975, in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 405, Bl. 061. 655 Vgl. ebd., Bl. 061–062. 656 Vgl. ebd., Bl. 062. 657 Ebd., Bl. 063. 658 Ebd., Bl. 064.
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vom MfS nicht mehr steuern und disziplinieren. Dem „Bericht“ zufolge habe Seiffert den Kontakt zum MfS nur „gesucht mit dem Ziel, seine persönliche Karriere abzusichern und voranzutreiben sowie einen Informationsvorlauf zu erhalten.“659 Die ständigen Reisen Seifferts machten ihn für die weitere Zusammenarbeit mit dem MfS zu einer Gefahr. HVA-Chef Markus Wolf persönlich gab im November 1974 grünes Licht für die „Sicherheitsüberprüfung des IM Havel“. Dazu der Vermerk aus dem „Bericht“: „Es wird vorgeschlagen, die operative Zusammenarbeit einzustellen und die Bearbeitung der Person S. einzuleiten.“660 Wolfgang Seiffert geriet nun in das Fadenkreuz der Staatssicherheit, wurde zu ihrem Opfer. Die Konsequenzen für Seiffert waren bitter: Ein „Auskunftsbericht“ vom 1. Dezember 1977 vermerkte das Einziehen von Dienst- und Reisepässen Seifferts. Nun saß Seiffert in der DDR fest. Auch hatte die Akademie in Babelsberg von seinen Plänen, eine Gastprofessur in Kiel anzutreten, offenbar „keine Kenntnis“. Seiffert anerkannte dem Bericht zufolge zwar die Politik der SED, behielt sich aber eigene Schlussfolgerungen vor. Zudem betrachte er sich weiter als Bundesbürger, der sich in der DDR als politischer Flüchtling aufhalte.661 Das Stasi-Papier bescheinigte Seiffert zudem „eine falsche politische-ideologische Grundposition“. Außerdem befürchtete das MfS eine offizielle oder „illegale“ Ausreise Seifferts aus der DDR.662 Um die „weitere Konfrontation“ mit Seiffert zu vermeiden, entschloss sich das MfS, seiner „Übersiedlung“ in die Bundesrepublik „grundsätzlich“ zuzustimmen.663 Eine MfS-„Dokumentation“ vom 24. Februar 1978664 beschreibt die letzten Tage von Seiffert in der DDR. Dem Bericht zufolge hatte sich Seiffert bei seiner Verabschiedung am 13. Februar 1978 beim Wissenschaftlichen Rat der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften Potsdam-Babelsberg für die „Fürsorge des Staates“ bedankt. Zudem habe er versichert, dass er sich auch in Zukunft „stets mit der DDR verbunden fühlen“ und als Marxist auftreten wolle.665 Vor der Bezirksparteikontrollkommission, die seine Streichung der SED-Mitgliedschaft beschloss, habe Seiffert dann am selben Tag 659 Ebd.
660 Ebd.,
Bl. 075. Auskunftsbericht vom 1. Dezember 1977, in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 405, Bl. 027. 662 Vgl. ebd., Bl. 028. 663 Vgl. ebd., Bl. 029. 664 Dokumentation über Äußerungen und Verhaltensweisen des Seiffert bezüglich seiner Stellung zur Partei und Regierung der DDR vor seiner Ausreise in die BRD am 15. Februar 1978 vom 24. Februar 1978, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 10890, Bl. 158–160. 665 Vgl. ebd., Bl. 158. 661 Vgl.
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angegeben, „daß er sich immer zur Partei stehend weiterhin fühlen wird, nichts gegen die Partei und die Regierung unternehmen“666 werde. Auch IM-Äußerungen über Seifferts politische Haltung zur DDR flossen in den Bericht mit ein. Anzuzweifeln gab es hier offenbar nichts, da der Hochschullehrer die DDR gegenüber dem IMS „Klinger“ als seine politische Heimat bezeichnet hatte.667 Die spektakuläre Übersiedlung Wolfgang Seifferts im Februar 1978 in die Bundesrepublik sorgte für erhebliches Medieninteresse.668 Wichtig war ihm jetzt, nicht als „enger Freund Honeckers“ zu gelten. Er beabsichtigte nicht, in die DDR zurückzukehren, vielmehr bekannte Seiffert sich klar zum Grundgesetz: Dies war eine Aussage, die er in den kommenden Jahren mit seinem Engagement für die Überwindung der deutschen Teilung nachdrücklich mit Leben füllen sollte.669 Allerdings stieß Seifferts nationale und am Grundgesetz orientierte Haltung in der Deutschlandfrage in der Bundesrepublik nicht nur auf positive Resonanz, wie er sich erinnerte: „Ich war unangenehm berührt von der weit verbreiteten antinationalen Haltung vieler politischer Kräfte in der Bundesrepublik. Das hat mich aber nicht gehindert, meine Meinung zu vertreten und auch mit solchen Vertretern offen zu diskutieren und hatte mich eigentlich erst wieder neu politisiert, so dass ich nicht nur meine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität in Kiel durchgeführt habe, sondern mich auch für das Ziel der Wiedervereinigung eingesetzt habe.“670
1983 veröffentlichte Seiffert eine umfassende Studie über den dramatisch schlechten Zustand der osteuropäischen Wirtschaftsordnung. In diesem Zusammenhang warb er für eine zunehmende wirtschaftliche Zusammenarbeit von Bundesrepublik und DDR.671 Das bekannteste Buch Seifferts erschien 1986 unter dem Titel „Das ganze Deutschland“. Der provokante Untertitel lautete „Perspektiven der Wie 666 Ebd.,
Bl. 159. ebd., Bl. 160. 668 Siehe beispielsweise „Langjähriger Rechtsexperte Ost-Berlins jetzt in der DDR unerwünscht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. April 1978; „Seiffert: Kein Vertrauter Honeckers“, in: Süddeutsche Zeitung vom 22. April 1978; S. Björnson, Honecker-Freund: „In vier Wochen kommt meine Frau nach“, in: Bild vom 22. April 1978; siehe auch die dreiteilige „Spiegel“-Serie: „Genosse, wir brauchen dich …“, Teil I, in: Der Spiegel vom 8. Mai 1978, S. 111–129; „Genosse, wir brauchen dich …“, Teil II, in: Der Spiegel vom 15. Mai 1978, S. 208–233; „Genosse, wir brauchen dich …“, Teil III, in: Der Spiegel vom 22. Mai 1978, S. 186–201. 669 Zum publizistischen Engagement Seifferts für die Wiedervereinigung siehe insbes. Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 76–80. 670 Wolfgang Seiffert, in: Henning von Löwis, Held der DDR. Gespräch mit dem Autor Wolfgang Seiffert. 671 Vgl. Wolfgang Seiffert, Kann der Ostblock überleben? Der Comecon und die Krise des sozialistischen Wirtschaftssystems, Bergisch Gladbach 1983, S. 227–228. 667 Vgl.
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dervereinigung“672. Für Seiffert konnte demnach Mitte der 1980er Jahre „die erwachte Diskussion um die Deutsche Frage“ nicht mehr nur mit „Formeln“ bestritten werden. Die „weitverbreitete Ansicht“, dass sich die Deutschen mit 40 Jahren Zweistaatlichkeit abgefunden hätten, war für den Kieler Völkerrechtler obsolet geworden.673 Grundsätzlich müsse man bei denjenigen, die diese Debatte führten, von „einer legitimen Strömung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit“ ausgehen. Urheberin der Debatte um die Na tion war für Seiffert die Friedensbewegung zu Beginn der 1980er Jahre. Zudem sei diese Debatte nicht zuletzt verstärkt worden durch das Ende von den Träumen einer politischen Union Europas. So habe zwar Bundeskanzler Kohl von einer „geschichtlichen Perspektive“ für die Wiedervereinigung gesprochen; diese Aussage gehe jedoch einher „mit einer völligen Inaktivität auf dem Felde der operativen Politik“, verbunden mit dem vagen Versprechen einer Realisierung einer deutschen Einheit unter einem europäischen Dach.674 Seiffert schlussfolgerte: „Die Lösung der Deutschen Frage ist zweifellos eine europäische Aufgabe. Doch sie wird überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in freier Selbstbestimmung zu lösen sein, wenn sich die Deutschen selbst dieser Notwendigkeit nicht bewußt werden und entsprechend handeln.“675
In „Das ganze Deutschland“ bewertete Seiffert die Deutschlandpolitik der sozialliberalen Bundesregierung unter Brandt und Scheel insgesamt positiv. So sei es notwendig gewesen, „mit dem Staat DDR“ Vereinbarungen zu treffen, um „menschliche Beziehungen“ zwischen den Deutschen in Ost und West zu ermöglichen.676 Ebenso habe der Grundlagenvertrag das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation gewahrt. Gleichwohl hätte er, Seiffert, sich aber einen direkten Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht im Vertragstext gewünscht.677 Zugleich warnte Seiffert aber vor einer Vertrauensseligkeit bei Vertragsverhandlungen mit der DDR, was durchaus als Kritik an der sozialdemokratischen „Nebenaußenpolitik“ der 1980er Jahre gelesen werden konnte: „Aber dabei darf man nie aus den Augen verlieren, daß wir vernünftige Beziehungen mit der DDR nicht um ihrer selbst willen und nicht nur mit der dortigen Bürokratie wollen.“678 Das Beharren der westdeutschen Seite auf dem Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen war für Seiffert dabei eine absolute Notwendigkeit. Diese „prinzipielle Position“ 672 Wolfgang Seiffert, Das ganze Deutschland. Perspektiven der Wiedervereinigung, München / Zürich 1986. 673 Vgl. ebd., S. 11. 674 Vgl. ebd., S. 12–13. 675 Ebd., S. 16. 676 Vgl. ebd., S. 210. 677 Vgl. ebd., S. 209. 678 Ebd., S. 210.
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solle in Verhandlungen mit der östlichen Seite zwingend aufrechterhalten werden: „Es ist ein doppelter Irrtum zu glauben, diese prinzipielle Position [des Beharrens auf dem Selbstbestimmungsrecht; L. H.] gefährde die Zusammenarbeit mit der DDR, bedeute Konfrontation oder sei gar auf die Destabilisierung der DDR gerichtet, die um alles in der Welt vermieden werden müsse.“679
Wie beurteilte Seiffert die Chancen für eine aktive Wiedervereinigungspolitik? Diese seien keineswegs „pessimistisch zu beurteilen“, auch wenn keine der gegenwärtigen Parteien eine solche Politik betreibe. Vielmehr machten ihm jene „verschiedene[n] aktive[n] Gruppen und Zentren“ Hoffnung, die sich beispielsweise für einen Friedensvertrag engagierten.680 In seinem 1989 erschienenen Buch „Die Deutschen und Gorbatschow“681 sorgte sich Seiffert über die Nachlässigkeit im Umgang mit dem Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des Grundgesetzes: „Was besorgt macht und nachdenklich stimmt, ist der Mangel an Bewußtsein über die Bindung von Politik und Politikern an das Normenprogramm des Grundgesetzes, die ja einen Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit bildet.“682 Auch plädierte Seiffert in seinem Buch erneut für die stärkere Beachtung eines möglichen Zusammenhangs der Gorbatschowschen Reformpolitik mit Veränderungen in der sowjetischen Haltung zur Deutschen Frage. In der Wissenschaft sei die Deutschen Frage viel „weitgehender und prinzipieller“ behandelt worden.683 Seiffert nannte an dieser Stelle den Professor an der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Wjatscheslaw Daschitschew, der bei mehreren Auftritten in der Bundesrepublik im Juni 1988 die Mauer als „Relikt des kalten Krieges“684 bezeichnet hatte. Seiffert schlussfolgerte, „daß die Zeit der deutschen Teilung abläuft und die sowjetische Führung nach Wegen sucht, die deutsche Großmacht in der Mitte Europas […] in einer Weise in das gesamteuropäische Kräftegleichgewicht zu integrieren, die zu einer wesentlichen Verbesserung der Situation der Sowjetunion führt.“685
Das Beharren Seifferts auf dem Rechtsstandpunkt der Selbstbestimmung hielten nicht wenige in der Bundesrepublik für „Formelkram“, wie er retrospektiv in seinen Memoiren ausführte: 679 Ebd.
680 Vgl. ebd., S. 203–204. Zu Seifferts Aufzählungen lassen sich die in dieser Studie vorgestellten Persönlichkeiten und intellektuellen Zirkel hinzurechnen. 681 Wolfgang Seiffert, Die Deutschen und Gorbatschow. Chancen für einen Interessenausgleich, Erlangen u. a. 1989. 682 Ebd., S. 100. Im Original kursiv hervorgehoben. 683 Vgl. ebd., S. 53. 684 Wjatscheslaw Daschitschew im Juni 1988, zit. nach Seiffert, Die Deutschen und Gorbatschow, S. 54. 685 Ebd., S. 58.
V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“211 „Dem Nichtjuristen mögen diese Rechtsfragen als ‚bloßer Formelkram‘ unwichtig erscheinen. Diese Haltung ließ sich nur allzu oft bei deutschen Journalisten, aber auch bei manchen Historikern und Politologen beobachten. Doch ein grundlegendes Problem ist auch politisch nicht wirklich geregelt, solange es rechtlich nicht geregelt ist.“686
Bilanzierend lässt sich das politische Wirken Wolfgang Seifferts kaum in eindeutigen Kategorien fassen. Peter Brandt, Sohn Willy Brandts und einer der „linken Patrioten“687 in den 1980er Jahren und ebenso ein Wiedervereinigungsfreund wie Seiffert, urteilt über den Kieler Völkerrechtler: „Obwohl nicht zu übersehen ist, dass sich Seiffert im Lauf der 80er Jahre bei seinem deutschlandpolitischen Engagement zunehmend im konservativen Spektrum bewegt – genauer gesagt: in die Nähe bestimmter, nonkonformer Konservativer und Nationalliberaler rückt, denen die deutsche Einheit noch wirklich ein Anliegen ist –, ist er ein ganz eigenständiger Denker geblieben, der das Dogma von der Alternativlosigkeit in der Politik ablehnt.“688
Seiffert war zunächst ein aktiver Vertreter des SED-Staates, wurde dann zu seinem Opfer. Er hatte stets die deutsche Staatsangehörigkeit, war also nie DDR-Bürger. Seiffert führte ein Leben zwischen Ost und West, wie es nur der Kalte Krieg hervorbringen konnte. Die Brüche und Verwerfungen in dieser Zeitspanne lassen sich ex post nur mühsam erschließen.689 Seiffert war ein tapferer Streiter für die Einheit Deutschlands, dabei immer auch ein Freund Russlands respektive der Sowjetunion, wo ja tatsächlich der Schlüssel für die deutsche Einheit hinterlegt war. Früher als andere erkannte er klarsichtig, dass Gorbatschow einen Preis zu zahlen bereit wäre, um sein Riesenreich zu retten. Diese deutsch-russische Perspektive macht ihn zu einem wichtigen Vertreter des Gedankens an die deutsche Einheit, als diese noch in vermeintlich weiter Ferne lag.
686 Seiffert,
Selbstbestimmt, S. 137. Haarmann, Die Deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 61–68. 688 Peter Brandt, Der Primat der nationalen Selbstbestimmung. Wolfgang Seifferts Memoiren, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, 12 / 2006, S. 73–75, hier S. 74. 689 Eine Subsumierung Wolfgang Seifferts, der ein Anhänger des Präambelgebotes des Grundgesetzes war, unter das Label eines „Nationalneutralisten“, wie es Gallus, Die Neutralisten, S. 425, vollzieht, erscheint demzufolge als eine verkürzte Einordnung in die deutschlandpolitische Kampfarena der Bundesrepublik. Auch Seiffert selbst fühlte sich von Gallus in der Kategorie „Neutralist“ missverstanden. Siehe dazu Seiffert, Selbstbestimmt, S. 132. 687 Siehe
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
b) Franz Loeser Bilanzierend hielt Franz Loeser in seiner in Ost-Berlin verlegten Autobiographie „Abenteuer eines Emigranten“690 aus dem Jahre 1980 die ersten 25 Jahre seines Lebens in der DDR wie folgt fest: „Ich war mit Bedenken in die DDR gekommen. […] Der Sozialismus ist eine Übergangsperiode. Gewiß! Aber wie geht man über, ganz konkret, vom Klassenantagonismus zum Klassenlosen? […] Das wahre Bild ist weder schwarz noch weiß, sondern so differenziert und vielschichtig, wie eben nur der reale Sozialismus sein kann.“691
Deutlich positiver äußerte Loeser sich zu zwei Problematiken, die sein Leben in der ersten Hälfte bestimmt hatten und die er in der DDR für überwunden hielt: „Der Antisemitismus und der Antikommunismus als gesellschaftliche Probleme sind in der DDR beseitigt.“692 Warum siedelte Franz Loeser dann 1983 in die Bundesrepublik über? Die Antwort, ja die Einsicht, dass der real existierende Sozialismus in der DDR gescheitert war, konnte Loeser erst in seiner zweiten Autobiographie, die 1986 im gewerkschaftseigenen Kölner „Bund-Verlag“ unter dem Titel „Sag nie, du gehst den letzten Weg“ in Westdeutschland erschien, öffentlich verkünden.693 In diesem zweiten Lebensbericht Loesers erfuhr man, dass dieser schon beim Abfassen des „Abenteuer“-Buches, also seiner ersten und noch in der DDR erschienenen Autobiographie, Probleme mit der staatlichen Zensur hatte. Loeser wollte in diesem Buch ursprünglich über die Irrungen und Brüche seines Lebens schreiben, von denen es einige gab. Dieses Vorhaben passte den Ost-Berliner Genossen allerdings nicht. In der Konsequenz musste Loe ser das Manuskript „zigmal“ umschreiben, bevor es die Zensur passieren und in den Druck gehen konnte. Eine zweite Auflage des Buches wurde dann wiederum eingestampft, da zur selben Zeit Erich Honeckers Biographie erschien, in der zu lesen war, dass er, Honecker, 1946 die Freie Deutsche Jugend (FDJ) gegründet habe. In Loesers Werk war aber bereits von einer FDJ in der englischen Emigration noch vor dem Zweiten Weltkrieg die Rede. Die Reaktion der staatlichen Zensur auf diese Darstellungen Loesers war der Vorwurf der Geschichtsfälschung.694 Gleich zu Beginn seiner zweiten Autobiographie „Sag nie, du gehst den letzten Weg“ äußerte Loeser sein deutschlandpolitisches Credo. Hier berich690 Franz
1980.
691 Ebd.,
Loeser, Die Abenteuer eines Emigranten. Erinnerungen, Berlin (Ost)
S. 347–348. S. 348–349. 693 Franz Loeser, Sag nie, du gehst den letzten Weg. Ein deutsches Leben, Köln 1986. 694 Vgl. ebd., S. 201–202. 692 Ebd.,
V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“213
tete der 1983 aus Ost-Berlin mit dem Flugzeug in die USA Emigrierte von seiner ersten Begegnung mit amerikanischen Journalisten direkt nach seiner Ankunft am New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen. Auf die Frage „Herr Professor! Sie sind ein mutiger und konsequenter Gegner des Kommunismus. Was hat Sie zu diesem Kampf bewogen?“695, schüttelte Loeser nur mit dem Kopf, da er sich „in das primitive Schema des Antikommunismus [nicht] zwängen lassen“696 wollte. So antwortete er denn schließlich auch dem Journalisten knapp: „Ich glaube nach wie vor an den Sozialismus, an einen demokratischen Sozialismus …“697 Diesen Glauben an eine Verbindung von Demokratie und Sozialismus hielt er zeit seines Lebens aufrecht. Zurück zu den Anfängen des Lebens von Franz Loeser: Loeser wurde 1924 in Breslau geboren. Vor den Nazis musste er 1938 nach England emigrieren. Sein Vater, ein jüdischer Rechtsanwalt in Breslau, wurde am 10. November 1938 von der Gestapo verschleppt. Ihn sah Loeser nicht mehr wieder.698 In London erwarb Loeser 1940 seinen Schulabschluss und kämpfte in der britischen Armee gegen das Deutsche Reich. Im selben Jahr wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. In England kam Loe ser auch in Kontakt mit der Freien Deutschen Jugend, die ihn begeisterte, da ihre Mitglieder für ein „besseres, demokratisches Deutschland“ kämpften.699 Nach dem Krieg, 1947, siedelte Loeser in die USA über. An der Universität von Minnesota studierte er Politische Wissenschaft, Philosophie und Mathematik. Loeser war im Sozialistischen Studentenbund der KP seiner Universität aktiv, was während der McCarthy-Ära in den USA ein besonderes Risiko darstellte. Loeser kam bald darauf auf die Fahndungslisten des FBI, nachdem er sich an einer Anti-McCarthy-Demonstration beteiligt hatte. Seine Diplomarbeit zu einem Thema des Dialektischen Materialismus wurde abgelehnt.700 Loeser remigrierte 1951 nach England. Dort stellte er in der sowjetischen Botschaft einen Antrag auf Ausreise in die DDR. Von 1951 bis 1956 setzte Loeser seine Studien in Manchester fort. Erst nach fünf Jahren, 1956, wurden ihm, seiner britischen Frau sowie seinem Sohn die Ausreise in die DDR gestattet. Zuvor hatte der britische KP-Führer 695 Ebd., 696 Ebd., 697 Ebd. 698 Vgl.
S. 13. S. 14.
ebd., S. 19–20. ebd., S. 38; vgl. auch Bernd-Rainer Barth / Dieter Hoffmann, Franz Georg Loeser, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftungaufarbeitung.de / wer-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B-1424.html?ID=2131 (26. Februar 2012). 700 Vgl. „SED: ‚Die meisten Genossen denken wie ich‘ “, in: Der Spiegel vom 6. August 1984, S. 107–108, hier S. 107. 699 Vgl.
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B. Deutschlandpolitik als Teil der Präambel des Grundgesetzes
Harry Pollitt persönlich bei Walter Ulbricht zugunsten Loesers Vorhaben interveniert.701 In Ost-Berlin wurde Loesers Übersiedlung aus Großbritannien wohlwollend aufgenommen. Gleich nach seiner Ankunft erhielt er am Institut für Philosophie der Berliner Humboldt-Universität eine Assistentenstelle. Dieser Einrichtung sollte er sein gesamtes weiteres akademisches Leben in der DDR treu bleiben. Loeser, der an vielen internationalen Kongressen teilnehmen durfte, machte nebenbei auch Karriere in der SED, der er seit 1957 angehörte. So wurde er Sekretär der Uni-Sektion und Präsidiumsmitglied des Friedensrates der DDR. 1962 wurde Loeser promoviert, im Jahre 1967 erfolgte die Habilitation. 1969 wurde er zum ordentlichen Professor für marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft berufen, 1978 übernahm er den Lehrstuhl für Heuristik. Trotz zahlreicher Orden der DDR wurde Loeser die offizielle Parteiphilosophie bald zu eng.702 Nach einem Kadergespräch mit Franz Loeser im August 1979 wurde seine Emeritierung auf den 1. September 1979 festgelegt. In „begrenztem Umfang“ wurde ihm eine weitere Tätigkeit in Forschung und Lehre zugebilligt.703 Trotz dieses sich abzeichnenden Zerwürfnisses mit der Partei wurde Loeser im Oktober 1980 noch der „Vaterländische Verdienstorden in Silber“ verliehen. In seinem Glückwunschschreiben lobte Erich Hahn, Direktor des Instituts für Marxistisch-Leninistische Philosophie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, die „unerschütterliche Überzeugung, von der Überlegenheit und dem Sieg unserer Sache“ des Ausgezeichneten.704 An das endgültige Ende seiner Karriere gelangte Franz Loeser letztlich durch einen Aufsatz mit dem Titel „Zu erkenntnistheoretischen Problemen des Glaubens“.705 Loesers These war, dass es auch im Sozialismus einen Glauben der Menschen gebe. Mit seinem Hinweis auf die Vereinbarkeit der 701 Vgl. ebd.; vgl. auch Bernd-Rainer Barth / Dieter Hoffmann, Franz Georg Loeser, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftung-aufarbeitung. de / wer-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B-1424.html?ID=2131 (26. Februar 2012). 702 Vgl. „SED: ‚Die meisten Genossen denken wie ich‘ “, in: Der Spiegel vom 6. August 1984, S. 107–108, hier S. 107–108; vgl. auch Bernd-Rainer Barth / Dieter Hoffmann, Franz Georg Loeser, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / w ww.stiftung-aufarbeitung.de / w er-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B-1424. html?ID=2131 (26. Februar 2012). 703 Vgl. die Aktennotiz des Rektors der Humboldt-Universität Berlin, Prof. Dr. H. Klein, 29. August 1979, in: BStU, ZA, MfS – HA IX 11517, Bl. 002. 704 Glückwunschschreiben von Erich Hahn an Franz Loeser vom 6. Oktober 1980, in: BStU, ZA, MfS – HA IX 11517, Bl. 001. 705 Franz Loeser, Zu erkenntnistheoretischen Problemen des Glaubens, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie [Ost-Berlin], Heft 1 / 1982, S. 114–120.
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marxistischen Philosophie mit dem Glauben „der jüdischen Propheten ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ “ hatte er gegen zentrale Glaubenssätze der SED-Linie verstoßen. Und das zu einem Zeitpunkt, als sich die unabhängige Friedensbewegung in der DDR unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ formierte!706 In der Folge durfte Loeser nicht zum Weltkongress für Philosophie nach Montreal fliegen. Im Frühjahr 1983 sollte er dann vor der ZK-Abteilung Wissenschaften seine Thesen widerrufen.707 Im Herbst 1983, nach einer USA-Reise, kehrte Loeser der DDR den Rücken und siedelte in die Bundesrepublik über.708 Welche Beweggründe spielten für diesen Schritt eine Rolle? In seiner zweiten Autobiographie „Sag nie, du gehst den letzten Weg“ gab Loeser die Antwort, die er in seinen „Abenteuern eines Emigranten“ noch nicht geben wollte oder noch nicht geben durfte: „Auch der reale Sozialismus ist in eine tiefe Krise geraten. Das alles Entscheidende hat er nicht zeugen können: die sozialistische Demokratie, die allein zu einer höheren Arbeitsproduktivität als der Kapitalismus, zu einem neuen Menschen und zu einer glaubwürdigen Gesellschaft führt.“709
Zudem stand Loeser nach seinem Verlassen der DDR im Fadenkreuz der Staatssicherheit. Das MfS attestierte Loeser in einer „Erstinformation“ nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik einen schon länger währenden „ideologischen Bruch“ mit dem SED-Regime. Das MfS vermutete in den USA die Drahtzieher hinter seinem „ungesetzlichen Verlassen“ der DDR.710 Das Stasi-Dossier vermerkte ebenfalls eine Resistenz Loesers auf Kontaktversuche der HVA: „1960 bis 1968 bestand seitens der HVA I Kontakt zum L. mit dem Ziel einer inoffiziellen Nutzung, diese Bestrebungen blieben ohne Erfolg.“711 Weitere Beweggründe für sein Verlassen der DDR sollten erarbeitet und Kontaktaufnahmen zu ihm bekannten Personen in die DDR 706 Vgl. Loeser, Sag nie, du gehst den letzten Weg, S. 218; vgl. auch „SED: ‚Die meisten Genossen denken wie ich‘ “, in: Der Spiegel vom 6. August 1984, S. 107– 108, hier S. 108; vgl. auch Bernd-Rainer Barth / Dieter Hoffmann, Franz Georg Loe ser, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftung-aufar beitung.de / wer-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B-1424.html?ID=2131 (26. Februar 2012). 707 Vgl. Loeser, Sag nie, du gehst den letzten Weg, S. 220–221. 708 Siehe Bernd-Rainer Barth / Dieter Hoffmann, Franz Georg Loeser, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftung-aufarbeitung.de / wer-warwer-in-der-ddr- %2363 %3B-1424.html?ID=2131 (26. Februar 2012). 709 Loeser, Sag nie, du gehst den letzten Weg, S. 220. 710 Vgl. Erstinformation Nr. 26 / 83 zu einem vollendeten ungesetzlichen Grenzübertritt vom 27. September 1983, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 6354, Bl. 022. 711 Ebd.
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unterbunden werden. Zudem sollte geprüft werden, ob eine „persönliche und politische Diskretitierung [sic!]“ Loesers, als er noch in den USA weilte, „mit Unterstützung der HVA in den USA“ veranlasst werden sollte. Immerhin nahm das MfS von Plänen einer „Rückführung“ Loesers in die DDR Abstand. Allerdings beschloss die Staatssicherheit, eine Reihe von Maßnahmen gegen Loeser einzuleiten, u. a. den „zielgerichteten Einsatz eines IM.“712 Bei seinen publizistischen Aktivitäten in der Bundesrepublik wurde Loeser prominente Hilfe zuteil. Das Manuskript des Buches „Die unglaubwürdige Gesellschaft“ wurde von Heinrich Böll an den gewerkschaftseigenen Kölner „Bund-Verlag“ vermittelt. Für Loeser war dies die entscheidende Unterstützung auf seinem Weg in die Bundesrepublik. Den westlichen Teil Deutschlands betrachtete Loeser allerdings zunächst skeptisch: „Für mich nicht nur ein fremdes, sondern auch ein entfremdetes Land. Aber auch mein Heimatland.“713 An eine vorschnelle Wiedervereinigung glaubte Loeser hingegen nicht. Die DDR sei gar nicht an umfassenden gutnachbarschaftlichen Beziehungen interessiert, da die SED-Führung den Einfluss der Bundesrepublik nach wie vor fürchte. Die Handelsbeziehungen dienten allein dem Zweck, Devisen für den Machterhalt zu erwirtschaften.714 Loeser bezog somit eine klare Gegenposition zu der offiziellen Deutschlandpolitik, welche die vertrauensvolle innerdeutsche Zusammenarbeit hervorhob. Zudem bewertete der Philosophie-Professor die von ihm festgestellte Abgrenzungspolitik der DDR als Schwäche des SED-Staates: „Für die sich unsicher fühlende Diktatur wird die wachsende ökonomische Abhängigkeit von der Bundesrepublik, ihr zunehmender wirtschaftlicher und politischer Druck immer unheimlicher, wird immer komplizierter zu beherrschen.“715 Was hätte geschehen müssen, damit es dennoch in den späten 1980er Jahren zu einer deutsch-deutschen Annäherung gekommen wäre? Die entscheidende Hürde verortete Loeser im hierfür notwendigen „Sturz der Diktatur des Parteiapparates“.716 Falls die DDR sich dann zu einem „deutschen 712 Vgl. ebd., Bl. 024–025. Aus den Stasi-Unterlagen zu Franz Loeser geht hervor, dass während seiner DDR-Zeit mindestens die IM „Bischoff“ und IM „Laura“ auf ihn angesetzt waren. Zu „Bischoff“ siehe seinen IM-Bericht über Loeser vom 26. Oktober 1983, in: BStU, ZA, MfS – AU 233 / 90, Bl. 019–024. Eine „Informa tion“ vom 26. September 1983 ist unterfüttert mit IM-Zitaten von „Laura“. Die „Information“ ist verzeichnet unter BStU, ZA, MfS – AU 233 / 90, Bl. 083–086. 713 Loeser, Sag nie, du gehst den letzten Weg, S. 232. 714 Vgl. Franz Loeser, Die unglaubwürdige Gesellschaft. Quo vadis, DDR?, Köln 1984, S. 188–189. 715 Ebd., S. 189. 716 Vgl. ebd., S. 188.
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demokratischen sozialistischen Staat“ entwickeln würde, so könnte dies „völlig neue Perspektiven“ eröffnen, die bis hin zu einer deutsch-deutschen Konföderation reichten.717 Diese „Deutsche Demokratische Bundesrepublik“ würde unter Beibehaltung unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen in dem zunehmend zusammenwachsenden Europa aufgehen.718 Die beiden konföderierten Staaten würden dann als Beispiel für die Möglichkeit einer wahrhaft „friedlichen Koexistenz“ stehen und somit den Blockantagonismus „friedlich […] lösen“ helfen.719 Eine ganz basale Zutat für eine solche deutsch-deutsche Konföderation waren für Loeser aber zunächst die Menschen in Ost und West. Wollten diese die Einheit überhaupt noch? Loeser war Optimist: Seiner Einschätzung nach gab es dieses „Gemeinschaftsgefühl“ noch, auch wenn die vielen Jahre der Teilung natürlich nicht ohne Wirkung geblieben seien. Insbesondere die Jugend in beiden deutschen Staaten hatte er dabei im Blick. Loeser zeichnete ein latent skeptisches, aber zugleich hoffnungsfrohes Bild von der jungen deutsch-deutschen Generation: „Die Bundesrepublik hat das Gemeinschaftsgefühl ihrer Jugend zur DDR kaum entwickeln können. Die DDR hat das Gemeinschaftsgefühl ihrer Jugend zur Bundesrepublik nicht zerstören können!“720 Wie wurden Loesers Thesen in der Bundesrepublik aufgenommen? Im sozialdemokratischen „Vorwärts“ wurde im Februar 1985 Loesers „Unglaubwürdige Gesellschaft“ unter dem Titel „Nur wenige machen den Mund auf“ rezensiert.721 Darin warf der Autor Karl H. Schneider dem aus OstBerlin geflohenen Loeser vor, dem Leser in der Bundesrepublik nichts Neues berichtet zu haben. Loesers Hinweis auf Korruption in der SEDFührung wurde mit dem Verweis auf ähnliche Vorgänge in der Bundesrepublik abgeschmettert. Schneider ließ es sich nicht nehmen, indirekte Ähnlichkeiten zwischen SED- und CSU-Parteitagen hinsichtlich Formen eines Personenkultes herzustellen. Der peinlich angestellte Vergleich von Honecker mit Strauß lautete dann auch entsprechend: „Sie schöpfen aus dem gleichen autoritären Geist, trotz verschiedener Gesellschaftssysteme.“722 Auffallend und typisch zugleich, worüber nicht berichtet wurde: Die von Loeser aufgezeigte Perspektive einer deutsch-deutschen Konföderation wurde in der Rezension mit keinem Wort erwähnt. Zudem erwähnte Schneider 717 Vgl.
ebd., S. 190. ebd., S. 190–191. 719 Vgl. ebd., S. 191. 720 Ebd., S. 192–193. 721 Karl H. Schneider, Nur wenige machen den Mund auf, in: Vorwärts vom 16. Februar 1985. 722 Ebd. 718 Vgl.
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die von Loeser konstatierte gescheiterte deutsch-deutsche Vertragspartnerschaft ebenfalls nicht. Freundlicher urteilte der Journalist Fritz Schenk723, selbst als höherer SED-Funktionär in den 1950er Jahren aus der stalinistischen DDR geflohen, über Loesers Buch in der „Welt“. Für ihn enthielt das Werk viel Neues. Es bestand für Schenk vor allem in dem seiner Ansicht nach erbrachten Nachweis, dass seit den Zeiten des Stalinismus „die intellektuelle Sterilität des ‚Apparates‘ “ noch zugenommen habe. Zudem widerlege Loesers Buch alle Adepten der „ ‚DDR-Gesundbetungsversuche‘ “ wie der Gausschen „Nischengesellschaft“, so Schenk weiter. Trotzdem werde, prognostizierte der Rezensent, Loeser in der Bundesrepublik auch zukünftig als der „ewig unverstandene und unverbesserliche Abweichler“ wahrgenommen werden.724 Auch das MfS „rezensierte“ Loesers „Unglaubwürdige Gesellschaft“ eifrig. Dieser Text war – in typischer Stasi-Manier – eine Ansammlung bösartigster Unterstellungen: So sei dieses Werk eine „persönliche Diffamierung und Verleumdung führender Parteifunktionäre und Staatsfunktionäre, insbesondere des Generalsekretärs der SED, Gen. Honecker.“725 Das Buch stelle, was die „antisozialistischen und friedensfeindlichen Publikationen der letzten Zeit“ angehe, die „absolute Spitze dar.“726 Weiterhin unterstellte das MfS Loeser eine „Verbindung mit zentralen zionistischen Organisationen“, die man gar als Auftraggeber seines Buch vermutete.727 Die von Loeser thematisierte Lösung der Deutschen Frage mithilfe einer deutsch-deutschen Konföderation wertete das MfS dementsprechend als „irreführende Utopie“. Der aus der DDR geflohene Hochschullehrer wurde zudem als „philosophischer Messias“ und „Verleumder“ tituliert, der von Realpolitik keine Ahnung habe.728 723 Fritz Schenk war von 1971 bis 1988 Co-Moderator des „ZDF-Magazins“, einer Sendung, die sich der deutsch-deutschen Thematik annahm. Siehe Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 399. Nach seiner Flucht aus der DDR, wo das SED-Mitglied Schenk bis zum Büroleiter des Planungschefs Bruno Leuschner aufgestiegen war, veröffentlichte er seine Erlebnisse: Fritz Schenk, Im Vorzimmer der Diktatur. 12 Jahre Pankow, Köln u. a. 1962. Zum Leiter des „ZDF-Magazins“, Gerhard Löwenthal, siehe die Biographie von Stefan Winckler, Gerhard Löwenthal. Ein Beitrag zur politischen Publizistik der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2011. 724 Vgl. Fritz Schenk, Visionäre Gläubigkeit, in: Die Welt vom 29. November 1984. 725 Eine erste inhaltliche Wertung des Briefes [sic!] von Loeser „Die unglaubwürdige Gesellschaft – Quo va dis [sic!] DDR?“, o. D., in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 50690, Bl. 073. 726 Ebd. 727 Vgl. ebd. 728 Vgl. ebd., Bl. 075.
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Loeser veröffentlichte in der Bundesrepublik nach seiner Flucht aus der DDR aber nicht nur Bücher. Seine Präsenz beschränkte sich auch nicht nur auf Printmedien729 und den Hörfunk730. Am 7. August 1984 konnte Loeser seine Ansichten über die DDR einem großen Fernsehpublikum in der ZDF-Nachrichtensendung „heute-journal“ mitteilen.731 Neben wirtschaft lichen Problemen und möglichen Differenzen zwischen der SED-Führung und Moskau kam das Gespräch am Ende auf die Frage nach dem besten Ausweg aus der von Loeser festgestellten Krise der DDR.732 Der trockene und ernst gemeinte Lösungsvorschlag des ehemaligen Philosophie-Professors aus Ost-Berlin lautete: „Ja, es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit. Das ist, diese Diktatur des Parteiapparates in der DDR zu stürzen und den real existierenden Sozialismus demokratisch zu erneuern.“733 Peter Voß, der Moderator der Sendung, wohl überrascht von der Deutlichkeit der Antwort Loesers und vielleicht auch in Anbetracht der Konsequenzen des Vorschlags von Loeser, kappte daraufhin „staatstragend“ das Interview: „Bis dahin ist aber wohl noch ein sehr langer Weg. Vielen Dank, Herr Prof. Loeser.“734 Zum Publikum gewendet, ruderte Voß weiter zurück: „Das klang etwas utopisch, angesichts der Machtverhältnisse.“735 Franz Loeser, der nach seiner Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik eine Lehrtätigkeit an der Universität Köln aufnahm, starb am 21. Januar 1990, nur wenige Monate nach der Friedlichen Revolution in der DDR, in Bergheim bei Köln.736 729 So erschienen Kapitelabdrucke der „Unglaubwürdigen Gesellschaft“ in einer Spiegel-Serie: „Der Rat der sozialistischen Götter“ (Teil I), in: Der Spiegel vom 6. August 1984, S. 110–120; „Der Rat der sozialistischen Götter“ (Teil II), in: Der Spiegel vom 13. August 1984, S. 106–116; „Der Rat der sozialistischen Götter“ (Teil III), in: Der Spiegel vom 20. August 1984, S. 110–119; „Der Rat der sozialistischen Götter“ (Teil IV), in: Der Spiegel vom 27. August 1984, S. 125–131. 730 Zu nennen wäre z. B. Loesers Hörfunk-Auftritt am 4.8.1984 im WDR mit Carola Stern anlässlich des Erscheinens der „Unglaubwürdigen Gesellschaft“. Das Manuskript ist verzeichnet in: BStU, ZA, MfS – HA IX 4051, Bl. 356–358. 731 Siehe das Stasi-Protokoll des Fernsehinterviews mit Franz Loeser: Aus der Sendung „Heute-Journal“ des „ZDF“ vom 07.08.1984, 21.45 Uhr, in: BStU, ZA, MfS – HA IX 4051, Bl. 359–361. 732 Bemerkenswerterweise wurde in der Sendung über eine Krise der DDR gesprochen, diese also beim Namen genannt und nicht journalistisch beschönigt. 733 MfS, Aus der Sendung „Heute-Journal“ des „ZDF“ vom 07.08.1984, 21.45 Uhr, in: BStU, ZA, MfS – HA IX 4051, Bl. 361. 734 Ebd. 735 Ebd. 736 Siehe Bernd-Rainer Barth / Dieter Hoffmann, Franz Georg Loeser, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftung-aufarbeitung.de / wer-warwer-in-der-ddr- %2363 %3B-1424.html?ID=2131 (26. Februar 2012).
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Deutschlandpolitisch vertrat der Philosoph und Anhänger der Idee des demokratischen Sozialismus Franz Loeser eine dezentere Position als beispielsweise Wolfgang Seiffert, Vorstandskollege im Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker. Seiffert war durch die Betonung des Selbstbestimmungsrechtes ein Anhänger einer eher juristischen Sichtweise der deutschen Teilung. Die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes bedeutete für Seiffert fast einen Automatismus hin zur deutschen Einheit. Vom Sozialismus hielt Seiffert während seiner Zeit in der Bundesrepublik jedenfalls nicht viel. Anders war die Haltung von Franz Loeser. Er glaubte an das philosophische Konzept der Verbindung von Sozialismus und Demokratie. Dieses war in der DDR mitnichten auf der Tagesordnung. Dem „realen Sozialismus“ in der DDR gab Loeser keine Chance mehr. Das verband ihn mit Seiffert. Loeser erhoffte sich von einem Ende der Diktatur in der DDR so etwas wie eine zweite Chance für den Sozialismus in Deutschland. Die Möglichkeit einer deutsch-deutschen Konföderation, eben mit einer reformierten sozialistischen DDR, erkannte Loeser am politischen Horizont. Es wäre spannend zu erfahren gewesen, wie sich Loeser im Frühjahr 1990 positioniert hätte, ob er an seinen Konzepten festgehalten hätte oder ob er sich der Position Seifferts möglicherweise angenähert hätte. Wir wissen es nicht, Loeser starb im Januar 1990. c) Hermann von Berg Neben Wolfgang Seiffert und Franz Loeser gehörte Hermann von Berg zu den Initiatoren des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker. Von Berg wurde 1933 im thüringischen Mupperg geboren. Bereits 1946 wurde er Mitglied der FDJ und schließlich 1950 Mitglied in der SED. Rasch stieg er zum 1. Sekretär der FDJ-Kreisleitung in Eisenach auf. Ab 1954 studierte von Berg Geschichte, Ökonomie und Philosophie an der Karl-Marx-Universität Leipzig. 1959 schloss er sein Studium als Diplom-Lehrer ab. Während seines Studiums weiter in der FDJ aktiv, kam von Berg mit westdeutschen Jungsozialisten in Kontakt. 1962 wurde von Berg Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen im Presseamt beim Ministerratsvorsitzenden der DDR. Bis in die 1970er Jahre hinein führte von Berg mit Emissären aus der Bundesrepublik und West-Berlin Geheimverhandlungen: So war er u. a. an den jeweiligen Vorbereitungen des Passierscheinabkommens (1963 / 64), des Treffens von Bundeskanzler Willy Brandt mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph in Erfurt und Kassel (beide 1970) und des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR im Jahre 1972 beteiligt. 1970 wurde von Berg an der Berliner Humboldt-Universität mit einer Arbeit über die deutsche Arbeiterbewegung promoviert, 1972 erfolgte bereits die Übernahme einer ordentlichen Professur in der dortigen Sektion Wirtschaftswis-
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senschaft. Ein Jahr zuvor, 1971, wurde ihm zudem der Vaterländische Verdienstorden verliehen. 1980 erfolgte die Habilitation.737 Von 1959 bis 1980 war von Berg zudem als IM „Günther“ für die HVA erfasst. Für die HVA waren die von westdeutschen Gesprächspartnern abgeschöpften Informationen seinerzeit von unschätzbarem Wert. Durch diese Tätigkeit konnte von Berg Einfluss auf die Deutschlandpolitik der SED nehmen, was ihm den Vaterländischen Verdienstorden in Silber einbrachte. Nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages hatte er dann allerdings in seiner Rolle als deutsch-deutscher Vermittler ausgedient. Von Berg sollte sich auf seine Rolle als Wissenschaftler an der Humboldt-Universität konzentrieren. Trotzdem wurde er gelegentlich noch als Kontaktperson zu westdeutschen Journalisten genutzt, lancierte dadurch Botschaften aus dem SED-Politbüro in die Bundesrepublik.738 Offenbar wollte von Berg sich mit seiner Rolle als Wissenschaftler aber nicht abfinden. Besonderes deutschlandpolitisches Aufsehen erregte er, als er dem „Spiegel“-Redakteur Ulrich Schwarz Ende 1977 ein „Manifest des Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands“ diktierte.739 Darin sprach sich ein in der Illegalität tätiger Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands (BDKD), der aus abtrünnigen SED-Genossen bestand740, für „eine offensive nationale Politik, für ein Konzept, das auf die Wiedervereinigung Deutschlands zielt“, aus. Dieses Deutschland, neutral und abgerüstet, sollte dann – ein geradezu Kaiserscher Gedanke! – als „Brücke zwischen Ost und West“741 dienen. Nicht nur mit der Deutschen Frage beschäftigte sich das „Manifest“, nein, es war eine Generalabrechnung mit der SEDDiktatur. Alles kam auf den Prüfstand und wurde für unbrauchbar befunden: Ideologie, Wirtschaft, Personal.742 Wie reagierte die bundesdeutsche Seite? Die regierende SPD bewertete das Papier als unglaubwürdig. Egon Bahr 737 Jan Wielgohs, Hermann von Berg, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftung-aufarbeitung.de / wer-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B1424.html?ID=210 (26. Februar 2012). 738 Vgl. Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik, S. 31–38, hier insbes. S. 37–38. 739 Siehe zum „Spiegel-Manifest“ die Monographie von Dominik Geppert, Störmanöver. Das „Manifest der Opposition“ und die Schließung des Ost-Berliner „Spiegel“-Büros im Januar 1978, Berlin 1996. 740 Als organisierte Gruppe gab es den BDKD nicht. Geppert vermutet ein Kreis von hochrangigen Wirtschaftsfunktionären, die gemeinsam mit von Berg die Thesen entwickelt hatten. Vgl. Geppert, Störmanöver, S. 125. 741 Ebd., S. 169. 742 Vgl. Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands, Zentrale Koordinierungsgruppe, Das Manifest des Bundes der Demokratischen Kommunisten Deutschlands, in: Geppert, Störmanöver, S. 161–185.
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machte sich Sorgen, dass Moskau Zweifel an der Verlässlichkeit in den westdeutsch-sowjetischen Beziehungen kämen.743 Die Union kritisierte die Zurückweisung des „Manifestes“ durch die Sozialdemokraten als Anbiederung an die SED-Führung.744 Gleichwohl traf das Papier den Nerv der Zeit, zumindest in der westdeutschen Bevölkerung. 1978 äußerten sich in einer Allensbach-Umfrage nur ein Drittel der Befragten dezidiert ablehnend gegenüber einem neutralen und paktfreien Gesamtdeutschland. Um die Debatte über eine mögliche Neutralität, gerade auch in der eigenen Partei, nicht weiter anzuheizen, fiel der Protest der Bundesregierung gegen die Verweigerung der Akkreditierung eines neuen „Spiegel“-Korrespondenten in OstBerlin dezent aus.745 Im Zuge der Ermittlungen zum „Spiegel-Manifest“ wurde von Berg Anfang 1978 vorübergehend von der Staatssicherheit festgenommen.746 Als Auflage zur Entlassung aus der Untersuchungshaft musste von Berg sich verpflichten, zu keinem seiner westlichen Gesprächspartner mehr Kontakt zu halten. Hingegen sollte von Berg zur „Wiedergutmachung des von ihm angerichteten politischen Schadens“ weiter die Zusammenarbeit mit dem MfS pflegen.747 An diese Vereinbarung hielt er sich aber nicht lange, mit der Folge, dass er sich in Kollegenkreisen der Humboldt-Universität dekonspirierte, wie das MfS vermutete. Im Sommer 1978 versuchte sich von Berg dann auch formal von seinen MfS-Kontakten zu lösen.748 In der Folgezeit kam es trotzdem zu wiederholten Kontakten zwischen von Berg und dem MfS, wobei die Beteiligten in diesen „Aussprachen“ zu keiner gemeinsamen Linie mehr fanden: von Berg war für das MfS einfach nicht mehr zu beherrschen gewesen.749 Im August 1985 schließlich erklärte von Berg seinen Austritt aus der SED. Pikanterweise verweigerte man dem Dissidenten seinen Austritt. Vielmehr sah sich die Partei genötigt, Herrin des Verfahrens zu bleiben und von Berg aus der SED auszuschließen. Zeitgleich zu seinem Parteiaustritt stellte von Berg einen Ausreiseantrag aus 743 Vgl.
Geppert, Störmanöver, S. 97. ebd., S. 107. 745 Vgl. ebd., S. 99–100. 746 Vgl. Hauptabteilung II / 6, Abschlußbericht zum OV „Tal“ vom 26. September 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 552, Bl. 009. Dass von Berg nicht weiter Schaden nahm, ist verwunderlich. Gab es Hintermänner? Ob Ministerpräsident Willi Stoph, HVA-Chef Markus Wolf oder Moskau möglicherweise die Fäden zogen, ist nicht zu belegen und bleibt daher reine Spekulation. Vgl. Geppert, Störmanöver, S. 128–130. 747 Vgl. Hauptabteilung II / 6, Abschlußbericht zum OV „Tal“ vom 26. September 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 552, Bl. 010. 748 Vgl. ebd., Bl. 011–012. 749 Vgl. ebd., Bl. 015–021. 744 Vgl.
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der DDR. In der Konsequenz wurde von Berg in der Humboldt-Universität Hausverbot erteilt.750 Für die Übersiedlung von Bergs in die Bundesrepublik setzten sich insbesondere drei sozialdemokratische Politiker ein: Willy Brandt, Egon Bahr und Dietrich Spangenberg. Mit Hilfe von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel gelang von Berg dann im Mai 1986 die Übersiedlung, zunächst nach WestBerlin. Als Auflagen gab von Berg der SED-Staat u. a. mit, dass sein Buch „Marxismus-Leninismus“ erst im Herbst 1986 erscheinen dürfe. Zudem sollte er sich in der Bundesrepublik „politische[r] Handlungen“ enthalten. Außerdem verpflichtete man von Berg zur Verschwiegenheit über seine „dienstlichen Vorgänge“ in der DDR.751 Die Beobachtung Hermann von Bergs durch das MfS endete aber nicht mit seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Schon kurz nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik wollte von Berg zum Bedauern der Staatssicherheit von den getroffenen Vereinbarungen mit Wolfgang Vogel nichts mehr wissen.752 In der Konsequenz wurde vom MfS u. a. vorgeschlagen, das „aktive Erfassungsverhältnis zu von Berg […] aufrechtzuerhalten“ und ebenso die Einreisesperren gegen ihn nicht aufzuheben. Außerdem beabsichtigte das MfS, „Kontrollmaßnahmen zu von Berg“, wenn auch „in begrenztem Umfang“, fortzuführen.753 Wenige Monate nach der Ausreise von Bergs aus der DDR verfasste das MfS im September 1986 eine „Strafrechtliche Einschätzung im OV ‚Tal‘ “754. Darin wurde von Berg eine „Fortsetzung der Feindtätigkeit“ in der Bundesrepublik vorgeworfen. Insbesondere seine Schrift „Marxismus-Leninismus. Das Elend der halb deutschen, halb russischen Ideologie“755 wurde von der Staatssicherheit als „staatsfeindliche Hetze im schwersten Fall“756 bewertet. Nach seiner Aussiedlung aus der DDR war von Berg bis 1990 an der Universität Würzburg tätig.757 In seiner „Exil“-Zeit in der Bundesrepublik 750 Vgl.
ebd., Bl. 020–021. ebd., Bl. 021. 752 Vgl. ebd., Bl. 022. 753 Vgl. ebd., Bl. 023. 754 Strafrechtliche Einschätzung im OV „Tal“ vom 25. September 1986, in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 552, Bl. 161. 755 Hermann von Berg, Marxismus-Leninismus. 756 Strafrechtliche Einschätzung im OV „Tal“ vom 25. September 1986, in: BStU, ZA, MfS – HA II / 6 552, Bl. 161. 757 Jan Wielgohs, Hermann von Berg, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftung-aufarbeitung.de / wer-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B1424.html?ID=210 (26. Februar 2012). 751 Vgl.
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führte er seine rege Publikationstätigkeit in deutschlandpolitischen Fragen fort. Bereits vor seiner Übersiedlung hatte Hermann von Berg in der Bundesrepublik im Jahr 1981 unter dem Titel „Entstehung und Tätigkeit der Norddeutschen Arbeitervereinigung“758 seine 1970 verteidigte Dissertation im zur SPD gehörigen Verlag „Neue Gesellschaft“ veröffentlicht. Die wirkmächtigste Schrift Hermann von Bergs aber erschien kurz nach seiner Ausreise aus der DDR im gewerkschaftseigenen „Bund-Verlag“, unter dem Titel „Marxismus-Leninismus. Das Elend der halb deutschen, halb russischen Ideologie“.759 In dieser Generalabrechnung mit dem kommunistischen System in der DDR, die von Berg bereits 1985 in seinem Haus in Schöneiche bei Berlin fertig gestellt hatte und mit deren Veröffentlichung er bis zu seiner Ausreise 1986 aus der DDR warten musste760, blieb kein ideologischer Stein auf dem anderen. Eine der zentralen Fragen des Buches lautete: „Ist etwa der Kern des Systems, die sogenannte wissenschaftliche Weltanschauung, […] die Ursache für die haarsträubenden Mißstände, die alle zu Lasten der arbeitenden Menschen gehen?“761 Dass die sozialistische Ideologie nicht reformfähig sei, wie von Berg mit dieser These annahm, führte zu postwendendem Widerspruch, besonders im linken Lager Westdeutschlands.762 Auch der im Buch unterbreitete Vorschlag von Bergs, im Jahr 1990 eine geheime Volksabstimmung in beiden deutschen Staaten durchzuführen, um damit das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen durchzusetzen, konnte in der intellektuellen Szene in der Bundesrepublik der 1980er Jahre nicht auf viel Gegenliebe stoßen.763 Das Buch schloss mit dem flammenden Appell: „Wir Deutsche haben drei Möglichkeiten, als Nation zugrunde zu gehen. Wir haben aber nur eine, um menschenwürdig zu überleben: Durch Frieden zur Einheit, durch Einheit zur Freiheit in ganz Deutschland!“764 758 Hermann von Berg, Entstehung und Tätigkeit der Norddeutschen Arbeitervereinigung als Regionalorganisation der Deutschen Arbeiterverbrüderung nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 / 1849, Bonn 1981. Im Vorwort bedankte sich von Berg auch „bei meinen Freunden von der SPD für ihre kameradschaftliche Unterstützung“. Ebd., S. 7. 759 Hermann von Berg, Marxismus-Leninismus. Das Elend der halb deutschen, halb russischen Ideologie. 2., überarbeitete Aufl., Köln 1987. 760 Vgl. ebd., S. 8. 761 Ebd., S. 11. 762 Vgl. Hermann von Berg, Vorbeugende Unterwerfung. Politik im realen Sozia lismus, München 1988, S. 280–281. 763 Vgl. von Berg, Marxismus-Leninismus, S. 272–273. In der von Berg vorgeschlagenen Volksabstimmung wäre es dabei u. a. um die Themen Friedensvertrag, Wahl eines „Deutschen Reichstages“ und der Frage nach Berlin als Regierungssitz gegangen. 764 Ebd., S. 284.
