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German Pages 306 Year 2014
Andreas Kaminski Technik als Erwartung
Edition panta rei |
Editorial In Umbruchzeiten und Zeiten beschleunigten Wandels ist die Philosophie in besonderer Weise herausgefordert, Veränderungen unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge zu artikulieren. Denn Begriffe, Kategorien und Topoi, unter denen Weltbezüge stehen und unter denen wir unser Denken und Handeln ausrichten, erweisen sich im Zuge jener Dynamik regelmäßig als einseitig, kontingent, dogmatisch oder leer. Dialektisches Denken richtet sich von alters her auf diejenige Gegensätzlichkeit, die die Beschränktheiten des Denkens und Handelns aus sich heraus hervorbringt, und zwar mit Blick auf die Einlösbarkeit seiner Ansprüche angesichts des Andersseins, Anderssein-Könnens oder Anderssein-Sollens der je verhandelten Sache. Dialektik versteht sich als Reflexion der Reflexionstätigkeit und folgt somit den Entwicklungen des jeweils gegenwärtigen Denkens in kritischer Absicht. Geweckt wird sie nicht aus der Denktätigkeit selbst, sondern durch das Widerfahrnis des Scheiterns derjenigen Vollzüge, die sich unter jenem Denken zu begreifen suchen. Ihr Fundament ist mithin dasjenige an der Praxis, was sich als Scheitern darstellt. Dieses ist allererst gedanklich neu zu begreifen in Ansehung der Beschränktheit seiner bisherigen begrifflichen Erfassung. Vor diesem Hintergrund ist für dialektisches Denken der Dialog mit anderen philosophischen Strömungen unverzichtbar. Denn Beschränkungen werden erst im Aufweis von Verschiedenheit als Unterschiede bestimmbar und als Widersprüche reflektierbar. Und ferner wird ein Anderssein-Können niemals aus der Warte einer selbstermächtigten Reflexion, sondern nur im partiellen Vorführen ersichtlich, über dessen Signifikanz nicht die dialektische Theorie bestimmt, sondern die Auseinandersetzung der Subjekte. Wissenschaftlicher Beirat: Christoph Halbig, Christoph Hubig, Angelica Nuzzo, Volker Schürmann, Pirmin Stekeler-Weithofer, Michael Weingarten und Jörg Zimmer.
Andreas Kaminski (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Technikphilosophie, Medien der Wissensvermittlung, Phänomenologie und »Prüfung« um 1900/2000.
Andreas Kaminski
Technik als Erwartung Grundzüge einer allgemeinen Technikphilosophie
Gekürzte Dissertation, TU Darmstadt, D 17
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I N H AL T
Einleitung Das Thema: vier Formen technischen Erwartens Kernfragen der vier Teile Grundzüge einer allgemeinen Theorie? Der Erwartungsbegriff: zur Klärung vorab Vorarbeiten und Begriffsgeschichte von Erwartung
TEIL A I.
9 11 16 17 19 22
TECHNOLOGIE ALS POTENZIALERWARTUNG
Wie entstehen Potenzialerwartungen?
29
1. Neue Technologie – neues Zeitalter – neue Welt: Freilegung einer verdeckten Frage
29
2. Erklärungsversuche für Potenzialerwartungen 2.1 Sachorientierte Erklärungen: Veränderungserfahrung 2.2 Sozialorientierte Erklärungen: Erwartungserwartungen 2.3 Einbildungskraft und Technologie als Ereignis 2.4 Welche Anforderungen muss die Antwort erfüllen?
33
II.
39
Welche begrifflichen Instrumente stehen zur Verfügung?
1. Kontingenz als Voraussetzung und als Depotenzierung 1.1 Kontingenz als Voraussetzung: andere Möglichkeiten 1.2 Kontingenz als Depotenzierung: Zweiteilung in die Regionen Vernunft und Tatsachen 2. Kann ein alternatives Instrument gebildet werden? Innerweltliche Nichtkontingenz 2.1 Wittgensteins Manuskripte Über Gewißheit 2.2 Eine andere Art von Sätzen 2.3 Die Topologie von Angelsätzen: weder notwendig noch kontingent 2.4 Angelannahmen und Geschichte
33 34 36 38
39 41 49 56 57 59 62 66
III. Das Erklärungsmodell
71
1. Wie Potenzialerwartungen entstehen
71
2. Anreicherungen des Modells 2.1 Potenzialkaskade, Hyperkontingenz: ein zweistufiger Prozess 2.2 Die Suche des Potenzials nach seinen Anwendungen 2.3 Technologische Doublette: Archetyp und Technologietyp 2.4 Zum Verlauf von Potenzialerwartungen: Von der Zukunftssprache zur Gegenwartssprache … und zurück
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IV. Wie wird mit Potenzialerwartungen umgegangen?
93
1. Angst und Furcht
93
2. Historisierungen: Kontinuierung und Diskontinuierung
98
82 85 87 89
3. Technologie: neu – fremd – wunderbar 3.1 Spuren einer Geschichte fremder Technik 3.2 Wunderbare Maschinen
103
V.
123
Übergang: Von Potenzial- zu Vertrautheitserwartungen
TEIL B I.
104 114
TECHNIK ALS VERTRAUTHEITSERWARTUNG
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Vertrautheit und Technik?
127
1. Merkmale von Gewohnheit im 17. und 18. Jahrhundert 1.1 Die Verborgenheit der Gewohnheit und des Gewohnten 1.2 Verborgenheit als Sinnverlust durch Gewöhnung 1.3 Gewohnheit als (zweite) Natur 1.4 Die Entlastungsleistung von Gewohnheit 1.5 Zwischenfazit
129
2. Technik in der klassischen Phänomenologie 2.1 Heidegger: Die Unauffälligkeit funktionierender Technik 2.2 Husserl: Technik als operatives, erinnerungsloses Gedächtnis 2.3 Blumenberg: Technik als die lebensweltlichere Lebenswelt 2.4 Merleau-Ponty: Die Verkörperung der Technik
137
3. Die Bestimmungsgleichheit von Technik und Gewohnheit 3.1 Fazit 1: Synopse Gewohnheit – Technik 3.2 Fazit 2: Die Rückführung phänomenologischer Techniktheorien auf Vertrautheit 3.3 Fazit 3: Was ist mit diesem Ergebnis anzufangen?
160
129 130 132 134 137 138 142 151 156 160 161 168
II.
Drei Antworten: Vertrautheit/Technik
171
1. Trivialisierung und Habitualisierung 1.1 Technik als Trivialitätserwartung 1.2 Vertrautheit als leibliche Gegenwartserwartung 1.3 Trivialitäts- als Vertrautheitserwartung
171
2. Technische Praxisstile
185
3. Reibungsloses Nichtfunktionieren
188
III. Zwischenfazit: Vertrautheit und Potenzial
195
TEIL C I.
173 176 181
TECHNIK ALS VERTRAUENSERWARTUNG
Was heißt es, Technik zu vertrauen?
199
1. Zwei Antworten in der Forschung
201
2. Der Argumentationsgang: Bedingungen für Vertrauen
203
II.
207
Risiko
1. Was ist Risiko? 1.1 Quantitatives Risikokonzept und Rational-Choice-Theorie 1.2 Risiko und Gefahr
208
2. Vertrauen als risikoloses Risiko
219
III. Nichtwissen
227
1. Stationen einer Metapherngeschichte von Nichtwissen
228
2. Nichtwissen im Überfluss?
235
3. Nichtwissen und Unwissenheit
236
4. Vertrauen als wissendes Nichtwissen
241
IV. Vorläufiges Resümee: Paradoxes Vertrauen
243
V.
245
Die Spielräume von Vertrauen
208 214
1. Der ungeklärte Status von Vertrauen
245
2. Notwendig oder kontingent?
246
3. Die pragmatische Bedeutung von Vertrauen
250
VI. Vertrauen, Vertrautheit, unspürbare Technologien
257
VII. Zwischenfazit: Vertrauen, Vertrautheit, Potenzial
263
TEIL D I.
TECHNIK ALS FUNKTIONIERBARKEITSERWARTUNG
Was sind Funktionierbarkeitserwartungen?
267
1. Eigenständigkeit und Funktion von Funktionierbarkeitserwartungen
270
2. Funktionierbarkeit als Erwartung technisierter Gesellschaften
274
II.
281
Fazit: Vier Formen technischen Erwartens
Literaturverzeichnis
285
EINLEITUNG
Im Jahr 1908 hält der Chemiker Frederick Soddy eine Vorlesung, die ein Jahr später unter dem Titel The Interpretation of Radium erscheint. Soddy greift darin eine in wissenschaftlichen Kreisen vibrierende Erwartung auf: Von der Entdeckung der Radioaktivität, für die das titelgebende Radium pars pro toto steht, sind Kernsätze der Physik wie der Energieerhaltungssatz in Frage gestellt. Es bleibt aber nicht bei einer innerwissenschaftlichen Entdeckung. Die radioaktiven Stoffe führen neue, technisch zu erschließende Potenziale vor Augen. All around [us] are vast potentialities of the means of sustenance […] It cannot be denied that, so far as the future is concerned, an entirely new prospect has been opened up. (Soddy 1909: 249)
Die radioaktiven Stoffe haben gezeigt, dass Energie in allen Stoffen, nicht nur den radioaktiven vorhanden ist. Die gesamte Umwelt mutet nun als ein Energieschatz an, der in greifbarer Nähe scheint. Die Erwartung entsteht, die unglaubliche Menge schlummernder Energie in den Dingen wie den berühmten Sesam öffnen zu können. In der Folge werden Zukünfte entworfen, wie die Menschen leben werden, wenn das gelungen ist. Man imaginiert fliegende Fortbewegungsmittel, die mit Atomenergie angetrieben werden, Menschen, die unter der Erde leben, wo sie sich mit der im Übermaß vorhandenen Energie eine Welt wie über der Erde errichten. Kriege würden dann nicht mehr geführt, weil materiell jeder alles besitzen kann. Langeweile würde vielmehr zum größten Problem (Hilgartner et al. 1983: 18 f.). In der BRD kippen diese Hoffnungen in den 1970ern. „Netzwerke des Misstrauens“ gegen den „Atomstaat“ entstehen (Weisker 2003: 9
TECHNIK ALS ERWARTUNG
407). Atomtechnik lässt viele nun eine verhängnisvolle statt, wie einst, eine verheißungsvolle Zukunft erwarten. Gleichwohl gibt es von wissenschaftlicher und politischer Seite einen neuen Hoffnungsträger: die Kernfusion. Man erwartet, dass diese technisch machbar ist, dass sie funktionieren kann. Während all dies erforscht, diskutiert und probiert wird, drückt man im Alltag die ganze Zeit über weiterhin einen Lichtschalter in Erwartung des Effekts, dass es hell wird, ohne sich darum den geringsten Gedanken zu machen. Vier Formen des Erwartens sind in dieser Skizze zur Atomtechnik angesprochen. Vier Mal ist Technik nicht ein Artefakt, ein mechanisches Ding, sondern eine Erwartung. In den beiden einleitenden Absätzen finden sich Potenzialerwartungen: Atomtechnologie lässt ein immenses Potenzial erwarten; ihre Realisierung würde alles von Grund auf ändern, sei es verheißungs- oder verhängnisvoll. In der Skizze finden sich ferner Vertrauens- und Misstrauenserwartungen. Man vertraut der Atomtechnik oder misstraut ihr. Vertrauen wie Misstrauen sind Erwartungen, wie sich etwas verhalten wird; auf etwas bereits Geschehenes kann man nicht vertrauen. Eine weitere Form technischen Erwartens ist mit der Kernfusion gegeben: Es besteht die Erwartung, dass man sie zum Funktionieren bringen kann, wenngleich sie bislang nicht funktioniert. Ich nenne dies eine Funktionierbarkeitserwartung. Schließlich bestehen Vertrautheitserwartungen. Man drückt den Lichtschalter in der gewohnten Erwartung, was passieren wird. Technik lässt sich somit als Erwartung begreifen, genauer als verschiedene Formen des Erwartens. Die vorliegende Studie ist der Versuch, ausgehend von diesem Gesichtspunkt die Grundzüge einer allgemeinen Theorie zu entwickeln. Der generelle Gesichtspunkt, Technik als Erwartung, wird dabei in vier Hinsichten spezifiziert. Es handelt sich um die Formen technischen Erwartens, welche eben genannt wurden. Technik wird erfasst als: • Potenzialerwartung (Teil A) • Vertrautheitserwartung (Teil B) • Vertrauenserwartung (Teil C) • Funktionierbarkeitserwartung (Teil D)
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EINLEITUNG
D a s T h e m a : vi e r F o r m e n t e c h n i s c h e n E rw a r t en s Diese vier Formen des technischen Erwartens sind also das Thema der vorliegenden Studie. Was ist darunter zu verstehen und wieso ist es relevant für das Verständnis von Technik? Ich versuche dies vorab zu skizzieren. Technologie als Potenzialerwartung: Zeichnet sich ein neues Technologieparadigma wie die Atom-, die Gen- oder die Nanotechnik ab, so ruft es die Erwartung eines enormen Potenzials auf. Das erwartete Potenzial drückt sich dann in Formulierungen aus wie: Diese Technologie wird unsere Welt verändern, von Grund auf wird alles – sei es verheißungsvoll, sei es verhängnisvoll, in jedem Fall aber immens – anders werden; ein neues Zeitalter bricht an. Veränderungen werden in Aussicht gestellt, die alle Maße sprengen sollen, bislang Undenkbares erscheint zum Greifen nah und man fragt, ob die Menschen und die Gesellschaft den Veränderungen gewachsen sein werden, welche die neue Technologie mit sich bringt – oder genauer: bringen wird. Denn die Technologie ist zu diesem frühen Zeitpunkt hauptsächlich in Kommunikationen, Bildern, Visionen gegeben, in Szenarien, Entwürfen, Prognosen der „Gesellschaft von morgen“ oder „wie wir 2020 leben werden“. Das heißt: Sie ist gar nicht anders gegeben als in Erwartung. Die Möglichkeit der Technik mag theoretisch erwiesen sein, es können auch viel versprechende Test unternommen worden sein oder gar Prototypen existieren – das alles bedeutet nichts anderes, als dass die Wirklichkeitsform, in der die neue Technik zu diesem Zeitpunkt für die Gesellschaft gegeben ist, die einer Erwartung ist. Es ist aber eben eine Wirklichkeitsform. Titelblätter von Wochenzeitschriften und Sonderausgaben in eins mit Durchbruchsmeldungen forcieren in der öffentlichen Meinung die mögliche Brisanz – und fordern normative, politische, künstlerische, wissenschaftliche und gestalterische Stellungnahmen heraus, noch lange bevor das ‚da ist‘, worüber gesprochen wird. Ja, noch bevor klar ist, ob es überhaupt realisierbar ist. Technik wird dabei zu einem anvisierten Potenzial, sie wird zu dem erwarteten Potenzial, dass sich die Welt mit ihrer Realisierung dramatisch ändern wird. Ein Anzeichen dieser Wirklichkeit technischer Erwartungen ist der von ihnen ausgehende Effekt: Sie verwandeln Recht, Politik, Finanzflüsse, öffentliche Themen schon bevor die „eigentlichen“ Veränderungen der neuen Technologie „da sind“. Bevor die realisierte Technologie Welt verändert, weil mit ihr etwas gemacht werden kann, das vorher nicht möglich war, verändert sie Welt schon dadurch, dass sie erwartet wird. Technik als Potenzialerwartung zu bestimmen, heißt so11
TECHNIK ALS ERWARTUNG
mit, den Technikbegriff zu erweitern. Zu der Technik, welche moderne Gesellschaften hervorgebracht haben, gehören (Potenzial-)Erwartungen nicht weniger als Mechanismen und Apparate. Technik sind in modernen Gesellschaften nicht nur der Lichtschalter an der Wand und das Auto, sondern auch die nanotechnische Vision eines Fahrstuhls in den Weltraum oder das biotechnische Versprechen herstellbarer Ersatzorgane. Nichtsdestotrotz sind die Unterschiede markant. Ein Lichtschalter ist etwas anderes als der (Alp-)Traum, neue Menschen herzustellen. Man muss also zwischen den Formen technischen Erwartens unterscheiden. Technik als Vertrautheitserwartungen: In der alltäglichen technischen Praxis aufgehend, scheinen Erwartungen allerdings kein Thema zu sein. In der Tat sind sie nicht thematisch, solange sie aufgehen, solange sie erfüllt werden. Daran, dass jederzeit eine Enttäuschung eintreten kann, findet sich allerdings ein Nachweis dafür, dass jederzeit Erwartungen bestehen. Man kommt in der Dämmerung in die Wohnung und drückt im Vorbeigehen den Lichtschalter, hält aber inne, da nichts passiert. Am Stocken beim ins Zimmer treten zeichnet sich ab, dass eine Erwartung durchkreuzt wurde. Ein anderes Beispiel: Man steht am Geldautomaten und hebt die Hand, um Karte und Geld zu entnehmen, noch bevor diese erscheinen. Die gehobene Hand verkörpert eine Erwartung. Man greift voraus, die nächsten Aktionen des Geldautomaten erwartend. Erwartungen müssen also nicht thematisch sein; sofern sie erfüllt werden, laufen sie permanent unauffällig mit. Sie verkörpern sich in den Gewohnheiten, mit Technik umzugehen. Dies ist nicht verwunderlich, da zu Handlungen notwendig Erwartungen über mögliche Effekte und Folgen gehören. Diese Erwartungen treten zunächst in Form von Hypothesen auf, die, wenn sie sich bewähren, in Gewohnheiten übergehen. Anders ist Praxis, also auch technische Praxis, nicht denkbar. In einem unwahrscheinlichen Ausmaß geht der Alltag in sich erfüllenden Vertrautheitserwartungen auf. Zahllose Handlungen im Zusammenspiel mit technischen Dingen, die einfach und gerade hin glücken – ohne Risikobewusstsein, ohne Vertrauensbedarf, ohne Verhängnis und ohne Verheißung. Man steckt einen Schlüssel in die Tür, dreht ihn um und sie öffnet sich, man drückt einen Schalter, das Licht geht daraufhin an. Man wählt eine Telefonnummer, spricht mit jemandem, der weit entfernt ist oder, wie sich herausstellt, sich gerade vor der Tür befindet. In der Theoriebildung darf angesichts der spektakulären Darbietung neuer Technologien und der hohen Aufmerksamkeit für technische Katastrophen das imposante banale Funktionieren nicht unterschätzt werden.
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EINLEITUNG
Technik als Vertrauenserwartung: Wenn eine neue Technologie am gesellschaftlichen Horizont erscheint, stellt sich fast von selbst die Vertrauensfrage. Die Möglichkeit, Pflanzen oder Menschen genetisch zu verändern, ruft vertrauensvolle oder misstrauische Antworten hervor. Die Möglichkeit einer irreversiblen Freisetzung von Nanopartikeln wird vom Vertrauen begleitet, dies sei nicht problematisch, und wenn doch, so würden sich wiederum technische Möglichkeiten finden, damit umzugehen. Sie kann aber auch von der Angst begleitet werden, dass unbestimmte Schadensmöglichkeiten eintreten könnten. Dass Vertrauen und Misstrauen zusammen mit neuen Technologien entstehen, ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Risiko und Nichtwissen Initialbedingungen sind, die vorliegen müssen, damit man vertrauen oder misstrauen kann. Beide Bedingungen erfüllen neue Technologien hervorragend. Beides verliert sich aber im Alltag, denn Nichtwissen ist genauso wie Risiko keine Eigenschaft von Dingen, sondern ein Relationsbegriff. Dennoch, Vertrauen ist auch im Alltag virulent. „Textiles Vertrauen“ bewirbt ein Schild in mancher Kleidung. Vertrauen im Internet ist – sei es auf E-Commerce, sei es auf E-Mails oder das Ausspionieren des eigenen Rechners bezogen – ein inzwischen gängiges Stichwort, das Forschungen nach sich gezogen hat.1 Nach Unfällen, etwa einem tödlich ausgehenden Unglück in einem Fahrstuhl, bekennen die Hersteller, sie müssten Vertrauen wieder herstellen.2 Überblickt man diese Beispiele, dann erfüllen sie wiederum die Bedingungen von Risiko und Nichtwissen. In dem einen Fall können Risiko und Nichtwissen aufgrund der Unspürbarkeit der Technik nicht durch Erfahrung minimiert werden; man kann nicht wahrnehmen, ob ein Textil krebserregende Stoffe enthält, und man spürt auch nicht, was im Untergrund der Daten zwischen dem eigenen Computer und dem Internet ausgetauscht wird. Risiko und Nichtwissen können dann nicht durch Wissen und Kontrolle ersetzt werden. Im anderen Fall, nach Pannen, Unglücken, Katastrophen werden sie wieder virulent. Das längst vergessene Risiko und das im Alltag verschwundene Nichtwissen tauchen scheinbar hinter dem Rücken wieder auf, so als wären sie immer da gewesen und bloß nicht beachtet worden. Vertrauen und Misstrauen sind wiederum Erwartungen. Bereits Eingetretenem oder Vergangenem kann man nicht mehr vertrauen. Vertrauen wie Misstrauen zeichnen wie unbestimmt auch immer Zukunft vor – und blenden andere mögliche Zukünfte aus. Wer vertraut, dem verblas1 2
In der Informationstechnologie gibt es inzwischen sogar einen Forschungszweig zum „trust management“. NZZ online vom 13. Juni 2006: http://www.nzz.ch. Zuletzt gesehen am 28. November 2007. 13
TECHNIK ALS ERWARTUNG
sen mögliche Risiken; wer misstraut, dem blühen sie in grellen Farben auf. Risiko als Möglichkeitsbedingung von Vertrauen ist selbst wiederum eine Erwartung. Risiken werden erwartet – oder nicht. Sie tragen einen Zukunftsindex: Gegenwärtig können nur Schädigungen sein, die eingetreten sind; diese stellen dann aber kein Risiko mehr dar, sondern eben einen Schaden. Die Risikodiskussion hat in den letzten drei Jahrzehnten eine faszinierende Selbstverständlichkeit gewonnen – weit über den Technikbereich hinaus. Man diskutiert über Risiken, welche aus Prognosen der Bevölkerungs-, der Renten- oder Ressourcenentwicklung der nächsten fünfzig Jahre abgeleitet werden, mit einer Selbstverständlichkeit, als blickten Historiker in ihre Quellen für vergangenes Geschehen. Solche Risikodiskussionen basieren auf Prognosen, das heißt: Man spricht in Erwartung, ausgehend von Erwartung. Daran ist nichts selbstverständlich. Risiko ist eine allgemeine Beobachtungsform – es gibt nichts, das nicht im Hinblick auf eine mögliche und dann zu erwartende Riskanz betrachtet werden könnte: Körper, Vererbtes, Essen, Partnerwahl, Bildung, berufliche Entscheidungen oder Kaufentscheidungen, Ereignisflucht oder Eventsuche, informiert sein als auch nicht informiert sein, stattfindende oder ausbleibende sportliche Betätigung. Dass häufig sowohl die Option als auch ihre Alternative nicht bloß auf Risiken abgetastet werden, sondern als riskant gelten, zeigt die Mächtigkeit dieser Beobachtungsform an. Die Risikoform ist also frei flottierend. Technik und insbesondere neue Technologien weisen allerdings eine Beschaffenheit auf, welche sie geradezu anzieht. Die Erwartung dramatischer Veränderungen in Verbindung mit der Unsicherheit ihres Eintretens macht die Risikoform passgenau für Technik. Man erwartet mögliche Katastrophen, wenn eine Technologie entwickelt würde – oder wenn auf sie verzichtet wird. Auch hier gewinnen Erwartungen Wirklichkeit, sie haben Effekte. Das Technische als Funktionierbarkeitserwartung: Ein vierter Bereich technischen Erwartens ist mit dem Kunstwort Funktionierbarkeitserwartung bezeichnet. Was ist damit gemeint? Funktionserwartungen können ausfallen, man glaubt nicht, dass etwas funktioniert. Der Prototyp ist fehlerhaft, das Gerät zu Hause defekt. Verwendet man sie, geht man also nicht davon aus, dass sie funktionieren. Das wäre vielmehr überraschend. Dennoch beschäftigen sich die Entwickler mit der nicht funktionierenden Technik und der Bastler zu Hause werkelt am defekten Gerät. Das ist geradezu selbstverständlich. Voraussetzung dafür ist allerdings 14
EINLEITUNG
eine Erwartung, nämlich die Erwartung, dass, wenn auch Dinge momentan nicht funktionieren, man sie doch zum Funktionieren bringen kann. Diese Erwartung bezeichne ich als Funktionierbarkeitserwartung. Sie ist in modernen Gesellschaften zwar hochgradig selbstverständlich, stellt jedoch eine gewordene und unwahrscheinliche Voraussetzung technischer Praxis dar. Denn ihre Funktion besteht darin, enttäuschungsrobust zu sein. Erwartet wird ein Nichtfunktionieren in eins damit, sie zum Funktionieren zu bringen. Unter Voraussetzung dieser Erwartung werden langatmige, rückschlagreiche Entwicklungsprozesse möglich. Man unternimmt es, einen Kernfusionsreaktor oder eine drahtlose Energieübertragung für Notebooks zu entwickeln oder das 1-Liter-Auto zu bauen, auch wenn diese Versuche bislang scheiterten. Die Gründe für das Scheitern interessieren natürlich, das Scheitern selbst wird dagegen eingeklammert. Diese halbe Erfahrungsresistenz ist Teil der Rationalität technischer Zivilisationen. Funktionierbarkeitserwartungen sind daher ein gravierendes Unterscheidungsmerkmal technischer und nichttechnischer Kulturen. Wie verändert sich der Technikbegriff, wenn man auf diese Weise von Erwartung als dem allgemeinen Gesichtspunkt ausgeht? Was ist dann Technik? Auch wenn es überflüssig klingen mag, sollte man es sich verdeutlichen: Sie ist nicht ein technisches Ding, auch nicht ein Ensemble von Artefakten oder ein System. Kunstvolle, raffinierte Dinge gehören zu Technik dazu, aber sie fungieren nicht als Dinge, sondern als Erwartungen. Dies mag in Bezug auf die uns umgebende Technik, die wir doch buchstäblich sehen können, am schwersten nachvollziehbar sein; gerade hier lassen sich mögliche Einwände aber auch am entschiedensten ausräumen. Denn in der technischen Alltagspraxis treten Dinge nicht in Erscheinung – gerade sofern sie richtig gut funktionieren. Der Stift, mit dem man routiniert umgeht, ist, wenn man mit ihm schreibt, nicht als solcher, als technisches Ding gegeben – sofern er gut funktioniert. Man ist dann vielmehr ganz auf der Seite dessen, was man schreibt. Fährt man mit dem Stift über Papier, aber nichts passiert, wird deutlich: Man hatte eine Erwartung, die nun enttäuscht wurde. Erst dann tritt der Stift als Stift in den Vordergrund und man fragt sich, was an ihm nicht „stimmt“. Ebenso verhält es sich mit der Tastatur, dem Display, der Lampe, dem Lautsprecher. Im Vollzug nimmt man keinen Stift, keine Tastatur, keinen Lautsprecher wahr. Artefakte sind im Vollzug nur in den Erwartungen gegeben, in die sie gleichsam eingekapselt sind. Je verlässlicher, je robuster die Dinge sind, umso verlässlicher, umso stabiler sind die Erwartungen. Die Verlässlichkeit der Dinge verkörpert sich
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
in der Stabilität der Erwartung. Technik ist Vertrautheitserwartung im Alltag. Ebenso sind neue Technologien für Gesellschaft, für Politik und Massenmedien Potenzialerwartungen. Ich hatte ja bereits daraufhin gewiesen: Die radikal neue Technologie ist nicht anders gegeben denn als Erwartung – in Kommunikationen, Bildern, Visionen, Szenarien, Science Fiction Stories. Ebenso ist der technische Zug moderner Gesellschaften primär in ihrer Erwartung, die „Dinge zum Laufen bringen zu können“ gegeben, das Technische ist daher eine Funktionierbarkeitserwartung. Die dabei entwickelten Artefakte entstehen als Folge dieser Erwartung. Einzig bei Vertrauen und Misstrauen ist das anders. Technik ist keine Vertrauens- oder Misstrauenserwartung, genauso wenig wie eine Person, der wir vertrauen oder misstrauen, dieses Vertrauen oder Misstrauen ist. Vertrauen bezieht sich zum Teil auf Potenzialerwartungen, zum Teil auf Vertrautheitserwartungen. Wir werden noch Gelegenheit haben, dies genauer zu klären.
Kernfragen der vier Teile Jeder der vier Teile hat zur Aufgabe, die jeweilige Form technischen Erwartens begrifflich zu bestimmen. Des Weiteren liegt jedem Teil eine zentrale Frage zugrunde. In Teil A ist es die Frage: Wie entstehen Potenzialerwartungen? Warum rufen neue Technologien solche Erwartungen hervor? Kann mit philosophischen Instrumenten erklärt werden, warum neue Technologie die vibrierende Erwartung hervorrufen, alles werde sich ändern? In Teil B lautet die Frage: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Vertrautheit und Technik? Die Begriffsgeschichten von Vertrautheit und Technik zeigen, dass beide unabhängig voneinander mit identischen Attributen bestimmt wurden. Gewohnheit wurde etwa als entlastend oder als zweite Natur bestimmt, Technik auch. Zuweilen wurde Technik auch ausdrücklich über Vertrautheit bestimmt. Die Frage lautet daher: Wie verhalten sich Technik und Gewohnheit zueinander? Kann man sich an Technik besonders gut gewöhnen? Ist Gewohnheit eine Art Technik? Oder unterstützen beziehungsweise ergänzen sie, Technik und Gewohnheit, einander? In Teil C geht es um die Frage: Was bedeutet es, Technik zu vertrauen oder zu misstrauen? Anders formuliert: Wie ist Vertrauen oder Misstrauen in Technik möglich? Sowohl Vertrauen als auch Misstrauen scheinen auf Personen bezogene Begriffe zu sein, sie tragen eine Art personalen oder sozialen Index. Vertrauen in Technik – und damit letzt16
EINLEITUNG
lich doch in Mechanisches, Kausales – erscheint vor diesem Hintergrund wie ein Kategorienfehler. Ist mit Vertrauen in Technik vielleicht doch nur Vertrauen in Expertensysteme und das heißt schließlich in die Person des Experten gemeint? Auch in anderen Bereichen wird allerdings recht selbstverständlich von einem Vertrauen ausgegangen, das nicht zwischen Personen besteht: Man spricht von dem Vertrauen in eine Währung, in ein politisches System, ein Unternehmen. Vertrauen und Technik, (wie) geht das also zusammen? In Teil D lautet die Frage: Wie erreichen moderne Gesellschaften eine rationale Enttäuschungsresistenz? Bekannt ist nur, dass normative Erwartungen relativ enttäuschungsresistent sind. Funktionierbarkeitserwartungen sind jedoch nicht normativ. Ferner sind sie ungemein lernwillig, nur so ist das zum Funktionierenbringen möglich. Zu lernen heißt aber Erwartungen zu ändern. Von daher lässt sich abschätzen, welch eigenartigen Erwartungstyp moderne technische Gesellschaften ausgebildet haben. Da Funktionierbarkeitserwartungen ein bislang kaum untersuchtes Phänomen sind, verwende ich die meiste Arbeit in diesem Teil darauf, es freizulegen und begrifflich zu erfassen.
Grundzüge einer allgemeinen Theorie? Die Absicht ist, ausgehend vom Gesichtspunkt Technik als Erwartung, die Grundzüge einer allgemeinen Techniktheorie zu entwickeln. Ist das überhaupt möglich? Technik als Erwartung aufzufassen, suggeriert ihren sachlichen Kern aufzulösen. Technik ist dann doch so wenig greifbar wie einhundert Euro in Erwartung. Technisches dagegen lässt sich doch zumeist anfassen, man muss sich nur umsehen: Man kann buchstäblich danach greifen. Führt die vorgeschlagene Perspektive, Technik als Erwartung zu begreifen, daher nicht zu einer Auflösung ihrer Sachhaltigkeit in Geistiges – und damit zu einer typisch geisteswissenschaftlichen Perspektive? Eine zweite Suggestion: Erwartungen haben doch mit Zukunft zu tun. Technik betrifft aber so sehr unsere Gegenwart, unser aktuelles Handeln, Denken, Kommunizieren, dass es scheint, die gewählte Ausgangsperspektive genüge nicht einmal für den Entwurf einer „halben“ Techniktheorie. Mögliche Einwände lauten also: 1. Technik wird nur im Ausschnitt betrachtet 2. Technik wird dadurch zu einem subjektiven oder mentalen Konstrukt 3. Technik wird nur als Zukunftsphänomen betrachtet 17
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Die Einwände zwei und drei erfordern eine Verständigung über den Erwartungsbegriff, daher behandele ich sie nachfolgend in einem eigenen Abschnitt. Zunächst aber zum ersten Einwand: Dieser Einwand lässt sich auch in Anforderungen an eine allgemeine Techniktheorie übersetzen. Sie muss zeigen, dass sie die Bandbreite an technischen Phänomenen zu behandeln in der Lage ist: von der bislang undenkbar gewesenen, spektakulären, neuen Technologie bis zur Alltagstechnik; von der sich noch in Entwicklung befindenden Technik bis zur hoch verlässlichen. Genau das ist aber der Fall, die Phasen von Technologien werden abgedeckt. Potenzialerwartungen entstehen vor allem mit den neu entdeckten Technologie-Aussichten und reichen bis in die Entwicklung einer Technologie hinein. Im Alltag verflüchtigen sie sich (die Gründe hierfür werden später angegeben). Der technische Alltag ist durchzogen von Vertrautheitserwartungen. Vertrauens- und Misstrauenserwartungen heben an mit der Aussicht auf eine neue Technologie; sie werden insbesondere in der Entwicklung der Technologie, wenn ihre Realisierung näher rückt, gefordert. Vertrauen bleibt zwar eine Prämisse des vertrauten Alltags (auch das wird noch näher behandelt werden), Vertrauen fungiert allerdings erst wieder nach Unfällen, Katastrophen und wird dann auch zum Thema. Die Funktionierbarkeitserwartung ist die Voraussetzung, um mit der Entwicklung einer in Aussicht stehenden Technologie zu beginnen. Sie wird in dieser Phase besonders gefordert; im Alltag tritt sie beim Basteln und Reparieren auf. Die nachfolgende Tabelle stellt diese Bezüge der Erwartungsformen zu den Phasen von Technik dar. Tabelle 1: Phasen von Technik und Erwartungsformen Potenzial • Neue technologische Möglichkeiten • Erforschung und Entwicklung von Technologien • Mit dem Alltag verflüchtigen sich die Potenzialerwartungen
Vertrautheit • Techniken im Alltag
• Voraussetzung für Forschung und Entwicklung • Reparieren und Basteln im Alltag
• Neue technologische Möglichkeiten • Erforschung und Entwicklung von Technologien • Prämisse im Alltag; nach Unfällen Vertrauen
Funktionierbarkeit
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EINLEITUNG
Eine allgemeine Theorie darf gerade nicht überzeitlich sein, sie muss historische Perspektiven ermöglichen. In diesem Fall heißt das: Wie verändern sich technische Erwartungen? Welche treten hinzu? Dass man mit einer solchen Theorie auch historisch arbeiten kann, werden die nachfolgenden Kapitel zeigen. Eine allgemeine Techniktheorie behandelt zwar alle Phasen von Technik (Entdeckung, Entwicklung, Alltag, Geschichte) und deckt insofern ihren Gegenstandsbereich ab; sie erklärt aber nicht alles, sie ist keine totale Theorie. Bedeutsame Aspekte von Technik wie ihr Zusammenhang mit Militär und Krieg sind daher (leider) kein Thema im Folgenden. Oder: Die technischen Anthropologien werden nur am Rande behandelt.
D e r E rw a r t u n g s b e g r i f f : z u r K l ä r u n g vo r a b Wie steht es aber mit den weiteren Einwänden: Impliziert der Erwartungsbegriff eine Subjekt- oder gar Mentaltheorie des Technischen (Einwand zwei), die zudem auf zukünftige Technik begrenzt wäre (Einwand drei)? Das ist nicht der Fall. Zunächst zum zweiten Einwand: Der Erwartungsbegriff lässt verschiedene Referenzen zu, und zwar in den Hinsichten, wer etwas erwartet, worauf die Erwartungen bezogen sind, um welche Erwartungsform es sich handelt. (a) Leibliche Erwartungen: Erwartungen sind häufig in Routinen verkörpert, in vielen Fällen treten sie nicht als mentale Ereignisse auf. Handelte es sich um ein Ereignis, müsste man angeben können, wann es stattfindet. Wenn sich jemand auf einen Stuhl setzt und dieser sich als Attrappe aus Pappe erweist, hatte die Person dann zuvor den Gedanken: ‚Das ist ein Stuhl‘? Denkt sie das? Wenn man in der beschriebenen Weise die Hand hebt, um die Karte am Geldautomaten zu entnehmen, noch bevor diese erscheint, kann man dann angeben, wann genau man dachte: ‚Jetzt gleich kommt die Karte‘. Hatte man überhaupt einen solchen Gedanken? Es handelt sich hierbei um kognitionstheoretische Vorurteile. Derartige Erwartungen stellen vielmehr leibliche Routinen dar; die Handlung selbst ist der Gedanke. In Teil B wird dies ausführlicher behandelt. (b) Soziale Erwartungen: Nicht nur Individuen haben Erwartungen, auch Organisationen, Öffentlichkeit oder Gesellschaft erwarten. So sind Normen etwa Erwartungen, die nicht auf die Erwartungen von Individuen reduziert werden können; solche Erwartungen können anonym sein. Ein anderer Fall: Die Erwartungsdynamik bei neuen Technologien ent19
TECHNIK ALS ERWARTUNG
facht sich durch Erwartungserwartungen; ein Unternehmen erwartet ein immenses Potenzial von einer neuen Technologie, weil andere Unternehmen es erwarten, welche es erwarten, weil andere … usf. Öffentlichkeiterwartungen lassen sich wiederum nicht auf individuelle Erwartungen reduzieren, sondern dirigieren diese zuweilen. (c) Sacherwartungen: Der Erwartungsbegriff vergeistigt Technik nicht. Vertrautheitserwartungen im Alltag beruhen auf dem Verhalten von Sachen.3 Es ist bekannt, wie sich Wasser im Kühlschrank oder auf dem Herd verhält, aufgrund dieser Erwartung platziert man es dort. Man erwartet, wie sich ein Fahrstuhl, ein Computer oder ein Auto verhält. Diese Erwartungen sind gerade nicht subjektiv. Sie sind vielmehr Ausdruck objektiver Leistungen von Technik. Ohne diese objektiven Leistungen kämen solche Erwartungen nicht zustande. Die Erwartung ist Ausdruck der technischen Sache, sie bildet sich an der erstaunlichen Verlässlichkeit und Robustheit der Artefakte. Da es sich bei Subjektivität um ein überdeterminiertes Konzept handelt, empfiehlt es sich genauer zu sein: Es handelt sich hierbei um eine suggestive Vermengung zweier Ebenen des Erwartungsbegriffs. Erwartungen können zwar die Erwartungen eines Subjekts sein, das macht sie aber noch nicht zu bloß subjektiven Erwartungen. Es handelt sich um einen Kurzschluss, vom Subjekt, das etwas erwartet, auf die (bloße) Subjektivität der Erwartung zu schließen. Wer die Unterscheidung subjektiv/objektiv verwenden will (und wer den Einwand erhebt, dass es sich um bloß subjektive Erwartungen handele, der verwendet sie), wird diese Erwartungen daher im gegebenen Fall als streng objektiv bezeichnen müssen, andernfalls die Unterscheidung subjektiv/objektiv generell ihren Sinn verliert.4 In der technischen Praxis treten Sachen allerdings, wie bereits angemerkt, nicht in Erscheinung. Je besser die Sachen funktionieren, desto weniger sind sie als Sachen gegeben, wie vor allem Martin Heidegger entdeckte. Je besser die Tastatur (oder der Stift) funktioniert, desto weniger ist diese im Vollzug als Ding gegeben. Genauso verhält es sich mit dem Bildschirm, dem Auto oder dem Telefon. Dass die Sachen in der Praxis aber nicht als solche nicht Erscheinung treten – gerade dann wenn sie funktionieren – bedeutet nicht, dass die Erwartungen sachlos und in diesem Sinne willkürlich subjektiv wären. Vielmehr gehen in sie die 3 4
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Vgl. zu kognitiven und normativen Erwartungen Luhmann 1990: 138. Köhler (1933: Kap. 2) trägt viel zur Klärung bei. Natürlich gibt es objektive Beobachtungen des Wissenschaftlers, etwa von Messdaten als Messdaten, das heißt: in der Beobachtung, wo beispielsweise ein Zeiger steht. Diese Beobachtung ist Objektivität schlechthin, ansonsten man nichts als objektiv bestimmen könne. Was diese Messdaten bedeuten, ist dagegen wiederum eine andere Frage.
EINLEITUNG
Dinge und ihr Verhalten ein. Die verlässliche Sache ist in der stabilen Erwartung gleichsam eingekapselt. Sie tritt als verkörperte Erwartung auf. Erwartungen weisen also eine Bandbreite auf in den Dimensionen, wessen Erwartungen sie sind, auf welchen Gegenstand sie sich beziehen und welchen Typs sie sind. Es handelt sich um einen variablen Vermittlungsbegriff, Erwartungen sind in der Regel weder auf Individuelles noch auf Psychisches oder Soziales reduzierbar. In ihnen bündelt sich vielmehr Individuelles, Leibliches, Soziales, Sachliches mit unterschiedlichem Schwerpunkt. Die oben dargestellten Formen technischen Erwartens gingen bereits von dieser Bandbreite aus. Potenzialerwartungen elektrisieren Gesellschaft, Öffentlichkeit oder Wissenschaft. Funktionierbarkeit erwarten hartnäckige, ausdauernde Tüftler; ebenso ist sie eine Erwartungsform moderner technischer Gesellschaften. Vertrauen ebenso wie Misstrauen können – analog einer ökonomischen Inflation – über die Köpfe von Individuen hinaus Dynamiken entwickeln, wie es insbesondere die jäh aufbrausende und rasch abebbende öffentliche Risikowahrnehmung zeigt. Potenzial- wie auch Funktionierbarkeitserwartungen müssen sich „an der Sache“ beweisen. Erwarten, das aus Vertrautheit entsteht, lässt sich nur an der Sache gewinnen. Wäre Technik nicht verlässlich, könnten sich Gewohnheiten nicht leichthändig an ihr bilden. Abbildung 1 stellt einige dieser mannigfachen Dimensionen des Erwartungsbegriffs im Überblick dar. Es handelt sich hierbei keineswegs um eine vollständige oder bereits präzise ausgearbeitete Darstellung. Sie hilft aber vor voreiligen Verengungen zu schützen. Abbildung 1: Mannigfaltige Dimensionen des Erwartens
Modus? Mental Leiblich Kommunikativ Simulativ
Tempus? Gegenwart Zukunft Erwartung
Verlässliche Sachen Erfolgserfahrungen Prognose Spekulation Gesellschaftl. Dynamik Genese?
Wer erwartet? Individuum Gruppe Organisation Öffentlichkeit
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
Dieses reiche Potenzial des Erwartungsbegriffs nutzen wir im Folgenden aus. Aufgrund dieser mannigfaltigen Dimensionen des Erwartungsbegriffs ist es möglich, die Theoriebildung von ihm ausgehen zu lassen.
Vorarbeiten und Begriffsgeschichte v o n E rw a r t u n g In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl interessanter Forschungen zu konkreten Techniken, beispielsweise zu Computer, Internet und ELearning, zu Organtransplantation, künstlicher Befruchtung, zur Soziotechnik des Flughafens oder des Autoverkehrs rasant angewachsen. Ferner begegnet man viel Faszination für Fragen, die auf eine mittlere Gegenstandsebene zielen: die ästhetische Präsentation von Technik (und Wissenschaft) mittels Bildern; Theorien der Genese von Technik und ihrer sozialen Steuer- und Gestaltbarkeit; Handlungstheorien, welche den Beitrag von Technik und Individuen zu Handlungen symmetrisieren; es gibt eine große Zahl themenspezifischer Forschung zu Nichtwissen, Risiko, zu den Bewertungsdimensionen von Technik durch Nutzer usw. Angesichts dessen sind die aktuellen Vorstöße, die im Hinblick auf eine allgemeine Techniktheorie unternommen wurden, gering. Es findet sich gegenwärtig wenig; am weitesten sind Theorien von Technik als Medium gelangt.5 Allgemeine Techniktheorien stehen offenbar nicht hoch im Kurs.6 Das sicherlich nicht zu Unrecht. Bei ihnen besteht die Gefahr, es bei einer Höhenkammliteratur zu belassen, die Abstraktionsund Schwierigkeitsgrad in eins setzt und mit ‚wahrem Denken‘ identifiziert. Damit verbunden ist die Gefahr einer von der technischen Wirklichkeit abgelösten Theorie. Der Preis dafür ist allerdings, auch auf ein Verständnis von Wirklichkeit zu verzichten, sofern sie über das spezifische Querschnittsthema oder die konkrete Technik hinausgeht. Um Höhenkammliteratur zu vermeiden, versuche ich eine zweifache Strategie. Der generelle Gesichtspunkt wird zum einen spezifiziert, zum anderen wird in den jeweiligen Teilen möglichst viel phänomenologische Be5
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Nicht zu verwechseln mit Medientheorien. Vor allem Christoph Hubig hat diesen Ansatz zu einer allgemeinen Techniktheorie ausgebaut (vgl. 2002, 2006, 2007); auch Gamm 2000, 2005; Halfmann: 2003; Schulz-Schaeffer: 2000: 329-348. Im Vergleich mit der Zeit von ungefähr 1930 bis 1970 wird dies zusätzlich deutlich. Die Technikphilosophie in diesem Zeitraum fragte recht allgemein nach dem Wesen von Technik, der spezifischen technischen Rationalität, dem Zusammenhang von Moderne, Kapitalismus und Technik. Aus Distanz betrachtet zeigt sich hier eine Parallelentwicklung zur Gesellschaftstheorie.
EINLEITUNG
schreibungsarbeit und historische Rekonstruktion unternommen; schließlich geht es jeweils darum, eine Frage nachprüfbar zu beantworten. Erwartung ist nie ein klassisches Thema der Philosophie gewesen. Erwartung ist kein Grundbegriff, und sie ist auch nicht der zentrale Begriff einer philosophischen Spezialdisziplin. Der Artikel ‚Erwartung‘ im Historischen Wörterbuch der Philosophie umfasst knapp eine Spalte und bestimmt ihn – fälschlicherweise – primär als einen Gegenstand der Psychologie. Die Mitläufigkeit des Themas kann man nüchtern feststellen, ohne zu lamentieren, Ignoranz zu beklagen, ihn als exotischen Außenseiterbegriff auszuschmücken oder aber klassische Autoren zu reinterpretieren mit der Intention, Erwartung als den versteckten Kerngedanken ihres Werks freizulegen. Nichts von all dem würde auch zutreffen. Weder ist Erwartung das geheime Zentrum klassischer Texte, noch ist sie am Rande angesiedelt und durchkreuzt von dort aus die Differenz Zentrum/Peripherie. Erwartung kommt als Thema und Begriff vor. Einmal im Zusammenhang mit Wissen: In der älteren, vor allem an Physik orientierten Wissenschaftstheorie wird die Leistung von Erwartungen im Kontext der Hypothesenbildung und -prüfung sowie der Erklärung von Naturereignissen gesehen (Popper 1934: 31 f., 51). Hypothesen und Erklärungen formulieren Erwartungen, wie sich etwas unter bestimmten Bedingungen verhält. Sie eröffnen damit die Alternative von Erfüllung/Enttäuschung, welche entscheidet, ob die Hypothese oder Erklärung wahr/falsch ist. Viel basaler stellt der pragmatische Wahrheitsbegriff die Erwartungsförmigkeit von Wissen in den Vordergrund: „Gedanken, die uns zu sagen haben, was wir zu erwarten haben, gelten auf dieser primären Stufe als die wahren Gedanken.“ (James 1907: 127) In Luhmanns genannter Bestimmung von Wissen als kognitiver Erwartung wird dieser Zusammenhang fortgeführt (Luhmann 1990: 138). Diese Verbindung von Wissen und Erwartung schließt sich außerdem an die Problematik von Fortschritt und Ordnung an: Wissen als bestätigte und insofern gefestigte Erwartung eröffnet die Denkmöglichkeit eines Fortschritts7, welcher sich in einem steigenden Erwartungswert, einer höheren Erwartungssicherheit ausdrückt. Der Gegenstand des Fortschritts ist dabei offen. Es kann um rechtliche, soziale oder eben um kognitive Erwartungssteigerung gehen. „Der Endzweck der positiven Gesetze“, so Auguste Comte, sei „rationale Voraussicht“. Erst der „positive Geist“ komme diesem Ziel nahe, er bestehe „vor allem darin zu se7
Hier wäre zudem nach der Verbindung zu Heilserwartungen zu fragen. 23
TECHNIK ALS ERWARTUNG
hen um vorauszusehen“ (Comte 1844: 33, 35). Der französische Wissenschaftstheoretiker Émile Meyerson hat 1908 diese Steigerung der Erwartungssicherheit als Identitätsunterstellung gekennzeichnet. Durch den Wandel hindurch gebe es eine tiefer angesetzte Identitätsbehauptung, welche zwischen Ausgangssituation und Fortgang vermittle. Wissenschaftliche Erwartungsbildung läuft für Meyerson daher auf eine „Elimination der Zeit“ hinaus (Meyerson 1908: Kap. 6). Ich hatte eben von Erwartungswert gesprochen. Damit ist ein Terminus der Wahrscheinlichkeitstheorie genannt. In diesem Kontext findet sich ein weiterer Strang der Begriffsgeschichte von Erwartung: Wo es kein sicheres Wissen und daher auch keine Erwartungssicherheit geben kann, tritt mit Wahrscheinlichkeit ein neuer Wissenstypus auf. Er füllt die Lücke, welche fehlende Gewissheit hinterlässt, auf eine für moderne, technische Rationalität interessante Weise. Denn die „mathematische Hoffnung“, wie der Erwartungswert bei Pierre Simon de Laplace genannt wird, ist in seiner Voraussagekraft steigerbar. Wahrscheinlichkeitsaussagen gehören damit zur Domäne möglichen Fortschritts. Die Genauigkeit stochastisch begründeter Erwartung lässt sich verbessern (Laplace 1814: 14-18, 44-55). Die mathematische Modellierbarkeit von Erwartung wird dann in den Spieltheorien aufgegriffen. Es geht um Entscheidungstechniken, die den Erwartungsnutzen verbessern sollen. Das klassische Gefangenendilemma als Testfall der Spieltheorien demonstriert allerdings – unter dem Problempunkt doppelter Kontingenz, also Erwartungserwartungen – die darunter liegende Vertrauensfrage. In den Spieltheorien werden Erwartungsnutzen und Vertrauen zwar häufig einander gleichgesetzt, aber die Begründung dafür bleibt offen. Ich komme darauf ausführlicher im Rahmen von Teil C zu Vertrauen in Technik zurück. Mit Erwartungserwartungen ist eine Disziplin aufgerufen, in welcher der Erwartungsbegriff besonders wirkungsvoll gewesen ist: die Soziologie. Vielleicht ist in den klassischen Texten der Soziologie überhaupt die meiste Aufmerksamkeit auf den Begriff verwandt worden. Erwartungen sind für Max Weber ein wichtiger „Bestandteil des Gemeinschaftshandelns“ und insbesondere allen zweckrationalen Handelns (Weber 1913: 441). Soziale, rechtliche und technische Rationalität führen für Weber zu höherer Erwartungssicherheit und dann auch gesteigerter Erwartungshaltung. Was beispielsweise im technisch-rationalen Alltag interessiert, sind die „praktisch wichtigen Erwartungen des Verhaltens dieser Artefakte.“ (Weber 1913: 471). Bei Talcott Parsons findet sich der Gedanke, „daß einer der wichtigsten Aspekte der Orientierung des Handelns an der Situation die Entwicklung eines Systems von ‚Erwartun24
EINLEITUNG
gen‘ ist. Im Bereich der Beziehungen zwischen Fertigkeiten, Anstrengung und den Ergebnissen technologischer Prozesse ist dies besonders deutlich bezeugt.“ (Parsons 1931: 121) Im Werk von Niklas Luhmann gewinnen Thema und Begriff dann vollends eine wichtige Theoriestellung. Ob es um die angesprochene Unterscheidung verschiedener, etwa kognitiver und normativer Erwartungsstile geht, um Fragen nach der Lösbarkeit von Erwartungserwartungen (doppelte Kontingenz), um die Bestimmung von Begriffen wie Struktur, Prozess, Komplexität und Sinn oder um symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien als Erfüllungsgaranten an sich unwahrscheinlicher Erwartungen – Sache und Begriff werden mehr als gestreift.8 Dabei fällt auch mehr als einmal der Blick auf Technik (Luhmann 1991: Kap. 5; 1997: 517-536). Diese Fundstellen verweisen auf eine in soziologische Grundbegriffe eingeschriebene Relevanz von (Erwartungs-)Erwartung. Die klassische Soziologie ist allerdings, wenn überhaupt, dann doch eher gelegentlich an Technik interessiert. Zumeist geht es dabei um die Frage, wodurch sich moderne von anderen Gesellschaften unterscheiden. Es gibt allerdings auch eine stärker technisch fokussierte Erwartungsforschung innerhalb der Soziologie, genauer der sociology of expectations. Das Stichwort lautet Erwartungsdynamik. Die Leitfrage ist, welche Erwartungssequenzen neue, innovative Technik durchläuft. Das bekannteste Modell hierfür bietet der „Gartner Hype Cycle“. Am Anfang übertrieben hochansteigende Erwartungen fallen auf ein niedriges Plateau zurück, bevor es wiederum zu einem moderaten, aufgeklärten Anstieg kommt. In dieser Forschungsrichtung stehen die beteiligten Akteure sowie deren jeweiliges Zukunftsverständnis im Vordergrund (vgl. für einen Überund Einblick Konrad 2004; Borup et al. 2006; Lösch 2006). Die Forschung zu technischer Erwartungsdynamik weist einen Bezug zu Potenzialerwartungen auf. Dabei bleibt allerdings genau die Frage unbeantwortet, welche hier interessiert: Was genau an Technik ist es, das Erwartungen hervorruft? Denn das genannte Modell bleibt selbst auf eigenartige Weise technikunspezifisch. Das zeigt ein Substitutionstest: Das Modell kann auch auf Politiker, Krankheiten, Skandale etc. angewandt werden. Eher als ein primär psychologischer erweist sich Erwartung jedenfalls als ein soziologischer Begriff, der zudem in Wissenschaftstheorie und 8
Man könnte zur Soziologie noch weiteres bemerken: Die Soziologie des Lebenslaufs, welche die Entstehung einer an standardisierten Sequenzen orientierten Lebenserwartung verfolgt. Oder Robert K. Mertons grundsätzliche Überlegungen zur spezifisch soziologischen Gegenstandsebene, den Erwartungserwartungen (1949: 399 f.). 25
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Stochastik sowie in der Frage nach Fortschritt und Ordnung eine Rolle spielte. Wie steht es mit dem Thema Erwartung in der Philosophie – abgesehen von der Wissens- und Wissenschaftstheorie? Am ehesten wird man in der Phänomenologie fündig. Husserl (1936), Heidegger (1927) und Merleau-Ponty (1945) untersuchen den eigenartigen Gegenstandsbezug in der technischen Praxis. Es geht um die fehlende Dinghaftigkeit von Technik im Gebrauch. Die angesprochene Eignung von Technik, hochgradig vertraut, gewohnt, selbstverständlich zu werden, steht im Vordergrund. In Heideggers späterer Technikphilosophie (1950) wird zudem eine Veränderung im Naturbegriff (Naturverhalten wird erwartet, nicht erbeten oder in Dankbarkeit angenommen) entdeckt, wie sie im Rahmen einer Theorie von Technik als Erwartung von Bedeutung ist. Hans Blumenberg liefert Beiträge zu den begriffsgeschichtlichen Spuren von Technik in Konzepten wie Nachahmung, Neues, Schöpfung, Lebenswelt, die ebenfalls in Verbindung zu Formen technischen Erwartens stehen (1951, 1957, 1966, 1963). Es gibt also nicht viel Vorarbeiten. Man muss Spezialdiskussionen (Risiko, Vertrauen, Erwartungsdynamik) im Hinblick auf Formen technischen Erwartens lesen und zusammentragen. Im Folgenden werde ich insbesondere Verfahren der phänomenologischen Techniktheorie aufgreifen, gepaart mit historischer Rekonstruktion (Vertrauen, Gewohnheit, Machbarkeit, Neuheit), ohne dass es mir primär darum ginge, eine phänomenologische Arbeit zu schreiben. Ziel ist vielmehr der Entwurf einer allgemeinen Theorie technischen Erwartens in eins mit der Beantwortung der genannten Fragen.
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T EIL A T ECHNOLOGIE ALS P OTENZI ALERW ARTUNG
I.
WIE
ENTSTEHEN
P O T E N Z I AL E R W AR T U N G E N ?