V. Die „akademische Elite unter den Übersiedlern aus der DDR“225
Kritisch wurde von Bergs Werk „Marxismus-Leninismus“ vom „Spiegel“ aufgenommen.765 Die Rezension, die von ihrem Inhalt her anschlussfähig an den deutschlandpolitischen Mainstream der 1980er Jahre in der Bundesrepublik angesehen werden kann, nahm der DDR-Oppositionelle Wolfgang Templin vor.766 Templin nämlich bewertete von Bergs Werk negativ als „Verriß der Ideologie“, das „Rezepte für die deutsche Einheit“ enthalte. Zudem warf er von Berg indirekt vor, dass er mit seiner Ausreise aus der DDR Fahnenflucht begangen habe: „Es kann für den einzelnen viele gute Gründe geben, die DDR zu verlassen, fatal wird es, wenn man gerade darin die Verantwortung und den aktiven Widerstand sieht statt im Bleiben.“767 Auch der nationale Tonfall des Buches kam bei Templin nicht gut an. Von Berg berufe sich, so der Rezensent, in seinem Buch „auf die großen deutschen Traditionen“, was doch als „völlig leer“ und „plakativ“ einzuschätzen sei. Als gangbaren Ausweg empfahl Templin in schönen Worten einen „gemeinsamen Kampf um Demokratie in den Ländern des sozialistischen Lagers“.768 Freundlich hingegen wurde das Werk von Wolfgang Seiffert kommentiert. In seiner Rezension für die Zeitschrift „Deutschland Archiv“ führte er als „besonderen Reiz“ des Buches zwei Faktoren an: Zum einen sei es aus einer „Insider-Position“ geschrieben worden, da der Autor in der DDR „nicht irgendwer“ gewesen sei. Zum anderen, so Seiffert weiter, sei der Bruch des Verfassers mit der Ideologie des Marxismus-Leninismus ein ebenso wirkmächtiger Faktor, der die Analyse bereichere.769 Das im Buch behandelte Problem der offenen Deutschen Frage war für Seiffert völlig logisch, da das „System des Marxismus-Leninismus […] nicht irgendwo weit weg auf diesem Planeten [eine politische Realität ist], es existiert mitten in Deutschland, ist ein Teil unserer Wirklichkeit. Es ist ein Menetekel, daß jene, die aus der DDR zu uns kommen, dies klarer sehen als die meisten hier. Es ist eine logische Konsequenz, daß sie auch leidenschaftlicher, drängender an dem Ziel der Wiedervereinigung festhalten als viele bei uns.“770 765 Vgl. Wolfgang Templin, „Ausreise ist kein aktiver Widerstand“, in: Der Spiegel vom 15. September 1986, S. 57–60. 766 Templin war, nachdem er mit der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR in Kontakt kam, aus der SED ausgetreten und hatte seine berufliche Stellung am Zentralinstitut für Philosophie der DDR-Akademie der Wissenschaften verloren. Seither musste er als Heizer und Putzmann arbeiten. Siehe dazu ebd., S. 57. 767 Ebd., S. 57. 768 Ebd., S. 60. Zur Haltung der DDR-Opposition bezüglich der Deutschen Frage siehe Andreas H. Apelt, Die Opposition und die deutsche Frage 1989 / 90, in: Tilman Mayer (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, Berlin 2010, S. 17–28, insbes. S. 20–21. 769 Vgl. Wolfgang Seiffert, Abrechnung mit Ideologie und Praxis des real existierenden Sozialismus, in: Deutschland Archiv, 9 / 1986, S. 995–997, hier S. 997. 770 Ebd., S. 997.
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Dass von Berg kein deutschlandpolitischer Neutralist war, verdeutlicht folgende Passage aus seinen Erinnerungen, die 1988 erschienen sind: „Wir brauchen das militärische Westbündnis auch deshalb, damit irgendwer bei den Russen, sobald der Kern ihrer Reformen, die Wirtschaftsreform, wieder wie seit Lenin, Stalin und Chruschtschow gescheitert sein wird, nicht auf die Idee kommt, sich Nahrungsgüter und Technologie kostenlos im Westen zu holen. Wenn der Ausweg nur der Untergang ist, ist alles möglich. Sagen wir den Sowjets öffentlich: Rüstet ab.“771
In seinem 1989 erschienenen Buch „Die Anti-Ökonomie des Sozialis mus“772 billigte Hermann von Berg einem durch Glasnost und Perestroika gelüfteten sowjetischen System keinerlei Überlebenschance zu. Von Berg schlussfolgerte, dass Gorbatschow bereits 1986 am Rande des SED-Par teitags in Ost-Berlin eine skeptische Prognose der wirtschaftlichen (und somit auch der politischen) Leistungsfähigkeit des Sowjetsystem abgegeben habe. Durch das ewige Wiederholen von Phrasen und Lamentierungen, so von Bergs Schlussfolgerungen, dass man verändern müsse, aber zugleich nicht sage wie dies geschehen solle, habe sich die „wissenschaft liche Voraussicht des Marxismus-Leninismus“ als „blamabel“ herausgestellt.773 Erneut ging von Berg also an eine Grundfeste der kommunistischen Ideologie, sprach der Sowjetunion und dem Ostblock die Zukunftsfähigkeit ab. Unmittelbar vor der Friedlichen Revolution in der DDR äußerte sich von Berg im Oktober 1989 in einem Aufsatz „Der Weg zur Einheit wird frei“774 über die Chancen der deutschen Einheit. Den Gärungsprozess in Osteuropa und in der DDR bezeichnete er darin als „antistalinistischen Bürgerkrieg“.775 Von Berg nahm noch einmal Bezug auf die Präambel des Grundgesetzes und forderte neben der „Selbstbestimmung für das deutsche Volk“ auch eine „Friedenssicherung durch Eliminierung des stalinistischen Unruheherdes in Ostberlin!“776 Wenn man berücksichtigt, zu welchem an 771 Hermann von Berg, Vorbeugende Unterwerfung. Politik im realen Sozialismus, München 1988, S. 241. Gallus rückt von Berg als Urheber des „Spiegel-Manifestes“ in die Nähe der von ihm untersuchten und als solche titulierten Nationalneutralisten. Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 338. Dort wirbt von Berg in der Tat für ein neutrales Gesamtdeutschland, eine Position, die er aber 1989 skeptischer sieht, wie das oben stehende Zitat zeigt. 772 Hermann von Berg, Die Anti-Ökonomie des Sozialismus. Zur Reformfähigkeit parteimonopolistischer Staatswirtschaften, Würzburg 1989. 773 Vgl. ebd., S. 173–174. 774 Hermann von Berg, Der Weg zur Einheit wird frei. Ein neues Kapitel deutscher Geschichte, in: MUT, Nr. 266, Oktober 1989, S. 10–17. 775 Vgl. ebd., S. 11. 776 Ebd., S. 17.
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sich immer noch frühen Zeitpunkt von Berg diese drastische Forderung aufstellte, völlig abseits des ansonsten im Oktober 1989 noch immer vorherrschenden Status-quo-Denkens, so kann man seinen Aufsatz in eine Reihe mit dem Beitrag von Wolfgang Seiffert in der „Frankfurter Allgemeinen“ stellen, in dem er im August 1989 bereits das nahe Ende der DDR vor Augen hatte.777 Nach der deutschen Einheit kehrte von Berg nach Berlin zurück und übte von 1990 bis 1992 eine Lehrtätigkeit an der Humboldt-Universität aus.778 Wie kann das deutschlandpolitische Wirken Hermann von Bergs retro spektiv bewertet werden? Von Berg repräsentierte den ökonomischen Sachverstand im Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker. Gleichzeitig lehnte er entschieden die Ideologie des Marxismus-Leninismus ab, unterstrich diese Haltung auch durch eine z. T. deftige Wortwahl, die in der ent spannungsfreundlichen Bundesrepublik der 1980er Jahre für Irritationen in der Sache sorgte. Ähnlich wie Seiffert kooperierte von Berg in der DDR zunächst mit der Staatssicherheit, beide gehörten später aber zu ihren Opfern. Abschließend sei anzumerken, dass Seiffert und von Berg in der Bundesrepublik schließlich glaubwürdig und mit Verve ihre antikommunistischen und auf die Wiedervereinigung ausgerichteten Thesen vertraten. Der Dritte im Bunde der Gründer des Arbeitskreises, Franz Loeser, bleib seiner Überzeugung einer Verbindung von Demokratie und Sozialismus treu. Aber auch Loeser sah ein, dass in der DDR keine solche Verbindung vorherrschte und mit der SED eine solche auch nicht zu erreichen sein würde. 3. Die Beobachtung des Arbeitskreises durch das MfS Bereits fünf Tage nach Gründung des Arbeitskreises am 9. Mai 1987 fand am 14. Mai 1987 ein Treffen des auf den Seiffert-Kreis angesetzten IM „Klee“ mit seinem Führungsoffizier, einem Major Knaut, statt. „Klee“ berichtete, dass die neu gegründete Vereinigung in die „imperialistische ‚DDR- und Ostforschung‘ einzuordnen“779 sei. Darüber hinaus vermutete 777 Vgl. Wolfgang Seiffert, Eine Perspektive statt kleiner Schritte. Die Krise der DDR ist auch eine Krise der Deutschlandpolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. August 1989. 778 Jan Wielgohs, Hermann von Berg, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / www.stiftung-aufarbeitung.de / wer-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B1424.html?ID=210 (26. Februar 2012). 779 Hauptabteilung XVIII / 5, Berlin, 28. Mai 1987, Treffbericht vom 14. Mai 1987 – IM „Klee“, in: BStU, ZA, MfS – HA XVIII 13714, Bl. 2.
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der IM als die Hauptaufgabe des Arbeitskreises, „Informationen zu Vorgängen in wissenschaftlich-technischen Einrichtungen der DDR zu erhalten, sie politisch zu bewerten und diese Information dann zu verkaufen.“780 Über die geplante Vorgehensweise hierzu spekulierte „Klee“, dass sich z. B. Franz Loeser Bücher aus der Sektion Philosophie der Humboldt-Universität in Ost-Berlin beschaffen würde, um eventuelle „Widersprüche“ in diesen Werken öffentlich zu rügen. Zudem würden die Mitglieder des Arbeitskreises versuchen, zu ihnen bekannten DDR-Wissenschaftlern, die sich auf Westreise befinden, Kontakt aufzunehmen.781 Zu den „ernstzunehmenden Leuten im Arbeitskreis“ zählte „Klee“ insbesondere Wolfgang Seiffert und Franz Loeser. Abschließend wurde von „Klee“ dem Arbeitskreis eine nur geringe Relevanz in der deutschlandpolitischen Debatte zugemessen, da es „fähigere und besser interessierte Leute“782 gäbe. Diese frühe Einschätzung des IM „Klee“ sollte sich in der weiteren Überwachungsarbeit des MfS als voreilig herausstellen, wie das umfangreiche Material des MfS zum Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker belegt.783 Im Sommer 1987 bewertete das MfS die Tätigkeit des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker als eine „gegnerische Tätigkeit“, die sich gegen Wissenschaftler der DDR richte. Zudem wurden in diesem MfS-Bericht Beratungsversuche von Bundesbehörden durch den Arbeitskreis vermerkt. Diese seien allerdings bisher ohne Erfolg geblieben.784 Als bislang wichtigste Aktivität des Arbeitskreises im Jahre 1987 „gegen“ DDR-Wissenschaftler wurde ein „provokativer Anruf“ Hermann von Bergs im Hotelzimmer des Direktors des Zentralinstitutes für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR gewertet, als sich dieser in Bonn aufhielt.785 Resümierend hielt die Staatssicherheit im Juli 1987 fest, dass die Tätigkeit des Arbeitskreises „weiter aufgeklärt“ werden sollte. Dazu sollten insbesondere Maßnahmen ergriffen werden, die der „Herausarbeitung und Abwehr von Stör780 Ebd. 781 Vgl.
ebd. Bl. 3. 783 Dass das MfS schon früher von Seifferts Versuchen wusste, ehemalige DDRAkademiker in der Bundesrepublik zu sammeln und zusammen zu führen, belegt eine MfS-„Information zur Gründung eines ‚Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker‘ in der BRD“ vom 31. Juli 1987. Hierzu wurden Kontaktversuche Seifferts zu ehemaligen DDR-Wissenschaftlern auf einer Tagung der Hanns-SeidelStiftung im Dezember 1986 vermerkt. Vgl. dazu BStU, ZA, MfS – HA XVIII 13714, Bl. 4. 784 Vgl. die Information zur Gründung eines „Arbeitskreises ehemaliger DDRAkademiker“ in der BRD vom 31. Juli 1987, in: BStU, ZA, MfS – HA XVIII 13714, Bl. 7. 785 Vgl. ebd., Bl. 9. In den herausgegebenen Unterlagen der BStU ist der Name des Angerufenen geschwärzt. 782 Ebd.,
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versuchen im Rahmen des vereinbarten Wissenschaftsabkommens“ dienen. Darüber hinaus wurde „die Kontrolle von Rückverbindungen im ehemaligen Arbeits- und Freizeitbereich durch die jeweils verantwortlichen Diensteinheiten“ angeregt.786 In einer „Arbeitskonzeption“ vom Dezember 1987 hielt das MfS erneut die Gefährlichkeit des Arbeitskreises für die SED-Diktatur fest und schlug folgende Gegenmaßnahmen vor: „Speziell unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung der Inspirierung und Organisierung des ungesetzlichen Verlassens der DDR durch Wissenschaftler muß der ‚Arbeitskreis‘ operativ eingeordnet und seine Aktivitäten vorbeugend erfasst und analysiert sowie Maßnahmen der offensiven Zersetzung / Bekämpfung festgelegt werden.“787
Als „eingeleitete / durchzuführende Maßnahmen“ hielt der Bericht fest, auf Wolfgang Seiffert die IM „Klee“ und „Steffenhagen“ anzusetzen. Auch auf den Ökonom Harry Maier wurden zwei IM angesetzt, „Modell“ und „Seemann“.788 Zudem wurde der „ ‚Arbeitskreis‘ in die Kategorie der feindlichen Einrichtungen eingeordnet“. Möglichen Kontaktversuchen von Mitgliedern des Arbeitskreises zu verbliebenen Kollegen in der DDR war nach diesem MfS-Bericht entgegenzuwirken.789 In einer 1988 erstellten „Information zum ‚Arbeitskreis ehemaliger DDRAkademiker‘ in der BRD“790 wurde erneut auf die Gefährlichkeit des Arbeitskreises für den SED-Kurs hingewiesen. So sei mit dem Kreis in Westdeutschland eine Gruppe gegen die DDR aktiv, die aufgrund ihrer Kontaktversuche zu DDR-Bürgern, die sich im Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Bundesrepublik aufhielten, Beeinflussungsversuche beginnen würden.791 Jedoch registrierte das MfS im Arbeitskreis weiterhin die „unterschiedlichen politischen Grundpositionen“792, die ja von Loeser und Seiffert tatsächlich verkörpert wurden. Offenbar erhoffte sich Ost-Berlin von dieser Divergenz eine Abschwächung der Wirksamkeit des Kreises.
786 Vgl.
ebd., Bl. 9.
787 Arbeitskonzeption
zum „Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker“ vom 8. Dezember 1987, in: BStU, ZA, MfS – HA XVIII 15046, Bl. 074. 788 Vgl. ebd., Bl. 075. 789 Vgl. ebd., Bl. 076. 790 Information zum „Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker“ in der BRD vom 26. Mai 1988 (Ergänzung zur Information Nr. 144 / 87 vom 31.7.1987), in: BStU, ZA, MfS – HA XVIII 15013. 791 Vgl. ebd., Bl. 2. 792 Ebd.
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In einer „Information“793 vom Mai 1989 wurde eine weitere intensive Beratungstätigkeit der Arbeitskreis-Mitglieder festgestellt; insbesondere wurden in dem Bericht direkte Gespräche von Seiffert mit Politikern in der Bundesrepublik erwähnt. Welche Politiker dies genau waren, lässt sich aus dem Bericht aber nicht entnehmen. Seiffert wurde von der Stasi weiterhin vorgeworfen, sich aktiv an der Vorbereitung „konzeptionelle[r] Vorstellungen zur Wiedervereinigung“794 zu beteiligen. Mit Willy Brandt teile Seiffert die Einschätzung einer baldigen Lockerung der osteuropäischen Regime, wie dies von entsprechenden Stimmen aus der Sowjetunion in letzter Zeit kundgetan worden sei. Für eine mögliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, so die Quelle des MfS, sei Seiffert zufolge der rasche Einbezug der DDR in den EG-Binnenmarkt von entscheidender Bedeutung. Zudem hätten die Deutschen in Ost und West eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur, die wichtige Faktoren für die künftige staatliche Einheit seien. Gleichwohl habe Seiffert zu bedenken gegeben, dass die deutsche Einheit nie allein Sache der Deutschen sein könne, sondern dass auch die Befindlichkeiten der deutschen Nachbarn berücksichtigt werden müssten. Die Kontakte zwischen SED und SPD schätzte Seiffert laut MfS-Quelle als „unfruchtbar“ ein, da in der SED die „alte, harte Auffassung“ gegenüber dem Westen sichtbar geworden sei.795 Das Seiffert-Buch „Die Deutschen und Gorbatschow – Chancen für einen Interessenausgleich“796 wurde von der Quelle als inhaltlich „bedeutsam“ für die derzeitigen Konzeptionen des Arbeitskreises bewertet.797 Fünf Tage nach den Jubiläumsfeierlichkeiten zum 40. Gründungstag der DDR wurde vom MfS am 12. Oktober 1989 eine letzte – uns bekannte – „Information“798 über den Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker verfasst. In dem Bericht wurde Seiffert unterstellt, in deutschlandpolitischen Fragen Druck auf die Bundesregierung auszuüben, da dort seiner Ansicht 793 Information zu aktuellen Aspekten der konzeptionellen Ausrichtung des „Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker“ vom 23. Mai 1989, in: BStU, ZA, MfS – HA XVIII 14437. 794 Ebd. 795 Vgl. ebd., Bl. 2. 796 Wolfgang Seiffert, Die Deutschen und Gorbatschow. 797 Vgl. die Information zu aktuellen Aspekten der konzeptionellen Ausrichtung des „Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker“ vom 23. Mai 1989, in: BStU, ZA, MfS – HA XVIII 14437, Bl. 3. Die Quelle für diesen Bericht ist nicht bekannt. Der Bericht schließt jedoch mit der Bitte „um strengsten Quellenschutz“, was auf einen exponierten Informanten hinweist. 798 Information zu aktuellen Vorstellungen und politischen Ansichten des Leiters des „Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker“, Prof. W. Seiffert (Universität Kiel / BRD) und anderer politischer Kräfte der BRD vom 12. Dezember 1989, in: BStU, ZA, MfS – HA XVIII 15096.
VI. Zwischenfazit231
nach „eine gewisse Ratlosigkeit herrsche“799, was die Entwicklung in der DDR anbelange. Seiffert zufolge, so der MfS-Bericht weiter, laufe alles in Richtung einer deutschen Wiedervereinigung. An einer „offenen Revolte“ in der DDR sei aber auch die Bundesregierung nicht interessiert.800 Zudem hatte sich Seiffert – laut MfS-Bericht – offenkundig über Egon Bahr geäußert. Dieser sei, so berichtet das MfS, von Seiffert nicht mehr als „auf der politischen Höhe stehend eingeschätzt“801 worden, da seine „Theorie von der Wandlung der DDR durch Annäherung über kleine Schritte […] zusammengebrochen und überholt [sei; L. H.].“802
VI. Zwischenfazit Nach der Untersuchung der an der Präambel des Grundgesetzes orientierten Wiedervereinigungsbefürworter lässt sich resümierend festhalten: Die Richtschnur des Handelns der Mitglieder im deutschlandpolitischen Arbeitskreis der CDA war eine patriotische Grundhaltung, die sich der Tradition des politischen Denkens Jakob Kaisers, des ehemaligen Vorsitzenden der CDU in der SBZ, späteren Gesamtdeutschen Ministers und Vorsitzenden der CDU-Sozialauschüsse, verpflichtet sah. Die wichtigsten Akteure des Kreises waren zum einen der bundesdeutsche CDA-Chef und Berliner Gesundheitssenator, Ulf Fink, zum anderen der Kulturpolitiker und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, Uwe Lehmann-Brauns. Das Wirken des deutschlandpolitischen Arbeitskreises steht beispielhaft für die gesamte Union. Zwar bekannte sich die CDU (und auch die in dieser Studie nicht explizit untersuchte Schwesterpartei CSU) immer klar zum Ziel einer Wiedervereinigung Deutschlands, dennoch führte Bundeskanzler Helmut Kohl den sozialliberalen Entspannungskurs fort und hoffte auf eine Lösung der Deutschen Frage in europäischen Dimensionen. Dies war den im deutschlandpolitischen Arbeitskreis der CDA versammelten Unionsmitgliedern zu wenig. Sie machten sich an die praktische Erweiterung dieser christlich-liberalen Entspannungspolitik, die zwar den normativen Abstand zum SED-Regime stärker betonte, aber auf die Zusammenarbeit auf Regierungsebene beschränkt blieb. Indem man im deutschlandpolitischen Arbeitskreis Verbindungen zu DDR-Oppositionellen pflegte, aber auch private Kontakte in die DDR unterhielt, nahm man den entspannungspolitischen Ball der Bundesregierung auf und ergänzte diese Politik gleichsam um das Konzept einer „Deutschlandpolitik von unten“. Hierdurch beabsichtigte man 799 Ebd.,
Bl. 2. ebd. 801 Ebd., Bl. 3. 802 Ebd. 800 Vgl.
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auch die stärkere Konturierung des Ziels einer Wiedervereinigung Deutschlands für die operative Deutschlandpolitik der Bundesregierung. Insbesondere die Kontakte des deutschlandpolitischen Arbeitskreises zu Oppositionellen in der DDR, wie z. B. zu Rainer Eppelmann, trafen jedoch in der CDU nicht immer auf ungeteilte Zustimmung. So befürchtete der christdemokratische Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, durch solcherlei Aktionen eine Störung seiner auf gutes Auskommen mit den DDR-Machthabern ausgerichteten Berlin-Politik. Aber auch von Ost-Berliner Seite wurde dem deutschlandpolitischen Arbeitskreises eine Störung der Entspannung attestiert, wie mit den ausgewerteten Unterlagen des MfS belegt werden konnte. Zu den Hauptaufgaben des 1968 gegründeten Kurt-Schumacher-Kreises, dessen Mitglieder in der SBZ bzw. DDR wegen ihrer sozialdemokratischen Überzeugungen in den Gefängnissen gesessen hatten, gehörte die geistigpolitische Auseinandersetzung mit der politischen Ideologie des Kommunismus und eine Behandlung von aktuellen Fragen der Berlin- und Deutschlandpolitik. Die Gründung des Kreises war von Willy Brandt gutgeheißen worden. Rasch geriet man innerhalb der deutschen Sozialdemokratie jedoch in eine Minderheitsposition, als man die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Bundesregierung ernst nahm und gegen Aushöhlungsversuche verteidigte. Handlungsleitend für den Schumacher-Kreis waren neben der Verteidigung des Primats der Menschenrechte in den innerdeutschen Beziehungen die Betonung der Bedeutung der Rechtspositionen in der Deutschlandpolitik. Hermann Kreutzer, Chef des Schumacher-Kreises, nahm für seine deutschlandpolitischen Überzeugungen erhebliche berufliche und politische Nachteile in Kauf. Kreutzer, der im innerdeutschen Ministerium unter Wehner und Franke einflussreiche Positionen bekleidete, wurde schließlich 1980 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Auch politisch entfremdete er sich zunehmend von der Sozialdemokratie, aus der er schließlich 1981 austrat. Die Überwachung der Person Hermann Kreutzers und des von ihm geleiteten Schumacher-Kreises durch die Staatssicherheit dokumentiert ebenfalls die Bedeutung dieser für die SED-Diktatur gefährlichen politischen Gruppierung. Das deutschlandpolitische Anliegen des Liberalen Detlef Kühn war die Verknüpfung der Deutschen Frage mit dem Selbstbestimmungsrecht und der Sicherheitspolitik. Ursprünglich in die FDP eingetreten wegen ihrer stark wiedervereinigungsorientierten Linie, zunächst begeistert von der sozialliberalen Entspannungspolitik, wurde Kühn mit seinen nationalliberalen Posi tionen in der Partei zunehmend an den Rand gedrängt. Eine Kandidatur für den Bundestag scheiterte am Veto der linksorientierten Jungdemokraten. Als
VI. Zwischenfazit233
wichtigste Ressource fungierte für Kühn daher das Gesamtdeutsche Institut in Bonn, dem er fast 20 Jahre als beamteter Präsident diente. Dementsprechend war das Hauptfeld für Kühn die deutschlandpolitische Bildungsarbeit, die er sowohl in der Bundesrepublik als auch im Ausland betrieb. Für Kühn war das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1973 zum Grundlagenvertrag Richtschnur seines deutschlandpolitischen Handelns, für das er von ihm wenig geneigten Medien manche Kritik einstecken musste. Die Überwachung Kühns durch das Ministerium für Staatssicherheit, nicht nur bei seinen ausgedehnten Reisen in die DDR, sondern auch auf dem Boden der Bundesrepublik, belegt seine Position und die seiner Behörde als Gefahr für die SED-Herrschaft. Auf dem politischen Kampffeld der bundesdeutschen DDR-Forschung bewegte sich die 1978 gegründete Gesellschaft für Deutschlandforschung. Als der totalitarismustheoretische Ansatz in der Betrachtung des Forschungsgegenstandes DDR in der Bundesrepublik durch den systemimmanenten Ansatz verdrängt zu werden drohte, wollten sich die Anhänger des Totalitarismusparadigmas mit einer eigenen – methodenpluralistischen – Fachgesellschaft zur Wehr setzen. Die Bestrebungen westdeutscher Professoren – Hauptakteur war hierbei der Jurist Siegfried Mampel – eine Gesellschaft für Deutschlandforschung – ausgerechnet im geteilten Berlin, an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts! – zu gründen, kollidierten mit Bemühungen des innerdeutschen Ministeriums, eine eigene Gesellschaft, mit systemimmanent-orientierten Wissenschaftlern, zu gründen. Zudem löste der Terminus „Deutschlandforschung“ bei den Ministerialen und im linksliberalen Medien-Mainstream einige Befürchtungen aus, da dieser Begriff eben mehr als nur die DDR umfasste. Zudem war der unzweideutige Handlungsimpuls für die GfDMitglieder die Präambel des Grundgesetzes. Als konservativ gebrandmarkt, arbeiteten in der GfD in der Praxis Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale zusammen. Im Bewusstsein der offenen Deutschen Frage setzte die GfD in den 1980er Jahren mit ihren Gutachten zur Situation der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung an den westdeutschen Hochschulen, ihren zahlreichen Tagungen und wissenschaftlichen Publikationen Akzente. Viele Mitglieder des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker hatten bis zu ihrer Flucht bzw. Ausreise in den 1970er und 1980er Jahren aus der DDR der SED angehört, waren dort aber in Konflikt mit der Staatspartei geraten. Gegründet und geleitet wurde der Kreis von den Professoren Wolfgang Seiffert (ehemaliger Honecker-Berater), Franz Loeser (Philosoph an der Humboldt-Universität) und Hermann von Berg (Ökonom und Verfasser des „Spiegel“-Manifestes von 1978). Alle drei intellektuellen Väter des
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Arbeitskreises haben turbulente Biographien vorzuweisen, wie sie nur der Kalte Krieg hervorbringen konnte. Auch wenn sich die versammelten Positionen nicht auf eine einheitliche Linie bringen ließen, so war die deutschlandpolitische Richtschnur des Arbeitskreises das Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen. Ebenfalls stellte man damit implizit die SED-Herrschaft in Frage, was an den Grundfesten der Staatlichkeit der DDR rüttelte. Insbesondere der „Motor“ des Kreises, Wolfgang Seiffert, war energischer Verfechter des Präambelgebotes des Grundgesetzes. Die Akzeptanz der Seiffert-Gruppe war im linksliberalen Mainstream der Medien und Universitäten eher schwach ausgeprägt. Auch der Arbeitskreis stand unter dem „Kalte-Krieger-Verdacht“. Die Überwachung durch die Staatssicherheit belegt ebenfalls die Einordnung des Arbeitskreises in die „politisch-ideologische Diversion“, welche der DDR nach Lesart des MfS gefährlich werden konnte. Es bleibt das Verdienst der Gruppe, eine internationale Plattform des wissenschaftlichen Austausches hinsichtlich der Deutschen Frage für Menschen aus Ost und West gebildet zu haben.
C. Die Forderung nach aktiver Deutschlandpolitik als Friedenskonzept (Untersuchungsgruppe 2) I. „Vorwärts auf dem Weg zu einem einigen sozialistischen Deutschland!“1 – Die westdeutsche Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML) und ihre „Sektion DDR“ 1. Die KPD / ML in Westdeutschland a) Einführung2 Wichtige Ideenträger eines nationalen Gedankenguts innerhalb der westdeutschen bzw. West-Berliner Linken, das ab Ende der 1970er Jahre in der Friedensbewegung aktualisiert wurde, waren Teile der K-Gruppen, so auch die in dieser Studie untersuchte KPD / ML.3 Auch später bei den Grünen stammten zwei friedens- bzw. deutschlandpolitische Argumente aus dem Fundus der K-Gruppen: Erstens die Bedrohungswahrnehmung der Deutschen an der Nahtstelle des Kalten Krieges, symbolisiert durch NATO und Warschauer Pakt, zweitens die Wahrnehmung des geteilten Deutschland als besetztem Land.4 1 Mit diesem Ausspruch wurde im Mai 1968 im Roten Morgen zur Gründung einer marxistisch-leninistischen Partei aufgerufen, in: Roter Morgen, 2. Jahrgang, Mai 1968. Für die in den folgenden Fußnoten nicht gesondert gekennzeichnete westdeutsche Ausgabe des Roten Morgen ist der Bestand der Bibliothek des Ruhrgebiets in Bochum benutzt worden. 2 Abweichend von den anderen Kapiteln wird hier auf die Darstellung einzelner Aktivisten verzichtet, da die KPD / ML deutschlandpolitisch als klandestines Kollektiv auftrat. Eine Kontaktaufnahme des Verfassers zu ehemaligen KPD / MLern ist nicht gelungen. Die Biographie des langjährigen KPD / ML-Vorsitzenden Ernst Aust stellt zudem ein Forschungsdesiderat dar. 3 Vgl. Ludwig, Neue oder Deutsche Linke?, S. 47. 4 Vgl. ebd., S. 66. Zum Phänomen der K-Gruppen und ihrem personalen Einfluss auf die rot-grüne Bundesregierung siehe Frank Decker, Von Abarbeitern und Abstreifern. Die verdrängte Vergangenheit des westdeutschen Linksextremismus. Rezension des Buches von Gunnar Hinck, Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre, Berlin 2012, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. September 2012.
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
Für den Historiker Andreas Kühn gehören die K-Gruppen, deren Wurzeln in der Studentenrevolte der 1960er Jahre lagen, zu den „großen intellektuellen Jugendbewegungen der ersten Hälfte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland“5. Zugleich sei aber wurde durch ihre Existenz der bereits in der Studentenrevolte von 1967 inhärente „Keim des Totalitarismus“ verwirklicht worden.6 Zwischen den beiden Polen Geist und Gewalt, so könnte man sagen, lag also der politische Kern dieser linksextremistischen Kleinpartei KPD / ML. Gegründet wurde die hier zur untersuchende Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten am 31. Dezember 1968, auf den Tag genau 50 Jahre nach Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Weimarer Republik im Jahre 1918. Der erste Vorsitzende der KPD / ML wurde der Journalist Ernst Aust. Zuvor hatte er in den 1960er Jahren eine Zeitung in Hamburg herausgegeben, die der 1956 in der Bundesrepublik verbotenen KPD nahe stand. Aust aber entfernte sich zunehmend von der Linie der seit ihrem Verbot in der Illegalität agierenden Partei. Die von ihm gegründete Zeitung „Roter Morgen“ wurde schließlich 1967 Keimzelle der späteren KPD / ML und führte zum Bruch mit der illegalen KPD.7 Was machte die K-Gruppen aus? Das für alle K-Gruppen „konstituierende Element“ war der „Sozialimperialismusvorwurf“ an die Sowjetunion. In der Hauptsache ging es dabei um die Folgen der Geheimrede des Sowjetführers Nikita S. Chruschtschow im Jahre 1956, in der sich die von ihm geführte KPdSU vom Stalinismus verabschiedete. Die Abkehr des KPdSUChefs Chruschtschow vom „Personenkult“ seines verstorbenen Vorgängers Stalin führte zum Vorwurf des „Revisionismus“ der späteren maoistischen 5 Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne, S. 9 und S. 14. Vgl. auch die kritischen Hinweise bezüglich der Einstellung der KPD / ML zur Gewalt als politisches Mittel bei Gerd Langguth, Protestbewegung. Entwicklung – Niedergang – Renaissance. Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983, S. 72–73. 6 Siehe Andreas Kühn, „Neue Revisionisten und Sozialimperialisten“ – Die KPD / ML und ihre Fundamentalkritik am sowjetischen Sozialismusmodell, in: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus und Demokratie, 17. Jahrgang 2005, Baden-Baden 2005, S. 73–92, hier S. 73. 7 Vgl. Tobias Wunschik, Die maoistische KPD / ML und die Zerschlagung ihrer „Sektion DDR“ durch das MfS, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 5. Auch die seit 1968 als legale Neuzulassung in der Bundesrepublik agierende Deutsche Kommunistische Partei (DKP) war in den 70er und 80er Jahren der ideologische Gegner der KPD / ML. Vgl. dazu Kühn, „Neue Revisionisten und Sozialimperialisten“, S. 83–86. Die Partei hatte maximal 800 Mitglieder und bundesweit ca. 8000 Wähler. Vgl. hierzu Tobias Wunschik, Die Zerschlagung von politischem Widerstand durch das MfS am Beispiel der „Sektion DDR“ der KPD / ML, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Erinnerungen an einen untergegangenen Staat, Berlin 1999, S. 221–244, hier S. 221.
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Kleinparteien in der Bundesrepublik, so auch der KPD / ML. Diese Abkehr vom Stalinismus handelte der KPdSU den Vorwurf des „Verrats“ am Marxismus-Leninismus ein. Chruschtschow habe die Sowjetunion in eine „sozialimperialistische Supermacht“ verwandelt, die aggressiv und subversiv über die Völker herrsche. Stattdessen lehnte sich die KPD / ML der Volksrepublik China unter Mao Tse-tung an, die sich seit Ende der 1960er Jahre in einem bewaffneten Konflikt mit der Sowjetunion am chinesisch-sowjetischen Grenzfluss Ussuri befand.8 Zweiter ideologischer Bündnispartner der westdeutschen KPD / ML war das Albanien Enver Hoxhas. China und Albanien hatten beide die sozialliberale Ostpolitik Brandts abgelehnt, welche, so der Vorwurf, die Bundesrepublik zu einer aus maoistischer Sicht kritikwürdigen Annäherung an die UdSSR geführt habe.9 Nach dem Tode Maos und der Rehabilitation Deng Xiaopings im Jahre 1976 sagte sich die KPD / ML in den folgenden zwei Jahren dauerhaft vom Maoismus los. Die Außenpolitik Chinas wurde in der Hinsicht kritisiert, dass man im Kampf gegen den Imperialismus nicht mit Imperialisten zusammenarbeiten könne. Nachdem es deshalb auch zu Auseinandersetzungen zwischen der Volksrepublik China und den albanischen Kommunisten gekommen war, stellte China seine Hilfen für Albanien ein. Die KPD / ML in der Bundesrepublik vollzog die albanische Linie nach und stellte Mao Tsetung als „bürgerlichen Liberalen“ hin.10 Ein zweites konstitutives Element der K-Gruppen in der Bundesrepublik, so auch der hier untersuchten KPD / ML, war der Stalin-Kult. Hervorgehoben wurden Stalins „Leistungen“ bei der Niederringung des Deutschen Reiches und seine angebliche Kenntnis der Werke Karl Marx’ und Wladimir I. Lenins. Diese Mischung führte zu waghalsigen deutschlandpolitischen Thesen der Kleinpartei, die sich in dieser Form sonst kaum in der westdeutschen Linken finden ließen. In der KPD / ML-Lesart wurde beispielsweise der Arbeiteraufstand von 1953 in der DDR als ein Aufstand der Werktätigen gegen die Abweichungen der SED-Führung von der Linie Stalins gedeutet.11 8 Vgl.
Kühn, „Neue Revisionisten und Sozialimperialisten“, S. 74–75. ebd., S. 79. 10 Vgl. Bacia, Die Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten, S. 1842. 11 Vgl. Kühn, „Neue Revisionisten und Sozialimperialisten“, S. 81; Die von der KPD / ML vertretenen deutschlandpolitischen Thesen eines sozialistischen Gesamtdeutschland waren im linken Spektrum der Bundesrepublik nahezu solitär. Siehe zu den deutschlandpolitischen Standorten der K-Gruppen und ihrer Stellung im linken Lager der Bundesrepublik insbesondere Gallus, Die Neutralisten, S. 334–337, hier S. 335. Zur Deutschlandpolitik der KPD / ML siehe auch Haarmann, Die Gesamtdeutschen, S. 52–54. 9 Vgl.
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
Warum ist die nun folgende Analyse der deutschlandpolitischen Positionen der KPD / ML angebracht? Andreas Kühn verortet die KPD / ML während der 1970er Jahre als „eine feste Größe im Biotop der ‚Neuen Linken‘ “.12 Obwohl die Partei in ihren besten Zeiten, etwa Mitte der 1970er Jahre, maximal 800 Mitglieder umfasste13 und die Wahlergebnisse bei den Bundestagswahlen 1980 im Null-Prozent-Bereich lagen14, lässt die Identifikation der KPD / ML als „feste[r] Größe“ (Andreas Kühn) im Bereich der Neuen Linken sowie eine bewusst nationale Haltung in der Deutschlandfrage eine nähere Beschäftigung lohnenswert erscheinen. Ebenfalls zu berücksichtigen bei der Auswahl der KPD / ML als Untersuchungsgegenstand ist die Tatsache, dass sich 1981 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz vier Bundesbürger, die allesamt Mitglieder der KPD / ML waren, anketteten, um damit auf das Schicksal ihrer Genossen in der DDR aufmerksam zu machen, die wenige Tage zuvor vom MfS verhaftet worden waren. Das mediale Echo in der Bundesrepublik war beachtlich.15 b) Die nationale Programmatik Bereits in ihrer „Erklärung zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML)“16 machte die Partei mit dem „USA-Imperialismus“ und dem „Sowjetrevisionismus“ die zwei Hauptfeinde des „internationale[n] Proletariat[s]“ aus, zu denen sich auch die Mitglieder der KPD / ML zählten.17 Bezogen auf die deutsche Lage führte dies zu der Einschätzung, dass sich Westdeutschland im Griff eben jenes „US-Imperialismus“, die DDR hingegen sich im Griff des „Sowjetrevisio12 Kühn, 13 Vgl.
„Neue Revisionisten und Sozialimperialisten“, S. 89. Bacia, Die Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten,
S. 1848. 14 Das Wahlergebnis im Bund lag 1980 bei 0,1 Prozent. Bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen erreichte die Partei 1974 0,3 Prozent und 1978 0,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Das Ergebnis der Landtagswahl 1975 in Nordrhein-Westfalen lag für die KPD / ML bei 0,0 Prozent. Vgl. Bacia, Die Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten, S. 1846. 15 Vgl. Wunschik, Die maoistische KPD / ML, S. 3. 16 Erklärung zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML), in: Roter Morgen, 3. Jg., Dez. 68 / Jan. 69. Zur Gründung der KPD / ML siehe auch Peter Probst, Frontstellung gegen SED und DKP, in: Der Tagesspiegel vom 9. Januar 1969; Karsten Plog, Kommunisten kritisieren neue MaoPartei, in: Die Welt vom 3. Januar 1969; Helmut Rieber, Maoisten stehlen ReimannAnhängern den Namen, in: Frankfurter Rundschau vom 13. November 1968; „Verdammt hart“, in: Der Spiegel vom 16. September 1968, S. 93. 17 Vgl. Erklärung zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten.
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nismus“ befinde. Eben jenen beiden vorgeblich schädlichen Kräften für Deutschland den Kampf anzusagen, darin sah die KPD / ML ihre Existenzberechtigung. Schon im Gründungsdokument kritisierte die Partei die SEDFührung deutlich als „Führungsclique“, die „Bürokratisierung“ und eine „Förderung bürgerlichen Denkens“ betreibe, entgegen den „nationalen Interessen der deutschen Arbeiterklasse“, als deren Vertreter sich die KPD / ML in Ost und West verstand.18 Sowohl der Bundesregierung als auch der DDR-Regierung wurde daher das Recht abgesprochen, im deutschen Namen zu sprechen und zu handeln. Das Gründungsdokument der neuen Kleinpartei schloss daher auch folgerichtig mit der Forderung: „Kämpfen wir für ein einheitliches sozialistisches Deutschland!“19 Bereits in der ersten Ausgabe ihres Theorie-Organs „Der Weg der Partei“ befasste sich die KPD / ML unter dem Titel „Deutschland dem deutschen Volk!“20 mit der nationalen Frage im geteilten Deutschland. Die in dem Heft abgedruckte Erklärung vom Dezember 1973 kritisierte die „willkürlich herbeigeführte Teilung Deutschlands in zwei Staaten einer Nation“21. Verantwortlich gemacht für diesen Zustand wurde die „Besetzung“ Deutschlands durch NATO- und Sowjettruppen. Der Kampf der beiden Supermächte USA und UdSSR führte nach Analyse der KPD / ML-Strategen dazu, dass diese nichts mehr als ein sozialistisches Gesamtdeutschland fürchten würden, da dieses ihre Hegemonialpläne zunichtemachen würde.22 Obwohl die Entwicklung der DDR bis zur „Aufteilung der Welt“ zwischen Chruschtschow und dem „USA-Imperialismus“ 1956 positiv beurteilt wurde23, ließ man seither kein gutes Haar an der SED-Führung. Die durch die SED-Führung propagierte Entstehung einer sozialistischen Nation in der DDR wurde als Oktroij aus Moskau gedeutet und dementsprechend abgelehnt. Gleichwohl mutmaßte man in der KPD / ML, dass bei einer Kursänderung der KPdSU eine erneute Beschäftigung der SED mit der nationalen Frage zu erwarten sei.24 Hinsichtlich der Fortexistenz der deutschen Nation während ihrer Teilung in zwei Staaten führte der KPD / ML-Beschluss Folgendes aus: „Wer heute davon spricht, daß die deutsche Nation nicht mehr existiert, daß es heute zwei deutsche Nationen gibt, unterschätzt die Stabilität der Nation. Auch 25 Jahre nach der Teilung sprechen die Deutschen in Ost und West noch immer 18 Vgl.
19 Ebd.
ebd.
20 Zentralkomitee der KPD / ML, Deutschland dem deutschen Volk! Erklärung des ZK der KPD / ML zur nationalen Frage, in: Der Weg der Partei, Nr. 1, Februar 1974. 21 Ebd, S. 3. 22 Vgl. ebd., S. 3–4. 23 Vgl. ebd., S. 6. 24 Vgl. ebd., S. 7.
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dieselbe Sprache, nämlich die deutsche. Dasselbe gilt für das zweite Merkmal, die Gemeinschaft des Territoriums. Dadurch, dass man gewaltsam eine Grenze mitten durch Deutschland gezogen hat, hat sich nichts daran geändert, daß das deutsche Volk auf einem kompakten Territorium im Zentrum Europas lebt.“25
Im Fettdruck führte das Papier weiter aus: „Die Geschichte hat bewiesen, daß Nationen nicht so rasch verschwinden.“26 Politisches Ziel der KPD / ML war von daher ein vereintes, sozialistisches Gesamtdeutschland, das von der Arbeiterklasse und einer kommunistischen Partei (wohl der KPD / ML) geführt würde.27 Allerdings würde es zu einem einigen Deutschland nur dann kommen, wenn zuvor der „Abzug aller fremden Truppen aus Deutschland“, verbunden mit dem Austritt der Bundesrepublik aus der NATO bzw. der DDR aus dem Warschauer Pakt, erfolgt wäre.28 Im Juli 1976 beschloss die Parteiführung der KPD / ML eine „Grundsatzerklärung“ mit dem Titel „Für ein vereintes, unabhängiges, sozialistisches Deutschland“29. Grundtenor auch dieser Schrift aus den Federn der KPD / ML-Kader war die Klage über eine Verhinderung der nationalen Einheit Deutschlands durch die USA bzw. durch die Sowjetunion. So wurde im Falle einer militärischen Auseinandersetzung vor einem „atomaren Schlachtfeld“ in Deutschland gewarnt30, ein Topos, der auch später in der neuen Friedensbewegung und bei den Grünen eine Rolle spielen sollte. Die 16-seitige Broschüre endete mit einem politischem Rundumschlag, der die Forderung des Abzugs aller fremden Truppen aus Deutschland, den Austritt der Bundesrepublik und der DDR aus der NATO bzw. aus dem Warschauer Pakt, das Ende des Besatzungsstatus von Gesamt-Berlin und der Bundesrepublik sowie die Zusicherung einer Unterstützung der Befreiungsbewegungen Asiens und Afrikas enthielt.31 25 Ebd.,
S. 14. S. 15. Im Original ist der gesamte Satz hervorgehoben. 27 Vgl. ebd., S. 32. Dabei tauchte in dem Programm auch mehrfach der Begriff „Wiedervereinigung“ auf, so beispielsweise auf den S. 32 und 33. Die Verwendung dieses Begriffs scheint wegen seiner bereits mehrfach angesprochenen Verpöntheit – insbesondere auf der westdeutschen Linken der 1970er und 1980er Jahre – bemerkenswert. 28 Vgl. ebd., S. 43. Dass die deutsche Einheit nicht auf Verhandlungen und Wahlen beruhen würde, sondern auf dem Wege eines grundgesetzwidrigen „revolutionären Kampf[es]“, wie auf S. 43 der Broschüre ebenfalls postuliert, zeigt allerdings einen deutlichen Unterschied zu späteren Modellen des grün-alternativen Spektrums in den 1980er Jahren. Beide Forderungen tauchen später im grünen Spektrum wieder auf. 29 Zentralkomitee der KPD / ML, Grundsatzerklärung der KPD / ML. Für ein vereintes, unabhängiges, sozialistisches Deutschland, o. O. und o. J. [1976]. 30 Vgl. ebd., S. 2. 31 Vgl. ebd., S. 16. 26 Ebd.,
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Die K-Gruppe hatte aber deutschlandpolitisch noch einiges mehr zu bieten. In ihrem rund 300 Seiten umfassenden Parteiprogramm aus dem Jahr 1977 widmete die KPD / ML fast die Hälfte der Deutschen Frage. Ausgehend von der „Entwicklung Deutschlands vor dem zweiten Weltkrieg“, der „Entwicklung Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg“ und einer Analyse der „gegenwärtige[n] Lage in Deutschland“, wurde die „Notwendigkeit der gewaltsamen sozialistischen Revolution“ gefordert.32 Ein Unterkapitel zur Lageanalyse des geteilten Deutschlands widmete sich dann der These „Die deutsche Nation existiert“. Hier stellte man die Spaltung der deutschen Nation in „zwei imperialistische Staaten“ fest. DDR und Bundesrepublik wurden als „Vasallen“ ihrer jeweiligen Vormächte und somit als Opfer des Imperialismus klassifiziert. Dieser Imperialismus halte die deutsche Spaltung gewaltsam aufrecht und verweigere somit den Deutschen „das nationale Selbstbestimmungsrecht“ respektive das Zusammenleben in einem „unabhängigen, deutschen Nationalstaat.“33 Stramm linksnational und an Stalin angelehnt wurde weiter argumentiert: „Die Spaltung durch den Imperialismus aber konnte die Existenz der deutschen Nation nicht auslöschen und wird es nicht können. Die deutsche Nation existiert als eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der in der gemeinsamen Kultur offenbar werdenden psychischen Wesensart, des Nationalcharakters. […] Dadurch, daß der Imperialismus gewaltsam eine Grenze mitten durch Deutschland gezogen hat, hat sich nichts daran geändert, daß die Deutschen in Ost und West eine gemeinsame Sprache sprechen, daß sie durch eine gemeinsame Kultur, die Ausdruck des deutschen Nationalcharakters ist, verbunden sind, daß das deutsche Territorium, also das Gebiet der DBR [offenbar Deutsche Bundesrepublik; L. H.], Westberlins und der DDR, die gemeinsame Heimat des deutschen Volkes ist. […] Das deutsche Volk wünscht die Einheit und Unabhängigkeit Deutschlands.“34
Eine Wiedervereinigung, die Lösung der nationalen Frage also, so wurde im Programm geschlussfolgert, könne es letztlich nur unter der Führung der einigen deutschen Arbeiterklasse im Verbund mit einer sozialistischen Revolution geben.35 Im Rahmen einer „nationalen Front“ – damit war der 32 Inhaltsverzeichnis, in: Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten. Beschlossen vom III. ordentlichen Parteitag der KPD / ML, Dortmund 1977, o. S. 33 Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten. Beschlossen vom III. ordentlichen Parteitag der KPD / ML, Dortmund 1977, S. 200. 34 Ebd., S. 200–201 und J. W. Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: ders., Werke, Bd. 2, 1907–1913, Berlin (Ost) 1953, S. 266–333, hier S. 272. 35 Vgl. Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten. Beschlossen vom III. ordentlichen Parteitag der KPD / ML, Dortmund 1977, S. 202.
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Zusammenschluss „aller werktätigen, patriotischen Deutschen“ gemeint – forderte die KPD / ML den Abzug der „Besatzertruppen“ von deutschem Boden. Zudem insistierte sie – wie später die Aktivisten der Linken Deutschland-Diskussion und der AG Berlin- und Deutschlandpolitik – auf dem Austritt der Bundesrepublik und der DDR aus der NATO und dem Warschauer Pakt. Außerdem wandte sie sich gegen eine „Unterdrückung“ der Deutschen auf wirtschaftlichem, kulturellem und politischem Gebiet.36 Eine „militärische Eroberung“ der DDR und die Infragestellung der OderNeiße-Grenze kamen aber für die westdeutschen Marxisten-Leninisten auf keinen Fall in Frage, da diese für sie unannehmbare „revanchistische Ziele des westdeutschen Imperialismus“ darstellten.37 Die nationale Linie traf in der Partei aber nicht nur auf Zustimmung. Eine Gruppe, die sich Liebknecht-Vereinigung nannte, spaltete sich Mitte der 1970er Jahre von der Partei ab und veröffentlichte im Jahre 1977 eine Kritik des neuen KPD / ML-Parteiprogramms unter dem sinnbildlichen Titel „Deutschland – ein Spießermärchen“38. Dort stellten sie die Programmatik der Gruppe in guter marxistischer Tradition quasi „vom Kopf auf die Füße“, näherten sich dem vorherrschenden deutschlandpolitischen Mainstream auf der Linken an. Hinsichtlich der nationalen Problematik warfen die Renegaten der Partei eine unerhörte Annäherung an die „Bourgeoisie“ vor, da sie sich doch durch einige Aussagen des Programms stark an die Präambel des Grundgesetzes erinnert fühlten.39 Die Kritik bezog sich dabei primär auf die folgende Aussage der KPD / ML: „Niemand kann das deutsche Volk daran hindern, in freier Selbstbestimmung den Weg zur Wiederherstellung seiner nationalen Einheit zu beschreiten.“40 Auch eine mögliche Wiedervereinigung war für die abtrünnigen Genossen keine Option mehr. Die DDR, so wurde argumentiert, sei zwar das Ergebnis einer illegalen Spaltung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die nationale Frage sei demnach keine gegenwärtige mehr. Die DDR existiere nun schon 30 Jahre und dieses Faktum sei daher „kein Unrecht gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik.“41 Zurück zur KPD / ML.42 Zu Beginn der 1980er Jahre verlegte die Partei ihr Hauptinteresse hin zur westdeutschen Friedensbewegung, die ihr nun 36 Vgl.
ebd., S. 254. ebd., S. 255. 38 Liebknecht-Vereinigung, Deutschland – ein Spießermärchen. Zur Kritik des Programms bzw. der politischen Linie der KPD / ML, Berlin 1977. 39 Vgl. ebd., S. 37. 40 Deutschland dem deutschen Volk! Erklärung des ZK der KPD / ML zur na tionalen Frage, in: Der Weg der Partei, Nr. 1, Februar 1974, S. 42. 41 Liebknecht-Vereinigung, Deutschland – ein Spießermärchen, S. 41. 42 Im März 1980 nannte sich die KPD / ML in „Kommunistische Partei Deutschlands (Marxisten-Leninisten)“ um. Sie übernahm nach Auflösung der früher haupt37 Vgl.
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als Transmissionsriemen für ihre nationale Programmatik dienen sollte. 1980 entwarf die Partei einen „Friedensplan der KPD“, eine Ansammlung bekannter Thesen zur Deutschen Frage, um ein „Schlachtfeld Deutschland“ zu verhindern: Neben dem alliierten Truppenabzug, den Austritten aus NATO und Warschauer Pakt, dem Verbot der Stationierung von Massenvernichtungswaffen auf den Territorien beider deutscher Staaten wurde gefordert, dass Bundesrepublik und DDR jeweils ihre Neutralität erklären. Für West-Berlin sah das Papier den Status einer „Freien-Stadt-West-Berlin“ vor. Beide deutsche Staaten sollten dann einander „staatlich“ anerkennen und einen „Freundschafts- und Nichtangriffspakt“ schließen, um im Rahmen einer Konföderation gesamtdeutsch und paritätisch besetzte Gremien, z. B. für Abrüstungsfragen, den Kulturaustausch und den innerdeutschen Handel, einzurichten.43 Würde nicht eine neutrale Bundesrepublik von der Sowjetunion überfallen werden? Dieser Frage widmete sich die Partei ebenfalls im Zusammenhang mit ihrem „Friedensplan“. Die Antwort auf diese Frage lautete kurz und bündig „nein“. So wurde auf das Beispiel Österreichs verwiesen, das auch schon lange als neutraler Staat Grenzen zu Staaten habe, die dem Warschauer Pakt angehören. Zudem sollte die Bundesrepublik mit anderen mitteleuropäischen Staaten einen neutralen Gürtel bilden, der dann zum „Auseinanderrücken der Blöcke“ beitragen würde.44 Gleichwohl bekannte die Partei: „Neutralität löst natürlich nicht alle Probleme.“45 Die Neutralitätsforderung diente der Partei als erster Schritt hin zu einer Beseitigung der Gefährdung des Friedens in Mitteleuropa, verbunden mit dem Wunsch nach „Schwächung“ des „USA-Imperialismus“. Der zweite Schritt wäre dann die Bildung einer überparteilichen Friedensbewegung. Die Bundesrepublik wäre nach dieser Definition aber immer noch ein „kapitalistischer Staat“, wie man freimütig bekannte. Mit dem Vehikel der Friedensbewegung als „Massenbewegung“ wurden Hoffnungen verknüpft, in einem weiteren – dritten – Schritt den Sozialismus in Deutschland zu verwirklichen.46 Wie sahen die Reaktionen auf den „Friedensplan“ aus? Beispielsweise äußerte sich der Schriftsteller und Friedensaktivist Heinrich Schirmbeck, später in der Linken Deutschland-Diskussion um Rolf Stolz aktiv, enthu siastisch in einer Ausgabe der Parteizeitung „Roter Morgen“ über dieses Papier: „Der ‚Friedensplan der KPD‘ findet meine uneingeschränkte Zusächlich in Berlin tätigen K-Gruppe KPD den nun wieder den frei gewordenen traditionsreichen Parteinamen. Vgl. Langguth, Protestbewegung, S. 66 und S. 77–78. 43 Vgl. Friedensplan der KPD, in: Roter Morgen vom 1. August 1980. 44 Vgl. ebd. 45 „Neutralität und dann?“, in: Roter Morgen vom 9. Oktober 1981. 46 Vgl. ebd.