1. Neue Technologie – neues Zeitalter – neue W e l t : F r e i l e g u n g e i n e r ve r d e c k t e n F r a g e Wir sind es inzwischen gewohnt, dass Geschichte entlang der Erfindung von Technologien geschrieben werden kann, dass historische Zäsuren durch neue Technologien gesetzt werden. Technologien kommt ein enormes Veränderungspotenzial zu. Sie bestimmen Kommunikationsthemen und unterschwelliger Kommunikationsformen, Sozialverhältnisse und -formen, Machtformen und Herrschaftskonstellationen bis hin zu Menschen- und Naturbildern. Mit technologischen Entdeckungen änderte sich die Form des Wirtschaftens, der politischen Fragen und Diskussionen, der Ängste und der Form, in der Angst auftritt (etwa: Risiko), der Zeitsemantik. Die historische Veränderungskraft von Technologien ist so selbstverständlich, dass die Frage darin verloren geht: Warum eigentlich? Warum kommt Technologien eine solche Bedeutung für das Leben der Individuen, die Form und Dynamik von Gesellschaft sowie das Selbst- und Weltverständnis zu? Der als selbstverständlich genommene Konnex von Technik und Geschichte betrifft nicht nur die rückblickende Geschichtsschreibung. Auch die Antizipation neuer Technologie ruft Historiographien hervor. Drei Beispiele: Mitte der 1950er Jahre wurden die ersten Schritte in der so genannten zivilen Nutzung der Kernenergie unternommen, 1954 in der Sowjetunion und 1956 in England wurden erste Kernkraftwerke in Betrieb genommen. Im Jahr 1956 warb die SPD für die Nutzung der Kernspaltung zur Energieerzeugung mit den Worten: „‚Ein neues Zeitalter hat begonnen. Die kontrollierte Kernspaltung und die auf diesem Wege zu gewinnende Kernenergie leiten den Beginn eines neuen Zeitalters für die 29
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Menschheit ein.‘“ Die Erwartung ging offensichtlich weit über die einer neuen Technologie hinaus, es ging um ein neues Zeitalter; die Atomtechnik bedeutete eine politische Zäsur. ‚In solchem Sinne entwickelt und verwendet, kann die Atomenergie entscheidend helfen, die Demokratie im Innern und den Frieden zwischen den Völkern zu festigen. […] Dann wird das Atomzeitalter das Zeitalter werden von Frieden und Freiheit für alle!‘1
Was war es an dieser Technologie, dass der Frieden von ihr abhing, dass sie nicht bloß als ein Produzent von Strom für Steckdosen erschien, sondern von Frieden und Freiheit? Warum erschien letzteres evident? Warum konnte angenommen werden, es sei glaubwürdig, dass der primäre Effekt nicht bloß mehr Strom, sondern mehr Demokratie wäre? War es der Kalte Krieg? Aber auch dann stellte sich die Frage: Warum entscheidet sich dieser an einer (neuen) Technologie? Ein zweites Beispiel: Der Name Ubiquitous Computing steht aktuell für ein neues Informationstechnologisches-Paradigma. IT soll künftig nicht mehr primär in Form von Monitor, Tastatur, Laptop oder PC gegeben sein, sondern den gesamten Alltag begleiten, in die Dinge wandern, vielleicht unspürbar werden, sie „smart“ machen. In der Forscher- und Entwickler-Szene wird der Paradigmenwechsel als „dramatischer Wandel“ begriffen. „‚Es kommt mir so vor“, heißt es, „als sei das rasante Wachstum des WWW nur der Zündfunke einer viel gewaltigeren Explosion gewesen. Sie wird losbrechen, sobald die Dinge das Internet nutzen.‘“ Zwar „sind wir [noch] nicht im Zeitalter des Ubiquitous Computing angekommen, sondern befinden uns erst in der Ära des ‚personal computing‘“. An deren Ende stehe gleichwohl nichts weniger als die „informatisierte Welt“.2 Wiederum wird mit einer Technologie, der Miniaturisierung des Computers und der Vervielfältigung seiner Anwendungskontexte (nach Möglichkeit: überall, ubiquitär) eine historische Zäsur, ein neues Zeitalter verbunden. Welt und damit doch in unbestimmter Weise ein irgendwie Ganzes soll sich ändern. Was aber hat Welt – wiederum naiv gefragt – mit dieser miniaturisierten, vernetzten, smarten Technologie zu tun? Ein drittes Beispiel: Der Nanotechnologie-Bericht, welcher vom USamerikanischen National Science and Technology Council erarbeitet 1 2
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Münchner Parteitag der SPD 1956, zitiert wird aus der Rede von Leo Brandt nach Weisker 2003: 395. Alle Formulierungen und auch die Zitate im Zitat finden sich in Mattern 2003 in der Reihenfolge der Zitate: S. 3, 2 und letztes Zitat aus dem Titel des Bandes.
WIE ENTSTEHEN POTENZIALERWARTUNGEN?
wurde, übertrifft in seiner Emphase sicherlich andere Technikerwartungen. Nanotechnologie verändere die Welt nicht nur, sie baue oder forme sie grundlegend neu: Nanotechnology „is likely to change the way almost everything […] is designed and made.“ Unvergleichbar sei das Veränderungspotenzial dieser Technologie: „Never has such a comprehensive technology promised to change so much so fast…“. Eine Grenze sei nicht erkennbar: „ The possibilities to create new things appear limitless.‘“ Der Grund dafür ist offensichtlich, die Technologie setzt unüberbietbar fundamental an, es gehe um nicht weniger als: „Shaping the world atom by atom.“3 Drei jeweils neue Technologien, dreimal „wird“ ein neues Zeitalter ausgerufen, dreimal wird eine neue Welt erwartet – drei Potenzialerwartungen. Die sozialwissenschaftliche Technikforschung in Gestalt der Science and Technology Studies (STS) sowie deren deutsches Pendant, die Technikgeneseforschung, haben nachgewiesen, dass und wie die Geschichte der Technik gesellschaftlich bestimmt ist. Die Entwicklung von Technologien ist nicht durch diese Technologien selbst zu erklären. Warum sich eine Technologie durchsetzt, eine andere dagegen nicht, hängt viel mehr von der Konstellation der Akteure, ihren Deutungen, Interessen und Machtressourcen ab als von einem immanenten Maßstab. Diese Befunde sind aufschlussreich. Nichtsdestotrotz hat wohl diese Forschung, welche Gesellschaft, Geschichte und Technologie verbindet, dazu beigetragen, dass die Frage, nicht recht verstanden wird, warum Technologien Potenzialerwartungen auslösen. Sie fasst Technologien als flexibel interpretierbar auf: Akteursgruppen sehen in einer Technologie jeweils etwas anderes. Dass Technologien Potenziale und auch Potenzialerwartungen selbst zukommen, auch wenn es diese natürlich nur in der Perspektive von und für Individuen, Gruppen, Gesellschaften geben kann, und diese nicht einfach von jenen in sie projiziert werden, wird im Rahmen dieses sozialkonstruktivistischen Theoriedesigns nahezu undenkbar. Geht man aber davon aus, dass Potenziale zwar relativ zu einer je gegebenen Welt sind, jedoch auch von Technologien selbst hervorgerufen werden, von deren in Aussicht gestellter Sachbeschaffenheit, dann stellen sich wieder die Fragen: Warum wird ein Zeitalter mit Strom oder mehr Strom aus
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Alle Zitate und Zitate im Zitat: National Sciene and Technology Council: „Shaping the World Atom by Atom“, in der Reihenfolge der Zitate: S. 8, 9, 2 – und letztes Zitat wiederum aus dem Titel. 31
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Steckdosen in Verbindung gebracht?4 Was hat eine allgegenwärtige, vielleicht komfortable oder auch neue Funktionen ins Spiel bringende Informationstechnologie mit „Welt“ zu tun? Warum soll das Ansetzen im unsichtbar Kleinen die sozial geteilte Welt irgendwie berühren, es bleibt ja doch unspürbar? Daran ändern auch durch Nanotechnik verbesserte Farben oder fleckenfreie Textilien nichts grundlegend. Dem Sozialkonstruktivismus geradezu entgegen gesetzt, möchte man auf diese Einwände gerne mit einem „Aber…“ antworten. Die Evidenz, welche sich in dieser Reaktion ausdrückt, ist es, die es zu erklären gilt. Über das politisch oder ökonomisch motivierte Pathos hinaus sind die oben dargestellten Beispiele getragen von einer Evidenz für das Technologien zukommende Weltveränderungspotenzial. Die Instrumentalisierung der Technologie für andere politische Ziele setzt diese Evidenz ja voraus. Im Folgenden geht es also um die Frage, warum Technologien Potenzialerwartungen hervorrufen – in Relativität zu einer je gegebenen Welt. Ich werde eine Theorie ausarbeiten, welche die Entstehung von Potenzialerwartungen in engem Zusammenhang mit sachlich gegebenen Potenzialen erklärt. Auch wenn es kontraintuitiv erscheinen mag: Ich werde im Folgenden zunächst keinen Unterschied zwischen Potenzialen und Potenzialerwartungen treffen müssen. Denn die Erklärung der Entstehung von Potenzialerwartungen ist, wie ich darlegen werde, zugleich eine Erklärung der Potenziale von Technologie. Weil neue Technologien Potenzialerwartungen auslösen (und nicht die sicherlich auch gegebene Interpretation von Akteursgruppen), weisen Potenziale und Potenzialerwartungen eine gemeinsame Klammer auf: die Technologie selbst. Unterschiede bestehen an anderer Stelle. Daher werde ich im Folgenden zunächst auch einfach von Potenzialen sprechen, wo dies unproblematisch ist.
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In Hinsicht auf die oben zitierte Rede von 1956 kann eine zeithistorische Antwort in dem Sinne gesucht werden, dass der Systemkonflikt von Westund Ostblock sowie die machtpolitische Bedeutung der Atomenergie rekonstruiert wird, ebenso kann die Bedeutung von Energie für Wirtschaft und Alltagsleben untersucht oder der Hintergrund der Rede in der Atombombe gesehen werden. Vorausgesetzt wird dabei schon, dass Technologie eine solche immense Bedeutung zukommt. Diese Voraussetzung will ich klären. Auch sie ist zeithistorisch, wenngleich seltener in dieser Art von Zeithistorikern untersucht.
WIE ENTSTEHEN POTENZIALERWARTUNGEN?
2 . E r k l ä r u n g s ve r s u c h e f ü r Potenzialerwartungen Warum werden Potenzialerwartungen von Technologien hervorgerufen? Nicht etwa von Kunst? Schließlich ist es gerade Kunst, welche Neues, Unbekanntes, bislang Undenkbares hervorbringt.5 Es gibt meines Wissens nach keine ausgeführten Antworten auf diese Frage, in einigen Theorien lassen sich aber Ansätze dazu erkennen, die sich zu Erklärungen ausbauen lassen. Dabei können (1) sach-, (2) sozialorientierte Antworten unterschieden werden sowie (3) solche, die in Einbildungskraft als der radikalen Überschreitung des faktisch Gegebenen die Entstehung von technologischen Potenzialen verorten.
2.1 Sachorientierte Erklärungen: Veränderungserfahrung Warum sollte nicht eine einfache Antwort auf die Frage ausreichend sein? Potenzialerwartungen entstehen aufgrund der Erfahrung bereits realisierter Potenziale. Weil frühere Technologien Welt in ungeheurem Maße veränderten, entsteht die Erwartung, dass dies mit künftigen Technologien nicht anders sein wird. Die Erwartung künftiger Veränderungen ist daher nicht nur gerechtfertigt, sondern ihre Entstehung erklärt sich auch durch diese gut dokumentierte, um uns herum quasi sichtbare Vergangenheit. Das Veränderungspotenzial von Technologie ist einfach evident, weitere Fragen bestehen an dieser Stelle nicht. Sigmund Freud drückt diese Evidenz aus, wenn er schreibt: In den letzten Generationen haben die Menschen außerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendung gemacht, ihre Herrschaft über die Natur in einer früher unvorstellbaren Weise befestigt. Die Einzelheiten dieser Fortschritte sind allgemein bekannt, es erübrigt sich, sie aufzuzählen. (Freud 1930: 218)
Würde man einen solchen Erklärungsansatz verfolgen, stünde man vor einer Reihe von Schwierigkeiten. Zwei will ich nennen. (1) Die durch Technologien herbeigeführten Veränderungen sind keineswegs um uns herum gut „sichtbar“. Sie müssen erinnert oder erschlossen werden. Es ist ein wiederholter Vorwurf, dass Veränderungen allzu rasch verblassen, der „Fortschritt“ als solcher vergessen wird, dass das Gedächtnis Vergangenheit und Gegenwart zu sehr in eine Kontinuität bringt (bereits Fontanelle 1702: 278; Bellamy 1888: 3). 5
Naturwissenschaftler stellen diese Parallele zwischen Kunst und Wissenschaft regelmäßig selbst her. Vgl. das Beispiel Helmholtz 1878: 109-111. 33
TECHNIK ALS ERWARTUNG
(2) Das Kernproblem liegt für mich jedoch an anderer Stelle. Die Erwartung auf frühere Erfahrungen zurückzuführen, ist nicht falsch, es ist aber auch ein Erklärungsstopp. Ja, es ist evident, dass Technologie Welt verändert. Aber warum? Man begnügt sich mit einer Evidenz, ohne zu erkennen, warum Technologien zur Erfahrung solch massiver Veränderungen führen können. Kann man dazu mehr sagen?
2.2 Sozialorientierte Erklärungen: Erwartungserwartungen Mit der „Sociology of Expectation“ ist eine Forschungsrichtung zur Erwartungsdynamik neuer Technik entstanden.6 Die verbindende Annahme besteht darin, dass die technische Erwartungsdynamik als sozial induziert betrachtet wird. Im Vordergrund stehen daher nicht technische Errungenschaften, sondern Erwartungserwartungen. Es geht um die Erwartung von Alter hinsichtlich der Erwartung von Ego in Bezug auf das Potenzial von Technik – wobei sich die Erwartung von Ego in gleicher Weise auf die erwartete Erwartung von Alter beziehen kann, so dass es zu einem wechselseitigen Unterstellungsspiel kommt. Die Erwartungen stützen sich primär lediglich aneinander und nicht auf Eigenschaften der Technologie. Technologiebezogene Erwartungsdynamiken gewinnen daher meines Erachtens eine Ähnlichkeit mit Börsenerwartungen: Erwartungserwartungen, die sukzessive eine eigene, dynamische, von individuellen Interessen und Meinungen abgelöste Wirklichkeit hervorbringen, die hochgradig effektiv ist, obgleich sich Erwartungen eben nur auf Erwartungen stützen.7 Das impliziert nicht per se, dass sie irrational sind. Die Intensität, mit der solche Erwartungen besonders in frühen Phasen der Technikentwicklung auftreten, hat zumindest einen rationalen Effekt.8 Sie mobilisiert eine kritische Masse, ermutigt sie zu riskanten, unabsehbar lang dauernden und viel Anschubsfinanzierung bedürfenden Großprojekten. Sie steigert so die Wahrscheinlichkeit von Synergien zwischen Entwicklungsgruppen und Systemen (Politik, Kunst, Wissenschaft).9 6
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Zur Übersicht vgl. das Heft Nr. 3/4 von Technology Analysis & Strategic Manangement zur „Sociology of Expectations“, insbesondere die Einleitung von Borup et al. 2006: 285-298. Diese Figur findet sich etwa bei Konrad 2004: 8 in ihrer Erläuterung des Ausdrucks „soziale Erwartungsdynamik“. Die vielfache und berechtigte Kritik am „Gartner Hype Cycle“, dem bekanntesten Modell typischer Erwartungssequenzen, zielt denn auch selten auf die generelle Beschreibung. Dies wird vielfach konstatiert, so auch: Borup et al.2006: 289 f. – Dazu bedarf es für die heterogenen Systeme und Akteure gemeinsamer Kommunikationsmedien, als welche beispielsweise Bilder fungieren, meint
WIE ENTSTEHEN POTENZIALERWARTUNGEN?
Die Leistung dieses soziologischen Ansatzes liegt in der Darstellung der Mechanismen, mit der diffuse gesellschaftliche Erwartungen bis auf die Mikroebene wirken. Der Ansatz hat allerdings einen großen Mangel in Bezug auf die hier zugrunde liegende Frage: Warum Technologien in der Lage sind, Potenzialerwartungen auszulösen, bleibt unbeantwortet und ist im Rahmen dieses Ansatzes wohl auch unbeantwortbar. Zum einen ist auffällig, dass die Entstehung von Erwartungen in den sehr frühen Phasen kaum im Interesse dieser Arbeiten steht. Warum ein Akteur zu erwarten beginnt und ein anderer folgt, bleibt offen. Die Theorien setzen in der Regel an einem späteren Zeitpunkt an, nämlich wenn sich die Erwartungsdynamik entfacht, wenn sich Erwartung bereits auf Erwartung stützt. Warum Technologien überhaupt Erwartungen auslösen, bleibt damit ungeklärt. Zum anderen steht mit der Selbststabilisierung wechselseitiger Erwartungserwartungen zwar ein plausibles, soziologisch erfolgreiches Modell bereit, das ein Sozialphänomen als Antwort bietet. Technologie wird damit allerdings zu einem Fall sozialer Erwartungsdynamiken unter anderen. Die Anfangsdynamik eines Technologie-Hypes und das Gerücht vom Bankrott einer Bank ähneln sich; beide Male werden Erwartungen erwartet und sie gewinnen dadurch eine gerade von der Sache abgelöste Wirklichkeit, die es zu beachten gilt – ob die Bank tatsächlich Bankrott wäre ist unerheblich, sie wird es sein, aufgrund der Erwartung, die zur Folge hat, dass die Kunden ihr Geld abziehen (Merton 1949: 399). Statt auf Technologie könnten die Modelle mit Abstrichen auf massenmediale Themen allgemein, auf Krankheiten, Moden, Skandale, Ideen, politische Hoffnungen angewandt werden.10 Technologien lösen allerdings spezifische Erwartungen aus, die sich von einem Skandal, einer Mode unterscheiden. Warum Technologien überhaupt Erwartungen und dann spezifische Erwartungen, nämlich Potenzialerwartungen, auslösen, bleibt noch immer ungeklärt.
Lösch 2006. Geteilte Erwartungen hinsichtlich des Potenzials einer Technologie heißt allerdings nicht, dass es die Erwartung einer gleichen gegenwärtigen Zukunft ist. Malcom Eames et al. 2006 belegen beispielsweise sechs verschiedene Zukünfte, wie die erwartete Wasserstoff-Wirtschaft aussehen soll. 10 Das ist noch kein Beleg für einen Fehler der Theorien. Warum sollten Massenmedien oder Krankheiten oder neue Technologien, also recht heterogene Gegenstände, theoretisch nicht ähnlich behandelt werden können? Wenn technologische Erwartungen jedoch mehr als soziale Erwartungsdynamiken sind, dann wird es zu einem Fehler alle gleichermaßen zu behandeln. Genau das soll aber gezeigt werden. 35
TECHNIK ALS ERWARTUNG
2.3 Einbildungskraft und Technologie als Ereignis Neue Technologien weisen häufig phantastische Züge auf. Sie liegen quer zu dem, was bislang als möglich galt, sie führen auf bislang Unvorstellbares.11 Diese Verschiebung in dem, was als vorstellbar und realisierbar gilt, ist das Motiv von Theorien die Technik mit einer radikalen Einbildungskraft in Verbindung bringen. Eminent Neues entsteht, so die gemeinsame These, durch einen produktiven Überschuss der Einbildungskraft. Cornelius Castoriadis hat eine vieldiskutierte Theorie eines gesellschaftlich Imaginären vorgelegt. Es geht nicht um technische Genies, sondern um eine die individuelle Imagination „unendlich“ übersteigende gesellschaftliche Einbildungskraft (Castoriadis 1975: 442). Im Mittelpunkt steht die Leitdifferenz von Institution/Technik und Imaginärem/teukein. Institutionen und Technik manövrieren innerhalb eines festgesetzten Definitionsbereichs von möglich/unmöglich. Sie verwenden dabei die bereits bestehende und geklärte Unterscheidung dessen, was möglich und was unmöglich ist. Das Imaginäre dagegen bezeichnet das Erschließen und Aufspannen des Möglichkeitsraums durch gesellschaftliche Einbildungskraft. Das Imaginäre erschließt und verändert das Mögliche und Unmögliche (Castoriadis 1975: 442). Am Institutionalisierten und Technisierten selbst ist somit eine schwache Spur des Imaginären erkennbar. Im „Setzenkönnen“ von Zwecken ist für Castoriadis etwa ein Sinn für das Mögliche gegeben. Dabei scheint es allerdings so, als seien „die Bereiche des Möglichen und Unmöglichen […] je schon vorab konstituiert, und ihre Grenze liege immer schon und für immer fest.“ (Castoriadis 1975: 440) Das Imaginäre selbst stellt einen Riss in der Ordnung dar, es geht nicht in ihr auf, sondern konstituiert sie: „Die schöpferische Rolle der radikalen Imagination der Subjekte liegt woanders, nämlich in ihrem Beitrag zur Setzung anderer Formen/Typen/eide als derer, die schon sind“. (Castoriadis 1975: 442) Das Potenzial von Technologie liegt so gewissermaßen im Potenzial der primär nichtindividuellen Einbildungskraft begründet, die Scheidung möglich/unmöglich jeweils neu zu institutionalisieren. 11 Unvorstellbar natürlich nicht in dem Sinn, dass es generell nicht gedacht werden kann, sondern mit Blick auf den Möglichkeitsbereich der Wirklichkeit unvorstellbar ist. Man kann sich alles „Mögliche“ vorstellen, das heißt nicht, dass man es als wirkliche Möglichkeit und als aktuell gegebene wirkliche Möglichkeit denkt. Insofern unterscheidet sich das technisch Unvorstellbare von Kunst, sofern diese im Medium Wirklichkeit unmögliche Möglichkeiten als im Medium Literatur möglich behandelt. 36
WIE ENTSTEHEN POTENZIALERWARTUNGEN?
Versuchte man daraus eine Erklärung zu gewinnen, wie Potenzialerwartungen entstehen, so würde sie vermutlich so lauten: Potenzialerwartungen entstehen durch das radikal Neue, bislang Unvorstellbare. Das radikal Neue ist das Produkt einer überindividuellen Einbildungskraft, welche einen Riss im Gefüge von Kausalität und Ordnung darstellt und herbeiführt. Ähnlich setzt eine Reihe von Theorien an.12 So bunt die Perspektive Einbildungskraft schillert, der Ansatz bleibt technikfern und abstrakt. Technologien sind letztlich das Resultat einer als Prinzip von Wirklichkeit dieser zugrundeliegenden und sie übersteigenden Einbildungskraft, die sich gleichermaßen in Kunst, Politik, Sprache ausdrückt. Technikspezifisch ist dieser Ansatz daher nicht. Er kann auch nicht näher auf die jeweilige Technologie eingehen. Die Letztauskunft lautet irreduzible, offene Einbildungskraft; die Transzendentalstellung der Einbildungskraft versperrt weitere, konkretere Beschreibungsmöglichkeiten. Theorien des radikal Neuen stehen – auch wenn sie auf Einbildungskraft verzichten – vor einem ähnlichen Problem. Neuheit im emphatischen Sinne wird hier im Unterschied zu Innovation bestimmt. Innovationen verbleiben innerhalb eines technisch-gedanklichen Rahmens, sie treiben eine „kontinuierliche Weiterentwicklung“ an, sie stehen für einen „Optimierungsprozess“ – und führen daher auch nicht zu einem epochalen Schnitt (Ruoff 2005: 169). Innovationen sind daher ökonomisch einigermaßen prognostizierbar. Die Innovation „gehört zur Seite der konstruktiven Verlängerungen, der planbaren Entwürfe.“ (Ruoff 2005: 176) Bedeutsamer, aber vehement unberechenbar ist das Neue. Das Neue bricht mit der Ordnung. Es entsteht „aus einem überkomplexen Nichtwissen, das sich als Quelle des Neuen begreifen lässt.“ (ebd.: 170) Mehr noch allerdings entspringt es einem „generellen Nichtwissen“. Das Neue hat daher die „Form eines Ereignisses“ (ebd.: 177). Auf der einen Seite finden sich so Innovation, Wissen, Ordnung, Erwartung, Kontinuität; auf der anderen Seite Neuheit, Nichtwissen, Ereignis, Nichterwartbarkeit, Bruch. Diese symmetrische Gegenüberstellung der Begriffe macht schon deutlich: Das Neue der Technik kann eigentlich nicht beschrieben werden, seine Entstehung „entzieht sich dieser willentlichen Maßnahme, es sperrt sich gegen die gewünschte Entwicklung, indem es erst im Moment seines Auftretens ein mögliches Ziel konkretisiert. Das Neue situiert sich am Rande eines Möglichkeits12 In direktem Anschluss an Castoriadis etwa Hetzel 2003; Ziegler 2005. Die Vorlage liefert natürlich Ernst Bloch mit seiner Arbeit Das Prinzip Hoffnung, insbesondere zur Kategorie der Möglichkeit S. 235-242 und Kapitel 18. – Zur neueren Politik radikaler Einbildungskraft vgl. auch Žižek 2001, insbesondere Kap. I.1. 37
TECHNIK ALS ERWARTUNG
horizontes.“ (Ebd.: 176) Zur Genese des Neuen lässt sich daher nur wenig sagen: Spezialisierung macht „unerwartete Entwicklungsschübe aus fachfremden Disziplinen wahrscheinlicher“, in ihr liegt wie allgemein in technikgeschichtlich gut belegten Zufällen ein „Potential für unerwartete Entwicklungen“ (ebd.: 174, 172). Zufälle stellen damit die letzte Auskunft dar in der Frage, wie Potenziale entstehen.
2.4 Welche Anforderungen muss die Antwort erfüllen? Es ergibt sich ein doppeltes Defizit möglicher Erklärungsansätze. Der (1) sachorientierte Verweis darauf, wie sehr Technologie unsere Welt verändert hat, verdeckt, dass wir nicht wissen, warum Technologien eine solche Veränderungskraft zukommt. Man ruft damit nicht mehr als eine Evidenz auf, bietet aber keine Erklärung an, sondern verdeckt deren Bedarf. Die Überlegungen, Potenzialerwartungen auf (2) Sozialdynamiken oder (3) Einbildungskraft zu reduzieren, führen dagegen von Technik weg. Sie bieten allenfalls eine allgemeine Erklärung an, die auch auf Technologie anwendbar ist. Einmal wird technologisches Potenzial einfach vorausgesetzt, einmal nicht als spezifisch Technologisches behandelt. Die Antwort, die ich suche, muss diese beiden Bedingungen erfüllen. Sie muss spezifisch an Technologie gebildet sein und in der Folge davon weitere Beschreibungsmöglichkeiten eröffnen. Sie darf ferner Potenziale nicht als selbstverständlich voraussetzen, sondern diese erklären. Wir gehen nun folgenden weiteren Weg: • Kapitel II rekonstruiert die begrifflichen Instrumente, welche zur Beantwortung der Frage gegeben sind. • Kapitel III formuliert ein Modell der Entstehung von Potenzialerwartungen. Der Kern des Modells wird dabei schrittweise angereichert. • Kapitel IV fragt schließlich nach den Umgangsweisen mit erwarteten Potenzialen.
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II. W E L C H E
BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE
STEHEN ZUR
VERFÜGUNG?
1. Kontingenz als Voraussetzung und als Depotenzierung Technologisches Potenzial ist Potenzial zur Veränderung von Welt, Selbst, Gesellschaft im Ganzen. Das unterscheidet technologische Veränderungen von technischen Änderungen. Es macht einen Unterschied, ob es um die Aussicht auf designte Kindern geht; oder um ein verbessertes Waschmittel. Beides sind Veränderungen, aber sie sind ungleich bedeutsam. Die Frage lautet nun genau: Welche begrifflichen Instrumente stehen zur Verfügung, um diesen Unterschied zu begreifen? Sind die tradierten Konzepte geeignet, um grundlegende Veränderungen, die aufs Ganze zielen, von Änderungen, die marginale Optimierungen betreffen, zu unterscheiden? Wo würden wir nun technologische Veränderungen verorten? Sie gleichen zwar Erschütterungen des Wissens, aber Vernunftwissen und damit das, worauf es sich bezieht, seine Gegenstände, können sich nicht ändern. Ändern kann sich nur, was kontingent ist. Damit finden sich technologische Potenziale, welche Veränderungspotenziale sind, auf der Seite des Erfahrungswissens im neuzeitlichen Tableau wieder. Von Potenzial zu sprechen, setzt also Kontingenz voraus: Etwas ist so, wie es ist; es könnte aber auch (ganz) anders sein, als es gegenwärtig ist. A ist, es könnte aber auch ¬A (=Nicht-A) sein, also etwa B. Der Kontingenzbegriff als Voraussetzung technologischer Potenziale kann allerdings gerade nicht technologische Veränderungen von technischen Änderungen kleinster Art unterscheiden. Er begreift unterschiedslos al-
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
les als kontingent, was möglich, aber nicht notwendig ist. Warum der technologischen Veränderung B gegenüber dem Bestehenden A ein Potenzial zugeschrieben wird im Unterschied zu A′ als geringfügiger Änderung, kann so nicht verstanden werden; der Kontingenzbegriff nivelliert Veränderungen und in diesem Sinne depotenziert er sie (auf der begrifflichen Ebene). Beide, B als radikale Veränderungsaussicht als auch A′ als geringe Modifizierung, sind gleichermaßen kontingent. Der Kontingenzbegriff als Voraussetzung technologischer Potenziale depotenziert daher Veränderungen, insofern alles gleichermaßen kontingent ist, wenn es nicht notwendig ist. Darin besteht der Kern des Problems. Tabelle 2 fasst diese Unterschiede zwischen Erfahrungs- und Vernunftwissen sowie die zweifache Bedeutung von Kontingenz als Voraussetzung und Depotenzierung von Potenzial zusammen: Tabelle 2: Erfahrung-/Vernunftwissen. Kontingenz als Voraussetzung und Depotenzierung Erfahrungswissen Kontingenz: • A ist • A′, A′′, B oder C könnten sein Problem: Kontingenz ist zwar Voraussetzung für Potenzial, aber zugleich unterschiedslos nivellierend: A′ und B sind beide lediglich kontingent. Die Unterschiede können nicht qualifiziert werden. Beide Male handelt es sich um Veränderungen im Erfahrungsbereich, so ungleich bedeutsam die Änderungen auch sein mögen.
Vernunftwissen Notwendigkeit: • D ist und muss sein • ¬D kann nicht sein Problem: Die ausgezeichnete Seite des Wissens; jede Veränderung hier wäre eine Erschütterung des Wissens, ähnlich der, wie sie neue Technologien hervorrufen. Aber Vernunftwissen unterliegt keiner Veränderung; zudem wäre offen, inwiefern neue Technologien auf die Seite des Vernunftwissens fallen.
Technologische Veränderungspotenziale?
Soviel als Skizze vorweg, ich gehe nun ins Detail. Die ersten beiden Schritte sind der historischen Vertiefung des genannten Kernproblems gewidmet: Zunächst verfolge ich das Aufkommen von Kontingenz als Voraussetzung technischer Potenziale; hierzu liegen bereits hervorragende Arbeiten von Cassirer und vor allem Blumenberg vor, die ich diskutiere. Im zweiten Schritt gilt es, Kontingenz als Hindernis technologische Potenziale zu erfassen, sofern Kontingenz qualifikationslos jegliche Möglichkeit als gleich kontingent bestimmt und in diesem Sinne depo40
WELCHE BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE STEHEN ZUR VERFÜGUNG?
tenziert. An Leibniz’ Philosophie lässt sich der Aufstieg von Kontingenz in eins mit Maßnahmen zu ihrer Abwehr beobachten. Nach dieser historischen Rekonstruktion geht es schließlich im letzten Schritt darum, diese zweigeteilte Ordnung des Wissens zu verlassen, um begriffliche Instrumente zu gewinnen, mit denen sich technologische Potenziale (und deren Erwartung) erfassen lassen.
1.1 Kontingenz als Voraussetzung: andere Möglichkeiten Technologie unter dem Gesichtspunkt Kontingenz oder Möglichkeit zu begreifen, ist keineswegs selbstverständlich. Technik gilt ja zunächst gemeinhin als rigide Kopplung oder „kausale Simplifikation“ (Halfmann 1995). Wie entsteht daher der Gedanke, Technologie als Sinn für zu erschließende Möglichkeiten zu begreifen? An zwei Autoren, den Philosophen Ernst Cassirer und Hans Blumenberg, verfolge ich die Entstehungsgeschichte dieses Gedankens.
Cassirer: Das Technische als Blick für das Mögliche In einem Aufsatz von 1930 zeigt Ernst Cassirer, dass das Technische nicht primär in den technischen Dingen, Apparaten, Maschinen besteht, sondern in der Gewinnung eines spezifischen Blicks für Möglichkeiten. Seine Untersuchung zielt auf die „Form“ von Technik (Cassirer 1930)1. Er stellt diese Perspektivverschiebung ausdrücklich in den Kontext der neukantianischen Transzendentalphilosophie seiner Zeit. In einer für die Technikphilosophie gewissermaßen nachzuholenden Wende müsse der Blick von den Dingen der technischen Welt auf die Form dieser technisierten Welt gerichtet werden. „Geht man statt vom Dasein der technischen Werke vielmehr von der Form des technischen Wirkens aus, blickt man vom bloßen Produkt auf den Modus, auf die Art des Produzierens zurück und auf die Gesetzlichkeit, die sich in ihr offenbart,“ dann ist die richtige Ebene der Frage nach der Technik getroffen, auf der „erst ihr spezifischer Sinn und ihre eigentümliche geistige Tendenz sich bestimmen läßt.“ (46) Diese Wende bringt den Anspruch mit sich, dass die Techniktheorie erklären muss, wie Technik entsteht. Technik als Form meint Formen technischen Denkens, technischen Blicks, technischen Handelns – kurz: Formgebung. Technik ist eine „Tätigkeit“, eine Weise des „Erzeugens“ (vgl. 48 f.).
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
Dieses Verständnis von Technik ermöglicht es Cassirer, sie in den Rahmen seiner Theorie symbolischer Formen hereinzuholen. Nicht ohne Grund vergleicht Cassirer daher Technik mit Sprache. Beide stellen „Mittel zur Bemächtigung der Wirklichkeit“ dar, notiert Cassirer zustimmend mit Blick auf „die ersten Sprachphilosophen“ neuzeitlicher Prägung (51). Wie Sprache eigne Technik als Form ein kreatives, ein bildendes Moment. Über diese Verbindung von Form und Formung wird Welt ins Spiel gebracht: Es geht um die durch Technik (oder Sprache) gewonnene Welt (52). Technisierte Kulturen haben, so heißt es, ein anderes „Weltbild“ (53). Die Form der Technik sieht Cassirer in der für sie typischen Distanznahme. Technik heißt ein bestimmter Verlust an Unmittelbarkeit. Entgegen der zu einfachen Annahme, technische Rationalität gründe in einer empirischen, „unmittelbaren Gegenwart der Dinge“, ist die Loslösung von der unmittelbaren Gegenwart für Cassirer ein mitentscheidender Schritt (58). Genauer geht es um einen „Doppelprozeß“: „nicht nur Nähe, sondern Entfernung; nicht nur Bemächtigung, sondern auch Verzicht, nicht nur Kraft des Erfassens, sondern auch die Kraft zu Distanzierung.“ (59) Technik ist nicht einfach die „Ergreifung des Ziels“, das Fixieren des Zwecks (ebd.) – das hätte für Cassirer noch die Unmittelbarkeit eines magischen Denkens. Der Schritt, welcher für Cassirer hier zusätzlich zu tun ist, ist der Umweg über Mittel und Vermittlung. Im Werkzeug und seinem Gebrauch hingegen wird gewissermaßen zum ersten Male das erstrebte Ziel in die Ferne gerückt. Statt wie gebannt auf dieses Ziel hinzusehen, lernt der Mensch von ihm ‚abzusehen‘ – und eben dieses Absehen wird zum Mittel und zur Bedingung seiner Erreichung. Diese Form des Sehens ist es erst, die das absichtliche ‚Tun‘ des Menschen vom tierischen Instinkt scheidet. (62)
Dieses Absehen führt zwar auf „Notwendigkeit“ (67), aber Vermittlung heißt den Umweg über das „Objektiv-Mögliche“ zu gehen, und das heißt nichts anderes als „auf bestimmte Regeln des Möglichen eingeschränkt“ zu sein (60). Gerade diese Hemmung der Begierde unterscheidet, so Cassirer, Magie und Technik. Dennoch ist es die Form von Technik, wie Cassirer sie versteht, die Möglichkeiten freisetzt. Im technischen Blick, seiner Abstandnahme vom Ziel, liegt eine zweite Abstandnahme vom Gegebenen – und zwar von den bislang gegebenen Möglichkeiten, um das Ziel zu erreichen. Der technische Blick nimmt Abstand, um neue Möglichkeiten zu eröffnen. „Die Technik fragt nicht in erster Linie nach dem, was ist, sondern nach dem, was sein kann.“ Technik ist daher gleichsam nur mit einem 42
WELCHE BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE STEHEN ZUR VERFÜGUNG?
Auge mit der Wirklichkeit beschäftigt. Mit dem anderen vollzieht sie die Leistung, ständig vom ‚Wirklichen‘ in ein Reich des ‚Möglichen‘ zurück[zu]gehen und das Wirkliche selbst unter dem Bilde des Möglichen [zu] erblicken. Die Gewinnung dieses Blick- und Richtpunkts bedeutet, in rein theoretischer Hinsicht, vielleicht die größte, denkwürdigste Leistung der Technik. Mitten im Gebiet des Notwendigen stehend und in der Anschauung des Notwendigen verharrend, entdeckt sie einen Umkreis freier Möglichkeiten. (81)
Technik ist infolgedessen halbseitig eine kontrafaktische Disziplin. Sie ist ein Kontingenzunternehmen. Zumindest in dieser Hinsicht gleicht sie der Kunst, auch wenn sie andererseits zu ganz anderen „Objektivierungen“ kommt und einen anderen Begriff von Notwendigkeit hat (83).2 In einer Weise, welche nicht die von Kunst ist, ist sie daher mit dem „Neuzusetzende[n]“ und mit „Zukunft“ beschäftigt (81 f.). Doch wie dieses Neue in den gegebenen Möglichkeitsbereich kommt oder wie dieser technische Blick zustande kommt, worin genauer er besteht, wie er selbst entsteht, das bleibt offen. Dieser ungeklärte Punkt wird zudem durch den Vergleich mit Kunst gleichsam in einer Aura nichtrekonstruierbarer Kreativität vor Fragen abgeschirmt. Ist Technik wie Kunst, dann kann vermutlich dazu nicht mehr, vor allem muss dazu nicht mehr gesagt werden. Schließlich wird der künstlerische Prozess im Verlauf der Neuzeit zunehmend als wesentlich nicht technisch herstellbar und damit auch nicht nachvollziehbar begriffen. Auch historisch bleibt Cassirers Schrift vage, sie erfasst ihren Gegenstand auf hoher Abstraktionsstufe. Sie schwankt zwischen einer Technikanthropologie – und dahin gehören die Passagen über das Besondere des menschlichen Blicks gegenüber den Instinkten von Tieren – und Anklängen an eine Geschichte dieses Blicks. So ist der transzendentale Bezugsrahmen, in den Ich und Welt für Cassirer eingespannt sind, nicht eindeutig festgesetzt. Die Beziehung zwischen beiden „entsteht erst auf Grund der mannigfachen ideellen Prozesse der ‚Auseinandersetzung‘“. (55) Daher können sich die Unterschiede zwischen den Formen Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Technik geschichtlich herausbilden. Denn für Cassirer gilt, dass „der Mensch“ im technischen Verhalten „nicht schon eine bestimmte Form der Welt hat, sondern, daß er vielmehr diese Form erst suchen und sie auf verschiedenen Wegen finden muß.“ (ebd.) Jedoch scheint dies auf Cassirers Überlegungen zur reinen Form, zum reinen Wesen der Technik bezogen zu sein. Insgesamt 2
Passend bestimmt Niklas Luhmann den Gesichtspunkt von Kunst als „die Reaktivierung ausgeschalteter Possibilitäten“. (Luhmann 1997: 352) 43
TECHNIK ALS ERWARTUNG
bleibt Cassirers Ansatz damit eigenartig ungeschichtlich, das heißt nur im Wesenszuschnitt geschichtlich auflösbar. Denn der Abstand zwischen jeglichem noch so ungefügen und unvollkommenen Werkzeug, dessen sich der Mensch bedient, und den höchsten Erzeugnissen und Errungenschaften technischen Schaffens mag in rein inhaltlicher Hinsicht noch so gewaltig erscheinen: er ist dennoch, wenn man lediglich das Prinzip des Handelns ins Auge faßt, nicht größer, sondern geringer als die Kluft, die die erste Erfindung und den ersten Gebrauch des rohesten Werkzeugs vom bloß tierischen Verhalten trennt. (61)
Es klingt wie eine kritische Antwort darauf, wenn Hans Blumenberg schreibt, dass jeder, der die Neuzeit als eine durch Technisierung gekennzeichnete oder auf sie zulaufende Epoche charakterisieren will, immer wieder auf Technizität als ein urtümliches anthropologisches Merkmal und damit als allgegenwärtige menschliche Struktur sich verwiesen sieht, die zwischen Faustkeil und Mondrakete nur eine quantitative Differenz der Komplikationssteigerung zulässt. (Blumenberg 1966: 268)
Anstatt an dem einen großen Bruch oder Übergang vom tierischen Verhalten zum anthropologisch-technischen Handeln ist Blumenberg an einer detaillierten Genese von Technik als Sinn für das Mögliche interessiert. Cassirer hatte den Gesichtspunkt von Technik als Blick für das Mögliche dadurch bestimmt, „daß der Umkreis des ‚Objektiven‘, des durch feste und allgemeine Gesetze Bestimmten, keineswegs mit dem Umkreis des Vorhandenen, des Sinnlich-Verwirklichten zusammenfällt.“ (Cassirer 1930: 82) Der Grundgedanke bei Cassirer ist also: Nicht alle Möglichkeiten sind verwirklicht worden, das Mögliche fällt mit dem Wirklichen nicht zusammen, zwischen beiden besteht eine Inkongruenz. Hans Blumenberg untersucht genau das im Detail: die Entstehung und Zunahme dieser Inkongruenz.
Blumenberg: Die sich öffnende Schere von Möglichkeit und Wirklichkeit Blumenberg zeigt, dass es ein langwieriger und umwegiger Prozess gewesen ist, welcher zu dieser auseinander gehenden Schere von Wirklichkeit und Möglichkeit führte. Folgt man Blumenberg, dann gilt für die traditionswirksamen Texte der klassischen Antike eine Gleichsetzung von Möglichkeit und Aktualität, von Sein und Natur. Die Figur, an welcher er die zunächst bestehende Kongruenz erkennt, lautet: Nachah44
WELCHE BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE STEHEN ZUR VERFÜGUNG?
mung der Natur. Die wachsende Schere zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit vollzieht sich dann für Blumenberg am Niedergang dieser Figur. Für die platonische und aristotelische Philosophie war der Gedanke von Möglichkeiten, welche unverwirklicht sind und damit der Wirklichkeit vorenthalten würden, undenkbar, so Blumenberg. Dass etwas originär Neues in die Welt tritt, widerspricht deren grundlegenden Annahmen. Die überwältigende Geltung der Figur von der ‚Nachahmung der Natur‘ drückte dies aus. Sie kennzeichnete den einzigen und einzig legitimen Beitrag des Menschen in der techne. Anhand Platons Timaios, in dessen Mythos der Handwerkergott, der Demiurg, eine „dienstbare“, keine schöpferische Aufgabe erfüllt, belegt Blumenberg die Wirksamkeit dieser Überzeugung. Dessen „Werkmodell“, in dem der Handwerkergott die Ideen lediglich zur Erscheinung bringt, impliziert sowohl die Einzigkeit des realen Kosmos als auch seine Vollständigkeit hinsichtlich des idealen Modells. Das aber heißt nun: der Demiurg schöpft das Potential der Ideen aus, das Reale repräsentiert erschöpfend das Ideal. Alles Mögliche ist schon da. (Blumberg 1957: 23)3
Im zehnten Buch von Platons Politeia wird zwar ausdrücklich und mehrfach die Frage nach der Herkunft der Ideen selbst gestellt; sie werden dort als von einem Gott hervorgebracht dargestellt. Dieser Text wurde aber, so Blumenberg, anders als zu erwarten wäre, nicht zum Referenztext, als es darum ging, die christliche Schöpfungsidee mit den Begriffen der antiken Philosophie zu reformulieren; dabei griff man stattdessen auf den Timaios zurück. Blumenberg sieht hierin, wenn nicht einen Ausdruck dafür, wie dominant das Nachahmungsmotiv zur Zeit dieser Rezeptionsentscheidung war, so doch zumindest einen Hinweis darauf, dass die künftige Konzeption von Schöpfung von dieser Figur ausging und fortan ausgehen musste. Es ist anschließend Aristoteles, welcher die klassische Formulierung der Nachahmungsfigur bietet. Während bei Platon aufgrund des ideelen Fundierungsverhältnisses mehr der Geltungsgrund der Nachahmung im Vordergrund stand, wird bei Aristoteles die Selbstverständlichkeit und Ausschließlichkeit von Nachahmung betont. „Natur ist der Inbegriff des überhaupt Möglichen. […] Möglich ist immer nur, was seiner µορφή [Gestalt] nach schon wirklich ist: der Kosmos ist das All des Wirklichen und des Möglichen zugleich.“ (24) Dem entspricht Aristoteles’ Verständnis des Verhältnisses von techne und physis. Dass Technik etwas 3
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Neues in die Welt bringt, wäre demnach ein Aristoteles vollkommen fremder Gedanke. Es ist nun, trotz der Timaios-Rezeption, die christliche Philosophie, welche die Nachahmungsidee auflöst und deren Momente, Natur und Sein sowie Aktualität und Möglichkeit, auseinanderdriften lässt. Die Divergenz gewinnt ihren Anstoß nach Blumenberg an einem „Störbegriff ersten Ranges“: dem göttlichen Willen (33). Durch ihn wird Kontingenz denkbar. Diese Geschichte wird von Blumenberg in ihrer Widerständigkeit, Schritthaftigkeit, in ihren Detailproblemen und Rückbezüglichkeiten erzählt (173). Auf einige wenige Stichworte begrenzt: In Tertullians Annahme, dass Gott einiges sicherlich nicht wollte und daher nicht geschaffen hat, deutet sich bereits ein Mehr an unverwirklichten Möglichkeiten an. Bonaventura unterstellt eine Mitteilungsabsicht des göttlichen Willens im Geschaffenen; sofern diese Botschaft aber bestimmt ist, muss sie ‚selektiv sein – auch damit wird an Mehr an Möglichkeit, als wirklich ist, behauptet. In vielen weiteren Schritten werden schließlich Gottes Allmacht und Unendlichkeit aufeinander bezogen. So mutmaßt Wilhelm von Ockham, dass Gott vieles anderes hätten schaffen können, was er aber nicht schaffen wollte.4 Über viele weitere Passagen (und Halteversuche) öffnet sich damit eine Schere zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit (35-41). Die Allmacht Gottes wird dann schließlich geradezu daran demonstriert, dass sich die infinite „potentia vom possibile“ her definiert (34). Ohne dieses Auseinanderdriften weiter zu verfolgen, wird durch diese Lücke von Sein und Natur, Aktualität und Möglichkeit der Ort vorbereitet, an dem „Neues“ im emphatischen Sinne entstehen kann. Die gegebene Welt ist nicht mehr die einzige Welt, Natur ist unverbindlich(er) geworden, ihre Unvollständigkeit wird in Technik und Kunst nicht einmal diskutiert, sondern zur unzweifelhaften Prämisse gemacht. Damit ist der Weg frei, sie um nichtaktualisierte, ja bislang nicht einmal ersonnene, neue Möglichkeiten zu ergänzen. Blumenbergs Befunde zu Wirklichkeit und Möglichkeit und deren geschichtlicher Dynamik fügen sich – liest man weitere Arbeiten dazu parallel – in homologe Prozesse und Geschichtsbefunde ein. An mehreren Begriffen kann dies verdeutlicht werden. Zeit: Die zunehmende Divergenz zwischen dem faktisch Gegebenem und dem Möglichen bildet sich auch ab in einer sich öffnenden Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit. Beide fallen zunehmend auseinander. Zum Beispiel entsteht geschichtlich zunehmend das Verständnis, dass 4
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Für zusätzliche Belege, die Blumenbergs Überlegungen bekräftigen, vgl. Goldstein 2002. Dort (S. 667) findet sich auch ein Hinweis auf ein zuspitzendes Zitat Ockhams: „‚Deus posset facere mundum meliorem‘“, Gott hätte eine bessere Welt schaffen können.
WELCHE BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE STEHEN ZUR VERFÜGUNG?
nicht (mehr) alle Wahrheiten in einem Forscherleben erkannt werden können. Der Gedanke eines Erkenntnisfortschritts war in Blumenbergs Lesart eine Irritation und zugleich Antwort auf diese Frustration, dass erst die beharrliche Beobachtung über viele Generationen Ordnung entdeckt und zur Wahrheit führt. Denn das hieß, dass der individuellen Lebensspanne Wesentliches vorenthalten wird.5 Es gibt mehr, als aktuell gegeben ist. Wahrheit: Die Geschichte der absoluten Metaphern für Wahrheit spiegelt dies in anderer Weise wider. Jene Metaphern, welche Wahrheit als etwas sich Selbstdarbietendes, als eine sich aufdrängende oder ergreifende Macht (z. B. als Licht) auffassten, wurden im Verlaufe der Neuzeit durch Arbeits-, Gewalt- und Nötigungsmetaphern ersetzt. Wahrheit muss nun vor Gericht gezwungen, pressiert, sie muss erarbeitet werden (Blumenberg 1960: Kap. 1-3). Diese Geschichte ist keineswegs linear zu erzählen, die hellenistische Antike war beispielsweise für Blumenberg durch den Gedanken der Transzendenz des Lichts und dessen ‚Flucht‘ bestimmt. Darin findet sich dennoch keinerlei Gedanke an eine produktive, arbeitsame Aneignung von Wahrheit, die auf deren (innerweltliche) Latenz zielte.6 Trotz aller feinen und deutlichen Unterschiede im antiken Verständnis von Wahrheit bleibt es daher bei einem Paradigmenwechsel, wenn von Kraft der Wahrheit (im Sinne eines Genitivus subjectivus) zur Gewalt gegenüber der Wahrheit übergegangen wird. Neugierde: Die neuzeitliche Wissbegierde gegenüber dem „innerweltlich Unsichtbaren“ ist, so Blumenberg, in doppelter Weise ein Bruch. In Astronomie, Mikroskopie, in Seefahrt und der Neugierde gegenüber dem, was unter der Erdoberfläche ist, dem „mundus subterraneus“, wird ein neues Interesse am Latenten, am innerweltlich Unsichtbaren vernehmbar.
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Vgl. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, vor allem zweiter Teil, Kapitel IV und V. – Blumenberg rekonstruiert das Auftauchen und Bewusstwerden dieser sich öffnenden Schere unter anderem an astronomischen Beobachtungsdaten. Deren lange Beobachtungszeiträume überschreiten, wie zu Beginn der Neuzeit klar wurde, die Lebensspanne aktuell lebender Astronomen, so dass sie ihre Beobachtungen nur weiterreichen können, ohne selbst die daraus Schlüsse zu ziehen. Wesentliches, nämlich Kosmologisches, entzieht sich damit der zugänglichen Wirklichkeit. „Die kosmische Lichtflucht ist Voraussetzung für den Begriff der ‚Offenbarung‘, die eine Wiederkehr des Lichts als eschatologisches Ereignis ankündigt und den Menschen sich darauf rüsten heißt.“ (Blumenberg 1957: 144). Das heißt: Er kann sich nur darauf vorbereiten, aber es nicht selbst herstellen. Auch die Lichtflut verbleibt daher im Paradigma sich darbietender und in diesem Sinne auch entziehender Wahrheit. 47
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Nicht nur daß [zuvor] die optischen Hilfsmittel Teleskop und Mikroskop nicht erfunden waren und ihre Leistungsfähigkeit noch unvermutet blieb, sondern noch mehr, daß ein Bereich durch Entfernung oder durch Kleinheit unsichtbarer Gegenstände auch spekulativ gar nicht für möglich oder für bedeutend gehalten wurde. (Blumenberg 1966: 425f.)
In der Entdeckung des Latenten taucht ein Übermaß an bislang Vorenthaltenem, die Inkongruenz von sichtbar gegebener und vorhandener Welt auf. Im Gegenteil sei, wie beispielsweise ein Astronom im 16. Jahrhundert ausführt, der größte Teil der Welt unsichtbar, das Nichtgegebene also im Übergewicht. „Die durch das Fernrohr neu erschlossenen Phänomene haben die Imagination genährt und beflügelt, die sich mit der ‚Pluralität‘ der Welten ständig sich selbst überbietende Grenzvorstellungen des noch Unerschlossenen zu schaffen suchte.“ (Blumenberg 1966: 436) Blumenberg hat diese Parallelen zwischen den verschiedenen Begriffsgeschichten nicht selbst gezogen. Sie fallen zeitlich auch nicht unmittelbar zusammen, sondern überlappen sich. Gleichwohl liegt in diesen Begriffsgeschichten eine zeitliche gegeneinander verschobene Entsprechung. Sie zeigen an, wie sich auf verschiedenen Ebenen eine zunehmende Inkongruenz von Aktualität und Möglichkeit auftut. Wie Blumenberg etwa am Fall der hellenistischen Wahrheitsflucht oder in Bezug auf Leibniz’ Diskussion des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit schildert, ist diese Geschichte nicht einfach linear und graduell zu erzählen. Die Scherenblätter sind somit in sich gezackt. Dennoch kommen im Laufe der Neuzeit Paradigmen zum Vorschein, in denen sich ein spezifischer Sinn für Möglichkeit, für Ungedachtes, Nichtimaginiertes auftut. Blumenbergs Texte schildern so die Entstehung einer zentralen Voraussetzung, um von neuen Möglichkeiten neuer Technologien sprechen zu können. Aber diese Voraussetzung untergräbt zugleich die Chance zu verstehen, wie technologische Potenziale entstehen. Denn Kontingenz ist, wie oben skizziert, zwar Prämisse, aber gleichzeitig Depotenzierung von Potenzial, insofern sie eine Nivellierung der Möglichkeiten bedeutet. Das ist bereits für die christliche Philosophie ein eminentes Problem gewesen, gegen das sie sich unter anderem mit der Zusatzüberlegung der besten Welt zu schützen suchte. Ich komme damit zur Rekonstruktion von Kontingenz als Depotenzierung.
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WELCHE BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE STEHEN ZUR VERFÜGUNG?
1.2 Kontingenz als Depotenzierung: Zweiteilung in die Regionen Vernunft und Tatsachen Im ausgehenden Spätmittelalter beginnt die Freisetzung von Kontingenz, welche dann zu der in der Neuzeit sich öffnenden Schere zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit führt. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, von radikal neuen, bislang unverwirklichten technischen Möglichkeiten zu sprechen (Schritt 1). Bezieht man diese Freisetzung von Kontingenz auf die Zweiteilung der Wissensordnung, dann wird damit der empirische Bereich, das Erfahrungswissen, zunehmend bedeutsamer. Die traditionell ausgezeichnete Seite ist aber das Vernunftwissen. Kommt es nun zu einer Freisetzung von Kontingenz, so fehlen die Begriffe, um deren Bedeutung zu bestimmen (Schritt 2). Dies lässt sich an Leibniz’ Philosophie beobachten. Sie nimmt eine Zwischenstellung ein. Bei Leibniz bricht sich der Gedanke erstens eines Überschusses an Möglichkeiten in der Figur einer Unendlichkeit möglicher Welten Bahn. Kontingenz wird damit zu einem bestimmenden Thema. In der Folge davon wird zweitens versucht, Kontingenz und Möglichkeiten über die Figur des vernünftigen Gottes und damit der besten aller möglichen Welten zu entschärfen und zu begrenzen. Fällt drittens diese Begrenzung weg, bricht der eingedämmte Überschuss an Möglichkeiten zwar wieder hervor, der Kontingenzbegriff, der vorliegt, reicht dann aber nicht aus, um deren Bedeutung zu erfassen (3). Eines ist so kontingent wie das andere. Das Problem der begrifflichen Vorgaben kann daher bei Leibniz exemplarisch untersucht werden.
Leibniz’ Kombinatorik: die Unendlichkeit möglicher Welten Es gibt verschiedene Eingangsmöglichkeiten in Leibniz’ Philosophie, was sich aus der ihr eigenen Kompositionsart erklärt, nicht aus der Person des Universalgelehrten. Leibniz’ Kontinuitätsprinzip setzt alles miteinander in Verbindung, und zwar derart, dass eine Veränderung an einer Stelle unweigerlich alles andere, wie unmerklich auch immer, mit verändert.7 Es kann daher keine vollständige isolierte Intervention geben. Das ist auch ein Grund, warum Gott in Hinsicht auf einzelne Ereignisse keine bessere Welt schaffen konnte.
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Leibniz 1687, 1702. Vgl. zu den verschiedenen Dimensionen dieses Prinzips Rescher: 62-67. 49
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Denn man muß beachten, daß in jeder der möglichen Welten alles eng miteinander verknüpft ist: das Universum, welches es auch sein mag, ist völlig aus einem Stück, wie ein Ozean. Die geringste Bewegung erstreckt hier ihre Wirkung bis auf die weiteste Entfernung, wenn auch diese Wirkung im Verhältnis zur Entfernung immer weniger spürbar wird […]. Deshalb kann im Universum (nicht mehr als bei einer Zahl) unbeschadet seines Wesens oder, wenn man will, seiner numerischen Individualität nichts geändert werden. (Leibniz 1710: 221)
Das Kontinuitätsprinzip ist zugleich ein Theoriepostulat bei Leibniz, in welcher Begriffstheorie, Ontologie, Metaphysik, Logik, Erkenntnistheorie, Physik, Mathematik ineinander laufen. Exemplarisch wird dies am Kontinuitätsprinzip selbst, das Leibniz zunächst anhand der Geometrie entwickelt. Seine Gültigkeit wird dann auf die Physik erweitert. Anschließend verallgemeinert Leibniz es zu einem methodischen Prinzip; schließlich passt er es seiner Begriffstheorie ein und entwickelt daraus Folgen für die Zeittheorie und die Vollständigkeit der Kette der Wesen (Leibniz: 1687).8 In Leibniz’ Philosophie findet das Kontinuitätsprinzip daher Anwendung auf sich selbst; sie ist, modern gesprochen, autologisch; gleich einer von Leibniz’ individuellen Monaden repräsentiert sie die gesamte Welt unter ihrem Gesichtspunkt9 – der allerdings in diesem Fall die Logik aller beschreiben soll. Ob man daher Leibniz’ Begriffstheorie oder einen anderen Einstieg wählt, man gelangt aufgrund des autologischen Kontinuitätsprinzips auf vielen Wegen zu den im Fokus stehenden Beziehungen von gegebener und möglichen Welten, Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Durch diesen Einstieg treten sie aber besonders deutlich hervor. Leibniz’ Begriffstheorie geht von einer Unterscheidung in einfache und zusammengesetzte Begriffe aus. Einfache Begriffe sind „undefinierbar“, da sie nur sich selbst enthalten. Sie können daher auch nur „intuitiv“ erkannt werden (Leibniz 1684: 35, 37). Was die Kandidaten für einfache Begriffe sind, dazu sagt Leibniz erstaunlich wenig. Dass es jedoch einfache Begriffe geben muss, zeigt sich für Leibniz daran, dass es zusammengesetzte gibt. Diese könnten – so Leibniz‘ zeittypische Denkfigur – aber nicht verstanden werden, wenn sie immer weiter auflösbar wären.