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stimmung und Unterstützung.“47 Besonders die Forderungen nach Truppenabzug und Bündnisfreiheit seien, so Schirmbeck, mit den Forderungen der Friedensbewegung kompatibel48; auch hier war die Zielrichtung der Partei, die um ihr politisches Überleben kämpfte, also unmissverständlich formuliert worden. Ihrer anti-sowjetischen Linie blieb die KPD treu, als sie anlässlich des Breschnew-Besuches in der Bundesrepublik im November 1981 die Parole „Für den Frieden – gegen Breschnew“ ausgab. Erneut forderte die Partei, die Deutschen mögen sich in Friedensangelegenheiten nicht auf ihre jeweiligen Bündnispartner verlassen49, sondern sollten, das wurde hiermit intendiert, ihre Sache nun endlich aktiv selbst in die Hände nehmen. Nicht nur in ihren Programmen beschäftige sich die KPD / ML mit der Deutschlandpolitik. Ebenfalls lassen sich im Parteiorgan „Roter Morgen“ in den 1970er bis zum Beginn der 1980er Jahre zahllose Artikel ausmachen, die eine intensive deutschlandpolitische Debatte der K-Gruppe in Teilungsfragen dokumentieren. So urteilte das Parteiblatt anlässlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik: „Bonn und Moskau verschachern die Interessen des deutschen Volkes“50. In der Lesart der Genossen bedeuteten die Unterschriften unter das Abkommen den „Angriff auf das grundlegende Interesse der deutschen Arbeiterklasse: Die soziale und nationale Befreiung Deutschlands.“51 Ins gleiche anti-sowjetische Horn blies man anlässlich des Berlin-Abkommens 1971: „Der Kreml verkauft die Souveränität der DDR“52. Auch die rhetorische Frage anlässlich der Unterzeichung des Grundlagenvertrages 1972 („Gibt es zwei Deutschland?“) konnte von der KPD / ML nur negativ beantwortet werden. Neben der Befürchtung einer „Einverleibung der DDR“53 durch die Bundesrepublik verwarfen die West-Genossen auch Erich Honeckers „Zwei-Nationen-Theorie“. Demnach enthalte die Analyse des SED-Generalsekretärs zwei Fehleinschätzungen: Zum einen sei die DDR gegenwärtig gar nicht mehr sozialistisch und zum anderen gebe es zwar zwei deutsche Staaten, aber nur eine deutsche Nation.54 Starke Worte der Kritik in Richtung Ost-Berlin also. Ein weiterer 47 Heinrich Schirmbeck, Meine Stellungnahme zum Friedensplan der KPD, in: Roter Morgen vom 19. September 1980. 48 Vgl. ebd. 49 „Für den Frieden – gegen Breschnew“, in: Roter Morgen vom 20. November 1981. 50 „Bonn und Moskau verschachern die Interessen des deutschen Volkes“, in: Roter Morgen 8 / 1970. 51 Ebd. 52 „Der Kreml verkauft die Souveränität der DDR“, in: Roter Morgen vom 13. September 1971. 53 „Gibt es zwei Deutschland?“, in: Roter Morgen vom 14. August 1972. 54 Vgl. ebd.
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„rhetorischer Höhepunkt“ der anti-sowjetischen Politik der Partei war später die Bezeichnung des sowjetischen Staats- und Parteichefs Leonid Breschnew als „Ein Diktator wie Hitler!“55. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundlagenvertrag bewertete die Partei als wenig hilfreich für das Ziel der Arbeiterklasse, eines Tages die Macht in einem sozialistischen Gesamtdeutschland zu übernehmen. Eine „Wiedervereinigung Deutschlands unter dem Diktat der westdeutschen Imperialisten“56 wurde von den Genossen strikt abgelehnt. Die Entspannungspolitik der vergangenen Jahre sei nichts als eine leere Worthülse, denn in Wirklichkeit sei es darum gegangen, die DDR „Heim ins Reich“ zu holen. Zudem sei die Souveränität der DDR-Arbeiterklasse nicht nur in diesem Falle nichts weiter als ein „Betrug“.57 Auch die Änderung der DDR-Verfassung von 1974 konnte nicht auf Zustimmung der KPD / ML-Aktivisten stoßen. Sie wurde im „Roten Morgen“ als „Verrat der neuen Bourgeoisie“, namentlich der SED-Genossen, charakterisiert. Die DDR wurde auch als „faschistische Diktatur“ bezeichnet58; alle diese aus Sicht der Partei unerfreulichen Vorgänge wussten die westdeutschen Marxisten-Leninisten zu diesem Zeitpunkt nur in einem ideologischen Wettstreit mit den Ost-Berliner Machthabern zu kontern: „Der Marxismus-Leninismus kennt keinen Widerspruch zwischen sozialen und nationalen Interessen des Volkes.“59 Regelmäßig wurde anlässlich der Wiederkehr des Jahrestages des Mauerbaus am 13. August im „Roten Morgen“ verkündet: „Die Mauer muss weg!“, so auch in der Ausgabe vom 10. August 1974.60 Für die Aktivisten der KPD / ML war die Mauer kein „antifaschistischer Schutzwall“, wie die SED-offizielle Sprachregelung verfälschend darlegte, sondern ganz klar ein „Dokument der Schande“61. Als sich die SED im Jahre 1974 eine neue 55 „Breshnew kommt! Ein Diktator wie Hitler“, in: Roter Morgen vom 12. Mai 1973. 56 „Bundesverfassungsgericht zum Grundvertrag: Heim ins Reich?“, in: Roter Morgen vom 11. August 1973. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. „Verräter der Nation. Vasallen Moskaus!“, in: Roter Morgen vom 5. Oktober 1974. 59 Ebd. 60 „Die Mauer muss weg! Deutschland dem deutschen Volk!“, in: Roter Morgen vom 10. August 1974. 61 Vgl. „Für ein vereintes, unabhängiges, sozialistisches Deutschland!“, in: Roter Morgen vom 10. August 1974. Zum 13. August 1975 führte die KPD / ML eine Demonstration in West-Berlin gegen die Mauer durch, an der sich nach eigenen Angaben immerhin 150 Personen beteiligten. Vgl. „Weg mit der Mauer!“, in: Roter Morgen vom 23. August 1975.
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Verfassung und die Theorie einer „sozialistischen Nation“ konstruiert hatte, folgte 1976 eine Änderung des Parteiprogramms. Auch hier griff die KPD / ML Überlegungen aus dem SED-Parteiapparat auf, den Namen der Partei zu ändern, also auch aus dem Parteinamen den Deutschlandbezug zu streichen. Dass die SED jedoch diesen Schritt letztlich nicht vollzog, verurteilte die KPD / ML als „Täuschung“, da jene eben keine nationale Politik für die deutsche Einheit mehr betreibe, wie noch vermeintlich in den 1940er und 1950er Jahren.62 Gegen Ende der 1970er Jahre wurde die Dichte der Artikel mit Deutschlandbezug im „Roten Morgen“ dünner. Zudem wurden innerparteiliche Krisensymptome sichtbar. Auf dem „IV. Ordentlichen Parteitag“ 1978, der den zehnten Jahrestag der Gründung der KPD / ML zelebrierte, hielt man aber an der Forderung eines sozialistischen Gesamtdeutschland fest. Zudem wollte man das „ideologische Niveau“ der Partei erhöhen und das „linke Sektierertum“ überwinden; den „individuellen Terrorismus“ der „kleinbürgerlichen“ RAF lehnte man als „konterrevolutionär“ ab.63 In den Jahren 1980 und 1981 versuchte sich die Partei, wie bereits erwähnt, der neuen Friedensbewegung anzudienen, als sie die Parolen „Deutschland darf kein Schlachtfeld werden!“64 oder „Für den Frieden – gegen Breschnew“65 verkündete. Mit ihrer vergeblichen Anlehnung an die Friedensbewegung bei gleichzeitiger Abgrenzung von der im Entstehen befindlichen neuen grünen Partei isolierte sich die KPD / ML Anfang der 1980er Jahre zusehends im linken Spektrum. Nennenswerte spätere Mitgliedschaften ehemaliger Genossen bei den Grünen gab es nicht66, was den 62 Vgl. „Der Name ist nichts als Täuschung“, in: Roter Morgen vom 13. März 1976. 63 Vgl. das Kommuniqué des Zentralkomitees der KPD / ML, Erfolgreicher Abschluß des IV. Ordentlichen Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten, in: Roter Morgen vom 5. Januar 1979. Eine politische Zusammenarbeit mit den im Entstehen begriffenen Grünen wurde vom Vorsitzenden der KPD / ML im Jahre 1979 noch ausgeschlossen, nicht aber die Besetzung von grünen Themen, wie dem Widerstand gegen den Bau des Kernkraftwerkes Brokdorf. Vgl. dazu Ernst Aust, Der nächste Bündnispartner des Proletariats, in: Roter Morgen vom 13. Juli 1979. 64 „Deutschland darf kein Schlachtfeld werden!“, in: Roter Morgen vom 16. Mai 1980. 65 „Für den Frieden – gegen Breschnew“, in: Roter Morgen vom 20. November 1981. 66 Vgl. Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne, S. 279–281. Zum Ende der KPD / ML vgl. auch den Bericht eines Aktivisten der Partei: Alexander von Plato, Einige Thesen zur Vergangenheit, Gegenwart und Perspektive unserer Organisation, in: Zentralkomitee der KPD (Hrsg.), Zur Bilanz und Perspektive der KPD, Köln 1980, S. 101–125. Die KPD / Aufbauorganisation, eine auf das Berliner Gebiet konzentrier-
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Wert der Partei als Ideenträger linksnationalen Gedankenguts für die frühen Grünen nicht schmälert.67 1986 schließlich mussten die Reste der Partei mit der Gruppe Internationaler Marxisten (GIM) zur Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) fusionieren. Von Vereinigung war jetzt nur noch in Bezug auf die fusionierte Partei die Rede.68 Das Betätigungsfeld der neuen Partei VSP sollte sich jetzt von nun an ausschließlich auf das Gebiet der Bundesrepublik beschränken.69 2. Die „Sektion DDR“ Der Fokus der KPD / ML war aber nicht nur auf die Bundesrepublik und West-Berlin gerichtet. Vielmehr konnte ihr Parteiorgan „Roter Morgen“ am 7. Februar 1976 die Gründung der „Sektion DDR“ vermelden. Die Bildung der Parteigruppe in der DDR war demnach um die Jahreswende 1975 / 76 erfolgt, um nun endlich auch auf dem Boden der DDR im Verbund mit den West-Genossen für ein sozialistisches Gesamtdeutschland zu kämpfen.70 Voraussetzung hierfür war nach Ansicht der Partei eine sozialistische Revolution in beiden deutschen Staaten. Das Hauptaugenmerk des vereinten Kampfes in Ost und West lag demnach in der Beseitigung des „US-Imperia lismus“ und des sowjetischen „Sozialimperialismus“.71 In der DDR verteilten Aktivisten der Partei diverse Flugblätter und bemalten öffentliche Gebäude mit politischen Parolen. Ebenso entstand eine DDRAusgabe des Parteiorgans „Roter Morgen“ auf Dünndruckpapier, die zum Teil offenbar sogar in der DDR selbst gedruckt wurde.72 Nach einem Jahr te K-Gruppe, spielte bei der Gründung der Berliner Alternativen Liste hingegen eine „gewisse“ Rolle. Deutschlandpolitisch exponierte Mitglieder wie Wolfgang Kaiser, Wolfgang Schenk und Uwe Tietz wechselten später zur AL. Siehe dazu Gallus, Die Neutralisten, S. 336. 67 Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Kurzmitgliedschaft von Rolf Stolz, dem späteren Initiator der Linken Deutschland-Diskussion, in der KPD / ML. Vgl. dazu Rolf Stolz, 1967 bis heute: Blicke zurück auf eigene Bewegungen, in: ClausM. Wolfschlag (Hrsg.), Bye-Bye ’68 … Renegaten der Linken, APO-Abweichler und allerlei Querdenker berichten, Graz u. a. 1998, S. 209–220, hier S. 211–212. 68 Vgl. Horst Dieter Koch, Nachlese zum Vereinigungskongreß, in: Roter Morgen / Was tun vom 17. Oktober 1986. 69 Vgl. Wunschik, Die maoistische KPD / ML und die Zerschlagung, S. 32. 70 KPD / ML in der DDR gegründet. Gründungserklärung der Sektion DDR der KPD / ML, in: Roter Morgen vom 7. Februar 1976. 71 Vgl. ebd. In dieselbe Richtung zielte auch die Rede von Ernst Aust auf der Großveranstaltung der KPD / ML in Dortmund zur Gründung der „Sektion DDR“, in: Roter Morgen vom 20. März 1976. 72 Vgl. zur „Sektion DDR“ die apologetische Darstellung eines ehemaligen Beteiligten: Herbert Polifka, Die unbekannte Opposition in der DDR. Zur Geschich-
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politischer Arbeit in der Illegalität konnte die „Sektion DDR“ eine gefestigte Organisationsstruktur vorweisen. Trotz der Verteilung von Flugblättern und der Parteizeitung „Roter Morgen“ bekamen die Genossen von Seiten der SED zunächst keine Konsequenzen zu spüren. Dennoch fragte man sich, ob angesichts der massiven Stärke des Sicherheitsapparates in der DDR überhaupt eine oppositionelle politische Tätigkeit dauerhaft möglich sei.73 Neben der Verurteilung der SED-Führung, die sich in „Karrierismus“ und „Bürokratismus“ erschöpft habe, erschienen in der DDR-Ausgabe des „Roten Morgen“ immer wieder Kommentare und Berichte über das Alltagsleben und die -probleme in der DDR. So mokierte sich der unbekannte Verfasser in einem Artikel aus dem Jahre 1977 über die schlechte Versorgungslage in der DDR. Konkret wurde der Ersatz für echten Bohnenkaffee kritisiert, der im Volksmund anstelle unter dem Label „Erichs Krönung“ kursierte, oder es wurde über minderwertiges Kantinenessen in Ost-Berlin berichtet, wo Arbeiter offenbar mit Gulasch aus Würstchen „abgespeist“ wurden.74 Neben dem „Roten Morgen“ wurden in der DDR, wie bereits erwähnt, auch hektographierte Flugblätter, sowie eine hektographierte Sammelflugblattreihe mit dem Titel „Der rote Stachel“ gedruckt und verteilt. Welche Themen wurden in den Papieren behandelt? Die Flugblätter setzten sich u. a. mit der Berliner Mauer auseinander („Weg mit der Mauer!“) oder befassten sich kritisch mit Normerhöhungen in DDR-Betrieben.75 Im „Roten te der illegalen Sektion DDR der Kommunistischen Partei Deutschlands, Köln 2005, S. 9. Siehe auch Wunschik, Die maoistische KPD / ML und die Zerschlagung ihrer „Sektion DDR“, S. 11. Die Aufmacher des „Roten Morgen, Ausgabe DDR“ umfassten überwiegend Kommentare zum Alltagsleben im real existierenden Sozialismus der DDR (siehe beispielsweise „Die Westmark zur zweiten Währung gemacht“, in: Roter Morgen, Ausgabe DDR, Januar 1978, in: Archiv für alternatives Schrifttum, Duisburg). 73 Vgl. „Vor einem Jahr: KPD / ML in der DDR gegründet“, in: Roter Morgen, Ausgabe DDR, o. D. [ca. Frühjahr 1977], in: Archiv für alternatives Schrifttum, Duisburg: Ordner KPD / ML, künftig zitiert als AfaS, Ordner KPD / ML. 74 Vgl. „Erichs Krönung“, in: Roter Morgen, Ausgabe DDR, Oktober 1977, in: AfAS, Ordner KPD / ML. Siehe auch den kritischen Bericht „Wohnungselend für die Werktätigen“ über Honeckers Wohnungsbauprogramm, das einen Abriss gut erhaltener Altbausubstanz forderte, in: ebd. Siehe ebenfalls die Broschüre der „Sektion DDR“ der KPD / ML zum 30. Jahrestag der DDR-Gründung: Aufgebot DDR 30. „Mit revolutionären Taten für eine bessere Zukunft!“, o. O. u. o. J. [1979], in: AfAS, Ordner KPD / ML. In diesem Heft erschienen u. a. Alltagsberichte über den Wehrkundeunterricht und über die Ausnutzung von Praktikanten in Betrieben. Eine weitere Broschüre mit gesammelten Berichten aus der DDR-Ausgabe des „Roten Morgen“ informierte die West-Genossen über das Leben in der DDR: O. V., Die unbekannte Opposition in der DDR. Kommunistische Arbeiter gegen das Honecker-Regime, Dortmund 1980. 75 Vgl. Flugblatt der KPD / ML, Sektion DDR, „Weg mit der Mauer!“, o. D. [ca. August 1976], in: BStU, ZA, MfS – OTS Nr. 2673, Bl. 004–005; Flugblatt der
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Stachel“ vom Oktober 1979 beispielsweise, der sich mit „Anspruch und Wirklichkeit“ nach 30 Jahren DDR auseinandersetzte, wurde der zweite deutsche Staat als „Polizeistaat“ charakterisiert, „in dem die Werktätigen eingesperrt sind“.76 In einer weiteren Ausgabe huldigte man dem sowjetischen Diktator Stalin als „unbeugsame[n] Kämpfer für die Sache der Arbeiterklasse“.77 Wie ist die Stellung der „Sektion DDR“ im Spektrum der DDR-Opposition einzuschätzen? Innerhalb der marxistischen Opposition in der DDR während der 1970er Jahre wird der KPD / ML von Ehrhart Neubert nur eine randständige Position eingeräumt. Die politischen Forderungen Robert Havemanns und Wolf Biermanns nach Verwirklichung der Menschenrechte bzw. nach Schaffung einer „sozialistischen Demokratie“ in der DDR seien für das angesprochene Spektrum vorherrschend geblieben; als relevante Kritik am DDR-Realsozialismus aus diesem Spektrum seien etwa Rudolf Bahros Thesen zu berücksichtigen.78 Gleichwohl räumt Neubert bei seiner Analyse der KPD / ML ein, dass die grenzüberschreitende Arbeit dieser Gruppe eine „besondere Art der Provokation für die SED“79 dargestellt habe. Eine Basis in der Arbeiterschaft zu finden, gelang dieser K-Gruppe in der DDR nicht; Andockpunkte waren vielmehr die Kulturopposition80 bzw. kirchliche Kreise. Erste politische Aktivitäten im Zusammenhang mit der Kulturopposition sind seit etwa 1971 nachzuweisen. Im Jahre 1976 erfolgte KPD / ML, Sektion DDR, „Intensivierung“ – was bedeutet das für uns Werktätige, in: BStU, ZA, MfS – OTS Nr. 2673, Bl. 014. Auch über den minderwertigen Kaffeeersatz wurde ein hektographiertes Flugblatt unter dem Titel „Ein unverschämter Angriff auf den Lebensstandard der Werktätigen!“ verteilt, in: BStU, ZA, MfS – OTS Nr. 2673, Bl. 017–018. 76 Der rote Stachel, 30 Jahre DDR – Anspruch und Wirklichkeit, Sonderausgabe [ca. Oktober 1979], S. 9, in: AfAS, Ordner KPD / ML. 77 Der rote Stachel, J. W. Stalin – ein unbeugsamer Kämpfer für die Sache der Arbeiterklasse, für den Sozialismus, Sonderausgabe Dezember 1979, in: AfaS, Ordner KPD / ML. 78 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2. Aufl., Bonn 2000, S. 201–202. 79 Ebd., S. 246. 80 Unter dem Begriff „Kulturopposition“, deren Blütezeit von Neubert zwischen 1971 und 1975 verortet wird, versteht man etwa Folgendes: „Die häufigste Bewegungsform der jungen kritischen Intellektuellen und Künstler, die durch die nach 1970 vorübergehend gelockerte Kulturpolitik ermuntert waren, bildeten die zahlreichen privaten Freundes- und Gesprächskreise und die eigens organisierten ‚Zirkel‘. Diese Gesprächskreise nutzten manchmal auch offizielle Einrichtungen wie FDJKlubs oder sammelten sich in Szenekneipen. […] Die spätere Bezeichnung ‚Kultur opposition‘ trifft diese Phänomene, weil ein legaler Handlungsspielraum erschlossen wurde, der allerdings schon nach wenigen Jahren wieder verstellt wurde.“ Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, S. 239.
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nach Kontaktaufnahme mit den Westgruppen dann die Gründung der „Sektion DDR“ der KPD / ML. Diese Gruppen hatten als Basis z. T. kirchliche Gruppen. Aus Westdeutschland konnte der „Rote Morgen“, die Mitgliederzeitung der KPD / ML, in die DDR eingeschleust werden. Die Zentren der illegalen Gruppen lagen in Berlin und Karl-Marx-Stadt. Neubert schätzt die Zahl der Vollmitglieder der DDR-Zellen auf etwa 100 Personen. Unterstützung erhielten die erst Anfang der 1980er Jahre vom MfS zerschlagenen Gruppen offenbar auch von der chinesischen und nordkoreanischen Botschaft, was die SED-Führung offenbar sehr verärgerte.81 Obwohl die Initiative für die Gründung der „Sektion DDR“ aus der DDR selbst kam, wurden die Genossen später direkt von „Instrukteuren“ aus dem Westen angeleitet. Wunschik schätzt die Zahl der „Instrukteure“ auf 20 Personen, die Zahl der Kuriere, mit denen Propagandamittel über die Grenze von West- nach Ostdeutschland geschmuggelt wurden, machten etwa 30 Personen aus.82 Als 1980 / 81 die „Sektion DDR“ der KPD / ML vom MfS weitgehend zerschlagen wurde, war dies dem „Spiegel“ immerhin einen zweiseitigen Bericht wert.83 So erfuhr auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit von jener stalinistischen Opposition gegen die „Revisionisten“ um Erich Honecker, die den wahren Sozialismus in der DDR verraten hatten. 3. Deutschlandpolitische Aktionen in der Bundesrepublik Die spektakuläre Gründung der „Sektion DDR“ wurde auch in der westdeutschen Presselandschaft diskutiert.84 Allerdings berichtete nur die „Frankfurter Rundschau“ ausführlich über eine Pressekonferenz der KPD / ML im „Hotel Römischer Kaiser“, das offenbar die erste Adresse Dortmunds zur damaligen Zeit war, in das Parteichef Aust die Journalisten geladen hatte. Trotzdem hatte der „Frankfurter Rundschau“-Journalist, Hartwig Suhrbier, später wenig Neues über die „Sektion DDR“ in Erfahrung bringen können, da sich Aust offenbar zu Detailfragen hinsichtlich der Gründung in weitgehendes Schweigen hüllte. Der KPD / ML-Vorsitzende berichtete von einem 81 Vgl.
ebd., S. 247–248. Wunschik, Die Zerschlagung von politischem Widerstand durch das MfS, S. 224–225. 83 „Roter Stachel“, in: Der Spiegel vom 24. August 1981, S. 35–36. 84 Siehe beispielsweise „KPD / ML gründet Sektion in der ‚DDR‘ “, in: Die Welt vom 9. Februar 1976; „KPD / ML meldet Gründung einer illegalen Sektion in der DDR“, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. Februar 1976; „Maoisten auch in der DDR“, in: Der Abend vom 11. Februar 1976; „Roter Morgen“: KPD / ML jetzt auch in der DDR, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Februar 1976. 82 Vgl.
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gut organisierten Staatssicherheitsdienst in der DDR und wollte aus eben jenem Grund wenig Detailliertes berichten.85 Im Jahre 1976 erzielte die KPD / ML einen zweiten Aufmerksamkeitserfolg in der westdeutschen Presse. So erschienen Artikel bzw. Bilder in der „Frankfurter Rundschau“86, in der „Welt“ und den „Nürnberger Nachrich ten“87, die über Parolen an der frisch gestrichenen Berliner Mauer berichteten bzw. diese zeigten. So wurden KPD / ML-Mitglieder von der West-Berliner Polizei offenbar nicht daran gehindert, an verschiedenen Stellen auf der nach Westen gerichteten Mauerseite Parolen wie „Die Mauer muss weg!“ oder „Nieder mit Breschnew, den Hitler von heute, nieder mit Honecker, nieder mit Schmidt!“ aufzutragen und diese dazu noch mit meterhohen Buchstaben mit einem KPD-Emblem zu versehen.88 Reichlich skurril mutete die Situation ein Jahr später an, als die Junge Union anlässlich des Breschnew-Besuchs in der Bundesrepublik mit Pjotr Grigorenko, einem sowjetischen Dissidenten, denselben Redner nach Hamburg einlud, der zwei Stunden später vor Publikum der KPD / ML auftrat.89 Auch dieses Ereignis hatte immerhin einen gewissen Nachrichtenwert. Der Spielraum der maoistischen Kleinparteien engte sich zunehmend auch in der Bundesrepublik ein. Im Herbst 1977 wurde über ein K-Gruppen-Verbot debattiert. Hierzu hatte der CDU-Bundesvorstand einen Beschluss gefasst. Die Gegner eines solchen Verbotes fürchteten allerdings die Aufwertung der DKP, falls es zu einem Verbot der vier wichtigsten K-Gruppen (neben der KPD / ML waren dies der Kommunistische Bund Westdeutschlands, die Kommunistische Partei Deutschlands und der Kommunistische Bund) in Westdeutschland käme. Hierdurch, so wurde argumentiert, werde die DKP indirekt in den Rang einer verfassungstreuen Partei erhoben.90 85 Vgl. Hartwig Suhrbier, Stilwidrig reichten die Maoisten den Pressevertretern Tee aus dem Aufgußbeutel, in: Frankfurter Rundschau vom 20. Februar 1976. 86 Christel Sudau, Linke Genossen verderben der DDR den Spaß an der frisch gestrichenen Mauer, in: Frankfurter Rundschau vom 30. Juli 1976. 87 Das Bild von der bemalten Mauer in Kreuzberg an der Wilhelmstrasse ist abgedruckt in der „Welt“ vom 1. Juli 1976. Eine weitere Fotografie findet sich in den „Nürnberger Nachrichten“ vom 6. Juli 1976. 88 Vgl. Sudau, Linke Genossen verderben der DDR den Spaß an der frisch gestrichenen Mauer. 89 Vgl. Karsten Plog, Gemeinsamkeiten stiftete ein ehemaliger General. Junge Union und KPD-ML demonstrierten in Hamburg mit demselben Redner gegen Breschnew, in: Frankfurter Rundschau vom 8. Mai 1978. 90 Vgl. Bruno Waltert, Wenn schon, dann alle, in: Die Welt vom 28. September 1977. Vgl. zur Verbotsdebatte auch Karl Friedrich Fromme, Ins Museum gestellt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Mai 1977.
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Im Herbst 1977, der Hochzeit des RAF-Terrors, sorgte zudem ein Fund einer DDR-Ausgabe des „Roten Morgen“ für Verwirrung. Eine acht Seiten umfassende Dünndruckausgabe wurde in Schleswig-Holstein entdeckt. Vom Verfassungsschutz wurde ihr Auftauchen als gesteigertes Selbstbewusstsein der Partei gewertet.91 Die spektakulärste Aktion gelang den Aktivisten der Partei jedoch im November 1981. Vier Mitglieder der westdeutschen KPD / ML ketteten sich auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz in der Nähe des „Centrum-Warenhauses“ an, um auf das Schicksal ihrer in der DDR inhaftierten Genossen aufmerksam zu machen. Auf ein rotes Spruchband hatten sie „Freiheit für die kommunistischen Oppositionellen“ geschrieben. Ein fünftes Mitglied warf Flugblätter von der Terrasse des Kaufhauses ab und konnte unbehelligt entkommen. Die Aktion konnte erst nach 13 Minuten von Stasi und Volkspolizei unterbunden werden.92 Diese „Alexanderplatz aktion“ der KPD / ML sorgte auch in der westdeutschen Qualitätspresse für eine massierte Berichterstattung über die Partei, wie man sie sonst wohl angesichts der zahlenmäßigen Größe dieser Gruppierung wohl kaum hätte erwarten dürfen.93 Von einem Sprecher der Partei wurde als Begründung für diese Aktion angeführt, dass man „die Mauer des Schweigens […] durchbrechen“ und somit auf die seit fast einem Jahr andauernde Inhaftierung von DDR-Genossen aufmerksam machen wollte.94 4. Die Beobachtung der KPD / ML durch das MfS Seitens des Ministeriums für Staatssicherheit wurde die KPD / ML im Jahre 1979 als besonders feindlich gegenüber der DDR eingeschätzt: „Von den linksextremistischen Gruppen in der BRD und in Westberlin beteiligt 91 Vgl. Bernd Lampe, KPD / ML verstärkt die Aktivitäten gegen die „DDR“, in: Die Welt vom 29. November 1977. 92 „ ,Weg mit dieser Schweinerei!‘ “, in: Stern, Nr. 49 vom 26. November 1981, S. 256–257. An der Aktion nahmen die Dortmunderin Karin Wagner, der Heilbronner Helmut Stockmann, der Heidelberger Franz Schlechter und der Büchener Walter Kramer teil. Vgl. ebd, S. 256. 93 Siehe dazu „Demonstranten vom Alex abgeschoben“, in: Berliner Morgenpost vom 24. November 1981; „Die vier vom Alexanderplatz: Erst verurteilt – dann ausgewiesen!“, in: BZ vom 24. November 1981; „KPD-Leute drohten mit Hungerstreik“, in: Die Welt vom 25. November 1981; „Festnahmen nach Protesten der KPD am Alexanderplatz“, in: Frankfurter Rundschau vom 23. November 1981; „Sieben KPD-Mitglieder in Ostberlin festgenommen“, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. November 1981; „Sieben Westdeutsche in Ost-Berlin festgenommen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. November 1981. 94 Vgl. „Maoistische KPD veranstaltete die Demonstration am Alexanderplatz“, in: Der Tagesspiegel vom 24. November 1981. Vgl. auch „KPD-Genossen in der DDR verhaftet“, in: Roter Morgen vom 28. August 1981.
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sich die KPD / ML gegenwärtig am aktivsten an subversiven Maßnahmen gegen die DDR.“95 Noch vor der offiziellen Gründung der „Sektion DDR“ um den Jahreswechsel 1975 / 76 waren vom MfS bereits im Mai 1975 „Konzeptionelle Überlegungen für [die] Bekämpfung des Maoismus“ erstellt worden.96 Zu den „Hauptrichtungen“, die nach Ansicht des MfS zu bekämpfen waren, wurde auch die KPD / ML gezählt.97 Dabei legte das MfS ein besonderes Augenmerk auf die Aufklärung von sich eventuell bildenden Stützpunkten in der DDR.98 Als Verursacher „maoistischer Einflüsse“ galten laut diesem Papier „ausländische Personen“, womit in erster Linie bundesdeutsche Studenten gemeint waren. Auch die Botschaft der Volksrepublik China wurde hierzu gezählt. Gewarnt wurde ferner vor einem „Mißbrauch diplomatischer und gleichgestellter Vertretungen nichtsozialistischer Staaten“99. Um eine „Zersetzung“ dieser maoistischen Gruppen zu erreichen, stellte das MfS einen ganzen Maßnahmenkatalog auf. Um dem Treiben der Gruppen ein Ende zu bereiten – offenbar nicht nur auf dem Gebiet der DDR – wurden folgende „Mittel und Methoden“ vorgeschlagen: „Desinformation sowohl der Polizei als auch [der] Funktionäre und Mitglieder der maoistischen Gruppen“, die „Mobilisierung rechtsgerichteter Kreise gegen Maoisten“, die „Ausnutzung der westlichen Presseorgane“, die „Ausnutzung der z. T. zwischen den maoistischen Gruppen bestehenden Mei nungsverschiedenheiten“100. Zu den weiteren Maßnahmen sollten die „Aufweichung durch Erzeugung von Mißtrauen“ gehören. Dies bedeutete konkret „Unsicherheit“ zu schaffen, durch „Desinformation“, „Gerüchte“ und den „ ,Nachweis‘ der Zusammenarbeit von Funktionären mit Organen des Bonner Staates“. Zudem sollten Mitgliedern bzw. Funktionären der K-Gruppen etwaige Rauschgiftdelikte („Rauschgiftschmuggel“) „im Operationsgebiet“, also in der Bundesrepublik, angehängt werden. Für alle diese Maßnahmen sollte die HVA eingeschaltet werden, in Abstimmung mit der DKP und der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW).101 Im April 1976, nur wenige Monate nach Gründung der „Sektion DDR“, wurde vom MfS die Arbeit der KPD / ML auf dem Gebiet der DDR weitge95 Auskunftsbericht zu linksextremistischen und trotzkistischen Organisationen, Gruppen und Kräften und ihre gegen die DDR gerichteten Aktivitäten, Bd. 1, [1979], in: BStU, ZA, MfS – ZOS 3698, Bl. 027. Eigene Hervorhebung. 96 Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe, Konzeptionelle Überlegungen für [die] Bekämpfung des Maoismus vom 29. Mai 1975, in: BStU, ZA, MfS – ZAIG 25675, Bl. 167–184. 97 Vgl. ebd., Bl. 170. 98 Vgl. ebd., Bl. 171. 99 Ebd., Bl. 176. 100 Ebd., Bl. 180. 101 Vgl. ebd.
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hend als personelles Phantom („maoistische Störmaßnahmen“) eingeschätzt. Hierzu führte die Staatssicherheit als Belege diverse Flugblätter und Parolen an Hauswänden an, mit denen die KPD / ML die Existenz ihrer „Sektion DDR“ zu belegen versuche.102 Hingegen wurde der „große propagandistische Aufwand“, also die ideologische Komponente, den die KPD / ML um die „angebliche Gründung“ einer Parteigruppe in der DDR betrieb, vom MfS sehr wohl registriert.103 Trotz der vom MfS als „fingierte Aktion“ eingeschätzten Bildung einer DDR-Sektion empfahl der Bericht dann „höchste Aufmerksamkeit“ hinsichtlich einer Stützpunktbildung der Gruppe im anderen deutschen Staat.104 Ein besonderes Augenmerk richtete das MfS auf den ideologischen Standpunkt der eigenen Leute. Getragen von der Sorge, dass sich eventuell nicht alle Stasi-Mitarbeiter dem maoistischen Gedankengut entziehen könnten, gelte es, „sich durch die Verwendung der theoretischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus in Wort und Schrift im Auftreten dieser Kräfte nicht irritieren“ zu lassen. Unter dem „Deckmantel des MarxismusLeninismus“ würden diese Kräfte versuchen, die Arbeiterklasse in der DDR von den „wahrhaft kommunistischen Ideale[n]“ abzubringen.105 Im Oktober 1976, ein Dreivierteljahr nach Gründung der „Sektion DDR“, ging das MfS aufgrund der Selbsteinschätzung führender westdeutscher KPD / ML-Kader davon aus, „daß die ‚DDR-Sektion‘ zur Herstellung und Verteilung von Flugblättern selbständig nicht in der Lage sei, so daß sämtliche organisatorische und leitende Arbeit außerhalb der DDR organisiert werden müsse.“106 Was war der Wahrheitsgehalt solcher Berichte? In der DDR arbeitete die KPD / ML in der Tat nach dem „Zellen-System“ der illegalen KPD während der NS-Zeit. Gesteuert wurden diese Zellen von „Instrukteuren“ aus der Bundesrepublik; die politische Linie wurde ebenfalls aus dem Westen vorgegeben. Wunschik schätzt die Zahl der Zellen auf ungefähr zwölf, die wiederum jeweils drei bis fünf Personen umfasst hätten. Um 1980 betrug die Mitgliederzahl der „Sektion DDR“ nach seinen Schätzungen etwa 30 Personen, zu denen noch einmal 50 bis 60 Sympathisanten zu zählen waren.107 102 Vgl. Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe, Hinweise auf gegen die DDR gerichtete maoistische Pläne, Absichten und Maßnahmen vom 26. April 1976, in: BStU, ZA, MfS ZAIG 25675, Bl. 016. 103 Ebd., Bl. 019. 104 Vgl. ebd., S. 021. 105 Hauptabteilung VII, Abteilung 3, Dokumentation über die Struktur, Zielstellung und Aktivitäten der maoistischen Kräfte in der BRD und Westberlin, August 1976, in: BStU, ZA, MfS – HA VII 6193, Bl. 005. 106 Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe, Einschätzung über die gegenwärtige Lage und Politik maoistischer Organisationen in der BRD und Westberlin vom 1. Oktober 1976, in: BStU, ZA, MfS ZAIG 25675, Bl. 011.
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Nicht nur wurden die Aktivitäten der Partei auf dem Gebiet der DDR vom MfS argwöhnisch beobachtet. Ebenfalls stießen die deutschlandpolitischen Initiativen der westdeutschen Sektionen der KPD / ML („West“ und „Berlin“) auf besonderes Interesse des Ost-Berliner Geheimdienstes. Durch den IMF „Nikol“ wurde über eine Flugblatt-Verteilaktion am 31. August und 3. September 1979 vor dem AEG-Gleichrichterwerk Brunnenstraße in West-Berlin durch „namentlich nicht bekannte Mitglieder der KPD / ML“ berichtet. Diese Flugschriften spießten offenbar die Situation in der DDR anlässlich ihres 30. Jahrestages auf. Der oder die Verfasser des Flugblattes stellten die „Erfolge“ des DDR-Sozialismus in Frage, indem die Behauptung aufgestellt wurde, dieser Sozialismus sei so gar nicht von Marx intendiert gewesen. Zudem enthielt das Flugblatt Witze über die DDR.108 Der Inhalt des Flugblattes wurde vom MfS keineswegs heiter aufgenommen. Vielmehr wurde dieser als gegen die DDR gerichtete „Hetze“ deklariert. Weiterhin wurde der IM aufgefordert, an dem sich der Verteilaktion wenige Tage später anschließenden Diskussionsabend der KPD / ML teilzunehmen, um eine mögliche „Störung der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der DDR“ durch die KPD / ML „rechtzeitig zu erkennen und weiter aufzuklären.“109 Zudem wurde das MfS weiterhin über eine „Hetzveranstaltung der KPD / ML in Westberlin“ am 11. September 1979 informiert, auf der Themen wie „eine angebliche Ausbeutung der Arbeiterklasse in der DDR und der UdSSR“ sowie der Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 behandelt wurden. Der Veranstaltungsort in den Charlottenburger Festsälen war dem Bericht zufolge „mit 123 Personen voll besetzt.“ Das Geschlecht der Teilnehmer wurde auf zu zwei Dritteln männlich geschätzt. Das Äußere der Anwesenden wurde abschätzig als „nachlässig gekleidet“ angegeben. Nicht fehlen durfte der Hinweis auf die vorgeblich „teilweise lange[n] ungepflegte[n] Haare und Bärte“ der Zuhörer.110 Der 30. Jahrestag der DDR-Gründung spielte auf dieser Veranstaltung keine konkrete Rolle. Zumindest wurden keine geplanten Aktivitäten gegen das SED-Regime seitens der KPD / ML nach Ost-Berlin übermittelt.111 107
107 Vgl. Wunschik, Die maoistische KPD / ML und die Zerschlagung, S. 10–11. Vgl. zum weiteren Vorgehen der KPD / ML, in der DDR Mitglieder zu gewinnen ebd., S. 11–14. 108 Vgl. Information vom 4. Septemeber 1979, in: BStU, ZA, MfS – HA VII 72, Bl. 261. Vom MfS wurde diese Quelle, IMF Nikol, als „zuverlässig“ eingeschätzt. Vgl. ebd., Bl. 262. 109 Hauptabteilung VII, Stellvertreter des Leiters, Gegen den 30. Jahrestag der DDR gerichtete feindliche Aktivitäten maoistischer Kräfte in Westberlin vom 5. September 1979, in: BStU, ZA, MfS – HA VII 72, Bl. 259–260. 110 Information über eine Hetzveranstaltung der KPD / ML in Westberlin vom 14. September 1979, in: BStU, ZA, MfS – HA VII 72, Bl. 257–258. 111 Vgl. ebd., Bl. 258.
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Ende 1980 setzte das MfS zur Bekämpfung der „Sektion DDR“ 20 IM (später sogar 30) ein, die Mitglieder dieser Partei waren oder zumindest den Parteigenossen nahe stehende Personen waren. Eine Zelle in Ost-Berlin bestand gar komplett aus Stasi-Mitarbeitern. Dennoch blieb es für das MfS besonders schwierig, die unter konspirativen Bedingungen arbeitenden Gruppen der „Sektion DDR“ ausfindig zu machen.112 Zwischen Dezember 1980 und März 1981 erfolgte dann die erste Verhaftungswelle von insgesamt acht Mitgliedern der „Sektion DDR“ durch das MfS. Mit weiteren gezielten Festnahmen konnte die „Sektion DDR“ immer weiter ausgetrocknet werden. Das Verhältnis der IM-Zahl zu den „regulären“ Mitgliedern verschob sich immer mehr zugunsten des MfS. Zusätzlich zu den Verhaftungen wurden gegen insgesamt 357 westdeutsche KPD / ML-Anhänger Einreisesperren verhängt. So konnte zwischen April und Oktober 1981 der Kontakt aus der Bundesrepublik zur „Sektion DDR“ der KPD / ML unterbunden werden. Danach durften nur noch dem MfS bekannte „Instrukteure und Kuriere“ in die DDR einreisen.113 Die „Sektion DDR“ stand unter der Kontrolle des MfS. Ab Anfang des Jahres 1983 gelang es der Staatssicherheit zudem, die Anwerbung potentieller Mitglieder für die „Sektion DDR“ mit Hilfe ihrer IM zu lähmen. Hierzu wurden von diesen IM Scheinpamphlete, z. B. über angebliche Enttäuschungen beim Parteiaufbau, verfasst oder IM-Mitglieder meldeten einen angeblichen Krankenhausaufenthalt an, um sich aus der Parteiarbeit zurückzuziehen. Auch im Westen geriet die Partei in die Defensive. Durch interne Rivalitäten verschwand die „Sektion DDR“ aus dem Blickfeld der Parteiführung114, die offenbar mit dem Zusammenhalt der KPD / ML in der Bundesrepublik schon überfordert war. Die verbliebenen Mitglieder in der DDR jedenfalls sollten nach dem Willen der westdeutschen Parteiführung völlig unauffällig verhalten, um bei „veränderten politischen Rahmenbedingungen eventuell wieder neue Zellen bilden zu können“.115 Mitte der 1980er Jahre rühmte sich das MfS seiner erfolgreichen „Zersetzung“ der „Sektion DDR“ der KPD / ML. So sei es gelungen, „[d]urch gezielte operative Maßnahmen […] IM in die Organisationsstruktur der ‚Sektion DDR‘ zu integrieren, Feindkräfte zu personifizieren und Pläne, Absichten, Aktivitäten sowie Mittel und Methoden der ‚KPD‘ zu entlarven“.116 112 Vgl.
ebd., S. 19. ausführlich zur Zerschlagung der „Sektion DDR“ der KPD / ML Wunschik, Die maoistische KPD / ML und die Zerschlagung, S. 22–25. 114 Vgl. ebd., S. 31. 115 Vgl. ebd., S. 32. 116 Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe, Auszug aus einem Schreiben der Abt. XII vom 27. Januar 1987 (Dok. 2708): Kurzer historischer Abriß und operative Erkenntnisse zur „KPD“, in: BStU, ZA, MfS – ZAIG 25674, Bl. 007. 113 Vgl.
II. Die Grünen und die Deutsche Frage 257
II. Die Grünen und die Deutsche Frage 1. Skizzen grüner Deutschlandpolitik a) Strömungen statt Konzepte Von einer einheitlichen grünen Deutschlandpolitik mit einem ausformulierten Programm konnte in den 1980er Jahren nicht die Rede sein. Zu diesem Ergebnis gelangte der Politikwissenschaftler Gerd Langguth bereits 1987 in seiner Studie über die grüne Deutschlandpolitik.117 Davon ausgehend wird hier die These vertreten, dass sich an diesem Befund bis zur Friedlichen Revolution 1989 in der DDR nichts Wesentliches geändert hatte. Vielmehr wurde ja auch durch das Scheitern der westdeutschen Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 die Konzeptlosigkeit der Partei in vereinigungs- bzw. deutschlandpolitischen Fragen nochmals gleichsam im Brennglas verdichtet präsentiert. Da es bei den Grünen in deutschlandpolitischen Angelegenheiten von ihrer Gründung 1980 bis zur Friedlichen Revolution 1989 keinen allgemeinverbindlichen partei- bzw. fraktionsoffiziellen Beschluss gab, ist es für die Analyse zudem angeraten, in abgeschwächter Form von „Tendenzen“ bzw. synonym von „Strömungen“ grüner Deutschlandpolitik(en) zu sprechen.118 Gleichwohl ist der Analyse der Politologin Andrea Ludwig zuzustimmen, dass es angesichts der Vielzahl der vorliegenden Dokumente eine „rege [deutschlandpolitische; L. H.] Debatte“ bei den Grünen gab. Auch dass die friedenspolitische Debatte bei den Grünen im Subtext eine deutschlandpolitische Relevanz hatte, ist ein wichtiger Hinweis.119 117 Vgl. Gerd Langguth, Die Deutschlandpolitik der Grünen, in: Manfred Langner (Hrsg.), Die Grünen auf dem Prüfstand. Analyse einer Partei, Bergisch Gladbach 1987, S. 423–480, hier S. 423. Zur grünen Deutschlandpolitik siehe zudem Wilfried von Bredow / Rudolf H. Brocke, Dreimal Deutschlandpolitik. Deutschlandpolitische Ansätze der Partei der Grünen, in: Deutschland Archiv, 1 / 1986, S. 52–61; Peter Brandt / Rolf Stolz, Deutschland- und sicherheitspolitische Optionen der Grünen, in: Mediatus, 7–8 / 1988, S. 18–25; Theodor Schweisfurth, Die deutsche Frage aus der Sicht der Grünen, in: Dieter Blumenwitz / Gottfried Zieger (Hrsg.), Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien, Köln 1989, S. 109–120; Lothar Probst, Deutschlandpolitik und Deutsche Frage aus der Sicht der Grünen, in: Dieter Blumenwitz / Gottfried Zieger (Hrsg.), Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien, Köln 1989, S. 121–124; Peter Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen. Eine Untersuchung der politischen Konzeptionen und Strategien der Partei Die Grünen von ihrer Gründung 1980 bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990, Berlin 1995. 118 Diese auch vom Autor dieser Studie als sinnvoll erachtete Trennung hat vor ihm schon Langguth in seiner Analyse verwendet. 119 Vgl. Ludwig, Neue oder Deutsche Linke?, S. 65–66.
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
Die grüne Deutschlandpolitik wurde in den 1980er Jahren von nationalneutralistischen, fundamental-bewegungspolitischen und euro-neutralistischen (realpolitischen) Tendenzen geprägt. Die Einteilung in diese drei Strömungen geht dabei auf die schon weiter oben erwähnte Studie Langguths zurück.120 Die Strömung der „National-Neutralisten“ wurde stark von den ehemaligen Mitgliedern der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher“ (AUD)121 geprägt. Wortführer dieser Gruppe war der ehemalige Vorsitzende der in den Grünen aufgegangen Partei, August Haußleiter. Er wurde Herausgeber der Zeitung mit dem Titel „Die Grünen“ und nutzte diese als publizistisches Forum, um seine Kernaussagen aus vergangenen AUD-Zeiten weiter in der grünen Partei zu vertreten. Haußleiter hielt auch die Hauptreferate auf den beiden grünen deutschlandpolitischen Kongressen im März 1984 in Karlsruhe und in München ein Jahr später. Sein Kernanliegen war ein neutrales, blockfreies und nicht re-militarisiertes Deutschland.122 Eine Untergruppierung der „National-Neutralisten“ war die „nationale Neue Linke“, die hauptsächlich vom Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD) um Rolf Stolz vertreten wurde. Zwei weitere Gruppierungen innerhalb der national orientierten grünen Strömungen waren der Initiativkreis Friedensvertrag von Richard Sperber aus Garbsen bei Hannover, und die Arbeitsgemeinschaft Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin.123 Ein wichtiges Ziel in allen grünen Gruppierungen der natio nal-neutralistischen Abteilung war die Schaffung einer Konföderation beider deutscher Staaten. Hinzu kamen Forderungen nach einem Friedensvertrag, 120 Vgl. Gerd Langguth, Die Deutschlandpolitik der Grünen, in: Langner, Manfred (Hrsg.), Die Grünen auf dem Prüfstand. Analyse einer Partei, Bergisch Gladbach 1987, S. 423–480. 121 Zur AUD siehe Richard Stöss, Vom Nationalismus zum Umweltschutz. Die Deutsche Gemeinschaft / Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1980. 122 Vgl. Langguth, Die Deutschlandpolitik der Grünen, S. 428. 123 Zum Initiativkreis Friedensvertrag siehe auch Haarmann, Die Gesamtdeutschen, S. 55–57 und Gallus, Die Neutralisten, S. 371–372. Eine bislang kaum genutzte Quellenbasis zum Initiativkreis Friedensvertrag ist Achim Franke, Der Weg zur Deutschen Einheit von 1978–1990, o. O. [Gardessen] 2007. Zur AG Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 347–358. Ergänzend soll an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass es noch weitere Diskussionszirkel innerhalb der grünen Partei – meist auf unteren Ebenen – gab, die noch der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung harren. Es sei hierbei v. a. auf die landespolitischen Arbeitsgemeinschaften verwiesen, die sich in größerer Zahl mit „deutschen Fragen“ beschäftigten. Zudem stellt die Aufarbeitung der deutschland politischen Diskussionen innerhalb der grünen Bundestagsfraktion ein Forschungsdesiderat dar. Siehe die edierten Protokolle der ersten grünen Bundestagsfraktion, in: Josef Boyer / Helge Heidemeyer (Bearb.), Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle 1983–1987, Düsseldorf 2008.
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nach dem Abzug der alliierten Truppen aus der Bundesrepublik und der DDR (inklusive der Kernwaffen) sowie ein entmilitarisiertes und blockfreies Gesamtdeutschland.124 Die Deutschlandpolitik der fundamental-bewegungspolitischen Tendenz beschränkte sich nicht auf die Erstellung von Konzeptpapieren, sondern bevorzugte die direkte Aktion als politische Ausdrucksform. In erster Linie nennt Langguth hier die Demonstrationen Petra Kellys und ihrer Mitstreiter in Ost-Berlin 1983. Sie beeinflussten sehr stark die Diskussionen innerhalb der Grünen hinsichtlich der Deutschen Frage, da mit Kellys Aktionen der Versuch direkter deutschlandpolitischer Kontakte über die innerdeutsche Grenze hinweg vorgenommen wurde. Der so vorgetragene Wunsch nach Kontakten „auf allen gesellschaftlichen Ebenen“ (Antje Vollmer) wurde von Ost-Berlin mit Einreiseverboten in die DDR, vom deutschlandpolitischen Sprecher der grünen Bundestagfraktion, Dirk Schneider, mit einem Antrag auf Erteilung einer Rüge belegt.125 Die Bundestagsfraktion der Grünen wurde insbesondere von der Strömung der euro-neutralistischen Realos geprägt. Hauptziel dieser Tendenz innerhalb der grünen deutschlandpolitischen Debatte war die Akzeptanz der scheinbar als unveränderbar angesehenen politischen Fakten (zwei politische Blöcke und zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme) in Zentraleuropa. Obwohl man mit dem von dieser Strömung geforderten Neutralismus („Überwindung der Blockkonfrontation“) auch prinzipiell und subversiv die Grundidee einer einheitlichen deutschen Staatsnation hätte bedienen können, beabsichtigte man mit der vertretenen Idee des Neutralismus die Deutsche Frage eines Tages überflüssig zu machen, sodass sich diese – ohne den Gedanken an eine staatliche Wiedervereinigung einzuschließen – gleichsam wie von selbst erledigen würde.126 Wichtig bleibt zu ergänzen, dass sich keine der skizzierten Strömungen bzw. Tendenzen für die Rechtspositionen ausgesprochen haben, die sich auf die Grenzen des Deutschen Reiches vom 31.12.1937 bezogen.127 Für die Grünen mutete das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes eigenartig an. Seine Präambel galt den meisten Aktivisten der jungen Partei eher als „antiquierter Traditionsbestandteil, denn als erstzunehmender politischer Auftrag“, so jedenfalls die Erinnerung des ehemaligen Grünen-Politikers Ludger Volmer. Die deutsche Teilung in zwei Staaten sahen die Aktivisten 124 Vgl.
Langguth, Die Deutschlandpolitik der Grünen, S. 428–431. ebd., S. 432–433. Langguth zählt in gewissem Sinne auch die AG Berlin- und Deutschlandpolitik der AL Berlin zu dieser Tendenz, da man auch hier auf die Unterstützung der Friedensbewegung in der DDR hinwirken wollte. 126 Vgl. Langguth, Die Deutschlandpolitik der Grünen, S. 433–434. 127 Vgl. ebd., S. 426. 125 Vgl.
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
der jungen Partei als friedenssicherndes Element in der internationalen Politik mit der Folge, dass die Deutsche Frage eher als Teil der Außen- bzw. Ostpolitik denn als Element eines eigenständigen Politikfeldes Deutschlandpolitik angesehen wurde. Somit hatten die innerdeutschen Beziehungen für die Grünen eher außenpolitischen Charakter, wenn sie in diesem Falle auch von „besonderer Art“ waren. Man glaubte selbst in den Bereichen Kultur und Sprache eher Trennendes als Einendes festzustellen.128 Zusammenfassend lässt sich darlegen, dass es zu keiner Zeit eine relevante grüne Position hinsichtlich der Präambel des Grundgesetzes gab, die die Offenheit der Deutschen Frage wie etwa das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Grundlagenvertrag von 1973 betonte. Im Nationsverständnis zeigten sich allerdings wiederum Differenzen innerhalb des grünen Spektrums. Es reichte von der völligen Ablehnung einer gemeinsamen Identität der Deutschen in Ost und West über die Anerkenntnis einer gemeinsamen Kulturna tion bis hin – wie später vor allem zu zeigen sein wird – zu den Überlegungen einer Konföderation von Bundesrepublik und DDR, die auch eine staatliche Wiedervereinigung ausdrücklich einschloss.129 Auch wenn es demnach keine in ein Gesamtkonzept gegossene Deutschlandpolitik bei den Grünen gegeben hatte, so bedeutet ja eben auch diese Nicht-Deutschlandpolitik eine Deutschlandpolitik. Auch darf an dieser Stelle der Hinweis nicht fehlen, dass der Begriff der „Deutschlandpolitik“ innerhalb der Grünen wie auch in der Bundestagsfraktion nicht unumstritten war, wurde dieser doch – in Kenntnis seines subversiven Gehalts – z. B. vom grünen Bundestagsabgeordneten Gert Jannsen als ein „reaktionärer Begriff“ abqualifiziert.130 Eine ähnliche Bilanz grüner Deutschlandpolitik zog auch der Politikwissenschaftler Udo Baron. Ihm ist hier ausdrücklich zuzustimmen, wenn er schreibt: „In der deutschen Teilung sahen sie [die Grünen; L. H.] nicht eine der Ursachen für die andauernde Spaltung Europas in zwei sich feindlich gegenüberstehende hochgerüstete Militärblöcke, sondern die gerechte Strafe für die sich unter dem Stichwort ‚Auschwitz‘ summierenden Verbrechen der Deutschen während der nationalsozialistischen Diktatur. Die Mehrzahl der grünen Parteimitglieder verhielt sich deutschlandpolitischen Fragestellungen gegenüber desinteressiert bis ablehnend. Die meisten Grünen begegneten den realen Verhältnissen in der DDR mit Unwissenheit und Naivität.“131 128 Vgl. Ludger Volmer, Die Grünen und die Außenpolitik – ein schwieriges Verhältnis. Eine Idee-, Programm- und Ereignisgeschichte grüner Außenpolitik, Münster 1998, S. 222. 129 Vgl. Langguth, Die Deutschlandpolitik der Grünen, S. 426. 130 Vgl. ebd., S. 424. 131 Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei ‚Die Grünen‘, Münster 2003, S. 229.
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b) Grüne Deutschlandpolitik in der Bundestagsfraktion Wie gestaltete sich grüne Deutschlandpolitik in der Bundestagsfraktion? Die Bilanz nach einem Jahr Bonn fiel recht dürftig aus. So äußerte sich der für diesen Themenbereich in der grünen Fraktion zuständige Fachreferent, Jürgen Schnappertz, am 10. Januar 1984 wie folgt: „Es gibt keine grüne oder alternative Deutschlandpolitik, sondern nur einzelne, teils vage Vorstellungen, oft auch vorschnell vorgetragene Gedankensplitter dazu. In der Vergangenheit hat es in der Fraktion keine Bestrebungen gegeben, auf diesem Gebiet eine in sich konsistente Politik zu entwickeln.“132
Auch Dirk Schneider, Bundestagsabgeordneter und für die deutschlandpolitische Koordination von 1983 bis 1985 zuständig, war angeblich froh, dass er wegen des Rotationsprinzips aus Bonn wieder nach Berlin zurückkehren konnte.133 Schneider, Stasi-IM „Ludwig“134, gelangte seiner Einschätzung nach eher zufällig in den innerdeutschen Ausschuss. Ihn habe eigentlich mehr der Innenausschuss interessiert, doch der sei für Joschka Fischer vorgesehen gewesen. Auch Schneider beklagte Mitte der 1980er Jahre eine Konfusion der grünen Positionen in der Deutschlandpolitik.135 Allerdings waren sich die Grünen im Bundestag dann doch recht einig, als es darum ging, Anträge für die Auflösung des innerdeutschen Ministeriums, Mittelkürzungen für den West-Berliner Sender RIAS oder die Vertriebenenverbände zu stellen. Zudem äußerten die Grünen Bedenken gegen den „Häftlingsfreikauf“ und machten sich Honeckers „Geraer Forderungen“ zu eigen.136 Joschka Fischer und Otto Schily verfochten gar die Linie, wonach die Präambel des Grundgesetzes zu ändern war.137 Fischer war es auch, der die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in der Deutschlandfrage als „Nationalstaatsfiktionen“ bezeichnete. In der Bundesrepublik sah er offenbar einen nationalen (Un-)Geist wirken, der sich für ihn aus „Schi 132 Jürgen Schnappertz, Zur deutschlandpolitischen Arbeit der Fraktion, o. D. [10. Januar 1984], in: Dokumentation Deutschlandpolitik 1983–1987 der „Grünen im Bundestag“ von Reinhard Kaiser. Ergänzende Dokumente, Bd. I. Zusammengestellt von Robert Camp, Bornheim 1992, hier Dokument 1.12. 133 Vgl. Dirk Schneider, Mitglied des Deutschen Bundestages von März 1983 bis März 1985. Rechenschaftsbericht und Erfahrungen, [August 1986], in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 65. 134 Vgl. Knabe, Die unterwanderte Republik, S. 73–79. Schneider gibt sich in seinem Rechenschaftsbericht betont unauffällig. Dabei war er, wie Aktenfunde belegen, vom MfS bewußt zur Beeinflussung der grünen Positionen in Richtung pro DDR eingesetzt worden. Vgl. Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden, S. 208. 135 Vgl. Schneider, Mitglied des Deutschen Bundestages von März 1983 bis März 1985. Rechenschaftsbericht und Erfahrungen. 136 Vgl. Langguth, Die Deutschlandpolitik der Grünen, S. 444–446. 137 Vgl. Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden, S. 229.
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
zophrenien, Fiktionen und Verdrängungsleistungen“ speiste. Auch „Anne xionsgelüsten“ und „ ,roll-back‘-Phantasien des Kalten Krieges“ erteilte er im Zusammenhang mit der „unsäglichen Wiedervereinigungsrhetorik“ eine eindeutige Absage: „Die deutsche Frage ist nicht mehr offen seit dem 8. Mai 1945.“138 Da war es also wieder, das Totschlagargument der westdeutschen Linken, dass der Zweite Weltkrieg als Strafe die ewige Zweistaatlichkeit Deutschlands hervorgebracht habe. Einen anderen Ansatz verfolgte Petra Kelly. Kelly, die nicht als klassische Deutschlandpolitikerin bezeichnet werden kann, war mit ihren direkten politischen Aktionen – z. B. auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz im Mai 1983 oder beim Honecker-Besuch im Oktober desselben Jahres – auf ihre Weise in deutsch-deutschen Angelegenheiten aktiv. Aber auch mit „stiller Diplomatie“, mit Briefen an den DDR- Staats- und Parteichef, verfolgte sie ihre Politik einer Verknüpfung der Friedens- mit der Menschenrechtsfrage. Dieser Ansatz führte allerdings immer wieder zu schweren Konflikten mit ihren Partei- und Fraktionskollegen.139 So titulierte die ökosozialistische Führung der Grünen um Thomas Ebermann, Jürgen Reents und Rainer Trampert die Alexanderplatzaktion als „mediengerechte Show“.140 Trotzdem reiste Kelly zwischen 1983 und 1989 insgesamt 23 Mal in die DDR.141 Ein weiterer grüner Querdenker in deutschlandpolitischen Fragen war Wilhelm Knabe, von 1982 bis 1984 Bundessprecher der Grünen und in der zweiten Bundestagsfraktion (1987–1990) für die Deutschlandpolitik mitverantwortlich. Knabe konnte eine wechselhafte, von den Systemgegensätzen geprägte politische Biographie vorweisen. 1923 wurde er in Arnsdorf bei Dresden geboren. Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrte er als Pazifist zurück. Es schloss sich ein Studium der Forstwirtschaft an der TU Dresden an. Bis 1959 wirkte Knabe als wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität Berlin, wo er zu einem Thema der Wiederurbarmachung im Braunkohlebergbau promoviert wurde. Von 1946 bis 1959 war Knabe Mitglied der Ost-CDU. Nach seiner Flucht aus der DDR war er in verschiedenen Naturschutzbehörden in Nordrhein-Westfalen tätig. Ende der 1970er Jahre gehörte Knabe zu den Mitbegründern der nordrhein-westfälischen Grünen.142 138 Alle Zitate finden sich in der Rede von Joschka Fischer, Zwischen Wiedervereinigungsillusion und Nato-Austrittsfiktion. Zu den Grundsätzen einer neuen Deutschlandpolitik. Gehalten am 20. November 1987 in der Urania Berlin, in: AGG, Bestand B.II.1, Akte 2086. 139 Vgl. Leven, Eine Deutschlandpolitik von unten?, S. 88–89. 140 Baron, Heißer Krieg und kalter Frieden, S. 186. 141 Vgl. Leven, Eine Deutschlandpolitik von unten?, S. 88. 142 Siehe Annegret Werner, Zur Person Wilhelm Knabes, in: http: / / www.boell. de / alt / de / 13_archiv / 3938.html (22. April 2012).
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Knabe, geprägt von der SED-Diktatur, hatte aufgrund seiner Biographie ein besonderes Gespür für deutsch-deutsche Angelegenheiten. Wegen seiner, wie er selbst darlegte, „Republikflüchtigen“-Biographie erwuchs in ihm eine „doppelte Loyalität“. Dies bedeutete für ihn, einerseits den gemeinsamen Kampf gegen die Umweltzerstörungen in Westdeutschland (beispielsweise gegen Atomkraftwerke und Straßenbauten) zu führen, andererseits die unabhängige DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ zu unterstützen. Gemeinsam mit dem Bundesgeschäftsführer Lukas Beckmann und Petra Kelly versuchte er diese Linie Anfang der 1980er Jahre im grünen Bundesvorstand durchzusetzen.143 Knabe war in den 1980er Jahren zudem darauf bedacht, nicht auf eine ewige Dauer der Zweistaatlichkeit zu setzen, wofür er in der Fraktion prompt kritisiert wurde.144 Auch offenbarte er mehr historisches Verständnis als seine grünen Fraktionskollegen, als er 1987 in einem Brief an diese seinem Bedauern Ausdruck verlieh, dass die Bonner Grünen sich lieber in Wittgenstein, also „im Hinterland Bonns“145, als im Berliner Reichstag über die grüne Deutschlandpolitik austauschen wollten: „Die Grünen müssen sich der Geschichte stellen. Der 17. Juni ist ein Tag des Aufbegehrens der Bevölkerung der DDR, die ihren Willen nach Mitgestaltung an den politischen Entscheidungen offen Ausdruck gab. Solche Demonstrationen, solcher Widerstand von unten, werden ja von uns Grünen bei anderen Gelegenheiten zurecht verteidigt und als beispielhaft hingestellt.“146
Knabe hielt nach der Wiedervereinigung seine Eindrücke von grüner Deutschlandpolitik fest: „Wir waren ganz unterschiedliche Gruppen. Die Mehrzahl der Bundestagsmitglieder bejahte eine Unterstützung der Friedens- und Umweltgruppen, aber die wenigsten rührten die Finger, denn ihnen war das egal. Nur ein Teil bekämpfte diese Politik, während sich fast alle mit der Zweistaatlichkeit abgefunden hatten und diese sogar enthusiastisch verteidigten.“147
Die Konsequenz dieser Politik, die durch ein Lavieren in deutschland politischen Fragen bis hin zur Bundestagswahl 1990 gekennzeichnet blieb, 143 Vgl. Wilhelm Knabe, Beitrag zur Deutschlandpolitik der Grünen, o. D. [ca. 1994], in: Matthias-Domaschk-Archiv Berlin, Akte RHG / OWK 01. 144 Vgl. Haarmann, Die Gesamtdeutschen, S. 66. Vgl. auch Wilhelm Knabe, Beitrag zur Deutschlandpolitik der Grünen, o. D. [ca. 1994], in: Matthias-DomaschkArchiv Berlin, Akte RHG / OWK 01. 145 Wilhelm Knabe, Keine Flucht vor der Geschichte, [3. Juni 1987], in: AGG, Bestand B.II.1, Akte 2081. 146 Ebd. 147 Wilhelm Knabe, Beitrag zur Deutschlandpolitik der Grünen, o. D. [ca. 1994], in: Matthias-Domaschk-Archiv Berlin, Akte RHG / OWK 01.
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war dann die Abwahl der West-Grünen aus dem Bundestag.148 Acht Abgeordnete der ostdeutschen Bürgerrechtsgruppe „Bündnis 90“ hielten dann in Bonn das grüne Fähnchen aufrecht, bis zum Einzug der erneuerten und geeinten Partei Bündnis 90 / Die Grünen in den Bundestag im Jahre 1994.149 2. Deutschlandpolitische Standortbestimmungen der Grünen (1979–1982) Erste grüne Aussagen auf Bundesebene hinsichtlich der deutschen Teilung lassen sich schon recht früh – noch vor der eigentlichen Parteigründung im Jahre 1980 – im Europawahlprogramm der „Sonstigen Politischen Vereinigung – Die Grünen“ von 1979 finden. So hieß es im Kapitel „Für ein gewaltfreies, friedliches Europa“: „Der Ausbau der EG zu einer am Leitwert Frieden ausgerichteten Zivilmacht muß mit der allmählichen Überwindung der aus der Zeit des kalten Krieges stammenden Militärblöcke einhergehen. Damit wird die Grundlage geschaffen, um die Teilung Europas und damit auch die deutsche Spaltung zu überwinden.“150
Das politische Ziel einer „Friedensmacht Europa“ wollte vom grünen Wahlbündnis umgesetzt werden, indem die Bundesrepublik als Vorleistung für dieses Ziel u. a. auf die Einführung neuer Waffensysteme verzichtete. Zudem wurde die Einführung waffenfreier Zonen in Ost- und Westeuropa gefordert, die dann in eine große ABC-Waffen-freie Zone in Mitteleuropa münden sollte.151 Auch das erste grüne Grundsatzprogramm, das „Saarbrücker Programm“ von 1980, enthielt die Forderung nach Schaffung einer europäischen Frie148 Vgl. Jürgen Hoffmann, Die doppelte Vereinigung. Vorgeschichte, Verlauf und Auswirkungen des Zusammenschlusses von Grünen und Bündnis ’90, Opladen 1998, S. 166–167. Zur Runderneuerung gehörte auch das deutschlandpolitische Forum der Grünen am 10. März 1994 in der Hessischen Landesvertretung Bonn. Siehe dazu die nur als unveröffentlichtes Manuskript vorliegende Dokumentation von Ursula Jaerisch und Elisabeth Weber, Die Deutschlandpolitik der Grünen in den 80er Jahren. Dokumentation eines Diskussionsforums am 10. März 1994 in der Hessischen Landesvertretung Bonn, Bonn 1994, in: AGG, Signatur 1999 / D0004. 149 Vgl. Hoffmann, Die doppelte Vereinigung, S. 10 und S. 398. 150 Die Grünen (Hrsg.), Die Grünen. Alternative für Europa. Das Programm der Sonstigen Politischen Vereinigung (SPV) „Die Grünen“, o. O. [Bonn] und o. J. [1979], in: http: / / www.boell.de / stiftung / archiv / archiv-4289.html (7. März 2012). Zum Zusammenschluss der Sonstigen Politischen Vereinigung gehörten die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD), die Grüne Aktion Zukunft (GAZ), die Grüne Liste Umweltschutz (GLU), die Grüne Liste Schleswig-Holstein (GLSH), die Aktion 3. Weg (A 3 W), die Freie Internationale Universität (FIU) sowie Bürgerinitiativen. Vgl. ebd. 151 Vgl. ebd.
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denszone, verbunden mit der Auflösung von NATO und Warschauer Pakt. Damit sollte die Überwindung der deutschen Teilung einhergehen. Wörtlich hieß es im Programm: „Der Ausbau einer am Leitwert Frieden ausgerichteten Zivilmacht muß mit der sofort beginnenden Auflösung der Militärblöcke, vor allem der NATO und des Warschauer Paktes einher gehen [sic!]. Damit wird die Grundlage geschaffen, um die Teilung Europas und damit auch die deutsche Spaltung zu überwinden.“152
Auch im „Saarbrücker Programm“ wurden zur Erreichung dieser Ziele einseitige Abrüstungsschritte von der Bundsrepublik gefordert, die Stationierung von NATO-Mittelstreckenraketen abgelehnt sowie zugleich der Abbau der Mittelstreckenraketen des Warschauer Paktes gefordert. Auch sollten „fremde Truppen“ von „fremden Territorien“ abgezogen werden.153 Fortschreibung fanden die grünen Auffassungen zur Deutschen Frage im ersten Bundestagswahlprogramm von 1980. Von der „deutschen Spaltung“, die in den beiden vorhergehenden Programmen direkt erwähnt wurde, war im neuen Wahlprogramm aber nur noch indirekt die Rede. Auch im Bundestagswahlprogramm wurden die Auflösung von NATO und Warschauer Pakt, die Schaffung einer waffenfreien Zone in Mitteleuropa, erste einseitige Abrüstungsschritte der Bundesrepublik und der Abzug der alliierten Truppen gefordert.154 Neu war in diesem Programm die Verwendung des Begriffs der Selbstbestimmung: „Frieden, Freiheit und Selbstbestimmungsrecht gehören für uns zusammen.“155 An einer weiteren Stelle im friedenspolitischen Teil des Wahlprogramms traten die Grünen für „das Selbstbestimmungsrecht aller Völker“156 ein, was offenkundig auch das getrennte deutsche Volk umfassen sollte. Die Grünen befassten sich mit der Deutschen Frage ebenfalls auf ihrem Bundesparteitag, der Bundesdelegiertenkonferenz, die vom 2. bis zum 4. Oktober 1981 in Offenbach stattfand. Im Offenbacher „Friedensmanifest“ beschloss man die Paktfreiheit für die Lösung der deutschen Teilung als Mittel der Wahl. So sollte der jeweils andere deutsche Staat ein mögliches Angebot der „Gegenseite“ bezüglich eines Paktaustritts nicht einfach ignorieren, vielmehr forderten die Grünen: „Er [derjenige deutsche Staat, dem 152 Die Grünen (Hrsg.), Das Bundesprogramm, o. O. [Bonn] und o. J. [1980], S. 17, in: http: / / www.boell.de / downloads / stiftung / 1980_Bundesprogramm.pdf (3. August 2012). 153 Vgl. ebd. 154 Vgl. Die Grünen (Hrsg.), Wahlplattform zur Bundestagswahl 1980, o. O. [Bonn] und o. J. [1980], S. 7, in: http: / / www.boell.de / downloads / stiftung / 1980_ Wahlplattform.pdf (6. August 2012). 155 Ebd. 156 Ebd.
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das Angebot einer Paktfreiheit unterbreitet würde; L. H.] muß sich damit auseinander setzen, weil das staatlich geförderte Feindbild vom anderen Deutschland zusammenbricht.“157 Indirekt wurde auch hier der erste Schritt von der Bundesrepublik eingefordert, der DDR ein Angebot für eine zukünftige gemeinsame Paktfreiheit zu unterbreiten.158 Bemerkenswert ist im Offenbacher „Friedensmanifest“ zudem die Verwendung des Diktums vom „anderen Deutschland“. Der Deutschland-Begriff war eine Vokabel, mit der die späteren Grünen, ab etwa Mitte der 1980er Jahre, zunehmend hadern sollten. Darüber hinaus beachtenswert an dieser Passage ist zudem der Hinweis auf ein „staatlich geförderte[s] Feindbild vom anderen Deutschland“, was – typisch grüne friedenspolitische Strategie in den 1980er Jahren – äquivalent für Bundesrepublik und DDR galt.159 Im „Aufruf zur Bundestagswahl“, dem grünen Programm zur Bundestagswahl 1983, das von der Bundesdelegiertenkonferenz in Sindelfingen im Januar 1983 verabschiedet worden war, wurde „die volle Souveränität für unser Land“160, womit jetzt nur noch die Bundesrepublik gemeint war, gefordert. Von einer „deutschen Spaltung“ war hier keine Rede mehr, vielmehr wurde jetzt etwas allgemeiner die „Spaltung Europas nach Militärblöcken“161 beklagt. In dem „Aufruf“ wurde zudem die Neutralität Westdeutschlands gefordert, wieder als Vorleistung, der dann eine Neutralisierung der DDR folgen könne. Namentlich erwähnt wurde mit Blick auf das Ziel der Errichtung eines neutralen Gürtels in Mitteleuropa der Name des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der als vorbildhafter Streiter für dieses Ziel in den 1950er Jahren gegolten habe.162
157 Die Grünen, Friedensmanifest, Bundesdelegiertenkonferenz in Offenbach vom 2.–4. Oktober 1981, in: Reinhard Kaiser, Dokumentation Deutschlandpolitik 1983–1987 der „Grünen im Bundestag“, Bd. II, o. O. [Bornheim u. a.] und o. J. [1992], hier Dokument 3.1. 158 Vgl. ebd. 159 Vgl. ebd. Die grüne Aussage einerseits, dass die Bundesrepublik ein Feindbild DDR staatlicherseits fördern würde, ist eine selektive Wahrnehmung, ja eine irrige politische Übertreibung. Andererseits trifft für die DDR diese Aussage in erheblichem Maße zu, wenn man beispielsweise an die zunehmende Militarisierung der Erziehung in der DDR unter der DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker in den 1980er Jahren denkt. Insofern ist für die grüne Analyse der DDR-Seite diese Passage sicher bemerkenswert, wenn zu beiden Systemen vermutlich nur eine verbale Äquidistanz bestanden haben dürfte. 160 Die Grünen, Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Diesmal die Grünen – warum? Ein Aufruf zur Bundestagswahl 1983, Bonn o. J. [1983], S. 5. 161 Ebd., S. 6. 162 Vgl. ebd. Zu Gustav Heinemann siehe Jörg Treffke, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie, Paderborn 2009.
III. Die deutschlandpolitischen Kongresse der Grünen (1983–1984)267
III. Die deutschlandpolitischen Kongresse der Grünen (1983–1984) 1. Die „Kölner Konferenz“ im November 1983 Nach den ersten Versuchen, sich auf eine gemeinsame grüne deutschlandpolitische Linie zu verständigen, wurde in den Jahren 1983 und 1984 auf insgesamt drei Kongressen versucht, die Debatte zu systematisieren. Die erste Zusammenkunft an deutschlandpolitischen Fragen interessierter Grüner fand am 5. und 6. November 1983 in Köln statt. Die „Kölner Konferenz“ ging auf eine Initiative der links-ökologischen Zeitschrift „Debatte“ zurück. Neben einem „offenen Vorbereitungskreis“, der von den nordrheinwestfälischen Grünen Willi Becker und Rolf Stolz geleitet wurde, unterstützten der grüne Bundesvorstand, die Bundestagsfraktion, die grüne „Bundesarbeitsgemeinschaft Gesamteuropa“, die grünen Landesverbände Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg sowie der Kölner Kreisverband der Grünen die Konferenz.163 Mehr als 50 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet nahmen daran teil. Die Teilnehmer kamen aus verschiedenen linken Richtungen, zumeist aus der SPD, den Grünen und parteiunabhängigen sozialistischen Gruppen.164 Im Rahmen der „Kölner Konferenz“ wurde eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Deutsche Frage – eine Chance für Europa?“ durchgeführt, an der sich ein breites Spektrum grüner Politiker bzw. grün-naher Persönlichkeiten beteiligte. Neben den grünen Bundestagsabgeordneten Milan Horacek und Dirk Schneider waren die Schriftsteller Heinrich Schirmbeck und Wolf Deinert auf dem Podium vertreten. Unter den Teilnehmern befanden sich weiterhin Frieder O. Wolf vom links-grünen Theorieorgan „Moderne Zei-
163 Vgl. den Aufruf von Willi Becker „Vereint kämpfen – Blockfrei überleben. Konferenz „Grün-alternative Bewegung und deutsche Frage“, o. D. [ca. Oktober 1983], in: Privatarchiv Rolf Stolz. Als weiterer unterstützender grüner Landesverband wird von Rolf Stolz Schleswig-Holstein genannt. Vgl. dazu R[olf] S[tolz], [Bericht von der Kölner Konferenz], o. D. [ca. November 1983], in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. Dieses Manuskript von Rolf Stolz wurde stark gekürzt von der Wochenzeitung „Die Grünen“ in ihrer Ausgabe vom 24. Dezember 1983 u. d. T. „Die deutsche Frage. Die schwierige Suche nach Einigkeit in einem gespaltenen Land“ veröffentlicht. 164 Vgl. R[olf] S[tolz], [Bericht von der Kölner Konferenz], o. D. [ca. November 1983], in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. Im Artikel des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes wird die Teilnehmerzahl auf rund 40 Personen geschätzt. Vgl. dazu Astrid Hölscher, Keine Angst vor der Nation. In Köln entdecken Linke und Grüne die deutsche Frage, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 13. November 1983.
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ten“, Willi Becker von der Zeitschrift „Debatte“ und Rolf Stolz als Vertreter der grünen „Bundesarbeitsgemeinschaft Gesamteuropa“.165 Auf der Konferenz wurden zudem zwei organisatorische Anträge beraten. An die Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen wurde die Anfrage gerichtet, eine Folgekonferenz der „Kölner Konferenz“ für den Sommer 1984 finanziell zu unterstützen. In der Vorbereitungsgruppe hierzu sollten Vertreter unterschiedlicher grüner Auffassungen zur Deutschlandproblematik und aus unabhängigen Friedensgruppen beteiligt werden. Ziel der neuen Konferenz sollte die weitere Förderung des deutschlandpolitischen Diskussionsprozesses innerhalb der Grünen sein, aber auch eine Kooperation in deutschlandpolitischen Fragen mit Gruppen außerhalb der Grünen umfassen. Als Schwerpunktthemen für die Folgekonferenz wurden die Komplexe „Blockkonfrontation – Atomwaffenabzug – Truppenabzug“, „Friedensvertrag“ und „Entspannungspolitik“ vorgeschlagen. Zudem wollte man der Frage „Gibt es ein deutsches Nationalbewusstsein, wie könnte sich ein Nationalbewusstsein mit neuen, demokratischen Inhalten entwickeln?“ nachgehen. Ebenfalls sollte über die Konsequenzen einer Umsetzung dieser gewonnenen theoretischen Erkenntnisse in praktische grüne Politik debattiert werden.166 Der zweite Antrag sah die Erstellung eines „Materialdienstes“167 rund um die Problematik der Deutschen Frage vor. Der „Materialdienst“, der in Zusammenarbeit mit der „Bundesarbeitsgemeinschaft Gesamteuropa“ erstellt werden sollte, wurde als Plattform für Diskussionspapiere, Terminankündigungen und „wichtige unterdrückte, unterbliebene oder untergegangene Nachrichten“ konzipiert. Auch für den „Materialdienst“ wurde die finanzielle Unterstützung durch die grüne Partei gefordert. Zu den Herausgebern dieser Publikationsreihe wurden Gotthard Krupp und Rolf Stolz von den grünen Kreisverbänden Düsseldorf und Köln bestimmt.168 Die Konferenzteilnehmer befassten sich neben den beiden organisatorischen auch mit zwei inhaltlichen Anträgen. So wurde der von einer Vorbereitungsgruppe verfasste Entwurf einer „Gemeinsamen Erklärung“169 disku165 Vgl. Beschlüsse der Konferenz „Grün-alternative Bewegung und deutsche Frage“ (5.–6. November 1983 in Köln), in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. 166 Vgl. ebd. 167 Der in Köln beratschlagte „Materialdienst“ erschien dann ab 1984 unter dem Titel Materialbrief Deutsche Probleme – Probleme mit Deutschland. 168 Vgl. Beschlüsse der Konferenz „Grün-alternative Bewegung und deutsche Frage“ (5.–6. November 1983 in Köln), in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. 169 Der Text der „Gemeinsamen Erklärung“, gegliedert in eine Art Präambel und weitere vier Abschnitte, sollte einen Minimalkonsens innerhalb der unabhängigen Friedensbewegung darstellen und als Ausgangspunkt für weitere gemeinsame Ak tionen dienen. In der Präambel wurde auf die Nachrüstung der Sowjetunion verwiesen, die als das Resultat neuer amerikanischer Angriffswaffen gedeutet wurde. Da
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tiert, jedoch aus Zeitgründen nicht verabschiedet.170 Als zweiten (und wichtigsten) deutschlandpolitischen Text hatte die Vorbereitungsgruppe den Konferenzteilnehmern den Entwurf einer „Kölner Erklärung“ vorgelegt. Diese sollte individuell unterzeichnet und letztlich nach einem mehrmonatigen Diskussionsprozess im Jahr 1984 verabschiedet werden.171 Mit dem Untertitel „Für eine blockfreie Zukunft, für ein Deutschland ohne Amerikaner und Russen“ versehen, wurde die Reduzierung des Deutschland-Begriffes auf einen „sich größenwahnsinnig ‚Bundesrepublik Deutschland‘ nennenden Bonner Staat“ wie auf eine DDR, „die zwar verbal demokratischrepublikanische Traditionen für sich beansprucht, in ihrem Alltag aber krampfhaft bestrebt ist, um keinen Preis den Anschluss an das Weltniveau der Militarisierung und polizeistaatlichen Gängelung zu verlieren“, abgelehnt. Der deutschlandpolitische Status quo wurde abgelehnt, da gerade dieser zu Spannungen führen und die Kriegsgefahr verschärfen würde. Gefordert wurde daher „eine kopernikanische Wende der deutschen Politik“. Der Ausweg wurde im Ausstieg aus den Blöcken gesehen. Gleichwohl wurde anerkannt, dass dies wenn überhaupt nur in einem langen und risikoreichen Weg möglich wäre.172 Das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion wurde respektiert, wie gleichwohl auch die Sowjetunion aufgefordert wurde, die „Lebensinteressen des deutschen Volkes“ zu respektieren. Im Gegenzug wurde in der Erklärung eine von den Teilnehmern der Konferenz befürchtete Eingliederung der Bundesrepublik – natürlich im übertragenen Sinne – als 52. Staat in die USA abgelehnt. Als fruchtbar wurde aber der deutschamerikanische kulturelle Austausch empfunden, sodass man für sich das Etikett „antiamerikanisch“ ablehnte. Neben dem Abzug aller ausländischen Truppen von deutschem Boden und einem völkerrechtlich verbindlichen Grenzrevisionsverzicht für die „deutsch-polnische und die deutsch-russische Grenze [sic!]“ wurden mit Blick auf das deutsch-deutsche Verhältnis einseitige Vorleistungen von westdeutscher Seite gefordert. So sollte die Bundesman die Existenz Europas auf dem Spiel stehen sah, wollte man diese mit der „deutschen Problematik“ verbinden, um nach Strategien in der grün-alternativen Bewegung für eine Beendigung der Konfrontation zu suchen. Vgl. Vorbereitungsgruppe der Konferenz „Grün-alternative Bewegung und deutsche Frage“, Unabhängige Friedensbewegung und deutsch-deutsche Friedenspolitik, 2. Fassung vom 6. November [1983], die die Diskussion auf der Konferenz berücksichtigt und den Konsens wiederzugeben versucht; mit einer aktuellen Korrektur im Abschnitt 4, in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. 170 Vgl. R[olf] S[tolz], [Bericht von der Kölner Konferenz], o. D. [ca. November 1983], in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. 171 Vgl. ebd. 172 Vgl. Kölner Erklärung „Für eine blockfreie Zukunft, für ein Deutschland ohne Amerikaner und Russen“ (Entwurf), o. D. [November 1983], in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103.
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
republik ihren Alleinvertretungsanspruch aufgeben, eine volle wechselseitige staatliche Anerkennung von Bundesrepublik und DDR sollte vollzogen und ein für die DDR vorteilhafter Verrechnungskurs zwischen D-Mark und Mark der DDR eingeführt werden. Außerdem wurden die Einstellung von Spionage und Subversion gegen die DDR und ein entmilitarisierter Status für West-Berlin gefordert. Am Schluss des Aufrufs wurde nochmals auf den Zusammenhang zwischen der Teilung Deutschlands und einem erhöhten Sicherheitsrisiko für Europa hingewiesen. Das Ziel war demnach ein „friedliches Deutschland, das endgültig mit dem Wahnsinnstraum eines Großdeutschland aufräumt“173. Den Kampf für die deutsche Selbstbestimmung mochte man nicht „den Nationalisten, den Reaktionären und Faschisten“ überlassen. Ein Deutschland, das „über seinen eigenen Weg frei […] entscheiden“174 kann, sollte es demnach sein. Von den Organisatoren der Konferenz wurde das Medienecho als „relativ gut“ bezeichnet. So waren insgesamt neun Journalisten bei der Pressekonferenz am 7. November 1983 in Bonn anwesend.175 Es erschienen mehrere Zeitungsberichte, u. a. ein halbseitiger Artikel im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“176 und mehrere Berichte im „Deutschlandfunk“177. Zudem wurden Agenturmeldungen über die Konferenz im „Tagesspiegel“, in der „Berliner Morgenpost“, im „Mannheimer Morgen“, in der „Kölnischen Rundschau“ und in der „Frankfurter Neuen Presse“ gedruckt.178 Der ausführlichste Bericht zur Konferenz erschien im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“. Die Verfasserin, Astrid Hölscher, schätzte die Teil173 Ebd. 174 Ebd.
Im Original hervorgehoben.
175 Vgl. R[olf] S[tolz], [Bericht von der Kölner Konferenz], o. D. [ca. November 1983], in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. 176 Hölscher, Keine Angst vor der Nation. 177 Peter Joachim Lapp, Grün-alternative Bewegung und deutsche Frage. Gesendet im Deutschlandfunk am 6. November 1983 um 5.05 h, in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103; Peter Joachim Lapp, [Bericht in „Deutschland und die Welt“ über die Kölner Konferenz]. Gesendet im Deutschlandfunk am 6. November 1983 um 17.10 h, in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103; Peter Joachim Lapp, Die „alternative Deutschlandpolitik“ der Grünen. Gesendet im Deutschlandfunk am 6. November 1983 um 20.05 h, in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103; Peter Joachim Lapp, Entdecken der nationalen Frage. Gesendet im Deutschlandfunk am 6. November 1983 um 20.10 h, in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. 178 Vgl. dazu im Einzelnen „Die Vorstellungen der Grünen zur DeutschlandPolitik“, in: Der Tagesspiegel vom 8. November 1983; „Grüne wollen NATO-Austritt“, in: Berliner Morgenpost vom 8. November 1983; „Grüne entwickeln Konzept für neue Deutschlandpolitik“, in: Mannheimer Morgen vom 8. November 1983; „Grüne erkennen nur beschränkte Souveränität“, in: Kölnische Rundschau vom 8. November 1983 und „Grüne für Truppenabzug und Nato-Austritt“, in: Frankfurter Neue Presse vom 8. November 1983.
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nehmerzahl von etwa 40 Personen als gering ein. Jedoch habe sich hierin auch die Spaltung der grün-alternativen Bewegung in deutschlandpolitischen Fragen gezeigt. So sei zwar „ausgiebig und spannungsreich“ diskutiert worden, jedoch ohne zu gemeinsamen Beschlüssen gefunden zu haben.179 Auf diverse nationalrevolutionäre Unterwanderungsversuche der grünalternativen Bewegung in deutschlandpolitischen Fragen habe der Kritiker der Neujustierungsversuche grüner Deutschlandpolitik, Frieder O. Wolf von der Berliner Alternativen Liste, hingewiesen. Wolf habe die Gefahr der „Herausbildung einer rechtsradikalen, autoritär-ökologischen und völkischrassistischen politischen Strömung“180 gesehen. Zudem sei man auf der Konferenz in der Frage nach einer möglichen Anerkennung der DDR gespalten gewesen. Dirk Schneider, status-quo-orientierter deutschlandpolitischer Vordenker in der grünen Bundestagsfraktion – und IM der Staatssicherheit, wie man nach 1989 erfuhr181 –, habe sich konkrete Handlungsanweisungen für den Umgang mit Erich Honecker und der DDR erhofft, die ihm in Köln aber nicht geboten worden seien.182 Insgesamt wurde die Konferenz von Astrid Hölscher als enttäuschend im Hinblick auf konkrete Beschlüsse und Konzepte einer grünen Deutschlandpolitik bewertet. Gleichwohl beurteilte sie das Treffen nicht als überflüssig, wenn auch die Aussagen auf der Konferenz etwas „verschwommen“ und „widersprüchlich“ auf sie gewirkt hätten.183 Zustimmend dagegen wurde die Konferenz vom Redakteur des Deutschlandfunks, Peter-Joachim Lapp, aufgenommen: „Es ist […] meines Erachtens nicht einzusehen, wie in Deutschland und Europa ein Zustand erreicht werden kann, in dem das deutsche Volk seine Einheit wiedererlangt, ohne daß die Blöcke aufgelöst werden. Deren Auflösung, so scheint es mir, ist geradezu die Voraussetzung dafür, glaubwürdig über eine dann denkbare deutsche Einheit oder deutsche Konföderation zu diskutieren oder nachzudenken.“184
Lapp stellte das Zusammentreffen grüner und linker Kreise in Köln zum Thema einer alternativen Deutschlandpolitik in eine Reihe mit der Aktualisierung der nationalen Frage von Teilen der Friedensbewegung seit Anfang 179 Vgl.
Hölscher, Keine Angst vor der Nation. O. Wolf, zit. nach ebd. 181 Vgl. Knabe, Die unterwanderte Republik, S. 73–79. 182 Vgl. Hölscher, Keine Angst vor der Nation. So wird Schneider in dem Bericht lakonisch mit der Auslassung zitiert, dass er ja sowieso nur in Köln anwesend sei, weil er beruflich verpflichtet sei, sich mit der Deutschen Frage zu beschäftigen. 183 Vgl. ebd. 184 Peter Joachim Lapp, Entdecken der nationalen Frage. Gesendet im Deutschlandfunk am 6. November 1983 um 20.10 h, in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. Auslassungen im Original. 180 Frieder
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
der 1980er Jahre. Seither habe sich auch die SPD mit Blick auf bündnisund deutschlandpolitische Fragen in Bewegung gesetzt, sodass die Chancen für eine alternative Deutschlandpolitik – bei einer Annäherung von SPD und Grünen in dieser Frage – durchaus im Bereich des Möglichen liegen könnten. So verwies Lapp auf die These Egon Bahrs, dass man sich in der SPD wieder einmal den „Deutschlandplan“ anschauen könne und erkannte zugleich die sozialdemokratischen „Atlantiker“ auf dem Rückzug.185 Rolf Stolz, Mitorganisator der Konferenz, bemängelte in seinem Abschlussbericht, dass die „einäugigen Blockbefürworter (CDU / CSU, rechte SPD, DKP)“ sich nicht an den Diskussionen der Tagung beteiligt hätten. Zudem bedauerte er die geringe Beteiligung von grünen „Befürworter[n] einer Leugnung und Verdrängung der deutschen Frage“, von denen bis auf Dirk Schneider und Frieder O. Wolf niemand teilgenommen habe.186 2. Der „Deutschlandpolitische Kongreß“ in Karlsruhe im März 1984 Die zweite grüne Zusammenkunft zur Klärung ihrer deutschlandpolitischen Vorstellungen fand unter dem schnöden Titel „Deutschlandpolitischer Kongreß“ vom 9. bis zum 11. März 1984 in Karlsruhe statt. Organisiert wurde dieser von den baden-württembergischen Grünen Birgit Voigt und Thomas Rauberger. Als Beweggründe für die Beschäftigung mit der Deutschen Frage nannten die beiden Organisatoren friedenspolitische Motive. In der Infragestellung des Status quo erblickten sie eine Möglichkeit, den europäischen Frieden unter Schaffung blockübergreifender und letztlich blocküberwindender Ordnungen zu verwirklichen. Entschieden betonten sie den Gegensatz der eigenen Vorschläge zu den „chauvinistisch-nationalistischen“ Konzepten der „etablierten Parteien“187. Für Rauberger und Voigt stand folgende Fragestellung im Zentrum ihrer deutschlandpolitischen Überlegungen: „Welche Konsequenzen hat eine im engsten und weitesten Sinne friedenspolitisch motivierte Politik, die in der Infragestellung und Überwindung des jetzigen Status der beiden deutschen Staaten eine zentrale Möglichkeit sieht, blockübergreifende und letztlich blocküberwindende Ordnungen zu schaffen?“188 185 Vgl.
ebd. R[olf] S[tolz], [Bericht von der Kölner Konferenz], o. D. [ca. November 1983], in: AGG, Bestand B.II.1., Akte 2103. 187 Thomas Rauberger / Birgit Voigt, Vorwort, in: Die Grünen Baden-Württemberg (Hrsg.): Friedensvertrag, Blockfreiheit, Neutralität. Deutschlandpolitischer Kongreß Karlsruhe, 9. bis 11. März 1984, Reader, Stuttgart 1984, S. 2. 188 Ebd. 186 Vgl.
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Für die Zukunft empfahlen beide den Grünen eine Klärung ihrer deutschlandpolitischen Positionen; der Karlsruher Kongress sollte hierzu ein Anfang sein.189 Hauptredner des Kongresses war der 1905 im Fränkischen geborene August Haußleiter. Nicht nur die politische Biographie Haußleiters, der in den Jahren 1980 / 81 Vorsitzender der Grünen war, zeichnete sich durch ein wechselvolles Engagement aus. Aus einem evangelischen Pfarrhaus stammend, musste Haußleiter ab seinem 18. Lebensjahr seinen Unterhalt selbst verdienen. Dies tat er als Lagerarbeiter in einer Porzellanfabrik; nebenher studierte er Philosophie und Theologie. In den späten 1920er Jahren wurde Haußleiter Redakteur und vorübergehend 1933 sogar Chefredakteur des „Fränkischen Kuriers“. Nach Konflikten der Zeitung mit dem fränkischen Gauleiter Julius Streicher wurde Haußleiter an die Front strafversetzt. Nach einer kurzen Zeit in amerikanischer Gefangenschaft gründete er dann 1946 die CSU in Bayern mit. Haußleiter selbst wurde in der Partei Sprecher des linken und gesamtdeutsch orientierten Flügels. Zunehmend geriet Haußleiter in Konflikt mit der CSU-Führung, da er der Bildung eines separaten Weststaates skeptisch gegenüber stand. Auch ein ihm vom bayerischen Landtag zugesprochenes Mandat im Parlamentarischen Rat lehnte Haußleiter aufgrund dieser Politik ab. Im Herbst 1949 trat er schließlich aus der CSU aus.190 In der Deutschen Gemeinschaft (DG), einer rechten, nationalneutral orientierten Partei, fand Haußleiter dann seine neue politische Heimat.191 Der FDP-Vorsitzende Thomas Dehler versuchte noch, Haußleiter für ein Engagement in seiner Partei zu gewinnen, was dieser unter dem Hinweis, dass er die „österreichische Position“ vertrete, d. h. ein unabhängiges und neutrales Deutschland, ablehnte.192 Nach dem Scheitern der DG bei den Bundestagswahlen 1954 und 1961 gründete Haußleiter zur Bundestagswahl 1965 die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) mit. Die AUD, die 1980 in den Grünen aufging, wurde ursprünglich als neutralistische Sammlungsbewegung konzipiert, näherte sich später allerdings wegen anhaltender elektoraler Erfolglosigkeit dem Themenfeld Umweltschutz an. Der Umweltschutz bildete schließlich die Brücke für das spätere Aufgehen der AUD in den Grünen. Eine Pressekampagne wegen Haußleiters vermu189 Vgl.
ebd., S. 3. „Bewußtseinswandel und konstante Positionen“, in: Eine Pressekampagne gegen Abrüstungs- und Neutralitätspolitik in den ersten Nachkriegsjahren in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Dokumentation zu den Angriffen auf August Haußleiter, o. O. und o. J. [1980], S. 2–5, hier S. 2–3, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 191 Zu Haußleiters Engagement in der Deutschen Gemeinschaft siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 222–229. 192 Vgl. Rainer Gohr, Interview mit dem Grünen-Vorsitzenden August Haußleiter, in: Die Neue vom 11. April 1980. 190 Vgl.
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teter „brauner“ Vergangenheit führte zum Ende seiner politischen Karriere bei den Grünen193, zumindest in der ersten Reihe. Auch nach seinem Ausscheiden beteiligte sich Haußleiter in Sachen Wiedervereinigung noch bei grünen deutschlandpolitischen Diskussionsveranstaltungen, wie seine Rede in Karlsruhe zeigte. Haußleiter referierte aus seiner Sicht die bisherige Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Gegenwart, deren Verlauf er insgesamt sowjetfreundlich auslegte. Neben dem Bedauern über die seiner Ansicht nach nicht ausreichend geprüften Stalin-Noten März 1952, die er als „sowjetisches Friedensangebot“194 bezeichnete, kritisierte er die Amerikaner für ihre vorgebliche Einkreisungspolitik gegenüber der Sowjetunion. Haußleiter betonte, dass er kein Anti-Amerikaner sei. Jedoch äußerte er neben Respektsbekundungen für das „amerikanische Volk“ deutliche Kritik am politischen System der USA, von dem er annahm, dass dort „offenkundig nur Millionäre Präsident werden könnten.195 Als erster Schritt zu der von Haußleiter favorisierten Weltfriedensordnung sollte ein „Abbau der Offensiv- und Expansionszwänge“ des Weltwirtschaftssystems stehen. Zudem sollte durch einen neuen gesamteuropäischen Helsinki-Prozess ein gesamtdeutscher Friedensprozess einsetzen.196 Die Überwindung der deutschen Teilung musste nach Haußleiter nicht unbedingt in einem einheitlichen Nationalstaat münden. Vielmehr sympathisierte er mit einem Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander ähnlich dem der Bundesrepublik zu Österreich. In einem solchen dann durch den neuen Helsinki-Prozess geschaffenen grenzfreien Deutschland bzw. Gesamteuropa könne diesen dann die „ganze Blockideologie gestohlen bleiben“.197 Die anschließenden Diskussionen fanden in den vier Arbeitsgruppen „Völkerrecht“, „Politik“, „Militärpolitik“ und „Wirtschaft“ statt. So beriet man in der Arbeitsgruppe „Völkerrecht“ neben den als notwendig erachteten Inhalten eines Friedensvertrages u. a. die Aufhebung der alliierten Vorbehaltsrechte, die Festschreibung der gegenwärtigen Grenzen, einen Truppenabzug, Neutralität sowie zudem konkrete Vorschläge für eine Ausgestaltung der angestrebten deutsch-deutschen Konföderation. Diese sollte im Rahmen eines „Deutschen Bundes“ erfolgen, der gemeinsame Gremien mit Sitz in 193 Vgl.
zu Haußleiters Wirken in der AUD Gallus, Die Neutralisten, S. 273–279. Haußleiter, Die Situation der beiden deutschen Staaten im jeweiligen Blocksystem – unter Berücksichtigung der historischen Genese, in: Die Grünen Baden-Württemberg (Hrsg.), Friedensvertrag, Blockfreiheit, Neutralität. Deutschlandpolitischer Kongreß Karlsruhe, 9. bis 11. März 1984, Reader, Stuttgart 1984, S. 4–20, hier S. 12. 195 Vgl. ebd., S. 15–16. 196 Vgl. ebd., S. 16–17. 197 Ebd., S. 19. 194 August
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Ost- und West-Berlin haben könnte. Ungeachtet der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme erhoffte man sich von einem solchen Schritt neue Dynamik für die als erstarrt empfundenen Verhältnisse Mitteleuropas. Auch käme hierbei das Selbstbestimmungsrecht zum Zuge; die Frage nach der staat lichen Form wurde zur „souveränen Dispositionsbefugnis“ der Deutschen gezählt. Jedoch verstanden die in Karlsruhe versammelten Grünen unter dem Begriff der Vereinigung nicht den einfachen „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik (oder gar umgekehrt!).198 In der Arbeitsgruppe „Politik“ hingegen diskutierten über 30 Teilnehmer kontrovers den Begriff der „nationalen Identität“. Während ein Teil der Gruppe aus historischen Gründen die Loslösung von einem einheitlichen Nationsbegriff und die Orientierung hin zu einer „eigenständigen BRDIdentität“ forderte, sah man im anderen Teil der Gruppe die gesamtdeutsche Nation sehr wohl als weiterhin existent an. Hier wurde zudem die Möglichkeit diskutiert, wie die deutsche (nationale) Identität mit demokratischen Inhalten, nach grünen Vorstellungen, aufzufüllen wäre. Die Deutschen sollten nicht leichtfertig auf die Form eines solchen nicht-nationalistischen Nationsbegriffs verzichten, da schließlich auch andere europäische Länder einen solchen – positiven – Nationsbezug hätten. Übereinstimmung konnte in den Punkten Friedensvertrag, Austritt aus der NATO, kein Zurück zu den Grenzen von 1937 und dem Bekenntnis der Solidarität mit der Friedensbewegung in der DDR erzielt werden.199 Für die Arbeitsgruppe „Militärpolitik“ standen die Forderungen nach einem NATO-Austritt der Bundesrepublik und nach einem Zusammenschluss der europäischen Staaten zu einer atomwaffenfreien Zone im Zentrum. Was in der Gruppe als nicht weniger wichtig erachtet wurde war die Erstellung einer „alternativen Verteidigungskonzeption“; diese konnte auf dem Kongress jedoch nicht abschließend diskutiert werden.200 Auch von der Arbeitsgruppe „Wirtschaft“ wurden den Kongressteilnehmern Ergebnisse präsentiert. Neben Fragen, ob es bei einem NATO- und Warschauer Pakt-Austritt von Bundesrepublik und DDR auch Austritte aus der EG und dem RGW geben sollte, wurde im Abschlussbericht – allerdings ohne dieses näher auszuführen – hinsichtlich einer Konföderation beider deutscher Staaten vermerkt: „Im Rahmen einer deutschen Konföderation 198 Vgl. die Ergebnisse der AG Völkerecht, in: Die Grünen Baden-Württemberg (Hrsg.), Friedensvertrag, Blockfreiheit, Neutralität. Deutschlandpolitischer Kongreß Karlsruhe, 9. bis 11. März 1984, Reader, Stuttgart 1984, S. 31. 199 Vgl. den Bericht aus der Arbeitsgruppe Politik, in: Die Grünen Baden-Württemberg (Hrsg.), Friedensvertrag, Blockfreiheit, Neutralität. Deutschlandpolitischer Kongreß Karlsruhe, 9. bis 11. März 1984, Reader, Stuttgart 1984, S. 34–35. 200 Vgl. ebd., S. 40–41.
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könnte ein Ausgleich von Reparationszahlungen, die an die Siegermächte geleistet wurden, stattfinden.“201 An der anschließenden Podiumsdiskussion unter der Leitfrage „Was ist grüne Deutschlandpolitik?“ nahmen die beiden grünen Bundestagsabgeordneten Dirk Schneider und Otto Schily sowie die Völkerrechtler Wolfgang Seiffert und Theodor Schweisfurth teil. Während Schneider in peinlicher Verkennung der Realität kritisierte, dass die Grünen an sich keine Berechtigung hätten, deutschlandpolitische Fragen aufzuwerfen, da sich die Bürger – „nach der Hitler-Barbarei und des Krieges“202 – in der Bundesrepublik und in der DDR eine eigene Identität geschaffen hätten, erinnerte Seiffert auf dem Podium die Grünen an die seiner Ansicht nach bevorstehende Wiedervereinigung: „Die deutsche Einheit kommt bestimmt. Die Frage ist nur, wer sie zustande bringt und mit welchen innenpolitischen Strukturen sie ausgestattet sein wird. Wenn sie die politischen Kräfte in der Bundesrepublik nicht zustande bringt, dann wird der Osten, die Sowjetunion mit der DDR, sie zustande bringen.“203
Auch der Sozialdemokrat Schweisfurth war von der deutschen Einheit überzeugt, hoffte, dass die grüne Partei ein Katalysator bei der Erreichung dieses Ziels sein könnte. Hierbei zog er eine Linie von der Besetzung des Ökologiethemas durch die Grünen, das inzwischen zum Allgemeingut geworden sei, hin zur Deutschlandpolitik; er empfahl der Partei, dieses Thema zu besetzen, verbunden mit der Hoffnung, dass dieses Politikfeld in der öffentlichen Wahrnehmung eine ähnliche Entwicklung wie die Ökologie nehmen könnte.204 3. „Die Deutschen und der Frieden“ – Der Kongress in München im November 1984 Vom 16. bis zum 18. November 1984 kamen die Grünen zu ihrem dritten deutschlandpolitischen Kongress in München zusammen, dieses Mal von den bayerischen Grünen organisiert. Das Thema lautete „Die Deutschen und der Frieden“. Diese Zusammenkunft sollte auf den vorherigen deutschlandpolitischen Treffen in Köln und Karlsruhe aufbauen.205 In seiner Eröffnungsrede erläutere August Haußleiter seine Vorstellungen einer grünen Friedenspolitik in Abgrenzung zur Deutschlandpolitik Helmut Kohls, von 201 Ebd.,
S. 47. S. 143. 203 Ebd., S. 140. 204 Vgl. ebd., S. 138. 205 Vgl. Die Grünen in Bayern (Hrsg.), Bericht vom Kongress: „Die Deutschen und der Frieden“ in München, München 1985, S. 3. 202 Ebd.,
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der er annahm, dass diese in einer „Gleichschaltung“ von Bundesrepublik und DDR münden würde. Er, Haußleiter, lehne diese Deutschlandpolitik ab. Haußleiter empfahl den Grünen schließlich einen europäischen Friedensschluss ohne „verfluchte[n] Revisionismus“.206 Nach der Eröffnungsrede stellte der Journalist und Friedensaktivist Richard Sperber aus Garbsen bei Hannover seinen vom Initiativkreis Friedensvertrag207 erarbeiteten Entwurf eines Friedensvertrages vor. Dieser sollte von Frankreich, der Sowjetunion, Großbritannien, den USA und Polen „für und mit Deutschland“208 geschlossen werden. Im Vertragsentwurf wurde beiden deutschen Staaten freigestellt, „gemeinsame Staatsorgane und konföderative Einrichtungen [zu] schaffen“209. Die Grenzen eines solchen konföderierten Gesamtdeutschlands bezogen sich auf die Staatsgebiete von Bundesrepublik und DDR. Die deutschen Ostgebiete waren in diesem Vertragsentwurf bereits abgeschrieben, für West-Berlin war der Status eines „Internationalen Distrikt[s]“ vorgesehen, ähnlich dem District of Columbia der US-amerikanischen Hauptstadt Washington. Ost-Berlin wurde in dem Entwurf als „Hauptstadt der DDR“ gekennzeichnet; für Gesamtberlin war ein „Koordinierungsausschuß“ vorgesehen.210 Dritter Redner des Kongresses war der parteilose Abgeordnete der Grünen im Bundestag, Alfred Mechtersheimer. Dieser hatte vor seinem Engagement in der Friedensbewegung der CSU angehört und wurde von dieser 1981 ausgeschlossen. Auch Mechtersheimer maß einer deutsch-deutschen Konföderation nur wenig Sinn bei, wenn diese ohne eine Einbettung in einen gesamteuropäischen Frieden erfolgen sollte. Gleichwohl erblickte Mechtersheimer in der ungelösten Deutschen Frage ein „wichtiges Instrument“ für die von ihm favorisierte „europäischen Umgestaltung“.211 Rolf Stolz, der in München an einer Podiumsdiskussion teilnahm, störte sich an der Unbestimmtheit der Situationsbeschreibung Mechtersheimers und betonte in seinem Beitrag das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen: 206 Vgl.
ebd., S. 17. Initiativkreis Friedensvertrag siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 369–372 und Haarmann, Die Gesamtdeutschen, S. 55–57; Achim Franke, Der Weg zur Deutschen Einheit, S. 109–200; Achim Franke, Abschlussbemerkungen zum Initiativkreis Friedensvertrag von 1985–1989 vom 1. Juli 2006, in: Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. 208 Die Grünen in Bayern (Hrsg.), Bericht vom Kongress: „Die Deutschen und der Frieden“, S. 24. 209 Ebd., S. 25–26. 210 Vgl. ebd., S. 26–27. 211 Vgl. ebd., S. 32–33. Zu Mechtersheimer siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 377–378 u. S. 481. 207 Zum
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
„Zu dem Selbstbestimmungsrecht gehört für mich, daß die Deutschen das Recht haben müssen, zu entscheiden über die Frage ihrer politischen Zukunft auch in dem Sinne, daß sie entscheiden müssen in der Zukunft darüber, ob sie in einer deutschen Konföderation, einem deutschen Bund zusammenleben wollen, ob sie irgendeine Form der staatlichen Neuvereinigung anstreben, oder ob sie das nicht wollen.“212
Wie auch bei der vorherigen Konferenz in Karlsruhe, so wurde auch in München in verschiedenen Arbeitsgruppen das Thema der Deutschen Frage beraten. Im Bericht der Arbeitsgruppe „Völkerrecht“ wurde unmissverständlich die juristische Fortexistenz des Deutschen Reiches festgehalten, was sich erst durch den Abschluss eines Friedensvertrages ändern könne. Dieser Vertrag könne auch die Basis einer deutsch-deutschen Konföderation bilden. Gleichwohl plädierten die grünen Völkerrechtler für die Abschaffung der Erfassungsstelle Salzgitter; diese sollte durch Beobachtungen von Amnesty International ersetzt werden.213 In der Arbeitsgruppe „Politik“ herrschte Konsens über die Wichtigkeit der Deutschen Frage, die hier als „nicht-nebensächlich“ für den europäischen Frieden bezeichnet wurde. Allerdings war man sich nicht einig, ob eine deutsch-deutsche Konföderation zwingend eine als „Neuvereinigung“ titulierte deutsche Einheit einschließen würde oder nicht. Ebenfalls unklar war das Meinungsbild zur Staatsangehörigkeitsfrage; die Übersiedler aus der DDR sollten aber nicht dem bundesdeutschen Asylrecht unterworfen sein müssen.214 Erneuter Gast der Grünen in München war Wolfgang Seiffert, der auf dem Abschlusspodium der Konferenz zu den grünen Vorstellungen eines Friedensvertrages bemerkte, dass diese Diskussion ihm zu sehr auf militärische Fragestellungen beschränkt geblieben sei. Gleichwohl erkannte er die Chance, sich aus diesen engen Diskussionen zu befreien und zu den seiner Meinung nach „echten politischen Dimensionen“215 einer europäischen Friedensordnung überzugehen.