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Vgl. zur Formel „Kette der Wesen“ insbesondere Lovejoy 1933: Kap. V. Vgl. Leibniz 1714: §§ 56 f. Dieser zentrale Gedanke findet sich – ohne den Terminus Monade – zuvor bereits viele Male, etwa Leibniz 1695: 215, 219, 221 et passim; Leibniz 1686: 77-79.
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Daraus ergibt sich für Leibniz die Idee einer Kombinatorik – in einem viel weiteren Sinne als er heute dieser mathematischen Spezialdisziplin zukommt: Übrigens ist für mich die kombinatorische Kunst speziell diejenige Wissenschaft (man könnte sie auch allgemein Charakteristik oder Bezeichnungskunst nennen), in welcher die Formen oder Formeln der Dinge überhaupt behandelt werden, d. i. ihre Qualität im allgemeinen oder das Verhältnis des Ähnlichen und Unähnlichen, so wie etwa aus solchen Elementen wie a, b, c, etc. (ob sie nun für Quantitäten oder etwas anderes stehen) durch ihre wechselseitige Verknüpfung verschiedene Formeln entstehen können […]. Deshalb ist die Algebra der kombinatorischen Kunst untergeordnet, deren Regeln sie ständig benutzt […]. (Leibniz 1679-1785: 151)
Auch wenn er im weiteren Fortgang des Zitats die Reichweite seiner eigenen Kombinatorik zunächst noch unterschätzt10, Leibniz hat eine Vorstellung vom Aktionsradius der begrifflichen Kombinatorik, wenn er schreibt, dass „alle abgeleiteten Begriffe aus der Kombination der Grundbegriffe und die zusammengesetzten aus der Kombination der zusammengesetzten“ entspringen (Leibniz 1679-1785: 139). Diese prinzipielle Kombinationsmöglichkeit von Begriffen führt Leibniz nämlich auf einen ungeheuren Überschuss an Möglichkeiten zurück. Denn möglich und damit von einem abstrakten Gesichtspunkt aus realisierbar sind alle Kombinationen, die widerspruchsfrei sind (Leibniz 1684: 139-143). Leibniz drängt sich daher die Frage auf, wie entschieden werden kann, was widerspruchsfrei ist. Die Schwierigkeit ist insbesondere erkenntnistheoretisch. Angesichts der Unendlichkeit an Möglichkeiten, der „Dunkelheit“ und „Verworrenheit“ der Begriffe, ihrer vor allem „symbolischen“ oder „blinden“ Verwendung ist offen, ob nicht ein Widerspruch in einer Kombination besteht.11 Welche Bedeutung dieser Frage zukommt, erschließt sich auch über die Vielzahl und Raffinesse der Techniken, welche Leibniz im Hinblick auf diese Frage ersinnt. Er-
10 Seine nachfolgenden Beispiele (Dechiffrieren, Spiele, Ähnlichkeitsverhältnisse) lassen das Potenzial seines Gedankenganges noch zu harmlos erscheinen. Wird die Reichweite von Leibniz zunächst unterschätzt, so wird die Möglichkeit der Realisierung dann allerdings deutlich überschätzt. 11 Vgl. die zahlreichen scheinbar negativen Seiten der Erkenntnisunterscheidungen, welche Leibniz 1684 aber dennoch als Erkenntnisformen einführt: dunkel vs. klar, verworren vs. deutlich, inadaequat vs. adaequat, symbolisch-blind vs. intuitiv. 51
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fahrung bietet ein Testverfahren.12 Ansonsten bestehen apriorische Prüfverfahren. Von großem Interesse sind für Leibniz insbesondere „Kausaldefinitionen“, welche angeben, „auf welche Weise die Sache erzeugt werden kann“ (Leibniz 1684: 141). Ein weiteres Instrument sind natürlich Begriffsanalysen, welche allerdings bis zur Form adäquater Erkenntnis getrieben werden müssten. „[I]st nämlich die Analyse bis zum Ende durchgeführt worden, so ist der Begriff stets möglich, wenn kein Widerspruch auftritt.“ (Leibniz 1684: 41) Um die Schwierigkeit von Begriffsanalysen zu mildern, ersinnt Leibniz ein Begriffskalkül. Begriffen sollen „Zahlzeichen“ zugeschrieben werden. Die Regel bei der Zuordnung der Zahlenwerte lautet, dass zusammengesetzte Begriffe das mathematische Produkt der Zahlenwerte sind, welche die in sie eingehenden Begriffe als Faktoren haben (Leibniz 1679: 71). Angenommen ein Begriff A hat den Zahlenwert x, ein Begriff B den Zahlenwert y; ist der Begriff C aus A und B zusammengesetzt, so ergibt sich sein Zahlenwert z durch die Multiplikation A und B, also durch Multiplikation x und y. Was wie eine abstruse Zahlenmystik anmuten mag, folgt einem kühnen, rationalistischen Programm. Begriffsverhältnisse sollen berechnet werden können, so dass eine Begriffsanalyse als einfache Division operationalisiert werden kann (Leibniz 1679: 83).13 Ob ein Widerspruch vorliegt, kann dann durch eine Berechnung geprüft werden. Widersprüchliche Begriffsbildungen führen nämlich zum Ergebnis einer nicht natürlichen Zahl (Leibniz 1679: 83 f.) Begriffsanalyse ist jedoch nicht der einzige Zweck. Die Kühnheit des Leibniz’schen Kalküls wird aus einer Nebenbemerkung ersichtlich, welche die Reichweite seines Entwurfs darlegt: Die Faktorisierungsregel für die Zuordnung der Zahlenwerte „reicht übrigens aus, mit unserem Kalkül alle Dinge der ganzen Welt zu erfassen.“ (Leibniz 1679: 73 – Hervorhebung AK) Das Kalkül leistet eine Abbildung der gegebenen 12 Leibniz 1684: 41: „Aposteriori erkennen wir aber die Möglichkeit, wenn wir erfahren, daß die Sache tatsächlich existiert.“ Vgl. auch Leibniz (1679-1685): 139. 13 Burkhardt (1980: 337) sieht den Übergang von Sprache zu Rechnung in Leibniz’ zentraler Annahme eines Enthaltenseins des Prädikats im Subjekt, so wie eine Zahl in einer anderen enthalten sein kann und daher durch diese dividiert werden kann. – Es ist offensichtlich, dass das Leibnizsche Kalkül nicht realisierbar ist, weil es voraussetzt, wozu es führt: Adäquate Begriffsverhältnisse, welche erst Zahlenordnungen auf basaler Ebene ermöglichen. Das ist nur ein Grund für dessen unmögliche Durchführung. Dem dahinter stehenden Theorieideal tut dies keinen Abbruch, dieses ist in den Formalisierungsanstrengungen vor allem des 20. Jahrhunderts auch in verschiedenen Formen wirksam gewesen. Vgl. zur Geschichte der Formalisierung Krämer 1988, insbesondere das Kapitel zum „Leibnizprogramm“: 100-113. 52
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Welt, aber mehr noch: Es eignet sich offensichtlich auch zur Entdeckung (noch) nicht verwirklichter, aber realisierbarer Möglichkeiten, indem es konsistente Kombinationen mühelos herzustellen erlaubt (ebd.). Mittels dieser Begriffstechnik können auch technische Erfindungen gemacht werden. „Es ist Sache der kombinatorischen oder synthetischen Veranlagung, Nutzen und Anwendung von etwas zu entdecken“ (Leibniz 1679-1685: 141). An dieser Stelle liegt also der Übergang von Begriffstheorie und Kalkül zum Problemthema Möglichkeit und Kontingenz: Mit der Begriffstheorie und dem Begriffskalkül, den zentralen Dimensionen Synthese und Analyse ist ein logischer Raum an Möglichkeiten entworfen. Mehr noch: ein Generator von Möglichkeiten. Die Kombinatorik erlaubt nicht nur verwirklichte Möglichkeiten zu rekonstruieren, sondern einen Überschuss an möglichen Möglichkeiten zu generieren; dieser Überschuss im Vergleich zum aktuell Gegebenen ist immens, denn es gibt unendlich viele (kombinatorische) Möglichkeiten, während nur endlich viele aktualisiert worden sind.
Begrenzung von Kontingenz durch die Figur des vernünftigen Gottes Der Befund ist also: Es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Dennoch gibt es nur diese eine Welt. Es gibt zwei Stufen, auf denen die Möglichkeiten reduziert werden: durch Vernunftnotwendigkeiten und durch Gott. Auf der ersten Stufe wird der Möglichkeitsraum durch Notwendigkeiten begrenzt. Es handelt sich um das, was Leibniz „Vernunftwahrheiten“ nennt. Es geht um „ewige Wahrheiten“, was daran liegt, dass sie „absolut notwendig“ sind (Leibniz 1710: 71). Das heißt aber, sie gelten in jeder möglichen Welt. Und zugleich: Sie beschränken die Anzahl möglicher Welten. Denn deren Notwendigkeit hat ein klares Kennzeichen für Leibniz: Die Verneinung der Vernunftwahrheiten, die Annahme ihres Gegenteils, führt zu einem Widerspruch. Möglich ist, wie bereits angemerkt, für Leibniz alles, was widerspruchsfrei ist. Die Notwendigkeit dieser Vernunftwahrheiten im engeren Sinne ist eine „logische, metaphysische oder geometrische […], die man nicht bestreiten kann, ohne der Ungereimtheit überführt werden zu können.“ (Leibniz 1710: 71) Die Stellung dieser Vernunftwahrheiten drückt sich darin aus, dass auch Gott sie nicht wählen, verändern, negieren kann. Das ist anders bei den Naturgesetzen: „Dessenungeachtet bleibt es allemal wahr, daß die Naturgesetze der Dispensation durch den Gesetzgeber unterliegen, während die ewigen Wahrheiten, wie die der Geometrie, überhaupt 53
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unerläßlich sind“ (Leibniz 1710: 73). Die Vernunftwahrheiten begründen sich für Leibniz daher durch ein Prinzip, nämlich das des Widerspruchs. Damit verbleibt allerdings noch immer ein ungeheures Übermaß, nämlich eine Unendlichkeit an Möglichkeiten. Denn die logisch kompatiblen Möglichkeiten müssen in allen ihren möglichen Abfolgen, also allen möglichen Prozessen gedacht werden (Leibniz 1710: 220 f.). Alle logischen Möglichkeiten (nun nicht mehr nur als mögliche begriffliche Kombinationen, sondern auch als mögliche Prozesse möglicher Kombinationen verstanden) sind aber für sich gesehen kontingent in der Frage, welche von ihnen aktualisiert wird (Leibniz 1686: 179). Diese unendliche Region des Kontingenten trägt bei Leibniz den berühmten Titel einer „unendlichen Anzahl möglicher Welten“ (Leibniz 1710: 271).14 Neben der Begrenzung begrifflicher Kombinationsmöglichkeiten durch das Prinzip der Widerspruchsfreiheit bedarf es daher einer zweiten Limitation. Diese muss als das Nadelöhr fungieren, durch welches die Selektion der unendlich vielen möglichen Welten zur einzigen wirklichen erfolgt. Diese Funktion erfüllt Gott als „Kontingenzformel“.15 Denn die Dinge, die begrenzt sind, wie alles, was wir sehen und durch Erfahrung kennen, sind zufällig und haben nichts an sich, was ihr Dasein notwendig macht, da es offensichtlich ist, daß Zeit, Raum und Materie, die in sich selbst eins und gleichförmig und gegen alles gleichgültig sind, auch ganz andere Bewegungen und Gestalten in einer ganz anderen Ordnung annehmen konnten. Man muß also den Grund für das Dasein der Welt, die aus dem gesamten Gefüge der zufälligen Dinge besteht, suchen, und zwar muß man ihn suchen in der Substanz, die den Grund ihres Daseins in sich selbst trägt und daher notwendig und ewig ist. (Leibniz 1710: I. Teil, § 7.)
Damit ist ein weiteres zentrales Prinzip von Leibniz angesprochen, das des zureichenden Grundes. Der zureichende Grund könnte nicht (allein) in den kontingenten Dingen gefunden werden (Leibniz 1714: § 7). Die physikalischen Notwendigkeiten, die aber nicht im logischen Sinne strikt notwendig sind, müssen daher auf die moralische Notwendigkeit des allmächtigen, allwissenden, aber vor allem allgütigen Gottes zu-
14 Vgl. zu einem Versuch Leibniz’, diese Unendlichkeit darzustellen und erahnen zu lassen, sein Pyramidengleichnis in der Theodizee, §§ 413-417. Die Pyramidenform stellt gleichzeitig den Selektions- und Legitimationsdruck angesichts der Möglichkeiten dar. An der Spitze kann es nur eine Welt geben, und deren Kontingenz möchte Leibniz vom Fundament als allen anderen Möglichkeiten tragen und absichern lassen. 15 Vgl. zu diesem Terminus von Luhmann 2000: Kapitel 4. 54
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rückgeführt werden, welche allerdings nur eine Notwendigkeit zweiten Grades ist (Leibniz 1710: Abhandlung, § 2).
Das Hervorbrechen der eingedämmten Möglichkeiten mit dem Wegfall Gottes. Undifferenzierte Kontingenz Leibniz‘ Lösung ist also Gott, um Kontingenz und Möglichkeitsüberschuss einzudämmen. Das hat jedoch eine gravierende Folge: Die Kontingenzreduzierung über die Vernunftfigur Gott führt dazu, dass mit dem Niedergang dieser Figur die durch sie eingedämmte Kontingenz wieder frei gesetzt wird. In diesem Sinne schreibt Blumenberg: Was von Leibniz’ bester aller möglichen Welten ontologisch nachhaltig übrig bleibt, ist nicht die ‚beste Welt‘, sondern die Unendlichkeit der möglichen Welten, die eben dann bewußtseinsattraktiv wird, wenn die wirkliche Welt nicht mehr die ausgewählt-beste glaubhaft repräsentiert. (Blumenberg 1957: 42)
Blickt man nun darauf, was Leibniz der nachfolgenden Diskussion nach dem Wegfall der Gottesfigur hinterlassen hat, erfasst man die angesprochene Situation: Einerseits ist da der technisch-attraktive Gedanke einer Vielzahl möglicher Welten. Dieser Gedanke liegt im Umkreis der durch Technik zu schaffenden neuen Möglichkeiten. Es ist absehbar, wie attraktiv technische Rationalität diesen Gedanken finden muss. Andererseits hinterlässt Leibniz keinen qualifizierenden Begriff von Kontingenz: Ob sich eine Welt ändert oder ein innweltliches Ereignis verschiebt, ist bei ihm dasselbe. Denn eine andere Welt ist schon gegeben, wenn nur ein belangloser Unterschied besteht: Ob Caesar eine gerade Anzahl von Haaren auf seinem Kopf hatte, als er starb, oder eine ungerade, kennzeichnet den Unterschied zweier Welten. Ob Caesar ermordet wird oder nicht ebenfalls. Kontingent ist alles gleichermaßen. Änderungen „im Großen und Ganzen“ sind und können von Minimaländerungen begrifflich nicht unterschieden werden. Für eine Theorie der Potenzialerwartung entsteht damit das genannte Problem, Möglichkeit im Sinne von Potenzial und Möglichkeit im Sinne von Kontingenz zu unterscheiden. Eine ausgezeichnete Dignität haben Vernunftwahrheit, Vernunftüberlegung und folglich vor allem Notwendigkeit. Alles andere betrifft lediglich Tatsachen und ist daher bloß empirisch (Leibniz 1714: § 5). Auch wenn in der Nachfolge Leibniz‘ – und nach dem Fall Gottes – dann der immense Überschuss an Möglichkeiten attraktiv wird, kann er mittels dieser Regionalisierung und seiner Zuordnung zum Bereich bloß kontingenter Tatsachen begrifflich nicht verstanden werden. Was unter55
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scheidet die Kontingenz neuer Potenziale gegenüber technischen Änderungen? Was unterscheidet eine Welt, in der alles anders wäre, von einer Welt, in der nur ein einziges Ereignis anders wäre, als in der gegebenen? Weder dieser Kontingenzbegriff noch der Weltbegriff bieten für die Fragen einen Ansatzpunkt. Kontingenz ist also beides: Voraussetzung und Depotenzierung technologischer Potenziale. Man benötigt den Kontingenzbegriff, jedoch reichen die Beschreibungsmöglichkeiten nicht aus, die man mit ihm gewinnt. Diese begrifflichen Vorgaben sind somit hinderlich, um Potenzialerwartungen zu begreifen. Man mag vielleicht einwenden, dass diese Ordnung des Wissens keine aktuelle Bedeutung mehr hat. Der Kontingenzbegriff ist viel prominenter geworden und scheint das gesamte Wissen zu dominieren. Damit ist das angesprochene Problem aber ja in keiner Weise gelöst. Im Gegenteil sind die Beschreibungsmöglichkeiten und damit Unterscheidungsmöglichkeiten nicht reicher geworden. Man bewegt sich weiterhin im Erbe begrifflicher Vorgaben dieser Wissensordnung, wenn man sie einseitig auflöst. Ein Zurück zum Vernunftwissen ist aber keine aussichtsreiche Option. Die Frage ist, welche Alternativen bestehen. Gegenwärtig werden bzw. wurden vielfach Philosophien des Ereignisses konzipiert. Das Ereignis ist dasjenige, welches den Möglichkeitsraum selbst re-definiert. Empirische Beschreibungschancen für technologische Potenziale sind damit allerdings gerade nicht gegeben. Das Ereignis selbst gilt als paradoxer Ursprung von Ordnungen, der sich selbst jeder Beschreibung durch diese Ordnung entzieht.16
2 . K a n n e i n a l t e r n a t i ve s I n s t r u m e n t g e b i l d e t werden? Innerweltliche Nichtkontingenz Fassen wir kurz zusammen: Wir suchen eine Antwort auf die Frage, wie technische Potenziale und Potenzialerwartungen entstehen, die Antwort sollte darlegen, was an den Technologien selbst potenzialhaft ist. Dazu fehlen die begrifflichen Mittel. Um diese Antwort zu gewinnen, müssen begriffliche Instrumente für bedeutende empirische Veränderungen gefunden werden: also Unterscheidungen bloß kleiner Änderungen im Erfahrungsbereich von solchen, die irgendwie „das Ganze“ der Erfahrungen grundlegend ändern. Die bisherigen Argumentationsschritte 1-3 werden im Überblick in der nachfolgenden Abbildung 2 dargestellt. 16 Die meisten der die Ereignisphilosophie resümierenden Beiträge in Rölli 2004 operieren mit einem solchen Verständnis von Ereignis, was angesichts der Wirksamkeit von Heidegger in diesem Bereich (und damit der paradoxen Figur von Entbergen/Verbergen) nicht verwundert. 56
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Da es um Unterschiede im Erfahrungsbereich geht, sind transzendentaltheoretische Erklärungsmodelle von vornherein ausgeschlossen. Es geht um eine immanent „empirische“ Antwort. Wie könnte eine solche „empirische“ Annäherung an das Potenzial von Technologien aussehen? Abbildung 2: Der bisherige Gang der Argumentation
2.1 Wittgensteins Manuskripte Über Gewißheit Wittgensteins posthume und unter dem Titel Über Gewißheit zusammengestellte Manuskripte stellen keinen Beitrag zu einer Techniktheorie dar. Trotzdem sind sie in unserem Zusammenhang ungemein wichtig, da sie ein begriffliches Instrumente ausarbeiten, welches die genannte immanent empirische Unterscheidung ermöglicht. Wittgensteins eigenes Anliegen ist eine Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus, genauer mit George Edward Moores Widerlegungsversuchen des Skeptizismus.17 Viele Sätze, deren Status Wittgenstein testet, sind Zitate aus Moores Schriften, von denen Moore behauptet, dass sie gewiss oder beweisbar sind. Es handelt sich um Sätze wie: ‚Hier ist eine Hand – und hier eine zweite‘, ‚Es existiert gegenwärtig ein lebender menschlicher Körper, welcher mein Körper ist‘, ‚Die Erde hat, viele Jahre bevor ich geboren wurde, existiert‘.18 Wittgensteins Schrift wurde daher unter dem Gesichtspunkt einer Diskussion von Moores 17 Die beiden Referenztexte von George Edward Moore sind: „A defence of common sense“ (1925) und „Proof of the external world“ (1939). 18 Solche Beispiele führt G. E. Moore in „A defence of common sense“ (1925) an. 57
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Thesen gegen den Skeptizismus gelesen (Cook 1996; Kober 1993: Kap. 4.2) Darum wird es jedoch im Folgenden nicht gehen; vielmehr ist meine Absicht herauszuarbeiten, welchen Beitrag zur Frage von Kontingenz, Geschichte und Welt diese Schrift bietet. Wittgensteins Überlegungen in Über Gewißheit basieren nämlich auf einer immanenten Unterscheidung empirischer „Sachverhalte“. Diese Unterscheidung und das ihr zugrundeliegende Konzept bietet den gesuchten Ansatzpunkt für die Frage nach der Entstehung von Potenzialerwartungen. Im Mittelpunkt der Manuskripte Über Gewißheit steht der Status von Sätzen wie ‚Hier ist eine Hand – und hier eine zweite‘, ‚Es existiert gegenwärtig ein lebender menschlicher Körper, welcher mein Körper ist‘. In Frage steht dabei, wieso man in der Regel der Meinung ist, dass diese schlecht bezweifelt werden können. Wieso soll ihnen eine besondere Form der Gewissheit zukommen? Was unterscheidet sie von Sätzen wie: Ich habe Peter im Café gesehen? Bei all diesen Sätzen handelt es sich doch um empirische Sätze. Keiner kann damit eine Gewissheit beanspruchen wie sie Vernunftwissen zukommt. Dennoch scheint es einen Unterschied im Ganzen zu machen, ob man sich irrt, wenn man sagt: ‚Hier ist eine Hand – und hier eine zweite‘, oder wenn man glaubt, Peter im Café gesehen zu haben. Eine mögliche Deutung wäre, dass Wittgenstein solche Sätze als grammatische Sätze versteht. Grammatische Sätze sind Sätze, welche die Verwendungsregeln von sprachlichen Ausdrücken angeben. Sie stehen bei Wittgenstein im Gegensatz zu empirischen Sätzen, welche gewissermaßen bloße Züge im Sprachspiel sind, deren Regeln durch grammatische Sätze beschrieben und auch vorgeschrieben werden. Insofern Wittgenstein logische Fragen als grammatische Fragen behandelt – es geht um Richtigkeit, nicht um Wahrheit –, würde damit bloß jene Zweiteilung variiert, welche, in anderer Form, bei Leibniz, Hume und Kant zum Problem wurde.19 Das ist aber meines Erachtens nicht der Fall. Oben genannte Sätze als grammatische zu verstehen, würde zwar eine Antwort darauf sein, was sie von „bloß“ empirischen unterscheidet. Es wäre aber keine Antwort, warum ihnen irgendeine besondere Form der Gewissheit zukommen sollte. Wittgenstein versteht Moores Sätze nicht als grammatische Sätze. Das würde gerade an seiner Pointe vorbei gehen.20
19 Zur Frage, ob Wittgenstein in Über Gewißheit transzendental argumentiere, vgl. Kellerwessel 1998. 20 Vossenkuhl (1995: 222) spricht daher zu Recht davon, dass Wittgensteins Überlegungen zu Gewissheit wahrheitstheoretisch eher irrelevant sind. 58
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2.2 Eine andere Art von Sätzen „Ich weiß, daß hier eine Hand ist […], es ist nämlich meine Hand“.21 „Ich weiß, daß ich ein Gehirn habe“ (4). [J]eder Mensch [hat] zwei menschliche Eltern“ (239). Sätze dieser Art sind es, welche den Gegenstand von Über Gewißheit darstellen. Wittgensteins Auskunft ist zunächst abschlägig. Es ist fraglich, so Wittgenstein, ob es sich um sinnvolle Sätze handelt. „Ich weiß, daß hier ein kranker Mensch liegt? Unsinn! Ich sitze an seinem Bett, schaue aufmerksam in seine Züge. – So weiß ich also nicht, daß da ein Kranker liegt? – Es hat weder die Frage noch die Aussage Sinn.“ (10) Warum? Für Wittgenstein handelt es sich zunächst einmal um künstliche Sätze; es sind Sätze, die allenfalls im Sprachspiel einer Theorie vorkommen. Zunächst sieht alles danach aus, als wenn es Wittgenstein nur darum ginge, dass die Regeln des Sprachspiels von ‚Ich weiß‘ verfehlt werden. „Kann man nun (wie Moore) aufzählen, was man weiß. So ohne weiteres, glaube ich, nicht.“ (6) In der Tat sucht Wittgenstein einige der Regeln dieses Sprachspiels zu explizieren. So zeige die Praxis, was man wisse oder worin man sich sicher sei (7). Nicht jede Situation sei passend für den Gebrauch der Worte ‚Ich weiß‘, insbesondere aber nicht jene, in der etwas unzweifelhaft ist; vielmehr werden sie in unsicheren Situationen verwendet (10). Ein frühes vorläufiges Fazit lautet denn auch: „Man sieht eben nicht, wie sehr spezialisiert der Gebrauch von ‚Ich weiß‘ ist.“ (11) Wissen ist widerlegbar – damit ist nicht eine Aussage über Wissenschaft noch eine Quasi-Verwissenschaftlichung des Alltags gemeint. Sondern: Zum Sprachspiel von Wissen gehört, dass ‚Ich weiß‘ prinzipiell transformiert werden kann in: „‚Ich glaubte, ich wüsste es‘“ (12). Die Diskussion des Gebrauchs von ‚Ich weiß‘ dient Wittgenstein aber weder als Testfall für den Skeptizismus noch als Beleg der Relativität von Wissen. Das ‚Ich weiß‘ fungiert eher als eine Art Scheidewasser. Es macht eine Gruppe von Sätzen sichtbar, welchen besondere Eigenschaften zukommen – und dazu zählt auch, dass diese Sätze „als eine Selbstverständlichkeit hingenommen, nie in Frage gezogen, ja, vielleicht nie ausgesprochen“ werden (137). Es ist aber auch nicht ihre bloße Selbstverständlichkeit, welche diese Sätze kennzeichnet. Wittgenstein begnügt sich nicht damit, dass diese durch ihre nicht erklärbare Selbstverständlichkeit der Thematisierung und dem Zweifel entzogen sind. Vielmehr kennzeichnet sie ihr Spannungsbogen: Sie sind nicht notwen-
21 Wittgenstein 1951: § 19. – Alle nachfolgenden Angaben in Klammern bezeichnen, soweit nicht anders angegeben, die Paragraphen in diesem Text. 59
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dig und dennoch nicht einfach kontingent. Ihre Nichtkontingenz besteht aber wiederum nicht in einer epistemischen Entzogenheit oder normativen Tabuisierung durch Selbstverständlichkeit. Wittgenstein bietet eine feingranulare Auflösung ihres besonderen Status an. Dabei zeigt er, warum sie schlechterdings nicht in Frage gestellt werden können, obgleich sie geschichtlich wandelbar sind. Sätze der oben angeführten Art sind in keiner Weise logisch zwingend. Sie sind negierbar, ohne dass es zu einem logischen Widerspruch kommt. Formallogisch gesehen gibt es keinen Grund, nicht zu sagen: ‚Dies sind nicht meine Hände‘. Dennoch kommt dem Satz eine eigentümliche Form von Gewissheit zu. „Wann aber ist etwas objektiv gewiß? – Wenn ein Irrtum nicht möglich ist. Aber was für eine Möglichkeit ist das? Muß der Irrtum nicht logisch ausgeschlossen sein?“ (194) Man könnte nun meinen, diese Gewissheit sei durch eine besondere Form von Erfahrung gegeben, welche unmittelbar versichert, dass es sich um die eigenen Hände handelt. Doch dies ist nicht so entscheidend, wie an einem anderen – und man könnte hinzufügen: in seiner Historizität viel deutlicheren – Körperteil erkennbar wird: Aber wie ist es mit einem Satz wie ‚Ich weiß, daß ich ein Gehirn habe‘? Kann ich ihn bezweifeln? ‚Es spricht alles dafür, und nichts dagegen.‘ Dennoch läßt es sich vorstellen, daß bei einer Operation mein Schädel sich als leer erwiese. (4)
Die logische Möglichkeit ist gegeben, an diesem Maß gemessen wird es zu einem Zufall, dass es sich so verhält: „Seltsamer Zufall, daß alle die Menschen, deren Schädel man geöffnet hat, ein Gehirn hatten!“ (207) Die Frage ist nun genauer: Woher kommt diese Gewissheit? „Auch darin, ‚daß hier eine Hand ist‘, kann man sich irren. Nur unter bestimmten Umständen nicht.“ (25) Nun könnte eben eingewandt werden: Logisch besteht die Irrtumsmöglichkeit. Das aber ist, wie nun zu sehen sein dürfte, nicht Wittgensteins Punkt. Entscheidend ist vielmehr: Ein Irrtum hier wäre von ganz anderer Art. Es handelt sich nicht darum, daß Moore wisse, es sei da eine Hand, sondern darum, daß wir ihn nicht verstünden, wenn er sagte ‚Ich mag mich natürlich darin irren.‘ Wir würden fragen: ‚Wie sehe denn so ein Irrtum aus?‘ – z. B. die Entdeckung, daß es ein Irrtum war? (32)
Anhand der Frage nach der Art des Irrtums bestätigt sich der Unterschied zwischen verschiedenen Sätzen, welcher sich schon durch die im einen Fall gegebene, im anderen Fall aber unsinnige Verwendung des 60
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Wortes ‚wissen‘ anzeigte. „‚Die Existenz der äußeren Welt bezweifeln‘ heißt ja nicht, z. B., die Existenz eines Planeten bezweifeln, welche später durch Beobachtung bewiesen wird.“ (20) Zwischen beiden Sätzen liegt ein Unterschied in der Art, in der Bedeutung, in den Konsequenzen, welche ein Irrtum hätte. „Nicht alle Korrekturen unsrer Ansichten stehen auf der gleichen Stufe.“ (300) Diese Situation ist also nicht dieselbe für einen Satz wie ‚In dieser Entfernung von der Sonne existiert ein Planet‘ und ‚Hier ist eine Hand‘ (nämlich die meine). Man kann den zweiten keine Hypothese nennen. Aber es gibt keine scharfe Grenze zwischen ihnen. (52)
Gleichwohl es keine scharfe Grenze zwischen ihnen gibt, handelt es sich auch nicht um einen lediglich graduellen Wandel. „Es ist nämlich nicht wahr, daß der Irrtum vom Planeten zu meiner eigenen Hand nur immer unwahrscheinlicher werde. Sondern er ist an einer Stelle auch nicht mehr denkbar.“ (54) Der bisherige Befund von Wittgensteins Untersuchung lässt sich wie in der folgenden Tabelle zusammenfassen. Tabelle 3: Unterschiede zwischen „empirischen“ Sachverhalten „Hier ist eine Hand (nämlich die meine).“
„In dieser Entfernung von der Sonne existiert ein Planet“
Beide Sätze sind nicht logisch wahr, es handelt sich nicht um analytische Sätze (Vernunftwahrheiten) Form der Gewissheit, die VerWissen, nicht Gewissheit nunftwahrheiten gleichkommt. Irrtum theoretisch „möglich“, aber Irrtum möglich und denkbar; praktisch schwer denkbar. Was wenn man irrte, hätte es überwürde es heißen, wenn man sich schaubare Konsequenzen hier irrte? Was unterscheidet dann diese beiden Arten von „Erfahrungssätzen“?
Es hieß soeben im Zitat, ein Irrtum wäre nicht denkbar. Wie ist das gemeint? In welchem Sinne wäre er nicht denkbar? Klar ist nur: Die logische Unmöglichkeit kann nicht gemeint sein.
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2.3 Die Topologie von Angelsätzen: weder notwendig noch kontingent Inwiefern sind Irrtümer in solchen Urteilen ‚nicht mehr denkbar‘, sofern sie doch als Möglichkeit vorstellbar sind? Um eine Antwort darauf zu finden, muss man sich erneut die unterschiedlichen Konsequenzen vor Augen führen, die ein Irrtum mit sich brächte. Täuscht man sich in der Jahreszahl eines geschichtlichen Ereignisses, so wäre die Konsequenz, dass man seine Aussage darüber korrigiert (66). Diese Änderung kognitiver Erwartungen, wie Luhmann es nennen würde, ist Wissen. Täuscht man sich in der Behauptung, dass das meine Hand ist, dann ist selbstverständlich die Konsequenz eine andere. Ich möchte sagen: ‚Wenn ich mich darin irre, so habe ich keine Gewähr, daß irgend etwas, was ich sage, wahr ist.‘ (69)
Warum fallen die Konsequenzen aber so unterschiedlich aus?22 „Unsere ‚Erfahrungssätze‘ bilden nicht eine homogene Masse.“ (213) Bestimmte Sätze stellen eine Art dichten Knotenpunkt im Netz von Sätzen dar – diese Position ist entscheidend. Wittgenstein nennt sie auch Angelsätze, warum wird gleich deutlich werden. Diese Angelsätze – wie hier im Beispiel: Alle Menschen haben Eltern – gewinnen ihren besonderen Status allerdings nicht aus sich heraus, sondern allein daraus, dass sie viele Relationen zu anderen Elementen (Sätzen/Annahmen) unterhalten. Abbildung 3 verdeutlicht diese Relationen.
22 Um die Unterschiede zwischen diesen beiden Arten von Aussagen und Irrtümern zu umreißen, verwendet Wittgenstein eine Reihe von Begriffen und Metaphern wie System, Netz, Hintergrund, Fluss und Flussbett, Weltbild und Angelsatz. An dieser Stelle darf unsere Deutung von Wittgenstein nicht ihre Spannung verlieren. Diese Metaphern führen leicht dazu, Wittgensteins feine Argumentation auf bekannte Denkfiguren zurückzuführen. Sie legen eine Ähnlichkeit mit inzwischen recht gut bekannte Theoriestücken nahe: „Die Wahrheit gewisser Erfahrungssätze gehört zu unserem Bezugssystem.“ (83) Das klingt dann so, als wenn es ein Kontext oder ein Theorierahmen sei, aus dem heraus allein die Bedeutung zu verstehen sei. Statt Horizont also System, statt Welt also Weltbild, statt Rahmen also Hintergrund – was in diesem Fall meines Erachtens zumeist schlechtere Metaphern wären, wenn es sich um die gleiche oder eine ähnliche Sache handelte. Es geht aber nicht um Rahmen oder Ähnliches. Es geht um Unterschiede innerhalb der Erfahrungen. 62
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Abbildung 3: Relationen eines Angelsatzes Witze Verwandtschaftsverhältnisse Normen
Entwicklungsprozesse
Wahrnehmungen
Redeweisen
Alle Menschen haben Eltern
Der Angelsatz „Alle Menschen haben Eltern“ hat etwa Bezüge zu basalen Verwandtschaftsverhältnissen (Mutter/Vater, Tochter/Sohn), zu Entwicklungsprozessen (Autonomie, Ablösung), zu Wahrnehmungen (Ähnlichkeit von Mutter und Sohn beispielsweise), Redeweisen („Apfel fällt nicht weit vom Stamm“), zu Normen (Achtung, Fürsorge, Liebe), zu Witzen. Seine dichte Position im Netz hat zur Folge, dass, wenn ein solcher Angelsatz in Frage gestellt wird, nicht nur er, sondern auch die auf ihn bezogenen Sätze in Frage stehen. „Das, woran ich festhalte, ist nicht ein Satz“, schreibt Wittgenstein mit Bezug auf diesen dichten Knotenpunkt, „sondern ein Nest von Sätzen“ (225). Wird ein solcher Satz in Frage gestellt, dann steht auch das Netz der anderen Sätze in Frage. Jener besondere Typ von empirischem Satz, gewinnt seinen besonderen Status daher nicht aus sich heraus: Seine schwer zu vollziehende Anzweifelbarkeit, seine besonderen Konsequenzen, welche seine Falschheit bedeuten würde (derart, dass von Irrtum in Bezug auf ihn nur schlecht gesprochen werden kann), seine Gewissheit, die kaum zum Thema wird und daher auch nicht als Form von Wissen angesprochen werden kann, gewinnt er dadurch, dass die anderen (zum Teil „bloß“ empirischen) Sätzen ihn stützen. „Wären sie isoliert, so könnte ich etwa an ihnen zweifeln“ (274). Ein Zweifel an ihm würde jedoch auch die mit ihnen verbundenen Sätze und Praktiken in Frage stellen, und zwar in einer Weise, dass nicht einmal mehr genau klar wäre, was ein Irrtum hier bedeutete. Was passiert also, wenn ein Angelsatz negiert wird? Wird etwa der Angelsatz, „Alle Menschen haben Eltern“ negiert, dann führt das, wie Abbildung 4 verdeutlicht, zur Konsequenz, dass eine nicht überschaubare Anzahl weiterer Formen mitaufgehoben, gleichsam co-negiert wird. Derartige Sätze haben keine isolierte Stellung. 63
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Abbildung 4: Co-Negation im Fall einer Aufhebung von Angelannahmen
Witze Verwandtschaftsverhältnisse Normen
Entwicklungsprozesse
Wahrnehmungen
Redeweisen
Alle Menschen haben Eltern
Witze Verwandtschaftsverhältnisse Normen
Entwicklungsprozesse
Wahrnehmungen
Redeweisen Alle Menschen haben Eltern
Dieser Sachverhalt motiviert Wittgensteins Rede vom System. „Aber dies [ein Irrtum hier] würde gar nicht zu meinen übrigen Überzeugungen passen. Nicht, als ob ich das System dieser Überzeugungen beschreiben könnte. Aber meine Überzeugungen bilden ein System, ein Gebäude.“ (102) Diese Ordnung hat eine eigenartige Topologie – das ist entscheidend. Sie gleicht weder einfach einem homogenen Netz, noch lässt sich in die von Fundament und Gebäude übersetzen. Jene besonderen empirischen, aber nicht einfach kontingenten Sätze stellen keinesfalls Axiome dar. „Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.“ (142)23 Stattdessen spricht Wittgenstein von ihnen auch als Angelsätzen: weil sie die An23 Es sind daher auch nicht Hypothesen, von denen ausgegangen wird. Im Gegenteil besteht hier ein scharfer Gegensatz (402). Denn eine Hypothese kann leicht durch eine andere ersetzt werden, in ihrer leichthändigen Probiermöglichkeit liegt ihr experimenteller Vorzug. 64
WELCHE BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE STEHEN ZUR VERFÜGUNG?
geln seien, „in welchen jene [einfach empirischen Sätze] sich bewegen.“ (341) Da es Wittgenstein zum einen um Gewissheit geht und er selbst das Sagen dieser Gewissheiten in Form von Sätzen problematisiert, werde ich nun statt von Angelsätzen von Angelannahmen sprechen. Unterschiede zwischen den Annahmen bestehen somit, aber das Fundierungsverhältnis ist verwickelter: „Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.“ (248) Wenn es sich um eine Art Grundüberzeugung handelt, auf welcher andere Überzeugungen, Meinungen fußen – was ist dann damit gemeint? Genauer: Wie ist das Fundierungsverhältnis zu verstehen, wenn nicht nach Fundament und dem darauf Aufbauenden? Es sind die Praktiken, Annahmen, die Sozialformen, Routinen und Üblichkeiten, welche in der grundlegenden Annahme als in einer Art Knotenpunkt zusammenlaufen. Sie sind es, welche den Knotenpunkt der Änderung und praktischen Anzweifelbarkeit entziehen. Er ist damit relativ unverfügbar, relativ notwendig. Relativ in dem Sinne, dass er nicht aufgrund seiner selbst gewiss ist, ihm eine besondere inhärente Qualität eignete, sondern: weil mit seiner Aufhebung als Knotenpunkt im Netz der Praktiken und Annahmen das Netz der Praktiken und Annahmen in Frage stünde.24 Er gewinnt diesen Status daher alleine durch seine besondere Position, ohne dass er allerdings Fundament ist; vom logischen Aufbau käme ihm eher die Position des Dachfirsts zu.25 Auf das verwendete Beispiel übertragen, heißt das: Die Angelannahme, „Alle Menschen haben Eltern“, wird von den Redeweisen, Normen, Verwandtschaftsverhältnissen, den Witzen, Wahrnehmungen und Entwicklungsprozessen gestützt. Sie legen seine zweifellose empirische
24 Wie überprüft werden kann, gilt dies bei anderen Behauptungen nicht: Wenn ich meine, ich hätte gestern die Schere in die Schublade gesteckt, es zeigt sich aber heute, dass sie auf dem Fensterbrett liegt, dann hat diese keine bedeutsamen Konsequenzen. Meine Welt, mit Wittgenstein zu sprechen: mein Weltbild, ändert sich dadurch in keiner Weise. Ich habe mich getäuscht, über mehr mache ich mir nicht einmal weitere Gedanken. Es sei denn, ich hätte genau beobachtet, wie ich die Schere hinein getan habe, war seitdem nicht mehr an der Schublade und auch sonst war niemand in der Wohnung. An der Bedeutung solcher Umstände ist wiederum zu erkennen: Angelsätze haben nicht eine bestimmte Satzform oder dergleichen. Sie sind nur durch ihre funktionale Position, die Abhängigkeit anderer Formen bestimmt. 25 Dieses kompliziertere Fundierungsverhältnis, aus welchem sich eine Reihe von interessanten Konsequenzen ergeben, ist es, was Wittgensteins Ansatz gegenüber phänomenologischen Fundierungstheorien meines Erachtens voraus hat. 65
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Begründung, es handelt sich um ein inverses Fundierungsverhältnis, wie Abbildung 5 zeigt. Abbildung 5: Das inverse Fundierungsverhältnis
Alle Menschen haben Eltern Witze Redeweisen
Wahrnehmungen
Normen Verwandtschaftsverhältnisse
Entwicklungsprozesse
Mit diesem simplen Zug wird eine ganze Reihe von weiteren üblichen Unterscheidungen unterlaufen oder komplexer angesetzt. Kompaktbegriffe wie Rahmen, Kontext, Hintergrund, auch Netz werden feiner aufgelöst.26 Wittgenstein verwendet zwar selbst einige, aber sie bleiben auf die Binnendifferenzierung bezogen. So ist etwa Wittgensteins Begriff des Weltbilds eng mit jenem besonderen Typ von Angelsätzen verknüpft. Die Angelannahmen sind mitbestimmend für ein jeweiliges Weltbild (93-95). Sie stellen ein Übergangsmoment dar, welches zwischen Welt und Innerweltlichem vermittelt. Der Bruch mit einer Welt, einem Weltbild, kann daher an den Angelsätzen verfolgt werden. Geschichtliche Umbrüche sind verbunden mit der Veränderung von Angelsätzen. Die Frage ist dann allerdings: Können sich Angelannahmen ändern? Bislang klingt es ja so, als wenn diese unwandelbar wären.
2.4 Angelannahmen und Geschichte Auch wenn Wittgenstein selbst nicht viel Aufmerksamkeit auf die Historizität der Angelannahmen verwendet, steht für ihn fest, dass sie sich verändern können: „Menschen haben geglaubt, sie können Regen machen; warum sollte ein König nicht in dem Glauben erzogen werden, mit
26 Wright (1986:187 f.) überlegt daher, inwiefern Wittgensteins Überlegungen zum Weltbild Kuhns Terminus Paradigma ähnlich seien. Man sollte dieses differenzierte Modell aber nicht zu schnell durch Ähnlichkeiten überlagern. 66
WELCHE BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE STEHEN ZUR VERFÜGUNG?
ihm habe die Welt begonnen?“ (92) Nur treten Veränderungen an Angelannahmen, im deutlichen Unterschied zu anderen empirischen Behauptungen, nicht isoliert auf.27 Dies bestimmt ihren zweideutigen Charakter: Sie sind zwar nicht kontingent, aber auch nicht notwendig. Historisch und dennoch nicht einfach kontingent – dieser zweideutige Charakter erklärt sich folgendermaßen. Angelannahmen sind, wie gezeigt, nicht kontingent in dem Sinne, dass es, solange sie gelten, kaum vorstellbar erscheint, es könne anders sein. Sie sind aber nicht für sich genommen notwendig, sondern nur in dem Netz, in dem sie einen zentralen Knoten bilden. Damit ist auch entschieden, wie sich Änderungen vollziehen: diskontinuierlich. Wird eine Angelannahme negiert, dann gerät die Welt aus den Angeln. Der Wandel von Angelsätzen impliziert stets einen Bruch, einen Schnitt in ein Vorher und ein Nachher. Was aufgegeben werden muss, ist ein Gesamt an vertrauten Formen. Im obigen Beispiel wären dies die Sozialformen der Verwandtschaft, die Redewendungen über Eltern und ihre Kinder, die Wahrnehmungen der Ähnlichkeit, die Normen usw. Um ein anderes Beispiel zu geben: Durch einen Satz wie „Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Kosmos“ wird nicht eine empirische Aussage unter anderen getätigt, sondern: Die Welt und ihr Bild werden gleichsam aus ihren Angeln(-annahmen) gehoben, die sie durch Mittelalter und Antike hindurch trugen. Angelannahmen müssen allerdings keineswegs als solche erkennbar sein. Es ist nicht eine bedeutsame Vokabel, eine zentrale Referenz (‚Erde‘), welche einen Angelsatz zu einem solchen macht. Kriterium ist vielmehr, was schon zuvor zur Entdeckung dieses Typs von Gewissheit führte: Nicht-Anzweifelbarkeit, NichtThematisierbarkeit, vor allem aber der nachfolgende Änderungsbedarf, der durch eine Änderung der Angelannahme ausgelöst würde. Als Angelannahme kann daher auch eine relativ harmlose, periphere erscheinende Überzeugung fungieren. Etwa die Behauptung, dass der Jupiter Monde habe. Was taten schon ein paar Trabanten? Sie veränderten ein ganzes Weltbild, wie eine ‚Widerlegung‘ aus dem frühen 17. Jahrhundert zeigt: Es sind sieben Fenster, die den Lebewesen da, wo der Kopf sitzt, gegeben sind, durch welche die Luft in das Tabernakel des Körpers eingelassen wird, 27 Falls eine empirische Behauptung aufgegeben werden muss, hat das zwar auch Folgen. Dann verändert sich ebenfalls der Möglichkeitsbereich: Wenn ich mich darin irrte, dass Peter im Café ist, kann ich auch nicht mehr behaupten, dass er zu der Zeit nicht im Schwimmbad gewesen sein kann. Der Effekt betrifft jedoch die Story-Line, deren Anschlussmöglichkeiten. Damit liegen die Veränderungen auf einer vollkommen anderen Ebene. Vertraute Formen (Handlungsformen, Sozialformen, Wahrnehmungsformen) sind dadurch in keiner Weise betroffen. 67
TECHNIK ALS ERWARTUNG
um ihn zu erleuchten, zu wärmen und zu ernähren. Welches sind nun diese Teile des Mikrokosmos? Zwei Nasenlöcher, zwei Augen, zwei Ohren und ein Mund. Also gibt es im Himmel, dem Makrokosmos, zwei günstige Sterne, zwei ungünstige, zwei leuchtende Himmelskörper und den gleichgültigen Merkur. Aufgrund dieser Tatsache und wegen vieler anderer Ähnlichkeiten in der Natur, wie zum Beispiel die sieben Metalle usw., die aufzuzählen langweilig wäre, können wir schließen, daß die Anzahl der Planeten notwendigerweise sieben ist.28
In Frage gestellt werden durch diesen Angelsatz von den Jupitermonden – einen offensichtlich nichtlogischen Satz – eine Reihe anderer Sätze und vor allem Angelsätze. Angelsätze wie der von der Anzahl der Planeten, dem Feststehen des Kosmos, der Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos. Ändert sich eine solche Annahme, dann ändert sich in gewisser Weise alles.29 Alles ändert sich – wie ist dies zu verstehen? Wittgenstein spricht vom Weltbild, das sich mit den Angelannahmen ändert. Der Terminus Weltbild leitet allerdings fehl. Denn die Rede vom Weltbild suggeriert, dass es vor einen treten kann und dabei überschaut werden kann. Es besteht aber weder diese Möglichkeit der Objektivierung noch die daran anschließende der Überschaubarkeit. Daher wähle ich den phänomenologischen Terminus Welt. Welt tritt nur dann und dann umso mehr hervor, je mehr sie verloren wird. Aber auch dann ist sie nicht überschaubar. Darauf deutete schon die Analyse der Angelannahmen. Angelannahmen treten erst in ihrer in Fragestellung hervor, Wittgenstein sprach auch aus diesem Grund davon, dass der Gebrauch der Wendung „Ich weiß“ in Bezug auf sie nicht sinnvoll sei. Zudem sind Angelannahmen dichte Knoten in einem Beziehungsgeflecht. Dieses ist nicht überschaubar. Es weist kein klares Ende auf, ist verästelt auf kaum zu ordnende Weise, da die Entitäten nur mit ihren Relationen bestehen; also nicht für sich genommen analysiert und geordnet werden können. Dieses Beziehungsgeflecht weist eine Nähe zum phänomenologischen Weltbegriff auf, den Heidegger in Sein und Zeit einführte (Heidegger 1927: § 15f.). Allerdings bleibt Heidegger und der ihm folgenden Phänomenologie dieses Beziehungsgeflecht, Welt als Verweisungszusammenhang, in sich unqualifiziert. Mit Angelannahmen wurde nun eine Präzisierungsmöglichkeit innerhalb des Verweisungszusammenhangs gebildet.
28 Zitiert nach Taylor 1993: 15. 29 Vielleicht noch ein anderes Metaphernangebot zur Konzeptualisierung: Angelsätze verhalten sich wie Elemente, die in der Menge, welche sie umfassen, selbst enthalten sind. So dass mit ihrer Entfernung aus der Menge auch die anderen Elemente der Menge nicht mehr bestehen. 68
WELCHE BEGRIFFLICHEN INSTRUMENTE STEHEN ZUR VERFÜGUNG?
Allerdings sind hieran gleich weitere Präzisierungen anzuschließen. Welt korrespondiert nicht eine Angelannahme. Vielmehr sind mehrere Angelannahmen in jeweiligen Welten funktional bestimmbar. Ferner: Nicht nur Angelannahmen ändern sich, sondern auch, was als Angelannahme auftritt. Es gibt, wie Wittgenstein wiederholt, keine logische oder grammatische Satzform, welche einen Satz zu einem Angelsatz macht. Daher kann derselbe Satz einmal als einfache empirische Behauptung und ein anderes Mal als Angelsatz fungieren. Insofern ist die Rede von den Angeln selbst geschichtlich und situativ. „Die Sätze, die für mich feststehen, lerne ich nicht ausdrücklich. Ich kann sie nachträglich finden wie die Rotationsachse eines sich drehenden Körpers. Diese Achse steht nicht fest in dem Sinne, daß sie festgehalten wird, aber die Bewegung um sie herum bestimmt sie als unbewegt.“ (152; vgl. auch 96 f.) Zur Relativität von Angelsätzen gehört auch ihre Gradualität. Angelannahmen unterscheiden sich von einfach empirischen Annahmen; dennoch gilt, dass „es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.“ (97) Gerade das Kriterium des Änderungsbedarfs, welcher mit der Aufhebung eines Angelsatzes einhergeht, verdeutlicht, dass es sich um graduelle Übergänge handelt – nicht um fertige Klassen. An ihren Extremen treten die Unterschiede deutlich hervor (und das mag auch Wittgensteins Auswahl rechtfertigen), dazwischen findet sich jedoch eine Reihe feinerer Unterschiede. Auch zwischen Angelannahmen bestehen daher Unterschiede. Einige sind so verknotet mit anderen Formen, dass ihre Aufhebung weniger denkbar erscheint, als das bei anderen der Fall ist. Versuchen wir ein Fazit zu ziehen. Was haben wir gefunden? Worum handelt es sich nun bei Angelannahmen? Um transzendentale Formen? Angelannahmen sind geschichtlich und situativ wandelbar. Zudem gibt es zwischen ihnen graduelle Unterschiede. Damit passen sie nicht in den Rahmen einer transzendentalen Logik. Sie sind allerdings auch nicht analytisch. Ihre Verneinung ist nicht widersprüchlich. Sie lassen sich damit auch nicht formallogisch begreifen. Sie sind empirisch, wie Wittgenstein zu Recht mehrfach betont (137, 273, 308). Allerdings handelt es sich um einen besonderen Typ empirischer Sätze. Die wichtigsten Unterschiede zwischen logischen, empirischen und Angelannahmen sind in der nachfolgenden Tabelle zusammengefasst.
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
Tabelle 4: Empirische, logische und Angelsätze Logische Sätze Notwendig
Empirische Sätze Kontingent
Ahistorisch
Historisch
Negation führt zum Widerspruch oder nicht denkbar
Negierbar
Äußerungsform: ‚Es ist gewiss, dass…‘ Vernunft
Äußerungsform: ‚Ich weiß, dass…‘ Erfahrung
Angelsätze Weder notwendig noch einfach kontingent Historisch, aber mit ihrem Wandel ändert sich ein Weltbild Negation denkbar, ohne dass klar ist, was es hieße, sie zu negieren; was dann die Folge wäre Sie werden nur im Krisenfall ausgesagt fundamentale Vertrautheit
Wir haben damit eine Korrektur der zu engen begrifflichen Vorgaben erreicht. Es ist nun möglich (a) kleine Veränderungen von dramatischem Wandel begrifflich zu unterscheiden und sogar (b) die Ansatzstellen, an denen ein plötzlicher Umbruch stattfindet, zu lokalisieren sowie (c) die Verlaufsform des Wandels zu verstehen. Anstelle des zwar notwendigen, aber zu groben Kontingenzkonzepts sind nun feinere Beschreibungsinstrumente gegeben.
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III. D AS E R K L ÄR U N G S M O D E L L
1. Wie Potenzialerwartungen entstehen Die Frage lautet immer noch: Wie entstehen technologische Potenzialerwartungen? Wir können nun den Kern der Erklärung angeben: Neue Technologien stellen (i) Angelannahmen in Frage. Sie führen zur Erwartung, dass diese Angelannahmen mit der Realisierung der Technologie nicht mehr gelten. Wird eine Angelannahme aufgelöst, dann (ii) wird dadurch aber ein Zusammenhang an vertrauten Formen aufgelöst: vertraute Sozial-, Handlungs-, Körper-, Wahrnehmungs-, Denkformen. Insofern kann auch gesagt werden: Potenzialerwartungen bestehen in der Auflösung von Vertrautem. Eine Technologie erscheint umso potenzialreicher, je stärker sie vertraute Welt negiert; je unvertrauter die Welt durch sie würde. Einige Beispiele für diesen Zusammenhang: Wird mit neuen Biotechnologien in Aussicht gestellt, Zeugung würde unabhängig vom Geschlechtsakt, der Schwangerschaft einer Mutter und den naturbedingten Eigenschaften des Kindes (vielmehr könnte diese gezielt technisch bestimmt werden), bedeutete dies die technologische In-Fragestellung der Angelannahme, alle Menschen haben Eltern. Die Folge ist, dass der Kosmos vertrauter Formen ebenfalls in Frage steht, wie die folgende Abbildung im Ausschnitt darstellt.
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
Abbildung 6: Biotechnologie negiert Angelannahme
Witze
Normen
Entwicklungsprozesse Verwandtschaftsverhältnisse Wahrnehmungen
Redeweisen Biotechnologie Alle Menschen haben Eltern
Die Potenzialerwartung entspricht in ihrer Intensität und Größe dem, was an Vertrautem durch die Technologie negiert würde: stabilisierende Rollen (Eltern/Kind) mitsamt Handlungsformen, die darin eingeschlossen sind; emotionale Responsformen (Sorge, Liebe, Vertrautheit, Nähe), die über diese Sozialformen gewonnen werden; Redeweisen; Erziehungsweisen; „normale“ Entwicklungswege als Orientierungsform; Witze; Erzählungen; Verwandtschaftsverhältnisse; Machtverhältnisse, Hierarchie, soziale Priorisierung; soziale Absicherungsformen; Ereignisformen wie Geburtstag; Identitätsbehauptungen und Identifikationsanmutungen; kausale Attributionen (du kommst nach…, du verhältst dich wie…); Wahrnehmungsformen der Ähnlichkeit usw. Gegenüber der Analyse von Angelannahmen bei Wittgenstein ist der Auslöser eines möglichen Umbruchs von Angelannahmen hinzugekommen: Eine in Aussicht gestellte Technologie. Anfang 1900 kam der Gedanke auf, dass (radioaktive) Materie aus Energie besteht und dass diese freigesetzt und genutzt werden könnte. In Aussicht stand, dass Energie in großen Mengen und praktisch kostenlos verfügbar wird. Das bedeutete, dass eine tief in der Erfahrung verankerte Angelannahme – Energie ist knapp – fraglich wurde, die insbesondere durch die Industrialisierung (und damit einem größeren Bedarf nach Energie sowie gleichzeitig einem geschulteren Blick für den rationalen Umgang mit den Ressourcen) eine relationsreiche Angelposition gewonnen hatte. Diese Angelannahme war das Zentrum verschiedener Praktiken der Wirtschaftens (Rationalisierung, Ressourcenplanung) und alltäglicher Umgangsweisen (beim Kochen, Heizen, Licht machen usw.). Ein normativer Blick wurde für diese Knappheit geschult: der Blick für die Verschwendung von Energie. Würde diese Angelannahme negiert, würden die vertrauten Formen gegenstandslos.
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DAS ERKLÄRUNGSMODELL
Abbildung 7: Die Negation der Formen des Wirtschaftens
Rationalisierung, Ressourcenplanung
Gesellschaftlicher Reichtum ist begrenzt
Praktiken des Alltags
Normativer Blick
Mangelerfahrung Atomenergie Energie ist knapp
In derselben Weise kann eine Erklärung für Potenzialerwartungen gefunden werden, die auf die Aufhebung der Endlichkeit des Lebens zielen. Ob Unsterblichkeit durch Kryonik, durch Reproduktionsmedizin oder wie im Transhumanismus informationstechnologisch realisiert werden soll – die Angelannahme, Menschen seien nicht mehr sterblich, gewinnt ihr Potenzial nicht aus sich heraus, sondern aus dem daraus resultierenden Zusammenbruch des vertrauen Kosmos. Die Folgen für das Altern, die Wahrnehmung des eigenen Körpers oder das Setzen von Relevanzen, worauf es in einem „Leben“ ankäme, das nicht mehr Stationen und Einheit kennt, wären immens, ohne dass sie positivierbar wären. Abbildung 8: Position als Negation einer Angelannahme
Neuheit/Wiederholung
Wahrnehmung des eigenen Körpers
Lebenslauf/ Relevanzen
Eltern/Kind Ehe/Liebe
Ernährung
Altern Kryonik, Transhumanismus Menschen sind unsterblich
Anhand der Darstellung in Abbildung 8 ist erkennbar: Eine Potenzialerwartung muss nicht auf der direkten Negation einer Angelannahme beruhen, sie kann auch eine andere Angelannahme setzen, die mit der vertrauten unvereinbar ist („Menschen sind sterblich“ vs. „Menschen sind 73
TECHNIK ALS ERWARTUNG
unsterblich“). In Frage steht dann, wie sich die vertrauten Formen des Alterns, der Ernährung, der Neuheit verändern. Nanotechnologie stellt in Aussicht, Dinge von Grund auf (Atom für Atom) zu konstruieren. Ihr Potenzial gewinnt die Technologie über die damit verbundenen, möglichen Folgen. Die vertrauten Grenzen zwischen natürlich, technisch und lebendig sollen unterlaufen werden, denn für die auf dieser Ebene operierenden Wissenschaftler spielt es keine Rolle, ob etwas lebendig, technisch, natürlich ist; es gibt diese Unterschiede schlichtweg nicht. Auch andere wohlvertraute Unterscheidungen sollen auf die Weise überkommen werden. So soll Materie intelligent werden, ein auf Selbstorganisation, möglicherweise Wachstum beruhender Typus von Technologie soll entstehen – allesamt neue Möglichkeiten, die vor allem eines sind: hochgradig unvertraut, während vertraute Formen schwinden, wie Abbildung 9 darstellt. Abbildung 9: Position und Negation
Grenze von lebendig,
Alles wird zum möglichen
technisch, natürlich
Informationsspeicher
Materie wird
Materie wird zu
intelligent
Material Nanotechnologie
Dinge von Grund auf (Atom für Atom) konstruieren
Das also ist der Kern der gesuchten Erklärung: Technologien setzen an den Angelannahmen an; diese stellen einen reichen Knoten im Netz der vertrauten Formen dar, an ihnen verdichtet sich Welt. Wird die Angelannahme negiert, entsteht ein Vakuum: Der vertraute Kosmos besteht nicht mehr. Das erwartete Potenzial entspricht diesem Vertrautheitsverlust. Die Verbindung von Geschichtsschreibung und Technologie („neues Zeitalter“) sowie von Welt und Technologien (die Nanowelt, die informatisierte Welt, die atomare Welt usw.) findet auf diese Weise eine Erklärung.
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DAS ERKLÄRUNGSMODELL
Exkurs: „Picking Assumptions, not making predictions“ Ein Text des Chemikers und chemischen Biologen George M. Whitesides ist hier von Interesse. Es handelt sich um eine Art Manifest der Chemie. Whitesides fordert, diese müsse, um wieder Bedeutung zu erlangen, die grundlegenden gesellschaftlichen „Assumptions“ in Frage stellen. Ohne dass Whitesides über den Begriff verfügt, wird deutlich, dass er damit meint, die Chemie müsse an den Angelannahmen von Gesellschaft ansetzen. Daher wird dieses Dokument hier kurz referiert. Whitesides Text trägt den Titel: „Assumptions: Taking Chemistry in New Directions“ (2004).1 Wissenschaft wird darin allgemein als Mischung von Ordnung und Außerordentlichem beschrieben. Der größte Teil sei Alltag, ein wesentlich geringerer führe aber zu Revolutionärem, zu Außerordentlichem. Dieses Außerordentliche sei unvorhersehbar, gerade weil es die Ordnung sprenge, welche Prognosen ermögliche. Die radikalen Überraschungen seien eben „unimaginable at the time they are made.“ (3633) Diese Aussagen erinnern an die Unterscheidung des Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn von Normalwissenschaft und wissenschaftlicher Revolution. Kuhn führt die revolutionären Phasen von Wissenschaft auf ein verstärktes Auftreten von Anomalien zurück, also Phänomenen, welche durch die gegebenen und geltenden Theorien nicht erklärt werden können. Kurz: Es kommt nach Kuhn zu einer Krise, welche durch ein neues (Theorie-)Paradigma, das die Anomalien zu erklären vermag, gelöst werden kann (vgl. Kuhn 1962). Bei einem Vergleich von Whitesides Überlegungen mit Kuhns wissenschaftsphilosophischer Arbeit wird allerdings deutlich, worin der gravierende Unterschied besteht: Es geht Whitesides nicht um eine Wissenschaftsgeschichte der Chemie, die nach dem Vorbild Kuhns gedeutet würde. Denn die Krise bei Whitesides ist keine Theoriekrise, sie ist eine Krise der gesellschaftlichen Bedeutung der Chemie. Im Fokus stehen – entsprechender Weise – auch nicht Wissenschaft und Anomalien. Vielmehr geht es um Technik. Whitesides Empfehlung zur Lösung der Krise zielt auf die Aneignung der Zonen, in denen die technologischen Potenziale der Chemie liegen: There is still much to be learned about molecules, bonds, and reactivity, but these subjects seem of different character than aging, machine intelligence, and privacy – more evolutionary than revolutionary. […] I am repeatedly reminded that ‚Chemists work on molecules‘, as if to do anything else were suspect. Chemists do and should work on molecules, but also on the uses of mol1
Alle nachfolgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich – soweit wiederum nicht anders angegeben – auf diesen Text. 75
TECHNIK ALS ERWARTUNG
ecules, and on problems of which molecules may be only a part of the solution. (3634)
Es geht also primär um eine Technologiekrise der Chemie, sie ist zu wenig anwendungsorientiert. Diese Krise soll allerdings nicht – um in der Terminologie Kuhns zu sprechen – durch sozusagen normaltechnische Ergebnisse, sondern durch technologische Revolutionen gelöst werden. Die Chemie „can contract into an invisible part of the infrastructure of technology“. „Chemistry has always been the invisible hand that builds and operates the tools, and sustains the infrastructure.“ Aber: „It can be more.“ (ebd.) Es ist nicht bloß eine unsichtbare Evolution, sondern eben eine technologische Revolution. Whitesides möchte den Anschluss der Chemie an die unterstellten revolutionären Technologiezüge wieder herstellen. Die Frage ist nur: Wie? An diesem Punkt verbinden sich die Überlegungen Whitesides mit Fragen zur Entstehung technologischer Potenziale. Denn Whitesides entwirft ein Programm zur Erzeugung technologischer Potenziale. Er vermutet diese in spezifischen Zonen, an denen (auch) die chemischen Technologien ansetzen müssten: I suggest that a different and perhaps more direct approach to identifying where science might reshape society is to start by identifying areas where change would matter, and then ask if imaginable science might cause this change. (3633)
Diese Areale, diese Zonen sind aber nicht die der Moleküle, sondern die grundlegenden Selbstverständlichkeiten und hochvertrauten Basisannahmen der Gesellschaft. „This Essay is about the assumptions that our society accepts, and the potential of science to sweep aside these assumptions.“ (3634) Ein solches Programm setzt ein ausreichend gelenkiges Kontingenzbewusstsein und vor allem eine Kontingenzgewissheit voraus. Hierbei kann Wissenschaft aber auf ihre eigenen Erfolge zurückblicken. „Failed assumptions are easy to identify in hindsight: they are the facts of daily life that we now accept as routine, but that would, at some earlier time, have provoked a reaction of ‘impossible‘!“ (ebd.) Wie das aber mit Blick auf Zukunft gelingt, ist eine andere Frage. „An assumption is an idea that is taken for granted: it tacitly separates the imaginable from the unimaginable.“ (3633) Grundlegende Annahmen lassen sich nicht leicht ermitteln, dafür gelten sie als zu gewiss, sie sind zu tief eingebunden in Wirklichkeitserfahrungen. Noch schwerer ist es aber, das Unvorstellbare zu imaginieren. Das will Whitesides auch nicht. Denn es geht ihm nicht
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DAS ERKLÄRUNGSMODELL
um eine Ausmalung dessen, wie eine bestimmte Zukunft konkret gestaltet sein könnte. Whitesides’ Verfahren ist darauf begrenzt, die besonders potenzialreichen Zonen zu bestimmen. Diese sind dort, wo es um grundlegend Vertrautes geht, um selbstverständliche Annahmen. „Society changes when it discards a major assumption.“ (ebd.) In diesem Sinne stellt Whitesides eine Liste diverser grundlegender Annahmen, Vertrautheiten, Selbstverständlichkeiten auf wie: Wir sind sterblich, nur lebende Kreaturen denken und wir Menschen denken „am besten“, Menschen und Maschinen sind voneinander verschieden. Whitesides erhebt weder einen Anspruch auf die Vollständigkeit der Liste, noch dass sie ausschließlich an die Chemie adressiert sei – das wäre auch nicht möglich, geht es doch um gesellschaftliche Erregungszonen als technologische Interventionsareale, nicht um spezifische Gegenstände, die eine wissenschaftliche Disziplin konstituieren wie die Zelle, das Molekül oder die Gesellschaft. Aufschlussreich ist jedenfalls, dass Whitesides diese ‚Angelsätze‘ und ihr Potenzial wiederum an dem durch sie ausgelösten Änderungsbedarf im Netz alltäglicher Praktiken, Werte, Überzeugungen lokalisiert.2 Man kann nun skeptisch sein in Bezug auf die erfolgreiche Durchführbarkeit eines solchen technikwissenschaftlichen Revolutionsprogramms. In der Tat sind einige der grundlegenden Annahmen, welche Whitesides anführt und diskutiert auch wenig originell. Die grundlegenden Probleme lassen sich nicht leichthin ausschalten: Das Unvorstellbare kann gerade nicht methodisch erschlossen werden. Die Elimination der von Whitesides angeführten Annahmen ist zumindest abstrakt – was es konkret heißen mag, steht auf einem anderen Blatt – längst vorstellbar. Ein zweites Problem besteht darin, dass mit identifizierten Potenzialzonen, welche in grundlegenden Vertrautheiten verortet werden, keinerlei Hinweis darauf gegeben ist, wie sie sich technisch ausschalten lassen. Aber das ist auch gar nicht der Punkt. Denn es geht um Potenzialerwartungen. Hierin liegt das Interessante an Whitesides’ Text. Er formuliert ein technologisches Innovationsprogramm, welches die Entstehung von Potenzialerwartungen beschreibt. In diesem Fall sind es nicht zuletzt die eigenen Erwartungen, auf die Whitesides dabei stößt. Aber in Whitesides’ Blick auf die Erregungszonen von Technologieerwartungen finden sich Umrisse eines Verfahrens, welches dem hier gebildeten Modell deutlich ähnelt. Ich komme nach diesem Exkurs wieder zum Erklärungsmodell zurück. Es geht im Folgenden darum, den Kern der Erklärung anzureichern. Mit 2
Vgl. beispielsweise die Fragenlawine, welche schon durch eine erhebliche Steigerung der Lebenserwartung in der Erwartung ausgelöst wird, S. 3635. 77
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Blick auf die oben gegebenen Beispiele von Atom- über die Bio- bis zur Nanotechnologie lassen sich bereits einige weitere Kennzeichen von Potenzialerwartungen erkennen: Realistisch – nicht realisiert: Für Potenzialerwartungen spielt es keine Rolle, ob die Technologien tatsächlich Angelannahmen in der erwarteten Weise auflösen. Es muss realistisch erscheinen, nicht aber realisiert sein. Ob Nanotechnologien einmal tatsächlich dazu führen, dass die Grenzen von Natürlichem, Technischem, Lebendigem außer Kraft gesetzt werden, ist eine Frage etwa der Technikphilosophie, aber deren begriffliche Klärungen fallen nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen zusammen. Potenzialerwartungen – Potenzial: Der Unterschied zwischen Potenzialerwartungen und Potenzialen lässt sich daran anschließen. Potenzialerwartungen können bestehen, ohne dass Potenziale realisiert werden können; das ist eine Selbstverständlichkeit. Allerdings können Potenziale realisiert werden, ohne dass sie erwartet wurden. Dennoch bestehen diese dann in einer Aufhebung grundlegender vertrauter Annahmen. Die Gemeinsamkeit zwischen Potenzialen und Potenzialerwartungen besteht also in der Aufhebung von Angelannahmen – einmal der realisierten, einmal der erwarteten Aufhebung. Deshalb konnte ich beide eine Weile lang gemeinsam behandeln. Negation von Angelannahmen – Position anderer Weltangeln: Neue Technologien können vertraute Angelannahmen unmittelbar negieren. In der Regel geschieht diese Negation jedoch vermittelt. Neue Technologien setzen die Angeln, auf denen eine andere Welt getragen werden kann (vgl. dazu die Abb. 8 und 9). Die vertraute Angelannahme wird dann indirekt negiert, indem sie mit den neuen Weltangeln unverträglich ist. So ist die Position, Energie ist in unbeschränkter Menge und praktisch kostenlos zu haben, zugleich die Negation der Angelannahme, Energie ist knapp. Position und Negation laufen zusammen. Position von Weltangeln bedeutet aber nicht die Position von Welt. Sie bieten lediglich die Anmutung einer anderen, fremden Welt. Werden Angeln einer neuen, einer anderen Welt gesetzt, dann tragen diese Angeln zunächst also noch ein Vakuum. Das ‚Horror vaccui‘ treibt die Spekulation um die gesetzten Weltangeln an. Rasch werden mögliche, erdachte, erwartete Formen versuchsweise eingefügt. Unbestimmte Gewissheit: Potenzialerwartungen zeichnet aus, dass nicht gewusst werden muss, wie die neue Zukunft aussehen würde; gewiss ist nur, dass sie anders und zwar ganz anders wäre. Kunst und neue Technologien: Der Verlust der vertrauten Welt ist der Punkt, der neue Technologien und Kunst verbindet. Beide negieren 78
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die faktische Welt und entwerfen eine andere. Es handelt sich hierbei um eine formale Gemeinsamkeit von Kunst und Technik und nicht um eine „lediglich“ inhaltliche, wie wenn Kunst sich neue Technologien zum Thema nimmt. Zum einen stehen die Angeln, welche neue Technologien setzen, nicht eindeutig fest. Zum anderen sind die Formen (Handlungs-, Sozial-, Denkformen), welche sich in diese Angeln setzen können, von ihnen getragen werden können, um sie zu stabilisieren, nicht logisch aus den Angeln ableitbar. Kunst leuchtet dann die entstandene Kontingenz aus, wenn sie diese nicht als Science Fiction entwirft. Verheißungsvolle – verhängnisvolle Erwartungen: Eine Technologie kann sowohl durch die Negation von Angelannahmen als auch durch die Position einer anderen Welt Erwartungen einer verheißungsvollen oder verhängnisvollen Veränderung auslösen. Die Atomtechnologie etwa kann als Möglichkeit der vollständigen Auslöschung des menschlichen Lebens oder als Verfügbarkeit über unendlich viel Energie erscheinen. Die Dramatisierung neuer Technologien in beide Zukünfte, die verheißungs- und die verhängnisvolle, lässt sich über dieses Modell der Angelannahmen als Verdichtungspunkte von Welt analysieren. Der Kern des Modells ist damit formuliert. Er wird nun schrittweise angereichert. Als leitendes Applikationsbeispiel werde ich die Atomtechnik verwenden. Wo es nötig ist, werde ich dabei die Allgemeinheit des angereicherten Modells auch an anderen Technologien verdeutlichen.
2 . An r e i c h e r u n g e n d e s M o d e l l s Possibilities of an entire new material civilisation are dawning (Frederick Soddy)
Welche Potenzialerwartung entstand mit der Möglichkeit einer Atomtechnologie? Welche Angelannahme(n) stellte sie in Frage? Welche Welt versprach sie zu erschaffen? Welcher geschichtliche Einschnitt wurde mit ihr verbunden? Chronologisch steht die Zufallsentdeckung Antoine Henri Becquerels am Anfang dessen, was dann zur Atomtechnik wurde. Die Zufallsentdeckung war die einer neuen Strahlung im Jahr 1886, bei der erst allmählich deutlich wurde, dass es sich nicht um Phosphoreszenz handelt. Man sprach zunächst von „Uranstrahlung“ oder auch Becquerelstrahlung. Marie und Pierre Curie wiesen jedoch bald weitere strahlende Elemente nach, insbesondere Radium. Ein allgemeines Untersuchungs79
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feld, für das die Curies den Namen „Radioaktivität“ prägten, war entdeckt. Vorangegangen war dem die Entdeckung einer neuen Strahlenart durch Röntgen (was in unmittelbarem Zusammenhang mit Becquerels Versuchen stand), die Entdeckung des Elektrons durch Thomson und die Konkurrenz der Atommodelle. Die Erwartung eines immensen, zu realisierenden Potenzials, das in diesen Entdeckungen liegt, entstand aufgrund dreier Momente, die miteinander verschränkt sind und eine Angelannahme (nicht bloß naturwissenschaftlicher Dimension) in Frage stellen. (1) Mit der Strahlung verbunden ist eine verhältnismäßig große Wärmeentwicklung, welche Marie und Pierre Curie beobachteten. Kleine Mengen an radioaktivem Material strahlen unerhört viel Energie ab. (2) Die Strahlung erfolgt spontan, ohne äußeren Anstoß, also ohne äußere Energiezufuhr. Nicht minder irritierend und alle Erwartungen sprengend: (3) Es ist keine Minderung des Energieniveaus der Strahlung feststellbar. In Frederick Soddys Buch The Interpretation of Radium von 1909, welches auf die ein Jahr zuvor gehaltene öffentliche Vorlesung zurückgeht, verstofflicht sich diese Erwartung im Titel gebenden Element. Radium wird zum Überraschungsfall für die klassische Physik und ihren Energieerhaltungssatz.3 The driving power of the machinery of the modern world is often mysterious, but the laws of energy state that nothing goes by itself, and our experience […] bore this doctrine out, until we came face to face with radium. Nothing goes by itself in Nature, except apparently radium and the radioactive substances. That is why, in radioactivity, science has broken fundamentally new ground. (Soddy 1909: 29)4
Radium scheint keine Minderung der Energieabgabe aufzuweisen, „as you see, this radium to-night is as active as ever. So far, careful measurements have failed to detect the least diminution“. Im Gegenteil, die Energieabgabe steigt sogar eher an: „Rather it increases steadily, rapidly in the first month and slowly for the first few years after preparation.“ (32) Die Spannung ist nachvollziehbar, welche das Rätsel Radium oder allgemeiner die radioaktiven Stoffe der Physik aufgaben. Radioaktivität war jedoch keineswegs ein „nur“ wissenschaftstheoretisches Rätsel; es ging um mehr als einen Paradigmenwechsel innerhalb der Physik. The 3
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Zur Diskurslage gehört, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Hypothese eines Wärmetods des Universums (Entropie) diskutiert wird. Vgl. Boltzmann 1897. Alle nachfolgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf dieses Werk.
DAS ERKLÄRUNGSMODELL
Interpretation of Radium zielt auch auf das technologische Potenzial, das darin aufleuchtet. Soddy charakterisiert seine Zeit als „age of energy“. Die Gesellschaft sei nun vollständig abhängig von Energie („now entirely dependent“), mit der sie in Hinsicht auf ihre vorhandenen Ressourcen verschwenderisch umgehe. Sie vertraut offensichtlich darauf, dass sich ein Nachfolger dafür finden lasse, wenn diese erschöpft sind (30). Die zentrale Potenzialerwartung an den gefundenen radioaktiven Stoff lautet daher: At the present it is sufficient to indicate that radioactivity has introduced a new conception into the fundamental problems of being. By its conclusion that there is imprisoned in ordinary common matter vast stores of energy, which ignorance alone at the present time prevents us from using for the purposes of life, radioactivity has raised an issue which is safe to say will mark an epoch in the progress of thought. (8)5
Radioaktivität stellt also ein neues Konzept dar, welches die fundamentalen Fragen des Seins betrifft, es läutet einen Bruch, eine neue Epoche in der Geschichte des Denkens ein. Um uns herum sind unerhörte Mengen an Energie, und zwar in den gewöhnlichen Stoffen – wir haben es nur bislang nicht gewusst. Das Potenzial radioaktiver Stoffe (in diesem Falle die potenzielle Energie) wird durch Vergleiche dargestellt. Im Vergleich zu Kohle sei zwei Millionen Mal so viel Energie in der gleichen Masse Uran (229). Ein solches Potenzial, das in einem winzigen Stück Uran „liegt“, „wartet“ gleichsam nur darauf erschlossen zu werden. Is it not wonderful to reflect that in this little bottle there lies asleep and waiting to be evolved the energy of about nine hundred tons of coal? The energy in a ton of uranium would be sufficient to light London for a year. (Ebd.)6
Uran und vor allem Radium sind nur die herausragenden Exponenten der potenziell verfügbaren Energie. Denn zwischen den radioaktiven und nichtradioaktiven Elementen besteht chemisch gesehen eine so 5
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Die Rede von der gefangenen, eingeschlossenen und zu befreienden Energie hat weitläufige Wirkung: Über Wells („The world set free“) und weitere frühe Autoren hinaus sind noch in den Folgejahrzehnten gleiche oder ähnliche Befreiungsformeln nachweisbar („liberate energy“, „vast stores of energy locked up“, „release of atomic energy“, „Open Sesame’s to Nature’s treasure chest of atomic energy“), bis es tatsächlich gelang die Energie zu „befreien“. Vgl. Hilgartner, Bell, O’Connor: 1983: 15, 17, 20. Soddy hatte eine kleine Probe zur Vorlesung mitgebracht, auf die er sich im Zitat bezieht. 81
TECHNIK ALS ERWARTUNG
große Ähnlichkeit, „that we cannot regard the radioactive elements as peculiar in possessing this internal store of energy, but only as peculiar in evolving it at a perceptible rate.“ (228) „The ultra-material potentialities of radium are the common possession of all that world“ (225). Welt verwandelt sich somit vollständig in ein Potenzial, nämlich in potenziell nutzbare, lediglich schlummernde Energie. Denn all around [us] are vast potentialities of the means of sustenance […] It cannot be denied that, so far as the future is concerned, an entirely new prospect has been opened up. (249)
Die (Potenzial-)Erwartung ist nun, sich diese unerhörten Energiemengen, welche einfach so um „uns herum bereit liegen“, auch greifen zu können. „There is, it is true, plenty of energy in the world which is practically valueless“, sofern sie nicht genutzt wird oder nicht nutzbar ist. Atomenergie kann jedoch erschlossen werden (229). Wenn nur die entsprechende Technologie realisiert werden kann, um sie zu „befreien“. „This is the message of hope and inspiration to the race which radium has contributed to the great problems of existence.“ (247)7
2.1 Potenzialkaskade, Hyperkontingenz: ein zweistufiger Prozess Wie Soddy bereits hervorhob, war bei der spontanen Strahlung von Radium ein Umwandlungsprozess im Gange. Das hieß aber: Ein Element konnte sich spontan in ein anderes ‚verwandeln‘. Diese Entdeckung widersprach einer grundlegenden Annahme der Chemie. „But the one thing of which the chemist is positive is that in all the material changes matter undergoes – radioactivity being excepted – the elements do not change into one another, but remain in their various compounds essentially unaltered.“ (97) Die Transmutation („transmutation“) von Elementen und damit die Möglichkeit, alchemistische Träume zu realisieren, wurde dadurch im Umkreis der Atomphysik geweckt (230 f.). Nach der sensationellen Beobachtung, dass solche Prozesse [Elementumwandlung] in der Natur von selbst ablaufen, mag das [die technische Elementumwandlung] manchem als nur ein weiteres kleines Wunder erschienen sein. Ge-
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Es ist nun aufschlussreich für den Kippcharakter von Potenzialerwartungen, dass im Ausgang von Soddys Erwartung verheißungsvollen Typs H. G. Wells 1914 (!) die negative Vision einer auf Atomtechnologie beruhenden Bombe entwickelt hat. The World Set Free ist Soddys Interpretation of Radium gewidmet.
DAS ERKLÄRUNGSMODELL
rade diese Nähe zu den alchimistischen Vorstellungen begründete Aufbruchsstimmung – alles schien möglich. Wenn es fraglos ist, dass sich Elemente umwandeln lassen, ist nur wenig Phantasie nötig, um sich einen Stoff vorzustellen, der diese Umwandlung beschleunigen kann. (Strub 2005: 48 f.)
Wenn bislang Unmögliches möglich wird, kann auch dasjenige, was noch unmöglich ist, als mögliche Möglichkeit erscheinen. Eine Kontingenzdynamik wird also dadurch ausgelöst: Wenn unvorstellbare Ereignisse eintreten oder realisierbar erscheinen, bleibt dies nicht isoliert, denn, wenn das bislang Unmögliche möglich ist, könnte alles möglich sein. Das formulierte Modell enthält dafür auch den Ansatz einer Erklärung. Ich hatte die Negation einer Angelannahme in ihrer Auswirkung auf die damit verbundenen Formen dargestellt, welche gleichsam conegiert werden. Die zuvor dargebotenen Modelle stellten einen Ausschnitt davon dar. Was darin nicht dargestellt wird, ist der sich ausbreitende Vertrautheitsverlust. Er rechtfertigt es, davon zu sprechen, dass eine neue Technologie eine neue Welt in Aussicht stellt. Wie ist dies aber zu verstehen? Setzt sich der Vertrautheitsverlust fort, weil in der „Welt“ als Bedeutungszusammenhang eines mit dem anderen verbunden ist? Auch die hier gegebene, erweiterte Darstellung (Abb. 10) müsste daher noch an ihren Rändern fortgesetzt werden in den Verweisungszusammenhang von Welt, der keinen bestimmbaren Anfang und Ende hat. Abbildung 10: Fortsetzung der Auflösung vertrauter Formen (Das gegenüber der vorherigen Darstellung Ergänzte ist orange umrandet). Tayloristische Arbeitswissenschaft Darstellung von individuellem Reichtum Art des Wirtschaftens: Rationalisierung, Ressourcenplanung Erfahrung von Knappheit: Hunger, Kälte Normativer Blick
Begrenzter Güterverkehr, wirtschaftliche Vernetzung Eingeschränkte Verkehrsformen, Mobilität Gesellschaftlicher Reichtum wird von Energieressourcen begrenzt Atomenergie
Energie als bewegendes, antreibendes Moment = bewegte Gesellschaft Praktiken des Alltags: Umgang mit Licht, Heizung, Kochstelle Rhythmen des Alltags: Was macht man wann? (z. B. Licht) Ethik der Sparsamkeit
Energie ist knapp
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
In der Tat ist anhand des bisherigen Modells nachvollziehbar, wie sich bei Negation eines relationsreichen Knotens eine Potenzialkaskade ausbreitet. Diese Darstellung ist nicht fehlerhaft, aber sie ist unvollständig. Die Kontingenzdynamik weist zwei Stufen auf. Bislang ist lediglich die erste Stufe dargestellt. Eine Angelannahme wird negiert durch Position einer anderen und wellenartig breitet sich der Verlust vertrauter Formen aus. Die zweite Stufe der Kontingenzdynamik setzt damit ein, dass zusätzlich zur bereits positionierten ersten neuen Angelannahme 1 (=A1: Unerhört viel Energie ist gleichsam kostenlos zu gewinnen), für die es Hinweise gibt, dass sie realisierbar ist, weitere Angelannahmen in ihrem Kielwasser ins Spiel gebracht werden. Wenn A1 nun möglich scheint, obgleich es bislang unmöglich war, warum dann nicht auch A2 (Transmutation eines Elements in andere) oder An? Was ist die „Logik“ dieser Potenzialkaskade? A1 erschien unglaublich, gilt aber inzwischen als realisierbar. An erschien unglaublich, aber wenn A1 inzwischen realistisch scheint, warum dann nicht An, das doch vergleichsweise weniger unerhört anmutet als A1. Die Basis für diesen „Schluss“ ist: Wird eine Angelannahme negiert, dann stehen die Grenzen von möglich/unmöglich selbst in Frage, wie die nachfolgende Abbildung skizziert. Abbildung 11: Die Grenze möglich/unmöglich steht in Frage
Mögliches Unmögliches
H.G. Wells hatte beispielsweise einen ‚Brandbeschleuniger‘ erdacht, der die Zerfallsprozesse radioaktiver Materie steigert, um mehr Energie in kürzerer Zeit freizusetzen. Warum sollte dies nicht möglich sein, wenn doch ganz andere Dinge sich als möglich erwiesen hatten? Selbst einem wissenschaftlich denkenden Menschen mag die Existenz eines solchen Stoffes damals nicht unwahrscheinlicher erschienen sein als die Exis-
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DAS ERKLÄRUNGSMODELL
tenz der Radioaktivität selbst, die von solch neuartigen und erstaunlichen Erscheinungen begleitet war. (Strub 2005: 48 f.)
Es geht also nicht um ein „Element“, welches aus dem Unmöglichkeitsbereich in den Möglichkeitsbereich wandert; dass etwas, das vorher unmöglich war, nun möglich geworden zu sein scheint. Es geht um eine Re-Definition des Bereichs möglich/unmöglich, die alte Definition (Grenze) wurde aufgelöst, eine neue steht noch nicht fest. In diesem Sinne können wir die auf Angelannahmen bezogene Kontingenz nun auch mit einem Titel bezeichnen, welcher den gesamten zweistufigen Prozess benennt: Hyperkontingenz.
2.2 Die Suche des Potenzials nach seinen Anwendungen Diese Hyperkontingenz ist wichtig, um den erwarteten Anwendungsüberschuss zu verstehen, der regelmäßig mit neuen Technologien auftritt. Eine Technologie lässt ganz verschiedene Anwendungsmöglichkeiten zu. Im entdeckten Potenzial einer Technologie ist keine Anwendung beschlossen; ihr Potenzial geht auch in keiner Anwendung auf (was nicht heißt, dass nicht faktisch in der jeweiligen Entwicklungssituation einige „näher liegen“ oder geeigneter sind, andere dagegen ausgeschlossen bleiben). Das Potenzial einer Technologie enthält keine wesentliche Zweckbestimmung, lediglich (erwartete oder erfüllte) Sacheignungen.8 8
Wie häufig sollte man sich ein schnelles Verständnis eines Begriffs, hier des Potenzialbegriffs, nicht durch den Verweis auf ähnliche Aspekte älterer Begriffsverwendungen zu erfüllen suchen. Bei Aristoteles wird der Potenzbegriff (δυνατόν) vor allem im 5. und 9. Buch der Metaphysik entwickelt, und zwar in der Diskussion des Verhältnisses von Wirklichkeit und Potenz. Hier wird Potenz bereits in zumindest zwei grundlegenden Bedeutungen gedacht: als Vermögen und als passive Möglichkeit eines Seienden. Daran schließt sich eine vielfältige Rezeption und Transformation insbesondere in der scholastischen Philosophie an, die aber auch in der neuzeitlichen und modernen Philosophie bei Leibniz oder etwa Schelling (und der Verwendung etwa in der Medizin, Homöopathie) wieder intensiviert wird. Historische Arbeiten zu Modalbegriffen liegen recht viele vor (vgl. Stallmach 1959, Bärthlein 1963, Seel 1982). Das Verhältnis von Potenz und Technik ist dagegen vergleichsweise selten historisch untersucht worden. Eine an der umfangreichen Geschichte bemessen knappe begriffsgeschichtliche Arbeit zur Bedeutung des Potenzkonzepts für Technik liegt von Blumenberg 1957 vor. Ruoff 1999 hat eine umfangreiche historische Arbeit vorgelegt, die m. E. allerdings viele der jeweiligen historischen Situation fremde Voraussetzungen einführt. In diesem Sinne belasse ich es lieber bei dem Hinweis, dass der Aristotelische Potenzialbegriff auf einer anderen Ebene liegt – was an der unterschiedlichen Bedeutung von Kontingenz oder gar Hyperkontingenz für ihn erkannt werden kann. 85
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Potenziale fordern vielmehr zur Suche nach ihren Anwendungsmöglichkeiten auf, sie sind darin nicht festgelegt. Für den Potenzialbegriff heißt das: Er ist nicht gleichbedeutend mit Anwendungsmöglichkeit, sofern letztere unbestimmt sein können. In der frühen Explorationsphase des Potenzials der Atomtechnologie sind solche Suchbewegungen gut sichtbar. Eine Vielzahl von Anwendungshoffnungen entsteht meiner Einschätzung nach vor allem ab den 1920ern bis zumindest in die 1950er hinein. Insbesondere Radium wird zu einem medizinischen Wundermittel. Radium-Injektionen gegen Rheuma werden beworben. Aber nicht nur gegen Rheuma sollen sie helfen, sondern auch das Blutbild verbessern und Bluthochdruck senken, allgemein zu vitalisieren und zu stimulieren. Dabei wird garantiert: „‚Standard‘ Radium Solutions are permanently Radio-active. Radium Content Standardized and Guaranteed.“ (Hilgartner et al. 1983: 7) Es wird auch für eine „radioaktive biologisch wirksame Zahncreme“ geworben (Jung 1994: 27). Radium soll außerdem gegen „Menstruationsprobleme“, für künstliche Menopausen, gegen Krebs, gegen Dioxide und für einen verbesserten Metabolismus nützlich sein (Hilgartner et al. 1983: 5-9). Die Lebensmittelbestrahlung durch ionisierende Strahlen wird diskutiert, getestet und schließlich angewandt (Kohn 1968; Busse 1968). Radioisotope wurden als Pflanzenschutzmittel verwandt, mittels „atom-blasted seeds“ wurde versucht „‚nützliche Mutationen‘“ zu erzielen (Gleitsmann 1987: 25). Aufgeworfen wurde auch die Bedeutung des Einflusses von Strahlung auf die Population und die Züchtung von Genies (Wagner 1964: 311). Die folgende Spekulation sticht daher kaum heraus: Man erhoffte sich, mit radioaktiver Strahlung Rauch in Kneipen oder Fabriken zu „verzehren“, das heißt zu vernichten. Zwar würde dann im Stadtbild „etwas verloren gehen“, Hausfrauen würden aber aufgrund sauberer Gardinen dankbar sein und die Kinder „eine andere Gesichtsfarbe bekommen.“ (Zitiert nach Jung 1994: 48). Rheuma, Krebs oder Zahnhygiene sind vergleichsweise pointierte Anwendungserwartungen. Ihnen stehen solche gegenüber, die zwar auch Anwendungen darstellen, primär aber das Potenzial der neuen Technologie zur Erscheinung bringen. Soddy schrieb etwa „a race could transform a desert continent, thaw the frozen poles, and make the whole world one smiling Garden of Eden.“ (Soddy 1909: 244) Langer, ein Physiker am California Institute of Technology, sagte 1940 eine „nahe neue Welt“ voraus, in der durch die beinahe kostenlose Energie soziale Ungleichheit und damit auch Krieg getilgt würden, die Folgen wären unparalleled richness and opportunities for all. Privilege and class distinctions and the other sources of social uneasiness and bitterness will become relics 86
DAS ERKLÄRUNGSMODELL
because things that make up the good life will be so abundant and inexpensive. War itself will become obsolete because of the disappearance of the economic stresses […].9
Ein zentrales Problem (neben dem der Atomwaffen) sei daher Langeweile. „But it is harder than ever to provide something interesting, new, unexpected, colourful. They have everything […]“ (Hilgartner et al. 1983: 19). Dieses Phänomen, nämlich dass Anwendungen das Potenzial einer Technologie zum Erscheinen bringen, führt zu einer weiteren Ergänzung des Modellkerns.
2.3 Technologische Doublette: Archetyp und Technologietyp Neue Technologien treten stets in einer eigenartigen Doublette auf: als Genetik und als Gentomate, als Atomtechnik und als Kernkraftwerk oder Atombombe, als Nanotechnik und als gezielte medizinische Wirkstoffapplikation durch Nanoperlen im menschlichen Körper. Einerseits wird ein allgemeiner Technologietyp benannt, andererseits eine konkrete Anwendung. Diesen Anwendungen kommt eine spezifische diskursive Funktion zu. Die neue Technologie wird über solche spezifischen Anwendungen erschlossen, sie stellen nicht nur Anwendungen dar, sondern exemplifizieren und symbolisieren das allgemeine Potenzial der Technologie. Wie funktioniert dies genauer? Spezifische Anwendungen wie die Atombombe, das Kraftwerk oder die Gentomate fungieren als ein Pars pro toto: Sie stehen für die Technologie als Ganze, sie erschließen ihr allgemeines Potenzial zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Entdeckung. Daher bezeichne ich sie als Archetyp. Die Gentomate und das Klonschaf waren Archetypen der Genetik, Atomkraftwerke solche der Atomtechnik, Nanoroboter solche der Nanotechnik. Archetypen stellen eine Art Vorgriff auf die erwartete Technologie dar. Denn die Technologie als solche ist zu blass, zu allgemein, zu unbestimmt, als dass sie Erwartungen auslösen und Diskussion entzünden könnte. Ein Technologietyp wie die Atomtechnologie oder Biotechnologie ist in seiner Allgemeinheit zu abstrakt, er erläutert sein Potenzial nicht von sich aus (sein Potenzial weist ja keine Entelechie auf). Die Leistung eines Archetyps besteht in der Konkretisierung dieses Potenzials.
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R. M. Langer: „Fast new World“, zitiert nach Hilgartner et al. 1983: 18. 87
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Allerdings, auch wenn der Archetyp für die Technologie als Ganzes im Sinne eines Pars pro toto steht, schöpft er sie nicht aus. Ein Archetyp kann nie alle oder auch nur viele Möglichkeiten darstellen, welche mit einer Technologie verbunden sind. Die Atomtechnologie fällt nicht mit der Atombombe zusammen (eben weil das Potenzial keine Entelechie aufweist). Wir können diese Funktion und insbesondere den Spannungsbogen, an dem Potenzialerwartungen entstehen, nun genauer fassen. Ein Archetyp konkretisiert den abstrakten Technologietyp und exemplifiziert sein Potenzial. Gerade weil der Technologietyp aber zu abstrakt, unbestimmt, dunkel und verworren in seinen Möglichkeiten ist, übersteigt er den Archetyp. Zwischen beiden klafft eine spannungsreiche Deckungslücke, wie Abbildung 12 darstellt. Die Technologie ist einerseits zu wenig prägnant, pointiert. Anderseits ist sie genau deshalb unausschhöpfbar im Vergleich zum überpointierten Archetyp. Zwischen der Verdichtungsleistung im Archetyp und dem „unausschöpfbaren Rest“ der Technologie besteht ein wechselseitiges Intensivierungsverhältnis. Der Archetyp steigert den Potenzialreichtum der Technologie nicht nur durch seine Pointierung, sondern auch durch seine Überpointierung im Verhältnis zur Technologie. Abbildung 12: Doublette als Intensivierungsverhältnis
übersteigt den zu pointierten
Archetyp
Pars pro toto
Technologietyp
konkretisiert den zu allgemeinen
Archetyp bezeichnet folglich eine diskursive Funktionsstelle. Eine technische Anwendung ist nicht als solche ein Archetyp, sondern nur, wenn sie den eben genannten Funktionswert hat, wenn ihr eine Erschließungsfunktion in Hinsicht auf das Potenzial zukommt. Sie kann zeitgleich als 88
DAS ERKLÄRUNGSMODELL
Prototyp vorliegen und später eine normal gewordene Anwendung werden. Der Begriff Archetyp ist durch diese Funktion bestimmt und damit vom Prototyp oder dem Leitbild unterschieden.10 Zumeist finden sich mehrere Archetypen für ein Paradigma. Ein Archetyp tritt in der Diskussion an die Stelle des bisherigen, löst ihn als geteiltes Referenzbeispiel der Technologie in der Diskussion um sie ab; das nachwachsende Organ tritt an die Stelle des geklonten Kindes. Es können auch mehrere Archetypen zusammen auftreten, beispielsweise das Kernkraftwerk und die Atombombe. Archetypen von Technologien existieren also nicht im Singular und sie sind auffällig historisch. Darin liegt ihre politische Bedeutung. Ob die Atomtechnologie am „Beispiel“ des Atomkraftwerks oder der Atombombe11 diskutiert wird, macht einen Unterschied ums Ganze im Hinblick auf die Art des erwarteten Potenzials. Der die Diskussion bestimmende Archetyp gibt Begriffe, Themen, Gesichtspunkte, Probleme oder so genannte ‚Chancen‘ vor – und strukturiert so nicht nur die Erwartung, sondern auch die Realisierung der Technologie.
2.4 Zum Verlauf von Potenzialerwartungen: Von der Zukunftssprache zur Gegenwartssprache … und zurück Potenzialerwartungen weisen einen Verlauf auf. Der Erfolg des „Gartner Hype Cycles“ besteht vor allem in der Darstellung typischer Sequenzen dieses Verlaufs: Nach einem technologischen Durchbruch, einer Entdeckung o.ä. steigt die Erwartung (der Hype) stark an, um dann wiederum stark abzufallen in ein Tal der Enttäuschung, aus dem es anschließend langsam zu einem realistischen Erwartungsniveau aufwärts geht; erst in der Folge beginnt die eigentlich produktive Phase der Technologie. Gegen die allgemeine Beschreibung ist wenig einzuwenden, ist sie doch
10 Leitbilder erfüllen ebenfalls eine diskursive Funktion, indem sie Forschung und Entwicklung in einer Richtung orientieren, koordinieren und mobilisieren. Das papierlose Büro stellte ein Zielbild für viele verschiedene Forschungsaktivitäten dar. Sie haben damit eine Programmfunktion, Archetypen dagegen eine Erschließungsfunktion. Vgl. zur technischen Leitbildforschung Dierkes et al. 1992. 11 Soddys Vorlesungen sehen nahezu ausschließlich das technologische Potenzial in der Energiegewinnung: „vast stores of energy“ lautet die vielfach wiederholte Formel in The Interpretation of Radium, S. 8 et passim. Herbert George Wells widmet 1914 Soddys Vorlesung die Science Fiction-Story The World set free. Der Archetyp ist dort allerdings hauptsächlich die von Wells antizipierte Atombombe. 89
TECHNIK ALS ERWARTUNG
allgemein und vage genug, um mehr oder minder genau Erwartungsverläufe zu beschreiben.12 Ein Problem des Gartner Hype Cycles besteht jedenfalls darin, dass es nicht diesen einen Verlauf gibt. Die Atomtechnologie weist von ihrer Entdeckung um 1900 bis zur Erfindung und dem Einsatz der Atombombe, der Planung und Realisierung von Atomkraftwerken in den 1950ern und schließlich dem Projekt von Kernfusionsreaktoren, inklusive der anhaltenden Kritik der Bürger- und Ökologiebewegung in der BRD an der Atomenergie keinen einheitlichen Verlauf auf. Es muss daher zwischen Technologietyp und jeweiliger Anwendung (und Archetyp bis Prototyp) unterschieden werden, ohne dass beides klar getrennt werden kann. Zudem besteht eine Gleichzeitigkeit ungleicher Erwartungen in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Verlauf und Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kann allerdings anhand der Sprache beobachtet werden. Es gibt zumindest zwei Sprachregister: eine Zukunfts- und eine Gegenwartssprache. In den 1950er Jahren ist sprachlich ein Hype der Atomtechnologie feststellbar. Die Vorsilbe „Atom-„ verhieß Großartiges, Unerhörtes. Es gab eine BindestrichKonjunktur, vergleichbar der heutigen mit „Bio-“ oder inzwischen auch Nano-. In seiner Untersuchung zum Sprachwandel des Diskurses über Atomenergie führt Jung (1994: 42 f.) eine Vielzahl von Nachweisen an, welche die häufige Verwendung der Vorsilbe Atom- belegen: „Atomschalter“ für jemand, der besonders rasch begreift, „Atomladung“ (Aufputschdroge), „Atombusen“ usw. Er verzeichnet für amerikanische Großstädte der 1950er auch dutzende von Firmen, die „atomic“ im Namen trugen, ferner hunderte von Patentanmeldungen, darunter auch für Parfüme und Ungeziefermittel, welche sich atomic/Atom- im Namen schützen lassen wollten. Die Geschichte der Namensgebung des Bikinis gehört im Übrigen auch in diesen Zusammenhang. Soweit die sprachlichen Befunde zur Atomtechnologie in der Öffentlichkeit. Wie sieht es dagegen in der Politik der 1950er aus? Soddys „age of energy“ war inzwischen zum „atomic age“, Radium zu Atom geworden. Die Atombomben, welche Hiroshima und Nagasaki zerstörten, minderten in keiner Weise das Potenzial, welches in der Atomtechnologie gesehen wurde. Ihr Potenzial galt auch keineswegs als ausgeschöpft wie etwa Eisenhowers „Atoms for Peace“-Rede vor den Vereinten Nationen (1953) oder Leo Brandts Rede auf dem Münchener Parteitag der SPD (1956) belegen. 12 Dazu kommt, dass diese sequenzielle Beschreibung Erwartungen formativ beeinflusst. Die Unternehmensberatung Gartner veröffentlicht regelmäßig einen Hype Cycle zum Stand aktueller Technologien. Zu finden auf http://www.gartner.com/ 90
DAS ERKLÄRUNGSMODELL
Ende 1956 wurde das erste (halb-)kommerziell betriebene Atomkraftwerk in Calder Hall in Betrieb genommen. Die öffentliche und politische Euphorie gegenüber dem Atom war ungebrochen. In der Atomwissenschaft lässt sich dagegen eine Verschiebung wahrnehmen. Die wissenschaftliche Sprache über das Potenzial der Kernspaltung ist nüchtern. In einem Bericht über die bedeutende „Atomenergie-Konferenz in Genf“ (1955) heißt es sachlich abgekühlt: Schon heute läßt sich folgendes Bild für die nächste Zukunft entwerfen: In etwa 5 Jahren werden in der ganzen Welt 10 Kernkraftwerke mit einer Leistung von je 100 bis 200 MW fertiggestellt sein, die allerdings noch als Versuch anzusehen sind. Das nächste Jahrzehnt (bis 1965) wird die Auswertung der Erfahrungen hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit und der Betriebssicherheit bestimmter Typen bringen. Man hofft, daß der von diesen Prototypen gelieferte Strom sich im Preis kaum von dem üblicher Kraftwerke unterscheidet. (Schulten 1956: 169)
Mit der Realisierungsnähe schwinden die Erfüllungshoffnungen. Es ist jedenfalls nicht das, was man sich von Atomtechnologie erhoffte hatte und weiterhin erhofft, was nun mit der Verwirklichung von Kernkraftwerken eintritt. Die fernere Zukunft erscheint dagegen wiederum hoffnungsvoller gestimmt (Schulten 1956: 170). In wissenschaftlichen Kreisen – vorerst nicht so sehr in den politischen – ist die Potenzialerwartung nämlich bereits dabei, auf eine andere Atomtechnologie überzugehen: die Kernfusion. Zwar sind hier die konkreten technischen Probleme, die Details, die ganze Kleinteiligkeit der Entwicklung ungelöst. Genau diese Unbestimmtheit erweist sich jedoch als Vorzug, die Technik steht noch im Konjunktiv: Über die Ausnutzung der Verschmelzungen leichter Atomkerne für die technische Energieerzeugung wurde mehrfach gesprochen und die Vermutung geäußert, daß es gelingen könnte, diese Vorgänge innerhalb von 20 Jahren regelbar zu machen. Die experimentelle Untersuchung dieser Reaktionen ist gewiß sehr kostspielig, doch können hier noch einzelne Entdeckungen eine plötzliche, grundsätzliche Wendung bringen. Damit würde sich der Menschheit allerdings in den leichten Elementen unerschöpfliches Energiereservoir eröffnen und ein Fortschritt in der Energiewirtschaft eingeleitet werden, der den durch die Entdeckung der Uranspaltung angebahnten weit hinter sich ließe. Amerikanische und englische Fachleute gaben zu, daß in ihren Ländern an diesem Problem gearbeitet wird.
Bis in die Formulierung hinein („unerschöpfliches Energiereservoir […] eröffnen“) widerholt sich für die Kernfusion, was Soddy für die Kern91
TECHNIK ALS ERWARTUNG
spaltung formulierte. Auch Soddys Vergleich („The energy in a ton of uranium would be sufficient to light London for a year.“) tritt der Form nach wieder auf. Der das Potenzial verheißende Kohle-Uran-Vergleich wird dabei durch einen noch eindrucksvolleren Kohle-Wasser-Vergleich ersetzt. So wird die Rede des Physikers und Politikers Lindemann vor dem britischen Unterhaus mit den Worten wiedergegeben: „‚Ich muss sie darauf aufmerksam machen, daß es dann theoretisch möglich sein wird, aus einem Liter Wasser die gleiche Energie wie aus 20 000 Tonnen Kohle zu gewinnen.‘“ (Brandt 1957: 44 f.) Wasser als Material der Energiegewinnung durch Kernfusion hat noch andere Vorzüge als das theoretisch günstige Energieverhältnis, wie der Physiker Otto Hahn feststellt: ‚So könnte man sich für die gar nicht so ferne Zukunft ein Welt vorstellen, in der das in unerschöpflicher Menge vorhandene Wasser der Weltmeere uns allen die Segnungen der modernen Atomtechnik bringen würde, die zur Zeit noch an das Uran mit seinen gefährlichen Umwandlungen geknüpft sind… Fürwahr zunächst noch eine Utopie, aber doch auch ein begründeter Hoffnungsstrahl.‘ (zitiert nach Müller 1960: 190 f.)
Ebenso geht der seinerzeit bekannte Physiker Homi Bhaba auf der erwähnten Genfer Konferenz im Jahr 1955 von einem durch Kernspaltung freigesetzten Möglichkeitsraum aus: Wenn Energiegewinnung durch Spaltung vor fünfzehn Jahren möglich wurde, warum sollte es dann nicht in zwanzig Jahren möglich sein, durch Fusion Energie zu gewinnen? Seine Erwartung des Potenzials der Kernfusion klingt recht ähnlich derjenigen, welche zuvor die Kernspaltung auslöste, dass nämlich dann alle Energieprobleme gelöst sein würden: „‚Wenn das geschieht, werden die Energieprobleme der Welt wahrhaft für immer gelöst sein, denn der Brennstoff wird so häufig sein, wie der schwere Wasserstoff im Wasser der Meere.‘“ (Zitiert nach Müller 1960: 194) Das nicht zur Deckung zu bringende Spiel von Archetyp und Technologie und die Kontingenzdynamik infolge einer Teilrealisierung von bislang Undenkbarem ermöglichen diese Fortsetzung von Potenzialerwartungen.
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IV. W I E
P O T E N Z I AL E R W AR T U N G E N U M G E G AN G E N ? WIRD MIT
1 . An g s t u n d F u r c h t Welt zu haben, ist immer das Resultat einer Kunst, auch wenn sie in keinem Sinne ein ‚Gesamtkunstwerk‘ sein kann. (Hans Blumenberg)
Potenzialerwartungen und Vertrautheit stehen in einem negativen Verhältnis zueinander. Je potenzialreicher eine neue Technologie erscheint, desto größer ist die Erwartung, dass sich mit ihr alles ändern, die vertraute Welt aufhören wird. Dabei gibt es einen zeitlichen Verlauf: Frühe Potenzialerwartungen neigen zu einer vagen Zukunftssprache, wogegen die Realisierung einer Technologie mit einer detailgenauen, problemgeladenen Gegenwartssprache einhergeht. Der vagen Zukunftssprache korrespondiert die Thematisierung von Archetyp und (vagem) Technologietyp, die in einem unerschöpflichen Intensivierungsverhältnis zueinander stehen. Werden dagegen Probleme fokussiert, stehen Prototypen oder erste Realisierungen im Vordergrund; das Verhältnis von Archetyp und Technologietyp verliert an Bedeutung. Das interessiert jetzt aus einer anderen Perspektive noch einmal, nämlich in der Frage, welche Unterschiede in der Risikowahrnehmung damit einhergehen. Das Risiko einer Technologie, deren Potenzial vage als immens erscheint, wird anders wahrgenommen, als das einer Technik, deren Probleme und Gefährdungshinsichten klar bestimmt und definiert werden können. Die Unterschiede in der Risikowahrnehmung lassen sich mittels der Unterscheidung von Angst und Furcht begreifen. 93
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Zwischen Angst und Furcht zu unterscheiden hat in der Philosophie eine kleine Tradition. Von Kierkegaard über Heidegger bis zu Blumenberg wird diese Unterscheidung so angelegt, dass Furcht die Furcht vor jeweils etwas Bestimmten und Bestimmbaren ist; wogegen Angst ihr „wovor“ nicht objektivieren kann. Angst ist, „um es paradox auszudrücken“, so Blumenberg, „Intentionalität des Bewußtseins ohne Gegenstand.“ (Blumenberg 1979: 10) Angst ist unbestimmte Erwartung: Alles kann passieren. Sie schafft es nicht, ihre Erwartung (i) zu einem stabilen Objekt zu verdichten mit (ii) klaren Gefährdungshinsichten, was eigentlich genau passieren könnte. Drei Beispiele mögen dies erläutern: (1) Angst ist aus Horrorfilmen bekannt, in denen das Unheimliche solange Angst auslöst, als es nicht in Erscheinung tritt. Sobald bekannt ist, was es ist und was es tun kann, mag zwar noch Spannung bestehen; aber das Unheimliche hat sich in dem Maße verloren, in dem „das Böse“ Gestalt gewann. Sieht man, was zu passieren droht, kann man sich davor „nur noch“ fürchten. (2) Ein ganz anderes Terrain: Für Heidegger gibt es Angst nur vor dem Nichts. Nichts, das ist der Verlust von Welt. Diese ist bei Heidegger als ein Verweisungszusammenhang verstanden, welcher Verlässlichkeit- und Vertrautheitsstrukturen bietet, die eben in der Angst nicht mehr gegeben sind (Heidegger 1927: § 40; 1929). (3) Blumenbergs Interesse gilt dem Mythos. Seine These lautet, dass der Mythos eine spezifisch rationale Leistung darstellt. Natur als Grenzbegriff einer Umwelt, die in keiner Weise Erwartungen zulässt, in der Gefährdungen von allen Seiten auf nicht bestimmbare Weise erfolgen können, wird durch eine Welt ersetzt, in der diese Gefährdungen eine Gestalt, nämlich die von Göttern haben. Die Leistung des Mythos ist, „die numinose Unbestimmtheit in die nominale Bestimmtheit zu überführen und das Unheimliche vertraut und ansprechbar zu machen“ (Blumenberg 1979: 32). Es geht um Bildung einer bestimmten „Erwartungshaltung“, das heißt: der Möglichkeit zur Furcht, im Unterschied zur unbestimmten Erwartung in Angst. Dieses Verständnis von Angst und Furcht lässt sich auf die Entdeckung von Technologien und deren Realisierung anwenden. In den frühen, intensiven Phasen des Erwartens unerhörter Potenziale ist die Technologie unbestimmt, vage, diffus. Archetypen können sie konkretisieren. Dennoch geht keine Technologie in ihren Archetypen auf. Werden die Potenziale der Technologie als verhängnisvoll und nicht als verheißungsvoll erlebt, kann dies zu Angst führen. Wovor man sich fürchtet, steht ja nicht fest und kann nicht feststehen, da die Gefährdungshinsichten nicht klar sind. Das hat seinen Grund darin, dass die Gefahr sich auf eine unbekannte Welt bezieht, nicht auf eine bestimmte Gefahr in ei94
WIE WIRD MIT POTENZIALERWARTUNGEN UMGEGANGEN?
ner vertrauten Welt. (Abbildung 13 bringt fasst diese Merkmale zusammen.) Damit verbunden ist eine Schieflage in der Kommunikation über neue Technologie. Versuchen wir sie genauer zu fassen: Neue Technologien stellen Welt in Frage, indem sie in Aussicht stellen, die Angeln der Welt aufzuheben. Die Form bzw. Nichtform, in der die Gefährdung neuer Technologie erscheint, ist die der Angst. Diese Perspektive auf eine neue Technologie widerstreitet der technischen Perspektive auf Probleme der Technik, also der Perspektive beispielsweise von Ingenieuren, die mit ihrer Entwicklung betraut sind. Um Risiken neuer Technologien zu handhaben, werden diese „kleingearbeitet“, das heißt in Problemgruppen (Gefährdungshinsicht, -bedingungen, -wahrscheinlichkeit) und Mittel zu deren Lösung unterteilt. Diese technische Perspektive behandelt die Gefährdung daher in der Form von Furcht vor... Technikkonflikte können an den Kanten dieses Zusammenstoßes von Furcht und Angst entstehen: Abbildung 13: Auflösung von Bestimmtheit und Technikangst
Archetyp: negiert Angelannahme
Kein bestimmbares Objekt
Technologietyp: unklares Potenzial zur Weltveränderung
Gefährdung bleibt unbestimmt, da sie Welt betrifft, nicht eine Möglichkeit in der Welt
Diffuse und vage Zukunftssprache
Keine bestimmbare Risikohinsicht
Wird mit Gentechnik beispielsweise die Vorstellung assoziiert, alles Lebendige beliebig manipulieren zu können, so entspricht dem eine vollständige Auflösung der vertrauten Welt: von den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Natur und Mensch, Nahrung und Tier – nichts lässt sich mehr auf vertraute Weise denken. Wird dagegen mit Gentechnik die Frage assoziiert, möglichst pragmatisch und problemnah eine Maissorte gegen diesen bestimmten Schädling resistent zu machen, ein Organ gezielt für eine bestimmte Person zu züchten, dann verläuft der technische Blick in relativ bestimmten Bahnen: Man hat Furcht davor, dass es zu einer Autoimmunreaktion gegen das neue Organ kommen oder dass eine 95
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Resistenz des „Schädlings“ gegen das selbst produzierte Insektizid auftreten könnte. Diese beiden Ebenen, auf denen Technologien diskutiert werden, sind miteinander inkompatibel, sie sind für die Beteiligten aber nicht ohne weiteres als verschiedene Ebenen sichtbar. Das erklärt sich wie folgt: Auf der einen Seite wird in Angst über die fremde Technologien gesprochen. Diese Angst – und dies ist entscheidend – kann innerhalb des als rational geltenden Diskurses aber nur geäußert, also versprachlicht werden, wenn sie als Angst vor etwas Bestimmten formuliert wird – also eigentlich als Furcht, die sie aber gerade nicht ist, wie Abbildung 14 darstellt. Damit Angst versprachlicht werden kann, muss sie folglich objektiviert werden, und hört damit auf, als Angst überhaupt noch kenntlich zu sein. Denn Angst ist gewissermaßen sprachlos. Damit ist eine strukturelle Schieflage vorhanden. Denn wer Angst hat, sie aber als Furcht äußert, dem kann die Angst auch nicht genommen werden, indem ihm die Furcht genommen wird. Abbildung 14: Unbestimmte Angst muss sich als bestimmte Furcht äußern
Furcht vor a
Unbestimmte Angst muss sich bestimmt äußern Furcht vor b
Furcht vor c
Dadurch entstehen schließlich die bekannten Irrationalitätsvorwürfe auf der einen Seite und der Eindruck, nicht verstanden zu werden, auf der anderen Seite. Soll diffuse Angst dadurch aufgelöst werden, dass auf die Sicherheit vor diesem oder jenem bestimmten Ereignis hingewiesen wird, so bleibt nichts übrig, als der Eindruck des Unverständnisses auf der einen Seite. Oder auf der anderen Seite: Es wird auf jeden Sicherungsvorschlag mit neuem Unbehagen geantwortet ad Infinitum. Wie ein im Ärmel gehaltener Joker wird neues Bedenken geäußert, was als 96
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dogmatische Ablehnung aufgefasst wird, da sie uneinsichtig gegenüber den spezifischen Gründen ist. Notwendig diffuses Unbehagen trifft Detaillösungen. Schon aufgrund dieses Niveau-Unterschiedes ist der Konflikt festgefahren.1 Der Konflikt tritt vermutlich deshalb besonders häufig zwischen Technikern, welche direkt in den heißen Zone der Forschung und Entwicklung tätig sind, und den „Laien“, welche mehr Abstand dazu haben, auf, weil (1) der pragmatische Blick auf eine technische Lösung immer eine Blickverengung auf etwas sehr bestimmtes voraussetzt; ferner (2) weil in Auseinandersetzung am Gegenstand eine spezifische Vertrautheit (Bestimmtheit) mit ihm entsteht, welche in der Entfernung nicht gewonnen werden kann (ohne dass diese Vertrautheit mit Objektivität gleichgesetzt werden darf). Des Weiteren erscheint Technik aufgrund dieser Niveaudifferenz von Furcht und Angst im rationalen Vorsprung. Die Angst muss – das ist ihre Erscheinungsweise – diffus bleiben. Sie wird von Technik, die realisiert wird, durch den Aufbau von Vertrautheit schrittweise aufgelöst oder in Furcht verwandelt, so dass retroaktiv die Angst als irrationales und sich nicht bewahrheitendes Vorurteil erscheint. Es gibt also Übergänge von Angst zu Furcht, etwa durch Vertrautheit und Erfahrung. Bevor es aber zu einer Realisierung von Technik kommt, bestehen schon mögliche Zwischenschritte. Auch Technik, die unbekannt ist, muss irgendwie gefasst werden. Wie kommt es also zu frühen Transformationsversuchen von Angst in Furcht? Mit Blick auf den Mythos schreibt Blumenberg, er transformiere Angst in Furcht „primär nicht durch Erfahrung und Erkenntnis, sondern durch Kunstgriffe, wie den der Supposition des Vertrauten für das Unvertraute, der Erklärungen für das Unerklärliche, der Benennungen für das Unbenennbare.“ (Blumenberg 1979: 11) Wie verhält es sich mit Technik? Wie kann man mit dem Unvertrauten der neuen Technologie umgehen?