212 Die Grünen in Bayern (Hrsg.), Bericht vom Kongress: „Die Deutschen und der Frieden“, S. 37. 213 Vgl. ebd., S. 50. 214 Vgl. ebd., S. 57. 215 Ebd., S. 71.
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IV. Die Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste 1. Einführung a) Die deutschlandpolitische Konfliktlage in der Alternativen Liste Am 24. September 1989 veröffentlichten elf Mitglieder der Alternativen Liste Berlin, wie der Berliner Zweig der westdeutschen Grünen216 hieß, eine „Erklärung für eine alternative Deutschlandpolitik“217. Darin wandten sie sich gegen Kräfte in den Berliner und westdeutschen Grünen, die die deutsche Zweistaatlichkeit auch trotz der Entwicklungen in Osteuropa und der DDR nicht in Frage stellen wollten. Die Anwürfe des grünen Mainstreams gegen die grünen Wiedervereinigungsfreunde reichten dabei von „reaktionär“, „nationalistisch“ bis hin zu „großdeutsch“.218 Die Unterzeichner des Berliner grünen Appells für eine neue Sichtweise in der Deutschlandpolitik bezogen sich dabei auf das Programm der Alternativen Liste zu den Berliner Abgeordnetenhauswahlen von 1981. Damals wurde zur Lösung der Deutschen Frage aufgerufen, bereits acht Jahre vor der Friedlichen Revolution wurde diese auch als eine Frage nach der deutschen Einheit aufgefasst. Für die Unterzeichner der „Erklärung“ war die deutsche Zweistaatlichkeit im Herbst 1989 demnach eine „Sackgasse“ und bot „keine Perspektive“.219 Ausdrücklich sahen sich die Unterzeichner des Appells für eine alternative grüne Deutschlandpolitik „in [der] Tradition jener Kräfte in der DDR und der Bundesrepublik, die noch bis zum Beginn der sechziger Jahre für ein einheitliches demokratisches Deutschland gekämpft haben.“220 Neben der Kritik an Adenauers Westbindungspolitik wurde die DDR unter Ulbricht 216 Vgl. Satzung der Alternativen Liste – Für Demokratie und Umweltschutz vom 16. April 1988, in: AGG, Bibliothek, 2003 / D22. 217 Wir wollen eine deutsche demokratische Republik! Erklärung für eine alternative Deutschlandpolitik von Mitgliedern der AL Berlin im September 1989, in: AGG, Bestand B.II.1, Akte 2085. Zu den Unterzeichnern gehörten Birgit Hensel, Guntolf Herzberg, Michael Klinski, Marie-Luise Lindemann, Heidrun Reetz, Siegfried Reetz, Gert Schneider, Volker Schröder, Achim Syska, Jürgen Tribowski und Carola Wagemann. Vgl. auch Gallus, Die Neutralisten, S. 357–358. 218 Wir wollen eine deutsche demokratische Republik! Erklärung für eine alternative Deutschlandpolitik von Mitgliedern der AL Berlin im September 1989, in: AGG, Bestand B.II.1, Akte 2085. 219 Vgl. ebd. 220 Ebd.
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durch den Mauerbau für die Zementierung der deutschen Teilung verantwortlich gemacht. Zudem forderten die grünen Unterzeichner Paktfreiheit für beide deutschen Staaten und eine konsequente Anwendung des Selbstbestimmungsrechts für alle Völker, womit auch das deutsche gemeint war.221 Auch wenn die deutsche Teilung von den Unterzeichnern als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges sowie der – etwas unscharf – formulierten „Nachkriegspolitik“ gedeutet wurde, so wurde doch der bisherigen Verdrängung der Deutschen Frage „verheerende Auswirkungen“ attestiert. Die Deutsche Frage dürfe nicht nur von „nationalistischen Kräften“ diskutiert werden, vielmehr wolle man durch einen „offensiven Umgang“ mit diesem Problemkomplex einer „vom Zeitgeist gedeckten Begriffsvernebelung Paroli bieten.“222 Dieses Lebenszeichen der status-quo-oppositionellen Kräfte in der Deutschlandpolitik innerhalb der Berliner Alternativen Liste war beachtlich angesichts der verheerenden politischen Niederlage dieses Flügels im Herbst 1987. Mit den Austritten von Wolfgang Schenk am 1. Oktober 1987, der von der „FAZ“ als „Führer des gemäßigten Flügels“223 bezeichnet wurde, und von Rupert Schröter am 27. Oktober desselben Jahres, verloren die wiedervereinigungsorientierten Kräfte der Berliner Alternativen Liste ihre letzten profilierten Köpfe.224 In seinem Austrittsschreiben an die Partei beklagte Schenk „die Rückentwicklung der AL zu einer ‚linken‘ Partei“225, in der es den bislang gepflegten pluralistischen Meinungsaustausch nicht mehr geben werde. Die 21 Manuskriptseiten umfassende Abrechnung Schenks mit seiner Partei bezog sich schwerpunktmäßig auf die seiner Ansicht nach verfehlte Entwicklung in deutschlandpolitischen Fragen. Die parteiintern kursierenden Diffamie221 Vgl.
222 Ebd.
ebd.
223 Ralf Georg Reuth, Vorwurf der ideologischen Verblendung gegen die Alternative Liste, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 1987. 224 Vgl. Wolfgang Schenk, Austrittserklärung aus der AL vom 1. Oktober 1987, in: AGG, C Berlin I, Akte 201 und Rupert Schröter, Austrittserklärung, 27. Oktober 1987, in: AGG, C Berlin I, Akte 88. 225 Schenk, Austrittserklärung aus der AL. Schenk, Jahrgang 1948, war 1978 Gründungsmitglied der AL und bis April 1987 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Vgl. Wolfgang Schenk, Persönliche Erklärung zum Austritt aus der AL, Presseinformation (Kurzfassung) vom 2. Oktober 1987, in: AGG, C Berlin I, Akte 201. In seiner Presseinformation zu seinem Austritt äußerte Schenk als „aktuelle[n] Anlaß“ für seinen Austritt die fehlende Distanzierung der Berliner AL-Führung von einer Äußerung des Pressesprechers Dirk Schneider zu einem Anschlag autonomer Kräfte auf einen „taz“-Journalisten. Vgl. ebd.
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rungen des wiedervereinigungsbefürwortenden Teils der AL als „Antikommunisten“, „Revanchisten“, „Dregger-Freunde“, „Nationalisten“ und „CIAAgenten“ bezeichnete Schenk dabei als „umgekehrte[s] Kalte-Kriegs- und Lagerdenken“226. Die programmatische Entwicklung der Berliner Alternativen Liste in der Deutschlandpolitik im Laufe der 1980er Jahre bewertete Schenk als eine den „Status Quo legitimierende Geschichtsklitterung“227, die für ihn eine gefährliche Annäherung an SED-Positionen beinhaltete. Die „schwärmerische Inschutznahme der DDR-Staatsraison“228 durch einflussreiche Teile der Berliner AL und das von Schenk vermutete taktische Verhältnis von linksdogmatischen Kräften zu Menschenrechtsfragen in Osteuropa waren für ihn nicht weiter tragbar.229 Eine besondere Verantwortung für diese Entwicklung maß Schenk dabei dem Pressesprecher der Berliner AL, dem früheren Bundestagsabgeordneten Dirk Schneider, zu.230 Durch die Vorwürfe Schenks sah sich die AL-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus zu einer Stellungnahme herausgefordert. Die deutschlandpolitischen Positionen des Abtrünnigen wurden darin als einer „Minderheit“ zugehörig und als „keinesfalls mehrheitsfähig“ deklariert. Die ebenfalls kritisierte Debattenkultur der AL wurde hingegen als pluralistisch verteidigt, in der auch Ansichten von Minderheiten – wie eben die von Schenk – ihren Platz hätten.231 Die Austrittserklärung Rupert Schröters wies ähnliche Klagen hinsichtlich der deutschlandpolitischen Positionierung der Berliner AL auf. Schröter machte den „nationale[n] Selbsthaß“ der deutschen Linken hierfür verant226 Wolfgang Schenk, Austrittserklärung aus der AL vom 1. Oktober 1987, in: AGG, C Berlin I, Akte 201, S. 5. 227 Ebd., S. 6. 228 Ebd., S. 14. 229 Vgl. ebd., S. 14–15. 230 Vgl. ebd., S. 7. Nach der Wiedervereinigung wurde bekannt, dass Dirk Schneider Stasi-IM war. Zur IM-Tätigkeit Schneiders siehe Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik, S. 73–79. Siehe zu Schneider auch sein Bewerbungsschreiben als Pressesprecher der Berliner AL vom 28. April 1987. Vermeintlich harmlos schildert der IM der Staatssicherheit in diesem Text seine Vorstellungen von Pressearbeit („dienende Funktion“). Auch zu deutschlandpolitischen Fragen äußerte er sich vorsichtig: Seine „Texte zur Berlin-Politik oder deutsch-deutschen Fragen“ würden nur „wenig Leute lesen, aber viele auf die Palme bringen.“ Siehe Dirk Schneider, Bewerbungsschreiben als Pressesprecher der AL vom 28. April 1987, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 65. 231 Vgl. den Brief von Helga Hentschel (MdA), Gabriele Vonnekold (MdA) und Elkebarbara Mayer (Pressesprecherin der AL im Abgeordnetenhaus) an [Ralf]-Georg Reuth, o. D. [6. Oktober 1987], in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 201.
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wortlich, der sich in einem gestörten Verhältnis zur eigenen Nation manifestiere.232 So hieß es in seiner Austrittserklärung: „Wer so die eigene Nation geradezu verleugnet, kann sich auch nicht der Frage der deutschen Teilung stellen.“233 Schröter bedauerte die zunehmende Abkehr der AL von den Themen, die sie seiner Ansicht nach in ihrer Gründungs- und Anfangsphase ausgezeichnet habe. Hierzu zählte für ihn die Beschäftigung mit der Deutschen Frage.234 b) Akteure der AG Berlin- und Deutschlandpolitik Die Personallage in der AG Berlin- und Deutschlandpolitik war im Laufe ihrer Existenz sehr fluide. Ein- und Austritte wechselten sich in rascher Folge ab.235 Eine langjährige Führungsfigur, wie sie Rolf Stolz für den Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion verkörperte, hatte die AG nicht aufzuweisen. So bestand in der Frühphase der AG, Anfang der 1980er Jahre, das Autorenkollektiv der Broschüre „Paktfreiheit für beide deutschen Staaten“236 aus so verschieden sozialisierten Personen wie Peter Brandt, Thomas Flügge, Wolfgang Kaiser und Walther Grunwald.237 Peter Brandt, Sohn des Bundeskanzlers Willy Brandt, war bereits zu Beginn der 1980er Jahre im Rahmen der westdeutschen Friedensbewegung als „Linker Patriot“ aufgetreten.238 Gemeinsam mit Herbert Ammon, der zu seinen Mitstreitern in der Berliner Deutschland-AG gehörte, hatte Brandt 1981 das „Manifest“ eben jener „Linken Patrioten“, die Materialsammlung „Die Linke und die nationale Frage“239, herausgegeben. Brandt und Ammon waren im Zusam232 Vgl. Rupert Schröter, Austrittserklärung, 27. Oktober 1987, in: AGG, C Berlin I, Akte 88. 233 Ebd. 234 Vgl. ebd. 235 Siehe dazu die Zitate der Austrittserklärung Herbert Ammons bei Gallus, Die Neutralisten, S. 354. 236 Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik (Hrsg.), Paktfreiheit für beide deutsche Staaten oder bis daß der Tod uns eint?, 2. Aufl., Berlin [1983]. 237 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 347–348. Thomas Flügge war einst im SDS und der Ostermarschbewegung aktiv gewesen; Wolfgang Kaiser hatte vor seinem Grünen-Engagement in der national orientierten Berliner KPD als deren Vorsitzender die Zeitung „Rote Fahne“ herausgegeben; Walther Grunwald kam von der Wählergemeinschaft Unabhängiger Bürger (WUB). Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 348. Auch das Mitglied des Abgeordnetenhauses Uwe Tietz spielte zu Beginn der 1980er Jahre eine wichtige Rolle. 238 Vgl. Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 61–68; vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 340–347. 239 Peter Brandt / Herbert Ammon (Hrsg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbek 1981.
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menhang mit der Friedensbewegung zu Beginn der 1980er Jahre – also noch vor ihrem Engagement in der AG – an der Aktualisierung des nationalen Denkens auf der Linken in Deutschland federführend beteiligt. Im Gefolge der Diskussion um die Raketenstationierung in Westdeutschland wurde von Teilen der Friedensaktivisten aus einem von ihnen wahrgenommenen Bedrohungsgefühl darüber nachgedacht, ob eine Überwindung der Teilung in einem neutralen und blockfreien Gesamtdeutschland eine Lösung für diese Krise bedeuten könnte.240 Einen leichten Stand hatten aber die Befürworter dieser politischen Konzeption innerhalb der Linken bei weitem nicht, wie sich Herbert Ammon erinnert: „Meine Position und mehrheitlich die meiner Mitstreiter entsprang der nüchternen Analyse der politisch-militärischen Logik im Kontext des von Fall zu Fall eskalierenden (ab 1978 / 79 durch verstärkte Rüstungsmaßnahmen sowie durch die sowjetische Intervention in Afghanistan) oder umgekehrt durch Rüstungskontrolle und ‚Entspannung‘ heruntergestuften Ost-West-Konflikts. Dass die von den Nachrüstungsgegnern vielbeschworene ‚Blocklogik‘ ihren Dreh- und Angelpunkt in der ‚deutschen Frage‘, sprich: in der Stilllegung des ungeliebten Machtpotentials in Mitteleuropa hatte, war für den nüchternen Betrachter – so ja auch einige wohlwollende Betrachter und / oder friedenspolitische Aktivisten in Ost- und Westeuropa – offenkundig. An diesem Punkt konnten und wollten wir anknüpfen: Wenn man sich Sorgen um die Zukunft Europas machte, musste man sich um des Pudels Kern kümmern: die ungelöste, stillgelegte ‚deutsche Frage‘. Ein Gebot der Logik, das von der alsbald aufschäumenden Emotionalität verdeckt wurde – und von den einschlägigen ‚Friedensfreunden‘ auch unverzüglich unter Denkverbot gestellt wurde.“241
Eine herausgehobene Stellung in der AG in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bekleideten hingegen der Bürgerrechtler Rupert Schröter und das Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses Wolfgang Schenk. Schröter, der von 1985 bis 1987 die AG Berlin- und Deutschlandpolitik leitete, wurde 1949 in Ost-Berlin geboren. Sein Vater war Abteilungsleiter im Ministerium des Innern und Oberst der Volkspolizei, seine Stiefmutter Dolmetscherin und Oberst der NVA. In diesem systemnahen Haushalt aufgewachsen, folgten Schulbesuche in Cottbus, Strausberg und Ost-Berlin. Nach Erwerb des Abiturs 1967 folgte eine Ausbildung zum Zerspanungsfacharbeiter. Im gleichen Jahr erfolgte die Aufnahme in die SED. Ein Lehrerstudium in Staatsbürgerkunde und Geschichte musste Schröter 1969 wegen eines Sprachfehlers und der Weigerung, in ein anderes Fach zu wechseln, abbrechen. Die anschließende Tätigkeit für den DDR-Rundfunk wurde gekündigt und Schröter wegen „parteischädigendem Verhalten“ aus der SED ausgeschlossen. Die darauffolgende Bewährung in der Produktion, die bis 1976 dauerte, 240 Herbert Ammon, E-Mail an den Verfasser vom 10. September 2010. Siehe auch Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt!, S. 25–28. 241 Herbert Ammon, E-Mail an den Verfasser vom 10. September 2010.
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führte nicht zur erhofften Wirkung. Schröter bewegte sich seit 1973 in oppositionellen Kreisen in der DDR. So protestierte er 1976 gegen die staatlich angeordnete Verdrehung des Suizids des Pfarrers Oskar Brüsewitz, was zu seiner Verhaftung führte. 1977 wurde Schröter wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Dezember 1977 durfte Schröter nach West-Berlin ausreisen. Hier war er in verschiedenen Berufen (u. a. Dreher und Journalist) tätig und trat 1978 der SPD bei. Von 1985 bis 1987 war Schröter Mitglied der Berliner Alternativen Liste, die er im Zuge seines Austritts aus der AG Berlin- und Deutschlandpolitik ebenfalls verließ. Sein deutschlandpolitisches Engagement setzte Schröter in verschiedenen Initiativen fort, zu denen der West-Berliner Unterstützerkreis für die Umweltbibliothek im Ostteil der Stadt gehörte. Nach seinen Austritten aus der Alternativen Liste und der Berlin- und Deutschland-AG folgte ein erneutes Engagement für die SPD, das ihn nach der Wiedervereinigung in leitende Positionen des Brandenburger Sozialministeriums führte (u. a. Pressesprecher der Ministerin Regine Hildebrandt).242 Ein zweiter wichtiger Akteur der AG Berlin- und Deutschlandpolitik in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war Wolfgang Schenk. Schenk, geboren 1948 in Frankfurt am Main, war seit Gründung der Berliner Alternativen Liste im Jahr 1978 ihr Mitglied. Von 1985 bis April 1987 gehörte er dem Berliner Abgeordnetenhaus an.243 Bereits seit Studententagen war Schenk politisch aktiv. An der Universität Frankfurt, wo er Soziologie studierte, war Schenk im SDS aktiv. Seit seiner Übersiedlung nach West-Berlin Ende der 1960er Jahre gehörte er verschiedenen linken Gruppen an, u. a. einer Umfeldorganisation der maoistischen KPD („Bund sozialistischer Lehrer“). Seit 1973 war Schenk beruflich als Hauptschullehrer in Berlin-Kreuzberg angestellt. Eine Verbeamtung wurde ihm trotz Protesten von Schülern und Lehrerkollegen nicht zugebilligt. Neben der Berlin- und Deutschlandpolitik galt der Bildungspolitik sein Hauptinteresse.244 Das deutschlandpolitische Credo von Schenk lautete: „Die Perspektive der ‚Deutschen Frage‘ läßt sich […] weder durch rechte Wiedervereinigungsrhetorik […] noch durch linke Ängstlichkeit und Emotionalität […] 242 Vgl. Arno Polzin, Rupert Schröter-Chetrit, in: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010, in: http: / / stiftung-aufarbeitung.de / wer-war-wer-in-der-ddr- %2363 %3B1424.html?ID=3168 (6. August 2012). 243 Vgl. Wolfgang Schenk, Persönliche Erklärung zum Austritt aus der AL (Presseinformation / Kurzfassung) vom 2. Oktober 1987, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 201. 244 Vgl. Wolfgang Schenk, Brief an den Geschäftsführenden Ausschuß der AL Berlin vom 9. Oktober 1984 [Erklärung der Kandidatur für das Abgeordnetenhaus], in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 64.
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entwickeln. […] Sie [die Deutsche Frage; L. H.] aber zu verleugnen […] führt nur dazu, diese real vorhandene Frage anderen zu überlassen und evtl. Positionen i[m] Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht […] ohne Not aufzugeben. Die Deutschen in der DDR werden, wenn sie wirklich je die Freiheit zur Entscheidung haben sollten, gar nicht unbedingt die Benachteiligten in einem deutschen Nationalstaat sein wollen […] Aber soweit wir das von uns aus hier tun können, Einfluss auf die Wahrung minimaler Menschenrechte und Freizügigkeiten seitens der Honecker-Regierung zu nehmen, finde ich das richtig. In diesem Rahmen bin ich auch dagegen, durch eine im Sinne der DDR-Regierung gewünschte ausdrückliche Anerkennung der sowieso anerkannten DDR-Staatsbürgerschaft vorhandene Freizügigkeiten noch zu verspielen!“245
2. Die deutschlandpolitischen Anfänge der Alternativen Liste 1980 / 81 a) Berlin-AG und Initiative für Paktfreiheit, Einheit und Frieden als Keimzellen grün-alternativer Deutschlandpolitik in Berlin Die Alternative Liste in Berlin hatte seit ihrer Gründung am 5. Oktober 1978 eine nationale Komponente in ihrer Programmatik. Neben einer ausgeprägten Alternativbewegung, deren Stränge bis in die Zeiten der 68erBewegung zurückreichten, war die geographische Lage Berlins als Frontstadt an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts eine wichtige Determinante für die Gründung des Berliner Zweigs der späteren Grünen.246 Eine besondere Rolle spielten für die Programmatik des „neulinken Nationalismus“ (van Hüllen) Überreste der Anfang 1980 aufgelösten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), einer besonders in Berlin stark vertretenen KGruppe. Aber auch die beiden „linken Patrioten“ Herbert Ammon und Peter Brandt waren wichtige Köpfe in der Diskussion um die Verankerung einer nationalen Komponente im Wahlprogramm der Alternativen Liste aus dem Jahre 1981. Diese Strömungen hatten einen „erheblichen Rückhalt in der ‚Arbeitsgemeinschaft Berlin- und Deutschlandpolitik‘ der Liste“247, die hier zu untersuchen sein wird. 245 Ebd.
246 Vgl. Rudolf van Hüllen, Ideologie und Machtkampf bei den Grünen. Untersuchung zur programmatischen und innerorganisatorischen Entwicklung einer deutschen „Bewegungspartei“, Bonn 1990, S. 130. 247 Ebd., S. 356–358. Zu den „linken Patrioten“ Brandt / Ammon siehe Haarmann, Die deutsche Einheit kommt bestimmt, S. 61–68 sowie Gallus, Die Neutralisten, S. 340–346. Zur Geschichte der AG Berlin- und Deutschlandpolitik siehe Peter Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 97–110; Gallus, Die Neutralisten, S. 347–358. Zur Ideengeschichte der frühen Grünen siehe auch Silke
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In Berlin war die deutsche Teilung durch Mauer und Stacheldraht auch für Linke alltäglich sichtbar. Im Januar 1980 hatte sich deswegen mit der Berlin-AG eine linke parteiunabhängige Gruppe in West-Berlin gebildet, die sich speziell mit der deutschen Teilung beschäftigte.248 Die Berlin-AG hatte etwas mehr als 20 Mitglieder, welche sich etwa zur einen Hälfte aus Angehörigen der AL sowie zur anderen Hälfte aus Mitgliedern anderer linker Organisationen und Gruppen rekrutierten. Unter den Nicht-AL-Mitgliedern waren insbesondere Mitglieder des Sozialistischen Büros, der Wählergemeinschaft Unabhängiger Bürger (WUB) Zehlendorf und der Aktion 18. März vertreten.249 In der Anfangszeit diskutierte man in der Berlin-AG vier Hauptthemen: So wurde über das „Besatzungsrecht in Westberlin“ gesprochen, von dem man nicht viel hielt, außer, dass es die Berliner in „totaler Rechtlosigkeit“ bei einem Eingreifen der Alliierten zurück lasse. Zudem kritisierte man den SPD-geführten Senat, der ein Unterstützer der Alliierten Rechte sei. Über die „Möglichkeiten einer Neutralitätspolitik für Westd[eutschland] u[nd] W[est-]B[erlin]“ verwies man auf das Beispiel Österreichs, das eine gute Erfahrung mit seiner militärischen Neutralität gemacht habe. Zudem wurde Konrad Adenauer für die vermeintlich verpasste Chance eines neutralen Deutschlands verantwortlich gemacht. Im Gegenzug verwies man auf Gustav Heinemann und Erhard Eppler als vorbildliche Kräfte in der Bundesrepublik für ein neutrales Gesamtdeutschland. Das „Verhältnis Ostberlin-DDR bzw. UdSSR“ war der dritte Diskussionsschwerpunkt der Gruppe. Hier entdeckte man eine starke Abhängigkeit der SED-Führung von Moskau auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet. Die „[m]ilitärisch[e] Situation u[nd] [das] Kräfteverhältnis NATO-Warschauer Pakt“ war vierter Gegenstand der Erörterungen. Der wachsenden Kriegsgefahr nach dem NATO-Doppelbeschluss Ende 1979 wollte man durch den Aufbau einer „Selbst-Verteidigungs-Armee“ nach jugoslawischem Vorbild begegnen.250 Eine wie auch immer ausgestaltete Wiedervereinigung Deutschlands wurde zu Beginn des Jahres 1980 in der Gruppe „bisher ausführlich nicht“ diskutiert. Es wurde aber sehr wohl die Notwendigkeit gesehen, diese Diskussion stärker in der Gruppe zu verankern. Da einige Mitglieder Schwierigkeiten mit dem Begriff „Wiedervereinigung“ hätten, präferierte man für die Diskussion den Terminus „Einheit“.251 Um die Auseinandersetzung der Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 348–351. 248 Vgl. Uwe Tietz, Kurzer Bericht über die Arbeit der Berlin-AG (Stand Ende Juni 1980), in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 414. 249 Vgl. ebd. 250 Vgl. ebd. 251 Vgl. ebd.
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Berliner Grünen mit der nationalen Frage voranzutreiben, wurde die Erstellung einer Broschüre beschlossen. Hier sollten „positive Aspekte, Gründe u. Argumente für die Einheit Deutschlands“ ausgearbeitet werden. Auch wollte man sich mit den Problemen der Linken mit der nationalen Frage beschäftigen.252 Aus der ursprünglichen Berlin-AG ging noch im gleichen Jahr (1980) die Initiative für Paktfreiheit, Einheit, Frieden für Deutschland hervor.253 Diese Gruppe versuchte 1980 / 81 mit weiteren Aktionen auf sich aufmerksam zu machen.254 So wurde ein „Offener Brief“ an Bundeskanzler Helmut Schmidt und an den DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker verfasst. In diesem Text wurde an beide Politiker appelliert, sich der gemeinsamen deutschen Geschichte bewusst zu werden und sich nicht durch die 35-jährige Teilung irritieren zu lassen. Die Deutschen in Ost und West hätten den Wunsch, in „Einheit und Frieden“ zu leben. Die deutsche Teilung und der andauernde Besatzungszustand Berlins wurden als „Fehlentscheidung“ bezeichnet.255 Ebenfalls 1980 erschien ein Flugblatt der Initiative Paktfreiheit, Einheit, Frieden für Deutschland zum 19. Jahrestag des Mauerbaus in Berlin. Hier wurde gefragt, ob die Mauer noch im Jahre 1999 stehen solle. In Düsseldorf könne man diese vermutlich vergessen, ebenso in Dresden, nicht jedoch in Berlin. Hier sei die Mauer tägliche, traurige Realität. Ebenso werde derjenige, der die Mauer flüchtend überwinden wolle, gewaltsam daran gehindert. Auch mit diesem Flugblatt warb die Initiative Paktfreiheit, Einheit, Frieden für Deutschland um die Unterstützung für das Ziel der Paktfreiheit als Grundvoraussetzung für eine spätere deutsche Einheit.256 252 Vgl. Uwe Tietz, Kurzer Bericht (Protokoll) der Sitzung der Berlin AG vom 23. Juni 1980, in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 414. 253 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 347; vgl. Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 97. 254 Gallus und Fleischmann berichten jeweils übereinstimmend, dass die Initiative Paktfreiheit, Einheit, Frieden noch 1980 mit der Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der AL fusioniert habe. Siehe dazu Gallus, Die Neutralisten, S. 347 und Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 98. Allerdings erschien noch 1981 ein Flugblatt mit dem Titel „Atomzielscheibe oder Kulturna tion?“ der Initiative Paktfreiheit, Einheit, Frieden, [Februar 1981], in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 431. 255 Vgl. Initiative für Paktfreiheit, Einheit, Frieden für Deutschland, Offener Brief: An die beiden deutschen Regierungschefs, [1980], in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 431; vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 349. 256 Vgl. Initiative für Paktfreiheit, Einheit, Frieden für Deutschland, 19 Jahre Berliner Mauer, [1980], in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 431; vgl. Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 97; vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 348.
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Mit der Formulierung „Deutschland, ein Wintermärchen immernoch?“ im Untertitel beschäftigte sich die „Initiative für Paktfreiheit, Einheit, Frieden für Deutschland“ in einem Flugblatt anlässlich des 17. Juni 1980 erneut mit dem „17. Juni – Tag der deutschen Einheit“. Für die einen sei es nur ein Feiertag mehr, für die anderen ein Arbeitstag weniger. Solange sich zwei Militärblöcke gegenüberstünden, sei die deutsche Einheit jedenfalls kaum realisierbar.257 Im Februar 1981 erschien ein weiteres Papier der Initiative für Paktfreiheit. Diesmal setzte man sich unter dem Titel „Atomzielscheibe oder Kulturnation?“ dezidiert mit den Resultaten der sozialliberalen Entspannungspolitik auseinander. Diese, so wurde gelobt, habe das Leben der Menschen in Deutschland erleichtert. Jedoch gebe es noch offene Nachkriegsfragen – womit offenbar auch die Deutsche Frage gemeint war – die selbst mit einem reduzierten „Gleichgewicht des Schreckens“ nicht gelöst werden könnten. Die Entspannungspolitik könne von daher auch nur eine Zwischenlösung sein. Ebenfalls wurde über eine mögliche Bereitschaft der Sowjetunion, bei einer reduzierten Bedrohung aus dem Westen über die deutsche Einheit zu verhandeln, spekuliert. Ein paktfreies Gesamtdeutschland könne wieder einen „ehrenhaften Platz in der Geistesgeschichte einnehmen“, war man überzeugt.258 Im Laufe des Jahres 1980 ging schließlich die Initiative für Paktfreiheit in der im selben Jahr gegründeten Arbeitsgruppe Berlinund Deutschlandpolitik der Alternativen Liste auf259, mit dem Resultat, dass die ehemaligen Mitglieder der Paktfreiheits-Gruppe die AG Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste „in personeller und konzeptioneller Hinsicht“260 stark beeinflussten. b) Die Gründung der AG Berlin- und Deutschlandpolitik 1980 Die Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste, die zu Beginn Berlin-Arbeitsgemeinschaft in der Alternativen Liste hieß, wurde im Januar 1980 im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses und des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan gegründet.261 Weiterer wichtiger 257 Vereinigung für Paktfreiheit, Einheit, Frieden für Deutschland [Berlin-AG der Alternativen Liste], 17. Juni – Tag der deutschen Einheit. Deutschland, ein Wintermärchen immernoch?, in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 431. 258 Vgl. Initiative für Paktfreiheit, Einheit, Frieden für Deutschland, Atomzielscheibe oder Kulturnation?, [Februar 1981], in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 431; vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 348–349. 259 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 347; vgl. Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 98. 260 Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 98. 261 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 347.
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Gründungsimpuls war der Wunsch nach Eröffnung eines Diskussionsforums, um aus linker Perspektive über Entwicklungsmöglichkeiten West-Berlins angesichts der besonderen Situation der geteilten Stadt nachdenken zu können. Rasch bemerkte man in der Gruppe, dass eine Beschäftigung mit dem Berlin-Status die Deutsche Frage in ihren europäischen und weltpolitischen Dimensionen berührte.262 Bereits im Mai 1980 waren „12 Thesen zur Einheit, Paktfreiheit und Frieden für Deutschland“263 in der Mitgliederzeitschrift der Alternativen Liste veröffentlicht worden. Hier wurde die andauernde Spaltung Deutschlands im Allgemeinen und Berlins im Besonderen als Quell ständiger Gefahren für den Frieden angesehen. Um diesen Zustand zu beenden, wurde in einer Art Stufenplan erstens die Beschränkung der Arbeit der Alliierten auf den militärischen Bereich, zweitens eine Erklärung der Paktfreiheit beider deutscher Staaten nach österreichischem Vorbild, drittens eine Garantieerklärung der Paktfreiheit durch die Alliierten, viertens ein Verzicht beider deutscher Staaten auf Angriffswaffen, fünftens die Bildung einer gemeinsamen deutsch-deutschen Kommission für Friedensvertragsverhandlungen, sechstens die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung durch alle Deutschen, siebtens eine darauf folgende Garantieerklärung der gesellschaftliche Rechte der arbeitenden Bevölkerung durch beide deutsche Regierungen, achtens eine neue Verfassung kraft Volksabstimmung, neuntens die Wahl einer gesamtdeutschen Regierung, zehntens der Abschluss eines Friedensvertrages, elftens den daraufhin binnen 180 Tagen zu erfolgenden Abzug der alliierten Truppen aus Deutschland sowie zwölftens die Beseitigung aller militärischen Anlagen auf deutsche Kosten gefordert.264 Ende des Jahres 1980 kam es in der Alternativen Liste, offenbar auch im Hinblick auf die bevorstehenden Abgeordnetenhauswahlen 1981, zu einer Mini-Debatte im „Mitgliederrundbrief“ über grüne Programmdefizite, wozu 262 Vgl. Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik (Hrsg.), Paktfreiheit für beide deutsche Staaten, S. 3. 263 Thesen der Berlin-AG, in: 9. Mitgliederrundbrief der Alternativen Liste [1980], S. 39, in: AGG, Bibliothek, ZS 0322. 264 Vgl. ebd. Vgl. auch Gallus, Die Neutralisten, S. 349–350. Gallus konstatiert, die ‚12 Thesen‘ seien „unrealistisch“ und ähnelten einer „Hau-Ruck-Lösung“ der Deutschen Frage. Auch hätten die Autoren bei ihrer Konzeption die Interessen der „eigentlichen Entscheidungsträger im Ost-West-Konflikt, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion“ nicht hinreichend berücksichtigt. Auch Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 104, bläst ins selbe Horn, indem er eine „Verhandlungslösung der deutschen Frage“, wie sie in den Thesen gefordert werde, als „unrealistisch“ verwirft. Beiden Autoren wäre im Sinne der Leitfrage der Studie entgegenzuhalten, dass gerade von den Verfassern der ‚12 Thesen‘ die Phantasie und der Mut gegen den erdrückenden und scheinbar unveränderbaren deutschlandpolitischen Status quo, sich mit der Deutschen Frage zu beschäftigen, aufgebracht wurde.
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auch das Feld der Deutschlandpolitik gezählt wurde. So wurde ein grünes „politisches Gesamtkonzept“ vermisst, das vom Status quo in Berlin ausgehen würde.265 Diese Ansicht wurde im selben Heft von einem weiteren Autor mit dem Pseudonym „Onkel Tupa“ geteilt.266 Auch „Tupa“ vermisste konkrete Stellungnahmen der AL zu den Themen DDR, Friedens- und Berlinpolitik.267 Im Jahr 1981 legte die Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik eine programmatische Broschüre unter dem Titel „Paktfreiheit für beide deutsche Staaten, Atomwaffenfreies Europa vom Atlantik zum Ural, Einheit für Deutschland“268 vor. Diese Broschüre, die zentrale Ansichten der AG zur Deutschen Frage und ihren Lösungsmöglichkeiten enthielt, führte zu Diskussionen innerhalb der Gruppe und zu Kritik aus der „Mutterpartei“, der Alternativen Liste. In der zweiten Auflage der Broschüre wurden u. a. „Begriffsbestimmungen“ angehängt, die noch einmal schlaglichtartig die zentralen Punkte der Gruppe zusammenfassten.269 So wurde unter dem Stichpunkt „Deutschland“ die Absicht betont, keinesfalls die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 anzustreben.270 Unter dem Stichpunkt „Einheit für Deutschland“ hieß es dann folgerichtig: „Territorial kann eine mögliche spätere Einheit Deutschlands nur das Staatsgebiet der beiden bestehenden deutschen Staaten einschließlich Berlin[s] umfassen. Das Ziel der Einheit kann nur mit friedlichen Mitteln, auf der Grundlage der Gleichberechtigung, erreicht werden. Dieses Ziel hat nichts gemein mit Vorstellungen, die DDR in die Bundesrepublik oder die Bundesrepublik in die DDR einzuver leiben.“271
Hinsichtlich der polnischen Westgrenze legte sich die AG fest, dass diese – wie im Warschauer Vertrag festgelegt worden sei – auch nach einem Friedensvertragsschluss mit Deutschland gelten solle. Im gleichen Schritt 265 Vgl. B. Katsch, Quo vadis AL?, in: 11. Mitgliederrundbrief der Alternativen Liste [ca. Ende 1980], S. 5, in: AGG, Bibliothek, ZS 0322. 266 Hinter dem Pseudonym „Onkel Tupa“ verbirgt sich vermutlich Dirk Schneider. 267 Vgl. Onkel Tupa [Dirk Schneider?], Die AL ist tot …, in: 11. Mitgliederrundbrief der Alternativen Liste [ungefähr Ende 1980], S. 6–7, in: AGG, Bibliothek, ZS 0322. Beide Autoren warteten zu diesem Zeitpunkt mit keinen konkreten Vorschlägen für ein deutschlandpolitisches Programm der AL auf. 268 Berlin-Arbeitsgemeinschaft in der Alternativen Liste (Hrsg.), Paktfreiheit für beide deutsche Staaten, Atomwaffenfreies Europa vom Atlantik bis zum Ural, Einheit für Deutschland, Berlin [1981]. 269 Vgl. Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik (Hrsg.), Paktfreiheit für beide deutsche Staaten, S. 3. 270 Vgl. ebd., S. 117. 271 Ebd.
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habe eine Bestätigung der Abtretung Ostpreußens an die Sowjetunion zu erfolgen.272 Im „Mitgliederrundbrief“ der Alternativen Liste wurde diese programmatische Schrift nicht widerspruchslos hingenommen. So enthielt ein Artikel mit dem Titel „Kritische Anmerkungen zur Broschüre der Berlin-AG ‚Paktfreiheit‘…“273 eine Reihe von Vorwürfen, die sich auf die in der Textsammlung ausgebreiteten deutschlandpolitischen Positionen bezogen. Demnach teilten zwar die Berlin- und Deutschland AG und die Gesamt-AL die Feststellung, dass es auf deutschem Boden eine friedensbedrohende Militärkonzentration gebe; jedoch wurde die Ursache der deutschen Teilung vom Verfasser des Rundbrief-Artikels als Folge amerikanischer Großmachtpolitik gesehen, und nicht – wie von der AG – als Folge des Konflikts zwischen der Sowjetunion und den USA. Vielmehr wurde gerade die vorgeblich von den Amerikanern machtpolitisch in die Enge getriebene Sowjetunion für ihre Friedensvertragsinitiativen in den 1950er Jahren in Schutz genommen. Zudem wurde die starke Verknüpfung der Friedensfrage mit der Frage nach der Wiedervereinigung in der Broschüre kritisiert. Zunächst sei die soziale Frage zu lösen, nicht die nationale. Der Verfasser befürchtete zudem ein wiedervereinigtes Deutschland als Aufmarschgebiet für die Amerikaner. Eine Integration der DDR in die Bundesrepublik kam demnach für den Verfasser nicht infrage.274 Die AG Berlin- und Deutschlandpolitik übte maßgeblichen Einfluss auf das deutschlandpolitische Kapitel der Wahlbroschüre der Alternativen Liste für die Abgeordnetenhauswahlen 1981 aus. Überhaupt kann der AG zu Beginn der 1980er Jahre gar „die Rolle eines Meinungsführers“ zugeschrieben werden.275 Im Kapitel „Berlin-Politik“, das den ersten Punkt in der grünen Wahlplattform einnahm, wurde unter der Überschrift „Für Paktfreiheit und Frieden“ die grundlegende Bedeutung der Spaltung Berlins für alle anderen Politikfelder hervorgehoben: „Ob wir Vorschläge zur Wirtschaftspolitik, zum Umweltschutz, zu den verfassungsmäßigen Rechten, zur Kulturpolitik, zur Baupolitik, zur Verkehrspolitik, zur Energiepolitik, zur Arbeitsplatzsituation machen – wir wissen: zu wenig kann 272 Vgl.
ebd. Schneider?], Kritische Anmerkungen zur Broschüre der Berlin-AG „Paktfreiheit …“, in: 17. Mitgliederrundbrief der Alternativen Liste. Für Demokratie und Umweltschutz [1982], S. 10, in: AGG, Bibliothek, ZS 0322. 274 Vgl. ebd. 275 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 353–354; vgl. Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik, Paktfreiheit für beide deutschen Staaten, S. 3. Siehe auch Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 98 sowie Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, S. 349. 273 [Dirk
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
geändert werden, wenn wir nicht die Lebensperspektive der Stadt ändern, wenn wir nicht die Konfrontation zwischen Ost und West in Berlin ändern.“276
Die Aufnahme der Losung „Für Paktfreiheit und Frieden“ in das grünalternative Wahlprogramm rechnete sich die AG als großen Erfolg an.277 Im Programm wurde zudem darauf hingewiesen, dass die politische Lage des geteilten Berlins sich zuvörderst in Abhängigkeit der beiden Supermächte USA und Sowjetunion befinde. Die Berliner Mauer wurde dabei als „Symbol der Menschenfeindlichkeit“278 bezeichnet. Gleichwohl wurde dem Vier-Mächte-Abkommen von 1971 eine positive Wirkung bescheinigt. Für Berlin erhofften sich die Alternativen im Zuge ihrer Friedenspolitik eine Art Vorreiterrolle bei der Lösung der Ost-West-Problematik. So wurden die konkurrierenden Parteien bezichtigt, in Berlin nur noch eine verwaltende Status-quo-Politik zu betreiben. Die sozialliberale Entspannungspolitik wurde dabei als eine Politik des Stillstands, welche die Ursachen des Ost-West-Konflikts nicht behebe, nur „Schlimmeres“ zu verhindern vermöge, kritisiert. Entwürfe anderer Parteien für die Zukunft Berlins, z. B. als europäische Kulturmetropole oder als Zentrum für Dienstleitungen, wurden im Wahlprogramm als „Scheinkonzepte“ abgelehnt. Hingewiesen wurde auf die Entwicklung in Polen, die aus Sicht der AL auf ein Bröckeln der Machtblöcke hindeutete.279 Die Alternative Liste zog aus ihrer Analyse der Berlin-Politik die Schlussfolgerung, „die Frage der deutschen Einheit auf[zu]werfen“.280 Die deutsche Einheit sollte dabei aber nicht in einem „preußischen Zentralstaat“ erfolgen, vielmehr wollte man die genaue staatliche Form offenlassen. Als Basis verwies man auf kulturelle, wirtschaftliche und soziale Kontakte der beiden deutschen Staaten. Einer wie auch immer gearteten Drei-StaatenTheorie wurde eine Absage erteilt. Gleichwohl wurde in dem Wahlprogramm auf „unterschiedliche Ansätze“ zur Lösung der Deutschen Frage verwiesen: „Welche staatlichen und institutionellen Formen diese Einheit annehmen könnte, ist für uns offen.“281 Eine Tabuisierung dieses Problemkomplexes wie bei den „anderen Parteien“ wurde hingegen strikt abgelehnt.282 276 Alternative Liste. Für Demokratie und Umweltschutz (Hrsg.), Wahlprogramm zu den Neuwahlen am 10. Mai 1981, o. O. [Berlin] und o. J. [1981], S. 2. 277 Vgl. Berlin-Arbeitsgruppe in der Alternativen Liste [Uwe Tietz], Flugblatt „AL Berlin-Politik: Für Paktfreiheit und Frieden“ [1980], in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 431. 278 Alternative Liste. Für Demokratie und Umweltschutz (Hrsg.), Wahlprogramm zu den Neuwahlen am 10. Mai 1981, S. 2. 279 Vgl. ebd. 280 Ebd., S. 3. 281 Ebd. 282 Vgl. ebd.
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Voraussetzung für diese Politik war für die Berliner Grünen die Aufgabe „alle[r] Reste des Alleinvertretungsanspruches“ von Seiten der Bundesrepublik. Zudem sollte die staatliche Souveränität der DDR inklusive ihrer Staatsbürgerschaft ohne Einschränkungen „respektiert“ werden.283 WestBerlin sollte nach grüner Lesart zu einem „Zentrum des Friedens“ werden. Hierzu sollte ein Friedensforschungsinstitut unter Beteiligung der Opposi tionellen aus Ost und West gegründet werden.284 Neben der „polnischen Frage“, der Beschäftigung mit der antikommunistischen Revolte in Polen 1980 / 81, stand auch die unabhängige Friedensbewegung der DDR im Fokus der Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschland politik. Das Verbot der SED-Führung, in der DDR das „Schwerter zu Pflugscharen“-Symbol der dortigen Friedensbewegung öffentlich zu tragen, wurde kritisiert. Um die unabhängige Friedensbewegung zu unterstützen, wollte man Unterschriften für den „Berliner Appell“285 sammeln. Zudem wurde auf die Sensibilität der DDR-Bevölkerung hinsichtlich der nationalen Frage verwiesen, die trotz aller Versuche der SED, eine sozialistische Na tion zu kreieren, im zweiten deutschen Staat noch immer relevant sei.286 Nicht zuletzt wurde auf die Verknüpfung von „Frieden“ und „Einheit“ in der DDR-Friedensbewegung verwiesen. Das dortige Denken in historischen Dimensionen, was nach Einschätzung der Berliner Grünen in West-Berlin und Westdeutschland nur vereinzelt vorhanden sei, wurde von der AG Berlin- und Deutschlandpolitik ausdrücklich begrüßt.287 3. Zunehmende Differenzen der AG Berlin- und Deutschlandpolitik mit der AL (1983–1985) Zu Beginn des Jahres 1983 machte das AG-Mitglied Uwe Tietz Vorschläge für die weitere Arbeit der Gruppe. So sollte eine Bestandsaufnahme der Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten, eine Analyse der Kräfte in der Friedensbewegung, eine Positionsbestimmung hinsichtlich einer Verknüpfung der Friedens- mit der Deutschlandpolitik unternommen sowie der 283 Vgl.
ebd., S. 4. Alternative Liste. Für Demokratie und Umweltschutz (Hrsg.), Wahl broschüre zu den Neuwahlen am 10. Mai 1981, o. O. [Berlin] und o. J. [1981], S. 39. 285 Zum „Berliner Appell“ siehe Manfred Wilke, Der Berliner Appell 1982. Erinnerungen eines Zeitzeugen, in: Deutschland Archiv, 2 / 2007, S. 284–287. 286 Siehe zum Themenkomplex DDR-Opposition und nationale Frage Andreas H. Apelt, Die Opposition in der DDR und die deutsche Frage, Berlin 2009. 287 Vgl. AG Berlin- und Deutschlandpolitik, Frieden schaffen ohne Waffen – in beiden deutschen Staaten [1982], in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 442. 284 Vgl.
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Stand der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen ausgearbeitet werden.288 Ebenso auf der Agenda sollten Fragen nach der Verbindung zwischen nationaler und sozialer Frage und eine Einschätzung des Zusammenhangs von nationaler Identität und der Friedensfrage stehen.289 Ein Jahr später versuchte die AG mit ihren „25 Thesen für eine Grüne Deutschlandpolitik“290 neue Pflöcke in die deutschlandpolitische Debatte der Berliner Alternativen Liste einzuschlagen. In ihrem Papier empfahl die Gruppe den Fokus der grünen Deutschlandpolitik stärker auf die Punkte „Paktfreiheit und Konföderation beider deutscher Staaten“ auszurichten. Ebenso müsse der friedenspolitische Charakter der Deutschlandpolitik deutlicher herausgestellt werden.291 Eine positive Reaktion auf die „25 Thesen“ kam von Rolf Stolz, dem Sprecher der Linken Deutschland-Diskussion. Stolz bezeichnete das Berliner Papier als „ausgezeichnet“: Die „Thesen“ seien hilfreich, da diese als „Alternative“ zur Bonner Deutschlandpolitik und auch zur „ahistorisch-‚antinationalen‘ Sprachlosigkeit vieler Linker angelegt“ seien.292 Dirk Schneider, grüner Bundestagsabgeordneter und deutschlandpolitischer Sprecher der Fraktion, kritisierte das Papier der nationalen Grünen hingegen scharf. In seinem Aufsatz „Seid umschlungen, Millionen“293 argumentierte er dabei weniger friedens- als geschichtspolitisch. Die von der AG Berlin- und Deutschlandpolitik aufgestellten „Thesen“ lehnte Schneider unter dem Hinweis ab, der Konföderationsgedanke habe noch nie bei den deutschen Grünen eine Mehrheit gefunden; schlimmer noch aber sei, dass diese „Thesen“ nun von der nationalrevolutionären Zeitschrift „wir selbst“ komplett abgedruckt worden seien.294 Ein weiteres Argument Schneiders gegen eine grüne Beschäftigung mit Konföderationsgedanken war der Hinweis auf die Verursachung des Zweiten Weltkrieges durch die Deutschen: „Jahrzehntelang haben die Deutschen ihre verheeren288 Vgl. Uwe Tietz, Arbeitsvorschläge für die Berlin- und Deutschlandpolitische AG vom 1. Februar 1983, in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 442. 289 Insbesondere war Tietz das Verhältnis von nationaler und sozialer Frage ein Anliegen. Vgl. dazu den Brief von Uwe Tietz an Peter Brandt vom 8. Februar 1983, in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 442. 290 AG Berlin- und Deutschlandpolitik in der AL, 25 Thesen für eine Grüne Deutschlandpolitik, 16. Januar 1984, in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 442. Siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 350–353. 291 Vgl. AG Berlin- und Deutschlandpolitik in der AL, 25 Thesen für eine Grüne Deutschlandpolitik. 292 Rolf Stolz, Zu den 25 Thesen für eine grüne Deutschlandpolitik, o. D. [ca. Februar 1984], in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 442. 293 Dirk Schneider, Seid umschlungen, Millionen. Wie das Stichwort „Wiedervereinigung“ Linke und Rechte zusammenführt, in: Stachlige Argumente, Nr. 28, September 1984, S. 11–15. 294 Vgl. ebd, S. 15.
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den Beiträge zur europäischen Geschichte verdrängt.“295 Gedanken, die über den Status quo hinausgingen, waren viel zu riskant, das „konstruktive Miteinander der gegensätzlichen Systeme“296 blieb für den in Ost-Berlin als IM „Ludwig“297 Registrierten die deutschlandpolitische Methode der Wahl. Wie stand es um die AG Berlin- und Deutschlandpolitik der AL Mitte der 1980er Jahre? Konnte diese ihre Konzepte in praktische Politik umsetzen? Die Gruppe geriet zu dieser Zeit zunehmend in die innerparteiliche Defensive.298 Geschwächt wurde der nationale Flügel der Alternativen Liste insbesondere durch das oben bereits angesprochene Wirken Dirk Schneiders. Zudem bestand in der Alternativen Liste in den Jahren 1984 / 85 weiterer Klärungsbedarf hinsichtlich der eigenen Position zur nationalen Frage. Im Vorfeld der Beratungen zum Wahlprogramm für die Abgeordnetenhauswahlen 1985 erschien im September 1984 ein Heft der Mitgliederzeitschrift der AL „Stachlige Argumente“ mit dem Schwerpunkt „Deutsche Frage? Nationale Identität?“299. Dirk Schneider überschrieb seinen Beitrag mit der Frage: „Berlin – lohnt sich das?“300. Im Sinne der Entspannungspolitik sah Schneider für Berlin eine Art Brückenfunktion vor, um zwischen den beiden deutschen Staaten eine Vermittlerrolle einnehmen und darüber hinaus Grundpfeiler für eine wirkliche Friedenspolitik sein zu können. Sichtbarstes Zeichen einer Friedensstadt Berlin, so wie sie Schneider offenbar vorschwebte, sollte ein Friedensinstitut sein, in dem „Friedensforscher aus Ost und West“ Pläne für eine europäische Friedensordnung ausarbeiten könnten. Darüber hinaus verwarf er das von ihm beobachtete „Frontstadtdenken“ als überholt, da die gegenwärtigen Berliner Probleme – genannt wurden Abwasser, S-Bahn, Verkehr, Umweltfragen – Alltagsprobleme seien, die ohne die DDR-Seite nicht gelöst werden könnten.301 Einen Kontrapunkt setzte im Heft der Beitrag „Politische Kultur und nationale Identität“302 von Herbert Ammon, damals führendes Mitglied der 295 Ebd. 296 Ebd.