1
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich möchte nicht behaupten, dass dies die einzige Konfliktlinie ist oder dass Experten die Situation rational betrachten, wogegen sog. Laien nur emotional, eben mit Angst reagieren, und nicht beispielsweise auch mit guten Gründen eine Technologie ablehnen können. Es kommt mir nur auf die Analyse einer ungeklärten Ebenenverschränkung an. 97
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2. Historisierungen: Kontinuierung und Diskontinuierung Es geht nun also um die Frage nach dem Umgang mit unvertrauter Technologie, mit Strategien ihrer Bestimmung. Wie kann das, was unbekannt ist, aber der Diskussion bedarf, bevor es „da ist“, unter anderem weil die Frage ist, ob es „da sein soll“, erschlossen und verstanden werden? Es gibt eine Reihe heterogener Darstellungsmedien für das Unvertraute: Neben Bildern, Leitbildern, Metaphern2 sind Analogien und Vergleiche3 zu nennen, Modelle, Archetypen, Prototypen. Ferner verfassen Naturwissenschaftler, vor allem in Einleitungen, zuweilen „spontane“, gleichsam „wilde“ Historiographien, welche die neue Technologie in eine Entwicklung einordnen. Anstatt sich hauptsächlich an den Darstellungsmedien zu orientieren, bietet sich ein anderer Zugriff an. Der Umgang mit dem Unvertrauten kann als eine Gestaltungsaufgabe betrachtet werden, die innerhalb der Spannung zweier Pole stattfindet: Das Verhältnis zur neuen Technologie kann (eher) als Kontinuität oder (eher) als Diskontinuität aufgefasst werden.4 Im ersten Fall wird etwa das Vertraute im Unvertrauten, im zweiten der Bruch, die unaufhebbare Differenz betont. Innerhalb dieses Spannungsbogens lassen sich vielfältige Formen ausfindig machen. (a) Betonung von Neuheit: Die Betonung der Diskontinuität erfolgt auf paradoxe Weise. Das Problem ist, dass jegliche Darstellung des radikal Neuen und Fremden innerhalb vertrauter Formen erfolgen muss. Es gibt keine Außenseite der Vertrautheit, sondern die Unterscheidung vertraut/unvertraut wird innerhalb des Vertrauten getroffen (vgl. Husserl 1938: 33; Luhmann 2001: 146). Das Problem ist, vertraute Formen zu verwenden, um das Unvertraute darzustellen, was in der Technikfolgenabschätzung dann zu einem Problem wird (Hubig 1995: 78-80). Auf den Punkt gebracht: Selbst wenn man sagen will, dass alles anders wird, muss man, um das zu sagen, auf vertraute Formen zurückgreifen. (b) Betonung von Vertrautheit: Umgekehrt kann es die Intention sein, eine Kontinuität herzustellen, um sich epistemisch einen Bereich 2
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Vgl. zu einer Theorie der Kommunikations-, Konstruktions- und „antizipativen Bewertungsfunktion“ von technischen Metaphern Mambrey 1994. Vgl. ferner die Bedeutung von Metaphern in der Technikgestaltung etwa im Extreme Programming (XP). Dass Metaphern nicht einfach abgekürzte Vergleiche oder Analogien sind und auch nicht Bilder vgl. Gehring 2007. Ich orientiere mich hier an Hetzel 2006, welcher Theorien des Neuen dahin gehend unterscheidet, ob sie es in eine Kontinuität stellen (das Neue als Re-Konfiguration bekannter Elemente) oder einen radikalen Bruch darin sehen.
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zu erschließen. Das Problem, welches sich dann stellt, ist aber recht ähnlich, nämlich: Wie passen vertraute, eine Kontinuität herstellende Formen auf etwas, das sich davon abhebt, ohne zu Irrtümern, falschen Annahmen und Analogieschlüssen zu führen. Die aktuelle Rede vom Buch der Natur oder dem Alphabet des Genoms in der Genetik (Blumenberg 1983: Kap. XII) suggeriert etwa, dass es einen Sinn im Genom gibt. Es ist aber sehr fraglich, ob die Genetik aktuell mehr beobachtet und behauptet als funktionale Zusammenhänge zwischen Elementen, die sie mit Buchstaben bezeichnet, weil sie jeweils neu gruppiert werden können und dadurch verschiedene Effekte zeitigen. Die hermeneutische Metapher des Lesens eines sinnvollen Textes liefe dann dem szientifischen Blick auf funktional-kausale Naturzusammenhänge zuwider. (c) An Routinen anschließen: Eine weniger epistemische, sondern praktische Formen betreffende Gestaltungsfrage ist, wie sehr eine neue Technik an bestehende Routinen anschließen oder mit ihnen brechen soll. Soll sich etwa der elektronische Text am Buch orientieren oder seine Eigenheit suchen? Das spezifische Problem in diesem Bereich besteht in diesem Ausmessungsverhältnis: Zu fremd belassene Techniken können sich als handlungshemmender Fremdkörper erweisen. Eine kontinuierende Gestaltung mag dagegen die Potenziale der neuen Technik nicht voll ausschöpfen oder zu praktischen Missverständnissen führen, indem Handlungsroutinen fortgeführt werden, die nicht mehr passen. (d) Politische Diskontinuierung/Kontinuierung: In politischen Diskussionen um neue Technologien ist häufig sowohl eine Diskontinuierung (Betonung des besonderen Potenzials) als auch eine Kontinuierung (Nivellierung besonderer Gefahren) zugleich zu bemerken. So wird von Nanowissenschaftlern gerne die Originalität der Nanotechnik betont: Sie sei eine Technik, wie es sie bislang nicht gibt, weil sie auf atomarer bis molekularer Ebene ansetzt. Zugleich wird aber diese Besonderheit zurückgenommen, indem die bestehende Natur als große Nanomaschine oder Nano-Ingenieur bestimmt wird. Die Nanotechnik sei daher prinzipiell nichts anderes, als das, was Natur ohnehin mache. With its own version of what scientists call nanoengineering, nature transforms these inexpensive, abundant, and inanimate ingredients into selfgenerating, self-perpetuating, self-repairing, self-aware creatures that walk, wiggle, swim, sniff, see, think, and even dream. […] Now, a human brand of nanoengineering is emerging. The field’s driving question is this: What could we humans do if we could assemble the basic ingredients of the material world
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with even a glint of nature’s virtuosity? What if we could build things the way nature does – atom by atom and molecule by molecule?5
Ein anderes Beispiel für eine politische Kontinuierung ist die Namensgebung einer im Gehirn intervenierenden Technik, welche als Hirnschrittmacher bezeichnet wird. Die gesuchte Ähnlichkeit mit dem Herzschrittmacher ist offensichtlich. Die metaphorische Gleichstellung verwischt jedoch eine enorme Ungleichstellung. Die meisten Behandlungen von Herzerkrankungen sind vollkommen akzeptiert. Insbesondere dem Herzschrittmacher kommt die Bedeutung einer hilfreichen Technik zu, der ein inzwischen wenig riskanter, geradezu alltäglicher Eingriff vorausgeht. Der Herzchirurgie verfügt zudem über hohes Ansehen. Es ist allerdings fraglich, ob das Gehirn ein Organ wie das Herz (oder die Nieren) ist. Chirurgischen Eingriffen ins Gehirn kommt jedenfalls nicht die gleiche Akzeptanz zu wie Eingriffen am Herzen, und die Geschichte der Psychochirurgie seit den 1940ern ist eine andere als die der Herzchirurgie. Es sind vor allem die lobotomischen Eingriffe, welche mit der Psychochirurgie verbunden sind und die Verbindung zu ihr fürchten lassen, die mit der Rede vom Hirnschrittmacher vermieden werden sollen. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise die Kritik an einem Artikel im Deutsche Ärzteblatt zu verstehen, welcher mit dem Titel „Stereotaxie/Hirnschrittmacher: Rückkehr der Psychochirurgie“ überschrieben war (Albrecht 2004: 472). Dieser wurde wegen der Verwendung des Wortes ‚Psychochirurgie‘ als sachlich nicht (mehr) angemessen kritisiert. Aus Sicht der Kritiker wurde damit eine falsche Kontinuität unterstellt (Vgl. Galert/Schleim 2007: 618); die im Titel erscheinende andere technopolitische Kontinuierung, Hirnschrittmacher, wurde dagegen nicht kritisiert. Politische Kontinuierungen/Diskontinuierungen sind häufig eingebunden in spontane Historiographien von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern: (e) En passant Historiographien: Geschichtsschreibungen, wie sie Naturwissenschaftler und Techniker en passant geben, mischen häufig Darstellungsmittel wie Metaphern, Analogien, Bilder. Zentral ist für sie jedoch, dass sie in vielen Fällen zugleich eine politische Kontinuierung und Diskontinuierung unternehmen: Einerseits wird die Unvergleich5
Zitat aus dem Bericht des US-amerikanischen National Sciene and Technology Council: „Shaping the World Atom by Atom“, S. 1, in dem auch von „nature’s own nanotechnology“ (S. 3) die Rede ist. – Nordmann (2007) prüft, aus gleichwohl anderer Perspektive, inwiefern in Sachen Nanotechnologie von einer naturalisierten Technologie gesprochen werden kann.
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barkeit einer radikal neuen und fremden Technologie hervorgehoben, andererseits wird zugleich eine – nicht selten von einer „Prähistorie“ bis in die Gegenwart reichende – lange Linie gezogen. Soddy schreibt in The Interpretation of Radium einerseits: The century which has just begun has seen the first definite and considerable step taken into the ultimate nature of their units of matter or atoms, which is in one sense not merely an extension of existing knowledge or principles, but a radically new departure. Radioactivity is a new primary science owing allegiance to neither physics nor chemistry […] (Soddy 1909: 3)
Andererseits wird trotz dieser und vieler weiterer Passagen, die den Bruch mit dem Bekannten und die Neuheit der Entdeckung betonen, die in Aussicht stehende Atomtechnik in eine lange Kontinuität gestellt, die bis zur Kontrolle des Feuers zurück reicht: The first step in the long, upward journey out of barbarism to civilisation which man has accomplished appears to have been the art of kindling fire. Those savages races who remained ignorant of this art are regarded as on the very lowest plane. The art of kindling fire is the first step towards the control and utilisation of those natural stores of energy on which civilisation even now absolutely depends. (Soddy 1909: 232)
Diese Verschränkung von langer Linie und unerhörter Neuheit zieht Soddy in einem Satz zusammen, wenn er die Zivilisation Anfang des 20. Jahrhunderts in derselben Situation sieht wie die „ersten Menschen“ bei der Entdeckung des Feuers: Kontinuität und Bruch in eins geblendet (Soddy 1909: 232).6 Es gibt eine äquivalente Nanohistorie. Trotz der immensen Anstrengungen, die Neuheit der Technologie vorstellbar zu machen, wird sie zugleich als lediglich weiterer Schritt in einer natürlichen Entwicklung dargestellt. Dies fällt besonders bei einem Autor wie Eric Drexler auf, da ihm vielfach der Vorwurf gemacht wurde, überzogene, unrealistische Erwartungen zu schüren. Im Verlaufe der Geschichte haben die Menschen daran gearbeitet, eine bessere Beherrschung der Materie zu erreichen […]. Dies war schon versucht worden, bevor die Menschen überhaupt erkannten hatten, daß Atome existieren, und seit ihrer Entdeckung hat sich diese Entwicklung sehr beschleunigt. Obwohl 6
Sachs (1985: 36 f.) spricht in diesem Zusammenhang von einem Mythos der Kontinuität in der Technikgeschichtsschreibung. Das moderne Konzept von Energie entsteht nach ihm jedenfalls erst Mitte des 19. Jahrhunderts. 101
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die verschiedenen Industriezweige unterschiedliche Materialien und unterschiedliche Werkzeuge und Verfahren verwenden, ist das grundsätzliche Ziel immer das gleiche. […] Aus dieser Perspektive gesehen, stellt Nanotechnologie nur einen natürlichen Schritt in einer Entwicklung dar, die schon seit Jahrtausenden im Gange ist. (Drexler/Peterson 1994: 90 f.)
Die „Nanotechnologische Revolution“, so der Untertitel des Buchs, führt das, was Natur macht, nur auf andere Weise weiter. Denn Natur, beispielsweise Kaninchen und Löwenzahn, besteht aus nichts anderem als aus „vielen Milliarden molekularer Maschinen“ (Drexler/Peterson 1994: 104). Gentechnologie wird dann zum Reprogrammieren „natürlicher Nanomaschinen“ (Drexler/Peterson 1994: 105). Auch dort, wo die Linie nicht eigens bis in die Vorgeschichte verlängert oder Nanotechnologie in eine Kontinuität mit Natur gestellt wird, finden sich Bemühungen, sie als prinzipiell vertraute Technik darzustellen. Unter dem Titel Wie verhält sich Moleküldesign zu vertrauteren Arten von Technik? beharrt Drexler energisch auf einer Identität der technischen Herstellung von Molekülen mit dem Bau in der Architektur oder im Maschinenbau. In diesen Fällen gehe es gleichermaßen um eine Konstruktion von Strukturen aus Elementen oder Bausteinen. Nanotechnologie kann sich daher – was zunächst kaum einleuchtet, denkt man an die neuen Eigenschaften, die mit dem Vorstoß in diese Größenordnung verbunden sind – an deren Prozessen und Prinzipien orientieren. „Alle Prinzipien der Konstruktion und des Maschinenbaus, die auf den Bau von Wolkenkratzern oder auf die Errichtung einer Brücke angewendet werden, gelten ebenso für die Molekulararchitektur.“ (Drexler/Peterson 1994: 114) Die wiederholten Formeln des Anvertrautmachens lauten entsprechend: „der gleiche Prozeß“, „genau dasselbe“, „in der gleichen Weise“, „in beiden Fällen um das gleiche“, „in beiden Fällen“ – so dass sich als Fazit ergibt, „‚daß wir es noch mit einer unbeschreiblich großen Anzahl altbewährter Dinge zu tun haben.‘“ (Drexler/Peterson 1994: 114) Solche langen Linien müssen allerdings nicht erzählend hergestellt werden. Alfred Nordmann (2003) hat an einem Bild aus der Nanotechnik die „begriffliche Technik“ der Kontinuierung und des Vertrautmachens analysiert. Kontinuität und Diskontinuität im Umgang mit dem Unvertrauten lassen sich nicht trennen, weil das Unvertraute durch vertraute Formen dargestellt werden muss. Dies ist nicht nur ein Konstitutionsparadox, sondern eine praktische Möglichkeit des Umgangs mit unbekannter Technik. Sie wird, wie dargestellt, technopolitisch genutzt. Mit der Verschränkung von Kontinuität und Diskontinuität ist die Möglichkeit gegeben, Stand- und Spielbein zu wechseln. Die verlockend unvergleichliche Neuheit und die prinzipielle Bekanntheit können strategisch, je nach 102
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Situation (Verheißung der Technik, Abwehr von Kritik) in den Vordergrund geschoben werden.
3. Technologie: neu – fremd – wunderbar Auf neue, unvertraute Technologien kann also erstens mit Angst reagiert werden. Die Aneignung und Objektivierung der neuen, unvertrauten Technologien kann zweitens eine Kontinuität herstellen oder eine Zäsur markieren. Es geht nun um eine dritte Betrachtung, wie der Umgang mit neuen, unvertrauten Technologien ausfallen kann. Es geht um die historische Frage, ob unbekannte Technologien immer auch als neu aufgefasst wurden. Für die Gegenwart gilt jedenfalls: Steht eine Technologie in Aussicht, dann wird sie als neue Technologie bestimmt. Die Frage, ob es andere Bestimmungs- und Auffassungsmöglichkeiten für in Aussicht stehende Technologien gibt, scheint kaum verständlich: Was sollte eine neue Technologie anderes sein als eben neu? Hier scheinen die Worte zu fehlen – und damit auch das Verständnis für den Sinn der Frage. Oder gibt es schlicht keine anderen Erfahrungen, die mit unbekannter Technologie gemacht werden kann, als dass sie neu ist? Die Sprache für ein so vielfältiges und aktuell ungemein wichtiges Phänomen wie Technik ist jedenfalls erstaunlich einfach gehalten, wenn es um unbekannte Technologien geht.7 Zwei Bedeutungen von neu lassen sich rekonstruieren: Auf der einen Seite hat neu eine persuasive, gleichsam künstlerische Bedeutung: Technologie ist die Schöpfung, die Erfindung, die Imagination von etwas bislang Unvorstellbarem. Auf der anderen Seite findet sich ein gänzlich formaler Begriff von neu: Neu ist dann schlicht das Gegenteil von bekannt, vertraut, alt und trifft auf entsprechend viel und äußerst Verschiedenes zu. Auch auf diesem Weg scheint es unausweichlich, die Kategorie „neu“ für im Kommen begriffene Technik zu verwenden. Die Frage lautet nun, ob die Betonung der Neuheit bei neuen Technologien tatsächlich so selbstverständlich ist, weil sie alternativlos ist, oder ob sie alternativlos ist, weil sie so selbstverständlich ist. Beide Bedeutungen von neu rekurrieren auf Vertrautheit: Wenn Technologie bislang Unvorstellbares in Aussicht stellt, dann bricht sie mit der vertrauten Welt; die formale Definition von neu wird unmittelbar an der Negation von vertraut gebildet. Dieser Gesichtspunkt, die Relation von Potenzialerwartung und Auflösung des Vertrauten, lässt allerdings Alternativen 7
Vergleichbar der heutigen Verwendung des Ausdrucks schön. 103
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zu neu erkennen. In einem Gegensatz zum Vertrauten steht nicht nur das Neue, sondern auch das Fremde und das Wunderbare (Admirable, Kuriose). Es handelt sich hierbei nicht um lediglich prinzipielle, semantisch bloß denkbare Alternativen. Vielmehr ist historisch Technik als fremd und als wunderbar verstanden worden. Auch wenn es sich dabei – rückblickend und formal betrachtet – um „neue“ Technik handelte, galt sie nicht (oder nicht primär) als neu, sondern als fremd oder wunderbar. Der entdeckte negative Bezug von Potenzial und Vertrautheit lässt uns daher unser technisches Vokabular erweitern. Spuren dieser Geschichte fremder oder wunderbarer Technik möchte ich nun abschließend rekonstruieren.
3.1 Spuren einer Geschichte fremder Technik Eine unvertraute Technologie ist nicht nur eine neue, sie ist auch eine fremde Technologie: eine Technologie, die fremd ist und zu Fremdem führt; eine Technologie, die in ihrer Handhabung, ihrem Gebrauch fremd ist und zu fremden Selbst- und Welterfahrungen führt. Mitten auf einem belebten Platz in der Öffentlichkeit zu stehen und dabei mittels eines Handys mit einer einem nahe stehenden Personen vielleicht noch über intime Gedanken zu sprechen, war vor einigen Jahren eine nicht nur neue, sondern auch fremde Erfahrung, eine neue, aber auch fremde Situation. Ebenso ist es eine Fremdheitserfahrung, eigene Gedanken in einem Blog scheinbar jedermann im World Wide Web zugänglich zu machen; man erlebt sich selbst anders und als anderen. Technik handlungsförmig agieren zu sehen wie bei einem selbsteinparkenden Auto ist nicht nur neu, sondern auch fremd. Die Imagination, dass Kinder im Labor designt werden können, führt nicht dazu, dass diese Kinder als neue, sondern vor allem als fremde Kinder vorgestellt werden. Vermutlich dürfte selbst Brot, das aus gentechnisch verändertem Getreide hergestellt wird, nicht einfach neu oder nur anders sein, sondern eine Fremde mit sich bringen. Es gibt also eine Alternative zur Kategorie neu. Technologie kann neu und/oder fremd sein. Worin besteht aber der Unterschied zwischen neu und fremd? Fremdes impliziert einen Ort und damit eine mögliche Herkunft, eine Transition von woher nach wohin. Es impliziert damit auch eine Grenze, die von irgendeiner Seite überschritten wurde. Das Fremde kommt von irgendwo her oder ist irgendwo zu finden. Das ist bei Neuem anders. Neues als Ergebnis eines kreativen Prozesses schließt die Frage nach einem Ort, von dem es kommt, geradezu aus; auch die rein formale Bedeutung von „neu“ blendet die Frage nach der Herkunft
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des Neuen aus.8 Diese Bedeutung von „fremd“ lässt sich auch bei den oben genannten Erfahrungen mit fremden und fremd „machenden“ Technologien wiederfinden. Im Blog spannt die Fremdheitserfahrung eine Transition von sich im Alltag zur Selbsterfahrung im Word Wide Web auf. Beim selbstagierenden Auto kommt „aus dem Auto“ eine Aktion, die handlungsförmig anmutet und sonst Personen vorbehalten ist; die Grenze zwischen handelnden Personen und technischen Aktivitäten scheint durchquert worden zu sein. Das Designkind hat das Labor als seinen Herkunftsort. Gibt es geschichtliche Spuren für die Fremdheit von Technologie? Blumenberg hat die (Vor-)Geschichte der neuen Technologie rekonstruiert. Gibt es auch eine Geschichte der fremden und verfremdenden, befremdenden, entfremdenden Technologie? So überraschend, vielleicht auch eigenwillig diese Perspektive auf Technologie als Fremde anmuten mag – sie ist nicht ohne Geschichte. Die meisten Arbeiten zum Fremden sind im soziologischen und sozialphilosophischen Kontext entstanden (vgl. Simmel 1908; Röttgers 1997, 2005; Bauman 1992; Nassehi 1995) oder sie setzen tiefer an und untersuchen das Fremde im Sinne einer allgemeinen phänomenalen Kategorie (Waldenfels 1990, 1997). Vorarbeiten zu fremder und befremdender Technologie fehlen meines Wissens; allein die auf Marx zurückgehende Tradition hat Technisierung als Entfremdung systematisch betrachtet. Dem kann ich hier nur wenige weitere Materialproben hinzufügen, vor allem zu Francis Bacon und der utopischen sowie Science Fiction-Literatur.
Francis Bacon: Aufbruch in die technische Fremde In Francis Bacons Schriften ist eine bislang kaum bekannte Präferenz für das Neue vernehmbar. Fremdheit scheint keine Rolle zu spielen. Nicht nur der Titel seines Hauptwerks zur Naturforschung weist ohne Scham auf das Neue als einen offensichtlichen Vorzug hin: Novum Organon. Im Werk selbst finden sich viele ähnliche Äußerungen. Das Neue, so Bacon, hat einen solchen Eigenwert gewonnen, dass es inzwischen gefälscht würde. „Denn schaut man sich die bunte Mannigfaltigkeit der Bücher genauer an, deren sich Künste und Wissenschaft rühmen, wird man überall finden, daß dieselben Dinge oft wiederholt, längst Gefundenes neu aufgeputzt gebracht wird.“ (Bacon 1620: 15) 8
Vgl. die Fremden in Platons Dialogen (fremd: ξένον) wie Diotima im Symposium, sie entstammen fremden Orten. Auch Simmel (1908: 764771) behandelt den Fremden in seiner Soziologie im Abschnitt über den „Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“. 105
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Neuheit beansprucht Bacon aber für seine eigene Arbeit, zumindest das kann man von ihr sagen: „Sie ist wenigstens neu“ (Bacon 1620: 9). Das drückt auch das vieldiskutierte Frontispiz der Instauratio magna, der großen wissenschaftlichen Erneuerung aus, die nicht fertig gestellt wurde, als deren zweiter Teil aber das Novum Organon erscheint. Das Schiff, welches darauf zu sehen ist, ist kurz davor die Säulen des Herakles zu passieren – eine mythisch-geographische Grenze.9 Es überschreitet damit das, was zuvor als Ende der Welt galt und was sich angesichts der Entdeckung der „neuen Welt“ nur als die Grenze der bislang vertrauten Welt herausstellte. Es symbolisiert eine Selbstüberschreitung des Denkens und vor allem Könnens: Alte Welt, neue Welt, vertraute Welt, terra incognita, geographische Grenze, mythische Grenze, Grenze des Könnens und Denkens, das Schiff als menschliche Seele, als Staat, als Kosmos, als Fortschrittstechnik, -vehikel und -symbol, die vielfältige Emblematik von Risiko und Neugierde – all das verdichtet sich in diesem Titelbild.10 Man verstehe das nicht so, als wenn in so vielen Jahrhunderten und mit so viel Arbeit gar nichts erreicht worden wäre. Die geschehenen Entdeckungen bereue ich nicht, und die Alten haben sich in dem, was vom Geist und dem reinen Nachdenken abhängt, als bewunderungswürdige Männer gezeigt. Aber so wie in frühen Jahrhunderten man bei der Schifffahrt den Weg nur nach den Sternen bestimmen konnte, sich an den Küsten des alten Kontinents halten musste und nur kleine und binnenländische Meere durchschneiden konnte, und wie, bevor der Ocean beschifft und die Länder eines neuen Welttheils entdeckt werden konnten, der Gebrauch der Magnetnadel als eines sichereren und zuverlässigeren Führers bekannt sein musste, so ist in ähnlicher Weise das bis jetzt in den Wissenschaften und Künsten Entdeckte nur derart, wie es durch Uebung, Nachdenken, Beobachtungen und Beweisführungen gefunden werden konnte, indem es den Sinnen näher steht und unter die gewöhnlichen Begriffe fällt; um aber zu dem Verborgeneren und Entfernteren in der Natur zu gelangen, ist nothwendig die Einführung eines besseren und vollkommeneren Gebrauchs und Wirkens des menschlichen Geistes und Verstandes erforderlich. (Bacon 1620: 27)
Die Einführung also eines Novum Organons. Dies ermöglicht es, Nova Atlantis zu erreichen, wie Bacons szientifische und technopolitische Inselutopie betitelt ist. Die von dort berichteten technischen und wissenschaftlichen Neuheiten bleiben entweder sehr vage in ihrer Beschrei9
Entsprechend dieses Moments der Passage wurde Bacon selbst charakterisiert. Vgl. Minkowski 1937; Konersmann 1992. 10 Zum Motiv der Grenzüberschreitung als Fortschrittsgeschichte bei Bacon vgl. Mieth 2002. 106
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bung oder stellen zu Bacons Zeit bereits bekannte technische Errungenschaften dar (Bacon 1624: 205-213). Bacon reflektierte diese Schwierigkeit, auf Neues zu kommen, bereits im Novum Organon. Auch der Umstand kann zu Hoffnung leiten, daß einige der bisherigen Erfindungen der Art sind, daß es vor ihrer Erfindung kaum jemanden in den Sinn gekommen wäre, darüber überhaupt nur Vermutungen anzustellen. Er hätte derartiges als unmöglich angetan. Den Menschen ist es nämlich eigen, über Neues nach dem Beispiel des Alten und gemäß ihrer danach gebildeten und getrübten Phantasie zu schwätzen. (Bacon 1620: 229)
Phantasie und Denken sind für Bacon ungeeignete Vermögen, um Neues zu finden, weil sie zu sehr vom Alten, Vertrauten, Gewohnten bestimmt sind. Das Neue liegt jenseits des bislang als möglich Geltenden, wie es vom Vertrauten abgesteckt ist. Deshalb hat das Erfinden noch deutliche Anteile von einem Finden. Das Erfundene wird bislang eher durch Zufälle entdeckt, was sich eben dadurch erklärt, dass es, wie bereits erwähnt, von dem bisher Bekannten völlig verschieden war und ihm so fern stand, daß irgendein bloßer Begriff niemals hätte hinführen können. Daher ist durchaus zu hoffen, daß die Natur in ihrem Schoße noch viele kostbare Sachen verborgen hält, die mit dem bisher Erfundenen keinerlei Verwandtschaft oder Ähnlichkeit haben, sondern weitab von den Pfaden der Phantasie gelegen und bis jetzt noch nicht entdeckt worden sind. (Bacon 1620: 229)
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Bacon betont die Neuheit der Erfindungen ebenso wie die seiner (als Technik verstandenen) Methode. Von Fremden oder Fremdheit wird nicht gesprochen. Allerdings stellt das Frontispiz der Instauratio magna den Augenblick einer Reise dar, in welchem eine Grenze überschritten wird, welche aus der vertrauten Welt in eine fremde führt. Das Neue bietet dafür die Voraussetzungen, wie das obige Zitat belegt. Um ins Fremde zu gelangen – sei es geographisch oder metaphorisch – sind technische Entdeckungen wie die Magnetnadel (oder die Methode), die orientiert, nötig. Das bleibt aber eine Implikation des Bildes. An anderer Stelle wird man ausdrücklich fündig. In einem frühen Essay von 1601 wendet sich Bacon bereits dem Thema des Neuen, genauer der Neuerungen zu. Der Essay „Of Innovations“ diskutiert das Neue im Zusammenhang zeittheoretischer Überlegungen. Zeit wird als der größte Neuerer bestimmt (Bacon 1625: 132). Neuerungen, insbesondere technische, ergeben sich aber nicht von alleine, indem Zeit einfach verrinnt. Bloß vergehende und damit kontinuierliche Zeit führt so wie 107
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natürliche Bewegungen nicht von sich zum Guten. Vielmehr sei starke, erzwungene Bewegung am Anfang nötig. Aber damit ist das Ziel der (guten) Erneuerung nicht erreicht. Denn am Anfang sind Neuerungen, so Bacons Vergleich, unförmig wie Neugeburten. Sie widerstreiten dem Vertrauten, dieses genieße aber den Vorzug, „that what is settled by custom, though it be not good, yet at least it is fit“ (Bacon 1625: 132). Neue Technik dagegen erscheine wie ein Fremder: „Besides, they are like strangers; more admired, and less favored.“ Daher müssen sich Neuerungen schleichend und langsam ins Gewohnte einfügen. „It were good, therefore, that men in their innovations would follow the example of time itself; which indeed innovateth greatly, but quietly, by degrees scarce to be perceived.“ (ebd.)11 In Bacons Essay sind die technischen Erfindungen bewunderte, aber ungeliebte Fremde, die ins vertraute Umfeld kommen. In Nova Atlantis findet umgekehrt der Aufbruch in die (technische) Fremde statt. Die reisenden Entdecker, auf der Insel Bensalem ankommend und dort willkommen geheißen, übernachten im Fremdenheim („Strangers' House“, so der offizielle Name), sie treffen auf für sie fremde Techniken und ihnen fremde wissenschaftliche Erkenntnisse, neben einer fremden Organisationsform und Verfassung. Die Erzählung gibt sich viel Mühe, um die immense Fremdheit der Insel Bensalem und ihrer Bewohner abzusichern. Geschildert wird ihre Entlegenheit; die Zufälligkeit ihrer Entdeckung; ihre geographische Nichtverortbarkeit (durch einen Sturm abgetrieben, hat man sie entdeckt, ohne zu wissen, wo sie liegt); dass es die ersten Fremden seit 37 Jahren seien, die auf die Insel kämen; ihre dichte Bewaldung, die sie von weitem dunkel und daher schwer erkennbar macht; die heimliche und äußerst vorsichtige Auskundschaftung anderer Länder durch die Insulaner, so dass kein eigentlich Kontakt besteht. Hinzu kommen die erwartungsgemäßen Schilderungen von für die Ankömmlinge fremden Sitten und Gebräuchen und nicht zuletzt von Raritäten, die den überlegenen Stand von Technik und Forschung auf der Insel verbürgen sollen.12 Im Mittelpunkt steht jedoch die Schilderung des Hauses Salomons: also der Forschungsstätte und ihrer Errungenschaften. In der Art einer Schatzkammer, eines Wunderkabinetts oder tatsächlich eines Schlaraffenlandes werden die Entdeckungen und Erfindungen des Hauses Salo11 Dies erinnert von der Beschreibung bis zur Terminologie an Montaignes Schilderung des Gewöhnungsprozesses, insbesondere in dessen Kuhanekdote. Bacons Essay „Of Custom and Education“ nimmt auch offensichtlich einige Motive von Montaignes Essay über Gewohnheit auf. 12 Vgl. die vielen faszinierten Wahrnehmungen von unbekannten (überlegenen) Farben und Stoffen. 108
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mons aufgelistet. Sorgfältig werden die geschilderten Errungenschaften dabei mit dem Attribut „euch unbekannt“ („to you unknown“) gegenüber den Ankömmlingen versehen (Bacon 1624: 210 f.). Es fällt allerdings auf, wie viel Mühe es Bacon bereitet, Fremdes in einem emphatischen Sinne zu schildern. Häufig handelt es sich um einfache Überbietungen, Steigerungen von in Europa bereits Vorhandenem. In anderen Fällen schildert er die Realisierung europäischer Wunschträume, zuweilen auch schon Realisiertes, wie Fernrohr und Mikroskop. Radikal Fremdes fehlt.13 Man könnte daher folgern, Fremdes habe vielleicht doch keinerlei Bedeutung für Bacons Nova Atlantis. Stattdessen kommt es darauf an, zu verstehen, dass Fremdheit ein strikter Relationsbegriff ist, nicht eine Eigenschaft. Es gibt verschiedene Formen gibt, diese Relation zu gestalten. Kurt Röttgers (1997: 185 f.) unterscheidet verschiedene Modelle, wie Fremdes und Eigenes ins Verhältnis zueinander gesetzt werden können. In ausdrücklichen Bezug auf Bacon spricht er von einem Aneignungstypus: Eines der für die Neuzeit charakteristischen Modelle, Erfahrungen der Fremdheit zu machen, ist die Ausfahrt. Wer ausfährt, will Rückkehr, Rückkehr mit Beute oder nach erfolgreichem Tausch, jedenfalls bereichert; dieses ist auch das Modell des Erfahrungen-Machens. […] Maßstab der ErfahrungsBereicherung ist das in der Sphäre der Eigenheit gültige System von Wissen und Werten. Die Fremde wird so an-geeignet; ja, selbst solange wir in der Fremde sind, müssen wir – diesem Modell zufolge – Erfahrungen und Bewertungen mit diesen mitgebrachten Kriterien der Aneignung machen. (Röttgers: 277)
Dass es sich um ein Aneignungsmodell handelt und dass gegenüber dem Fremden andere Verhaltensweisen vorstellbar sind, zeigt sich an der frühen Kritik der neuzeitlichen und aufklärerischen Reiseberichte. Von Rousseau über Voltaire, Forster, Herder und andere werden die Unzulänglichkeiten der Reiseberichte einer Art Quellenkritik unterzogen und die Einblendung des Eigenen in das Fremde problematisiert (vgl. Wuthenow 1982: 320-323). Aber wieso spielt das Moment der Reise überhaupt so eine große Rolle? 13 Ein wiederholter und ausdrücklich auch gegenüber der Utopie Bacons geäußerter Vorwurf lautet: Sie sei im Grunde konservativ, sie verkleide traditionelle Vorstellungen in eine fortschrittlich anmutende Rationalität. Auch auf Bacons Neu-Atlantis sind die überlegenen Einwohner Christen, sie haben zudem eine hierarchische Gesellschaftsordnung, sie haben Privatbesitz, Geldverkehr. 109
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Fremdheitslektüren: Vom Science Fiction zur Utopie Es mag so erscheinen, als wenn neuzeitliche Utopien die Flaschenpost eines umzusetzenden Bauplans für eine zukünftige Gesellschaft enthielten. Eine Blaupause zu bieten, ist jedoch nicht ihre grundlegende Intention gewesen. Vielmehr geht es um eine Gegenwelt, welches Kritik ermöglicht, welche einen Maßstab für die eigene Gegenwart anbietet (Funke 1982: 300 f.; Seibt 1982: 260 f.). Auch damalige Selbstbeschreibungen verstehen die Utopie als eine Norm, an der die eigene Welt gemessen wird.14 Utopie wäre demnach der Titel einer idealen Gesellschaft. Ihre Idealisierung liegt dann in der Darstellung einer kontrafaktischen und nie zu erreichenden „harmonia“. Alle sind im Konsens, Dissensmöglichkeiten wie beispielsweise Eigentum sind eliminiert, es gibt eine ideale transparente Sprache, Technik und Wissenschaft sind nahtlos in die Bedürfnisse und Bestrebung einorganisiert, politische Herrschaft erfolgt im Einverständnis aller und ist insofern keine Herrschaft mehr. Die zentrale Differenz hieße folglich: ideal/real. Ein anderer Blick auf die Utopien ergibt sich, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Differenz vertraut/fremd betrachtet werden – sowie als Versuche, dieses Verhältnis auszugestalten. Was spricht dafür? Ein zentraler Zug, der die verschiedenen Utopien miteinander verbindet und den sie auch mit Science Fiction teilen, ist das Verlassen des vertrauten Bereichs. Das zentrale literarische Instrument hierfür ist die Reise. Bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts handelt es sich zunächst um „Raumutopien“.15 Daher ist zunächst die Schiffsreise das Medium, welches die vertraute, aber imperfekte und die fremde, harmonisch geordnete Gesellschaft miteinander in Kontakt bringt. Den historischen Hintergrund bildet das Ereignis der Entdeckung der Neuen Welt. Diese ist allerdings die Entdeckung von Fremdheitszonen jenseits der Säulen des Herakles, deren Überquerung Bacon im Frontispiz seiner Instauratio magna darstellt, denn dort werden der fremde Mensch und die fremde Gesellschaft angetroffen, nicht die neue. An dieser Nahtstelle, wo Eigenes und Fremdes sich begegnen, entstehen die Konstruktionen des Fremden: etwa des Edlen und des bö14 Vgl. Stockinger 1982: 230-232. Stockinger weist dies an diversen Lexika wie dem Zedler (in dem Utopie als lateinisches Wort von Schlaraffenland fungiert) und Georg Paschs (1707) Überlegungen zur Utopie als „secundum Statum naturalem“ nach. Er selbst sieht dies allerdings noch als vereinfachte Selbstdeutung, die neuzeitliche Utopie sei auf das Problem von situativer politischer Klugheit bzw. Autonomisierung von Politik und Anspruch auf universelle Normen bezogen. 15 Erst 1770 entsteht mit Louis-Sébastian Merciers Das Jahr 2440 (L’An Deux Mille Quatre Cent Quarante. Rêve s’il en fut jamais) die Gattung der Zeit- bzw. Zukunftsutopien, so Kosseleck 2003. 110
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sen Wilden (Fink-Eitel 1994: 96-111). Die Wunderkabinette, die Ökonomie der Rarität, der verfremdete Blick auf den epistemischen Gegenstand wie auf ein fremdes Land, den der englische Naturforscher Robert Hooke methodisch empfiehlt16, stehen in diesem Zusammenhang. Reiseliteratur ist zwar vor allem im 17. und 18. Jahrhundert äußerst beliebt (vgl. Wuthenow 1982). Die Reise bleibt allerdings auch fortan eines der wenigen Momente, das heterogene utopische Texte untereinander verbindet: Ob mit dem Schiff zur Insel, zum Mond, ins Innere der Erde, durch den Weltraum oder durch die Zeit – jeweils wird gereist.17 Von der Entfremdungsfunktion der Reise zehren jedenfalls auch die Satiren, welche so die nötige Distanz erzeugen, durch welche die eigene Gesellschaft in der parodierten Gestalt der fremden erkennbar wird18 – und dadurch nicht bloß die fremde eigen, sondern vor allem die eigene fremd wird (vgl. Ruyer 1950: 352). Selbst dort, wo in Science Fiction-Literatur die Reise nicht mehr als ein Entfremdungsinstrument eingesetzt wird, geht es um ein Verlassen des vertrauten Erfahrungsraums. Andere literarische Instrumente stehen zur Verfügung. Die Darstellung der Fremde einer Gesellschaft wird dann beispielsweise durch ein von ihr entfremdetes Individuum übernommen – so in Dystopien wie Schöne neue Welt und 1984 – oder das Fremde wird als Fremdkörper im Vertrauten platziert wie Mary Shelleys Monster. Technik steht in einer zweifachen Funktion zum Fremden: Sie ist das Mobil, welches zum Fremden führt und dieses durch Technik angetroffene Fremde ist zumeist auch fremde Technik. In einer der meistgelesenen Utopien des 19. Jahrhunderts, Edward Bellamys Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887 (Looking Back-
16 „[E]in Beobachter sollte sich bemühen, solche Experimente und Beobachtungen, welche gebräuchlicher sind und an die er sich mehr gewöhnt hat, derart zu betrachten, als ob sie die großartigsten Raritäten seien, und sich selbst als eine Person eines anderen Landes […] zu imaginieren, so dass er nie von dergleichen Dingen zuvor gehört oder gesehen hat“. (Hooke 1666: 62) 17 Im für die nachfolgende utopische Literatur zentralen Utopia von Thomas Morus (De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia, 1516) ist die Diskontinierung zwischen Vertrautem und Fremden selbst ein Thema im Text: Die Diskontinuierung und damit die Voraussetzung der Schiffsreise wird eigens geschaffen. Die Insel Abraxa war früher mit dem Festland verbunden, sie wurde erst zu Utopia, nachdem die Erde in gewaltigen Mengen ausgehoben und so Utopia vom Festland abgetrennt wurde. Zudem ist die Einfahrt, wie ausführlich beschrieben wird, äußerst gefährlich, kaum zu überwinden. 18 So beispielsweise Jonathan Swifts Gullivers Reisen (1726). Auch die bespottete Technik einer Maschine, welche jedes Buch (durch Kombinatorik) schreiben könne, wird dazu auf eine, hier fliegende, Insel verfrachtet. 111
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ward) aus dem Jahr 1888, wird die Fremdheitserfahrung minutiös durch ein Kontrastmittel dargestellt. Dessen Protagonist Julian West wacht nach einer 1887, um seine Schlafprobleme zu beheben, durchgeführten Hypnose aufgrund einer Verkettung von Zufällen erst im Jahre 2000 auf. Von einem Wachmoment zum nächsten findet er sich so „plötzlich in eine neue Welt verschlagen“.19 West wird dort Historiker, er ist ja auf ironische Weise Spezialist für die alte Zeit, die ‚alte Welt‘. In diesem Zusammenhang, so wird dann klar, entstand auch der vorliegende Text von Looking Backward. West geht als Historiker im Vorwort von Looking Backward auf die Schwierigkeit des Lesers des Jahres 2000 ein, das 19. Jahrhundert zu verstehen. Als Zweck des Buches wird angegeben, „den Leser für den Augenblick vergessen zu lassen“, was für ihn seine hochgradig selbstverständliche Gegenwart ist. Es geht dabei um die Schwierigkeit, „etwas so Selbstverständliches“ wie die eigene Gegenwart und die eigenen Gewohnheiten einzuklammern (4). Das verbindet West mit der Frage nach der Greifbarkeit von Fortschritt. Es scheint mir, daß wir nirgends einen festeren Grund für kühne Ahnungen menschlicher Entwicklung während der nächsten tausend Jahre finden können, als indem wir auf den Fortschritt der letzten hundert einen ‚Rückblick‘ werfen. (4)
Das Problem besteht in der Vergesslichkeit des gesellschaftlichen Gedächtnisses. „Die Leichtigkeit, womit die Leute sich, als an etwas Selbstverständliches, an Verbesserungen ihrer Lage gewöhnen, welche, als man zuerst an sie dachte, nichts zu wünschen übrigzulassen schienen“ wird durch das Vergessen des immensen Abstands zum 19. Jahrhundert offensichtlich. West wird durch diese fehlende Selbstverständlichkeit zum Technik- und Gesellschaftshistoriker; darin liegt auch seine Erwartung in Bezug auf das Ausmaß kommender Veränderung begründet. Eine Wendung besteht in der für ihn entstehenden Fremdheit zu seiner eigenen Vergangenheit. West träumt einmal, dass es nur ein Traum sei, dass er im Jahre 2000 nun lebe. Im Traum wacht er auf und glaubt sich wieder im Jahr 1887. Im Traum, in dem er sich wach glaubt, geht er durch die Straßen der damaligen Zeit und sieht, was er damals gesehen hat. „In alledem war nichts, was mir neu war. Oft war ich durch diesen Stadtteil gegangen“. (261) Dennoch tritt durch den Verlust an Selbstverständlichkeit eine Fremdheit nun im Gewohnten und Vertrauten ein. „Ich fand ein Interesse daran, die vielen vorübergehenden Menschen zu 19 Bellamy 1888: 31. – Die nachfolgenden Angaben in Klammern beziehen sich auf diesen Text. 112
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beobachten, wie man ein solches hat, wenn man die Bevölkerung einer fremden Stadt studiert – so fremd waren mir meine Mitbürger und deren Sitten seit gestern geworden.“ (258) In Bellamys Looking Backward werden vertraut/fremd anders als in Bacons Nova Atlantis nicht angeeignet, vom Maßstab des Eigenen aus vermessen. Eher ist es umgekehrt: das Fremde wird zum Maß des Vertrauten, das den Vergleich nicht bestehen kann. Der Blick wird umgedreht (Looking Backward), um Fremdheitserfahrung zu stimulieren. Was ist mit diesem Blick auf die utopische und Science FictionLiteratur gewonnen? Aufgrund ihrer Exploration des Unvertrauten stellt sie eine Art „Fremdheitswissenschaft“ dar (Gehring 2007: 159). Was Gehring hier über die Science Fiction-Literatur schreibt, gilt gleichermaßen für die utopischen Texte. In deren Zentrum steht Wissenschaft, aber dies für sich genommen ist jedoch eigentlich [nicht] ihr Gegenstand. Was Science-Fiction Texte vielmehr erkunden, sind die Grenzen der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation. Diese Grenzen werden bis ins Extreme hinausgeschobenen, und an ihnen wird etwas heraufbeschworen: die Begegnung mit dem sehr, sehr Fremden. (Gehring 2007: 159)
Die Erzählungen leiten über in „andere, unheimliche Gegenwarten, in denen Vertrautes entgleitet.“ Science-Fiction umkreisen die nie dagewesenen, erst kaum erdenklichen Möglichkeiten der technisch erschlossenen Welt. Bewohner fremder Galaxien nähern sich der Erde, man schickt Sternreisende in die Fremde, aus dem Inneren vermeintlich gefügiger Technologien taucht das Fremde herauf. (Gehring 2007: 159)
Dreierlei ist damit gewonnen: 1. Belegt wurde, dass es eine Geschichte fremder und ins Fremde bringender Technologie gibt. 2. Historisch bestanden also andere Formen für unbekannte Technologien. Sie mussten nicht neu sein. Utopische Literatur und Science Fiction haben sie jedenfalls nicht primär als neu, sondern als fremd verstanden. Offensichtlich sind die Erfahrungen, die mit unbekannter Technologie gemacht werden, reicher. 3. Eine weitere Facette zum Modell, dass neue (oder wir nun auch sagen können) fremde Technologien, Vertrautes auslöschen, ist damit gewonnen.
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3.2 Wunderbare Maschinen Technologien werden nicht nur als neu oder fremd erfahren, sondern auch als wunderbar. Auch diese Erfahrung hat eine Geschichte, sie verweist, wie schon fremde Technik, wiederum auf Vertrautheit als ihren Gegenpol. Im Mittelpunkt der Geschichte wunderbarer Technik steht ausgerechnet das mechanistische Modell. In einer knappen historischen Untersuchung stellt Daniela BailerJones dar, was der Vorzug mechanistischer Modelle ist. Sie bringen Lückenlosigkeit zur Erscheinung, und zwar sowohl die Lückenlosigkeit mechanistischer Prozesse als auch ihrer Erklärung. Wie Bailer-Jones sie am Beispiel des Fahrrads erläutert: Ein Mechanismus ist etwas, dem Schritt für Schritt gefolgt werden kann, zumindest in Gedanken. Man kann zum Beispiel verstehen, wie die Räder eines Fahrrads bewegt werden, indem man beobachtet, wie die Füße des Fahrers eine Kraft ausüben, zunächst auf das eine Pedal, dann auf das andere, welche bewirkt, dass eine rigide Kurbel rotiert; das heißt eine Radachse, die in der Mitte eines Zahnrads befestigt ist. Der Fußhebel bewegt das Zahnrad mittels einer Kette. Diese Kette ist mit einem anderen Zahnrad verbunden, das am Hinterrad des Fahrrads ist. Eine Bewegung löst eine andere aus, eine Sache verursacht eine andere und auf diese Weise wird eine ganze Kette von Ereignissen in Gang gesetzt. (Bailer-Jones 2005: 9)
Das Modell macht also einen lückenlosen Fortgang sichtbar. Damit erfüllt es wichtige Postulate der neuzeitlichen Naturforschung und Technikdarstellung. Vor allem bei Gottfried Wilhelm Leibniz wird, wie zuvor schon dargestellt, die Lückenlosigkeit des Weltgeschehens zu einem theoretischen Kernpunkt. Leibniz universalisiert dabei die Kontinuitätsgesetze (Stetigkeitsgesetze) der Geometrie und Arithmetik: Sie sollen auch für Individuen, Natur, Technik, Geschichte gelten (Leibniz 1687). Alles folgt einem lückenlosen Ablauf. Lückenlosigkeit kann dabei sowohl kausal als auch final verstanden werden. Sie ist Bedingung für die Form der Zeit als auch für die Möglichkeit von Rationalität und Erklärung: Nach meiner Ansicht ist kraft metaphysischer Gründe alles im Universum derart miteinander verbunden, daß die Gegenwart stets mit der Zukunft schwanger geht und daß jeder gegebene Zustand nur durch den ihm unmittelbar voraufgehenden auf natürliche Weise erklärbar ist. Leugnet man dies, dann wird es in der Welt Lücken geben, die das große Prinzip des zureichenden Grundes umstoßen und uns dazu zwingen werden, für die Erklärung der Phänomene zu Wundern oder zum bloßen Zufall Zuflucht zu nehmen. Ich meine deshalb, um 114
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mich in der Sprache der Algebra auszudrücken, wenn man […] durch eine Formel einer höheren Charakteristik irgendeine wesentliche Eigenschaft des Universums ausdrücken könnte, so könnte man aus ihr die Folgezustände aller seiner Teile für alle angegebenen Zeiten herauslesen. (Leibniz 1702: 262)
Lückenlosigkeit taugt daher auch als „Prüfstein“ dafür, ob eine Theorie fehlerhaft ist: Enthält sie Lücken – und zwar nicht in ihren Erklärungen, sondern in Bezug auf ihren Gegenstand und dessen Darstellung –, ist sie nicht korrekt (Leibniz 1687: 231). Dass die Welt lückenlos ist und es Theorien daher auch sein sollten, dafür kann Leibniz letztlich allerdings ‚pragmatische‘ Gründe (Erklärbarkeit) und metaphysische Gründe (Vernünftigkeit der Welt) anbieten. Denn Lückenlosigkeit ist kein Gegenstand, der sich aufzeigen lässt – schon gar nicht universell. Vor diesem Hintergrund wird die Leistung des Modells erst recht verständlich. (1) Das plastisch-mechanische Modell bringt die Lückenlosigkeit, die vielen Bereichen nur unterstellt werden kann, zur Anschauung. Jedenfalls suggeriert es das. Es scheint Kausalität wahrnehmbar zu machen, setzt einen Kausalnexus in Szene, der sukzessive nachverfolgt werden kann. Auf eine Aktion hier folgt eine Reaktion dort, ein Drücken an dieser Stelle führt zu einem Ziehen an einer anderen usw. Dadurch wird eine Notwendigkeit in Erscheinung gesetzt, die nicht nur visuell nachvollzogen werden kann, sondern gerade in dieser Nachvollziehbarkeit liegt. (2) Die lückenlose Nachvollziehbarkeit des Modells steht dabei in einer Spannung zu seiner Unvertrautheit. Die Darstellung sollte nicht allzu vertraut zu sein, um Kausalität erscheinen zu lassen. Im Gegenteil ist es gerade die Aufmerksamkeit fordernde Neuheit der Mechanismen, die den Blick auf sich zieht und Kausalverhältnisse hier entdecken lässt. Von beidem geben die Maschinenbücher, die in einer ersten dichten Welle seit dem 15. Jahrhundert bis ins 17. Jahrhundert hinein erscheinen und reges Interesse wecken, Auskunft. So wie von Bailer-Jones beschrieben, lässt sich sukzessive im Bild des Maschinenbuchs verfolgen, wie ein Element ins andere des Wirkungsgefüges greift, wie ein Effekt gleichsam weiter gereicht wird. Die beiden in Abbildung 15 im unteren Rad ein wenig versteckten Arbeiter treiben wie die Füße am Fahrradpedal oder der Hamster im Laufrad die Maschine an. Das Rad, in dem sie laufen, dreht sich und mit ihm seine Achse, die zwei an ihr befestigte Wellen in Bewegung setzt, welche die Kraft lückenlos über Zahnräder weiterreichen – und so weiter. Die Lückenlosigkeit in der Darstellung von Kausalketten ist dabei eine unmittelbare Folge davon, dass keine klassische mechanische Maschine ohne unmittelbar aneinander anschließende Teile funktionieren kann. 115
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Abbildung 15 (links): Zeichnung Nr. X aus Stradas Kunstlicher Abrisz Abbildung 16 (rechts): Figura VII. Aus: Giovanni Branca: Le machine
Ein typisches Mittel, um das lückenlose Gefüge sichtbar zu machen und damit die Erklärung der Maschine und deren Nachvollzug zu erleichtern, sind Buchstabenindizes. Anhand einer Buchstabenkette werden in der Beschreibung von Modellen Kausalitätsketten in Form eines lückenlosen Wirkungsgefüges indiziert. Die lückenlose Kette der Buchstabenabfolge visualisiert die lückenlose Weitergabe von Ursachen und Wirkungen. Jeder Buchstabe stellt eine Art Weitergabepunkt dar wie beispielsweise im Modell einer „Walckmühlen so vom Wasser getrieben wird“, „dass nemlich die Welle .B. am Wasserradt .A. mit seinen Lappen oder Armen .C. die 2 Hölzer .E.E. so mit einem Nagel an das oberste Holz F.F. fest gemacht / in die höhe hebt un widerfallen läst / damit das Tuch zwischen den untern kämmichren hözlern D.D. geprest und gewalckt wird“ (Strada 1617: 2). Solche Buchstabenketten tauchen auch in den Abbildungen selbst auf. In Giovanni Brancas Zeichnung eines dampfbetriebenen Walzwerks (1629) visualisieren die Buchstabenindizes, wie in Abbildung 16 erkennbar, die lückenlose Weitergabe von Ursachen auf ihre Wirkungen, die zu Ursachen für weitere Wirkungen werden. Die Maschinenbücher tragen nicht grundlos häufig den Titel „Theatrum Machinarum“ oder „Schauplatz“ der mechanischen Künste oder
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Wissenschaften.20 Denn in ihnen werden nicht lediglich die technischen Eigenschaften und die Funktionsweise der Maschine abgehandelt. Sicherlich stellen sie nützliche Maschinen vor, aber darauf sind sie nicht beschränkt. Die Maschinenbücher stellen auch den phantastischen Effekt, die ‚curiose‘ Funktion, die admirable Leistung der Maschinen dar. Die wunderbare Maschine ist dabei zugleich die unvertraute Maschine mit ungewöhnlicher Mechanik. Ihr kommt eine Hauptrolle im Maschinentheater zu.21 In Andreas Böcklers „Vorrede an den kunstliebenden Leser“ (1661) wird nicht lediglich die Differenz von Natur und Technik instituiert, indem Natur als „Widerspiel“ des dem Menschen Förderlichen erscheint. Die Ästhetik gilt der Maschine, die Bewunderung soll von der doch bloß gewöhnlichen Natur weg und auf die Maschinen hin gelenkt werden: Derowegen sollte man die Augen des Verstands hierinnen etwas bessers auffthun / in Betrachtung / daß wir Menschen ins gemein uns nicht verwundern / über die jenige Sachen / so ordentlicher Weise durch die Natur geschehen / und regieret werden / deren wir gewohnt seyn; Sondern vielmehr deren Dingen / die ausserhalb der Natur dem Menschen zu Nutz / durch Hülff der Kunst zuwegen gebracht / und dannenhero nachdenklich / seltsam und nicht jedermanns Dinge seyn. (Böckler 1661: unpag. Vorrede)
Böcklers Buch zielt – trotz des Appells, das Verwunderliche der Maschinen zu sehen –auf anwendbare Maschinen. Seine Betonung des Widerspiels von Natur und Technik belegt, dass Technik nützlich sein soll. Dennoch findet sich bei ihm die Unterscheidung der „Mechanica“ in „Speculativa“ und „Practica“; er selbst verortet sich auf der praktischen Seite. Die Maschinen des Theatrum Machinarum mussten allerdings keineswegs unmittelbar realisierbar sein, wie Abbildung 17 zeigt. In Salomon de Caus Les Raisons des forces mouvantes avec diverses machines (dt. Von gewaltsamen Bewegungen, 1615) wird durch Modell und 20 Theater ist eine zentrale absolute Metapher der ansetzenden Neuzeit wie die Rede vom anatomischen, vom Kuriositäten-Theater oder vom Theatrum mundi zeigt. Im 18. Jahrhundert scheint sich dies zu ändern. Jacob Leupolds Vorrede (1724) muss sich jedenfalls wider Willen schon bemühen, die Rede vom Theatrum Machinarum zu motivieren – teilweise mit der Auskunft, dass es eben lediglich üblich geworden sei, diese Werke so zu betiteln. Bei Leupold allerdings treten Kuriosität, Wohlgefallen und Nützlichkeit stärker auseinander. Vgl. die Vorrede zu seinem Theatrum Machinarum Generale. 21 Wie überhaupt Gewohnheit in der Neuzeit nicht bloß als Prozess habitueller Aneignung oder subjektive ‚Zutat‘ erscheint, vielmehr ist von gewöhnlichen, alltäglichen, bekannten, gemeinen, niederen, anstößigen Dingen die Rede. Vgl. bspw. Bacon 1620: 1. Buch, Aph. 119. 117
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Berechnung der Nachweis erbracht, dass prinzipiell eine Maschine konstruierbar sei, welche eine solche Gewalt hätte, „daß sich Archimedes dörffe vermessen / daß er den ganzen Erdboden wollte bewegen“. Damit ist mehr verbunden als gedankliche Spielerei oder galanter Zeitvertreib. Es sättigt die ungewohnte Maschine mit ungeheurer Potenzialität, welcher Bewunderung korrespondiert. Abbildung 17: Theorema XVI. aus Caus: Les Raisons des forces mouvantes avec diverses machines
Jan Lazardig hat auf zwei Besonderheiten einiger Maschinenbilder hingewiesen. Erstens tritt gelegentlich im Bild ein Betrachter auf, der mit einem Zeigegestus die Aufmerksamkeit des lesenden Betrachters auf die Kernzone der Maschine lenkt. Zweitens wird zuweilen das Innere der Maschine nur im Ausschnitt gezeigt, indem die Maschinenummantelung nur zum Teil aufgerissen wird; es gibt hier also ein Spiel von Verbergen und Entdecken, durch das exponierte Stellen in Szene gesetzt werden. Lazardigs Deutung dieser beiden Bildelemente geht von Vorworten, Lexikontexten und Bemerkungen in anderen Texten zu Maschinenbüchern aus. Er kann dadurch vor allem für das 17. Jahrhundert belegen, dass bewunderungswürdig, erstaunlich, kurios und neu hervorstechende Attribute von Maschinen waren. Diesen Befund verbindet er mit jenen beiden Bildelementen: Der zeigende Betrachter im Bild wird so zu einem „Vorbild für die admirative Haltung, die der Maschine entgegengebracht wird.“ (Lazardig 2006: 173) Auch das Zeigen und Verdecken durch 118
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Aufriss und Ummantelung stellt eine Blicklenkung dar, die Wunderbares stiftet und zugleich bewahrt, indem es vor dem allzu nackten, profanen Blick auf die bloße Funktionalität geschützt wird. Eine Bemerkung des französischen Aufklärers Bernard le Bovier de Fontenelle, welche Lazardig anführt, reflektiert dieses Spiel von Verborgenem und Enthülltem und die dabei fungierende Haltung: ‚Dabei stelle ich mir immer vor, daß die Natur ein großes Schauspiel ist, das jenem der Oper ähnelt. Von ihrem Platz in der Oper sehen sie die Bühne nicht ganz so, wie sie wirklich ist, [...] und vor ihrem Auge verbirgt man jene Räder und Gegengewichte, die alle Bewegungen ausführen. Daher kümmert es sich auch wenig, ob sie durchschauen, wie dies alles in Bewegung gerät. Vielleicht sorgt sich nur irgendein heimlich im Parkett sitzender Maschinenmeister um einen Flug, der ihm ungewöhnlich vorgekommen sein mag, und er will nun unbedingt erhellen, wie dieser Flug ausgeführt worden ist. Sie sehen deutlich, dieser Maschinenmeister ist weitgehend so beschaffen wie die Philosophen. [...] und wer die Natur sähe, wie sie wirklich ist, erblickte nur den Raum hinter den Kulissen in der Opernbühne.‘ (Lazardig 2006: 184)
Die Darstellung nachvollziehbarer Kausalität und das Wunderbare stehen allerdings in einer Spannung zueinander. Anscheinend widerstreiten die Darstellung von Kausalverläufen und die Blicklenkung auf das Wunderbare einander in bestimmter Weise. Denn für das Spektakel der Maschinen gilt, dass ihre Kausalität allzu lückenlos bekannt sein darf. Carl Friedrich Pockels gründet gut ein Jahrhundert später auf diesem Gedanken seine Theorie des Wunderbaren (1785), welche die Spannung zwischen nachvollziehbarer, lückenloser Kausalität und dem Wunderbaren zu Grundlage hat. Das Wunderbare nimmt bei ihm eine zweifache Rolle in Bezug auf lückenlose Kausalverläufe ein. Zum einen ist es eine Art Joker, der dort eingesetzt werden kann, wo die kausale Kette nicht geschlossen erscheint: Wir sind durch die tägliche Erfahrung so unendlich oft belehrt worden, daß eine jedwede Würkung eine vorhergegangene Ursach haben muß, daß auch der gemeinste Verstand, gleichsam durch eine mechanische Verknüpfung seiner Vorstellungen von Ursach und Würkung, gezwungen wird, sich da eine Ursach hinzudenken, wo sie auch nicht in die Sinne fällt oder überhaupt ganz unbekannt ist. Unsere Seele fühlt gemeiniglich eine Art von besonderer Unruhe, so lange sie noch nicht die zureichende Ursache einer Begebenheit kennt, und in dieser Unruhe fühlt der Mensch sich besonders sehr geneigt, zur Befriedigung seiner Wißbegierde Ursachen zu fingieren, und diese fingierten für die wahren zu halten. (Pockels 1785: 109)
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Doch die Füllung, die „Schließung“ der Lücke durch das Wunderbare bleibt ambivalent: Das Wunderbare – obgleich es die Lücke füllt – ist immer auch Platzhalter der Lücke, paradox formuliert: eine leere Füllung der Lücke. Durch das Wunderbare wird die Einbildungskraft daher „aufs lebhafteste beschäftigt“, „weil unsere Wißbegierde dabei eigentlich nie ganz befriedigt wird“ (Pockels 1785: 111 f.). Der Terminus „Wunderbares“ ist für Pockels im engeren Sinne auf das Übersinnliche bezogen, was aber nicht ausschließt, dass er auch auf Körperliches, Natürliches, Maschinelles seine Anwendung findet (Pockels 1785: 112).22 Für das Wunderbare gilt nach Pockels eine einfache, gewissermaßen ökonomische Regel. Je distinkter, analytischer, verstandesmäßig nachvollzogener etwas ist, desto mehr verliert es von der spezifischen Qualität des Wunderbaren oder Erstaunlichen: Wir fühlen es deutlich, daß ein erhabener Gegenstand, eine wunderbare Begebenheit, welche in uns ein Erstaunen hervorbringt, diese Würkung nicht mehr, wenigstens lange nicht in einem so hohen Grade äussert, wenn jener Gegenstand in seine einzelnen Theile zergliedert, nach den verschiedenen Verhältnissen seiner Größe einzeln betrachtet; und diese Begebenheit nach ihren einzelnen geheimen Triebfedern uns deutlich vor Augen gestellt wird. Unsere Bewunderung hört auf, wenn wir uns das Ding auf einmal deutlich nach seinem ganzen Umfange vorstellen können. (Pockels 1785: 113)
Lückenlose nachvollzogene Kausalität stellt folglich die äußere Grenze des Wunderbaren dar. Unvollständige, lückenhafte, aber möglicherweise nachvollziehbare Kausalität gehört dagegen zu deren Innenbereich, es ist eine Bedingung des Wunderbaren. „[U]nsere Wißbegierde wird uns immer wieder antreiben, die wunderbaren Maschinen zu entdecken“ – solange deren verborgene Kausalität noch nicht nachvollzogen ist (Pockels 1785: 113). Das Begreifen gehört daher vermutlich noch zum äußersten Innenbereich, erst das Begriffen-Haben bestimmt den Anfang der Außenseite: das Abflauen des Kuriosen, den Abstieg des einst Wunderbarem zum Gewöhnlichen. Im Grenzfall kann ein Gegenstand für Pockels auch ohne jegliche Bestimmung gedacht werden.23 Aber ein solcher Zustand kann nur
22 Am Wunderbaren „reizt in unzähligen Fällen das Unvollendete, Halbbekannte und Versteckte in Erzählungen sowohl, als Begebenheiten und Gegenstände menschlicher Künste und Wissenschaften unsere Aufmerksamkeit mehr, als das Bestimmte, Vollendete und Bekannte“. Es kommt auf die Kausallücke an, nicht auf den Gegenstand. Ebd., S. 112 23 Im Zusammenhang mit der Rede von den dunklen Begriffen bietet Pockels eine Theorie der Furcht an, die als ein Vorläufer des Angstbegriffs 120
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schwer aufrechterhalten werden. Dazu trägt neben der Analyse, der Zergliederung und zunehmenden Bestimmtheit noch etwas (ganz) anderes bei – die bloße Gewöhnung. In der Ökonomie des Wunderbaren verliert es bereits durch das bloße Vergehen von Zeit an Wert. Das Wunderbare wird durch Gewöhnung an den zunächst unklaren Gegenstand gemindert – ohne dass er nun verstanden, rational begriffen worden wäre. „Hierzu kommt noch der besondere Umstand, daß wir uns nach und nach an erhabene sinnliche Gegenstände, wenn wir sie oft sehen, so gewöhnen können, daß sie endlich keinen, oder doch nur einen geringern Grad des Erstaunens in uns erzeugen.“ (Pockels 1785: 114) Wunderbare Maschinen gibt es bei Pockels nur in dem schmalen Bereich zwischen begriffen haben und Gewöhnung.
bei Kierkegaard, Heidegger und Blumenberg erscheint (Pockels 1785: 114). 121
V. Ü B E R G AN G : V O N P O T E N Z I AL - Z U V E R T R AU T H E I T S E R W AR T U N G E N
In diesem Teil ging es um die Beantwortung der Frage, wie Potenzialerwartungen entstehen. Zu ihrer Beantwortung waren die verfügbaren begrifflichen Instrumente ungenügend. Der Kontingenzbegriff erwies sich als Voraussetzung und Haupthindernis. Über Wittgensteins Entdeckung von Angelannahmen als den vertrauten Angeln von Welt wurde ein Instrument gewonnen, das eine immanent-empirische Unterscheidung ermöglichte. Auf dieser Basis konnte ein Modell gebildet werden, welches die Entstehung von Potenzialerwartung erklärt. Im Weiteren konnten dieses Modell angereichert werden: die Dynamik, die Hyperkontingenz, mit welcher neue Technologien auftreten, konnte so verstanden werden; die Beschreibung des Intensivierungsverhältnisses mittels der Doublette von Arche- und Technologietyp war ein weiterer Schritt. Aus diesem angereicherten Modellkern ergaben sich schließlich Folgerungen in Hinsicht auf Technikkonflikte (Angst oder Furcht?) und den politischen Umgang mit neuen Technologien (Kontinuität oder Diskontinuität?). Der letzte Gewinn dieses Modelles bestand dann schließlich in einer historischen Erweiterung unserer Perspektive. „Neue“ Technologie wurde nicht stets als neu, sondern auch als fremd oder wunderbar erlebt. Ständiger negativer Bezugspunkt war Vertrautheit. Jeder Abschnitt operierte zumindest latent mit dem Verlust des Vertrauten:
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• • • • •
Entstehung von Potenzialerwartungen Hyperkontingenz Technikangst Diskontinuierung Neue, fremde, wunderbare Technik
Negation des Vertrauten
Um Vertrautheit selbst in ihrer positiven Gegebenheit, nicht ihrem Verlust, haben wir uns aber noch nicht gekümmert. Das wird Thema des nächsten Teils sein.
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I. W E L C H E R Z U S AM M E N H AN G B E S T E H T Z W I S C H E N V E R T R AU T H E I T U N D T E C H N I K ?
In den Fahrstuhl steigend drückt man eine Taste und erwartet, dass sich nun nicht lediglich die Tür schließt oder Musik erklingt, sondern sich der Fahrstuhl in Bewegung setzt. Ein Lenkrad einschlagend erwartet man, dass das Auto seine Richtung ändert, Gas gebend, dass es beschleunigt, das Radio andrehend, dass Musik oder zumindest Geräusche erklingen. Die Tür wird aufgeschlossen, der Lichtschalter gedrückt, der Computer gestartet in Erwartung eines bestimmten, mehr oder wenig detailliert vorgezeichneten technischen Verhaltens. In strenger Allgemeinheit geschieht jeglicher Handgriff in Erwartung von etwas. Von den Mikroaktionen des Knopfdrucks bis zu umfassenden, verwickelt aufeinander aufbauenden Handlungssequenzen, welche als Ganze einen Zweck verfolgen, handelt man mit Technik in Erwartung von… Im Alltag ist zwar kaum präsent, dass man beim Einsteigen in einen Fahrstuhl etwas erwartet. Es wird allerdings dadurch erkennbar, dass man enttäuscht werden kann – sei die Enttäuschung überraschend oder irritierend, sei sie auch als Enttäuschung auf einer zweiten Ebene normal. Zumeist gehen im technisierten Alltag die Erwartungen auf: Der Wecker klingelt zur erwarteten Zeit, nach einem Tastendruck hört er, wie erwartet, auf. An einem Geldautomaten stehend hebt man nach der Eingabe – noch bevor Karte und Geld erscheinen – in ihrer Erwartung die Hand, um sie zu entnehmen. Man greift aus in Erwartung des Verhaltens der Maschine, man greift dorthin, wo die Maschine als nächstes sein wird. Der Alltag ist voller solcher Erwartungen, die so banal sind, dass leichthin verkannt wird, wie basal sie für sein Gelingen sind.
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Technische Erwartungen dieser Art sind also tief in unseren Alltag eingewachsen, sie durchziehen ihn. Sie bestimmen die Routinen, die gewohnten, die vertraute Abläufe. Sie scheinen auch deshalb kaum auffällig, weil sie so vertraut sind. Die Verlässlichkeit der Technik selbst befördert diese Routinisierung. Das führt zu der Frage: Wie ist das Verhältnis von Technik und Vertrautheit beschaffen? Technik und Vertrautheit werden seit der klassischen Phänomenologie in einem engen Zusammenhang gesehen. Es handelt aber um ein bisher ungeklärt enges Verhältnis. Lebenswelt ist die Bezeichnung für eine Verhältnisweise zur Technik, in der diese in die Fraglosigkeit der natürlichen Einstellung zurückgefunden hat: Technik ist wie (eine zweite) Natur. Zweite Natur ist wiederum in vielen Theorien eine zentrale Bestimmung von Gewohnheit. Gewohnheit wird zudem häufig als etwas Mechanistisches aufgefasst – und damit als etwas Technisches. Technik und Gewohnheit verweisen also aufeinander zurück. Das eine wird zur Erläuterung und Bestimmung des anderen verwendet; beide stehen in einem engen Verhältnis, das selbst aber ungeklärt bleibt. Ist Vertrautheit eine Art Technik? Funktioniert Technisches wie Gewohntes? Im Folgenden will ich versuchen, dieses Verhältnis zu klären, um dabei über Aussagen hinauszugelangen wie: Vertrautheit ist grundlegend für Technik. Diese Aussagenform, nämlich x ist grundlegend für y, ist kaum aussagekräftig.1 Ich werde zunächst (1) einige der neuzeitlichen und modernen Bestimmungen von Vertrautheit und Gewohnheit rekonstruieren.2 Dabei will ich darstellen, wie Gewohnheit mit Attributen bestimmt wird, die sonst Technik zukommen. Anschließend (2) werde ich umgekehrt rekonstruieren, wie Technik in der klassischen Phänomenologie auf Vertrautheit zurückgeführt wird. In einer (3) Synopse stelle ich die rekonstruierten Attribute von Technik und Gewohnheit einander gegenüber und erläutere das Ergebnis. Wenn Technik mit Merkmalen von Gewohnheit bestimmt wird und umgekehrt, dann verschärft sich die Ausgangsfrage. Abschnitt zwei ist dann der Versuch, einen Durchbruch in dieser Frage zu erzielen.
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Es ist Teil eines recht willkürlichen Überbietungsspiels moderner Philosophie auf solche Letztfundamentalitäten zu kommen: Zeit ist grundlegend für Raum, Raum ist grundlegend für Sprache, (oder war es umgekehrt?), Sprache ist grundlegend für…? Die ich im Folgenden zunächst äquivalent behandeln werde. In den klassischen Texten gibt es keine terminologische Differenz zwischen beiden, auch wenn in der Regel jeweils einer der beiden hauptsächlich verwendet wird.
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1 . M e r k m a l e vo n G ew o h n h e i t i m 1 7 . u n d 18. Jahrhundert Inmitten der Neuzeit, als das Neue entdeckt und bewundert wird3, gewinnt ausgerechnet ein Phänomen an Aufmerksamkeit, das wie kaum ein anderes dem Beharrlichen, dem Trägen, dem unauffälligen Tradieren von Vergangenheit gewidmet ist: Gewohnheit, habitus, consuetudo. Der Aufschwung des Themas hängt sicher damit zusammen, dass Gewohntes, Vertrautes neuzeitlich in Bewegung geraten war. Ferner auch: dass gezielt nach Wegen gesucht wurde, wie man sich aus Gewohnheiten befreien könnte. Der politische und wissenschaftliche Fortschritt schien durch Gewohnheit behindert. Welche Eigenschaften wurden Gewohnheit damals zugeschrieben?
1.1 Die Verborgenheit der Gewohnheit und des Gewohnten Michel de Montaigne hat einen seiner Essais der Gewohnheit gewidmet. In einer gleichnishaften Anekdote entfaltet Montaigne dabei eine Eigenschaft von Gewohnheit, welche die neuzeitlichen Methodologien der Naturforscher nachhaltig beschäftigen wird. Montaigne erzählt von einer Bauersfrau, die zunächst ein Kalb auf ihrem Rücken trägt und später, aufgrund der Gewöhnung, auch den ausgewachsenen Ochsen. Das Gleichnis verdeutlicht die spezifische Machtform von Gewohnheit: Sie ist ein mächtiger Souverän – allerdings ohne strahlende Repräsentanz. Ganz verstohlen, auf leisen Sohlen dehnt sie Stück für Stück ihren Machtbereich in uns aus. Aber hat sie nach diesen sanften und bescheidnen Anfängen mit Hilfe der Zeit erst einmal in uns Fuß gefaßt und sich seßhaft gemacht, läßt sie alsbald die Maske fallen und zeigt uns ihr grimmiges und tyrannisches Gesicht, gegen das auch nur den Blick zu heben wir nicht mehr die Freiheit haben. So sehen wir sie nun auf Schritt und Tritt die Regeln der Natur vergewaltigen: Die Gewohnheit ist die mächtigste Herrin über alle Dinge. (Montaigne 1589: 60)
Das Problem besteht darin, dass Gewohnheit sich selbst verbirgt. Sie wird nicht mehr als Gewohnheit erkannt. Aber sie verbirgt nicht nur sich selbst, sondern auch das, woran man gewöhnt ist: den Ochsen auf dem Rücken. Das steht in einem engen Verhältnis zu einer zweiten Eigenschaft von Gewohnheit, die ich deshalb hier zusammen mit ihrer Ver3
Zu den Schritten dieses Prozesses, die schließlich in der Selbstbenennung Neuzeit gipfeln vgl. Dipper 2004. 129
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borgenheit bespreche: die Verborgenheit als Sinnverlust durch Gewöhnung.
1.2 Verborgenheit als Sinnverlust durch Gewöhnung „Die Müller, die Huf- und Waffenschmiede würden den Lärm nicht überleben, der in ihre Ohren dröhnt, wenn er ihnen so durch Mark und Bein ginge wie uns. Mein parfümiertes Koller leistet zwar meiner Nase gute Dienste, nachdem ich es jedoch drei Tage hintereinander getragen habe, nur noch den Nasen der Umstehenden“, schreibt Montaigne (1589: 60). An solchen Beispielen, heißt es weiter, zeigt sich, „daß unsere Sinne durch die Gewöhnung in hohem Maße abstumpfen“ (ebd.). Wahrnehmungsgewohnheiten führen dazu, dass das, woran man gewohnt ist, ebenso wenig noch wahrgenommen wird wie die Gewohnheit selbst. Für die neuzeitliche Naturerforschung stellt diese doppelte Nichtpräsenz ein inzwischen aufdringlich gewordenes methodisches Ärgernis dar. Die der Gewohnheit verschuldete ‚Blindheit‘ forderte die Methodologien der Naturforscher heraus. Hier kommen sie überein: Das Problem der Gewohnheit besteht darin, dass sie die Wahrnehmung und das freie Urteil stört. Als hauptsächliches Erkenntnishindernis gilt, „daß nicht alle Dinge um uns herum wahrgenommen werden können, sondern daß im Gegenteil gerade diejenigen, die sich dort gewöhnlich befinden, am wenigsten wahrgenommen werden, und diejenigen, die immer dort sind, niemals“ (Descartes 1633: 29). Wiederholt werden die allzu vertrauten Dinge als die eigentlich allzu unbekannten Dinge demaskiert. Deshalb wird nachdrücklich geradezu dafür geworben, sich den alltäglichen Sachen zu zuwenden. Bei den Dingen, die alltäglich erscheinen, mögen die Menschen folgendes bedenken: bisher pflegten sie nichts anderes zu tun, als die Ursachen des Seltenen auf das, was häufig geschieht, zurückzuführen und ihm anzupassen, aber für das, was häufig geschieht, hat man keine Ursachen gesucht, sondern man nimmt es als selbstverständlich an. (Bacon 1620: 119)
Doch wie soll mit diesem Appell fürs Gewöhnliche umgegangen werden? Aus ihm ergeben sie keinerlei Direktiven, kein Hinweis, wie das Problem zu lösen wäre. Die „Irrtümer der Natur, das Unbestimmte und die Missgeburten, wo die Natur von ihrem regelmässigen Gange abgeht und ausbiegt“, mag man zwar methodologisch schätzen, indem sie den „Verstand vor der Gewohnheit“ schützen (Bacon 1620: Aph. 297). Aber handlungsleitend ist eine solche Wertschätzung nicht. Es kann nicht immer auf korrupte Naturereignisse gewartet werden. 130
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Das Problem liegt für die Methodologien vor allem darin, dass anders als bei dem Blick durch das Mikroskop oder das Fernrohr die Frage der Blickverzerrung, die Frage nach dem, was die Wahrnehmung abzuändern vermag, sie stören, verzerren, stellenweise blind machen könnte, nur sehr allgemein mit Gewohnheit umschrieben werden kann. Denn zu diesem aufdringlichen Nichtphänomen gehört ja gerade, dass es nicht nur das allzu Vertraute verschwinden macht, die alltäglichen Dinge und Ereignisse, sondern in eins auch sich selbst. Wie kann nun dieser unscheinbare Souverän entmächtigt werden, der überall zu sein scheint und doch nirgends in Erscheinung tritt? Es sind die englischen Naturforscher der sich gerade instituierenden Royal Society in London, die eine mehr oder minder methodische Entwöhnungstechnik empfehlen: Robert Hooke und Robert Boyle. Eine künstliche Fremdheit soll imaginativ gewonnen werden. Dieser Vorschlag ist vor einem besonderen historischen Kontext zu verstehen, der Fremdes ins vertraute Nahumfeld brachte. Es ist die Zeit der Wunderkabinette. Einhergehend mit der kolonialen Expansion kommen Raritäten aus weit entfernten fremden Ländern ins eigene Land und unvertraute, merkwürdige Dinge vor die Augen der Forscher. Vor diesem Hintergrund werden die methodologischen Empfehlungen formuliert: Robert Hooke vergleicht den Eingeborenen („Native“) eines fremden Landes mit jemandem, der dort zum ersten Mal ist und dem daher alles merkwürdig erscheint. Bittet man diese beiden, davon zu berichten, so sei es die Regel, dass Eingeborene oder solche, welche sehr vertraut mit dem Land sind, es am schlechtesten beschrieben. Dagegen würden jene, welche unwissend sind und denen daher alles merkwürdig fremd erscheint, sofern sie nur neugierig und wissbegierig sind, den vollkommensten und vollständigsten Bericht liefern: „Diese nähmen üblicherweise von allem Notiz, weil es aufgrund seiner Neuheit so fremd erscheine, wogegen die Eingeborenen darüber hinweg gehen, weil sie daran gewohnt sind.“ (Hooke 1666: 62 – Übersetzung AK) Daraus sucht Hooke Gewinn zu schlagen. Die Experimentatoren müssten eine Einstellung gewinnen, in der die Dinge, die sie betrachten, wieder zu Raritäten werden – wie jene im Wunderkabinett aus fremden Ländern. Er selbst hatte es erlebt: Hooke war Pionier in der Forschung mittels des Mikroskops. In seinem 1665 veröffentlichten Werk Micrographia finden sich viele Zeichnungen, welche darstellen, wie für den technisch verfremdeten Blick durch das Mikroskop die vertrautesten und banalsten Alltagsdinge Erkenntnisreliefs gewinnen. Die scheinbar glatte Rasierklinge etwa zeigte sich im Blick durchs Mikroskop als zutiefst zerfurcht. Doch nicht immer kann ein Mikroskop diesen fremden Blick technisch induzieren; zudem, auch dieser fremde Blick wird sich durch Gewöhnung 131
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abschleifen. Als eine Art Einstellungstechnik für den Forscher schlägt Hooke deshalb vor: [E]in Beobachter sollte sich bemühen, solche Experimente und Beobachtungen, welche gebräuchlicher sind und an die er sich mehr gewöhnt hat, derart zu betrachten, als ob sie die großartigsten Raritäten seien, und sich selbst als eine Person eines anderen Landes […] zu imaginieren, so dass er nie von dergleichen Dingen zuvor gehört oder gesehen hat: Und zu diesem Zweck, um diese Phänomene und Effekte, an welche er sich gewöhnt hat und darum sehr geneigt sein würde, über sie hinweg zu gehen und zu fliegen, sorgsam ins Auge zu fassen, um zu prüfen, ob eine bedachtere Erwägung nicht etwas Bedeutendes an diesen Dingen entdeckt, die, weil sie gebräuchlich sind, vernachlässigt wurden: Dazu bin ich sehr geneigt zu glauben, daß, wenn dieser Kurs eingeschlagen worden sein würde, wir weitaus größere Naturentdeckungen gemacht hätten, als bislang erzielt worden sind. (Hooke 1666: 62 – Übersetzung AK)
Ziemlich ähnlich ist der Vorschlag, den Boyle unterbreitet (vgl. Nelle 2003). Er empfiehlt, der Experimentator solle imaginieren, er sei eine blinde Person, deren Sehvermögen nach einer Operation wieder hergestellt sein würde. Dies hätte den Effekt, dass ihr alles zu einem erstaunlichen Schauspiel würde.4 Entwöhnung und Steigerung der sensuellen Intensität gehen auch hier Hand in Hand.
1.3 Gewohnheit als (zweite) Natur Weil die Gewohnheit sich selbst verbirgt, kann es zu überraschenden Entdeckungen kommen. Wiederum Montaigne berichtet in den Essais einen solchen Fall: Einmal sollte ich einen unsrer Bräuche, der auch weit um uns her entschieden hochgehalten wurde, rechtlich Geltung verschaffen; ich wollte aber nicht, wie es sonst geschieht, ihn allein kraft der Gesetze und Präzendenzfälle für gültig erklären, sondern bis zu seinem Ursprung vordringen, der jedoch, so fand ich heraus, eine derart kümmerliche Begründung lieferte, daß sie mir die Sache verleidete: mich, der ich diesen Brauch anderen als verbindlich zu erklären hatte! [...] Wer sich vom herrischen Vorurteil des Herkommens befreien möchte, wird auf manche Dinge stoßen, die mit einer jedem Zweifel unzugänglichen Entschiedenheit eingehalten werden, jedoch keine andere Stütze haben als den altersgrauen Bart und die Runzeln der Gewohnheit. (Montaigne 1589: 64)
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Vgl. hierzu den hervorragenden Text von Nelle 2003: 151.
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Als Natur (im Sinne von Ursprung) des Brauchs stellte sich die Gewohnheit heraus. Was die Gewohnheit Montaigne allerdings verleidet, ist unter anderem ihre Beliebigkeit. Der erhabene Ursprung, nach dem er suchte, erweist sich als kontingent. Blaise Pascal wird in seinen um 1660 aufgezeichneten Pensées nicht müde, all die der Vernunft widersprechenden, weil kontingenten Unterschiede zu registrieren: „[D]rei Grad Polhöhe kehren die ganze Jurisprudenz um, ein Meridian entscheidet über die Wahrheit. In wenigen Herrschaftsjahren ändern sich die Grundgesetze [...]. Eine lachhafte Gerechtigkeit, die ein Fluß begrenzt. Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits.“ Für Pascal fußt Autorität deshalb auf Gewohnheit: „Die Gewohnheit (ist) die ganze Gerechtigkeit“. Gewohnheit ist allerdings wenig würdevoll, sie bietet einen Angriffspunkte, Autorität herabzusetzen, indem man sie auf ihren habituellen Ursprung zurück verfolgt: „Die Kunst, Staaten in Aufruhr zu versetzen und umzuwälzen, besteht darin, die herkömmlichen Gewohnheiten zu erschüttern, indem man sie bis zu ihrer Quelle ergründet, um ihren Mangel an Autorität und Gerechtigkeit zu enthüllen.“5 Die ungemein große, wenngleich wenig würdevolle Bedeutung der Gewohnheit ist keineswegs auf Politik begrenzt. Ihre Bedeutung steigert6 sich in den Pensées, nach und nach scheint alles von ihrer glanzlosen Kraft erfasst. So stellt Pascal die Frage, „was unsere natürlichen Prinzipien anderes [sind] als Gewohnheitsprinzipien? […] Eine andersartige Gewohnheit wird andere natürliche Prinzipien ergeben.“ (Pascal 1658-1662: Aph. 125/92)7 Zwei Deutungen dieser Aussagen sind möglich: (i) Für Pascal löst sich Natur in Gewohnheit auf. Oder: (ii) Es wird fälschlicherweise als Natur betrachtet, was nur Gewohnheit ist. Dass die erste Deutung zutrifft, zeigt der nachfolgende Aphorismus. Gewohnheit wird darin zunächst mit der scheinbar harmlosen Formel bestimmt, welche bis in die Gegenwart prägend geblieben ist: Gewohnheit ist eine 5
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Alle Zitate aus Pascal 1658-1662: Aph. 60/294. – Vgl. zum Kontingenzbewusstsein angesichts der Unermesslichkeit von Raum und Zeit und der eigenen Position darin auch Aph. 68/205: „[...] so gerate ich in Schrecken und erstaune, mich eher hier als dort zu sehen, denn es gibt keinen Grund, warum es eher hier als dort ist, warum jetzt und nicht vielmehr früher.“ Ferner 135/469: „Ich fühle, daß es für mich möglich ist, nicht gelebt zu haben, [...] also bin ich kein notwendiges Wesen.“ Wobei eingeschränkt werden muss: ob sich dieser Bedeutungszuwachs auch in der Chronologie der Aphorismen widerspiegelt, ist aufgrund der Überlieferungsgeschichte der Pensées nicht mit Gewissheit zu sagen, es ist aber auch nicht entscheidend. Als „erste Prinzipien“ gelten ihm an anderer Stelle, ausdrücklich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, „Raum, Zeit, Bewegung“ (Pascal 1658-1662: Aph. 110/282). 133
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zweite Natur. Dadurch gibt es zwei Naturen, die natürliche als erste und die habituelle als zweite, sie können dann zueinander in eine Spannung geraten. Für Pascal ist die zweite dabei die stärkere: „Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, welche die erste zerstört.“ Der enge Konnex zwischen Gewohnheit und Natur, der mit der Formel ‚Gewohnheit als zweite Natur‘ gestiftet wird, ermöglicht Pascal die schon vorbereitete Wendung noch einmal klarzustellen: „Aber was ist Natur eigentlich? Warum ist die Gewohnheit nicht natürlich? Ich befürchte sehr, daß diese Natur selbst nur eine erste Gewohnheit ist, wie die Gewohnheit eine zweite Natur ist.“ (Pascal 1658-1662: Aph. 126/93)8 Natur selbst ist wohl, so vermutet Pascal, nur eine erste Gewohnheit. Das verändert auch das Verständnis von Gewohnheit als zweiter Natur, dies ist nun nicht mehr als eine harmlose Formel zu verstehen, sofern Gewohnheit das erste Prinzip ist. Gewohnheit als zweite Natur, Natur als erste Gewohnheit – Pascals Motiv für ihre Verschränkung dürfte darin bestehen, dass beide gleichermaßen radikal kontingent sind und beide gleichermaßen Kontingenz radikal einschränken.9 So hat, was Gewohnheit ist, keinen Grund für sein Sosein und sein Gelten. Es könnte also prinzipiell vollkommen anders sein. Gerade Gewohnheiten sind allerdings ungemein schwer zu ändern, obgleich sie wie kaum etwas anderes prinzipiell der Änderung zugänglich erscheinen: Ihr als Natur erscheinen (welche sie auch tatsächlich für Pascal sind, nur in anderem Verständnis), ihr Beharrungsvermögen und ihre Verborgenheit lassen diesen stillen Souverän (Montaigne) nicht leicht vom Thron reißen.
1.4 Die Entlastungsleistung von Gewohnheit Im 1739 veröffentlichten ersten Band seines Treatise of Human Nature fragt David Hume nach dem Status von Kausalität. Drei Ansprüche sind 8
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Ohne dass wir diesen Aphorismus und seinen Kontext (Ordnung des Herzens, Ordnung der Maschine; vgl. dazu auch Pascal 1651) hier weiter verfolgen können: Pascal nimmt die Rede von den zwei Naturen wiederholt auf, aber in der Regel in anderer Bedeutung, und zwar im Zusammenhang mit seiner zentralen These von der Widersprüchlichkeit des Menschen, diesem „unbegreifliche[n] Monstrum“ (Aph. 130/420). Diese wird als Doppelnatur reformuliert, vgl. dazu den langen Aphorismus 149/430, ferner 136/139. – Dagegen ein anderer Zusammenhang in Aph. 663/121. – Die Rede von der Natur als erste Gewohnheit taucht aufschlussreich bei Leibniz in der „Metaphysische Abhandlung“ auf, und zwar in § 7, wo es heißt, „daß diese Natur nur eine Gewohnheit Gottes ist“. Funke (1958: 253 f.) belegt ferner, dass sich dieser Gedanke auch bei Novalis findet. Vgl. zur Kontingenz bei Pascal auch die Aphorismen 25/308, 99/80, 536. Ferner: 634/97, 525/325.
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mit Kausalität verbunden, so Hume: die raum-zeitliche Kontiguität von Ursache und Wirkung, die zeitliche Priorität der Ursache vor der Wirkung und die notwendige Verknüpfung beider (Hume 1739: 102-104). Problematisch ist das dritte Merkmal: die notwendige Verknüpfung. Die Untersuchung zweier Ereignisse ergibt, so Hume, nie die notwendige Verknüpfung, welche Kausalität impliziert. Eine notwendige Verbindung – etwa zwischen Feuer als Ursache und Wärme als Wirkung – kann weder analytisch, also aus den Vorstellungen selbst, noch durch Wahrnehmung gewonnen werden: Weder ist es ein logisch-notwendiges Implikat der Vorstellung von Feuer, dass es wärmt; es ist zwar faktisch so, es wäre aber kein logischer Widerspruch, würde es kühlen. Noch kann eine Ursache oder eine Wirkung beobachtet werden. „Man bemerkt nur, dass das Eine tatsächlich und wirklich dem Andern folgt. Dem Stoße der einen Billardkugel folgt die Bewegung der zweiten. Dies allein nehmen die äußeren Sinne wahr“, heißt es in Enquiry Concerning Human Understanding (Hume 1748: 58 f.). Auch die wiederholte Beobachtung einer Ereignisfolge fügt dem, so Hume, nichts hinzu, vor allem keine notwendige Verbindung, außer einer Sache: der Wiederholung selbst. Humes bekanntes Argument ist deshalb, Kausalität auf Gewohnheit zurückzuführen. Kausalität ist „jene durch die Gewohnheit hervorgerufene Neigung, von einem Gegenstand auf die Vorstellung desjenigen Gegenstandes überzugehen, der ihn gewöhnlich begleitet. In ihr besteht also das Wesen der Notwendigkeit.“ (Hume 1739: 224).10 Auch die Berufung auf das Kausalitätsprinzip selbst gründet in einer solchen Gewöhnung: Denn „daß gleiche Gegenstände unter gleichen begleitenden Umständen stets gleiche Wirkungen hervorrufen“, diese Regel hat sich „durch Gewohnheit genügend festgesetzt“, dadurch dass „viele Millionen Beobachtungen uns von der Wahrheit der Regel überzeugen konnten“ (Hume 1739: 144). Daran ändert auch die Berufung auf das Gleichbleiben der Natur nichts: Zunächst wissen wir, daß die Annahme, die Zukunft gleiche der Vergangenheit, nicht durch Argumente irgend welcher Art bewiesen werden kann, sondern einzig und allein der Gewohnheit entstammt, die uns nötigt in der Zukunft die uns einmal geläufig gewordene Folge von Gegenständen wieder zu erwarten. (Hume 1739: 183 f.) 10 Humes Text wurde vor allem als Kausalitätsanalyse gelesen und darin ein regularitätstheoretischer oder kontrafaktischer Ansatz zu ihrer Begründung gesehen (vgl. Heidelberger 1992: 131-133, 145-148; Kulenkampf 1994: 448). Dabei bleibt es aber nicht. Hume liefert auch einen Beitrag zu einer Theorie der Gewohnheit. 135
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Was Hume an Kausalität besonders interessiert, ist, dass sie über Gegenwärtiges hinausführt. Sie ermöglicht Erwartungen und ist daher von ungemein großer praktischer Bedeutung. Für Hume ist sie die einzige nicht-logische Schlussform. Die Kausalerwartung, zu der sie führt, ist nicht reflexiv. Im Gegenteil: Der Vorzug von Gewohnheit ist gewissermaßen die Entlastung vom Denken, da unsere frühere Erfahrung, von welcher alle unsere Urteile über Ursache und Wirkung abhängen, auf unseren Geist in einer so unmerklichen Weise einwirken kann, daß ihre Einwirkung gar nicht von uns beachtet wird und uns sogar bis zu einem gewissen Grade unbekannt bleiben kann. Unterbricht jemand, wenn er unterwegs an einen Fluß kommt, seine Reise, so zeigt er damit, daß er die Folgen, die sein Weitergehen haben würde, voraussieht; die Kenntnis dieser Folgen liefert ihm frühere Erfahrung, die ihn über dergleichen feststehende Verbindung von Ursachen und Wirkungen belehrt hat. Dürfen wir aber annehmen, daß der Betreffende bei dieser Gelegenheit an irgend eine der früheren Erfahrungen zurückdenkt oder sich Fälle, die er gesehen oder von denen er gehört hat, ins Gedächtnis zurückruft, um sich die Wirkungen des Wassers auf animalische Körper klar zu machen? Ganz gewiß nicht; der Denkvorgang, der in ihm stattfindet, ist anders beschaffen. Die Vorstellung des Sinkens ist so eng mit der des Wassers verbunden und die Vorstellung des Erstickens so eng mit der des Sinkens, daß der Geist den Übergang ohne Hilfe der Erinnerung vollzieht. Die Gewohnheit tritt in Tätigkeit, ehe wir Zeit zum Nachdenken haben; Wasser, Sinken, Ersticken sind Dinge, die uns so unzertrennlich erscheinen, daß wir, ohne uns auch nur einen Augenblick zu besinnen, von dem einen zum anderen denkend übergehen. (Hume 1739: 142)
Der „Schluss“, den Gewohnheit erlaubt, ist folglich nicht nur keine logische Schlussfolgerung, sondern nicht einmal eine reflektierte Folgerung, die von Indizien oder Wahrscheinlichkeitsannahmen ausgeht. Es wird keine Prämisse gesetzt und keine Annahme zugrunde gelegte. Solange wir nur der gewohnheitsmäßigen Bestimmtheit des Geistes folgen, vollziehen wir den Übergang ohne Nachdenken; wir lassen zwischen der Wahrnehmung eines Gegenstandes und dem Glauben an denjenigen, den wir häufiger in seiner Begleitung antrafen, keinen Augenblick vergehen. Da die Gewohnheit nicht von der Überlegung abhängt, so tritt sie sofort in Tätigkeit, so daß keine Zeit zum Nachdenken bleibt. (Hume 1739: 183 – Hervorhebung AK)
Gewohnheit und Denken stehen in einem Gegensatz zueinander. Nicht dass Gewohnheit bei Hume mechanisch wäre, sie ist eine „Bestimmtheit
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des Geistes“, heißt es im Zitat. Aber wo Gewohnheit ist, ist kein Denken. Dieses muss dann bemüht werden, wenn etwas ungewohnt ist: Wir können aber ganz allgemein beobachten, daß gerade in solchen Fällen, in denen die Verbindungen bestimmter Ursachen und Wirkungen am sichersten konstatiert sind und die größte Gleichförmigkeit zeigen, wie bei der Schwere, dem Stoß, der Solidität, der Geist nicht geflissentlich den Blick auf die vergangenen Erfahrungen zu richten braucht. Umgekehrt unterstützt er vielleicht in anderen Fällen, wo die Verbindungen der Gegenstände seltener und ungewöhnlicher waren, die Gewohnheit und den Übergang von Eindrücken zu Vorstellungen durch solches Nachdenken. (Hume 1739: 143)
Auf diese Weise kann Gewohnheit das Denken entlasten.
1.5 Zwischenfazit Fassen wir die vier Merkmale von Gewohnheit, welche wir bislang rekonstruierten, zusammen, so ergibt sich folgende Zusammenstellung. Als Attribute von Gewohnheit gelten in der Neuzeit: • Selbstverborgenheit • Sinnverlust • (Zweite) Natur • Entlastung Der erste Schritt ist mit dieser Rekonstruktion einiger, für das Folgende wichtiger Eigenschaften von Gewohnheit, welche ihr die erstaunlich umfangreiche Diskussion vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts zuschrieb, unternommen. Daran schließt sich nun der angekündigte zweite Schritt an, bei dem ich die umgekehrte Perspektive einnehmen werde: Welche Attribute werden Technik zugeschrieben? Wir werden an der klassischen Phänomenologie bei Husserl, Heidegger, Blumenberg und Merleau-Ponty sehen, dass es dieselben sind, die als Attribute von Gewohnheit gelten.
2. Technik in der klassischen Phänomenologie Die Phänomenologie hat sich wie kaum eine andere philosophische oder geisteswissenschaftliche Disziplin mit Technik beschäftigt, obgleich sie an ihrem Anfang keine besondere Affinität zu dem Thema aufwies. Es ist insbesondere Martin Heidegger, der in seinem 1927 erschienenen Werk Sein und Zeit ein Verständnis von Technik entwickelt, das noch
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aktuelle Techniktheorien vielfach aufgreifen; insbesondere die heutigen Medientheorien folgen weitgehend Pfaden, die dort ausgearbeitet wurden.
2.1 Heidegger: Die Unauffälligkeit funktionierender Technik Heidegger geht es in Sein und Zeit um die enge Verflochtenheit von Zeit, Sein und Dasein. Im weiteren Kontext des Technikthemas, das uns hier interessiert, kommt es zu einem Vorwurf Heideggers gegenüber zumindest der neuzeitlichen Philosophie, er lautet: Diese habe ihre Gegenstände eigentlich theorieförmig modelliert. Der Vorwurf besteht nicht darin, dass sie beispielsweise Theorien der Subjektivität aufgestellt habe. Auch Heidegger bietet in Sein und Zeit eine Theorie, keine Mystik. Worauf Heidegger mit diesem Vorwurf stattdessen zielt, ist, dass Philosophie etwa Subjektivität (oder Sein oder Zeit) nach den Maßgaben von Theorien konzipiert hat. Die Bedingungen und Kriterien der Theoriebildung seien unmerklich zu Eigenschaften der Subjektivität geworden. Das heißt: Weil man theoretisch arbeitete und auf Theorie abzielte, also auf Erkenntnis, habe man das Subjekt als Erkenntnissubjekt aufgefasst. Weil man theoretisch arbeitete und daher aus der Praxis heraustrat, sich isolierte, um sich konzentriert seinem Thema zuzuwenden, konzipiert man Subjektivität als ein Subjekt, das sich geistig einem Objekt zuwendet. Sobald in der neuzeitlichen Philosophie scheinbar allgemein und neutral von Subjekten gesprochen wurde, gingen die Bedingungen der Theoriebildung in die Bestimmung des Gegenstands der Theorie ein. Die erkenntnisförmige Philosophie schuf sich so ihre eigenen Fragen: Man fragte sich dann, wie ein Subjekt zu seinem Objekt gelange, wie Geist und Materie zusammenfinden. Die scheinbar allgemeinen Annahmen erweisen sich so als wenig allgemeingültig, im Gegenteil, sie sind hochgradig artifiziell und speziell. Primär befindet man sich für Heidegger nicht in Erkenntnis-, sondern in Praxiszusammenhängen. Auf diese treffen Begriffe wie Subjekt, Objekt, Ding, Wahrnehmung nicht zu. Heidegger vermeidet daher diese Ausdrücke, darin ist das rationale Motiv seiner eigenwilligen Terminologie zu finden. Aus dem Subjekt wird bei Heidegger Dasein, aus dem Ding und Objekt das Zuhandene und nur zuweilen Vorhandene, aus dem Wahrnehmen und Erkennen des Unbekannten das Handeln und das Besorgen im vertrauten Alltag. Der Intentionalitätsbegriff wird durch den Sorgebegriff ersetzt (vgl. Masullo 1989).
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Mit diesem Wechsel des Terrains von (stillschweigend gesetzten) Erkenntnisfragen zur Pragmatik des vertrauten Alltags taucht das Technikthema auf.
Technik ist nie im Singular gegeben Heideggers erste Korrektur und Entdeckung lautet: Technik ist nie im Singular gegeben (Heidegger 1927: § 15). Wie ist das zu verstehen? Es kann doch einen Hammer geben, der einfach und allein auf der Straße oder in der Wüste liegt. Wäre er dann keine Technik? Heidegger diskutiert einen solchen Einwand nicht, aber aus seinen weiteren Überlegungen, wird deutlich, warum Technik nicht als einzelnes Ding vorkommt. Man verfehlt nämlich wiederum die Praxis – und Technik ist Angelegenheit der Praxis. Ein Hammer ist nur für sie und nur in ihr als Hammer gegeben. In dieser technischen Praxis gibt es Technik nur in einem Zusammenhang mit anderer Technik. Technik verweist stets auf weitere Technik: Der Hammer verweist auf Nägel, diese verweisen auf Holz, das Scharnier verweist auf Holz, an dem es mittels Nägeln und einem Hammer angebracht werden kann.11 Anderes Beispiel: das Papier verweist auf den Stift ebenso wie auf die Schere, der Tisch auf die Möglichkeit zu schreiben, die Lampe auf die Schreibsituation am Abend, die Regale auf andere Bücher, die Tür auf die Möglichkeit sie zu schließen, um sich zu konzentrieren (vgl. auch Figal 1992: 65). Technik ist daher in strenger Allgemeinheit nicht im Singular gegeben, weil Technik nur in einer Praxis als Technik gegeben ist und diese Praxis in einem Verweisungszusammenhang besteht.
Der Verweisungszusammenhang von Technik Damit ist das zweite Ergebnis genannt: der Verweisungszusammenhang. Wenn Technik nicht im Singulär auftaucht, sondern nur in einem Zusammenhang, dann stellt sich die Frage, welche Relationen diesen Zusammenhang kennzeichnen. Heidegger spricht hierfür von Verweisungen. Das Ensemble des technischen Verweisungszusammenhangs ver-
11 Technik ist daher nicht per se ein für eine Verwendung hergestelltes Artefakt. Entscheidend ist der Verwendungszusammenhang, in dem es „aufgefasst“ wird. In diesem können auch „Naturdinge“ vorkommen. Der Hammer in der Wüste hat daher nicht seine Technikhaftigkeit verloren, weil keine anderen hergestellten Werkzeuge um ihn herum sind, sondern weil er nicht in einem Verwendungszusammenhang steht. Wäre es das, sei es auch mit lauter „Naturdingen“, wäre er auch in der Wüste technisch zuhanden. 139
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weist von Technik auf weitere Technik (vom Blatt auf die Schere wie auf den Stift wie auf den Papiereimer usw.), ebenso verweist es aber auf das, wofür es geeignet ist, auf Zwecke, die mit ihm zu erreichen sind, darauf, woraus es besteht (aus welchen Materialen), für wen (welche Nutzer) es gemacht wurde usw.
Technik ist Vollzug Mit dieser Überlegung – Technik ist ein Verweisungszusammenhang und daher nicht im Singulär gegeben – ist auch eine dritte Entdeckung Heideggers verbunden: Technik gibt es nur in einer vorreflexiven Praxis. Technik verweist von etwas auf etwas, das klingt zunächst reflexiv, semiotisch, geradezu nach einem künstlichen Schluss, in dem man rekonstruiert, was womit zusammenhängt. Ist das so? Die technischen Verweisungen, welche Heidegger entdeckt, sind keine Indizien in einem Puzzle, das zusammengesetzt werden muss. Im Gegenteil ist Technik nur im technischen Gebrauch gegeben, die technische Praxis vollzieht sich aber gerade nicht reflexiv. Der Verweisungszusammenhang, der Technisches konstituiert, ist nur praktisch zu verstehen: als Umgangsweise. Einen Lichtschalter entdeckt man weder theoretisch, indem man seine Eigenschaften analysiert, noch verwendet man ihn analysierend. Er verweist auf Licht, das auf eine Arbeitssituation am Abend verweist.
Artefakte sind nicht Technik Diese Überlegungen haben eine weitere Korrektur zur Folge. Sie markiert Heideggers viertes Ergebnis: Technik, das sind nicht die Dinge, nicht einmal die Artefakte. Dass Technik in einem praktischen Verweisungszusammenhang besteht und im Singular gegeben ist, bedeutet, dass sie nicht eine Eigenschaft an Dingen ist. Der Hammer ist nicht ein Ding mit diesen und jenen Eigenschaften: einem Stil aus Holz bestimmter Gestalt, daran angebracht ein Stück Metall bestimmter Gestalt. Als Hammer kann in einem Zusammenhang auch eine Flasche taugen. Es handelt sich um einen rein formalen Begriff für einen Modus von Praxis. Man gleitet in der technischen Praxis entlang der Bezüge. Die Verweisungen sind nur in diesem technischen Gebrauch gegeben, sie treten nicht deutlicher durch das Betrachten eines technischen Dings hervor. Im Gegenteil ist Technik nur in dieser technischen Praxis gegeben: Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zeigen kann, z. B. das Hämmern mit dem Hammer, erfaßt weder dieses Seiende thematisch als vorkommendes Ding, noch weiß etwa gar das 140
ZUSAMMENHANG ZWISCHEN VERTRAUTHEIT UND TECHNIK?
Gebrauchen um die Zeugstruktur [der Verweisung] als solche. Das Hämmern hat nicht lediglich noch ein Wissen um den Zeugcharakter des Hammers, sondern es hat sich dieses Zeug so zugeeignet, wie es angemessener nicht möglich ist. In solchem gebrauchenden Umgang unterstellt sich das Besorgen dem für das jeweilige Zeug konstitutiven Um-zu; je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug. Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische ‚Handlichkeit‘ des Hammers. Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit. […] Das schärfste Nur-noch-hinsehen auf das so und so beschaffene ‚Aussehen‘ von Dingen vermag Zuhandenes nicht zu entdecken. Der nur ‚theoretisch‘ hinsehende Blick auf Dinge entbehrt des Verstehens von Zuhandenheit. Der gebrauchend-hantierende Umgang ist aber nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren führt und ihm seine spezifische Dinghaftigkeit verleiht. (Heidegger 1927: 69)
Der Hammer wird nur dann verstanden, wenn er gebraucht wird. Dieses Verstehen führt dazu, dass nicht ein Objekt vor einem liegt und daher vorhanden ist, sondern etwas in einem Zusammenhang zuhanden ist. Ist es zuhanden, ist es nicht vorhanden, wie Heidegger diesen Kippeffekt zwischen Praxis und Objektwahrnehmung bezeichnet. Technik zu gebrauchen, bedeutet demnach, dass sie nicht als Technik zum Thema wird. Ist sie nicht als Technik Thema, sondern wird gebraucht, ist sie im eigentlichen Sinne Technik.12 Das Zuhandene ist weder überhaupt theoretisch erfaßt, noch ist es selbst für die Umsicht zunächst umsichtig thematisch. Das Eigentümliche des zunächst Zuhandenen ist es, in seiner Zuhandenheit sich gleichsam zurückzuziehen, um gerade eigentlich zuhanden zu sein. (Heidegger 1927: 69)
Technik ist vorreflexiv, athematisch Damit ist ein fünftes Ergebnis Heideggers genannt: Technik ist in der Praxis athematisch: Technik ist ein Modus, der bestimmt ist durch jenes „sich gleichsam zurückziehen“ in eine „Unauffälligkeit“ (Heidegger 1927: 75). Dies gilt allerdings unter einer Bedingung: Technik verbirgt sich selbst, sofern sie funktioniert. Schärfer noch: Ihr Funktionieren besteht unter anderem darin, dass sie selbst athematisch wird, selbst nicht mehr als Technik erscheint. Die Tastatur, die man verwendet, sieht man nicht, sofern sie gut funktioniert (und nicht etwa eine Taste klemmt).