297 Nach der Wiedervereinigung wurde bekannt, dass Dirk Schneider als IM „Ludwig“ für die Ost-Berliner Staatssicherheit die Grünen ausgeforscht hatte. Die Zusammenarbeit dauerte dabei von 1975 bis zur Herbstrevolution von 1989. Vgl. Knabe, Die unterwanderte Republik, S. 73–79. 298 Vgl. zum Niedergang der AG auch Gallus, Die Neutralisten, S. 353–356. 299 Stachlige Argumente. Rundbrief der Alternativen Liste: Deutsche Frage? Nationale Identität?, Nr. 28, September 1984. 300 Dirk Schneider, Berlin – lohnt sich das?, in: Stachlige Argumente, Nr. 28, September 1984, S. 4–5. 301 Vgl. ebd. 302 Herbert Ammon, Politische Kultur und nationale Identität, in: Stachlige Argumente, Nr. 28, September 1984, S. 34–35. Ammons Beitrag im Heft war der
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AG. Ammon wehrte sich gegen die Nationalismusvorwürfe gegenüber einer vom ihm präferierten Konföderationspolitik der AL: „Weil die Deutschen bei jeglicher den Status quo tangierenden politischen Bestrebung mit dem ‚Nationalismus‘-Vorwurf zu treffen sind, hat die gesamt-deutsche Friedensbewegung eine umfassende Diskussion der Deutschen Frage als ungelöster, zentraler Frage des europäischen Friedens vermieden, sich selbst blockiert.“303
Kein Deutscher könne sich von der geschichtlichen Vergangenheit des eigenen Landes freimachen, konstatierte Ammon. Dies entbinde die Deutschen aber nicht von einem verantwortungsbewussten Umgang mit gegenwärtigen Problemen, die ein „abgeklärtes politisches Bewusstsein“ erforderten. Für ihn war es daher zwingend notwendig, mit einer Lösung der Deutschen Frage Alternativen zur bisherigen Politik der Blockkonfrontation zu erreichen.304 Zwischen Dirk Schneider und der AG Berlin- und Deutschlandpolitik hatte es einige Zerwürfnisse gegeben. Aus Schneiders Sicht drückte sich in der Politik der Gruppe „ein tiefverwurzeltes antikommunistisches oder anti,realsozialistisches‘ Ressentiment aus“305. Schneider sprach in diesem Zusammenhang auch von „Widerstand“ gegen seine deutschlandpolitische Linie, die bekanntermaßen in der Anerkennung der Zweistaatlichkeit lag. Schneider beklagte zudem, dass seine Papiere von der AG gar nicht gewürdigt würden, dass diese den Mitgliedern vorenthalten würden. Zudem bezeichnete er die Gruppe der Wiedervereinigungsfreunde gar als „Sekte“.306 Im Wahlprogramm zu den Abgeordnetenhauswahlen 1985 zeigte sich im Vergleich zum Programm von 1981 bereits eine deutliche Verschiebung in der deutschlandpolitischen Statik des Berliner Ablegers der Grünen. In diesem Jahr rückte der Punkt „Berlin- und Deutschlandpolitik“ unter 26 Punkten auf den vorletzten Platz, hatte aber immerhin noch einen Umfang von 14 gedruckten Seiten. Auf Platz 24 stand die „Friedenspolitik“, die aus Sicht der Grünen im weiteren Sinne den Ost-West-Konflikt berührte.307 Im einzige von insgesamt elf Artikeln, der sich für eine Konföderationspolitik aussprach, was im Herbst 1984 bezeichnend war für den Stellenwert der AG Berlinund Deutschlandpolitik. 303 Ebd., S. 35. Hervorhebung im Original. 304 Vgl. ebd. 305 Dirk Schneider, Mitglied des Deutschen Bundestages von März 1983 bis März 1985. Rechenschaftsbericht und Erfahrungen, [August 1986], in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 65. 306 Vgl. ebd. 307 Siehe das Inhaltsverzeichnis des Wahlprogramms, in: Alternative Liste (Hrsg.), Wahlprogramm der Alternativen Liste 1985, Berlin 1985, ohne Seitenzahl. Auf dem letzten Platz fanden sich Ausführungen zur „Dritte[n] Welt“ wieder. In den vorderen Kapiteln beschäftigte man sich mit den Komplexen „Dezentralisierung“, „Frauen power“, „Ausländerpolitik“, „Kinder“, „Jugend“, „Drogenpolitik“ u. a. m. Vgl. ebd.
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einleitenden Kapitel „Wer wir sind – und was wir wollen“ fanden sich nur dünne Hinweise auf die deutschlandpolitische Lage der geteilten Stadt. Der Mauerbau und die Berlin-Blockade wurden genannt, die Notwendigkeit einer „aktive[n] Friedenspolitik“ wurde beschworen.308 Die Erkenntnis aus der Präambel des deutschlandpolitischen Teils des Wahlprogramms von 1981, dass viele Probleme in Berlin erst mit Lösung der Deutschen Frage beseitigt werden könnten, tauchte aber im Wahlprogramm von 1985 erneut auf, wenn auch in leicht veränderter, verklausulierter Form: „Berlin- und Deutschlandpolitik ist für uns kein Randproblem der Stadtpolitik. Ob wir Vorschläge zur Wirtschaftspolitik, zum Umweltschutz, zur Bau- und Verkehrspolitik, zur Energiepolitik, zur Arbeitsplatzsituation und zu demokratischen Grundrechten machen, stets stoßen wir an die Grenzen der Stadt und ihrer Statusfragen.“309
Die Ursache für die deutsche Teilung und die schwierige Lage Berlins als Nahtstelle des Ost-West-Konflikts verortete man in der verbrecherischen Politik des NS-Regimes. Allerdings sei die Spaltung Deutschlands auch eine Folge des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den westlichen Alliierten.310 Den Grundlagenvertrag von 1972 bezeichneten die Berliner Grünen als „ausbaufähig“311. So seien die deutsch-deutschen Beziehungen „noch immer nicht normal“312 und das Hauptziel sei eben nicht eine deutsche Wiedervereinigung. Daher richtete man die Hoffnungen „auf die Einigung der Europäer in West und Ost.“313 Die Deutsche Frage hielt man für existent; sie sei indes nur für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten untereinander und zu den jeweiligen europäischen Nachbarn wichtig.314 Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und den Artikel 116 (1), der die deutsche Staatsangehörigkeit regelt, lehnte die AL entschieden ab. Diese beiden wichtigen juristisch-politischen Bedingungen für die später erfolgte deutsche Einheit verwarf man unter dem Hinweis, diese würden die „staatliche Souveränität der DDR in Frage stellen“315 und zudem beim Nachbarn Polen unnötig Ängste hervorrufen, wenn weiterhin eine Änderung der bestehenden Grenzen an die Konstellation des Jahres 1937 durch „die 308 Vgl.
ebd., S. 8. S. 315. 310 Vgl. ebd. 311 Ebd., S. 316. 312 Ebd. 313 Ebd., S. 317. 314 Vgl. ebd. 315 Ebd., S. 322. 309 Ebd.,
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Verwendung des Begriffs ‚Rechtssubjekt Deutsches Reich‘ “316 angestrebt werde. Die gegenseitige Respektierung der jeweiligen Staatsbürgerschaften war logische politische Forderung der AL, ebenso die Abschaffung der Erfassungsstelle in Salzgitter, deren Akten an Amnesty International zur Auswertung übergeben werden sollten, sowie schließlich die Anerkennung der Elbe-Flussmitte als Grenzverlauf der beiden deutschen Staaten.317 Das Berlin-Abkommen von 1971 wurde gelobt, da es zur Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen geführt habe; für die Zukunft wolle man sich aber nur noch mit Schutzversprechen der Alliierten für Berlin begnügen, das bestenfalls auch noch ohne ihre militärische Präsenz in der Stadt durchgesetzt werden solle.318 Das (wenn auch zunächst einseitig) von bundesdeutscher an die östliche Seite vorzutragende Angebot einer Paktfreiheit sah die Berliner AL auch in ihrem Programm von 1985 als das geeignete Mittel an, um zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu gelangen.319 In der deutschen Teilung sah man zudem eine friedenspolitische Rückversicherung für mögliche Vorbehalte der europäischen Nachbarn Deutschlands gegenüber einer wie auch immer gestalteten staatlichen Einheit („Ängste vor dem Entstehen einer europäischen Zentralmacht“).320 In einer als „Minderheitenmeinung“ gekennzeichneten Passage wurde die Paktfreiheit als Prozess angesehen, der eine „staatliche Vereinigung von Bundesrepublik und DDR“321 nicht ausschloss. Zudem sah man aber keinen Vorrang einer Lösung der Deutschen Frage vor der Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses. Die Menschen sollten letztlich frei entscheiden könnten, „ob sie eine Vereinigung, einen Staatenbund oder eine endgültige staatliche Trennung befürworteten.“322 Jedoch wurde auch von der „Minderheitenmeinung“ die Ansicht vertreten, dass es weder einen „Anschluß“ der DDR an die Bundsrepublik noch eine „bürgerlich-kapitalistische Restauration in der DDR“323 geben dürfe.
316 Ebd. 317 Vgl.
ebd., S. 323. ebd., S. 324–325. 319 Vgl. ebd., S. 319. 320 Vgl. ebd., S. 320. 321 Ebd., S. 321. 322 Ebd. 323 Ebd. 318 Vgl.
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4. Konflikte mit der SED vermeiden – Die gescheiterte DDR-Reise der Alternativen Liste 1986 Während die AG Berlin- und Deutschlandpolitik um die Erwähnung der Paktfreiheit im Wahlprogramm kämpfte, betrieb man von Seiten der „Mutterpartei“ AL deutschlandpolitische Realpolitik. Anfang Dezember 1985 hatte sich der Vorstand der Alternativen Liste, der Geschäftsführende Ausschuss (GA), brieflich an den DDR-Staats- und Parteichef zwecks Aufnahme offizieller Gespräche gewandt. Zuvor hatte der GA solche Gesprächskontakte als „politisch für sinnvoll und überfällig“ erklärt. Mit Blick auf die SED unterstellte man das Interesse an solcherlei Gesprächen mit den Berliner Grünen, da man in der Selbstwahrnehmung zu einem stabilen Pfeiler in der westdeutschen Parteienlandschaft geworden sei.324 Den geplanten Gesprächen mit der SED-Führung billigte man den Charakter von „Informationsgesprächen“ zu. Da man Oppositionspartei sei, könne es zu keinen Vertragsabschlüssen mit der Gegenseite kommen. Um sich ein „möglichst umfassendes Bild von der DDR-Wirklichkeit“ zu machen, strebte man zudem einen Meinungsaustausch mit Vertretern der DDROpposition an. Gleichwohl wurde festgehalten, dass man nicht als Vertreter der DDR-Opposition in die Gespräche mit der SED-Führung eintreten könne325, was als deutlicher Hinweis zu werten ist, dass man sich an dieser Stelle mit einer gehörigen Portion vorauseilenden Gehorsams den SEDGenossen näherte. Man rechnete zudem mit Gefahren auf dem „diplomatischen Parkett“. Dieser Hinweis wurde in dem Antrag dazu genutzt, noch einmal deutlich an die Disziplin der Mitreisenden, und zwar ganz im Sinne der DDR, zu appellieren: „Minimierbar ist dieses Risiko [diplomatischer Fehltritte, L. H.] nur, wenn die Gespräche gründlich vorbereitet werden, die Delegationsteilnehmer / innen sich an Absprachen halten und die Delegation in sich solidarisch ist.“326 Durch die Nominierung der Delegationsmitglieder für die DDR-Reise entstand ein innergrüner deutschlandpolitischer Konflikt. Der Delegiertenrat hatte im Vorfeld der Reise die Nichtnominierung des Mitglieds der AG Berlin- und Deutschlandpolitik, Wolfgang Schenk, beschlossen. Diese Entscheidung wurde in einer Erklärung von Mitgliedern der AL kritisiert, die diese Entscheidung nicht nachzuvollziehen mochten. Es wurde vor einer Verletzung der „Grundprinzipien“ der AL gewarnt, die festlegten, weder 324 Vgl. Geschäftsführender Ausschuß der Alternativen Liste Berlin, Antrag an den Delegiertenrat am 12. November 1986, in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 650. 325 Vgl. ebd. 326 Ebd.
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dem Osten noch dem Westen gegenüber loyal zu sein. Die konkrete Kritik richtete sich denn auch gegen einen vorauseilenden Gehorsam („Selbstzensur“) des Delegiertenrates der SED-Führung gegenüber, indem man auf das kritische Mitglied Schenk, der sich für Gespräche mit der DDR-Opposition stark machte, bei Gesprächen mit der DDR-Staatspartei verzichten wollte. Die Ablehnung von Rupert Schröter, einer weiteren Führungsfigur der AG, als Ersatz für Schenk, beurteilte man in der Erklärung als „folgerichtig“.327 Die geplante DDR-Reise von Mitgliedern der Alternativen Liste legte die deutschlandpolitische Konfliktlage der Berliner Grünen offen: Dabei ging es zum einen um die Nichtnominierung des Mitglieds der Berlin-AG, Wolfgang Schenk, zum anderen um mögliche Treffen mit Oppositionsvertretern während der DDR-Reise. Letztlich sagte der Vorstand der Alternativen Liste am 21. November 1986 die für den 8. und 9. Dezember 1986 geplante DDR-Reise ab, da die SED-Führung Einreiseverbote für die Delegationsmitglieder Renate Künast und Michael Wendt ausgesprochen hatte. Die AL wollte sich von der SED-Führung nicht verbieten lassen, neben offiziellen Kontakten auch Kontakte zu „kritischen DDR-Bürgern“ herzustellen, womit DDR-Oppositionelle gemeint waren.328 Insofern blieb sich die AL in ihrer Berlin-Politik treu: zunehmend SED-freundlich, aber letztlich für diese weiterhin unberechenbar. 5. Der Austritt der AG Berlin- und Deutschlandpolitik aus der Alternativen Liste 1987 Bereits während des Streites um die Reise einer AL-Delegation in die DDR hatte Wolfgang Schenk, an dessen Nichtnominierung der Streit der deutschlandpolitischen Richtungen der Berliner Grünen eskalierte, in einem Fernsehinterview im November 1986 von einer zunehmenden Dominanz der Zweistaatlichkeitsbefürworter innerhalb der Partei gesprochen. Er warnte davor, Berlin zu einer unabhängigen Stadt zu machen und die Bindungen zum Bund zu lockern. Dies seien „aufgewärmte“ Ideen der SED aus den 1960er Jahren.329 327 Vgl. Erklärung von Mitgliedern der AL zum Thema „Delegation der AL, Gespräche mit der SED und Nichtnominierung von Wolfgang Schenk“, o. D. [ca. November 1986], in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 650. Zu den 33 Unterzeichnern der Erklärung gehörten u. a. die Führungsmitglieder der AG Berlinund Deutschlandpolitik Rupert Schröter und Uwe Tietz. 328 Vgl. Geschäftsführender Ausschuß der Alternativen Liste, AL fährt nicht in die DDR. Offizielle Delegationsreise abgesagt, Pressemitteilung vom 21. November 1986, in: AGG, Bestand G.01 – FU Berlin, Akte 650. 329 Vgl. Berliner Abendschau vom 13. November 1986, in: BStU, ZA, MfS – AG XVII 1417, Bl. 002.
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Die einflussreiche linke „Mittwochsrunde“ der AL, zu denen auch die beiden Stasi-Zuträger Dirk Schneider und Klaus Croissant330 gehörten, legte im Oktober 1986 ihre „20 Thesen zu Westberlin“331 vor. In diesem Papier forderten die Verfasser eine neue Rolle Berlins, das sich „von den Illusionen und Lebenslügen“ zu verabschieden habe und sich „eine eigene Identität und neue Aufgaben schaffen“ müsse. Der Besatzungsstatus Berlins wurde als Hindernis hierfür angesehen; allerdings wollte man das Vier-MächteAbkommen als Rahmen für das zukünftige Berlin erhalten wissen. Hierzu sollten dann von den westlichen Alliierten „lediglich symbolische Einheiten“ in der Stadt präsent bleiben. Das Grundgesetz sollte geändert werden, um die „Verfaßtheit der BRD als vorübergehendes Provisorium“ zu beenden. Die Bundesrepublik müsse sich endlich selbst anerkennen. Die Zukunft Berlins sahen die Verfasser in der Rolle einer Friedensstadt, die entmilitarisiert und wirtschaftlich als Handelsbrücke zwischen Ost und West fungieren sollte.332 Die „20 Thesen“ der Mittwochsrunde führten zu einer neuerlichen deutschlandpolitischen Diskussion innerhalb der AL. Auf ihrer Mitgliedervollversammlung im März 1987 unternahm die AL einen weiteren Versuch, zu einer endgültigen Klärung ihrer deutschlandpolitischen Positionen zu gelangen. An der innerparteilichen Diskussion beteiligte sich auch wieder die AG Berlin- und Deutschlandpolitik mit einem Papier mit dem Titel „Berlin – eine deutsche Friedensstadt. Kritik der sozial-alternativen Teilungs euphorie“333. Auch diese Versammlung der Berliner Grünen konnte keine Einigung herbeiführen, sodass die Debatte in der Mitgliederzeitschrift fortgesetzt wurde.334 Auch eine Erörterung der deutschlandpolitischen Problematiken auf niedriger Ebene, dem Delegiertenrat, der sich aus Vertretern der Bezirke und Arbeitsbereiche zusammensetzte, brachte keine Lösung. So wurde im Pro330 Neben Dirk Schneider gehörte der Rechtsanwalt Klaus Croissant (IM „Taler“) zu denjenigen in der Berliner AL, die „massiv“ (H. Knabe) die politische Agenda der Partei beeinflusst haben. Auch die Lebensgefährtin Croissants, die spätere Grünen-Europaabgeordnete Brigitte Heinrich, arbeitete als IM „Beate Schäfer“ für das MfS. Vgl. Knabe, Die unterwanderte Republik, S. 80–81. 331 Mittwochsrunde der Alternativen Liste, 20 Thesen zur Westberlin. Nicht nationale Aufgabe, sondern Brücke des Friedens zwischen Ost und West, Oktober 1986, in: Stachlige Argumente, Nr. 42, Dezember 1986, S. 39–41. 332 Vgl. ebd. 333 AG Berlin- und Deutschlandpolitik in der AL, Berlin – eine deutsche Friedensstadt. Kritik der sozial-alternativen Teilungseuphorie, 22. Februar 1987, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 65. 334 Vgl. Thomas Fruth, Berlin- und „Deutschland“-Politik der AL. Bewegung in der Debatte, in: Stachlige Argumente, Nr. 44, Mai 1987, S. 42–43.
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
tokoll der Sitzung vom 30. September 1987 vermerkt: „Die Berlin- und Deutschland AG erklärt, daß sie die Wiedervereinigung für unverzichtbar hält“335. Die politische Entscheidungsschlacht sollte dann am 21. Oktober 1987 auf der grünen Mitgliedervollversammlung, die als Schwerpunktthema die Berlin-Politik hatte, stattfinden.336 Nach einem Gastvortrag von Peter Bender, einem der Vordenker der sozialliberalen Entspannungspolitik und Befürworter der deutschen Zweistaatlichkeit337, in dem dieser seine berlin politischen Vorstellungen referierte, befasste sich die Versammlung mit dem Tagesordnungspunkt „Berlin- und Deutschlandpolitik“.338 Insgesamt lagen den Delegierten – je nach Zählung – bis zu sechs Anträge zur Berlin- und Deutschlandpolitik vor.339 Anhand zweier Papiere lassen sich dabei die deutschlandpolitischen Pole der Berliner Grünen idealtypisch abbilden: Das sog. „Kompromißpapier“340, erstellt von einer AL-weiten Arbeitsgruppe um Dirk Schneider, war für die unbedingte Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit: „Am Anfang aller Berlin-Politik muß das klare Bekenntnis zur Zweistaatlichkeit stehen. Wir treten für die Anerkennung der DDR und ihrer Staatsbürgerschaft, für den Verzicht auf die Wiedervereinigung ein.“341 Einzig der Antrag der AG Berlin- und Deutschlandpolitik legte gleich im ersten Punkt des Papiers ein klares Bekenntnis zur Wiedervereinigung ab: „Die deutsche Frage hat sich nicht durch die 40-jährige Teilung und Gewöhnung an die Zweistaatlichkeit ‚erledigt‘ “.342 In ihrem Antrag wies die Gruppe auf das „Selbstbestimmungsrecht aller Völker“ hin, das auch den Deutschen nicht verwehrt werden dürfe. Die Entscheidung über den zukünftigen Status Deutschlands, ob weiterhin getrennt oder wiedervereint, solle 335 AL Berlin, Protokoll zum Delegiertenrat vom 30. September 1987, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 53. 336 AL Berlin, Einladung zur MVV der Alternativen Liste, o. D. [Oktober 1987], in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 66. 337 Vgl. Peter Bender, Offensive Entspannung – Möglichkeit für Deutschland, 4. Aufl., Köln u. a. 1965; Vgl. ders., Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR, Frankfurt a. M. 1968. 338 Vgl. AL Berlin, Protokoll der Mitgliedervollversammlung am 21. Oktober 1987, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 66. Zum Austritt der AG Berlin- und Deutschlandpolitik aus der AL siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 356–357. 339 Vgl. AL Berlin, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Berlin- und Deutschlandpolitik, o. D. [Oktober 1987], in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 66. 340 Dirk Schneider u. a., Für eine alternative Berlin-Politik, Antrag vom 8. September 1987, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 66. 341 Ebd. 342 Rupert Schröter u. a., Antrag der AG Berlin- und Deutschlandpolitik an die MVV vom 16. März 1987, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 66.
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dem deutschen Volk zur Abstimmung gestellt werden.343 Auch diese Versammlung konnte sich nicht auf eine gemeinsame grün-alternative Position in der Berlin- und Deutschlandpolitik einigen.344 Ende Oktober 1987 erfolgte dann der endgültige Austritt der AG aus der Alternativen Liste. Für ihre politischen Ziele, zu denen ja auch die Überwindung der deutschen Teilung gehörte, sahen die restlichen Mitglieder keine Chance mehr, in der AL Gehör zu finden.345 Im Austrittsbeschluss vom 26. Oktober 1987 wurde die Dominanz der „linkssektiererischen ‚Strömungen‘ “ in der AL kritisiert und die damit verbundene Abkehr von den „Prinzipien aus der Gründungszeit“ bedauert. Einzelne Mitglieder aus der nun unabhängigen AG sollten aber „als Einzelpersonen“ durchaus in der AL weiterhin Mitglied bleiben können.346 Wie wurde der Austritt in der Partei wahrgenommen? Im Rechenschaftsbericht des Geschäftsführenden Ausschusses für die Jahre 1987 / 88 wurde die Trennung der Berlin- und Deutschland-AG von der AL bedauert. Zugleich wurde von Seiten des GA der Versuch unternommen, eine neue Gruppe für Berlin-Fragen ins Leben zu rufen. Ebenso wurde die Erarbeitung bzw. endgültige Klärung der deutschlandpolitischen Positionen der Berliner Grünen angekündigt. Zudem waren kurz vor dem Besuch Erich Honeckers in die Bundesrepublik im September 1987 Mitglieder der AL in die DDR gereist und hatten Kontakte zu dortigen Umweltgruppen aufgenommen. Diese Ak tion hatte ein promptes Einreiseverbot für die Teilnehmer zur Folge. Im Berichtszeitraum wurde zudem das Zentralkomitee der SED vom Geschäftsführenden Ausschuss zwecks gemeinsamer Gespräche angeschrieben. Der Brief blieb aber bis zur Drucklegung des Berichtes unbeantwortet.347 War 1987 das endgültige Ende der AG Berlin- und Deutschlandpolitik gekommen? Nein, denn obwohl sich die Gruppe aus der Partei verabschie343 Vgl.
ebd. AL Berlin, Protokoll der Mitgliedervollversammlung am 21. Oktober 1987, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 66. 345 Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 356. 346 Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Berlin- und Deutschlandpolitik, Beschluß [über den Austritt aus der Alternativen Liste] vom 26. Oktober 1987, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 12229, Bl. 292. Die Abspaltung der Gruppe könnte auch erst am 2. November 1987 erfolgt sein. Gallus liegt ein Austrittsschreiben vom 2. November 1987 vor. Vgl. Gallus, Die Neutralisten, S. 356, Fußnote 48. Kaum waren die deutschlandpolitischen Quälgeister von der AG aus der Alternativen Liste ausgetreten, fuhr eine Delegation unter dem AL-Vorsitzenden Wolfgang Wieland zu den 750-Jahr-Feiern nach Ost-Berlin. Vgl. Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden, S. 198. 347 Vgl. Rechenschaftsbericht des Geschäftsführenden Ausschusses der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz für das Jahr 1987 / 88, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 66. 344 Vgl.
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det hatte, arbeitete sie jetzt unabhängig weiter. Doch zunächst vernahm man nach dem Austritt aus der AL auch selbstkritische Töne. Neben dem „unsäglichen AL-Clinch“ habe es zunehmend ein „Schmoren im eigenen Saft“ gegeben. Die Gruppe habe sich in den vergangenen Jahren fast nur noch mit Broschüren und eben nicht mehr mit größeren und öffentlichkeitswirksamen Projekten hervorgetan. Der Fokus der zukünftigen Arbeit sollte wieder verstärkt auf die Lösung der Deutschen Frage gerichtet werden.348 Am 16. November 1987 traf sich dann die nun unabhängige Berlin-AG zu ihrer konstituierenden Sitzung. Auf dieser konnte man sich zwar noch nicht auf ein neues gemeinsames Arbeitsprogramm einigen, jedoch sollte zukünftig dem Thema Umweltschutz (auch in der DDR) und der besonderen BerlinProblematik (u. a. alliierte Militärpräsenz) verstärkt Rechnung getragen werden.349 Der zum Sprecher bestimmte Rupert Schröter hatte der Versammlung zudem den Entwurf eines „Offenen Briefs“ an die Regierungen der beiden deutschen Staaten und der vier alliierten Mächte vorgelegt, in dem er aber, wie er der Versammlung in einem Anschreiben mitteilte, die Deutsche Frage nicht direkt angesprochen haben wollte, da er befürchtete, sein Text könnte „am Nationalismus-Vorwurf“ scheitern. Jedoch wollte er mit dem „Offenen Brief“ die bekannten Themen „Paktfreiheit“ und „Truppenabzug“ wieder in die Debatte bringen, zumal sich ja daraus auch wieder die Frage nach der gemeinsamen deutsch-deutschen Zukunft stellen könnte.350 Auf ihrem Treffen im November 1987 diskutierten die Mitglieder der Berlin-AG über die Repressionsmaßnahmen des SED-Staates gegen die OstBerliner „Umweltbibliothek“. Man wollte mit einem Protestschreiben an SED-Generalsekretär Erich Honecker, das im überregionalen Teil der alternativen „Tageszeitung“ veröffentlicht werden sollte, auf die Vorgänge aufmerksam machen und zugleich die eigene Gruppe der Öffentlichkeit bekannt machen.351 Im Dezember 1987 schließlich veröffentlichte die AG dann diesen „Offenen Brief“ an Erich Honecker mit dem Titel „Grenzfälle gehen uns alle an“. Darin wurden die Stasi-Aktionen gegen die Ost-Berliner „Umweltbibliothek“ kritisiert und die Aufhebung der Berufsverbote von DDRKünstlern, namentlich von Freya Klier, Stefan Krawczyk und Lutz Rathenow, gefordert.352 348 Vgl. Albrecht Lepple-Wienhues, Vorschlag für einen Arbeitsplan vom 10. November 1987, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 12229, Bl. 307. 349 Vgl. Berlin-AG, Protokoll der Sitzung vom 16. November 1987, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 12229, Bl. 305. 350 Vgl. ebd., Bl. 306. 351 Vgl. Berlin-AG, Protokoll der Sitzung der Berlin-AG am 30. November 1987, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 12229, Bl. 315–316. 352 Siehe AG Berlin- und Deutschlandpolitik, Aufruf „Grenzfälle gehen uns alle an“, o. D. [ca. Dezember 1987], in: BStU, ZA, MfS – HA XX 12229, Bl. 309.
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6. Die Alternative Liste und die Friedliche Revolution 1989 Nach der Trennung der AG Berlin- und Deutschlandpolitik von der AL waren die Bezüge zur Deutschen Frage im Wahlprogramm der Berliner Grünen für die Abgeordnetenhauswahl 1989 auf wenige Seiten reduziert worden. Nicht einmal ansatzweise war jetzt von der deutschen Teilung die Rede. Die West-Berliner alternative Deutschlandpolitik bestand jetzt hauptsächlich aus Umweltfragen. Es wurde eine Gefährdung der Gesundheit der Menschen durch ungefilterte Emissionen aus Braunkohlekraftwerken der DDR beklagt; ebenso sah man die Kernkraftwerke im zweiten deutschen Staat als Risiko für die Gesundheit der Berliner an. Unterstützung wurde hingegen den Umweltgruppen bei ihrer Arbeit in der DDR zugesichert; Repressionen durch die DDR-Führung wurde eine Absage erteilt.353 Im Kapitel „Geschichte gegen den Strich“ wurde von der AL die Geschichtspolitik der Kohl-Regierung und des CDU-geführten Berliner Senats kritisiert. Nach Ansicht der Berliner Grünen war eine gefährliche Umdeutung der deutschen Geschichte im Gange, die man nicht mittragen wolle. So wurden der Händedruck von Bundeskanzler Kohl mit dem US-Präsidenten Reagan in Bitburg und die Berliner 750-Jahr-Feierlichkeiten als Ausdruck einer Verdrängung des Nationalsozialismus aus dem deutschen Geschichtsbild respektive Selbstverständnis interpretiert. Zudem sah man diese Umdeutungen der deutschen Geschichte als zweckmäßig an, „die westliche Militärallianz gegen ‚den Osten‘ zu untermauern.“354 Wenige Monate vor dem Fall der Mauer analysierten die Berliner Grünen das aufziehende Jahr 1989 als ideale Möglichkeit, sich mit „deutscher Großmachtpolitik“ auseinanderzusetzen: „Das Jahr 1989 ist der Anlaß, sich erneut mit deutscher Großmachtpolitik auseinanderzusetzen: Vor 75 Jahren begann der 1. Weltkrieg; vor 50 Jahren [der] 2. Weltkrieg; dazwischen scheiterte 1918 / 19 die Revolution in Deutschland; vor 40 Jahren wurden zwei deutsche Staaten gegründet. Dies sind die Ergebnisse der deutschen Geschichte.“355
Die Friedliche Revolution 1989 / 90 wurde – wie eingangs dargestellt – nur von einem kleinen Teil der Berliner AL begrüßt. Im Rückblick auf die deutschlandpolitischen Auseinandersetzungen allerdings, welche die Wiedervereinigungsfreunde innerhalb der Berliner Grünen in den 1980er Jahren mit ihren Parteifreunden auszufechten hatten, kann man auch positiv konstatieren: Immerhin! 353 Vgl. Alternative Liste (Hrsg.), Das Wahlprogramm der Alternativen Liste 1989, Berlin 1989, S. 13. 354 Ebd., S. 81. 355 Ebd., S. 82.
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Der Mainstream der AL versuchte sich in der Konservierung des deutschlandpolitischen Status quo, der doch im Herbst 1989 längst Geschichte geworden war. So wurde in einem Flugblatt Mitte November 1989 die Maueröffnung zwar begrüßt, diese jedoch als „Erfolg der demokratischen Massenbewegung in der DDR“ verbucht und nicht als „das Ergebnis der Politik der kalten Krieger im Westen“356. Eindeutig status-quo-orientiert blieb man, als es um die deutsche Einheit ging: „Es muß […] Schluß gemacht werden mit der Bonner Wiedervereinigungspropaganda.“357 Gleichwohl gab es aber auch frühe Zweifel an der Möglichkeit, sich in der Frage nach der Zukunft des geteilten Berlins zu enthalten. So vermerkte ein Protokoll des AL-Delegiertenrates358, ebenfalls vom November 1989, dass man sich nicht auf die Fortdauer der Zweistaatlichkeit festlegen sollte.359 Dass die innergrüne Debatte über die Wiederherstellung der deutschen Einheit auch Mitte Dezember 1989 noch andauerte, zeigte die „Persönliche Erklärung“ des Mitglieds des „Bereiches Berlin-Politik“ der AL, Peter Wörndl. In dieser aus tiefer Enttäuschung formulierten Kritik an der weiterhin an der Zweistaatlichkeit festhaltenden Alternaiven Liste führte er aus: „Das penetrante Festhalten an der deutschen Zweistaatlichkeit, koste es was es wolle, ist nicht geeignet, die AL als wählbare Alternative zu den alten Parteien […] auf Dauer attraktiv zu halten. Außerdem stößt dies jene Mitglieder, zu denen ich mich bekannterweise auch zähle, die trotz anders lautender Mehrheitsmeinung schon immer für die deutsche Einheit und deren Verwirklichung eingetreten sind, vor den Kopf.“360
Ein weiterer prominenter Wiedervereinigungsbefürworter in der Berliner AL im Herbst 1989 war der verkehrspolitische Sprecher im Abgeordnetenhaus, Michael Cramer. Er verortete die Reserviertheit vieler deutscher Lin356 Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz, Umbruch in der DDR – Im Westen nichts Neues? Flugblatt, November 1989, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 54. 357 Ebd. 358 Der Delegiertenrat der Alternativen Liste ist die Versammlung der aus den Bezirksgruppen und Arbeitsgemeinschaften gewählten Delegierten. Siehe Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz, Satzung vom 16. April 1988, Stand vom 10. Oktober 1988, in: AGG, Bibliothek, Signatur 2003 / D22. 359 Vgl. Alternative Liste, Protokoll des Sonder-Delegiertenrates vom 15. November 1989, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 54. Konkret ging es um einen Antrag der Kreuzberger Bezirksgruppe, der die „Zweistaatlichkeit als Grundlage guter Beziehungen“ bezeichnete. Vgl. Alternative Liste, Antrag der Bezirksgruppe Kreuzberg an den Delegiertenrat vom 15. November 1989, in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 54. 360 Peter Wörndl, An den Delegiertenrat und Geschäftsführenden Ausschuss sowie den Bereich „Berlin-Politik“ der AL: Persönliche Erklärung, o. D. [ca. Dezember 1989], in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 54.
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ker gegenüber der Deutschen Frage in der „Angst vor einer gigantischen Zunahme der kapitalistischen Wirtschaftsmacht“. Diese Haltung kritisierte Cramer als „ein mechanistisches und unlebendiges Politikverständnis“.361 Noch im März 1990 lehnte man in der Alternativen Liste den „Anschluß der DDR nach Art. 23 GG“362 ab. Drei Wochen vor den Abgeordnetenhauswahlen 1990 zerbrach die erst ein Jahr zuvor geschlossene rot-grüne Koali tion unter dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper (SPD). Man hatte sich über einen vermeintlich nicht abgesprochenen Einsatz gegen Hausbesetzer zerstritten.363 Die Quittung für das grün-alternative Lavieren – nicht nur in deutschlandpolitischen Fragen – war die Übernahme der Regierungsverantwortung in Berlin durch eine Große Koalition aus CDU und SPD.364 7. Die Beobachtung der AG Berlin- und Deutschlandpolitik und der Alternativen Liste durch das MfS Das Ziel der SED bzw. des MfS bestand darin, die westdeutschen Grünen und die Berliner AL im Sinne ihrer politischen Ziele zu instrumentalisieren. Auf den ersten Blick lagen die – vermeintlich gemeinsamen – Interessen von SED und Grünen auf der Hand: So standen die Grünen dem NATO-Doppelbeschluss wie auch der westlichen Sicherheitspolitik insgesamt ablehnend gegenüber. Auch das Interesse der Grünen an der Wiedervereinigung war in toto gering ausgeprägt, von einflussreichen innerparteilichen Strömungen Anfang 1980er Jahre einmal abgesehen. Auf der anderen Seite war die neue Partei für die SED schwer durchschaubar, ja im Grunde nicht zu kontrollieren. Das Verdienst kommt hier eindeutig der bewegungspolitischen Strömung um Petra Kelly zu, die intensive Kontakte zur DDR-Opposition pflegte.365 In dieser Melange aus „Nützlichkeit“ und 361 Michael Cramer, Die deutsche Linke und die nationale Frage, o. D. [Dezember 1989], in: AGG, Bestand C Berlin I, Akte 54. 362 Alternative Liste, Aktionsprogramm zur Deutschlandpolitik, in: Stachlige Argumente, Mai 1990, S. 53–54, hier S. 54. Das Aktionsprogramm wurde von der Alternativen Liste zwar nicht mehr verabschiedet, dokumentiert aber den deutschlandpolitischen Horizont der Partei im Frühjahr 1990. 363 Vgl. Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin (Hrsg.), 30 Jahre für Berlin. 1981–2011, Dokumentation zur Ausstellung im Abgeordnetenhaus von Berlin, Berlin 2011, S. 13. 364 Vgl. ebd., S. 17. 365 Vgl. Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden, S. 212–213. Auch der Einsatz hochrangiger Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes wie Dirk Schneider alias IM „Ludwig“ konnte nicht die Interessen von SED und Grünen zur Deckungsgleichheit bringen. Vgl. ebd., S. 265. Siehe zum Komplex MfS und Grüne auch Wilhelm Knabe, Was erfuhr Erich Honecker vom MfS über die Grünen? Erich Mielkes „Rotstrichberichte“, in: Deutschland Archiv, 2 / 2003, S. 206–219.
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„Gefährlichkeit“ fand dann die Bearbeitung der West-Berliner Grünen durch das MfS statt.366 So erfuhr Erich Honecker im April 1987, dass sich die Mitglieder der AG Berlin- und Deutschlandpolitik mit den „20 Thesen zu Westberlin“ von Dirk Schneider nicht abfinden und statt dessen ein eigenes Papier vorlegen wollten.367 In einem weiteren Papier der Staatssicherheit vom 18. Mai 1987 wurde die AG Berlin- und Deutschlandpolitik nicht unzutreffend als „innerhalb der AL weiter in einer relativen Isolation“ befindlich eingeschätzt. Nach dem rotationsbedingten Ausscheiden des AG-Führungsmitglieds Wolfgang Schenk aus dem Berliner Abgeordnetenhaus sei die Gruppe von einem schwindenden Einfluss innerhalb der Alternativen Liste betroffen.368 Außerdem wurde dem MfS im Frühjahr 1987 zugetragen, dass die AG Berlin- und Deutschlandpolitik anlässlich der Berliner 750-Jahr-Feiern im gleichen Jahr im Ostteil der Stadt gemeinsam mit dem DDR-Oppositionellen Jürgen Fuchs „etwas zu unternehmen“ gedachte.369 Zudem blieben der Stasi die Streitigkeiten zwischen der AG Berlin- und Deutschlandpolitik und der Gesamt-AL nicht verborgen, wie ein weiterer MfS-Bericht aus dem Juli 1987 belegt. Auch wenn die Trennung der Arbeitsgemeinschaft von der „Mutterpartei“ auf einer Sitzung am 6. Juli 1987 zur Diskussion gestellt worden sei, wie der Informant von einem AG-Treffen nach Ost-Berlin berichtete, müsse – so die MfS-Einschätzung – dennoch davon ausgegangen werden, „dass von dieser DDR-feindlichen Personengruppierung Kontaktaktivitäten zu oppositionellen Kräften in der DDR entwickelt werden.“370 So wurde dann zwar auch vom MfS die Trennung der AG Berlin- und Deutschlandpolitik von der AL als „demonstrative Parteiaustritte einiger 366 Vgl. Carlo Jordan, Armin Mitter, Stefan Wolle, Die Grünen der Bundesrepublik in der politischen Strategie der SED-Führung (Zwischenbericht), unveröffentl. Manuskript, Berlin 1994, S. 3, in: AGG, Bibliothek, Signatur Grün 139–6. 367 Vgl. „Alternative Liste“ (AL), Westberlin, o. D. [handschriftl. ist im Dokument 4 / 87 vermerkt], in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMX 30135 Bd. VII, Bl. 020. 368 Vgl. den Bericht vom 18. Mai 1987: Über die aktuelle Situation in der Arbeitsgruppe „Berlin- und Deutschlandpolitik“ der „Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz“ (AL), Westberlin, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 30135, Bd. VII, Bl. 021. Die inoffiziellen Quellen für den Bericht waren IM „Silvia“, IM „Martin“ und IM „Lutz“. Vgl. ebd., Bl. 023. 369 Vgl. ebd., Bl. 022–023. Was man genau plante, ist in der Akte nicht vermerkt. 370 Bericht vom 15. Juli 1987: Diskussionen über ein beabsichtigtes Zusammenwirken der Arbeitsgruppe „Berlin- und Deutschlandpolitik“ der AL Westberlin mit oppositionellen Kräften in der DDR, in: BStU, ZA, MfS – HA XX ZMA 30135, Bd. VI, Bl. 040. Die inoffiziellen Quellen für den Bericht waren IM „Silvia“ und IM „Martin“. Vgl. ebd., Bl. 042.
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subversiv tätiger Kräfte“ erleichtert registriert. Allerdings wurde im Gegenzug vor zu viel Optimismus gewarnt: „Ihr Einfluß von außen auf bestimmte Vertreter der Grünen / AL darf jedoch nicht unterschätzt werden.“371 So wurde vor grünen Mitgliedern gewarnt, die „um die erneute Zusammenführung feindlicher Kräfte in der AL und den Grünen bemüht“372 seien. Diese „Potenzen“ seien „in ihrer Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen“. Die logische Konsequenz aus dieser Analyse war für das MfS dann auch „eine Stärkung der Abwehraspekte in der politisch-operativen Aufklärung der AL.“373 Auch nach ihrer Trennung von der Alternativen Liste wurde über die AG Berlin- und Deutschlandpolitik weiter in die unfreie Hälfte der geteilten Stadt berichtet. So konnte der IMS „Martin Schiller“ im Frühjahr 1988 seinen Auftraggebern über den Trennungsbeschluss vom Herbst 1987 berichten, was diesen allerdings schon aus der Presse bekannt gewesen sein durfte. Einerseits konnte „Martin Schiller“ Ost-Berlin das Signal des finanziellen Ruins der Gruppe nach Wegfall der Unterstützung durch die AL senden, musste aber andererseits auf eine weiterhin aktive und für die SED-Diktatur gefährliche und unkalkulierbare Rest-Truppe hinweisen. Zudem schien die AG dem Bericht zufolge weiter politisch aktiv zu sein. An ihren Veranstaltungen in Räumlichkeiten des Schöneberger Rathauses nahmen dem Bericht zufolge regelmäßig etwa 50 bis 60 Personen teil. Allerdings hatte „Martin Schiller“ Probleme, belastbare Informationen über die Gruppe dem MfS zu melden.374 So wies er in seinem Bericht auf die offenbar für ihn chaotischen Verhältnisse während der Treffen hin: „Alle sprechen durcheinander, es gibt keine Disziplin und Ordnung. Die Veranstaltungen sind nicht vorbereitet. Jeder versucht, seine Ideen und Gedanken einzubringen.“375 Bis kurz vor dem Mauerfall plante das MfS mit seiner Top-Quelle Dirk Schneider: So wurde im Dezember 1988 von der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin der weitere Einsatz von „Ludwig“ für das Jahr 1989 vorbereitet. Es galt, seine Wiederwahl als Pressesprecher der AL zu sichern.376 371 [Thesen der Dissertation an der JHS Potsdam über die westdeutschen Grünen], o. D. [1989], in: BStU, ZA, MfS – HA VI 15775, Bl. 165. 372 Ebd., Bl. 169. 373 Ebd., Bl. 170. 374 Vgl. Bericht über die Arbeitsgruppe „Berlin- und Deutschlandpolitik“ vom 3. März 1988, in: BStU, ZA, MfS – HA XX 12229, Bl. 288–289. 375 Ebd. Gerade diese Unorganisiertheit der Grünen machte die Überwachung und Einordnung der politischen Strömung für das MfS so schwer. 376 Vgl. Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin, Abt. XV, Arbeitsplan der Abteilung XV der Bezirksverwaltung Berlin für das Jahr 1989 vom 16. Dezember 1988, in: BStU, BVfS – Ast. Berlin XV 24, Bl. 145.
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V. Der Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD) 1. Geschichte der LDD a) Von der „Kölner Konferenz“ 1983 über den Arbeitskreis Linke und deutsche Frage zum Materialbrief Deutsche Probleme – Probleme mit Deutschland (1983 / 84) Eine weitere grün-alternative Gruppe, die sich mit der Deutschen Frage und ihren Lösungsmöglichkeiten beschäftigte, war der Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD). Die Keimzelle der Linken DeutschlandDiskussion bildete der deutschlandpolitische Kongress der Grünen „Grünalternative Bewegung und deutsche Frage“ in Köln.377 Eine kleine Zahl von an deutschlandpolitischen Debatten Interessierter arbeitete zunächst nach der „Kölner Konferenz“ in einem Arbeitskreis Linke und deutsche Frage weiter. Hierbei diskutierten die Teilnehmer im Frühjahr 1984 eine Erklärung, in der die Gründung eines Initiativkreises angeregt wurde für diejenigen, „die die deutsche Misere spüren“ und um „die Situation der deutschen Staaten in und zwischen den Blöcken zum Thema zu machen“378. Keine drei Monate nach der „Kölner Konferenz“ erschien dann im Februar 1984 der erste Materialbrief.379 Im Editorial „Was der Materialbrief will …“ äußerten die beiden Herausgeber, Gotthard Krupp und Rolf Stolz, Mängel an „wissenschaftlich-theoretischer Fundierung“ sowie an „konkreter dialogischer Auseinandersetzung“ innerhalb der deutschlandpolitischen Debatte bei Grünen und Alternativen, denen sie durch diesen Materialbrief abhelfen wollten. Im Materialbrief wollten sie nicht oder nur schwer zugängliche Dokumente zur Deutschen Frage veröffentlichen. Die Deutsche Frage sollte in „ihrer historischen Tragweite“ begriffen werden und nicht auf Wiedervereinigungspläne und die innerdeutschen Beziehungen verengt werden. Ebenso sollte der Materialbrief nicht „das Zentralorgan einer bestimmten politischen Gruppierung sein, sondern unterschiedliche Ansätze vorstellen“, wozu auch Positionen gehören sollten, die nicht den eigenen entsprachen. Ausgangspunkt ihrer Arbeit am Materialbrief sei „die Solidari377 Vgl. Jürgen [Kraus], Entstehung und bisherige Arbeit des Initiativkreises Linke Deutschland-Diskussion, in: Materialbrief Deutsche Probleme – Probleme mit Deutschland, Nr. 4 (Mai 1985), S. 4, im Folgenden zit. als MDP. 378 Erklärung des „Arbeitskreises Linke und deutsche Frage“ [ca. Frühjahr 1984], zit. nach Jürgen [Kraus], Entstehung und bisherige Arbeit des Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion, in: MDP, Nr. 4, Mai 1985, S. 4. Vgl. dazu auch den offenbar von Rolf Stolz verfassten Aufruf „Initiative für einen Arbeitskreis Linke Deutschland-Diskussion“, in: MDP, Nr. 1, Juli 1984, S. 26. 379 Vgl. MDP, Nr. 0, Februar 1984.
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tät mit der Basisbewegung und der Bevölkerung in der DDR“.380 Die geplante Erscheinungsweise sah einen sechs- bis achtwöchigen Rhythmus vor, der allerdings nicht eingehalten wurde.381 Eine Beteiligung der Leserschaft durch die Einsendung von Diskussionspapieren, Dokumenten und Beiträgen war ausdrücklich erwünscht. Zudem war für jede Ausgabe des Materialbriefes ein Schwerpunktthema vorgesehen.382 b) Die Gründung: Der „Anstoß für eine deutsch-deutsche Alternative“ des Initiativkreises Linke Deutschland-Diskussion (1984) Aus bereits angesprochenen Arbeitskreis Linke und deutsche Frage ging letztlich im Herbst 1984 der Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD) hervor. Letzterer konstituierte sich auf einer Wochenendtagung in Oberfell bei Koblenz am 20. und 21. Oktober 1984. Zum Sprecher wurde der Kölner Grüne Rolf Stolz gewählt.383 Die Gruppe wollte Linken „aus unterschiedlichen politischen und organisatorischen Zusammenhängen ein Forum [bieten]“, um gemeinsame Initiativen und Aktionen im Zusammenhang mit der Deutschen Frage durchzuführen. Die Mitgliedschaft der LDD bestand hauptsächlich aus Grünen, Sozialdemokraten und parteilosen Linken.384 Die LDD wähnte sich mit Blick auf seine deutschlandpolitischen Anliegen einer großen Zahl von Unterstützern sicher, wie das LDD-Mitglied Jürgen Kraus in seiner Geschichte der Gruppe vermerkte. So habe es auf der Linken in den 1970er Jahren zwar nur vereinzelte Stimmen gegeben, die auf die ungelöste Deutsche Frage hingewiesen hätten. Aber seit den 1980er Jahren gebe es vermehrt namhafte Einzelpersönlichkeiten, die sich den Fragen nach Abzug der Besatzungstruppen, Blockfreiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung widmeten. Noch sei eine solche Position in den beiden linken Parteien, den Grünen und der SPD, nicht mehrheitsfähig. Allerdings gebe es eine knappe Mehrheit der Deutschen, sowie eine überwältigende Mehrheit der Wähler der beiden linken Parteien, die für eine 380 Vgl.
ebd., S. 2. erschien der Materialbrief 1984 in 3 Ausgaben (Nr. 0, Februar 1984; Nr. 1, Juli 1984; Nr. 2, November 1984), 1985 in 4 Ausgaben (Nr. 3, März 1985; Nr. 4, Mai 1985; Nr. 5, Juli 1985, Nr. 6, Oktober 1985), 1986 mit einer Ausgabe (Nr. 7, April 1986), 1987 mit 2 Doppelausgaben (Nr. 8 / 9, Februar 1987; Nr. 10 / 11, September 1987), 1988 ebenso mit einer Doppelausgabe (Nr. 12 / 13, Juni 1988) und 1989 wiederum mit einer Doppelnummer (Nr. 14 / 15, November 1989). 382 Vgl. MDP, Nr. 0, Februar 1984, S. 2. 383 Vgl. Jürgen [Kraus], Entstehung und bisherige Arbeit des Initiativkreises Linke Deutschland-Diskussion, in: MDP, Nr. 4, Mai 1985, S. 4. 384 Vgl. Rolf Stolz, Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion gegründet!, in: MDP, Nr. 2, November 1984, S. 31. 381 So
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„Neuvereinigung“ des geteilten Deutschlands unter blockfreien Vorzeichen eintreten würden.385 Auf dem Gründungstreffen wurde zudem eine Erklärung mit dem programmatischen Titel „Anstoß für eine deutsch-deutsche Alternative“ verabschiedet. Als wichtigste Ziele des „Anstoßes“ und der LDD nannte Rolf Stolz die „Überwindung der Teilung Deutschlands und der Blockkonfrontation in Europa“, die „Selbstbestimmung und Blockfreiheit für ganz Deutschland“, der „Abzug aller fremden Truppen und Abschluss eines Friedensvertrages“, der „Verzicht auf Aufrüstung, kalten Krieg und territoriale Ansprüche“, „Völkerfreundschaft und internationale Solidarität, Widerstand gegen Ausländerfeindlichkeit und Neofaschismus“ und nicht zuletzt auch „ein Deutschland der Volkssouveränität und der sozialistischen Demokratie in einem Regenbogeneuropa“.386 Konkret wurde im „Anstoß“ zur Lösung der Deutschen Frage die Gründung eines deutsch-deutschen Staatenbundes gefordert, den man durch eine „Bewußtseinsrevolution in der Bevölkerung der BRD“ schaffen wollte. Dazu sollte eine „friedensschaffende, progressive Einigungspolitik“ beitragen, die eine „konsequente Abkoppelung von der Hegemonialmacht USA und vom kapitalistischen System“ bedeuten würde. Diese „bewußte Entscheidung für einen eigenen deutschen Weg“ sollte durch „mutige Initiativen von unten“ gestützt werden, die in eine fortschrittliche, gesamteuropäisch orientierte Fortschrittsbewegung münden sollte. Diese würde dann nicht nur das Selbstbestimmungsrecht für das deutsche Volk fordern, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht für alle Völker.387 Als Hauptursache für die deutsche Teilung wurde die „verbrecherische Politik des deutschen Faschismus“ identifiziert. Deutschland sei gegen seinen Willen gespalten worden. Der Widerstand hiergegen sei allerdings nicht stark genug gewesen bzw. sei vielmehr desorganisiert worden. Unter Adenauer hätten die „herrschenden Kräfte“ den Weg eines „westdeutschen Separatstaates“ genommen. Es stünden sich nun die beiden Supermächte USA und Sowjetunion als Repräsentanten der von ihnen beherrschten Blöcke auf deutschem Boden feindselig gegenüber.388 Die LDD betrachtete den Abzug der neu aufgestellten amerikanischen Pershing-Raketen als Voraussetzung für Entspannung in Europa, 385 Vgl. Jürgen [Kraus], Entstehung und bisherige Arbeit des Initiativkreises Linke Deutschland-Diskussion, in: MDP, Nr. 4, Mai 1985, S. 4. 386 Vgl. Rolf Stolz, Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion gegründet, in: MDP, Nr. 2, November 1984, S. 31. 387 Vgl. Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion, Anstoß für eine deutschdeutsche Alternative, 2., überarbeitete Fassung vom 30. November 1984, in: Privat archiv Rolf Stolz. 388 Vgl. ebd.
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da durch diese für die Sowjetunion zum ersten Mal seit 1945 wieder eine direkte Bedrohung von deutschem Boden ausgehe. Die bisherigen Versuche der Bundesregierungen zur Wiedererlangung der deutschen Einheit wurden als „verlogene ‚Wiedervereinigungspolitik‘ der bundesdeutschen Reaktion“ abqualifiziert, welche die beiden deutschen Staaten immer weiter auseinander gebracht hätten.389 Konkretes Vorhaben nach der Gründung war die Veröffentlichung der Erklärung „Anstoß für eine deutsch-deutsche Alternative“ als Flugblatt, Plakat und Anzeige. Zudem plante man eine erneute Wochenendtagung zur weiteren inhaltlichen Entwicklung des Kreises sowie ein weiteres Plakat und Flugblatt zu den in Deutschland stationierten alliierten Truppen. Aufgerufen wurde ferner dazu, mit der Linken Deutschland-Diskussion als Plattform eine „kritische, wache Gegenöffentlichkeit“ entstehen zu lassen, um durch diese eine Emanzipation der Deutschen herbeizuführen, die sie schließlich „aus Abhängigkeit, Halbsouveränität und Blockkonfrontation“ herausführen sollte. Mit anderen Worten: Bundesrepublik und DDR sollten sich in einem friedlichen, blockfreien und sozialistischen Deutschland zusammenfinden.390 Neben Rolf Stolz unterzeichneten etwa weitere 50 Personen den „Anstoß für eine deutsch-deutsche Alternative“. Dazu gehörten u. a. der Publizist Herbert Ammon, das Mitglied im Bundesvorstand der Grünen Brigitte Berthold, der Politikwissenschaftler Ossip K. Flechtheim, der DDR-Dissident Reinhard Klingenberg, der Redakteur des Deutschlandfunks Peter Joachim Lapp, der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek, der Völkerrechtler Theodor Schweisfurth, der Publizist und Filmemacher Wolfgang Venohr sowie der Schriftsteller Heinrich Schirmbeck.391 Im Gespräch mit Peter Joachim Lapp vom „Deutschlandfunk“ äußerte Rolf Stolz, dass der Sinn dieser Tagung darin bestanden habe, nach Möglichkeiten zu suchen, wie man aus der bestehenden Teilung Deutschlands und Europas herauskommen könnte. So habe man mit dem „Anstoß“ erste Vorschläge dazu machen wollen. Auf die von Lapp gestellte Frage „Was ist Ihre Meinung als Grüner: Ist die deutsche Frage nach wie vor offen?“ gab Stolz folgende Einschätzung der deutschlandpolitischen Debatte bei den 389 Vgl.
ebd. Stolz, Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion gegründet!, in: MDP, Nr. 2, November 1984, S. 31. 391 Vgl. Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion, Anstoß für eine deutschdeutsche Alternative, 2., überarbeitete Fassung vom 30. November 1984, in: Privat archiv Rolf Stolz. Bis Mai 1985 war die Zahl der Erstunterzeichner auf 70 Personen angewachsen. Vgl. dazu Jürgen [Kraus], Entstehung und bisherige Arbeit des Ini tiativkreises Linke Deutschland-Diskussion, in: MDP, Nr. 4, Mai 1985, S. 4. 390 Vgl.