12 Das ist ein Axiom der meisten Medientheorien. Vgl. beispielsweise Luhmann 1997: 190-202; Krämer 2003; Halfmann 2003. 141
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Funktioniert sie, ist man stattdessen auf das Display gerichtet und eigentlich auch da nicht. Denn das Display verwendend ist man bei den Buchstaben, die auf ihm erscheinen, die Buchstaben verwendend, ist man aber beim Sinn, den sie haben. Fassen wir zusammen: Alltägliche Technik ist weder „vorkommendes Ding“ noch ein explizites Wissen „um die Zeugstruktur als solche“, sie ist weder „theoretisch erfaßt“ noch praktisch „thematisch“. Vielmehr ist ihr positiver Charakter gleichsam ein verschwindender. Sie ist ein Modus, in dem Technik als solche unauffällig wird, und zwar umso mehr, je besser sie funktioniert. Dann gleitet man in der technischen Praxis entlang der verweisenden Bezüge statt ein Ding wahrzunehmen.
2.2 Husserl: Technik als operatives, erinnerungsloses Gedächtnis Edmund Husserl, die Begründungsfigur der Phänomenologie, fand erst spät zum Thema Technik. Sein Vorträge von 1936, einen 1937 veröffentlichen Zeitschriftenartikel sowie ein Konvolut von über tausend Seiten umfassendes Fragment Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie wendet sich dann jedoch wuchtig dem Thema zu. Technik wird anders als beim frühen Heidegger in geschichtlicher Perspektive betrachtet. Neben Technik ist auch Geschichte ein spätes Thema bei Husserl. Dass beides doch recht jäh zusammen auftaucht, hängt zum einen mit Husserls Absicht zusammen, die Krise seiner Gegenwart zeitdiagnostisch auf den Begriff zu bringen. Diese Krise hat für Husserl ihre Ursache in einer verfehlten Entwicklung europäischer Vernunftgeschichte, die wiederum mit einem verfehlten Gebrauch von Technik zusammen hängt. Die Geschichte der Krise führt Husserl daher zum Thema Technik. Taucht ein neues Thema in einer schon weit ausgebildeten und begrifflich anspruchsvollen Theoriearchitektur auf, stellt sich die Frage, wie es darin eingebettet wird. Das führt zum anderen Grund, warum Geschichte und Technik gemeinsam zum Thema werden. Sie werden an dieselben phänomenologischen Begriffe, nämlich Intentionalität, Horizont und Sinn angeschlossen.
Krise und Geschichte Von welcher Krise spricht Husserl? Was ist der Technikbegriff, auf den er dabei stößt? Husserls Zeitdiagnose zielt auf eine Krise der Wissenschaften, welche ihre „Lebensbedeutsamkeit“ verloren hätten (Hua VI: 142
ZUSAMMENHANG ZWISCHEN VERTRAUTHEIT UND TECHNIK?
3).13 Sie sind zwar erfolgreich, verfehlen aber das Telos, das mit ihnen in der europäischen Vernunftgeschichte angelegt war. Diese Geschichte ist für Husserl durch zwei Zäsuren bestimmt. (1) Es gibt für Husserl, was keineswegs selbstverständlich ist, einen Anfang europäischer Vernunftgeschichte. Wissenschaft entsteht zu einer gewissen Zeit und in einem bestimmten geographischen Raum. Ihre singuläre Entstehung lässt sich rekonstruieren, sie trägt einen Eigennamen, der Europa lautet. In der griechischen Antike kommt es nach Husserl zum Bruch mit der natürlichen Einstellung zur Welt, in der diese naiv unbefragt ‚einfach da‘ ist; sie wird nun in theoretischer Einstellung erfasst, das heißt voraussetzungslos erforscht. Episteme und doxa, wahres und bloß vermeintliches Sein werden einander gegenübergestellt. Entscheidend ist nicht diese Gegenüberstellung für sich allein, sondern dass Wahrheit zu einer Aufgabe wird (Hua VI: 11). Vorbild gebend ist die Euklidische Geometrie. Sie stellt die Idee einer systematischen, deduktiven, apodiktischen Theorie vor, sie führt zu Idealisierungen, idealen Körpern wie Geraden, Kreisen, Dreiecken, die es in der Wirklichkeit nicht gibt (Hua VI: 18). (2) Die zweite Zäsur setzt Husserl mit der neuzeitlichen Philosophie an. Was die Neuzeit der antiken Idee von Wissenschaft hinzufügt, ist die Idee einer universalen, einheitlichen, apodiktischen Philosophie, deren bloße Zweige die einzelnen Wissenschaften sind (Hua VI: 10, 6). Ferner gewinnt die Philosophie der Neuzeit die Idee der Unendlichkeit des Fortschreitens, Wahrheit ist nicht mehr nur Aufgabe, sondern wird zu „einer unendlichen Aufgabe“ (Hua VI: 9). Die europäische Vernunftgeschichte gewinnt für Husserl damit ihr „Telos“. Diese Geschichte ist die „unendliche Bewegung von latenter zu offenbarer Vernunft“. Vernunft würde in dieser Geschichte ihrer selbst „vollbewußt“, ihrer eigenen „Form“ einsichtig (Hua VI: 13 f.). Aber dieses Telos ist nach Husserl unverständlich geworden, es ist gleichsam verblasst, hat seinen Sinn und die Möglichkeit seiner unendlichen Verwirklichung verloren. Die Wissenschaften haben sich von der Philosophie abgekoppelt und sind positivistisch geworden. Sie haben große Erfolge, etwa in der Entdeckung neuer Tatsachen, sie machen Fortschritte, aber der Gedanke eines universalen Erkenntnisfortschritts, welcher Vernunft sich selbst einsichtig macht, erscheint unglaubwürdig und wird nicht mehr verfolgt.
13 Die Werke Husserls werden hier nach der Husserliana (=Hua) und der Angabe der Bandnummer zitiert. 143
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Das ist die allgemeine geschichtliche Perspektive, von der ausgehend sich Husserl dem Krisensyndrom von Objektivität, Idealisierung, Positivismus und Technik nähert. Nun in die Details.
Sinn als Medium von Geschichte Geschichte ist für Husserl Sinngeschichte, nicht Autoren-, Mentalitätsoder Faktengeschichte (vgl. Lyotard 1993: 2. Teil, Kap. 4). Was ist damit gemeint? Sinn bezeichnet bei Husserl erstens die Auffassungsweise eines Gegenstands, sei es eines Wahrnehmungs-, eines Erinnerungs- oder eines idealen wissenschaftlichen Gegenstands. Etwas wird dabei als etwas aufgefasst (vgl. Tengelyi 1998). Ein Etwas, ein und derselbe Gegenstand kann als dieser oder als jener aufgefasst werden, etwa als Tür, die sich an einer seitlich gesehenen Wand abzeichnet, oder als Schatten. Diese Als-Struktur kennzeichnet bereits die Wahrnehmung. Mit ihr hängt die zweite Bedeutung von Sinn zusammen. Der Sinn eines Gegenstands, seine Auffassung, geht dabei über das, was aktuell in der Wahrnehmung vom Gegenstand präsent ist, hinaus. In einer Wahrnehmung eines Tisches beispielsweise ist nur ein Ausschnitt von diesem im Erleben gegeben, dann wiederum ein anderer, der möglicherweise mit dem vorigen kaum Ähnlichkeit aufweist. Dennoch werden nicht einzelne Erlebnisse in wirrer Abfolge erfahren, obgleich die Erlebnisse von ihm einander widersprechen mögen, seine Kopfseite ihn als lang und schmal erscheinen lässt, während er von der Seite breit und kurz erscheint. Die Perspektive von unten mag ferner kaum Ähnlichkeit mit dem gedeckten Tisch oben haben. Dennoch „sieht“ man einen Tisch, obgleich man an Seherlebnissen eben dies nicht hat: einen Tisch. Die Erlebnisse werden aber als die eines Tisches aufgefasst. Dabei ist ein Ausschnitt jeweils aktuell selbstgegeben (die aktuelle Perspektive), anderes ist als Möglichkeit weiterer Wahrnehmungen gegeben (die anderen Seiten des Tisches). Etwas als etwas aufzufassen, bedeutet demnach ein Verhältnis von Aktualität und Möglichkeit, von Fokus und Fortgang.14 Dieses Modalverhältnis bezeichnet die zweite Bedeutung von Sinn bei Husserl. Hier schließen sich daher auch die Begriffe Horizont und Welt 14 Husserl schreibt in Erfahrung und Urteil: Das Wahrgenommene „selbst ist mehr als das jeweils zu aktueller Kenntnis Kommende und schon Gekommene; es ist mit dem Sinn, den ihm sein ‚Innenhorizont‘ ständig mitteilt; die gesehene Seite ist nur Seite, sofern sie ungesehene Seiten hat, die als solche sinnbestimmend antizipiert sind.“ (Husserl 1938: 31) Vor allem Luhmann wird immer wieder auf diesen modalen Sinnbegriff rekurrieren. Vgl. Luhmann 1984: 100 f., 1997: 48 ff. 144
ZUSAMMENHANG ZWISCHEN VERTRAUTHEIT UND TECHNIK?
an. Die erste Bedeutung, die Auffassung mittels der Als-Struktur, und die zweite Bedeutung, das Modalverhältnis von Aktualität und Möglichkeit, hängen zusammen. Denn etwas als Tisch aufzufassen, bedeutet bestimmte Möglichkeiten weiterer Wahrnehmung vorzuzeichnen, wie unbestimmt allgemein diese auch sein mögen – und nur mit diesen weiteren möglichen Wahrnehmungen ist es ein Tisch, also stimmend als Tisch aufgefasst. Etwas als Tür und nicht als Schatten an der Wand aufzufassen impliziert ebenfalls bestimmte Möglichkeiten des Fortgangs der Wahrnehmung. Mit diesen beiden Bedeutungen von Sinn hängt wiederum eine dritte zusammen: Sinn ist eine Idealität.15 Man sieht Sinn nicht, gerade weil, was man sieht, stets perspektivisch ist und erst durch sinnhafte Auffassung zu einem Ganzen wird. Was am Beispiel der Wahrnehmung hier erläutert wurde, gilt ebenso bei anderen Gegenständen, etwa wissenschaftlichen Gegenständen wie Begriffen, Methoden, Lehrsätzen.16 Sie stellen sogar gänzlich ideale Gegenstände dar, an denen etwas aktuell thematisch und explizit ist, das von einem unthematischen Horizont möglicher weiterer Explikation umgeben ist. Man hebt bestimmte Merkmale oder Bezüge eines Begriffes hinaus, andere Bezüge, die dennoch für seine Bedeutung konstitutiv sind, bleiben latent, sie stellen Möglichkeiten weiterer Explikation dar. Im und am Medium Sinn vollzieht sich Geschichte für Husserl. Daher kann Husserl Wissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und Universalgeschichte zusammen behandeln, wie er in der berühmten Beilage III zur Krisis ausführt (Hua VI: 365). Die Mathematik, die mathematische Physik und die Geometrie sind ein „Gesamterwerb geistiger Leistungen“, sie bringen Sinnbildungen hervor, die tradiert werden: Begriffe, Ideen, Objekte, Methoden, Ergebnisse, Theorien. Diese Wissenschaften bilden Husserls zentrales Untersuchungsfeld (Hua VI: 367). In deren Geschichte verschiebt sich nun etwas im Verhältnis von Aktualität und Möglichkeit:
Die wachsende anonyme Tradition Mit der Geometrie entstehen fortlaufend neue Idealitäten, neue geometrische Körper, die sich nirgends in der Wirklichkeit finden. Diese Sinnbildungen müssen tradiert werden, wie Husserl ausführt, sonst gibt es sie schlicht nicht mehr. Die Tradition der Geometrie darf allerdings nicht 15 Vgl. dazu und zur Entwicklung des Sinnbegriffs bei Husserl Marx 1987: 52-58. 16 Bis auf die Ausnahme der Erlebnisse selbst, welche sich nicht abschatten, sondern unmittelbar adäquat selbst gegeben sind. 145
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mit der Tradition und Erinnerung an große Namen und Forscherpersönlichkeiten verwechselt werden (Hua VI: 366 f.). Ihre eigentliche Tradition ist vielmehr die anonyme der tradierten Konzepte, Ideen, Körper, Methoden, Theorien. Deren Sinngenese bleibt zunächst transparent (Hua VI: 377). Welchen Ursprungssinn die Geometrie hatte, ist zunächst jederzeit prinzipiell nachvollziehbar. Im Verlauf des Fortschreitens der Geometrie kommt es zu immer weiteren Sinnbildungen, das wissenschaftliche Denken [gewinnt] aufgrund schon gewonnener Ergebnisse neue, die wieder neue fundieren und so weiter – in der Einheit einer sinntradierenden Fortpflanzung. (Hua VI: 373)
Neue Idealitäten werden aus den bestehenden gewonnen, das Wachstum, der Fortschritt der Geometrie verändert jedoch die Möglichkeit der Nachvollziehbarkeit. Es müssen zu viele fertige Leistungen als solche übernommen werden, die nicht mehr im Einzelnen aktiv und einsichtig nachvollzogen werden können. Die Folge ist: Die von der Tradition ausgearbeiteten, explizierten Sinnbildungen wachsen an und werden zu vorausgesetzten Horizonten nichtexplizierter und nichtexplikabler Mitgegebenheit; man kann zunehmend nur einen kleinen Teil der Tradition, welche die Sinnvoraussetzung der eigenen neuen Sinnbildungen darstellen, nachvollziehend reaktivieren. Stattdessen werden mehr und mehr fertige, entwickelte Begriffe, Lehrsätze und Methoden ohne Einsicht in deren Genese, deren Wie und Warum, übernommen. Ohne sie also umfassend rekonstruiert zu haben, bildet man doch auf ihrer Grundlage neue Begriffe, neue ideale Objekte. „Wie steht es im schließlich ungeheuren Wachstum einer Wissenschaft wie der Geometrie mit dem Anspruch und dem Vermögen der Reaktivierbarkeit“ der Sinngenese? Muss der geometrische Forscher, wenn er sich an die aktuelle Fortarbeit macht, erst die ganze Kette der Fundierungen bis zu den Urprämissen durchlaufen und das ganze wirklich reaktiven? Offenbar wäre eine Wissenshaft wie unsere moderne Geometrie gar nicht möglich. Und doch liegt im Wesen der Ergebnisse jeder Stufe, daß ihr idealer Seinssinn nicht nur ein faktisch späterer ist, sondern, indem Sinn auf Sinn sich gründet, gibt geltungsmäßig der frühere Sinn etwas an den späteren ab, ja, in gewisser Weise geht er in ihn ein; also kein Bauglied inmitten des geistigen Baues ist eigenständig, keines also unmittelbar reaktivierbar.
Es kommt zu einem geschichtlich zunehmenden Missverhältnis: Die übernommenen Voraussetzungen wachsen an, die Möglichkeiten aktiven Nachvollzugs aber nicht. Was daran ist aber ein Problem? Das Problem ist nicht, dass diese übernommenen Sinnbildungen falsch sind. Im 146
ZUSAMMENHANG ZWISCHEN VERTRAUTHEIT UND TECHNIK?
Gegenteil können sie übernommen werden, weil sie geprüft und für richtig befunden wurden. 1. Problem: Sinnverschiebungen. Die Idealisierung der Lebenswelt Das Problem daran ist für Husserl vielmehr, dass es dadurch zu Sinnverschiebungen kommt: Die Idealisierungen werden nicht mehr als Idealisierungen betrachtet, sondern als Wirklichkeit selbst. Die Wirklichkeit wird nun als exakt, quantitativ und eindeutig bestimmt betrachtet. Die Methode und die idealen Konzepte werden als die Wirklichkeit selbst verstanden. Dieses Problem führt Husserl schließlich zur Bedeutung der vergessenen Lebenswelt. Die Lebenswelt ist nicht wie die idealen Gegenstände: eindeutig bestimmt, scharf umrissen, quantitativ verfasst. Sie bildet im Gegenteil das Fundament, auf dem aufbauend es zu Idealisierungen kommt. 2. Problem: Sinnübernahmen. Technisierung der Wissenschaften Das zweite Problem führt Husserl zur Technisierung. Wissenschaft, die auf Transparenz und Selbstverständnis der Vernunft abzielt, führt zu deren Gegenteil. Das geschilderte Missverhältnis von Voraussetzung und Nachvollziehbarkeit bildet das Zentrum von Husserls Technikbegriff in der Krisis-Schrift. Technisierung ist für Husserl ein strikt geschichtlicher Vorgang. Technisierung stellt für ihn die Übernahme von Sinnbildungen, von geistigen Leistungen dar – ohne deren Verständnis, ohne Kenntnis von deren Genese und Zusammenhang. Technisierung ist daher sowohl eine Tradierung von Vergangenem und gleichzeitig deren Vergessen. Man verwendet sie, ohne sie verstehen zu müssen (weshalb es zu Sinnverschiebungen kommen kann). Man kann sie gebrauchen, ohne ihren Entstehungskontext, den Sinn, den eine Konstruktion hat, die Gründe ihres Funktionierens zu kennen. So werden Begriffe, Formeln, Methoden, Ergebnisse, Theorien verwendet, ohne dass nachvollzogen wurde, wie sie zustande gekommen sind, welchen Sinn es hat, dass sie so und nicht anders sind. Man kann sie auch nicht allesamt aktiv nachverstehen, weil sie selbst wiederum auf anderen Ergebnisse, Begriffen und Theorien aufbauen usw. Verwenden kann man sie aber auch so – ohne dass man es weiß. Für Husserls zentrales Untersuchungsfeld, die mathematische Naturwissenschaft, heißt das, dass sie zu einer Kunst [im Sinne von techne] wird; nämlich zu einer bloßen Kunst, durch eine rechnerische Technik nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen, deren wirklicher Wahrheitssinn nur in einem an den Themen selbst und wirklich geübten sachlich-einsichtigen Denken zu gewinnen ist. Bloß jene Denkweisen und Evidenzen sind nun in Aktion, die einer Technik als solcher unentbehrlich 147
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sind. Man operiert mit Buchstaben, Verbindungs- und Beziehungszeichen (+, X, = usw.) und nach Spielregeln ihrer Zusammenordnung, in der Tat im wesentlichen nicht anders wie im Karten- oder Schachspiel. Das ursprüngliche Denken, das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt (sei es auch die der formalen mathesis universalis eigentümliche „formale Wahrheit“), ist hier ausgeschaltet. (Hua VI: 46)
Technik hat also ein zwiespältiges oder zweiwertiges Verhältnis zu Geschichte: Sie tradiert ohne zu erinnern. Eine Metapher, welche Husserl wiederholt verwendet, ist Ausdruck dessen. Husserl spricht von Galilei als „Erbe[n]“, von der „ererbte[n] geometrischen Methode“, der „ererbte[n] Weise ‚anschaulichen‘ Erdenkens, Erweisens“ (Hua VI, S. 49 et passim). Die Metapher des Erbes meint die Übernahme von Leistungen, ohne dass deren Entstehungsgeschichte mit übernommen werden muss. Es handelt sich um ein Erbe, das man gleichsam von unbekannten Verwandten antritt. In diesem Sinne ist Technik Vergangenes, das Gegenwärtiges strukturiert, formt, operativ handhabt, ohne als Vergangenes in den Blick zu geraten. Sie ist leistende mitgegenwärtige Vergangenheit, die nicht als erinnerte Vergangenheit gegenwärtig wird. Wie in der Buchhaltung arbeitet man lediglich mit der Bilanzsumme weiter ohne deren Zustandekommen transparent vor Augen zu haben müssen. Mit anderen Worten kann man daher sagen: Technik ist operatives Gedächtnis. Dieses ist das Gegenteil von Erinnerung.17 Eine solcherart verstandene Technisierung trifft par excellence auf Methoden zu und daher kann Husserl Technikkritik als Methodenkritik betreiben und umgekehrt. Denn Methoden, so Husserl, gleichen Maschinen darin, dass „jedermann lernen kann, [sie] richtig zu handhaben, ohne im mindesten die innere Möglichkeit und Notwendigkeit sogearteter Leistungen zu verstehen“ (Hua VI: 52). Methode wird dann zur Technik, wenn „sie sich vererbt, aber damit nicht ohne weiteres ihren wirklichen Sinn vererbt.“ Die „traditionell gegebene, zur τέχυη gewor17 Ich beziehe mich mit diesem Terminus auf Überlegungen von Luhmann 1996. Dieser unterscheidet von repräsentierender Erinnerung das Gedächtnis, welches den aktuellen Fortgang der Operationen ermöglicht, indem mit dem schematischen oder kompakten Ergebnis eines Prozesses weiter gemacht wird und daher eben dessen Genese nicht erinnert werden muss. Seine Beispiele wie Buchhaltung, künstlerischer Stil, schulische Noten, Gesetze haben allesamt gemeinsam, dass sie Vergangenheit in vielen Hinsichten vergessen, um stattdessen von einem kompakten Ergebnis (einer gegebenen Note, der aktuellen Bilanz in der Buchhaltung, dem geltenden Gesetz) auszugehen; sie ließen sich entsprechend leicht mit Husserls Technikbegriff fassen. 148
ZUSAMMENHANG ZWISCHEN VERTRAUTHEIT UND TECHNIK?
dene Wissenschaft“ fragt nicht nach dem Sinn ihrer „Sinneserbschaften“ (Hua VI: 57). Im Gegenteil sind die Naturwissenschaften zunächst umso erfolgreicher, je mehr sie sich technisieren können, je mehr Begriffe und Methoden unbefragt übernommen werden können. Ihr Erfolg setzt auf diesem spezifischen Vergessen auf (Hua VI: 376). Die Geschichte europäischer Rationalität, so diagnostiziert Husserl die Krise seiner Gegenwart, läuft statt auf Transparenz auf eine solche Technisierung der Wissenschaften zu. Und damit auf das Gegenteil, was das Telos europäischer Vernunftgeschichte ist: „latente Vernunft zu offenbarer Vernunft“ werden zu lassen. Als Zwischenergebnis können wir festhalten: Europäische Vernunftund Wissenschaftsgeschichte vollzieht sich am Gegenstand Sinn, der Bildung und Tradierung von Sinn. Geschichte ist, wie Husserl pointiert, „die lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung.“ (Hua VI: 380) Sinnsedimentierungen ohne Reaktivierung, ohne Verständnis ihrer Genese bezeichnet Husserl auch als Sinnentleerung. Eine solche Tradierung ohne Einsicht kennzeichnet den Vorgang der Technisierung. Die Krise hängt mit einer solchen Technisierung zusammen. Sie und die von Husserl vorgeschlagene Therapie gilt es nun genauer zu fassen.
Technisierung und Sinnverschiebung Ist Technisierung nicht ein notwendiger Vorgang, wie Husserl selbst im Zitat zur Geschichte der Geometrie schon andeutete? Wenn sie ein notwendiger Vorgang ist, dann mag es noch angehen, dass es zur Krise kommen kann, eine Therapie allerdings wird kaum mehr vorstellbar. Denn Technisierung ist schon aufgrund der Husserl‘schen Unendlichkeitsimplikation von Wissenschaft notwendig. Es kommt allerdings darauf, welcher Sinn dabei bewahrt und was dabei vergessen wird, wodurch es in der Folge unbemerkt zu Verschiebungen im Verständnis der Idealitäten kommen kann. Mit anderen Worten: Technisierung ist für Husserl zwar notwendig, aber nicht notwendig krisenhaft (Hua VI: 46). Worauf Husserl in seiner Therapie zielt, ist Erinnerung und damit Rekonstruktion. Diese Überlegung Husserls hat für einige Missverständnisse gesorgt, da sie suggeriert, dass Sinngeschichte insgesamt verfügbar bleiben muss. Tatsächlich geht es Husserl um die Ursprünge der Wissenschaftsgeschichte. Technisierung ist für ihn dann rechtmäßig, wenn die „ursprüngliche Sinngebung […] immerfort aktuell verfügbar bleibt.“ (Hua VI: 46 f.) Wie ist das zu verstehen? Husserl sieht die Krise der europäi149
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schen Wissenschaften nicht allein in ihrer Technisierung, sondern im Verlust ihres Ursprungsinns. Dieser Sinnverlust führt für ihn sowohl zu ihrem positivistischen wie auch naturalistischen Selbstverständnis, also zu einem verschobenen Sinnverständnis der Wissenschaften. Die beiden angesprochenen Krisenmomente (Problem 1 und 2) laufen hier zusammen. In einem Rückgang, der einen erinnernden Rückbau darstellt, geht Husserl auf diese Ursprünge von Wissenschaft zurück. Er versucht darzulegen, wie sich die mathematischen Naturwissenschaften aus der Geometrie und die Geometrie aus der Feldmesskunst entwickelt haben. Die Feldmesskunst habe aus ganz und gar praktischem Interesse erste Idealisierungen hervorgebracht; diese seien unter veränderten Vorzeichen, nämlich in theoretischer Einstellung, in die Geometrie aufgenommen worden. Damit sei eine eigene Welt idealer Gegenstände entdeckt worden, die erforscht werden konnte. Zu Beginn der Neuzeit seien diese idealen Körper dann in der mathematischen Physik als die Wirklichkeit an sich betrachtet worden – das ist die Idee, die Sinnbildung Galileis. Die modernen Wissenschaften schließlich operieren mit den technischen Symbolen der Mathematik im Verständnis die Wirklichkeit an sich damit zu erforschen. Was in dieser Tradierung wissenschaftlichen Sinns vergessen wurde, ist nach Husserl, dass es sich um Idealisierungen handelt, nicht um die Wirklichkeit. Husserl bezweifelt damit nicht die Erfolge der Wissenschaften, er versteht diese Idealisierungen auch keineswegs konstruktivistisch. Stattdessen sucht er wieder freizulegen, dass erstens die Wirklichkeit keine idealen Körper enthält, zwischen Idealisierung und Lebenswelt daher eine Differenz besteht, und dass zweitens die Idealisierungen aus der Feldmesskunst entstanden sind, also die Lebenswelt die wissenschaftlichen Idealisierungen fundiert. Vergessen wurde damit auch, dass die wissenschaftlichen Leistungen Sinnbildungen von Subjekten sind. Die Welt ist nicht an sich jene der wissenschaftlichen Idealisierungen, wenngleich diese nicht Hirngespinste der Subjekte sind. Die Idealisierungen sind objektiv, aber sie sind nicht mit der Wirklichkeit als Lebenswelt zu verwechseln; sie sind, wenngleich objektiv, von sinnbildender Subjektivität hervorgebracht.
Fazit: Allgemeiner Technikbegriff Wir sind nun weit in Husserls Spätwerk eingetaucht und werden gleich auf einige der dargestellten Überlegungen zurückkommen. Zuvor geht es aber darum, festzuhalten, was wir dabei aber entdeckt haben: einen allgemeinen und äußerst überzeugenden Technikbegriff. Auch wenn Husserl – aufgrund seines zeitdiagnostischen Interesses – seinen Begriff 150
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von Technik an der Mathematik entwickelt hat, ist dieser formal und entsprechend weitreichend angelegt. Technisierung als Verwenden von Leistungen ohne Verständnis von deren Zustandekommen, als Gebrauchen von Gebilden ohne Einsicht in deren Genese und funktionalen Aufbau, lässt sich nicht nur auf wissenschaftliche Methoden, Begriffe, Theorien und Ergebnisse anwenden. Es trifft ebenso auf einen einfachen Lichtschalter, einen Fahrstuhl, eine Mausgeste am Computer, das Getriebe eines PKW zu. Das heißt, Husserls Technikbegriff erfasst präzise das, was wir allgemein als Technik bezeichnen, und auch jene Gegenstände wie mathematische Gebilde, bei denen es gute Gründe gibt, sie als Technik zu begreifen, selbst wenn sie bislang nicht so verstanden worden. In jedem dieser Fälle wird eine ungeheure Vielzahl an Entdeckungs- und Konstruktionsleistungen, an Errungenschaften verwendet, ohne dass man eine Einsicht in den Sinn ihres Aufbaus, das Wie ihres Funktionierens, die Genese ihres Entstehens hat und haben muss. Man muss kein Ingenieur sein, um Auto zu fahren – im Gegenteil funktioniert Technik besonders gut dann, wenn man es nicht sein muss. Man wird von Geschichte transportiert, ohne diese Geschichte zu kennen. Ein Begriff, der in Husserl Technikphilosophie eine zentrale Rolle spielt, Lebenswelt, ist bislang nur gestreift worden.18 Lebenswelt und Technisierung (Problem 1 und 2) stehen für Husserl einander entgegen, mehr steht noch nicht fest. Eine Klärung dieses Verhältnisses holen wir nun nach. Hans Blumenbergs bemerkenswerte Lektüre Husserls bietet die passende Gelegenheit dazu.
2.3 Blumenberg: Technik als die lebensweltlichere Lebenswelt Im ersten Teil seines Werkes Lebenszeit und Weltzeit, der mit „Das Lebensweltmißverständnis“ überschrieben ist, unternimmt Hans Blumen18 Die Rezeptions- und Erfolgsgeschichte der Lebensweltthematik ist so immens, dass knappe Hinweise entweder bloß naiv oder naiv-anmaßend erscheinen müssen. Mit ein wenig Übermut hier einige Verweise, um die Ausbreitung des Begriffs abschätzen zu können: Vgl. zur Forschung nach Vorläufern des Lebensweltbegriffs Husserls (Troeltsch, James, Simmel) Fellmann 1993: 202 f., sowie Fellmann 1983: 120f. Zur Interpretationen von Husserls Lebensweltbegriff vgl. Orth 1999. Zu den innerphänomenologischen Verzweigungen vgl. Welter 1986. Zu Ausläufern in die Hermeneutik siehe Przylebski 2007. Zur soziologischen Geschichte von Lebenswelt siehe vor allem Arbeiten von Schütz 1979 und im weiteren Garfinkel 1967. Zur Weiterentwicklung der Lebensweltproblematik in Richtung Frankreich vgl. Waldenfels 1983. 151
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berg eine Rekonstruktion der Lebensweltthematik bei Husserl, die ebenso dicht die Details wie sicher die ‚langen‘ Linien von deren Genese nachzeichnet. Entscheidend für die Entdeckung der Lebensweltthematik, so Blumenberg, sei die Frage nach der Entstehung der Negation gewesen. In der Perspektive von Husserls genetischer Phänomenologie zeichnete sich die befremdliche Möglichkeit einer Welt ohne Negation und negative Prädikate ab. Was abenteuerlich klingt, ist für Blumenberg allerdings der „Prototyp dessen, was phänomenologisch ‚Lebenswelt‘ zu heißen verdient.“ (Blumenberg 1986: 48) Die Negation gehöre zu den Mitteln des Bewusstseins, die ihm durch eine allzu wechselhafte Umwelt drohenden Inkonsistenzen, Irritationen, Brüche zu reparieren. Zur Erläuterung dieses Gedankens einer negationslosen Lebenswelt schlägt er vor, sich einen Erlebnispark zu denken, in dem alles auf findige Weise für menschliche Vergnügen und subjektive Befriedigung eingerichtet ist. Denkt man bei Glück weniger an die großen Genüsse als an das schlichte Ausbleiben von Enttäuschungen, so genügt in diesem Park eine genaue Entsprechung zwischen der Weckung von Erwartungen und der Herbeiführung von deren Erfüllungen. (Blumenberg 1986: 48 f.)
Als Exempel dafür führt Blumenberg einen Wegweiser an, der einen genau dahin führt, worauf er verweist. Man muss sich nicht auf das eher nostalgische Beispiel konzentrieren. Es ist in gewisser Weise sogar schlecht gewählt, da es Blumenberg, wie er selbst im Zitat andeutet, nicht auf Erfüllung als Fülle des Glücks ankommt (was das Lebensweltmissverständnis wäre), sondern auf Enttäuschungslosigkeit von Handlungs- und Wahrnehmungserwartungen. Der Wegweiser suggeriert aber genau diese Fülle, steht er bei Blumenberg doch im Kontext eines neuen Wegs und seines unbekannten Ziels als einem Versprechen. Dadurch führt das Beispiel auf die falsche Fährte. Für den Grenzbegriff einer „Lebenswelt der reinen Stimmigkeit“ gilt vielmehr, „der Erlebnispark habe die Struktur vertrauter Wiederholung von Gestalten und deren Konstellationen bei Einhaltung fester Richtungen und Wege“, so dass jegliche Veränderung oder ein Überschreiten der Grenzen des Parks ins verwirrend „Unvertraute“ führt (Blumenberg 1986: 50). Lebenswelt wäre dann die Erfüllung jeglicher Erwartung, wobei Erwartung bereits den schlichten Fort- und Ausgang basalen Handelns betrifft. Zwanzig Jahre zuvor hatte sich Blumenberg bereits ausführlich mit Husserls Konzeption des Verhältnisses von Technik und Lebenswelt befasst. Seine genaue Lektüre Husserls ertastet die unausdrücklichen Widersprüche in dessen Zeitdiagnose und Therapievorschlag. Die Inkonsis152
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tenzen liegen für Blumenberg im Verhältnis von Lebenswelt und Technik einerseits sowie Lebenswelt und Geschichte andererseits. Worin besteht die erste Inkonsistenz im Verhältnis von Lebenswelt und Technik? Husserl zielte mit dem Terminus Lebenswelt auf die Vorgegebenheit von Welt, vor jedem theoretischen Urteil und auch jeglicher vorwissenschaftlicher Meinung (Hua VI: 112). Diese mögen sich wandeln, die Existenz eines Dings wird bezweifelt, ein behaupteter Sachverhalt wird verworfen; die Lebenswelt ist von diesen Urteilsänderungen über Dinge und Sachverhalte in der Welt nicht betroffen, sondern bleibt deren Voraussetzung. Die Lebenswelt ist außerdem permanent vorgegeben im Unterschied zu den mathematischen Welten, die nur da sind, solange man mathematisch eingestellt ist (Hua III: 51). Die Lebenswelt wird daher von Husserl bestimmt als „die Welt, in der wir immer schon leben und die den Boden aller Erkenntnisleistungen abgibt“ (Husserl 1938: 38). In diese Grundbestimmung von Lebenswelt als „der immer für uns seienden, immerzu vorgegebenen“ Welt (Hua VI: 133) schleicht sich allerdings eine Zweideutigkeit ein. Husserl erläutert diese Grundbestimmung einer irreduzibel vorgegebenen Lebenswelt auf zweierlei Weise. Beide Erläuterungen der Vorgegebenheit von Lebenswelt fallen keineswegs zusammen, sondern führen zu den genannten Inkonsistenzen:
Lebenswelt als wahrnehmungsmäßig vorgegebene Welt Lebenswelt wird zunächst sehr schlicht erläutert als „die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt.“ (Hua VI: 49) Diese Bestimmungen klingen zunächst hilflos nichtssagend, was jedoch für Husserl genau auf das Problem hinweist. Lebenswelt in diese Bedeutung steht für das Gegenteil der mathematisch-naturwissenschaftlichen Idealisierungen. So gibt es die idealen Körper der Geometrie nicht in der Wirklichkeit. Sie sind eine Abstraktion aus und von der Lebenswelt, sie erscheinen aber nicht mehr als deren Abstraktion, sondern als die Wirklichkeit selbst. Husserls Bestimmung von Lebenswelt als der wirklichen, wahrnehmungsmäßig gegebenen, alltäglichen Welt will von dieser Umkleidung durch das „Ideenkleid“ der Wissenschaften lösen. Es handelt sich um Abstraktionen, Idealisierungen – und diese beruhen auf dem Fundament der Lebenswelt. Idealisierung und damit Technisierung stehen in einem Gegensatz zu Lebenswelt, wenngleich sie aus dieser heraus entstehen.
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Lebenswelt als vorgegebene Selbstverständlichkeiten In der Krisis-Schrift wird Lebenswelt ferner bestimmt als die „Welt fragloser Selbstverständlichkeit“ und das „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“ (Hua VI: 77, 183). Die Lebenswelt ist das Fundament, an das keine Frage gestellt werden, sie ist „vorausliegende Selbstverständlichkeit“ (Hua VI: 113) wie auch die „Quelle von Selbstverständlichkeiten“ (Hua VI: 124). Beide Bedeutungen fallen nicht zusammen, es gibt vorgegebene Selbstverständlichkeiten, die nicht Wahrnehmungsselbstverständlichkeiten sind. In der Lücke zwischen beiden Erläuterungen von Lebenswelt entwickelt Blumenberg seine Argumentation: Technik kann nicht das Gegenteil von Lebenswelt sein, da Technik die ultimative Quelle fragloser Selbstverständlichkeiten ist. Technisierung wurde, wie dargestellt, von Husserl als Übernahme von Leistungen ohne Einsicht in deren Zustandekommen begriffen. Man fragt nicht, wie es geht, dass ein Auto fährt, dass ein Knopfdruck eine Klingel auslöst, sondern verwendet sie – fraglos und selbstverständlich. Damit stellen sie sich als Lebenswelt par excellence dar: Die künstliche Realität, der Fremdling unter den vorgefundenen Dingen der Natur, sinkt an einem bestimmten Punkte zurück in das „Universum der Selbstverständlichkeiten“, in die Lebenswelt. Der Zusammenhang von Lebenswelt und Technisierung ist komplizierter, als Husserl ihn gesehen hat. Der von Husserl analysierte Prozeß der Verdeckung des Entdeckten erreicht erst darin sein Telos, daß das im theoretischen Fragen unselbstverständlich Gewordene zurückkehrt in die Fraglosigkeit. Ungleich vollkommener als durch die Mimikry der Gehäuse wird das Technische als solches unsichtbar, wenn es der Lebenswelt implantiert ist. Die Technisierung reißt nicht nur den Fundierungszusammenhang des aus der Lebenswelt heraustretenden theoretischen Verhaltens ab, sondern sie beginnt ihrerseits, die Lebenswelt zu regulieren, indem jene Sphäre, in der wir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keine Fragen mehr stellen (Blumenberg 1963: 37)
Der Gegensatz von Lebenswelt und Technisierung ist damit nicht nur in Frage gestellt, denn Technik ist Lebenswelt, lautet Blumenbergs Pointe. Sie ist sie sogar in einem besonderen Maße, da kaum etwas so fraglos selbstverständlich werden kann wie Technik. Technik produziert daher auch nicht eine Sammlung von Artefakten, Technik produziert Selbstverständlichkeit – also Lebenswelt. Blumenbergs Argument, dass Technik Lebenswelt par excellence ist, wirft noch einmal ein anderes Licht auf seinen Vergleich der Lebenswelt mit einem Erlebnispark, in dem alle Erwartungen erfüllt wer154
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den. Kaum etwas trägt zur Erwartungsbildung und Erwartungssicherheit so bei wie Technik. Ist der Grenzbegriff von Lebenswelt enttäuschungslose Erwartungssicherheit und ist Technik in besonderem Maße aufgrund ihrer Verlässlichkeit Erwartungsbildend und -garantierend, kann es nichts geben, was mehr Lebenswelt entspricht als Technik. Blumenbergs Erlebnispark ist ein technischer Park, allerdings kein Vergnügungspark, denn das wäre das Lebensweltmissverständnis. Von diesem Argument ist auch die zweite Inkonsistenz Husserls berührt, welche das Verhältnis von Lebenswelt und Geschichte betrifft. Lebenswelt wird von Husserl in zweifacher historischer Perspektive betrachtet. Sie wird, wie Blumenberg schreibt, als (a) historischer „Primärzustand“ verstanden (Blumenberg 1963: 22). Die wahrnehmungsmäßig gegebene Welt ist die selbstverständlichste Welt, sie besteht vor allen Idealisierungen und naturwissenschaftlichen Fragen. Weil diese beiden Aspekte von Lebenswelt zusammenhängen, kann es auch zu einer geschichtlichen Umstellung kommen. Die Selbstverständlichkeit der natürlichen Einstellung kann aufgegeben und von der theoretischen Einstellung abgelöst werden. Das ist die genannte geschichtliche Urstiftung europäischer Wissenschaftskultur. Gleichwohl ist Lebenswelt, wie Blumenberg verdeutlicht, nicht nur ein historisch aufgegebener Primärzustand, eine natürliche Natur, sondern ebenso (b) eine „mitgegenwärtige Grundschicht“ (Blumenberg 1963: 23). Lebenswelt gibt es auch in der Moderne. Blickt man auf diese beiden Bedeutungen von Lebenswelt als wahrnehmungsmäßig gegebener Wirklichkeit und als Universum der Selbstverständlichkeiten, wird der Grund dafür offensichtlich: Diese kann nicht historisch enden, auch in hochtechnisierten Gesellschaften gibt es eine wahrnehmungsmäßig gegebene Wirklichkeit und ein Universum an Selbstverständlichkeiten; wenngleich man sich in der theoretischen Einstellung davon distanziert, ist es keine endgültige, sondern nur eine zeitweilige Distanzierung. Husserl war auch keineswegs der Meinung, dass wir die Lebenswelt verlassen hätten, sein Appell Idealisierung und Lebenswelt nicht miteinander zu vertauschen und seine Bezeichnung der Lebenswelt als „philosophisches Universalproblem“ (Hua VI: § 34) belegen dies. Ist Technik Lebenswelt, produziert Technik Lebenswelt, dann kann diese nicht vor allem ein „Primärzustand“ oder eine „mitgegenwärtige Grundschicht“ sein, sondern sie ist dann auch eine Art Finalzustand: Lebenswelt ist das Ziel der Technisierung (vgl. Blumenberg 1986: 64).
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2.4 Merleau-Ponty: Die Verkörperung der Technik Wie kann man die Erwartungsbildung verstehen, welche mit Technisierung einhergeht? Ist technisches Erwarten ein rationaler Akt? Eine intellektuelle, eine kognitive Form? In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung von 1945 beschäftigt sich Maurice Merleau-Ponty mit dieser Frage. Im Mittelpunkt des Werks steht die Auseinandersetzung mit einerseits naturwissenschaftlichen (physiologischen, psychologischen, neurologischen) und andererseits philosophischen Theorien der Wahrnehmung. Der Vorwurf gegenüber der Philosophie ist, das Feld der Wahrnehmungsphänomene zu intellektualistisch, häufig ausgehend von einem transzendentalen Bewusstsein, behandelt zu haben; die hervorstechende Leiblichkeit von Wahrnehmung, Raum, Handeln, Denken, Sprache fanden keine oder nur geringe Beachtung. Der Vorwurf gegenüber den naturwissenschaftlichen Theorien dagegen ist, dass sie Wahrnehmung und Körperlichkeit vor allem kausal aufgefasst haben. Merleau-Pontys Anliegen dagegen ist der Nachweis, dass Wahrnehmung und Leiblichkeit auf diese Weise verfehlt werden. Der Leib ist keine Körpermaschine und Wahrnehmung kein intellektueller Rechenprozess. Wiederholt weist Merleau-Ponty nach, wie sich Wahrnehmung in leiblichen Sinnbildungsprozessen und einer eigenen, phänomenalen Räumlichkeit vollzieht. Allerdings bleibt es trotz aller Belege ungemein schwierig, diese Ebene beizubehalten, da die meisten bekannten Modelle und Begriffe entweder Körper kausal behandeln oder Wahrnehmung intellektualistisch. In § 21 des ersten Teils der Phänomenologie der Wahrnehmung behandelt Merleau-Ponty auch Aneignungsprozesse von Technik. Die Frage ist, wie das Verhältnis des Leibs zu Technik und allgemeiner zu Artefakten zu begreifen ist. Wenn man etwa einen Hut aufhat, addiert man dann zur Körpergröße noch die Größe des Huts, um zu prüfen, ob man durch eine Tür passt? Wenn man ein Auto in eine Einfahrt manövrieren möchte, berechnet man dann die Breite des Autos und vergleicht sie mit der der Einfahrt? Und wenn man Klavier spielt oder Schreibmaschine schreibt, weiß man dann, wo sich die Tasten der Klaviatur im objektiven Raum befinden? Eine Frau hält ohne jede Berechnung zwischen der Feder ihres Hutes und Gegenständen, die sie zerknicken könnten, einen Sicherheitsabstand ein, sie hat es im Gefühl, wo die Feder ist, wie wir fühlen, wo unsere Hand ist. Habe ich die Gewohnheit, einen Wagen zu führen, so sehe ich, in einen Durchgang einfahrend, daß ‚ich vorbei kann‘, ohne erst die Breite des Weges mit dem Abstand meiner Kotflügel vergleichen zu müssen, so wie ich eine Tür durch156
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schreite, ohne deren Breite mit der meines Körpers zu vergleichen. Hut und Automobil sind hier nicht mehr Gegenstände, deren Größe und Volumen sich durch Vergleich mit anderen Gegenständen bestimmte. Sie sind zu voluminösen Vermögen geworden, zum Erfordernis eines bestimmten Spielraums. Korrelativ sind der Einstieg der Untergrundbahn und die Straße zu einengenden Vermögen geworden und erscheinen in eins als für meinen Körper und seine Anhänge praktikabel oder unpraktikabel. (Merleau-Ponty 1945: 173)
Der Hinweis auf das Handeln in solchen Alltagsituation zeigt, es findet keine Berechnung und in diesem Sinne keine Kognition statt, zumindest, wird man an dieser Stelle zugeben müssen, keine explizite. Wie ist dann aber der Umgang mit diesen Artefakten zu erklären? Sie sind doch körperfremd. Eben nicht. In der Gewöhnung sind diese Artefakte in den phänomenalen Körperraum integriert worden, wie die eigene Hand im Körperraum integriert ist, der ein spezifischer Raum ist, weshalb die eigene Hand nicht gesucht werden muss. Daher kann ein Blindenstock zu einer Sinneszone werden. Der Stock des Blinden ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone geworden, er vergrößert Umfänglichkeit und Reichweite des Berührens, ist zu einem Analogon des Blicks geworden. Bei der Erkundung von Gegenständen spielt die Länge des Stocks keine ausdrücklich vermittelnde Rolle mehr: der Blinde kennt eher die Länge seines Stocks von der Stellung der Gegenstände her als diese durch jene. Die Lage der Gegenstände ist ihm unmittelbar durch die Weite der sie erreichenden Geste gegeben […]. Will ich mich an einen Spazierstock gewöhne, so versuche ich ihn, berühre Gegenstände mit ihm, und nach einiger Zeit habe ich ihn dann ‚in der Hand‘, sehe ich, welche Gegenstände in Reichweite meines Stockes sind und welche nicht. Hier liegt nicht eine rasche Schätzung oder ein Vergleich zwischen der objektiven Länge des Stocks und den objektiven Abstand eines Gegenstands vor. (Merleau-Ponty 1945: 173)
Wie geht diese Integration in den Körperraum vor sich? Merleau-Ponty bezeichnet sie als „Verwandlung und Erneuerung des Körperschemas“ (Merleau-Ponty 1945: 172). Körperschema ist bei Merleau-Ponty der Begriff dafür, dass die Stellung des Leibes unmittelbar bekannt ist: Man muss seine eigene Hand oder die juckende Stelle, die man mit ihr kratzen möchte, nicht erst suchen wie man einen Schlüssel suchen kann und das dazu passende Schloss. Insofern ist Körperschema ein Gegenbegriff zu einem Modell, das den Körper in ein Mosaik einzelner Empfindungen zerlegt, um anschließend zu fragen, wie diese vereint werden (Merleau-Ponty 1945: 131). Das Körperschema bietet eine dynamische Ge157
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stalt an, primär sind daher nicht Elemente wie zum Beispiel Glieder, die erst für sich nebeneinander bestehen und sodann zusammen gefügt werden müssen. Primär ist der Zusammenhang, die dynamische Gestalt. Dieser Zusammenhang besteht darin, dass die Glieder und ihre Lage sich ineinander einschließen. Im Empfinden einer Gliedes oder einer Leibeszone ist die Stellung anderer Glieder empfindungsmäßig eingeschlossen. Wenn ich, an meinem Schreibtisch stehend, mich mit den Händen auf seine Platte stütze, so sind allein meine Hände akzentuiert, und mein ganzer Körper hängt ihnen gleichsam bloß an wie ein Kometenschweif. Nicht daß ich die Lage meiner Schultern und meine Lenden nicht wüßte, doch sie ist in die meiner Hände bloß eingeschlossen, meine ganze Stellung ist gleichsam aus der Stützung meiner Hände auf den Tisch abzulesen. (Merleau-Ponty 1945: 125)
Das Köperschema, welches also eine dynamische Gestalt bezeichnet, einen Körperraum, in dem die Teile des Körpers nicht nebeneinander bestehen, sondern ineinander „eingeschlossen“ sind, wie Merleau-Ponty, es bezeichnet, ist veränderbar. Technik kann mit dem Leib zusammen ein neues Körperschema bilden. Der Begriff Körperschema gibt dafür die Möglichkeit an – und auch nach welchem „Modell“ sie zu begreifen ist. Er erklärt aber noch nicht, wie es dazu kommt. Merleau-Ponty selbst spricht von Gewöhnung. Könnte das nicht doch –wenngleich schwer mit dem Begriff Körperschema vereinbar – mechanistisch erklärt werden: Man gewöhnt sich an einen Reiz und eine Reaktion, man assoziiert Köper und Stock – oder nicht? Merleau-Ponty weist dies mit dem Argument zurück, dass eine solche Gewöhnung nicht auf die spezielle Situation, den speziellen Gegenstand, bei dem man die Gewöhnung lernt, begrenzt bleibt. Erworben werden in der Gewöhnung nicht Reaktionsspezifika auf Reizspezifika, sondern das Vermögen, Situationen gewisser Gestalt in Lösungen eines gewissen Typs zu entsprechen, wobei die Situation von einem Fall zum anderen sehr verschiedene sein und die ihnen entsprechenden Bewegungen bald diesem, bald jenem Organ zur Ausführung überlassen werden können. (Merleau-Ponty 1945: 172)
Sie ähneln sich, so Merleau-Ponty, weniger durch die „partielle Identität der Elemente als durch Gemeinsamkeit des Sinns.“ (ebd.) Sinn – das klingt nach einer intellektuellen Leistung, was Merleau-Ponty doch gerade zu vermeiden sucht. Im Fortgang des Abschnitts wird deutlich, dass Merleau-Ponty ein leibliches Verstehen annimmt: Wurde bei Heidegger Verstehen noch im Rahmen einer pragmatischen Hermeneutik konzi-
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piert, ist dieses bei Merleau-Ponty die Übereinstimmung zwischen der Intention und dem Vollzug des leiblichen Handelns in der Welt. Sich an etwas zu gewöhnen, ist daher, die „Erfassung einer Bedeutung, aber die motorische Erfassung einer Bewegungsbedeutung“ (ebd.). Dass es ein leibliches Verstehen von leiblichem Sinn gibt, wird besonders deutlich dann, wenn man beim Erlernen von etwas (zum Beispiel einem Tanzschritt, den man nicht verstand) einen „Sprung“ macht, also jäh den „Dreh einer Sache“ heraus hat. In diesen besonders prägnanten Fällen weiß man nun, wie es geht. Aber das Problem an diesem Wissen wie auch am leiblichen Verstehen ist, dass es wenig geeignet ist, in Sprache übersetzt zu werden.19 Das leibliche Verstehen als Gewohnheit ist weder eine Kenntnis, noch ein Automatismus, [sondern] ein Wissen, das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnung übertragen zu lassen. Man weiß, wo sich die Buchstaben auf der Klaviatur finden, wie wir wissen, wo sich ein jedes unserer Glieder befindet, im Wissen einer Vertrautheit, die uns nicht eine Stelle im objektiven Raum gibt. (Merleau-Ponty 1945: 174)
Wie am Klavierspiel besonders deutlich wird, ist der Versuch objektiven sowie erinnernden Wissens, wo die Tasten sind, sogar hinderlich. Will man objektiv bestimmen, wo eine Taste liegt und welche nacheinander anzuschlagen sind, ist es schwieriger als es zu praktizieren. Für Merleau-Ponty liegt dies daran, dass man den Körperraum verlässt, der in der Musik zu einem Ausdrucksraum wird. Eine musikalische Bedeutung, ein musikalischer Ausdruck ist mit einer Taste verbunden, nicht eine objektive Stelle im objektiven Raum. Die Taste wird zu einem Vermögen wie der Hut, das Auto oder der Stock. Sich an diese Artefakte zu gewöhnen, bedeutet sich in ihnen einrichten, oder umgekehrt, sie an der Voluminosität des eigenen Leibs teilhaben lassen. Die Gewohnheit ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln. (Merleau-Ponty 1945: 173)
Merleau-Ponty vermeidet damit die Vorannahmen, Gewohnheit sei mechanisch und Wissen stets intellektuell. Er zeigt vielmehr, dass Ge19 Was dazu führt, das Schüler/Meister-Beziehungen in der Musik beispielsweise eine häufig idiomatische, metaphern- und ansinnungsreiche Sprache ausbilden. „Mach hier mehr so und so, und hier dann …“ Es klingt, als wenn Außerirdische sich unterhalten. So jedenfalls ein Befund einer Workshop-Sitzung von Philosophen der TU Darmstadt mit Soziologen der Universität Frankfurt. 159
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wohnheiten leiblich sind und auf einem leiblichen Verstehen beruhen. Technik ist diesem Gewöhnungsprozess zugänglich. Sie ist dann nicht mehr ein körperfremdes Artefakt, sondern integriert sich ins dynamische Körperschema.
3 . D i e B e s t i m m u n g s g l e i c h h e i t vo n T e c h n i k u n d G ew o h n h e i t 3.1 Fazit 1: Synopse Gewohnheit – Technik Was hat dieser Durchgang durch verschiedene phänomenologische Techniktheorien an Ergebnissen eingebracht? Vergleicht man die Eigenschaften, welche Technik, und jene Eigenschaften, welche Gewohnheit zugeschrieben werden, so stellt man eine bemerkenswerte Korrespondenz fest. Bei Heidegger bestand das Technische darin, dass Technik als solche nicht thematisch, sondern unscheinbar, unaufdringlich ist. Sie bleibt als solche verborgen. Solange Technik funktioniert, ist sie zuhanden und nicht vorhanden; und sie funktioniert gerade dann, wenn sie nicht thematisch ist. Husserls Überlegungen weisen auf die Entlastung hin, die mit Technisierung einhergeht. Man muss nicht wissen, wie die Leistungen von Technik zustande kommen, was die Gründe für ihr Funktionieren sind. Man kann es auch nicht, weil es nur eine sehr prinzipielle, aber kaum pragmatische Möglichkeit gibt, dieses Wissen zu erlangen. Es sind zu viele Leistungen, auf denen man aufbaut. Daher handelt es sich auch um einen Sinnverlust, nicht bloß um einen Sinnverzicht. Blumenberg setzt an diesem Punkt an, um nachzuweisen, dass Technik dann nicht von Lebenswelt verschieden sein kann. Im Gegenteil ist Technik Lebenswelt par excellence. Merleau-Ponty wiederum zeigte, wie Technik in den phänomenalen Körper integriert wird. Es ist kein Rechnen, kein Vergleichen, kein objektives Wissen nötig, wenn Technisches durch Gewöhnung leiblich wird. Vergleicht man diese Attribute mit denen von Gewohnheit, so ergibt sich in der Synopse eine Entsprechung, wie folgende Tabelle zeigt.
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Tabelle 5: Synopse Gewohnheit/Technik Gewohnheit Verborgenheit
Technik Verborgenheit
Sinnverlust Entlastungsleistung
Sinnverlust Entlastungsleistung (Sinnverzicht) Lebenswelt (selbstverständlich Gewordenes)
(Zweite) Natur
In dieser Synopse sind zwar Unterschiede zu beachten. Der Sinnverlust von Gewohnheit betrifft in den Gewohnheitstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem sinnliche Wahrnehmung, aber nicht ausschließlich. Montaignes Rückführung einer Tradition auf Gewohnheit zeigt, dass auch das Vergessen eines Ursprungs in die Verlustrechnung eingeht. Ferne gibt es zwar keine 1:1 Entsprechung bei den phänomenologischen Autoren, so dass jedem Autor eine Eigenschaft zuzuordnen wäre. Aber das ist keine Abschwächung des Ergebnisses, sondern im Gegenteil seine Stärkung. Denn es kommt zu Mehrfachzuordnungen. Die Entlastungsleistung von Technik ist sowohl bei Husserl als auch bei Blumenberg Thema. Bei Merleau-Ponty taucht sie in der verwandelten Form wieder auf, dass keine Berechnungen oder expliziten Vergleiche, die zu Beginn der Nutzung eines Artefakts eine Rolle spielen mögen, im Fall vertrauter Technik nötig sind. Vielmehr handelt es sich um ein leibliches Verstehen, das keiner Überlegung bedarf. Dass Technik Teil der Lebenswelt ist, haben schließlich, wenn auch in unterschiedlicher Terminologie, fast alle Autoren behauptet. Bei Heidegger heißt Lebenswelt In-der-Welt-sein, Sorge und Zuhandenheit, bei Merleau-Ponty gleich Gewohnheit. Es bestehen also bemerkenswerte Entsprechungen zwischen Technik und Gewohnheit. Kann man dafür Gründe angeben?