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Grünen ab: „Die deutsche Frage ist weiterhin offen. Es gibt bisher keinen Beschluß der Grünen, die Präambel des Grundgesetzes zu ändern. Es ist auch sehr fraglich, ob und wie das überhaupt möglich wäre.“392 Es existiere, so Stolz weiter, ebenso bisher kein Beschluss der Grünen, dass die Wiedervereinigung kein Ziel für die Partei sei oder dass die Wiedervereinigung an sich schon den Frieden gefährden könnte. Gleichwohl gebe es bei den Grünen Stimmen, die für die Sicherung des Status quo einträten, um das Friedenssystem von Jalta dauerhaft zu erhalten.393 Die auf der LDD-Gründungskonferenz beschlossenen Plakate wurden ab April 1985 ausgeliefert. Diese sollten dann an den Stationierungsorten der alliierten Truppen und an zentralen Stellen in Großstädten angebracht werden. Die deutsche Bevölkerung wurde als der wichtigste Adressat angesehen, wobei man aber auch auf Unterstützung durch „oppositionelle[n] ausländischen[n] Soldaten“ hoffte.394 c) Aktionen und Tagungen im ersten Jahr (1985) Nach der Gründung der LDD im Herbst 1984 fanden zwei „gut besuchte“ überregionale Tagungen in Bonn (11.–13. Januar 1985) und in Berlin (4.–5. Mai 1985) sowie ein Regionaltreffen in Köln (23. März 1985) statt.395 Die Bonner Tagung im Januar 1985 stand unter dem Motto „Deutsche Perspektiven und europäische Friedenspolitik“. Schwerpunkte der Debatten waren eine kritische Untersuchung der deutschlandpolitischen Vorstellungen von SPD, Jusos und Grünen, die geschichtliche Entwicklung des Nationalneutralismus in Deutschland, die Möglichkeiten einer basisdemokratischen Friedenspolitik sowie „die Grundzüge eines besonderen deutschen Weges“ 392 Rolf Stolz, Mitglied der Grünen, Sprecher eines Initiativkreises zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für deutschlandpolitische Fragen, [im Gespräch mit Peter Joachim Lapp] zum Treffen von Vertretern „grüner Gruppierungen und linker Minderheiten“ unter dem Motto: „Die Linke und die deutsche Frage“. Gesendet im Deutschlandfunk am 22. Oktober 1984, 6.11 Uhr. Typoskript des Gesprächs erstellt von der BPA-Nachrichtenabteilung, Ref. II R3, Rundf.-Ausw. Deutschland, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 393 Vgl. ebd. 394 Vgl. Rolf Stolz, Bestellmöglichkeiten für die Plakate „Fremde Truppen“, in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 7. 395 Vgl. Kurzbericht [der LDD] über die seit Januar 1985 geleistete Arbeit, in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 6.
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zu Blockfreiheit und Konföderation. Beschlossen wurden eine langfristig und dezentral angelegte Kampagne für den Abzug der alliierten Truppen aus Deutschland und ein „Offener Brief“ an die Linke in Europa und den USA, mit der Bitte um Unterstützung und Zusammenarbeit. Zudem plante man eine Aktion zum „Schlesier-Treffen“, verbunden dort mit dem Eintreten für eine „unzweideutige“ Anerkenntnis des territorialen Status quo in Deutschland als Voraussetzung für die Überwindung der Blockkonfrontation. Angedacht wurde auch eine weitere Tagung in West-Berlin im Mai 1985, die sich mit Themen rund um den 8. Mai 1945 beschäftigen sollte.396 Die Tagung im Mai 1985 in West-Berlin stand unter dem Motto „Deutschland 40 Jahre ohne Friedensvertrag – BRD 30 Jahre in der NATO – Auswege aus Status quo und Kriegsgefahr“. Prominente Teilnehmer waren u. a. die ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Christa Reetz, die Publizisten Herbert Ammon und Wolf Schenke sowie die DDR-Dissidentin Christine Klingenberg.397 Auf der Tagung wurde eine Erklärung mit dem Titel „Blockfreiheit – Friedensvertrag – Truppenabzug – Konföderation als deutsche Überlebensinteressen“ verabschiedet, die im Wesentlichen die Punkte aus dem „Anstoß“ vom Herbst 1984 umfasste. Im Hinblick auf eine mögliche deutsche Einheit wurde in dieser Erklärung nun nochmals „[f]ür einen deutsch-deutschen Dialog, für erste Schritte zur Konföderation DDR–BRD (‚Deutscher Bund‘)!“ geworben. Bezug nehmend auf den 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945, bekannte sich die LDD „zur historischen Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen des Faschismus“. In einer „Gefahren- und Verantwortungsgemeinschaft“ wolle man „das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstandes erfüllen“, indem man mit den aus den Blöcken gelösten beiden deutschen Staaten die Folgen des Krieges zu überwinden gedachte und somit meinte, auch einen neuen Krieg verhindern zu können. 398 Zusätzlich zur Verabschiedung der Erklärung „Blockfreiheit – Friedensvertrag – Truppenabzug – Konföderation als deutsche Überlebensinteressen“ solidarisierte man sich auf der Tagung mit dem „Prager Aufruf“ der Mit396 Vgl. Deutschland-Diskussion von links. Für ein anderes Deutschland in einem anderen Europa, in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 4. Dieser Artikel ist zuerst in der Wochenzeitung „Die Grünen“, Nr. 5, vom 2. Februar 1985, S. 7 erschienen. 397 Vgl. Presseerklärung [der LDD] zum 8. Mai 1985, in: Linke DeutschlandDiskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 4. 398 Ebd., S. 4–5.
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glieder der Charta 77 vom 11. März 1985, in dem diese – am Tag des Amtsantritts des neuen KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow – u. a. die freie Entscheidung der Deutschen über die Wiedervereinigung sowie den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland forderten.399 Auch erklärte man auf der Tagung die Unterstützung der von Herbert Ammon und Theodor Schweisfurth ausgearbeiteten Denkschrift „Friedensvertrag, deutsche Konföderation, europäisches Sicherheitssystem“400. Schließlich wurde der Vorschlag unterbreitet, mit allen Gruppen, die sich für eine deutsch-deutsche Konföderation einsetzten und für die Überwindung der Blöcke aussprachen, einen „nach dem Konsensprinzip arbeitende[n] Koordinationsausschuss“ einzurichten, um die Vernetzung der Gruppen zu fördern und die Zersplitterung aufzuheben.401 Zudem wurden die Beiträge der Tagung in Buchform von Rolf Stolz unter dem Titel „Ein anderes Deutschland – Grün-alternative Bewegung und neue Antworten auf die Deutsche Frage“402 herausgegeben und veröffentlicht. Organisatorisch wurde in Berlin die Einrichtung einer „Koordinationsgruppe“ für die LDD beschlossen. Diese sollte sich paritätisch aus je zwei Mitgliedern der SPD und zwei Mitgliedern der Grünen zusammensetzen. Der ersten, auf der Berliner Tagung bestimmten „Koordinationsgruppe“ gehörten Peter Krahl, Jürgen Kraus, Rolf Stolz und Christian Wipperfürth an. Diese wollte sich alle zwei Monate treffen.403 Die LDD gab im Frühjahr 1985 einen Mitgliederbestand von 30 Personen an. Davon gehörten mehr als zwei Drittel den Grünen an. Zudem wurde zu diesem Zeitpunkt die Gründung von ersten Regionalgruppen vermeldet.404 In Zukunft sollten 399 Vgl. ebd., S. 5. Zur Bedeutung des „Prager Appells“ – weit über die LDD hinaus – siehe Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, S. 559–561. 400 Herbert Ammon / Theodor Schweisfurth, Friedensvertrag – Deutsche Konföderation – Europäisches Sicherheitssystem. Denkschrift zur Verwirklichung einer europäischen Friedensordnung, Starnberg 1985. Siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 374–378. 401 Vgl. Presseerklärung [der LDD] zum 8. Mai 1985, in: Linke DeutschlandDiskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 5. 402 Rolf Stolz (Hrsg.), Ein anderes Deutschland. Grün-alternative Bewegung und neue Antworten auf die Deutsche Frage, Berlin 1985. 403 Vgl. Kurzbericht [der LDD] über die seit Januar 1985 geleistete Arbeit, in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 6. 404 Vgl. Jürgen [Kraus], Entstehung und bisherige Arbeit des Initiativkreises Linke-Deutschlanddiskussion, in: MDP, Nr. 4, Mai 1985, S. 4.
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dann auch LDD-Regionalgruppen Vertreter in den Ausschuss entsenden können. Mitglieder der LDD arbeiteten u. a. in der Bundesarbeitsgemeinschaft Gesamt-Europa der Grünen, in den grünen Landes-Arbeitsgemeinschaften Gesamteuropa bzw. Frieden, im Initiativkreis Friedensvertrag, in Juso-Arbeitsgemeinschaften, in örtlichen Friedensgruppen sowie in der Gustav-Heinemann-Initiative mit.405 Kritisch äußerte sich die LDD zur Erklärung der grünen Bundestagsfraktion zum „Tag der deutschen Einheit“ am 17. Juni 1985. Hierbei stieß insbesondere die Feststellung, dass die Deutsche Frage nicht mehr offen sei, auf Widerspruch. Zudem würde die deutschlandpolitische Linie der grünen Bundestagsabgeordneten Otto Schily, Dirk Schneider und Henning Schierholz von der grünen Basis mehrheitlich abgelehnt.406 Im Herbst 1985 stellte Rolf Stolz im neuen „Rundbrief“407 der LDD seine „Zwölf Thesen“408, in denen er sich zur grünen Deutschlandpolitik äußerte, zur Diskussion. Neben der Verortung Deutschlands als Brücke zwischen Ostund Westeuropa – ein geradezu Kaiserscher Gedanke – betonte Stolz noch einmal: „Deutschland lebt fort in den zwei Separatstaaten BR ‚D‘ [sic!] und DDR, aber es ist mehr als die Summe von Ruinen und Provisorien.“409 Zudem unterstrich Stolz erneut, dass sich Deutschland nur außerhalb der Blöcke in einem deutschen Staatenbund würde vereinigen können.410 Am 23. und 24. November 1985 traf sich die LDD zu ihrer vierten bundesweiten Tagung in Hannover. Das Motto des Treffens lautete „Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland-Ost und DeutschlandWest: Ist ein Dritter Weg der Ausweg?“. Das Hauptreferat über die Probleme des DDR-Wirtschaftssystems hielt Cord Schwartau vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Mit Verwunderung registrierte der Berichterstatter der LDD, Peter Krahl, die Aussage des Referenten (und FDPMitglieds), dass die DDR von einer menschenwürdigen Gesellschaft weit weniger entfernt sei als die Bundesrepublik. Weitere Referate wurden von 405 Vgl. Kurzbericht [der LDD] über die seit Januar 1985 geleistete Arbeit, in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 6. 406 Vgl. Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion, Presseerklärung vom 22.6.1985, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 407 Der an Seitenzahlen recht dünn gehaltene Rundbrief der LDD erschien – beginnend mit der Nr. 4 im Oktober 1985 – in unregelmäßiger Form bis 1989 in insgesamt sechs Ausgaben (Nr. 5, April 1986; Nr. 6, März 1987; Nr. 7, ca. November 1988; Nr. 8, ca. Juni 1989; Nr. 9, ca. November 1989). 408 Rolf Stolz, Zwölf Thesen, in: LDD-Rundbrief, Nummer 4, Oktober 1985, o. S. 409 Ebd. 410 Vgl. ebd.
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Richard Sperber und Mario Brischle zu den Themen „Friedensvertrag“ und „Truppenabzug“ gehalten.411 d) Zeit der Übergänge: Das schwierige Jahr 1986 Im Frühjahr 1986 diagnostizierte Jürgen Kraus vom Koordinationsausschuss der LDD, dass das Potential der aktiven Status-quo-Gegner in den linken Parteien und Gewerkschaften gestiegen sei. Gleichwohl würden die politischen Gegner, mithin also die Vertreter des Status quo, aggressiver. Er rief dazu auf, lokale Arbeitskreise zu bilden, um den Protest gegen die Status-quo-Fürsprecher in der Deutschlandpolitik besser sichtbar zu machen.412 Etwas pessimistischer äußerte sich Rolf Stolz im Editorial des Materialbriefes vom April 1986: Neben der Ankündigung eines Herausgeberwechsels von Gotthard Krupp zu Reinhard Hesse war das von Stolz konstatierte Desinteresse der meisten linken und grünen Gruppierungen an der Deutschen Frage hier von Belang. Die deutschen Linken brächten Macao oder Andorra genauso viel Aufmerksamkeit entgegen wie Deutschland. Es herrsche Angst, dass man sich an diesem Thema die Finger verbrenne; es gebe nur wenige politische Aktivisten, die dem Thema mehr als freundliche Aufmerksamkeit oder gute Worte zukommen ließen.413 Ja, dies war in der Tat eine treffende Analyse des deutschlandpolitischen Status quo aus der Sicht eines deutschlandpolitischen Opponenten! Es deutete sich an, dass das Jahr 1986 kein gutes für die LDD werden würde. Die Gruppe geriet in der Tat unter zweifachen Druck. Zum einen stießen ihre Vorschläge in der grünen Partei und Bundestagsfraktion weiterhin auf entschiedenen Widerspruch. Zum anderen wurden die Energien der Gruppe durch innerlinke Auseinandersetzungen geschwächt.414 Zunächst wurden die Kräfte der LDD von den Vorbereitungen für die grüne Bundesdelegiertenkonferenz gebunden, die vom 16. bis 18. Mai 1986 in Hannover stattfand und auf der das Wahlprogramm der Grünen für die Bundestagswahl 1987 verabschiedet wurde. Im Zentrum der Programmdebatte standen die inzwischen stationierten Mittelstreckenraketen, die NATOMilitärstrategie und die Blockkonfrontation.415 Im Kapitel des Wahlpro411 Vgl. Peter Krahl, Tagung der LDD, in: LDD-Rundbrief, Nr. 5, April 1986, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 412 Vgl. dazu das Editorial von Jürgen Kraus, in: LDD-Rundbrief, Nr. 5, April 1986, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 413 O. V. [Rolf Stolz], Vorbemerkung, in: MDP, Nr. 7, April 1986, S. 2. 414 Zur Stellung der LDD innerhalb der deutschen Linken und den innerlinken Auseinandersetzungen siehe Kap. C.V.2. 415 Vgl. Volmer, Die Grünen und die Außenpolitik, S. 198–199.
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gramms „Einseitig abrüsten. Wir machen den ersten Schritt“ befasste sich die Partei mit den Punkten „Pulverfaß Bundesrepublik“, „Die Kriegsgefahr an der Wurzel bekämpfen“, „Abrüstung ernst nehmen – jetzt anfangen!“, „Auflösung der Militärblöcke“ und nicht zuletzt auch mit „Frieden braucht Bewegung“. Den USA wurde vorgeworfen, eine militärische Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion erreichen zu wollen. Aber auch der Sowjetunion wurde von grüner Seite – mit Verweis auf Afghanistan – das Betreiben einer „Macht- und Drohpolitik“ bescheinigt. Der Bundesregierung wurde ein aktives Mitwirken an der vermeintlichen Militarisierung der NATO-Außen politik vorgeworfen.416 In das grüne Programm wurde auch die Forderung einer Kündigung des NATO-Truppenstatuts und des Abzugs aller ihrer Streitkräfte von deutschem Boden aufgenommen, da diese eine Bedrohung für die Warschauer-PaktStaaten darstellten.417 Zudem forderte man den Abzug aller Truppen von fremden Territorien und die Auflösung aller damit zusammenhängenden Verträge.418 Im Zusammenhang mit der Forderung nach Auflösung der Militärblöcke sprach sich die Partei dezidiert für einen „endgültigen Verzicht auf alle Gebietsansprüche und ‚Wieder‘- oder ‚Neuvereinigungs‘-Optionen“ aus. Damit hofften die Grünen, eine befreiende Wirkung auf die Warschauer-Pakt-Staaten ausüben zu können. Diese Staaten sollten nach grüner Lesart durch die dann wegfallende Bedrohung aus (West-)Deutschland über einen vergrößerten Handlungsspielraum gegenüber ihrer Vormacht Sowjetunion verfügen.419 Ebenfalls wurden die „völkerrechtliche Anerkennung der DDR“ und die „Selbstanerkennung der Bundesrepublik“ gefordert. Dem „Selbstbetrug gesamtdeutscher Identität“ sollte ein Ende bereitet werden, um die Herausbildung einer – wie auch immer auszugestaltenden – „unabhängigen demokratischen Identität“ zum Durchbruch zu verhelfen. Mit der Anerkennung der DDR war dann aus grüner Sicht auch die „unzweideutige Aufgabe aller territorialen und staatlichen Alleinvertretungsansprüche der Bundesrepublik“420 verbunden. Gleichzeitig erklärten die Grünen ihre Solidarität mit den Menschen und den Oppositionsbewegungen in Osteuropa.421 Auch seitens der LDD beteiligte man sich mit einem Antrag an der Programmdebatte. In ihm wiederholten sich die bekannten Forderungen der 416 Vgl. Die Grünen, Bundestagswahlprogramm 1987. Farbe bekennen, Bonn 1987, S. 26. 417 Vgl. ebd., S. 28. 418 Vgl. ebd., S. 31. 419 Vgl. ebd. 420 Ebd. 421 Vgl. ebd., S. 32.
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Gruppe nach Truppenabzug, Friedensvertrag und Blockfreiheit. Zusätzlich forderte man den Dialog mit regierungsunabhängigen Gruppen in der DDR. Ebenso wollte man Gespräche mit Regierungsstellen der DDR, die man aber ohne Vorbedingungen führen sollte. Im Antrag wurde auch die Anerkennung der „Geraer Forderungen“ Honeckers (Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, Abschaffung der Erfassungsstelle Salzgitter, Respektierung der DDR-Staatsangehörigkeit, Elbe-Grenzverlauf in der Mitte des Flusses) aus dem Jahr 1980 verlangt; ausgenommen war die explizite Nennung einer Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, die aber im Antrag etwas verklausuliert mit der „wechselseitigen Anerkennung der beiden deutschen Staaten“ angedeutet wird. Von einer möglichen Konföderation oder gar Wieder- bzw. Neuvereinigung war im Antrag hingegen nichts mehr zu lesen. Allerdings wollte man vom Status quo mit seinen bestehenden Verträgen ausgehen und diesen „mit dem nötigen Realismus“ schrittweise überwinden, was wiederum eine Lösung der Deutschen Frage nicht ausschloss. Die deutschlandpolitischen Vorstellungen von SPD und SED wurden als „Ordnungsmodelle von oben“ angesehen und abgelehnt.422 In der Debatte über seinen Antrag zur Deutschlandpolitik bemängelte Stolz, dass es bislang an der Basis und auf Bundesversammlungen der Grünen noch keine ausreichende Beschäftigung mit grüner Deutschlandpolitik gegeben habe. Bislang sei dieses Politikfeld nur von Minderheiten in der Partei aufgegriffen worden. Man sollte die Forderungen nach Wieder- bzw. Neuvereinigung nicht auf eine Stufe mit Gebietsansprüchen stellen. Dass sich die CDU mit der Wiedervereinigung beschäftige, diene nur dazu, die eigenen Parteimitglieder „aufzuhetzen“. Adenauer sei ein „Feind der Überwindung der Spaltung Deutschlands“. An die grünen Delegierten gerichtet betonte Stolz: „Ich glaube nicht, daß wir diese Mauer als das antifaschistische Bollwerk sehen, sondern daß wir diese Mauer in einem historischen Prozeß überwinden wollen.“423 Für diesen Satz vermerkte das Protokoll schließlich den „Beifall“ der Delegierten. Am Ende seines Redebeitrags forderte Stolz dann ein blockfreies, konföderiertes Deutschland. Unter Bezugnahme auf Rudi Dutschke wollte Stolz die Grünen weder als West- noch als Ostpartei, sondern als Partei eines dritten Weges, „einer Alternative“, verstanden wissen.424 In seiner Erwiderung auf die von Stolz vorgetragenen deutschlandpolitischen Programm-Thesen äußerte Lothar Probst, neben Jürgen Schnappertz 422 Vgl. den Antrag an die Bundesversammlung der Grünen in Hannover (17.– 19. Mai 86), Antrag P 514, in: MDP, Nr. 10 / 11, September 1987, S. 30. 423 Alle Zitate Rolf Stolz, [Redebeitrag zum Antrag P 514 „Deutschlandpolitik“ auf der Grünen Bundesdelegiertenkonferenz im April 1986], in: gbd 7–8–9 / 86, S. 132. 424 Vgl. ebd.
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Autor des grünen Mainstream-Papiers „Ansätze und Perspektiven grüner Politik in den deutsch-deutschen Beziehungen“425, seine grundsätzliche Zustimmung zu einer ganzen Reihe von Positionen des Antrags. Jedoch könne der Abschluss eines Friedensvertrages eines gesamtdeutschen Souveräns mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges nur das Ergebnis einer politischen Strategie der Abrüstung sein. Eine „Fixierung auf juristische Vertragstexte“ könne nur Ausdruck einer politischen Veränderung, aber nicht der Anfang einer Deutschland- und Friedenspolitik sein. Im zu beschließenden Friedensprogramm solle man sich klar von nationalstaatlichen Zielsetzungen distanzieren und sich stattdessen zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR bekennen. Probst plädierte für eine Nichtbefassung des Antrages von Rolf Stolz, bis man auf einem zukünftigen Programmparteitag die deutschlandpolitischen Grundkonzeptionen der Partei erarbeitet habe.426 In Rolf Stolz’ Bilanz der Bundesdelegiertenkonferenz hatte diese eher ein Plädoyer für die Verfestigung des Status quo geliefert, da sich die Versammlung mehrheitlich gegen eine Lösung der Deutschen Frage entschieden habe. So war die LDD – aus seiner Sicht allerdings relativ knapp – bei der Frage unterlegen, ob sich die BDK mit dem LDD-Antrag überhaupt befassen sollte (170 Stimmen für eine Befassung, 210 Stimmen dagegen, Stimmenverhältnis von ca. 45 Prozent zu 55 Prozent), hingegen deutlicher unterlegen bei der Frage nach einem Verzicht auf die Forderung nach Wieder- bzw. Neuvereinigung (ca. 250 Stimmen für eine Verzichts-Passage, ca. 150 Stimmen dagegen) und erneut relativ knapp gescheitert bei der Frage nach einem möglichen Truppenabzug bei Abschluss eines Friedensvertrages (174 Delegierte dafür, 250 Delegierte dagegen, Abstimmungsverhältnis ca. 40 Prozent zu 60 Prozent).427 Als kleinen Erfolg verbuchte Stolz dennoch, dass die 425 Lothar Probst / Jürgen Schnappertz, Ansätze und Perspektiven grüner Politik in den deutsch-deutschen Beziehungen, in: Deutschland Archiv, 10 / 1986, S. 1053– 1063. Obgleich Probst Vertreter einer deutschen Zweistaatlichkeit war, sind seine vielfältigen Kontakte zur DDR-Opposition hervorzuheben. Siehe dazu Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR, S. 638–639. 426 Vgl. Lothar Probst, [Redebeitrag zum Antrag P 514 „Deutschlandpolitik“ auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen im April 1986], in: gbd 7–8–9 / 86, S. 133. Stolz stellte insgesamt drei Anträge an die Bundesdelegiertenkonferenz. Der „große Antrag“ 514 befasste sich schwerpunktmäßig mit grüner Deutschlandpolitik insgesamt, die kleineren Anträge P 508a mit den Themen Gebietsansprüche / Selbstbestimmungsrecht / Wiedervereinigung und P 508b mit der Frage nach einem Truppenabzug. Vgl. dazu auch das die lebhafte Debatte wiedergebende Protokoll der BDK – mit den sich in neuen Varianten vorgetragenen und sich dabei wiederholenden Argumenten – zu den Anträgen P 508a und P 508b, in: gbd 7–8–9 / 86, S. 148– 157. 427 Vgl. Rolf Stolz, Die Entscheidung von Hannover: Ein Pyrrhus-Sieg?, in: MDP, Nr. 10 / 11, September 1987, S. 27.
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grüne Bundesversammlung den Abzug aller Truppen von ausländischen Territorien und die Auflösung aller damit zusammenhängender Stationierungsverträge in das grüne Wahlprogramm aufgenommen hatte. Jedoch witterte der LDD-Sprecher hinter einigen Entscheidungen des Tagungspräsidiums eine Einflussnahme der Status-quo-Befürworter zuungunsten des eigenen Antrags, der deswegen in den Abstimmungen gescheitert sei.428 Aus der Perspektive von Rolf Stolz lag das Scheitern seiner Anträge auch darin begründet, dass seine Strömung weder über eine umfassende Programmatik noch über wirksame politische Instrumente verfügte. Damit meinte er unter anderem das Fehlen von Tagungen, aktionsorientierten Kampagnen und eines publizistischen Forums („Zentralorgan“). Er forderte, dass man mehr sein müsse als „Wieder- und Neuvereinigungspropagandisten“. Stolz wies darauf hin, dass nach der BDK als Konsequenz Einzelaustritte aus den Grünen wenig sinnvoll seien, da keine organisatorische Alternative zu der eigenen Partei in Sicht sei. Man müsse sich als Basis gegen die „reformistischen Macher“ durchsetzen. Gegen Verleumdungen der LDD-Mitglieder als Nationalisten durch die eigene Partei müsse man sich offensiv zur Wehr setzen.429 Die gegen die LDD vorgebrachten Verdächtigungen eines „umfassenden Netzwerks“ bzw. einer „verschworenen Gemeinschaft“ stimmten Stolz zufolge nicht. Vielmehr bedauerte dieser die bislang zu wenig wahrgenommene Möglichkeit der Vernetzung in der „Koordination Friedensvertrag“ als gemeinsamem Dach aller wiedervereinigungsorientierten linken Gruppen. Zudem engagierten sich nach Ansicht von Stolz viel zu wenige grüne bzw. grün-nahe LDDler in der parteieigenen „Bundesarbeitsgemeinschaft Gesamteuropa“, was den grünen Status-quo-Befürwortern immer wieder das Argument einer praktisch nicht existenten BAG und somit die Meinungshoheit sichere.430
428 Vgl. ebd. Beispielsweise beschwerte sich Stolz, dass sein Antrag weitergehender als derjenige von Lothar Probst gewesen sei und deswegen zuerst hätte behandelt werden müssen. Das Tagungspräsidium habe aber den Gegenantrag als den weitergehenden deklariert und somit zugunsten des grünen deutschlandpolitischen Mainstreams eingegriffen. Vgl. dazu auch das Protokoll der BDK zu den Anträgen P 508a und P 508b, in: gbd 7–8–9 / 86, S. 151. 429 Vgl. Rolf Stolz, Die Entscheidung von Hannover: Ein Pyrrhus-Sieg?, in: MDP, Nr. 10 / 11, September 1987, S. 27. 430 Vgl. Rolf Stolz, Zur Situation der Grünen (gekürzt), Sommer 1986, in: MDP, Nr. 10 / 11, September 1987, S. 25–26.
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e) Die LDD und das grüne Mainstream-Papier von Probst / Schnappertz Im Laufe des Jahres 1986 wurde von der grünen Bundestagsfraktion verstärkt versucht, Ordnung in die Debatte über die grüne Deutschlandpolitik zu bringen. Hierzu erarbeitete die „Arbeitsgruppe deutsch-deutsche Beziehungen“ der Bundestagsfraktion ein Grundsatzpapier431, für dessen redaktionelle Endfassung Lothar Probst und Jürgen Schnappertz verantwortlich zeichneten. Nach einer Diskussion in Partei und Fraktion sollte dieses Papier von einer grünen Bundesversammlung beschlossen werden.432 Das Papier gliederte sich in vier Abschnitte: Abschnitt I befasste sich mit „Grüne[m] Politikverständnis deutsch-deutscher Beziehungen“, Abschnitt II diskutierte die „Historische[n] Voraussetzungen und politische[n] Ausgangsbedingungen deutsch-deutscher Beziehungen“, Abschnitt III beschrieb die „Politische Strategie in den deutsch-deutschen Beziehungen“ und Abschnitt IV zeigte schließlich „Vorschläge zur Konkretion des deutsch-deutschen Dialogs“ auf. Bereits im Titel des Papiers und in den einzelnen Kapitelüberschriften fällt auf, dass anstelle von „grüner Deutschlandpolitik“ nur von „deutsch-deutschen Beziehungen“ die Rede war. Gleich in Abschnitt I wird dieser Verzicht auch dahingehend gerechtfertigt, dass der etablierte Begriff der „Deutschlandpolitik“ die „Fiktion und Vision von der Wiedervereinigung Deutschlands“ in sich trage, ja gar die Forderung einer Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates in sich berge. Die Autoren empfahlen den Grünen, stattdessen einen Perspektivwechsel hin zu der Auseinandersetzung mit der DDR um die richtige menschliche Lebensweise und den richtigen Umgang mit der Natur vorzunehmen.433 Probst und Schnappertz wollten nicht die Zweistaatlichkeit infrage stellen, aber nach dem Sinn der existierenden Strukturen fragen. Auch lehnten beide „überholte Rechtstitel“ ab.434 Als politische Strategie der Grünen empfahlen die Verfasser ein Hinarbeiten auf die „Relativierung“ bzw. „Auflösung der Blöcke“. So sollte durch ein „Modus des Miteinander“ das Trennende der Grenze aufgehoben werden. Durch eine als erforderlich empfundene „Selbstanerkennung“ der Bundesrepublik sollte auch ihr Status als Provisorium aufgehoben werden. Das Wiedervereinigungsgebot wurde für überholt erklärt: „In diesem Zusammenhang halten wir es für notwen431 Vgl. Lothar Probst / Jürgen Schnappertz, Ansätze und Perspektiven grüner Politik in den deutsch-deutschen Beziehungen, in: Deutschland Archiv, 10 / 1986, S. 1053–1063. 432 Vgl. ebd., S. 1063. 433 Vgl. ebd., S. 1053. 434 Vgl. ebd., S. 1054.
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dig, das Wiedervereinigungsgebot, wo auch immer es festgeschrieben ist, für überholt zu erklären.“435 Ebenso wurde „[d]ie völkerrechtliche Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze“ gefordert. Zudem standen die „Geraer Forderungen“ Honeckers im grünen Katalog.436 Der „deutschdeutsche Dialog“ sollte sich in verschiedenen Bereichen abspielen, so auf den Feldern „Frieden“, „Umwelt“, „Frauen- und Geschlechterfrage“, „Kultur“ und „wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit“.437 Wie nicht anders zu erwarten, stieß dieses Diskussionspapier bei Rolf Stolz und seinem Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion auf scharfe Ablehnung. Zunächst einmal stellte Stolz fest, dass in den politischen Zielen zwischen ihm und den „reformistischen Status-quo-Verschönerern“ um Henning Schierholz, Jürgen Schnappertz, Lothar Probst, Dirk Schneider und Annemarie Borgmann „ein unüberwindlicher Gegensatz“ bestehe. Alsdann wies er auf den aus seiner Sicht bestehenden Widerspruch hin, von „deutschdeutschen Beziehungen“ zu sprechen, aber gleichzeitig „Deutschland als nicht mehr existent zu behandeln.“ Zudem müssten die Grünen den „Mut“ aufbringen, gegen die etablierte Deutschlandpolitik eigene Konzepte zu entwickeln. Stolz betonte nochmals seine Ablehnung der Adenauerschen Deutschlandpolitik, die eine „rheinisch-bajuwarische Spalterpolitik“ gewesen sei. Da „[d]er Begriff Wiedervereinigung“ Stolz zu schwammig war, plädierte er stattdessen für „den exakteren Begriff ‚Neuvereinigung‘ “. Hiermit wollte er schon begrifflich eine Abgrenzung zur „offiziellen reaktionären Wiedervereinigungspolitik“ schaffen. Es sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass man – wie er der „offiziellen Deutschlandpolitik“ unterstellte – weder die Wiederherstellung des Deutschen Reiches noch ein schematisches Zusammenfügen beider deutscher Staaten anstrebte. Erneut plädierte Stolz für die Schaffung eines gemeinsamen deutsch-deutschen Daches in Form eines Staatenbundes. Seine Kritiker versuchte er mit dem Hinweis zu beruhigen, dass eine „Konföderation […] keine Neuvereinigung“ per se sei, diese aber durchaus zulasse.438 Auf entschiedenen Widerspruch stieß bei Stolz zudem das Vorgehen der Grundsatzpapier-Autoren. Er kritisierte, dass diese quasi ihre Privatmeinung 435 Ebd.,
S. 1057. ebd., S. 1058. 437 Vgl. ebd., S. 1059–1063. 438 Vgl. Rolf Stolz, Ausverkauf, Perspektivlosigkeit, Betonbegrünung, in: MDP, Nr. 10 / 11, September 1987, S. 19. Diesen Text wollte Stolz als Gegenmeinung im „Deutschland Archiv“ veröffentlichen. Die Herausgeberin lehnte diesen jedoch als zu polemisch und als nicht grundgesetzkonform genug ab. Vgl. Rolf Stolz, Der ganze Verrat und der halbe Sieg der Beton-Fraktion, in: MDP, Nr. 10 / 11, September 1987, S. 3. 436 Vgl.
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als Parteimeinung ausgegeben hätten und somit „Andersdenkende aus den Grünen“ ausgegrenzt würden. Erneut beschwerte sich Stolz über die „NichtAnerkennung“ der LDD durch die etablierten Grünen, die aber die Spaltung der Partei in deutschlandpolitischen Fragestellungen nicht vertuschen könne.439 Das Nichtanerkennen der Virulenz der „Deutschen Frage“ durch die etablierten Grünen war ein zusätzlicher Kritikpunkt Stolz’ an dem Papier aus der Bundestagsfraktion.440 Dass die von Probst und Schnappertz angesprochenen Rechtstitel als überholt gelten sollten441, wollte Stolz so nicht stehen lassen. Vielmehr sah er bei aller Pauschalkritik an „reaktionäre[n] und antidemokratische[n] Paragraphen“ durchaus „emanzipatorische Ansätze“ im Grundgesetz, die er für die Erreichung seiner Ziele nicht „leichtfertig ungenutzt“ lassen wollte.442 Ebenso verwahrte sich Stolz gegen die von Probst und Schnappertz vertretenen Thesen zum Nationalstaat: Keinesfalls stürben in der Welt die Nationalstaaten und Befreiungsbewegungen ab. Vielmehr entstünden Nationen „in jahrhundertelangen Prozessen“ und würden nicht „in ein paar Jahrzehnten“ einfach „verschwinden“. So lautete denn auch sein deutschlandpolitisches Credo: „Aber bislang existiert die deutsche Nation weiter – nicht, weil Ottfried Hennig oder Minister Windelen es so wollen, sondern weil die große Mehrheit der Menschen in Ost und West trotz jahrzehntelanger von oben herab gesteuerter Entfremdung sich weiter als Deutsche in einem geteilten Deutschland begreift.“443
Entschieden lehnte Stolz den Vorschlag einer bundesdeutschen Staatsangehörigkeit von Probst und Schnappertz ab. Dass DDR-Bürger in der Bundesrepublik dadurch quasi zu Ausländern würden, wollte ihm nicht einleuchten. In Ost-Berlin arbeiteten seiner Ansicht nach viele deutsche Sozialisten, denen die Anordnungen aus der Sowjetunion nach Abschottung gegenüber der Bundesrepublik nicht gefallen würden. Zudem wies er – in weiser Voraussicht – auf die neue Moskauer Führung unter Gorbatschow hin, die sich aus seiner Sicht zukünftig durchaus Themen wie einer Annäherung beider deutscher Staaten oder einer deutschen Neutralität annehmen könnte.444 439 Vgl.
Stolz, Ausverkauf, Perspektivlosigkeit, Betonbegrünung, S. 19. ebd., S. 20. 441 Probst / Schnappertz, Ansätze und Perspektiven grüner Politik in den deutschdeutschen Beziehungen, S. 1054. 442 Vgl. Stolz, Ausverkauf, Perspektivlosigkeit, Betonbegrünung, S. 20. 443 Ebd., S. 21. Ottfried Hennig (CDU) war in den Jahren 1982 bis 1991 als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen tätig. Siehe Wolfgang Tischner, Geschichte der CDU, Eintrag „Ottfried Hennig“, in: http: / / www.kas.de / wf / de / 71.10922 / (6. August 2012). 444 Vgl. Stolz, Ausverkauf, Perspektivlosigkeit, Betonbegrünung, S. 22. 440 Vgl.
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f) Die LDD im Niedergang? – Die Jahre 1987–1989 Das Jahr 1986 hatte den Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion viel Kraft gekostet. Durch die zermürbenden Auseinandersetzungen mit den deutschlandpolitischen Planern der Bundestagsfraktion und nach den heftigen Diskussionen mit dem Parteiestablishment auf der Hannoveraner Bundesdelegiertenkonferenz mit den immergleichen Argumenten, schien die LDD im Jahre 1987 deutlich schwächer aufgestellt zu sein.445 Für die Schwierigkeiten der Gruppe machte Stolz im September 1987 vier Gründe geltend: Erstens habe die LDD immer noch zu wenige (aktive) Mitglieder und zu wenige regional arbeitende Gruppen. Zweitens sah Stolz sich einer „Desinformations- und Verleumdungskampagne“ mit verdeckt bleibenden Hintermännern ausgesetzt. Drittens habe die Gruppe ihre Ideen bislang zu wenig in die Öffentlichkeit getragen. Viertens stecke man in finanziellen Schwierigkeiten, da man zu geringe Spenden erhalte und zu viele Mitglieder mit ihren Beiträgen im Rückstand seien.446 Trotz dieser Schwierigkeiten fand Ende Mai 1987 eine LDD-Tagung unter dem Motto „Gorbatschows Neuer Kurs: Rückkehr zur Revolution? Veränderungen in der Sowjetunion und deutsch-sowjetisches Verhältnis“ statt, die von Stolz als „insgesamt durchaus erfolgreich“ bewertet wurde.447 Höhepunkt der Konferenz war ein Streitgespräch zwischen den beiden marxistischen Professoren Leo Kofler und Franz Loeser448, die beide – Kofler Anfang der 1950er Jahre, Loeser über die USA Anfang der 1980er Jahre – aus der DDR in die Bundesrepublik geflüchtet waren. Loeser vertrat dabei das Konzept einer gesamtdeutschen sozialistischen Demokratie während Kofler die westliche Gesellschaft als „scheindemokratisch“ abtat. Kofler sah in Gorbatschow einen Hoffnungsträger, um die Anziehungskraft des Sozialismus im Westen wieder zu erneuern. Loeser widersprach Kofler hinsichtlich des Vorwurfs einer westlichen Scheindemokratie entschieden. Er sah die Sowjet union (und den Ostblock insgesamt) erstens „an der materiellen Macht des totalitären Staates“ und zweitens „an der ideellen Ohnmacht einer fehlenden 445 Als dritten wichtigen Punkt für die zunehmende Zermürbung der LDD muss an dieser Stelle auf verstärkte Auseinandersetzungen der Stolz-Gruppe seit 1985 mit Gruppen und Einzelpersönlichkeiten aus dem linken Spektrum hingewiesen werden. Siehe dazu auch Kap. C.V.2. in dieser Studie und Gallus, Die Neutralisten, S. 383– 384. 446 Vgl. den Brief der LDD-Koordinationsgruppe „An die Mitglieder der LDD“, o. D. [ca. September 1987], in: Privatarchiv Rolf Stolz. 447 Vgl. ebd. 448 Zu Franz Loeser siehe das Kapitel zum Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker in dieser Studie.
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Theorie“ gescheitert.449 Die Teilnehmer der Tagung konnten mit den Thesen Koflers wenig anfangen, da diese ihnen „angesichts der blockübergreifenden ökologischen und friedenspolitischen Probleme reichlich realitätsfremd“ erschienen.450 Im Juni 1989 richtete Stolz einen „Offenen Brief“ an den Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, der zu einem mehrtägigen Staatsbesuch in der Bundesrepublik weilte. Dieser mit „Memorandum für Blockfreiheit und Neutralität“ überschriebene Text wurde – wie sich Stolz im LDDRundbrief ausdrückte – von „einer ganzen Reihe fortschrittlicher Persönlichkeiten“ unterzeichnet, u. a. von Herbert Ammon, der ehemaligen Sprecherin der Grünen Manon Andreas-Griesebach, Peter Brandt, Ossip K. Flechtheim, Leo Kofler, Franz Loeser, Rolf Stolz sowie Theodor Schweisfurth. Obgleich Stolz die parteipolitische Unabhängigkeit und den überparteilichen Charakter dieses „Offenen Briefes“ betonte, kann die Aktion durchaus in den Rahmen der LDD-Tätigkeit eingeordnet werden: Der Inhalt des Briefes behandelte LDD-Themen, der Initiator war LDD-Chef Rolf Stolz und die meisten Unterzeichnenden können zu den langjährigen Unterstützern der Gruppe gezählt werden.451 Im „Memorandum“ wurde Gorbatschow zunächst versichert, dass man mit „dem Gefühl der Solidarität und der Sympathie“ den Weg der Reformen in der Sowjetunion verfolge und hoffe, dass „die Erneuerung und Verteidigung des Sozialismus“ gelingen möge. Nochmals warben Stolz und die Unterzeichnenden für einen Friedensvertrag, der zum einen von den beiden deutschen Staaten und zum anderen zwischen diesen und den Alliierten zu schließen sei. Dazu sah man es als erforderlich an, dass beide deutsche Staaten ihre derzeitigen Grenzen anerkennen und ihre Armeen auf rein defensive Aufgaben umstellen. Von den Alliierten verlangte man die Unterstützung einer deutsch-deutschen Annäherung auf selbstbestimmter, friedlicher und gleichberechtigter Basis. Die beiden deutschen Staaten sollten ihrerseits bei der Bildung konföderativer Organe (mit Vetorecht für jede Seite) auf Konfrontation und Subversion verzichten. Zudem sollten alle Stationierungsrechte aufgehoben und die alliierten Truppen innerhalb eines Jahres aus Deutschland abgezogen werden. Als letzten Schritt schlug man den Austritt beider 449 Vgl. Uwe-Eckart Böttger, Streitgespräch: Loeser – Kofler, o. D. [1987], OstWest-Magazin, Typoskript, S. 1–3, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 450 Vgl. ebd., S. 5. 451 Vgl. Dokumentation des Offenen Briefs an den Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow, in: LDD-Rundbrief, Nr. 8, [ca. Juni 1989], in: Privatarchiv Rolf Stolz. Flechtheim zog seine Unterschrift unter das Memorandum aber wieder zurück, da er diesen „in der vorgelegten Form“ nicht unterstützen konnte, wie die „FAZ“ in einer „Kleinen Meldung“ am 14. Juni 1989 verlautbarte.
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deutscher Staaten aus NATO und Warschauer Pakt mit dem Ziel der Schaffung eines ABC-Waffen-freien Gesamtdeutschlands vor.452 Über die Aktion wurde in einem kürzeren Artikel in der „FAZ“453 berichtet. In der alternativen „Tageszeitung“454 und in der „Frankfurter Rund schau“455 erschienen jeweils Anzeigen, die für das „Memorandum“ warben. Als Reaktion auf seinen „Offenen Brief“ an Gorbatschow erhielt Stolz ein auf den 22. Juni 1989 datiertes Antwortschreiben des sowjetischen Botschafters in Bonn, Julij Kwizinski. Dieser drückte ihm darin im Namen des Generalsekretärs der KPdSU seinen Dank für „das Engagement zugunsten einer neuen Qualität der Beziehungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland“ aus.456 g) Die LDD und die Friedliche Revolution 1989 Hatte Stolz noch im Sommer 1989 Gorbatschow Erfolg bei seinen Reformen in der Sowjetunion gewünscht, so mussten er und seine Mitstreiter in der LDD im Herbst von der Friedlichen Revolution in der DDR doch wohl überrascht worden sein. Hierzu meldete sich die LDD Ende des Jahres 1989 mit einer Erklärung zu den Ereignissen im zweiten deutschen Staat zu Wort: Zunächst stellte man mit Genugtuung die von den Grünen seit ihrer Gründung vorgeblich geforderte Überwindung der deutschen und europäischen Spaltung fest. Da nun „die Prediger des Spaltungswahn[s]“ nichts mehr zu sagen hätten, sei nun eine Reform der DDR „an Haupt und Gliedern“ erforderlich. Zudem sah die LDD „vertrauensbildende einseitige und zweiseitige Abrüstungsschritte“, „die Schaffung gemeinsamer Institutionen und Organe“, „ungehinderte Reise- und Arbeitsmöglichkeiten“, einen für die DDR akzeptablen Umrechnungskurs sowie die „Angleichung der Bildungssysteme und [die] wechselseitige Anerkennung der Abschlüsse“ als erforderlich an.457 452 Vgl. Offener Brief an den Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow, Memorandum für Blockfreiheit und Neutralität, in: LDD-Rundbrief, Nr. 8, [ca. Juni 1989], o. S., in: Privatarchiv Rolf Stolz. 453 „Ein offener Brief an Gorbatschow“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Juni 1989. 454 Anzeige „Offener Brief an M. Gorbatschow / Memorandum für Blockfreiheit und Neutralität, in: Die Tageszeitung vom 10. Juni 1989. 455 Anzeige „Offener Brief an M. Gorbatschow / Memorandum für Blockfreiheit und Neutralität“, in: Frankfurter Rundschau vom 14. Juni 1989. 456 Julij Kwizinski, Brief an Rolf Stolz vom 22. Juni 1989, in: LDD-Rundbrief, Nr. 9, [ca. November 1989], o. S., in: Privatarchiv Rolf Stolz. 457 Vgl. Rolf Stolz, Für eine neue Einheit der Deutschen – Jetzt die Konföderation beginnen!, [ca. Dezember 1989], in: Privatarchiv Rolf Stolz.
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Eine deutsche Wiedervereinigung in Gestalt des Deutschen Reiches von 1914, 1918 oder 1933 wurde von der LDD 1989 / 90 abgelehnt. Vielmehr wollte man anstelle einer „staatlichen Neuvereinigung“ die „Einheit, die solidarische Zusammenarbeit“ der Deutschen in beiden Staaten. So sollte aus dem Dialog zwischen Bundesrepublik und DDR – über den Zwischenschritt einer deutschen Konföderation („Deutscher Staatenbund“) – der Weg hin zu einer „Mitteleuropäischen bzw. Gesamteuropäischen Konföderation“ beschritten werden. Eine „Ständige Konferenz der Vereinten Nationen“ – gemeint waren die Alliierten – sollte mit den beiden deutschen Staaten einen Friedensvertrag aushandeln und abschließen. Dieser sollte neben dem alliierten Truppenabzug, einer deutschen Neutralität, einem entmilitarisierten Gesamtdeutschland die volle Souveränität ermöglichen.458 Im Januar 1990 meldete sich Rolf Stolz mit einer „Initiative für eine andere grüne Deutschlandpolitik“459 zu Wort. Beteiligt waren an dem Papier neben Stolz die grüne Europa-Abgeordnete Eva Quistorp, der Bochumer Bundestagsabgeordnete Eckhard Stratmann, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Roland Vogt (beide Grüne) sowie einige Mitglieder der Alternativen Liste Berlin.460 Ziel des Papiers war es, auf den Meinungsbildungsprozess der Grünen in deutschlandpolitischen Fragen einzuwirken. Die Ereignisse in der DDR vom Herbst und Winter 1989 / 90 wurden als Beleg einer „Einheit von unten“461 begrüßt. Zudem legten die grünen Unterzeichner jetzt ein unzweideutiges Bekenntnis für die deutsche Einheit ab: „Wir treten ein für die Einheit Deutschlands innerhalb der bestehenden Grenzen.“462 Dazu sollte mit zunächst konföderativen Strukturen eine deutsch-deutsche Annäherung erfolgen, um in einer langfristigen Perspektive in einen „freiheitlichen Bundesstaat“ zu münden.463 Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war dabei eine Grundvoraussetzung. Vom Deutschen Bundestag und der Volkskammer der DDR wurden für 1990 eine gemeinsame Abstimmung über die völkerrechtliche Anerkennung der Westgrenze Polens gefordert. Für den Prozess Wiedervereinigung wurde darüber hinaus die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts der 458 Vgl.
ebd. Quistorp / Roland Vogt / Rolf Stolz, Initiative für eine andere grüne Deutschlandpolitik, Presseerklärung vom 12. Januar 1990, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 460 Die an dem Papier beteiligten Mitglieder der AL Berlin waren Paul Duve, Guntolf Herzberg, Michael Klinski, Günter Lütke, Heidrun Reetz, Siegfried Reetz und Carola Wagemann. 461 Quistorp / Vogt / Stolz, Initiative für eine andere grüne Deutschlandpolitik, Presseerklärung. 462 Ebd. 463 Vgl. ebd., S. 3. 459 Eva
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Menschen in der DDR angemahnt; die deutsche Einheit sollte der DDR nicht aufgezwungen bzw. die Bedingungen hierfür nicht diktiert werden.464 Nachdem sich im Frühjahr 1990 immer deutlicher die Konturen des Weges zur deutschen Einheit abzeichneten, schien eines der Hauptziele der LDD letztlich erreicht, auch wenn die Teilung nicht in Form einer Konföderation beider deutscher Staaten überwunden wurde. Im Frühjahr 1990 versuchte Stolz die Möglichkeiten für einen nun gesamtdeutschen Diskus sions- und Initiativkreis auszuloten. Dieser neue Kreis, der durchaus ein potentieller Nachfolger der westdeutschen LDD hätte sein können, sollte nun parteiübergreifend und gesamtdeutsch nach gemeinsamer Diskussion für neue Initiativen sorgen. Jedoch musste Stolz eingestehen, dass der reale Einheitsprozess manche vorherigen Pläne überholt hatte. Trotzdem sah er weiter die Aufgabe, daran mitzuwirken, dass „Deutschland neu vereinigt“ würde und dass die „Grundinteressen der Menschen – Erhaltung der Natur, Frieden, demokratische Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit“ im Vereinigungsprozess zur Geltung kämen. Davor waren aber noch grundsätzliche Fragen zu klären: z. B., ob es überhaupt einen neuen gesamtdeutschen Initiativkreis geben sollte, welche Strukturen ein solcher Zirkel haben könnte, wer die Organisation übernehmen könnte und last, not least, wie und wo ein erstes Treffen zustande kommen sollte. Stolz erklärte seine Bereitschaft, an der Gründung eines solchen Kreises mitzuwirken. Gleichzeitig schränkte er diese Zusage aber mit dem Hinweis ein, dass er aus beruflichen und publizistischen Verpflichtungen nicht mehr die ganze Arbeit, wie er es ja in der LDD faktisch tat, alleine schultern könne.465 In seinem zu Jahresbeginn 1990 erschienenen Buch „Der deutsche Komplex“466 begrüßte Stolz die Friedliche Revolution in der DDR ausdrücklich, bekannte sich zur „schöne[n] Muttersprache“467, einer blocküberwindenden, gemeinsamen deutschen Kultur und zu einem „elementare[n] 464 Vgl.
ebd., S. 2. den Brief von Rolf Stolz vom 12. April 1990 an die Teilnehmer des Treffens am 7. Januar 1990 im Kinderladen Kreuzberg, Betreff: Frage eines gesamtdeutschen Diskussions- und Initiativkreises, in: Privatarchiv Rolf Stolz. Im Sommer 1990 wurde von der LDD die Aktion „Berlin statt Bonn – Bürger statt Bürokraten“ gestartet. Man wollte mit einer Unterschriftensammlung eine Volksabstimmung initiieren, um über eine neue Verfassung, die künftige deutsche Hauptstadt und die nationale Symbolik des wiedervereinten Deutschlands abzustimmen. Siehe Linke Deutschland-Diskussion, Berlin statt Bonn – Bürger statt Bürokraten. Kampagne für Berlin als Hauptstadt des Neuanfangs, 11. Juli 1990, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 466 Rolf Stolz, Der deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung, Erlangen u. a. 1990. 467 Ebd., S. 138. 465 Vgl.
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Zusammengehörigkeitsgefühl unter Familien und Verwandten“468, mochte aber zugleich nicht völlig von seinem deutschlandpolitischen Credo eines blockfreien und neutralen Mitteleuropa abrücken: „Ohne die Lösung der deutschen Frage, ohne Truppenabzug und Blockfreiheit wird es kein neues und kein anderes Deutschland geben. Ohne Entflechtung der Blöcke, ohne die Neutralisierung Mitteleuropas und ohne die Autonomie der Völker wird der Krieg wahrscheinlicher.“469
2. Die Stellung der LDD innerhalb der Grünen und der westdeutschen Linken a) Rolf Stolz und die Grünen Rolf Stolz wurde 1949 in Mülheim an der Ruhr geboren, studierte in Köln und Tübingen Psychologie und schloss sein Studium mit dem Diplom ab. Seit 1974 war er in der Industrie tätig.470 Das Geburtsjahr Stolz’ war seiner Erinnerung das Jahr, „als der Staat Bundesrepublik und der Nachfolge-Staat DDR aus den Köpfen ihrer damaligen ausländischen Herren in die Welt gesetzt wurden. Ich war mir stets sicher, beide Provisorien und ihre separaten Herrscher zu überleben. […] Was die beiden schönen Nationalhymnen versprechen, […] muß Wirklichkeit werden: Einigkeit und Recht und Freiheit in einem einigen Vaterland.“471
Politisch sozialisiert wurde Stolz im Herbst 1967 im Kölner Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dessen Grundstruktur und Stimmung er aber als „kleinbürgerlich“ empfand.472 1969 wurde Stolz für kurze Zeit Mitglied der national orientierten K-Gruppe Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML).473 Hier stieg er rasch in den Landesvorstand NRW auf und gehörte einige Monate zur Redaktion ihres Theorieorgans „Revolutionärer Weg“. Im Sommer 1969 verließ Stolz die Partei aber wieder.474 In den 1970er Jahren gehörte Stolz zur Vereinigten Linken (VL), einer Gruppierung auf der Linken, welche die Vertreibung 468 Ebd.
469 Ebd.,
S. 139. ebd., Klappentext. 471 Rolf Stolz, Nach der Einheit: Die ganze Freiheit! Über eine mögliche Zukunft der Deutschen in ihrem eigenen Land, o. O. und o. J. [ca. 1992], Kap. VorSätze, S. 2, in: Privatarchiv Rolf Stolz. Hervorhebung im Original. 472 Vgl. Rolf Stolz, 1967 bis heute: Blicke zurück auf eigene Bewegungen, S. 209. 473 Zur KPD / ML siehe auch das Kapitel C.I. in dieser Studie. 474 Vgl. Stolz, 1967 bis heute: Blicke zurück auf eigene Bewegungen, S. 212. 470 Vgl.
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der Deutschen aus Ost- und Mitteldeutschland als Verbrechen bezeichnet hatte. Politisch trat er in dieser Zeit für eine „nationalbewusste Emanzipationsbewegung“ ein.475 1980 war Stolz Mitbegründer der Grünen, wurde im selben Jahr Mitglied der Bundesprogrammkommission, die das „Saarbrücker Programm“ der Grünen formulierte. 1980 / 81 gehörte Stolz als Schriftführer dem ersten grünen Bundesvorstand an.476 Ein publizistischer Erfolg gelang Rolf Stolz 1985 mit der Herausgabe des Sammelbandes „Ein anderes Deutschland“477, in dem Autoren verschiedener grüner und außergrüner linker Strömungen sich zur Deutschen Frage äußerten. So waren unter einem Buchdeckel verschiedene Ansichten zur Zukunft Deutschlands versammelt, auch von Status-quo-Freunden wie dem deutschlandpolitischen Sprecher Bundestagsfraktion der Grünen, Dirk Schneider, oder der Bundestagsabgeordneten Antje Vollmer.478 Bei der Auswahl der Autoren ging es Stolz darum, gerade durch verschiedenartige Ansätze die kontroverse deutschlandpolitische Debatte für zukünftige grüne Politik fruchtbar zu machen. „Zwangsharmonie“ und „Denkverbote“ wurden von Stolz dabei abgelehnt.479 Ein weiterer Autor des Bandes war der grüne Bundesvorsitzende Wilhelm Knabe, der über seinen Besuch in der DDR 1983 und die dortigen Gespräche zu Umweltfragen berichtete.480 Auch der Sozialdemokrat und Jurist Theodor Schweisfurth481, einer der wenigen Einheitsfreunde in der SPD, war mit einem Beitrag vertreten. Wie bilanzierte Stolz sein deutschlandpolitisches Wirken in den 1980er Jahren? In einem 1992 verfassten und unveröffentlichten Buchmanuskript „Die Grünen am Wendepunkt“482, erinnerte sich Stolz an die Zeiten der deutschen Zweistaatlichkeit. Er bedauerte die „Tabuisierung“ und „Marginalisierung“ der Deutschen Frage auf der Linken und monierte die Ausgrenzung, wenn man – wie er – für die „Selbstbefreiung Deutschlands“ gekämpft 475 Vgl.
ebd., S. 217–218. Stolz, Der deutsche Komplex, S. 8 und Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen, S. 290. 477 Rolf Stolz (Hrsg.), Ein anderes Deutschland. Grün-alternative Bewegung und neue Antworten auf die Deutsche Frage, Berlin 1985. 478 Dirk Schneider, Gedanken zur Deutschlandpolitik der Grünen, in: Ebd., S. 41–50 und Antje Vollmer, Konflikt im konservativen Lager, in: Ebd., S. 62–66. 479 Vgl. Rolf Stolz, Vorwort, in: Ebd., S. 5–7, hier S. 6. 480 Wilhelm Knabe, Grüne und die DDR. Kontaktaufnahme zu Umweltfragen, in: Ebd., S. 90–96. 481 Theodor Schweisfurth, Rapacki-Plan, das Beispiel Lateinamerika und heutige Möglichkeiten für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa, in: Ebd., S. 134–147. Zu Schweisfurt siehe auch Gallus, Die Neutralisten, S. 330–333. 482 Vgl. Rolf Stolz, Die Grünen am Wendepunkt, o. O. und o. J. [ca. 1992], in: Privatarchiv Rolf Stolz. 476 Vgl.
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habe.483 So sei man als Linker beim Verlassen des „Nonsens-Konsens[es] der Altparteien und des Meinungsestablishments“ in der deutschlandpolitischen Diskussion abgedrängt worden auf „hektographierte Medien und Insider-Postillen“484. Auch der Mainstream der grünen Deutschlandpolitik bestand für Stolz aus nicht mehr als „ein paar Mahnungen an die DDR, menschliche Erleichterungen zu gewähren und die Grenze humaner zu gestalten.“485 Die Mehrzahl der Grünen sah Stolz zufolge in den 1980er Jahren in der deutschen Zweistaatlichkeit die gerechte Strafe für die Verbrechen des Nationalsozialismus und den besten Schutz vor aktuellen germanischen friedensgefährdenden Machtansprüchen.486 Die Grünen hätten seiner Meinung nach gut daran getan, sich in ihren deutschlandpolitischen Debatten von dem für ihn unscharfen Begriff der „Wiedervereinigung“ zu trennen. Stattdessen hätten sie den Begriff der „Neuvereinigung“ einführen sollen. „Wiedervereinigung“ erinnerte Stolz zu sehr an das Kaiserreich und an die Weimarer Republik, an eine „simple Addition“ der getrennten Teilstaaten. Der Terminus „Neuvereinigung“ hätte aus seiner Sicht eine Überwindung der Blocklogik bedeutet, ein „gleichberechtigtes Zusammenkommen [der Deutschen; L. H.] unter einem Dach.“487 Das strategische Ziel einer grünen Deutschlandpolitik jenseits einer einfallslosen Weiterführung der sozialliberalen Ostpolitik bestand für Stolz im „Selbstbestimmungsrecht für alle Menschen und alle Völker.“488 Der LDDChef bedauerte das fortgesetzte Engagement der ehemaligen westdeutschen Status-quo-Befürworter auch nach der deutschen Einheit, die das wiedervereinigte Deutschland in der NATO hielten und eine ausländische Truppenpräsenz akzeptierten.489 b) Zum Verhältnis der LDD zu den Grünen und der westdeutschen Linken Die Aktionen der LDD trafen – dreier grüner Kongresse zur Deutschlandpolitik zum Trotz – nicht auf ungeteilte Zustimmung. Zu nennen ist hier die grüne Bundestagsfraktion als schwieriger Resonanzboden für die Positionen der LDD. Rolf Stolz schickte Jürgen Schnappertz, dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dirk Schneiders, im Herbst 1984 den ersten Materialbrief zur 483 Vgl.
484 Ebd.
485 Ebd.,
ebd., S. 11.
S. 18. ebd., S. 95. 487 Ebd., S. 110. 488 Ebd., S. 80. 489 Vgl. ebd., S. 15. 486 Vgl.
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
Kenntnisnahme zu. Schnappertz bedankte sich bei Stolz nicht für die Zusendung, kritisierte stattdessen den Materialbrief, nachdem er diesen „flüchtig durchgeblättert“ habe als „in der Tendenz einseitig“.490 Besonders ärgerte sich Schnappertz über die Auswahl der Berichte in dem Heft, in dem seiner Ansicht nach nur die Wiedervereinigungsbefürworter unter den Grünen eine Stimme hätten.491 In seinem Antwortschreiben rechtfertigte Stolz seine deutschlandpolitische Position, „eine friedliche und demokratische Neuvereinigung zwar als Möglichkeit und Chance“ zu fördern, sah in ihr aber nicht „den zentralen Zielpunkt unseres Kampfes“.492 Vielmehr wolle er über Blockgrenzen hinweg eine Diskussion über Perspektiven anstoßen. Zudem gab Stolz aber zu bedenken, dass „Deutschland eine Nation“ sei und die „Spaltung Deutschlands ein historisches Verbrechen.“493 Dass die Tätigkeit der LDD im linken Lager Westdeutschlands auf Widerspruch stoßen würde, war zu erwarten.494 Hierbei wurde versucht, Stolz und die LDD in die Nähe des Rechtsextremismus zu rücken. Dabei wurde insbesondere das Argument vorgebracht, dass unter dem Tarnmantel der (aus linker Sicht linken) Friedensbewegung Westdeutschlands) rechtes bzw. rechtsextremistisches, d. h. friedens- und somit status-quo-gefährdendes Gedankengut in die Bewegung Eingang finden könnte.495 Stolz hatte sich mit entsprechenden Gegendarstellungen zu befassen. So stellte er klar, dass kein 490 Jürgen Schnappertz, Brief an Rolf Stolz vom 18. Juli 1984, in: AGG, B.II.1, Akte 2084, S. 1. 491 Vgl. ebd. 492 Rolf Stolz, Brief an Jürgen Schnappertz, o. D. [ca. Juli 1984], in: AGG, B.II.1., Akte 2084, S. 2. 493 Ebd. 494 Nicht nur von grüner bzw. linker Seite wurde der LDD angegangen, auch von der Gegenseite musste man sich Vereinnahmungen erwehren. So wandte sich Stolz gegen einen Artikel des Neurechten Wolfgang Strauss in der „Neuen Zeit“, in dem dieser ihn einen „lieben Mitstreiter“ nannte. Vgl. dazu Wolfgang Strauss, Von Gandhi lernen. Offener Brief an die Gruppe Stolz in der Grünen Partei, in: Die Neue Zeit, 1 / 1985, S. 19–21, abgedr. in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 12–14. Vgl. hierzu die Gegendarstellung von Rolf Stolz, in: ebd., S. 9–11. „Arbeiterkampf“ im Kampf gegen unliebsame Wahrheiten, abgedr. in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 9–11. 495 Vgl. beispielhaft die Artikel von Peter Kratz, Nationalrevolutionäre suchen Einfluß auf die Friedensbewegung. Mit scheinbar linken Parolen werden rechte Inhalte zur Deutschlandpolitik verbreitet, in: blick nach rechts vom 1. April 1986; ders., Friedensvertragsdiskussion: Ein nationalistisches Gleis der Friedensbewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2 / 1987, S. 217–229.
V. Der Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD)
335
Rechtsextremer Mitglied der LDD sei. Zudem betonte Stolz, dass er seit mehr als 20 Jahren in verschiedenen linken Gruppen gearbeitet habe und der Vorwurf, dass der LDD und Stolz „nationalistische Friedenskonzepte vertreten würden, „absurd“ sei.496 Die LDD wurde dabei nicht nur an den rechten Rand zu rücken versucht, vielmehr wurde dem Kreis auch vorgeworfen, friedenspolitische Konzepte der 1950er und 1960er Jahre zu vertreten, mithin veraltete Politik zu betreiben. Die sozialliberale Ost- und Entspannungspolitik wurde dabei – „trotz gesamtdeutscher Vorbehalte“ – gerade auch im Hinblick auf die versuchte Aufweichung der Präambel des Grundgesetzes „in Richtung Akzeptieren der Realität“ als politische Strategie der ersten Wahl für die europäische Friedenssicherung präsentiert.497 In der geplanten Zusammenarbeit der LDD mit osteuropäischen Oppositionsgruppen und wurden Tarnmanöver vermutet: „Die aktuelle Diskussion z. B. in der polnischen Untergrundpresse zeigt, daß sich dortige nationalistische Kreise vom Herausbrechen der DDR über den Hebel der Wiedervereinigung einen entscheidenden Stoß zum Zerfall des realsozialistischen Lagers versprechen. Währenddessen glauben die westdeutschen Nationalisten, über die innere Zerrüttung Osteuropas mittels dieser Bewegungen ihren Wiedervereinigungstraum erfüllen zu können.“498
Im „Arbeiterkampf“, der Zeitung der K-Gruppe Kommunistischer Bund (KB), wurden Stolz und die LDD ebenfalls kritisiert. So unterstellte der anonyme Verfasser der LDD und weiteren linken Gruppen (z. B. der „Aktion 100.000 Partnerschaften“, u. a. getragen von Gert Bastian, Rolf Stolz und Jo Leinen) sowie den „Denkschrift“-Machern Herbert Ammon, Theodor Schweisfurth und Peter Brandt, auch nach dem Scheitern der nationalen Kräfte in der Friedensbewegung 1981 einen „Eifer“, die „abbröckelnde und desorientierte Anti-Nachrüstungs-Bewegung doch noch auf den rechten Weg zu führen und sie zum Stoßtrupp für die Wiedervereinigung umzu funk tionieren“499. 496 Vgl. Rolf Stolz, Brief an den Sozialdemokratischen Pressedienst vom 16.4.1986, in: Privatarchiv Rolf Stolz. Zu den Ausgrenzungsversuchen der LDD aus der westdeutschen Friedensbewegung siehe auch die Erklärung des Initiativkreises Linke Deutschland-Diskussion, Gegen Ausgrenzung und Diffamierung – für Sachlichkeit, Dialogfähigkeit und Solidarität in der Friedensbewegung vom 15. Mai 1987, in: Privatarchiv Rolf Stolz. 497 Vgl. Kratz, Friedensvertragsdiskussion, S. 226. 498 Ebd., S. 229. 499 „Es deutscht so link, wenn deutsche Linke deutschen“, in: Arbeiterkampf, Nr. 254 vom 14. Januar 1985, abgedr. in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über Nationalallergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 17. Rolf Stolz erwiderte den Artikel prompt: „Die Superlinken sehen nicht die breite, vielfältig gefächerte Bewegung, die die deutsche Frage neu aufwirft – für sie exis-
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
3. Die Beobachtung der LDD durch das MfS Die überlieferten Aktenbestände des Staatssicherheitsdienstes zum Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion sind insgesamt vom Umfang her als recht dürftig zu bewerten. Die erhaltenen Funde weisen zwar auf eine Überwachung durch Ost-Berlin hin, sind aber wegen der geringen Blattzahl nur sehr schwer zu qualifizieren. So datiert der früheste Aktenfund über die LDD vom Dezember 1984, als es in einem MfS-Dossier heißt: „Der ‚Ini tiativkreis‘ wurde im Oktober 1984 gegründet und will ‚Denkanstöße für eine deutsch-deutsche Initiative‘ vermitteln mit dem Ziel, über einen deutschen konföderativen Staatenbund zu einem sozialistischen Deutschland zu gelangen.“500 Eine nicht näher bezeichnete „Dokumentation“501, die sich mit sogenannten nationalrevolutionären Gruppen in der Bundesrepublik beschäftigte, führte auch die LDD als dieser Strömung zugehörig an. In dieser „Dokumentation“, die eher als Materialsammlung bezeichnet werden kann, hatte auch die LDD ihren Platz. Die Funde zur Stolz-Gruppe wurden vom MfS nach den Kategorien „Zur Entstehung der LDD“, „Zur Ideologie der LDD“, „Beiträge des engeren Mitarbeiterkreises“ und „Beiträge des weiteren Mitarbeiterkreises“ geordnet. Zu Rolf Stolz sammelte das MfS ebenfalls Informationen: Eine undatierte Kartei vermerkte über den Chef der LDD, dieser sei „Vert[reter] des ‚militanten Flügels der Grünen“.502 Eine weitere Karte enthielt einen Hinweis auf eine Auskunft vom 29. Juni 1987: Demnach sei Stolz Grünen-Mitglied und „Sprecher der angeblich getarnten rechten Organisation Linke Deutschland Diskussion (LDD)“. Dieser Hinweis auf der Karteikarte zu Stolz wurde mit einem Hinweis auf eine nicht näher bekannte „Schulungsmappe“ ergänzt.503
tiert nur durch Kumpanei verschwägerter Verschwörerklüngel, eine kleine Zahl von Drahtziehern.“ Siehe Rolf Stolz, „Arbeiterkampf“ im Kampf gegen unliebsame Wahrheiten, in: Linke Deutschland-Diskussion, Weder Nationalismus noch Status quo. Unsere Positionen. Unsere Aktivitäten. Über Nationalisten … Über National allergetiker [sic!], 2., akt. Aufl., o. O. [Köln] 1985, S. 15. 500 Auszug aus dem Wochenbericht der HA XX vom 10. Dezember 1984, in: BStU, ZA, MfS – ZAIG 29106, Bl. 001. 501 Vgl. das Inhaltsverzeichnis der Dokumentation, o. D. [ca. 1987], in: BStU, ZA, MfS – HVA 1551, Bl. 001–002. 502 Karteikarte zu Rolf Stolz in: BStU, ZA, MfS – HAXX / AKG-VSH. 503 Vgl. die Karteikarte zu Rolf Stolz in: BStU, ZA, MfS – HAXXII-VSH. Die BStU-Kopie der Karte ist schwer lesbar.
VI. Zwischenfazit337
VI. Zwischenfazit Die maoistische Kleinpartei KPD / ML, eine sogenannte K-Gruppe, die Ende der 1960er Jahre aus Resten der Studentenbewegung entstanden war, verfocht in den 1970er Jahren eine betont nationale Position gegen den damaligen antinationalen Mainstream auf der deutschen Linken. Sie kritisierte die SED gewissermaßen von links, indem sie deren Regime als verlottert und korrupt bezeichnete. In der KPD / ML blieb das national orientierte Denken während der 1970er Jahre virulent, bis es in den 1980er Jahren von Teilen der Friedensbewegung aktualisiert wurde. Die Partei forderte gegen den linken Mainstream Westdeutschlands ein wiedervereinigtes und sozialistisches Gesamtdeutschland. Zudem unterhielt die Partei eine Gruppe in der DDR (KPD / ML, Sektion DDR), die ab 1976 existierte und somit eine gelebte operative Deutschlandpolitik über die Mauer hinweg betrieb. Die Gruppe in der DDR wurde demzufolge als staatsgefährdend eingeschätzt und 1981 von der Staatssicherheit zerschlagen. Die Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin, der Berliner Grünen, konstituierte sich 1980 im Zusammenhang mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und der beginnenden westdeutschen Friedensbewegung. Die AG bestimmte den deutschlandpolitischen Teil des Wahlprogramms zu den Abgeordnetenhauswahlen 1981 erheblich mit. Das Ziel einer Wiedervereinigung Deutschlands, das über konföderierte Strukturen zu erreichen sein sollte, entsprang für die Gruppe in erster Linie aus dem Wunsch nach Frieden. Innerhalb der auf die Bewahrung des Status quo ausgerichteten Linken und Grünen in der Bundesrepublik bzw. West-Berlin nahm die Gruppe eine Ausnahmestellung ein. Die sonst im linken Lager vorgetragenen Argumente einer Friedenssicherung durch Bewahrung des Status quo konnten bei diesen national orientierten Grünen nicht verfangen. Im Gegenteil: Wahren Frieden konnte es nur mit einem wiedervereinigten, paktfreien Gesamtdeutschland geben. Ab Mitte der 1980er Jahre geriet die AG Berlin- und Deutschlandpolitik innerhalb der Alternativen Liste in die Defensive. In die Analyse einbezogen wurden hierzu die innergrünen Debatten um die deutschlandpolitische Linie der Alternativen Liste. Der grüne Mainstream warf der AG eine friedensgefährdende Politik vor. Hierzu reichten die Bezeichnungen von „Antikommunisten“ über „Dregger-Freunde“ bis hin zu „CIA-Agenten“, um die Gruppe innerhalb der Partei unglaubwürdig erscheinen zu lassen und sie politisch zu isolieren. Die status-quo-kritischen Grünen wehrten sich unter dem Hinweis, dass sich die Alternative Liste SED-Positionen annähere. Nach der Trennung von der Alternativen Liste 1987 arbeitete die Berlin-AG parteiunabhängig weiter. Dass es trotzdem auch noch im Herbst 1989 innerhalb der Alternativen Liste Wiedervereinigungsfreunde gab, konnte ebenfalls
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C. Deutschlandpolitik als Friedenskonzept
belegt werden. Die Überwachung der AG Berlin- und Deutschlandpolitik sowie der Alternativen Liste durch das MfS – u. a. durch Dirk Schneider – zeigt auch hier die Einordnung der Berliner Grünen als prinzipiell staats gefährdende Gruppe durch Ost-Berlin. Aus Kreisen der Grünen und aus anderen unabhängigen linken Kräften, zumeist (ehemaligen) Sozialdemokraten, bildete sich nach dem Scheitern der Friedensbewegung in der Raketenfrage im Jahr 1984 aus einer grünen „Deutschlandkonferenz“ heraus der Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD). In Anknüpfung an die Anfang der 1980er Jahre letztlich gescheiterte Friedensbewegung versuchte die Gruppe bis Mitte der 1980er Jahre mit einigem Erfolg, Einfluss auf den innerparteilichen Diskurs der grünen Partei in der Deutschlandfrage zu nehmen. Eine nennenswerte Einflussnahme auf die grüne Bundestagsfraktion gelang hingegen zu keiner Zeit. Eine Beobachtung der LDD durch das MfS hat es offenkundig gegeben, doch lässt sich die Intensität nicht weiter qualifizieren, da die vorgefundene Überlieferung eher dürftiger Natur ist. Das Verdienst des Hauptakteurs der LDD, Rolf Stolz, lag demnach in der Zusammenführung von an der Deutschlandfrage interessierten Personen des linken politischen Spektrums, die sich in der Organisation zahlreicher Konferenzen und in einer regen Publikationstätigkeit manifestierte.
D. Resümee War die Wiedervereinigung in der Bundesrepublik seit Abschluss des Grundlagenvertrages 1972 also passé? Nein, das Festhalten am Gedanken der Wiedervereinigung Deutschlands war nicht vergebens. Gerade das in der Präambel des Grundgesetzes verankerte Wiedervereinigungsgebot und die Bekräftigung dieses Rechtsgrundsatzes durch das Karlsruher Urteil nach Abschluss des Grundlagenvertrages waren für die hier untersuchte „juristisch instrumentierte Opponentengruppe“ (Tilman Mayer) Richtschnur und mentale Unterstützung ihres deutschlandpolitischen Handelns: Die Mitglieder des deutschlandpolitischen Arbeitskreises der CDA einte eine patriotische Grundhaltung, die sich aus dem politischen Denkens Jakob Kaisers speiste. So wie dieser Bundeskanzler Konrad Adenauer in deutschlandpolitischen Fragestellungen die Stirn bot, kämpfte die Initiatoren des Kreises, Ulf Fink und Uwe Lehmann-Brauns, gegen die in den 1980er Jahren in deutschlandpolitischen Fragen zunehmend unsicher agierende CDU.1 Vor allem aber kam die SPD in deutschlandpolitischen Fragen nach dem Verlust des Kanzleramtes in den 1980er Jahren zunehmend aus dem Tritt. Die Partei richtete sich fest im Status quo ein und verlor ihre ursprüngliche deutschlandpolitische Orientierung. Dagegen opponierte der Kurt-Schumacher-Kreis, in dem im Geiste des ersten SPD-Vorsitzenden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Kurt Schumacher, eine stete kritische Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime in Ost-Berlin stattfand. Dies geschah sehr zum Leidwesen der SPD-Funktionäre: Der Vorsitzende des Kreises, Hermann Kreutzer, ursprünglich ein Protegé des sozialdemokratischen gesamtdeutschen Ministers Herbert Wehner, wurde noch vor Ende der sozialliberalen Koalition vom innerdeutschen Minister Egon Franke aufgrund seiner deutschlandpolitischen Überzeugungen regelrecht aus dem Ministerium und auch aus der Partei gemobbt. Einen genauso schweren Stand, aber auch den klareren Blick in deutschlandpolitischen Belangen, hatte Detlef Kühn in der liberalen Partei. Kühn kritisierte die FDP für ihre Abkehr von nationalliberalen Positionen, hatte aber als Präsident der Bundesbehörde Gesamtdeutsches Institut gleichzeitig die Balance zur Realpolitik zu wahren: Trotzdem war Kühn einer jener Stachel im Fleisch des deutschlandpolitischen Mainstreams in der Bundes1 Siehe
Schwarz, Helmut Kohl, S. 470–471.
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D. Resümee
republik der 1970er und 1980er Jahre, der hoffte, dass die Wiedervereinigung nicht erst am Sanktnimmerleinstag kommen möge. In der deutschlandpolitischen Kampfarena der bundesdeutschen DDRForschung arbeitete die 1978 gegründete Gesellschaft für Deutschlandforschung im Bewusstsein der Offenheit der Deutschen Frage. Eine Arbeitsthese also, die die Abschaffung des Untersuchungsgegenstandes ausdrücklich nicht ausschloss. Die Gründung der GfD galt somit als Politikum, denn den sozialdemokratischen Ministerialen im innerdeutschen Ressort war die Wiedervereinigungsorientierung der neuen Wissenschaftlervereinigung suspekt: Man sah die Gefahr einer Störung der Entspannungspolitik durch eine allzu großzügige Unterstützung für die GfD. Später legte sich die Aufregung und die GfD genoss für ihre zahlreichen Tagungen und Publikationen auf deutschlandpolitischem Felde die Aufmerksamkeit der sozial- wie christdemokratischen Ministerialen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Die Mitglieder des Arbeitskreises ehemaliger DDR-Akademiker sahen sich in der Bundesrepublik besonderer Verdächtigungen ausgesetzt, waren sie doch bis zu ihrer Flucht bzw. Ausreise aus der DDR mehrheitlich in der Ost-Berliner Staatspartei SED engagiert. Der ideologische und der daraus folgende organisatorische Bruch mit dem Staatssozialismus sowjetischer Prägung wurde den Mitgliedern des Arbeitskreises zwar abgenommen, doch ihre Wiedervereinigungsorientierung machte sie aus Sicht des deutschlandpolitischen Mainstreams verdächtig. Der Arbeitskreis vertrat keine einheitliche deutschlandpolitische Linie in der Hinsicht, dass es nur den einen Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands gäbe. Richtschnur des Handelns war vielmehr das in der Präambel des Grundgesetzes festgelegte Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen. Auch das war dem Mainstream zu verdächtig, denn im Prinzip war klar, dass es bei der konsequenten Anwendung des Selbstbestimmungsrechts zu einer Entscheidung der Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR für das Zusammengehen der beiden deutschen Staaten kommen würde, was ja auch 1989 / 90 in der Realpolitik dann eine Rolle spielte. Die Überwachung des Kreises durch das MfS spiegelt die besondere deutsch-deutsche Dramatik im Kalten Krieg wider: Nicht nur aus der Bundesrepublik war man Verdächtigungen ausgesetzt, die Friedhofsruhe des Status quo zu stören, nein, dasselbe Argument wurde von Ost-Berliner Seite genutzt, um den Arbeitskreis an den – verdächtigen – Rand der (west-) deutschen Debattenarena zu drängen. Aber auch auf der linken und grün-alternativen Seite hatten Wiedervereinigungsfreunde, die gegen das im innerlinken und dortigen antinationalen Mainstream verankerte ‚Totschlagargument‘, die deutsche Teilung sichere den Frieden, opponierten, zu kämpfen. Diese hatten einen schweren Stand und gleichwohl den klareren Blick, wie sich im deutschen Herbst 1989, der
D. Resümee 341
die Linke kalt erwischte, zeigen sollte: Die maoistische Kleinpartei KPD / ML mit ihrem Ableger in der DDR war als Ideenträgerin ein wichtiges Bindeglied für nationales Gedankengut auf der Linken. Die Friedenbewegung und die später gegründeten Grünen nahmen dieses zum Teil auf und aktualisierten es. Auch die vermeintliche Deutschlandferne der Grünen in den 1980er Jahren konnte anhand der Auseinandersetzungen der beiden grünen deutschlandpolitischen Gruppierungen, der Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin sowie des Kölner Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion um Rolf Stolz, mit dem auf Zweistaatlichkeit ausgerichteten grünen deutschlandpolitischen Mainstream widerlegt werden. In der AG Berlin- und Deutschlandpolitik traf man mit deutsch-deutschen Konföderationskonzepten angesichts der in Berlin allsichtbaren deutschen Teilung den deutschlandpolitischen Nerv der Zeit. Zunächst war man in der Alternativen Liste tonangebend, steuerte inhaltlich die deutschlandpolitische Debatte der Gruppe. Doch die Bataillone der Linken um die Stasi-IM Dirk Schneider und Klaus Croissant konnten den Einfluss der Gruppe zunehmend zurückdrängen. Mit Totschlagargumenten – wie etwa die AG bestehe aus „Antikommunisten“, „Dregger-Freunden“ und „CIA-Agenten“ – wurden diese in der Alternativen Liste gemobbt, was neben der zunehmend erfolgreich durchgeführten politischen Isolierung schließlich zum Austritt der gesamten Gruppe aus dem Berliner Zweig der Grünen führte. Der aus Grünen, ehemaligen Sozialdemokraten und undogmatischen Linken gebildete Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion (LDD) versuchte sich als Sammlungsbewegung und Ideenwerkstatt in deutschlandpolitischen Fragestellungen für die Grünen. Mitte der 1980er Jahre übte man einen gewissen Einfluss auf die Partei aus. So wurde z. B. vom Initiator des Kreises, Rolf Stolz, eine deutschlandpolitische Konferenz in Köln veranstaltet. Zahlreiche Publikationen und Korrespondenzen zeugen von hoher Außenwirkung und guter Vernetzung. Die LDD wurde allerdings vom deutschlandpolitischen Mainstream der Grünen aus der deutschlandpolitischen Debatte herausgedrängt. Die Vorschläge der Linken Deutschland-Diskussion für eine deutsch-deutsche Konföderation als Friedensgarantie in Mitteleuropa erschienen den meisten Grünen suspekt. Für den Mainstream war die deutsche Teilung eine Folge und gar gerechte Strafe für Hitlers Angriffskriege; die mögliche Wiedererrichtung eines ‚Vierten Reiches‘ war zudem eine beliebte Drohkulisse gegen ein (konföderiertes) Gesamtdeutschland. Die Beobachtung und Bearbeitung aller hier vorgestellten westdeutschen Einheitsfreunde durch das Ost-Berliner MfS ist ein trefflicher Beleg für die These, dass eben genau dadurch die Status-quo-Gefährdung durch diese Gruppen und Persönlichkeiten vom SED-Regime praktisch ‚amtlich‘ aner-
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D. Resümee
kannt wurde. Insofern üben die hinterlassenen Bestände des MfS eine gewisse Korrektivfunktion aus: Die westdeutschen deutschlandpolitischen Dissidenten standen also nicht nur im Mainstream des Westens unter Verdacht, auch die (spät-)totalitäre Staatspartei erkannte in ihnen einen gewichtiges Gefährdungsmoment ihrer Alleinherrschaft. Um die Diktatur abzusichern, scheute man wahrlich keine Kosten und Mühen: Zahlreiche Spitzel standen in Westdeutschland in Lohn und Brot des Ost-Berliner MfS. Durch den Zangengriff von Seiten des SED-Regimes wurden die Wiedervereinigungsfreunde in Westdeutschland – neben dem ignoranten deutschlandpolitischen Mainstream – zusätzlich diffamiert bzw. in ihrer Arbeit beeinflusst. Die SED griff damit direkt in den westdeutschen Diskurs um die Selbstanerkennung der Bundesrepublik ein! Eine Fragestellung also, die in einer weiteren Arbeit aufgegriffen werden könnte. Die Debatte um die Selbstanerkennung der Bundesrepublik bot jedenfalls wenig Raum für die vorgestellten Gruppen und Persönlichkeiten. Diese störten die Status-quo-Freunde nur, denn über den Tag hinaus zu denken, alternative Friedenskonzepte wenigstens nur in die Debattenarena einzubringen, bot schon zu viel Sprengstoff. Und an unerledigte Pflichten (Präambelgebot) zu erinnern, war ebenso störend bei der nun auf Dauer anstehenden intellektuellen Möblierung der Bundesrepublik. Wie gestaltete sich der Umgang des deutschlandpolitischen Mainstreams mit den hier untersuchten Gruppen und Persönlichkeiten? Zuweilen hatte es den Anschein einer Diskursverweigerung. Der Eindruck der Devianz, ja von deviantem Verhalten drängt sich auf. Diese Reaktion erscheint menschlich verständlich, verschließt aber das Feld für eine wahrhaftige Analyse der Verhältnisse. Argumente, die zu häufig verwendeten und immergleichen Satzbausteinen geronnen, wie z. B., man möge „Realitäten anerkennen“, hörte man zuhauf. Es waren die immergleichen Argumente, wobei es hier doch wohl eher darauf ankam, die Argumente der Gegenseite zu torpedieren, ja abzuwürgen: Es waren Totschlagargumente. Abgesehen von der Frage nach der Einordnung der hier angesprochenen deutschlandpolitischen Opponenten in den Diskurs um die Selbstanerkennung der Bundesrepublik bleibt doch zuletzt die Frage, welche hard facts gegebenenfalls dennoch für eine mögliche – politikwissenschaftlich-zeitgeschichtliche – Perspektive der Versöhnung sprechen könnten? Bei der Betrachtung der Handlungsspielräume der deutschlandpolitischen Akteure wurden grundsätzlich zwei Ebenen berührt: So war einerseits von Seiten der Bundesregierung „Realpolitik“ zu betreiben, d. h. ein Auskommen mit der Sowjetunion und der DDR anzustreben. Andererseits – und das betraf die in der Arbeit zur Sprache kommenden Gruppierungen und Persönlichkeiten – gab es eben innerhalb und außerhalb der westdeutschen Parteien Vertreter,
D. Resümee 343
die für eine stärkere Betonung des Ziels der Wiedervereinigung Deutschlands eintraten, also Vertreter einer „Idealpolitik“2. Der erhobene Vorwurf der Realitätsferne3 gegen die Wiedervereinigungsfreunde war und ist leicht auszusprechen. Die Deutschlandpolitik war nun einmal in den größeren Kontext des Ost-West-Konflikts zwischen den USA und der Sowjetunion eingebunden. Die sozialliberale Vertragspolitik und deren Fortführung durch Helmut Kohl konnte und wollte daran nichts ändern: Es ging um die Errichtung eines modus vivendi, um die deutschdeutschen Verbindungen nicht völlig abreißen zu lassen. So betont denn auch Andreas Wirsching die Eingeschränktheit des Handlungsspielraums von status-quo-oppositionellen Personen und Gruppen: „[E]s [ist] mehr als fraglich, ob vor 1989 eine substantiell andere operative Deutschlandpolitik tatsächlich durchführbar gewesen wäre. Die Perspektive der Regierenden und die funktionalen Zwänge des Regierungshandelns brachten die Priorität oder sogar die Fixierung auf die kommunistischen Partei- und Führungseliten wohl unvermeidlich mit sich.“4
Allerdings, und darum ging es in der vorgelegten Analyse, bleibt eine beachtliche intellektuelle Leistung dieser deutschlandpolitischen Dissidenten, dass sie trotz aller Verdächtigungen und Anfeindungen dennoch am Staatsziel der Wiedervereinigung ganz besonders festhielten und – ex post – ihrer Zeit praktisch weit voraus waren. Mentalen Rückhalt gaben ihnen die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes in deutschlandpolitischen Fragestellungen und der nicht zu unterschätzende Rückhalt in der westdeutschen Bevölkerung in Fragen der Wiedervereinigung. So hat sich in der Studie ein ‚moralisches Plus‘ der untersuchten Akteure gezeigt, da diese gegen einen übermächtigen (medialen) Zeitgeist an der Offenheit der Deutschen Frage festhielten: „[E]s gab Befürworter einer stärker einheitsbezogenen Politik in den Parteien, die gegen die eigenen Parteigenossen an der Einheit der Nation festhielten – deren Stunde aber aus realpolitischer Sicht noch nicht gekommen war. Dieses Verhalten stellt einen bleibenden Verdienst dar, und auch die kritischen Geister außerhalb dieser Parteien sind ebenfalls zu würdigen!“5
Es stellt sich trotzdem die Frage, ob man in der Bundesrepublik nicht sah oder nicht sehen wollte, dass der Ostblock und insbesondere die DDR in Bewegung geraten waren? Immerhin fallen in den Untersuchungszeitraum so einschneidende deutschlandpolitische Ereignisse wie die Biermann-Ausbürgerung 1976, das „Spiegel-Manifest“ 1977 / 78 oder der „Berliner Appell“ 2 Vgl.
Mayer, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, S. 12. Gallus, Die Neutralisten, S. 473. 4 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 627. 5 Mayer, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, S. 12. 3 Vgl.
344
D. Resümee
um Robert Havemann 1982. Der gespenstische Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1981 in Güstrow war jedenfalls – trotz Realpolitik – nicht die Realität in der DDR. An der deutschlandpolitischen Basis in Ost und West wurde jedenfalls gesamtdeutsch gedacht: Hier im Westen mit den Wiedervereinigungsfreunden, dort im Osten in der DDR-Opposition, und das nicht erst 1989 / 90!6 Welche Rolle spielen die hier vorgestellten status-quo-oppositionellen Gruppen und Persönlichkeiten bei der Aktualisierbarkeit der Wiedervereinigungsfrage in der Bundesrepublik? Sucht man Antworten auf diese Frage zu finden, so kommt man künftig an den westdeutschen Dissidenten nicht vorbei. Bisher wird zutreffend angenommen, dass die Wiedervereinigung als Folge von Gorbatschows Reformpolitik zu sehen sei, im Verbund mit einem Verzicht auf jeglichen Triumphalismus in der Nationalen Frage im Prozess der Wiedervereinigung von Seiten der Bundesrepublik. Ebenso war die Wiedervereinigung in der öffentlichen Meinung vor 1989 ein latent aktualisierbares Thema geblieben.7 Zum letzten Teil haben maßgeblich die westdeutschen Dissidenten in der Deutschlandfrage beigetragen. Es wären zukünftig weitere Belege für die These heranzutragen, dass die untersuchten deutschlandpolitischen Dissidenten als Teil einer ‚Nationalbewegung deutsche Einheit‘ gelten können, die – natürlich unter anderen – freiheitlichen – Voraussetzungen, aber mit dem gleichen Ziel wie die DDROpposition – als Gegner der herrschenden Staatssozialismus für die Überwindung der SED-Diktatur eingestanden sind. Das Bild von der Geschichte der Bundesrepublik wird jedenfalls schärfer, wenn man die deutschlandpolitischen Dissidenten (West) in den Fokus nimmt. Dabei geht es nicht darum, der Friedlichen Revolution in Leipzig und in der gesamten DDR den Rang streitig zu machen. Aber es darf hervorgehoben werden, dass es bei aller manchmal beklagten Passivität des Westens auch „aktive Gruppen und Zentren“8 – das Zitat von Wolfgang Seiffert am Anfang dieser Studien aufgreifend – in der Bundesrepublik gab, deren sehnlichster Wunsch nach Freiheit und Einheit für alle Deutschen mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 in Erfüllung ging. Manche hatten zwar hinterher Probleme mit dem Resultat der Einheit (z. B. Rolf Stolz, der an konföderierten Strukturen festhielt), aber das sind doch wirklich Peanuts. 6 Siehe
Apelt, S. 309–310. Mayer, Warum es zur Wiedervereinigung kam, in: Karl Eckart / Jens Hacker / Siegfried Mampel (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998, S. 233–242. 8 Seiffert, Das ganze Deutschland. Perspektiven der Wiedervereinigung, München 1986, S. 204. 7 Tilman
Quellen und Literatur I. Ungedruckte Quellen 1. Bundesarchiv Koblenz Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen: B 137 – Akte 6997 (DDR- und Deutschlandpolitische Forschung – Gesellschaft für Deutsch landforschung: Gründung, Aufgaben, Tagungen, Allgemeines; 1975– 1982) 2. Archiv der Zentralstelle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats sicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin Ast. Ast. ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA, ZA,
Berlin, MfS – BV Berlin Abt. XV 24, 68 Potsdam, BVfS – Potsdam, AKG 638 MfS – AG XVII 1417 MfS – HA II / 6 1302, 1618 MfS – HA VI 2087, 2879, 3699, 3765a, 15775 MfS – HA VII 72, 6193 MfS – HA VIII 4625 MfS – HA IX 9990 MfS – HA IX / 11 PA 3150 MfS – HA XX 120 (Teil 1), 192, 12229, 18114 MfS – HA XX / AKG 5800, 7256, 7257 MfS – HA XX / ZMA 589, 2470, 3911 MfS – HA XX / ZMX 30135 MfS – HA XX / AKG-VSH MfS – HA XXII-VSH MfS – HVA 83 (Teil 1), 1551 MfS – OTS Nr. 2673 MfS – ZAIG 24024, 24152, 25674, 25675, 24174 (Teil 2), 29106 MfS – ZKG 16672 MfS – ZOS 1806, 3698
3. Archiv Grünes Gedächtnis, Berlin B.II.1 – Die Grünen im Bundestag 1983–1990 – Akte 2081 (Sitzungen und Positionen der AG Deutschlandpolitik, 1986–1990) – Akte 2085 (Deutschlandpolitik der Partei und Fraktion Die Grünen; 1984–1986) – Akte 2086 (Deutschlandpolitik der Partei und der Fraktion Die Grünen, 1983– 1989) – Akte 2103 (Tagungen, Kongresse und Hearings zur Deutschlandpolitik; 1983– 1985; 1983–1985)
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Quellen und Literatur
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II. Mündliche und schriftliche Auskünfte Herbert Ammon, 10. September 2010 (schriftlich) Ulf Fink, 1. April 2010 in Berlin (mündlich)
III. Gedruckte Quellen347
Dr. Uwe Lehmann-Brauns, 31. Januar 2011 (schriftlich) Dr. Edda Hanisch, 18. Oktober 2006 in Königswinter (mündlich) Fred S. Oldenburg, 28. April 2011 (telefonisch) Dr. Michael Richter, 20. Mai 2009 (schriftlich)
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IV. Darstellungen365
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Quellen und Literatur
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V. Zeitungsartikel369
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Quellen und Literatur
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V. Zeitungsartikel371
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Quellen und Literatur
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Personenregister Adenauer, Konrad 48, 56, 70, 71, 74, 81, 92–93, 112–113, 114, 127, 156, 279, 286, 312, 320, 324, 339 Ammon, Herbert 50–51, 65, 282–283, 285, 295–296, 313, 315, 327, 335 Anweiler, Oskar 135, 147, 160, 163 Aust, Ernst 235–236, 247, 250 Bahr, Egon 31, 43, 93, 96–97, 103, 111, 221, 223, 231, 249, 272 Baske, Siegfried 153, 158, 160, 163 Bastian, Gert 335 Bender, Peter 32–33, 42, 43, 147 Berg, Hermann von 51, 62–63, 69, 177–178, 180–182, 185–186, 220–228, 233 Biermann, Wolf 249, 343 Böll, Heinrich 216 Böttger, Uwe-Eckart 182, 187–189 Borm, William 117, 128 Brandt, Peter 50–51, 57–59, 211, 282, 285, 327, 335 Brandt, Willy 31–33, 39, 41, 43–44, 50–51, 58, 67, 78, 86, 93–94, 98, 100–101, 103, 111, 133, 209, 211, 220, 223, 230, 232, 237, 282 Bress, Ludwig 129, 175 Brunner, Georg 163, 198 Brunner, Manfred 118 Bruns, Wilhelm 135, 156 Cornelsen, Doris 135, 140–141, 143 Cramer, Michael 306, 308 Croissant, Klaus 301, 341 Datschitschew, Wjatscheslaw 210 Dehler, Thomas 113–114, 273
Diepgen, Eberhard 87 Djilas, Milovan 194 Dönhoff, Marion Gräfin 34 Dubcek, Alexander 194–195 Dutschke, Rudi 89, 145, 148, 320 Eppelmann, Rainer 77, 80, 82, 171–172, 232 Eppler, Erhard 97–98, 286 Feldmeyer, Karl 51, 81, 126, 181 Fink, Ulf 60, 67, 75–77, 79–85, 87–88, 90–91, 231, 339 Fischer, Alexander 158, 160, 163, 173, 201 Fischer, Joschka 261 Flechtheim, Ossip K. 313, 327 Franke, Egon 94–96, 99, 103–104, 118, 143, 144, 146, 149–151, 232, 339 Friedmann, Bernhard 42, 73, 126 Fuchs, Jürgen 79, 308 Geißler, Heiner 74, 76, 83, 88 Genscher, Hans-Dietrich 73, 86, 116, 118, 128 Gerull, Heinz 108–110 Goppel, Alfons 72 Gorbatschow, Michail S. 49, 63, 73, 84, 108, 109, 122, 125–126, 178–179, 186, 191–192, 210–211, 226, 230, 316, 325–328, 344 Gradl, Johann Baptist 36, 74 Gutmann, Gernot 158, 160, 163 Hacker, Jens 45, 50, 131, 140, 145, 147, 150, 153, 163, 170, 172–174 Haußleiter, August 258, 273–274, 276–277
374 Personenregister Havemann, Robert 60, 80, 344 Heinemann, Gustav 92, 266, 286, 317 Hennig, Ottfried 74, 164, 325 Hirsch, Ralf 82 Honecker, Erich 82, 85, 96, 106, 125, 176, 182, 185–187, 192, 205–206, 208, 212, 233, 244, 248, 250, 261–262, 271, 285, 287, 303–304, 308, 320, 324 Jahn, Roland 79 Jaspers, Karl 32 Kaiser, Jakob 34, 67, 70–71, 76–78, 80–83, 85–87, 132, 189, 221, 231, 317, 339 Katzer, Hans 76–77, 81–82 Kelly, Petra 64, 259, 262–263, 307 Kiesinger, Kurt Georg 71, 81, 93 Klier, Freya 79, 304 Knabe, Hubertus 32, 62, 301 Knabe, Wilhelm 262–263, 307, 332 Kofler, Leo 326–327 Kohl, Helmut 38–39, 41–42, 47, 67, 73, 75, 83, 87, 96, 103, 105–106, 122, 157, 160, 199, 209, 231, 276, 305, 343 Kohl, Michael 103 Krenz, Egon 176 Kreutzer, Hermann 51, 60–61, 67, 98–112, 138–139, 142–143, 232, 339 Kühn, Detlef 42, 45, 52, 61, 68, 112, 116–130, 232–233, 339 Kunze, Rainer 194 Kwizinski, Julij 328 Lafontaine, Oskar 96 Lambsdorff, Otto Graf 117 Lapp, Peter Joachim 174, 271–272, 313 Lehmann-Brauns, Uwe 60, 67, 75, 77–82, 84–86, 88–89, 231, 339 Leonhard, Wolfgang 192–194, 198, 201 Leonhardt, Rudolf Walter 34
Loeser, Franz 62–63, 69, 177–178, 180–186, 190–192, 194–197, 200, 212–220, 227–229, 233, 326–327 Loest, Erich 194 Ludz, Peter C. 35, 62, 132, 135, 137, 140–143, 145, 147, 152 Luther, Martin 161 Mampel, Siegfried 35, 62, 135, 138–140, 142–143, 147–150, 153–160, 162, 164–173, 176, 233 Marx, Karl 196, 237, 255 Mechtersheimer, Alfred 277 Meissner, Boris 173 Mende, Erich 118–119 Mielke, Erich 87, 111, 129 Mischnick, Wolfgang 116–117 Momper, Walter 307 Oldenburg, Fred S. 62, 135, 153, 202 Pelikan, Jiri 194 Pfleiderer, Karl Georg 113 Pollitt, Harry 214 Priesnitz, Walter 167–168 Probst, Lothar 320–325 Quistorp, Eva 329 Reagan, Ronald 73, 79, 125, 305 Reents, Jürgen 262 Rehlinger, Ludwig 158, 160 Renger, Annemarie 96 Richert, Ernst 131 Ronneburger, Uwe 118 Rosh, Lea 86 Rudolph, Hermann 142, 147 Schacht, Ulrich 194 Schenk, Fritz 218 Schenk, Wolfgang 247, 280–281, 283–284, 299–300, 308 Schenke, Wolf 315
Personenregister375
Schierholz, Henning 324 Schily, Otto 261, 276, 317 Schmidt, Helmut 39, 41, 44, 67, 92, 94, 96, 103, 122, 251, 287, 344 Schnappertz, Jürgen 261, 320–321, 323–325, 333–334 Schneider, Dirk 259, 261, 267, 271–272, 276, 280–281, 294–296, 301–302, 308–309, 317, 324, 332–333, 338, 341 Schröter, Rupert 280–284, 300, 304 Schumacher, Kurt 91–92, 96, 100, 105, 109, 339 Schütz, Wilhelm Wolfgang 34 Schwarz, Ulrich 221 Schweisfurth, Theodor 276, 313, 316, 327, 332, 335 Seiffert, Wolfgang 42, 51, 59, 62–63, 69, 177–186, 188–190, 192–194, 196–197, 200–201, 204–211, 220, 225, 227–231, 233–234, 276, 278, 344 Sommer, Theo 34 Sperber, Richard 258, 277, 318 Spittmann, Ilse 62, 136–137, 141–142, 147–148, 152 Stalin, Josef W. 108, 226, 236–237, 241, 249, 274 Stern, Carola 131, 219 Stolpe, Manfred 81 Stolz, Rolf 46, 52, 64–65, 69, 143, 197, 243, 247, 258, 267–268, 273, 277, 282, 294, 310–314, 316–318, 320–322, 324–336, 338, 341, 344 Stoph, Willi 69, 71, 177–178, 182, 220, 222
Strauß, Franz Josef 72, 112, 217 Stresemann, Gustav 113 Templin, Wolfgang 198, 225 Thalheim, Karl C. 135, 138, 143, 146, 147, 160, 163, 173 Tse-tung, Mao 237 Venohr, Wolfgang 51, 313 Vogel, Hans-Jochen 98 Vogel, Heinrich 146 Vogel, Wolfgang 223 Vogt, Roland 329 Vollmer, Antje 259, 332 Voß, Peter 219 Weber, Hermann 62, 135, 147, 155, 193 Wehner, Herbert 68, 93, 99, 103, 119–121, 148, 339 Weisskirchen, Gert 96 Weizsäcker, Richard von 76, 78–79, 104 Wilms, Dorothee 74, 84–85, 189 Windelen, Heinrich 158–159, 162, 164, 325 Wohlrabe, Jürgen 149 Wolf, Frieder O. 267, 271–272 Wolf, Markus 128, 207, 222 Xiaoping, Deng 237 Zieger, Gottfried 158, 160, 163, 167
Sachregister Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) 258, 264, 273–274 Alternative Liste 46, 48, 65, 69, 247, 258, 271, 279–281, 284–285, 288–292, 294–296, 299–301, 303, 305–309, 329, 337–338, 341 Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik 48, 61, 65, 69, 100, 242, 258, 279, 281–285, 287–291, 293–297, 299–305, 307–309, 337–338, 341 Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker 51, 62–63, 68, 177–182, 184, 186–189, 192–204, 220, 227–230, 233, 340 Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands (BDKD) 221 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (BMB) 99, 111, 120, 123, 130, 135, 137, 139, 140–141, 143–149, 151–152, 155–158, 161, 164–165, 169, 177 Bundesregierung 31, 35–36, 38, 42, 44, 56–57, 66–67, 72, 78, 83–84, 88, 94–97, 101, 106–107, 125, 132–133, 138, 156–157, 175, 178, 181, 188, 193, 209, 222, 230–232, 235, 239, 313, 319, 342 Bundesverfassungsgericht 37, 48, 74, 105–106, 121–122, 233, 245, 260–261, 343 Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) 31, 36, 67, 70, 71–76, 78, 80–84, 86–89, 93, 95, 104–105, 112, 126, 149, 171, 188, 196, 199, 231–232, 251, 272, 305, 307, 325, 339
Christlich-Soziale Union Deutschlands (CSU) 31, 72–73, 76, 95, 104, 174, 188, 217, 231, 272–273, 277 Deutsche Frage 31, 39, 57, 59, 71–72, 79, 86, 99, 121, 146, 150, 155, 174, 209, 259–260, 262, 267, 280, 283, 285, 288–289, 295, 297, 302, 304, 310–311, 313–314, 316–317, 335 Deutschlandpolitischer Arbeitskreis der CDA 51, 60, 67, 70, 75, 77, 80, 86, 89 Die Grünen 57, 64, 257–261, 263– 265, 267, 272, 274–280, 295, 307–308, 319–320, 324, 329, 331–333, 341 Dissidenz, deutschlandpolitische / westdeutsche 41, 56, 106, 118, 126, 186, 342–344 Dissidenz, ostdeutsche / osteuropäische 188, 194, 222, 251 Entspannungspolitik 32–35, 38, 40, 43–44, 47, 58–59, 67–68, 71, 73, 78–80, 93–94, 97, 99, 102, 104, 106, 111–118, 122–124, 126, 130, 133, 138, 160, 175, 181–182, 231–232, 245, 268, 283, 288, 292, 295, 302, 312, 335, 340 Freie Demokratische Partei (FDP) 61, 68, 73, 75, 112–119, 123–124, 126, 128, 232, 273, 317, 339 Freie Deutsche Jugend (FDJ) 110, 205, 212, 220, 249 Friedliche Revolution 50, 55–56, 84, 86, 96, 98, 109, 117, 131, 166, 170, 195, 198–199, 219, 226, 257, 328, 330, 344
Sachregister377 Gesamtdeutsches Institut 66, 135, 203, 339 Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD) 61–62, 68, 132–135, 138–159, 161–171, 173, 175–177, 195, 233, 340 Grundgesetz, Wiedervereinigungsgebot 36, 47–48, 122, 146, 188, 259, 297, 323–324, 339 Grundlagenvertrag 48, 55–57, 65, 67, 72, 93, 97, 106, 175, 185, 209, 220–221, 244–245, 260, 297, 339 Juristisch instrumentierte Opponentengruppe 48–49, 66 Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (KPD / ML) 53, 56, 63–64, 69, 235–242, 244–256, 331, 337, 341 Kultusministerkonferenz 122, 124 Kuratorium Unteilbares Deutschland 34, 66, 152, 164 Kurt-Schumacher-Kreis 51, 60–61, 67, 91, 99–102, 104–112, 232 Linke Deutschland-Diskussion (LDD) 64–65, 69, 258, 310–319, 321–323, 325–331, 333–336, 338, 341 Ministerium für Staatssicherheit (MfS) 39–40, 60, 62, 87–90, 110–112, 123, 127–129, 171, 175–176, 192, 206–207, 215–216, 218, 222–223, 227–232, 234, 238, 250, 252–256, 261, 301, 307–309, 336, 338, 340–342 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 171
Ostpolitik, neue / sozialliberale 33, 41, 43–44, 93, 101, 118, 237, 260, 333 Selbstbestimmungsrecht 59, 64, 69, 71, 74, 115, 153, 163, 174, 178–179, 181, 188, 209–210, 220, 224, 232, 234, 241, 275, 277, 278, 285, 302, 312, 329, 333, 340 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 44, 58–59, 67–68, 70, 75, 78, 83, 91–94, 96–110, 119, 123, 129, 189, 192–193, 206, 221, 224, 230, 267, 272, 284, 286, 307, 311, 314, 316, 320, 332, 339 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 38–41, 45, 49, 55, 57, 59, 67–69, 73, 79, 83, 89–91, 93, 96, 98, 100–101, 163, 170, 172, 175–178, 182–183, 187, 189–193, 196, 198, 200–207, 211, 214–223, 225–227, 229–234, 237, 239, 244–246, 248–250, 255, 263, 281, 283, 286, 293, 299–300, 303–304, 307, 309, 320, 337, 340–342, 344 Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) 59, 253 Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 114, 126, 213, 215–216, 239–240, 269, 274, 277, 291–292, 312, 315, 319, 326, 343 Westdeutschland 40, 48, 53, 58, 69, 82, 100, 107, 148, 161, 163, 174, 177, 190, 204–206, 212, 238, 250, 251, 263, 266, 283, 293, 334, 337, 342 Wiedervereinigungspolitik, aktive 38–40, 44, 66, 73, 106, 116, 120, 127