3.2 Fazit 2: Die Rückführung phänomenologischer Techniktheorien auf Vertrautheit Betrachtet man die phänomenologischen Techniktheorien hinsichtlich dieser Frage genauer, wird man einen massiven Grund erkennen können: Der Ausgangspunkt, von dem her sich die Phänomenologie dem Thema Technik nähert, ist – Vertrautheit. Es überrascht daher nicht, wenn die Attribute von Technik mit denen von Vertrautheit übereistimmen. Ich versuche zunächst zu belegen, dass sich die klassische Phäno-
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menologie vom Gesichtspunkt Vertrautheit her Technik nähert. Anschließend begründe ich, warum der bisherige Argumentationsgang und sein Ergebnis, die Entsprechung von Gewohnheit und Technik, dennoch von Bedeutung sind, wenngleich es sich nur um ein vorläufiges Ergebnis handelt. Die Phänomenologie war an ihrem Beginn nicht besonders technikaffin. Ihre Gegenstände waren durchaus traditionelle Themen wie Bewusstsein, Wahrnehmung, Zeit, das Ding, die Welt. Wie kam sie also zur Technik? Ausgehend vom Gesichtspunkt Vertrautheit. Ein Grundproblem, um das mehrere von Edmund Husserls Schriften kreisen, ist die Einleitung und Hinführung zur Phänomenologie. Die Phänomenologie als neue Wirklichkeitswissenschaft war für Husserl nur durch die Gewinnung der richtigen Einstellung zu begründen. Diese phänomenologische Einstellung würde erst den Blick auf das Feld der Phänomene des reinen Bewusstseins freigeben. Auf welchem Weg sie auch zu gewinnen wäre, durch diese methodische Aufgabe wurde ihr Gegenteil, die natürliche Einstellung, zum Problem. Zugleich sollte in der phänomenologischen Einstellung nichts von den Phänomenen der natürlichen Einstellung verloren gehen. Sie sollten als solche der Untersuchung erhalten bleiben (Hua III: 94). Die natürliche Einstellung ist daher gleich zweifach Gegenstand der Phänomenologie: als Problem, sofern sich Phänomenologie aus der natürlichen Einstellung lösen muss, und als Thema, sofern in der phänomenologischen Einstellung die natürliche zur Beschreibungsaufgabe wird. Von vornherein lebt der Phänomenologe in der Paradoxie, das Selbstverständliche als fraglich, als rätselhaft ansehen zu müssen und hinfort kein anderes wissenschaftliches Thema haben zu können als dieses: die universale Selbstverständlichkeit des Seins der Welt – für ihn das größte aller Rätsel – in eine Verständlichkeit zu verwandeln. (Hua VI: 183 f.)
Mit dem Selbstverständlichen zu brechen, um es verständlich zu machen, dazu musste die Phänomenologie Husserls allerdings das Selbstverständliche als Selbstverständliches behandeln – nur deshalb konnte Husserl die Phänomenologie als „Akte zweiter Stufe“, als „auf sie [die natürliche Einstellung] gerichtete Akte der Reflexion“ verstehen (Hua III: 94).20 Husserls Einführung in die Phänomenologie mittels der epoché, der Einklammerung, ist die dazu passende Entsprechung: Die The20 Luhmanns Re-Formulierung der „phänomenologischen Reduktion“ als „ein Durchbrechen des Scheins der Normalität, um ein Absehen von Erfahrungen und Gewohnheiten“ zu erreichen, greift insofern zu kurz (Luhmann 1984: 162). 162
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sis der natürlichen Einstellung erfährt eine „Modifikation“, wie Husserl schreibt, keine Negation: während sie in sich verbleibt, was sie ist, setzen wir sie gleichsam ‚außer Aktion‘, wir ‚schalten sie aus‘, wir ‚klammern sie ein‘. Sie ist noch weiter da, wie das Eingeklammerte in der Klammer, wie das Ausgeschaltete außerhalb des Zusammenhangs der Schaltung. (Hua III: 54)
Über die natürliche Einstellung und deren Selbstverständlichkeit(en) wurde daher das Vertraute zum Generalthema der Phänomenologie. Dass Erfahrung im Modus Vertrautheit zentraler phänomenologischer Gegenstand wurde, heißt nicht, dass Vertrautheit selbst zum Dauerthema wurde. Es ging Husserl beispielsweise darum die vertraute Wahrnehmung zu beschreiben, nicht die Wahrnehmung von Vertrautheit. Daher erklärt es sich, dass der Begriff selten fällt. Die Frage nach der Lebenswelt setzt diese Linie dieser Problematisierung der natürlichen Einstellung fort, man kann daher sagen: Husserls Arbeiten vom Aufgreifen der natürlichen Einstellung in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie (1913) bis zur Lebensweltthematik in den Krisis-Schriften (1936) erfolgen in der Perspektive einer Untersuchung der Phänomene im Modus Vertrautheit. In Erfahrung und Urteil wird die Zentralstellung von Vertrautheit auch thematisch zum Ausdruck gebracht. Dass es sich um ein Generalthema handelt, wird daran ersichtlich, an welche phänomenologischen Grundbegriffe die Vertrautheitsproblematik angeschlossen wird und welche Stellung sie zu diesen Grundbegriffen einnimmt. „Jegliche Erfahrung, was immer sie im eigentlichen Sinne erfährt, als es selbst zu Gesicht bekommt“, heißt es dort, „hat eo ipso, hat notwendig ein Wissen und Mitwissen hinsichtlich eben dieses Dinges, nämlich von solchem ihm Eigenen, was sie noch nicht zu Gesicht bekommen hat.“ (Husserl 1938: 27) Das ist einer der phänomenologischen Grundzüge Husserls: Die Seite eines Dings gehört, so ein gängiges Beispiel Husserl, nur dann als Seite einem Dinge zu, wenn die nicht originär gegebenen anderen Seiten antizipiert sind. Sinn und Horizont sind die bereits genannten Begriffe, die dafür stehen. Diese Antizipation – Husserl nennt sie auch „ursprüngliche ‚Induktion‘“, um einen genetischen Fundierungszusammenhang zu den wissenschaftlichen Operationen herzustellen, was ein zentrales Ziel von Erfahrung und Urteil ist – ist generell nur in mehr oder minder „unbestimmter Allgemeinheit“ möglich (Husserl 1938: 31). Einerseits bestehen Spielräume, Variationsräume, wie das Antizipierte sich in gegenwärtiger Anschauung präsentieren könnte; in diesem Sinne ist die Anti163
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zipation unbestimmt: Man sieht die Oberseite eines Tisches, ohne den Rest zu sehen oder gesehen zu haben. Die Unterseite sowie die Seiten des Tisches könnten so oder so aussehen. Wie es sich verhält, weiß man erst, wenn man etwa die Unterseite originär sieht. Andererseits sind die Spielräume begrenzt, und zwar durch eine Typik, eine Allgemeinheit. Die Möglichkeiten, wie die Unterseite aussieht, sind begrenzt. Nicht alles ist möglich und nicht alles ist wahrscheinlich. Es gibt daher eine unbestimmte allgemeine Vorzeichnung, wie die Wahrnehmung weiter gehen könnte – eben eine Antizipation. Diese wird dadurch möglich, dass der Gegenstand stets als Exemplar eines Typus betrachtet wird; die Typik gründet letztlich auf einer Vertrautheit. Deshalb stellt sich Vertrautheit für Husserl als Fundamentalstruktur heraus: So ist eine Fundamentalstruktur des Weltbewußtseins, bezw. in korrelativer Prägung der Welt als Horizont aller erfahrbaren Einzelrealen, die Struktur der Bekanntheit und Unbekanntheit mit der ihr zugehörigen durchgängigen Relativität und der ebenso durchgängigen relativen Unterscheidung von unbestimmter Allgemeinheit und bestimmter Besonderheit. Die horizonthaft bewußte Welt hat in ihrer ständigen Seinsgeltung den subjektiven Charakter der Vertrautheit im allgemeinen, als der im allgemeinen, aber darum doch nicht in den individuellen Besonderheiten bekannte Horizont von Seienden. (Husserl 1938: 33)
Wie Husserl anschließend präzisiert, handelt es sich bei der Differenz bekannt/unbekannt nicht um einen einfachen Unterschied. Vielmehr ist Vertrautheit die allgemeine Form, innerhalb derer der Unterschied bekannt/unbekannt noch einmal vorkommt, sei es auf der Ebene der Sondertypik, sei es auf der Ebene des individuellen Gegenstandes. Auf alles zur Sondergeltung als Seiendes Kommende, verteilt sich diese unbestimmte allgemeine Vertrautheit, jedes hat somit die seine als eine bekannte Form, innerhalb deren alle weiteren Unterschiede zwischen Bekanntheit und Unbekanntheit verlaufen. (ebd.)
Jeder Gegenstand ist seinem Typus nach nämlich, wie wenig auch immer, erst einmal ein vertrauter. Sodann kann seine spezifischere Typik oder gar der individuelle Gegenstand bekannt sein. Der umgekehrte Extremfall ist jedoch, dass etwas nur als Gegenstand überhaupt bekannt ist. Aber dieser Extremfall belegt Husserl, dass Vertrautheit eine allgemeine Form, eine Fundamentalstruktur ist. Denn auch für diesen Extremfall gilt:
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Unbekanntheit ist jederzeit zugleich ein Modus der Bekanntheit. Zum mindesten ist, was uns affiziert, insoweit von vornherein bekannt, daß es überhaupt ein Etwas mit Bestimmungen ist […] Die Auffassung als „Gegenstand überhaupt“ – noch in völliger Unbestimmtheit, Unbekanntheit – bringt also schon ein Moment der Bekanntheit mit sich, eben als ein Etwas, das ‚irgendwie ist‘, das explikabel ist und nach dem, was es ist, bekannt werden kann (Husserl 1938: 34 f.)
Vertrautheit als „Fundamentalstruktur“ von Intentionalität, die natürliche Einstellung als Ausgangsproblem und Zentralthema, Lebenswelt als „philosophisches Universalproblem“ – sie belegen, welche grundlegende Rolle Vertrautheit bei Husserl spielt. In welchem Verhältnis steht sie zur Technik? Wir kennen schon die Interpretation Blumenbergs, welche zum Schluss führt, dass Technik Lebenswelt par excellence ist. Dabei operiert Blumenberg mit einer Mehrdeutigkeit im Lebensweltbegriff Husserls, welcher einerseits die wahrnehmungsmäßig vorgegebene Welt, die den Idealisierungen entgegen gesetzt bleibt, und andererseits das „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“ bezeichnet. Beide Bestimmungen fallen keineswegs zusammen, deshalb kann Blumenberg mit Recht Technik als Produzent von Lebenswelt bestimmen. Nähert man sich der Frage vom Gesichtspunkt Vertrautheit, kann man allerdings entdecken, dass Husserl dieser Gedanke Blumenbergs keineswegs fremd ist: Gegenstände sind nicht bloß als Gegenstände antizipiert. In der Regel bestehen viel spezifischere Vorzeichnungen. Mit jedem neuartigen, (genetisch gesprochen) erstmalig konstituierten Gegenstand ist ein neuer Gegenstandstypus bleibend vorgezeichnet, nach dem von vornherein andere ihm ähnliche Gegenstände aufgefaßt werden. So ist unsere vorgegebene Umwelt schon als vielfältig geformte ‚vorgegeben‘, geformt nach ihren regionalen Kategorien, und nach vielerlei Sondergattungen […] typisiert. Das sagt, daß das im Hintergrund Affizierende und im ersten aktiven Zugriff Erfaßte in einem viel weiter reichenden Sinne bekannt ist, daß es schon im Hintergrunde passiv aufgefaßt ist nicht bloß als ‚Gegenstand‘, Erfahrbares, Explikables, sondern als Ding, als Mensch, als Menschenwerk (Husserl 1938: 35).
An dieser Stelle verbindet Husserl passive Auffassungen mit Geschichte und damit auch Wissenschaft und Technisierung. Jede Erfahrung antizipiert einen Gegenstand nicht bloß in einer Typik, die auf die individuelle Erfahrungsgeschichte zurückgeht. Vielmehr gehen darin auch anonyme Vorleistungen ein:
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Die Welt […] ist uns ja immer schon vorgegeben als durchsetzt mit dem Niederschlag logischer Leistungen; sie ist uns nie anders gegeben denn als Welt, an der wir oder Andere, deren Erfahrungserwerb wir durch Mitteilung, Lernen, Tradition übernehmen, sich schon logisch urteilend, erkennend betätigt haben. Und das bezieht sich nicht auf den typisch bestimmten Sinn, mit dem jeder Gegenstand als vertrauter, in einem Horizont typischer Vertrautheit vor uns steht, sondern auch auf die Horizontvorzeichnung, den Sinn, mit dem er überhaupt als Gegenstand möglicher Erkenntnis, als Bestimmbares überhaupt uns vorgegeben ist. Der Sinn dieser Vorgegebenheit ist dadurch bestimmt, daß zur Welt, wie sie uns […] vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaft der Neuzeit an Bestimmungen geleistet hat. (Husserl 1938: 39)
Die neuzeitlichen Naturwissenschaften durchsetzen, wie Husserl erläutert, sowohl die Typik, die einen Gegenstand vorgreifend als so oder anders auffasst, als einen dieser oder jene Art, als auch den Auffassungsstil von Gegenständlichkeit überhaupt: Der Gegenstand wird antizipiert als ein scharf und objektiv bestimmter und also bestimmbarer. Er wird, wie Husserls klassischer Term dafür lautet, idealisiert. Diese Idee der Welt als eines Universums durch exakte Methoden […] beherrschbaren Seins, als eines an sich bestimmten Universums […] ist uns so selbstverständlich, daß wir in ihrem Lichte jede einzelne Gegebenheit unserer Erfahrung verstehen. Auch dort, wo wir die Allgemeinverbindlichkeit und universale Anwendbarkeit ‚exakter‘ naturwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisideale nicht anerkennen, ist doch der Stil dieser Erkenntnisweise so vorbildlich geworden, daß vorweg die Überzeugung besteht, die Gegenstände unserer Erfahrung seien an sich bestimmt (Husserl 1938: 40).
Auch den Laien ist die Welt an sich eindeutig bestimmt, das ist für sie geradezu „selbstverständlich“ geworden (ebd.). Sofern die Lebenswelt aber das „Universum der vorgegebenen Selbstverständlichkeiten“ ist und die anonymen logischen Leistungen zu diesen, obzwar historischen, aber deshalb nicht minder selbstverständlich gewordenen Vorgegebenheiten gehören, gehören diese anonymen logischen Leistungen zur Lebenswelt. Der Gegensatz zwischen Technik und Lebenswelt ist damit bei Husserl selbst überbrückt.21 Dieser Befund bestätigt sich auch in der
21 Wie ich schon zeigte, liegt das an einer Mehrdeutigkeit im Lebensweltbegriff Husserls. Ob es sich um eine Inkonsequenz Husserls handelt, wie Blumenberg meint, oder um einen überbelasteten Begriff, wie häufig bei einer neuen potenzialreichen Entdeckung, oder um Sachverhalte, die notwendig zusammen gehören, können wir hier ungeklärt lassen. Es kommt mir nur darauf an, herauszuarbeiten, wie sehr die Phänomenologie sich dem Thema Technik von der Vertrautheit her nähert. 166
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Krisis-Schrift. Husserl spricht hier mehrfach von der „Selbstverständlichkeit“ Galileis hinsichtlich der Geometrie und von den „weiteren Selbstverständlichkeiten“, welche für ihn hinzukamen wie die einer Mathematisierung der Natur (Hua VI: 21). Letztere ist in Husserls Zeitdiagnose zu einer Selbstverständlichkeit der eigenen Gegenwart geworden: So alltäglich vertraut ist der Wechsel zwischen apriorischer Theorie und Empirie, daß wir gewöhnlich geneigt sind, Raum und Raumgestalten, über welche die Geometrie spricht, von Raum und Raumgestalten der Erfahrungswirklichkeit nicht zu scheiden, als ob es einerlei wäre. (Hua VI: 21)
An dieser Stelle verbinden sich Husserl Überlegungen zu Vertrautheit als Fundamentalstruktur und den Selbstverständlichkeiten, welche Wissenschaft stiftet, die dann in als Selbstverständlichkeit eine Technisierung darstellen. Der Nachweis, dass die anderen klassischen Phänomenologien Heideggers, Blumenbergs und Merleau-Ponty von der Vertrautheit her sich Technik nähern, fällt verhältnismäßig leicht. Blumenberg geht von den Begriffen Husserls aus und arbeitet an diesen weiter. Technik wird von Blumenberg in der Linie Husserls als ein „Zustand des menschlichen Weltverhältnisses selbst“ entdeckt und nicht als „ein Reich bestimmter […] Gegenstände.“ (Blumenberg 1963: 32) Dieses Verhältnis ist für Blumenberg durch Vertrautheit und Selbstverständlichkeit bestimmt. Technik als Selbstverständlichkeit par excellence hat für Blumberg zur Folge, dass sie auch „Lebenswelt“ par excellence ist, denn Lebenswelt, so Blumenberg, ist „der zu jeder Zeit unerschöpfliche Vorrat des fraglos Vorhandenen, Vertrauten und gerade in diesem Vertrautsein Unbekannten“ (Blumenberg 1963: 23) Genauer betrachtet ist Vertrautheit das Missing Link zwischen Lebenswelt und Technik bei Blumenberg. Weil Lebenswelt die Sphäre des Vertrauten darstellt und Technik Gewöhnung produziert, ist Technik Lebenswelt in einem hervorragenden Sinne. Denn Technik ist für Blumenberg habitualisierend, sie produziert Gewohnheiten, sie ist hochgradig Vertrautheits-disponiert, indem sie Stimmigkeitsstruktur des Vertrauten verstärkt und absichert. Technisierung mag zwar (zunächst die „prähistorische“ und „subhistorische“) Lebenswelt erschüttern oder vernichten, aber „im Verlauf ihrer Allvergegenwärtigung nimmt sie teil an der Tendenz auf finale Lebensweltlichkeit und betreibt wie beschleunigt sie.“22 (Blumenberg 1986: 64) „Natur wird eher zum Störfaktor durch 22 Blumenberg spricht in Lebenszeit und Weltzeit, S. 65, von ihr auch als einer „final-posthistorischen“ Lebenswelt im Unterschied zur „alltäglichsubhistorischen“ und „primär-präshistorischen“. 167
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Ungewöhnlichkeit als die auf Schaffung von Vertrautheitsmomenten angelegten Technizitäten.“ (Blumenberg 1986: 65) Was lebensweltdisponibel ist, bestimmt sich rein formal, eben durch unmittelbare „Deckung von Erwartung und Erfahrung.“ (ebd.) Indem Technik diese Kongruenz steigert, kann sie als die bessere Lebenswelt erscheinen. Weil Technik besonders habitualisierend wirkt, kommt ihr auch jene Entlastungsleitung zu, die Gewohnheit generell zugeschrieben wird. Sie fördert „als habitualisierte Technik die Konzentration auf das Lebensdringliche durch Einsparung von Aufmerksamkeit für funktional schon Erledigtes und daraufhin fortdauernd störungsarm Fungierendes.“ (Blumenberg 1986: 64) Die Konzentration kann sich auf anderes konzentrieren als auf die Technik. Wenn Technik funktioniert, ist man mit ihr nicht befasst. Dass funktionierende Technik unauffällig, athematisch ist, ist wiederum Heideggers These. Für Heidegger beruht diese Unmerklichkeit auf dem Vertraut sein mit Zuhandenem und allgemein Welt. In der Welt sein ist für Heidegger daher das unthematische, umsichtige Aufgehen in den für die Zuhandenheit des Zeugganzen konstitutiven Verweisungen. Das Besorgen ist je schon, wie es ist, auf dem Grunde einer Vertrautheit mit Welt. In dieser Vertrautheit kann sich das Dasein an das innerweltlich Begegnende verlieren und von ihm benommen sein. (Heidegger 1927: 76)
Technik als sich selbst verbergender Umgang mit Dingen basiert bei Heidegger also ausdrücklich auf Vertrautheit. Dass Technik unmerklich ist, kann daher kaum überraschen, sofern Selbstverborgenheit ein zentraler Effekt von Gewohnheit und Vertrautheit ist. Bei Merleau-Ponty schließlich wird das Verhältnis zu Technik sowie deren Aneignung von vornherein unter das Thema Gewohnheit gestellt. Ausgehend von der Frage nach der „Erwerbung einer Gewohnheit“ kommt Merleau-Ponty auf den Umgang mit Automobil, Blindenstock, Schreibmaschine und Klavier zu sprechen (Merleau-Ponty 1945: 172).
3.3 Fazit 3: Was ist mit diesem Ergebnis anzufangen? Die Ausgangsfrage lautete: Welches Verhältnis besteht zwischen Vertrautheit und Gewohnheit? In einem ersten Schritt wurden dazu Eigenschaften von Gewohnheit anhand einiger Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts rekonstruiert.23 In einem zweiten Schritt wurden Eigenschaften 23 Um auch hier einen möglichen Einwand zu entkräften: Diese Eigenschaften werden Gewohnheit nicht nur im 17. und 18. Jahrhundert zugeschrie168
ZUSAMMENHANG ZWISCHEN VERTRAUTHEIT UND TECHNIK?
der Technik anhand phänomenologischer Techniktheorien herausgearbeitet. Der Vergleich ergab, dass die Eigenschaftszuschreibungen einander erstaunlich genau entsprechen. In einem dritten Schritt konnte der Grund dafür angegeben werden: Phänomenologische Techniktheorien betrachten Technik vor allem unter dem Gesichtspunkt Vertrautheit. (Abbildung 18 stellt den bisherigen Argumentationsgang nochmals dar.) Daher ist das Ergebnis der Synopse keineswegs verwunderlich. Abbildung 18: Übersicht Argumentationsgang
Verhältnis von Technik und Vertrautheit?
Frage nach Gewohnheit Frage nach Technik
Synopse: Identische Attribute
Grund: Phänomenologische Techniktheorien nähern sich Technik von Vertrautheit her
Die Frage, die sich nun natürlich stellt, lautet: Handelt es sich überhaupt um ein brauchbares, ein in der Ausgangsfrage weiterbringendes Ergebnis? Liegt es nicht schlicht an den Voraussetzungen phänomenologischer Techniktheorien, dass sie dazu kommen, Technik mit den gleichen Eigenschaften auszustatten wie Gewohnheit? Ich bin nicht dieser Ansicht, und zwar aus zwei Gründen: 1. Dieser Einwand, man erhalte als Ergebnis nur das, was man in den Prämissen schon eingeschmuggelt habe, lässt einen entscheidenden Punkt außer Acht. Er erklärt nicht, wieso es phänomenologischen Techniktheorien überhaupt möglich ist, Technik erfolgreich ausgehend vom Gesichtspunkt Vertrautheit zu behandeln. Wieso kommt die Phäno-
ben. Der Gedanke, Gewohnheit sei eine zweite Natur findet sich beispielsweise bereits bei Aristoteles. Die Theorien des 17. und 18. Jahrhundert verdichten die Diskussion jedoch ungemein. 169
TECHNIK ALS ERWARTUNG
menologie zu spannenden Ergebnissen? Muss Technik nicht einen intrinsischen Bezug zu Vertrautheit aufweisen, damit es zu ertragreichen Ergebnissen kommen kann, wenn man Technik in dieser Perspektive betrachtet? 2. Nichtphänomenologische Techniktheorien schreiben Technik dieselben Attribute zu. Dass Technik sich im Gebrauch selbst verbirgt, ist ein Axiom nahezu aller Medientheorien, ohne dass sie Vertrautheit zu ihrer Prämisse haben. Dass Technik kognitiv entlastet, wird in vielen Techniktheorien behauptet. Dass sie dabei zu Sinnverlusten führt, ist eine gängige Bemerkung gerade auch technikkritischer Betrachtungen. Die These schließlich, Technik werde zu einer zweiten Natur, ist nicht auf phänomenologische Techniktheorien beschränkt. Auch hier ist festzustellen, dass die phänomenologischen Techniktheorien viele dieser Überlegungen vorwegnehmen und verdichten. Am Ergebnis ist also festzuhalten. Doch wie ist es zu verstehen? Kann man mehr sagen, als dass Vertrautheit und Technik in einem ungemein engen Verhältnis zueinander stehen? Wir werden noch einmal neu ansetzen müssen.
170
II. D R E I A N T W O R T E N : V E R T R AU T H E I T /T E C H N I K
1. Trivialisierung und Habitualisierung Der Film Pleasantville kann als eine sehr genaue Umsetzung von Blumenbergs Idee verstanden werden, dass die Lebenswelt wie ein (technischer) Erlebnispark ist, in dem Erwartung und Erfüllung einander genauestens entsprechen. In diesem Film werden zwei Protagonisten in einen Film versetzt: genauer in eine US-amerikanische Fernsehserie der 1950er, die nach der Stadt heißt, in welcher die Serie spielt: Pleasantville. Dort werden Erwartungen immer erfüllt. Die Grenzen der Stadt können nicht verlassen werden, daher kann auch nichts Neues oder Fremdes in die Stadt gelangen; auf die Frage, was jenseits der Stadt auftaucht, ernten die beiden Protagonisten, welche sich in die Rolle zweier Serienfiguren versetzt sehen, nur irritiertes Gelächter.1 Die durchschnittliche Temperatur in Pleasantville beträgt jeden Tag zwischen (!) 23º C und 23º C. Das hermetisch geschlossene „System“ Pleasantville ist durch eine vollständige Regelmäßigkeit der Abläufe gekennzeichnet, es gibt keine Überraschungen. Begrüßungen verlaufen nach immer denselben Mustern, Charaktere ändern sich nicht, die Beziehungen zwischen den Menschen kennen keinen Verlauf. Veränderungsprozesse gibt es in 1
Blumenberg verdeutlicht seine Fiktion des Erlebnisparks mit einer der Jugenderinnerungen Karl Friedrich von Klödens, der 1815 bei einer Waldwanderung bei Berlin eine junge Frau trifft, die er nach einem Weg fragt. Die Frau kann ihm sagen kann, wohin der Weg führt, auf dem er sich befindet, sie hat aber keine Ahnung, wohin die anderen Wege führen, die doch direkt an ihrem Hause vorbei führen. So begrenzt sei ihr Vertrautheitsbereich, dass sie die Frage noch nicht einmal bedrängt. Vgl. Blumenberg 1986: 56. 171
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Pleasantville schlichtweg nicht; da keine Konflikte bestehen, kann es auch nicht zu welchen kommen. Alles befindet sich in vollständiger und stabiler Harmonie. Mit den beiden in ihre Lieblingsserie versetzten Figuren kommen neue Elemente hinein, welche diese absolute Regelmäßigkeit zersetzen. Die Veränderung, die wie ein Virus durch die Störelemente, die beiden Protagonisten, die ja in der Rolle zweier Serienfiguren nicht als Fremde erkannt werden, in Pleasantville ausgelöst wird, zeigt sich frappierend, als der Serienvater der beiden nach Hause kommt: Er öffnet die Tür, sagt „Hallo“ und hängt seinen Hut auf. An dieser Stelle wird er stutzig. Er geht noch einmal zur Tür, öffnet und schließt sie wieder, wiederholt die Prozedur. Doch er bleibt irritiert aufgrund einer Erwartungsenttäuschung. Seine Frau kommt nicht – wie in diesem Moment sonst immer – in den Flur, um ihn zu begrüßen. Nach und nach werden solche Veränderungsprozesse in Pleasantville ausgelöst. Personen entwickeln unerwartete Beziehungen zueinander, Wünsche tauchen auf, Passionen entstehen, ein Barkeeper entdeckt seine Leidenschaft für die Malerei, es kommt zu einem Ehebruch, Konflikte schwelen. Dennoch werden diese Konflikte am Ende positiv ausgetragen und positiv bewertet, da Pleasantville erst jetzt lebendig ist. Angezeigt wird dieser Veränderungsprozess auch durch Farbe. Denn die Serie ist in Schwarz und Weiß gedreht, mit den beiden Protagonisten kommt aber sukzessiv Farbe in diese monoton zufriedene Welt. Wen eine Leidenschaft befällt, wer „lebendig“ wird, wird nach und nach farbig. Der Film im Film und seine mitlaufende Kritik am „unlebendigen“ Aufgehen aller Erwartungen spielen nicht ohne Grund in den 1950ern, einer Zeit, die in Selbstbeschreibungen und auch rückblickend als Höheund Wendepunkt von uniformer Technisierung und mechanisierter Gesellschaft gilt. Besteht die Verbindung von Gewohnheit und Technik also darin, dass beide mechanisch sind? Technik ist mechanisch, sie vollzieht immer wieder dieselben Abläufe, dadurch wirkt sie mechanisierend – ist es das? Dem entspricht, dass ein gleichsam technisches Epitheton, allerdings kein schmückendes, die neuzeitlichen Reden über Gewohnheit begleitet: Sie wird als etwas Mechanisches aufgefasst. Der Ausdruck taucht wiederholt im Kontext von Gewohnheit auf. Es scheint zunächst nicht viel mehr als eine Metapher zu sein, wenn Kant einen Redner, welcher durchweg Phrasen verwendet, als „Sprachmaschine“ tituliert. Allerdings ist der Übergang gering zwischen sich an etwas „zu gewöhnen und so allmählich mechanisch zu werden“ (Kant 1798: BA 39). Die Metaphorik schlägt bei Kant allerdings ungeklärt bis auf die Ebene der Begriffsbildung durch, wenn die „Angewohnheit (assuetudo)“ als eine 172
DREI ANTWORTEN: VERTRAUTHEIT/TECHNIK
„physische innere Nötigung“ bestimmt wird (Kant 1798: BA 38). Mit einer solchen Formulierung suggeriert Kant, Gewohnheit sei mechanisch oder zumindest analog zum Mechanismus zu verstehen. Vorsichtiger oder dialektischer ist Hegel. In der Gewohnheit, schreibt er, sei man zugleich ganz gegenwärtig bei einer Sache, tief mit ihr verbunden – wie auch abwesend und gleichgültig. Je mehr man sie sich aneigne, desto mehr ziehe man sich aus ihr zurück, so dass die „Seele“ zugleich ganz in ihre leiblichen „Äußerungen eindringt und andererseits dieselben verlässt, ihnen somit die Gestalt eines Mechanischen, einer bloßen Naturwirkung gibt.“ (Hegel 1830: 191) Gewohntes Verhalten mutet zum einen automatisch an, zum anderen ist Gewohnheit wie Natur, sie macht unfrei (Hegel 1830: 184). Allerdings: Indem sie unfrei macht, macht sie auch zugleich frei, nämlich für anderes. Gewohnheit weist für Hegel – der hierbei mit seiner zentralen logischer Figur operiert, dem absoluten Unterscheid – einen Unterschied in sich auf, zu dem auch eine Nähe zwischen Gewohnheit und Mechanischem gehört. Doch ist Gewohnheit mechanisch? Es gibt gute Gründe, die dagegen sprechen. Merleau-Ponty hatte bereits, wie dargestellt, darauf hingewiesen: Gewohnheiten fungieren viel zu allgemein, sie bieten typische Lösungen für typische Situationen. Das bedeutet auch, dass die Situationen, konkret betrachtet, ungemein unterschiedlich sein können und die Ausführung der Lösungen auch. Es handelt sich daher nicht um eine Kopplung von Reiz und habitualisierter Reaktion. Die Situationen und Ausführungen haben vielmehr einen gemeinsamen Sinn, ihnen liegt ein, häufig leibliches, Verstehen zugrunde. Im Verlaufe dieses Teils werden weitere Gründe erkennbar werden, warum Gewohnheit nichts Mechanisches an sich hat. Zunächst gehe ich allerdings der Frage nach, was es ist, das eine Ähnlichkeit zwischen ihnen suggeriert: Warum erscheinen Gewohnheiten mechanisch?
1.1 Technik als Trivialitätserwartung Prototypisch stellt Technik rigide Kopplungen her: Wenn dieser Hebel umgelegt wird, dann wird jene Welle in Bewegung gesetzt; wenn diese Taste gedrückt wird, dann wird jene Funktion ausgelöst. Abstrakt formuliert, Ereignisse werden rigide gekoppelt: Wenn E1 dann E2. Informelle, so genannte „weiche“ Technik wie eine Ausführungstechnik beim Sport, die psychoanalytische Behandlungstechnik, Organisations- oder Moderationstechniken koppeln dagegen deutlich loser. Mechanische Apparaturen sind der paradigmatische Fall rigider Kopplungen. Wie lässt sich die Beobachtung solch rigider Kopplungen zu einem Technik173
TECHNIK ALS ERWARTUNG
begriff verdichten? Und was wäre ein Technikbegriff für derartige informellere Techniken? Von Heinz von Foerster stammt die Unterscheidung trivialer und nichttrivialer Maschinen. Die triviale Maschine ist eine, deren Verhaltensweise berechenbar ist. In Foersters Sprache: Bei gleichem „Input“ produziert sie stets den gleichen „Output“. Deshalb kann die Transformationsregel, durch die sie einen Input in einen Output verwandelt, rekonstruiert werden. Es handelt sich hierbei um einen sehr formalen Maschinenbegriff: Der Fahrkartenschalter etwa stellt eine solche triviale Maschine dar; der gleiche Input (Eingabe von Fahrzielen, Geld usw.) wird immer in den gleichen Output verwandelt. Das gleiche gilt aber auch für eine mathematische Funktion oder ein Naturgesetz: Die gleiche Zahleneingabe, die gleiche Ursache führt immer zum gleichen Funktionswert, zur gleichen Wirkung. Auch das Nervensystem, menschliche Charaktere und vieles weitere werden von Foerster als triviale Maschine begriffen (Foerster 1993a: 246). Triviale Maschinen sind für Foerster durch folgende Merkmale bestimmt, sie sind: 1. „synthetisch determiniert“: der Zusammenhang zwischen Eingang und Ausgang ist eindeutig festgelegt; 2. „analytisch determinierbar“: die Transformationsregel kann erkannt werden; 3. „vergangenheitsunabhängig“: bei gleichem Input wird immer der gleiche Output produziert, gleichgültig, wie oft und mit welchen Folgen dies schon vorkam; daher sind sie 4. „voraussagbar“: der Output ist erwartbar. (Foerster 1995: 62) Jegliche Technisierung stellt für Foerster eine Trivialisierung dar: Alle Maschinen, die wir konstruieren oder kaufen, sind hoffentlich triviale Maschinen. Ein Toaster soll toasten, eine Waschmaschine waschen [...] Und in der Tat zielen alle Bemühungen nur darauf, triviale Maschinen zu erzeugen, oder dann, wenn wir auf nicht-triviale Maschinen treffen, diese in triviale Maschinen zu verwandeln. Die Entdeckung der Landwirtschaft ist die Entdeckung, dass einige Aspekte der Natur trivialisiert werden können: Wenn ich heute pflüge, habe ich morgen Brot. (Foerster 1993b: 207)
Davon unterschieden sind nichttriviale Maschinen. Für sie gelten die oben genannten Merkmale nicht. Individuen etwa können als nichttriviale Maschinen par excellence verstanden werden, sie können auf kreative Weise lernen und sind daher vergangenheitsabhängig; daraufhin verändert sich die Transformationsregel: Die gleiche Frage beispielsweise 174
DREI ANTWORTEN: VERTRAUTHEIT/TECHNIK
ergibt eine andere Antwort. Folglich ist zukünftiges Verhalten unbestimmt. Selbst wenn sie synthetisch bestimmt, also determiniert sein sollten, so Foerster, sind sie analytisch nicht determinierbar. Heinz von Foerster versteht Aussagen über triviale und nichttriviale Maschinen als rein ontische Aussagen: Eine Maschine ist trivial oder nichttrivial. Dies führt zu einer Paradoxie. Sie besteht darin, dass es dann keine triviale Maschine gibt, man aber doch – gegen Foerster und im Einklang mit seinen sonstigen Äußerungen – konstatieren muss, dass wir uns verhalten, als wenn die Maschinen trivial wären. So bemerkt Foerster: Alle erhältlichen Maschinen sind nicht trivial, auch wenn man noch so hohe Preise für ihre Trivialität bezahlte. Selbst ein Rolls-Royce wird seine Kugellager abnützen oder gar mitten auf der Straße stehen bleiben, wenn der Treibstoff verbraucht ist: Vergangenheitsabhängigkeit einer nichttrivialen Maschine. (Foerster 1995: 66)
Aber dennoch bleibt gegen Foerster festzuhalten: Man geht sehr häufig mit Technik um, als wenn sie trivial wäre. Man wirft Brot in den Toaster, ohne zu erwarten, dass es weiß bliebe. Man steigt in den Fahrstuhl, ohne sich an der Wand festzukrallen; stattdessen wartet man darauf, gleich auszusteigen. Man geht folglich in der Regel von Trivialität aus. Das ist paradox, denn Foersters Behauptung, es gebe keine triviale Maschine, ist offensichtlich nicht zu widerlegen. Wie kann man mit dieser Paradoxie umgehen? Die Paradoxie entsteht meines Erachtens durch ein falsches Verständnis von Trivialität: Foerster betrachtet Trivialität als bloße Eigenschaft einer Sache, die trivial oder nichttrivial sein muss. Ein stimmiges, kohärentes Verständnis von Trivialität ergibt sich, wenn man sie als Erwartung begreift.2 Personen, Organisationen, Gesellschaften erwarten, dass eine technische Sache sich trivial verhält. Foerster selbst nennt ja als viertes Merkmal trivialer Maschinen deren Voraussagbarkeit. Eine Maschine ist dann trivial, wenn sie triviale Erwartungen zulässt. Bedeutet das aber nicht, Technik auf ein mentales Phänomen zu reduzieren? Wird Technik dadurch nicht gleichsam geistig verflüchtigt – also typisch geisteswissenschaftlich behandelt? Ist es nicht umgekehrt die banale, jedoch eigentlich unglaubliche Stabilität, Robustheit, Verlässlichkeit der technischen Sache, welche es rechtfertigt von trivialen Maschinen zu sprechen? Diesem Einwand liegt ein Missverständnis zugrunde. Trivialisierung als Erwartung zu begreifen, bedeutet keines2
Wagner (1994: 153) ist auf diesen Gedanken von Trivialität als Erwartung gestoßen; allerdings ohne ihn zu begründen oder auszunutzen. 175
TECHNIK ALS ERWARTUNG
wegs, sie auf einen mentalen Sachverhalt zu reduzieren. Bei Trivialitätserwartungen handelt es sich um Erwartungen, welche auf dem Verhalten der Sache gründen. Verhält sich etwas nicht trivial, kommt es auch zu keiner Trivialitätserwartung. Trivialitätserwartungen sind daher gerade Ausdruck der Verlässlichkeit, der Stabilität, des Funktionierens technischer Sachen, sie verkörpern die Robustheit technischer Artefakte. Auf diese Weise wird die Paradoxie gelöst. Triviale Maschinen führen zu Trivialitätserwartungen. Weil es sich um Erwartungen handelt, können sie enttäuscht werden. Bleibt die Enttäuschung in einem bestimmten Rahmen, kommt sie etwa nicht zu häufig vor oder ist das Scheitern nicht katastrophal, wird die Erwartung beibehalten und nicht aufgegeben. Streng genommen mag die Sache nichttrivial sein, dies bleibt aber unter einem pragmatischen Schwellenwert, der nur selten überschritten wird. Auch für Überraschungen stehen dann Trivialitätserwartungen zweiter Stufe zur Verfügung (Luhmann 1991: 1). Wenn das Licht ausbleibt, wechselt man die Glühbirne oder testet, ob das Stromnetz zusammengebrochen ist. Versteht man Trivialität als Erwartung, die sich an Gegenständen bildet, hat dies den Vorzug, graduelle Differenzen der Trivialisierung unterscheiden zu können. Ein Spektrum von rigiden, mechanischen Kopplungen, die hochgradig trivial sind, über Sozialtechnologien wie Organisationen, die sich zwischen beiden Polen befinden, bis zu Individuen, die sich nichttrivial verhalten, wird eröffnet. Wenngleich dieser Technikbegriff interessante Analysemöglichkeiten bietet: Was trägt er zum Verständnis von Technik und Gewohnheit bei?
1.2 Vertrautheit als leibliche Gegenwartserwartung Vertrautheit oder auch Gewohnheit gilt als Modus, als Inkorporation, als Aneignung von Formen. Nur selten wird sie als eine spezifische Erwartung aufgefasst (allerdings Luhmann 1968: 22 f.; 2001). Betrachten wir aber Vertrautheitsphänomene genau: Man kommt am Abend in die Wohnung, Dunkel hüllt zwar den Raum ein, aber man ist vertraut mit der Wohnung, „sieht“ in diesem Vertraut sein, wo was seinen Platz hat, und navigiert geschwind durch das Zimmer. Im Vorbeigehen tastet man nach dem Lichtschalter, diesen drückend sowie sein Kippen fühlend geht man weiter in den Raum, aber es bleibt dunkel... An dem nun folgenden Stocken wird offensichtlich, dass man eine Erwartung hatte, dass man erwartete, Licht würde sich nun ausbreiten. Die Enttäuschung macht die Erwartung sichtbar.
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DREI ANTWORTEN: VERTRAUTHEIT/TECHNIK
Man steht am Geldautomaten, schiebt seine Karte hinein, gibt die Geheimnummer ein, wählt die Funktion „Geld abheben“, gibt einen Betrag an – und wartet. In diesem Warten hört man irgendwann das Rattern des Automaten. Man hebt die Hand, um die Karte und das Geld zu entnehmen, noch bevor Karte und Geld erscheinen. Dieser Ausgriff der Hand verkörpert eine Erwartung. In der Vertrautheit mit dem Automaten interagiert man erwartungsvoll mit ihm. Der umgekehrte Fall: Man ist in keiner Weise vertraut mit Computern. Man sieht lauter Tasten vor sich, sie erscheinen als Möglichkeiten, irgendwelche Effekte auszulösen, die insbesondere schadvoll sein können. Man getraut sich deshalb kaum, eine Taste zu drücken. Entschließt man sich zögernd, doch eine Taste zu betätigen, beobachtet man anschließend genau, was sich getan hat – voller Sorge, irgendetwas kaputt gemacht zu haben. Das Zögern, etwas zu machen, hängt mit den diffusen Erwartungen zusammen: Was passiert eigentlich, wenn ich hierhin drücke? Die diffusen Erwartungen beruhen auf einer mangelnden Vertrautheit mit Computern. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt den Alltag, dann wird deutlich: Er ist durchsetzt mit Erwartungen, die im Vertraut sein mit den technischen Sachen und ihren Abläufen gründen. Die ursprüngliche Annahme, Erwartungen kämen im Alltag so gut wie kaum vor, hat sich gewandelt. Man drückt eine Klingel, man stellt den Wecker, man drückt eine Taste auf dem Handy, dem Computer, der Kaffeemaschine in Erwartung eines bestimmten, weil vertrauten Effekts. Immer dann, wenn Technik, mit der man vertraut ist, bedient wird, erwartet man selbstverständlich einen bestimmten Fortgang der Dinge. Man legt sich in eine Kurve auf dem Motorrad, man wandelt leicht die körperliche Gestalt ab, kurz bevor der Fahrstuhl startet, man stellt sich breitbeinig hin, wenn der öffentliche Bus anfährt – in Erwartung des vertrauten Fortgangs. So selbstverständlich, so vertraut, sind diese Erwartungen, dass sie erst in der Reflexion und insbesondere am Enttäuschungsfall zu Tage treten. Es sind unzählige solcher Erwartungen, welche Aktion, Reaktion und Interaktion mit Technik bestimmen. Sie stellen Routinen in einem Mikrobereich dar: Sie sind noch jenseits der sicheren Gleise, auf denen der Alltag gleitet, weil ihr Funktionieren in der Regel überhaupt nicht thematisch wird; sie sind eher das Gleisbett, auf dem Gleise gelegt sind und werden. Spricht man von Erwartungen, suggeriert dies zwei Implikationen: Erstens, Erwartungen beziehen sich ausnahmslos auf Zukunft und, zweitens, Erwartungen sind mentale Phänomene. Beide Implikationen sind nicht notwendig und in diesem Fall spielen sie sogar fast keine Rolle.
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
(1) Sicherlich gibt es Zukunftserwartungen, diese hat man zwar in der Gegenwart, sie sind aber auf Zukunft gerichtet. Zukunftserwartungen werden in der Regel willentlich herbeigeführt, zumindest ermöglichen sie Spielräume. Man kann die Ausmalung der erwarteten Zukunft beenden, sie variieren und mit anderen möglichen Zukünften vergleichen, sie konkreter oder unbestimmter halten. Von anderer Art sind Gegenwartserwartungen, welche nicht nur in der Gegenwart bestehen, sondern auch auf Gegenwart gerichtet sind. Bei Gegenwartserwartungen bestehen solche Spielräume nicht. Sie sind konstitutiv für Gegenwart. Was ist nun aber eine Erwartung, die nicht nur in der Gegenwart stattfindet, sondern auf Gegenwart bezogen ist? Ist dies nicht ein Widerspruch in sich? Erwarten kann man doch schließlich nur, was noch nicht ist und also nur Zukünftiges. Ein solches Argument geht jedoch von der Prämisse aus, dass Gegenwart punktuell ist. Sofern Gegenwart nur als Umschlagspunkt zwischen Zukunft und Vergangenheit fungiert, kann es natürlich keine Erwartungen in Bezug auf die Gegenwart geben. Allerdings ist diese Annahme falsch, wie Edmund Husserl gezeigt hat. Denn wäre Gegenwart eine Reihe von Jetztpunkten gäbe es auch keine Gegenwart. Gegenwart setzt eine gewisse Ausdehnung voraus. Edmund Husserl macht diese Entdeckung in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Gegenwart hat eine „Extension“; statt dass sie aus verschwindenden Jetztpunkten besteht, ist sie ein „originäres Zeitfeld“ (Hua X: 27-31 – Hervorhebung AK). Wie aber kommt Husserl zu diesem Ergebnis? Am Anfang steht der Testfall Musik. Eine Melodie kann nur gehört werden, wenn der jeweilig gehörte Ton nicht unmittelbar verschwindet, nachdem er nicht mehr wahrnehmungsmäßig gegeben ist, denn dann hörte man nur einzelne Töne, aber keine Melodie. Eine Melodie kann allerdings auch nicht gehört werden, wenn die verklungenen Töne unverändert als wahrgenommene im Bewusstsein verblieben, denn dann hörte man einen Akkord, aber keine Melodie. Die verklungenen, nicht mehr eigentlich wahrgenommenen Töne müssen also modifiziert präsent bleiben für eine Weile. In der Gegenwart gibt es also eine unmittelbare Präsenz des eben Wahrgenommenen. Ohne die Co-Präsenz gäbe es auch keine Wahrnehmung einer Melodie. Handelt es sich dabei aber nicht um bloße Erinnerungen? Die copräsenten Töne werden aber nicht erinnert. Denn Erinnerungen können unterbrochen werden, sie erlauben Spielräume (Sprünge, Beschleunigungen) und sie verlaufen zumeist willentlich (Hua X: §20). Die Kontinuität der Tonwahrnehmung stellt sich jedoch gleichsam passiv unmittelbar ein. Husserl nennt dieses Festhalten des Tones in der Gegenwart Retention (Hua X: § 8 ff.). Die Retention eines Tones ist keine Wahr178
DREI ANTWORTEN: VERTRAUTHEIT/TECHNIK
nehmung mehr, da der Ton verklungen ist. Gleichwohl ist er noch bei den erklingenden mitgegeben (co-präsent), andernfalls es keine Melodiewahrnehmung gäbe. Damit hat Husserl zwei Punkte erwiesen: (i) dass es Retentionen, zumindest beim Melodiehören, geben muss, und dass sie (ii) von Erinnerungen unterschieden sind. Wieso aber gehören sie (iii) zur Gegenwart? Weil es ohne sie keine Gegenwart gibt. Die Gegenwart eines Jetztpunkts, etwa der Wahrnehmung eines Tonjetzt, konstituiert sich nur, wenn die Retention des vergangenen Tonjetzt mitgegenwärtig ist (ähnlich wir die Rückseite eines Dings mitgegenwärtig sein muss, ohne die es kein Ding ist). Wahrnehmungsgegenwart gibt es nur mit dieser Mitgegenwart. Die aktuelle Phase des Tons gibt es nur, wenn seine vorige Phrase co-präsent ist. Natürlich nicht als Wahrnehmung (Impression), sondern als Retention.3 Entsprechendes gilt auch für Gegenwartserwartungen. Neben den Impressionen (den Wahrnehmungen) sowie den Retentionen (Primärerinnerung in der Gegenwart) gibt es die Protentionen, welche die in Frage stehenden Gegenwartserwartungen sind: Erwartungen, welche sich nicht auf Zukunft, sondern auf die extensionale Gegenwart richten. Protentionen weisen entsprechende Eigenschaften auf. Diese Erwartungen laufen ebenso passiv ab wie die Retentionen, sie werden nicht willentlich herbeigeführt. Auch mit Blick auf die Retentionen gibt es nicht den Spielraum, um sie zu unterbrechen, sie zu raffen, zu springen, spielerisch zu variieren, was bei Zukunftserwartungen möglich ist. Sie sind konstitutiv für Gegenwart, andernfalls die Melodie nicht zu hören sein würde. Denn die ersten Töne müssen die Erwartung einer einheitlichen, geschlossenen Tongestalt stiften können. Protentionen bieten dabei mehr oder weniger bestimmte Vorzeichnungen an.4 Man kann erwarten, dass nur überhaupt irgendwelche Töne zum Abschluss einer Tongestalt noch erfolgen müssen, oder aber man kann bestimmte Töne erwarten und in eins damit andere ausschließen. Wie konkret die Vorzeichnung nun wird, hängt von der Vertrautheit mit dem jeweiligen Gegenstand, in diesem Fall der Melodie ab. Was Husserl an der Melodie aufweist, gilt allgemein für jegliche Wahrnehmung. Auch eine Dingwahrnehmung ist nur möglich, wenn die
3
4
Dies gilt natürlich für Wahrnehmungsbewusstsein und auch, wie gleich deutlich werden wird, für Interaktionen von Personen mit Technik. Andernfalls definiert man Gegenwart naturwissenschaftlich als Punkt. Das ist eine Definition (Entscheidung), die ihre eigenen Probleme hat (wie groß ist die Ausdehnung dieses Jetztpunkts?), die aber keinen „natürlichen“ Vorzug hat. Hier tauchen die phänomenologischen Themen Sinn, Antizipation, Welt, Horizont wieder auf, die schon Thema waren. 179
TECHNIK ALS ERWARTUNG
soeben gesehenen Seiten nicht unmittelbar verschwinden, sondern retentional co-präsent bleiben, und wenn die Wahrnehmung kommender Perspektiven in der Gegenwart und für die Gegenwart gegeben und (wenn auch möglicherweise recht unbestimmt allgemein) vorgezeichnet ist. Husserls Nachweis von Protentionen gilt aber nicht nur allgemein für jegliche Gegenstände der Wahrnehmung. Auch in Interaktionen spielen Protentionen eine bedeutende Rolle. Sie sind konstitutiv für sie, denn nur diese Mikro-Erwartungen ermöglichen es, miteinander zu agieren. Auch hier ist es das jeweilige Vertraut sein, welche die Vorzeichnungen bestimmter oder weniger bestimmt ausfallen lässt. (2) Bislang behandelte ich das Thema Protention in Husserls Perspektive und damit als Bewusstseinsphänomen. Mit dem Wechsel auf Interaktionen ist dieser Rahmen allerdings schon überschritten. Gegenwartserwartungen sind kein mentales Phänomen. Sie können, wie Merleau-Ponty am Auto, am Blindenstock, an der Schreibmaschine ausführte, verkörpert sein. An der Maschine schreibend, eröffnet sich ein „Bewegungsraum“, der permanent auf Übereinstimmung „zwischen Vollzug und Intention“ abgefragt wird (Merleau-Ponty 1945: 174). Die Erwartungsintention ist weder auf Zukunft bezogen noch mental gegeben. Sie ist vielmehr eine „Zeitstruktur unseres Leibes“. In keinem Augenblick einer Bewegung ist der vorangegangene Augenblick unbekannt, stets aber ist er in die Gegenwart gleichsam eingeschlossen, und die gegenwärtige Wahrnehmung besteht schließlich darin, auf Grund der aktuellen Stellung die Reihe der vorangegangenen und einander umschließenden Stellungen wiederzuerfassen. Doch auch die nächstbevorstehende Stellung ist in die gegenwärtige eingeschlossen (Merleau-Ponty 1945: 169).
An der Tastatur schreibend ist beispielsweise in das jeweilige Heranführen des tippenden Fingers bereits die kommende Berührung der Tastatur und in eins damit die Wahrnehmung am Bildschirm vorgezeichnet. Machte man einen Jetzt-Schnitt, ein Foto zum Beispiel, könnte man unter Umständen nicht sagen, ob sich ein Finger auf eine Taste zu oder von ihr weg bewegt. Das ergibt sich nur aus der Bewegungsanmutung, in der sich Retention und Protention im Jetztpunkt finden und sie zu einem Gegenwartsfeld spreizen. Diese Bewegungsanmutung ist leiblich präsent. Leibliche Erwartungen laufen permanent mit, erst das Scheitern der Intentionen lässt Intention und Resultat wie Hände und Sehwahrnehmung auseinander treten. Sie treten zum Beispiel dann in einen Gegensatz zueinander, wenn die Tastatur unbemerkt auf Großschreiben festgestellt ist und sich nun ein störrischer Widerspruch zwischen Händen und 180
DREI ANTWORTEN: VERTRAUTHEIT/TECHNIK
Tastatur sowie Blick und Bildschirm ergibt. Dass man eine sichere Erwartung hatte, wie es weiter geht, zeigt sich erst an der Irritation, dass dieser Fortgang ausbleibt. Zuvor sind sie in eine Gegenwart gefaltet, die nicht die Gegenwart des Taste Drückens wäre, wenn nicht ein bestimmter Fortgang erwartet wäre. Die zahllosen vertrauten Ereignisketten, in denen man durch den Alltag gleitet, treten erst an den Stellen, an denen die „Kette“ reißt, hervor. Zuvor gab es auch keine distinkten Ereignisse und damit keine Ereigniskette. Das alles ist Sache einer Ereignisse konstruierenden Rekonstruktion.
1.3 Trivialitäts- als Vertrautheitserwartungen Der Bogen lässt sich nun spannen: • Technik trivialisiert und führt dadurch zu → Trivialitätserwartungen • Vertrautheit fungiert in vorzeichnenden → Vertrautheitserwartungen Die erste Frage lautet: Unterscheiden sich Trivialitäts- und Vertrautheitserwartungen? Trivialitätserwartungen setzen die Trivialität eines Gegenstands voraus; ebenso aber die Vertrautheit mit ihm, denn nur aufgrund des Vertrautseins mit ihm kann seine Trivialität erfasst und in Erwartungen verkörpert werden. Trivialität und Vertrautheit sind aber nicht nur Voraussetzungen für den Aufbau von Trivialitätserwartungen, zwischen Trivialitäts- und Vertrautheitserwartungen besteht kein Unterschied. Bestehen Trivialitätserwartungen, dann wird ein bestimmter Fortgang erwartet, in der Regel im Mikrobereich einer Interaktion mit Technik. Bestehen Vertrautheitserwartungen an Technik, dann ist protentional, das heißt in Form einer Gegenwartserwartung, ein Fortgang vorgezeichnet. Ein Unterschied ist nicht ausfindig zu machen. Setzen wir die Untersuchung fort: Nun kann man allerdings mit vielen anderen Gegenständen als mit Technik vertraut sein. Heißt das nicht: Alle Trivialitätserwartungen sind Vertrautheitserwartungen, aber nicht umgekehrt? Muss es dann nicht Vertrautheitserwartungen geben, die keine Trivialitätserwartungen sind? Trivialität ist, wie davorgestellt, ein formaler Begriff, der die Kopplung zwischen Ereignissen bezeichnet: Wenn E1 dann E2. Da Trivialität als Erwartung verstanden wurde, die Ausdruck der Trivialität von Gegenständen ist, ist die Möglichkeit angelegt, dass Ereigniskopplungen rigider oder loser ausfallen können. Erwartungen können bestimmter oder unbestimmter, sicherer oder unsicherer sein. Heinz von Foerster hat ein entsprechendes Spektrum gesehen, auf das der Trivialität zutrifft: von Maschinen über Naturgesetze bis hin zu Charakteren. Das heißt nun aber: Der Begriff Trivialisierung würde es, rein intensional betrachtet, gestatten, auch andere Gegenstän181
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de als in bestimmten Hinsichten triviale Gegenständen aufzufassen. Unterschiede bestehen zwar, weil die Trivialisierung viel schwächer ausfällt oder nur in bestimmten Hinsichten gegeben ist. Aber diese Möglichkeit eines unterschiedlichen Grades an Trivialität ist im Trivialitätsbegriff vorgesehen. Hier tritt wohl ein extensionaler „Schutz“ ein: Man lässt bestimmte Gegenstände nicht unter den Trivialitätsbegriff fallen, vor allem Personen, damit sie nicht als Technik betrachten werden. Ein Kassierer an der Kasse führt vollkommen triviale Tätigkeiten aus; jemand, der sich schnell beleidigen lässt, reagiert trivial auf solche Situationen; eine Organisation behandelt Ereignisse häufig weitgehend auf gleiche Weise; in einer langjährigen Partnerschaft ist es dem Partner in vielen Fällen klar, wie der andere auf eine Frage antworten wird, noch bevor dieser etwas gesagt hat. Auch in diesen Fällen wird im Verlauf eines Vertrautwerdens Trivialität erkannt und inkorporiert. Gewöhnungsprozesse sind Trivialisierungsprozesse: Man erfasst, nach welchen Regeln sich etwas verhält; eine diffus komplexe Situation wird durch sie in handhabbare Komplexität transformiert. Auch umgekehrt lässt sich daher kein Unterschied ausmachen: Vertrautheitserwartungen sind ausnahmslos Trivialitätserwartungen. Nun liegt aber ein weiterer Einwand nahe: Trivialitätserwartungen beziehen sich auf Technik, das heißt dann in der Konsequenz, wenn es keinen Unterschied zwischen Vertrautheits- und Trivialitätserwartungen gibt: Vertrautheit ist auch stets technisch, auf Technik bezogen. Was ist dann mit jenen schwer fassbaren Implikationen von Vertrautheit wie Intimität, anspruchsvoller Könnerschaft oder „Nähe“? Muss es nicht einen Unterschied zwischen Trivialität und Vertrautheit geben? Hat Vertrautheit nicht mit einer Form von „Reichtum“ zu tun, also gerade nicht mit Trivialität? Diesen Einwänden liegt insgesamt ein Vorurteil gegenüber Technik zugrunde, das auf einen bestimmten, kritischen Begriff von Mechanizität zurückgeht. (1) Trivialisierung ermöglicht anspruchsvolle Fertigkeiten: Vor allem weil sich Gegenstände trivial verhalten, ermöglichen sie raffinierte Handlungen. Ein Klavier verhält sich weitestgehend trivial in seiner Tastatur und seinen Pedalen, auf dieser Trivialität aufbauend werden anspruchsvolle Leistungen möglich – nicht trotz, sondern wegen seiner basalen Trivialität. Was am Klavier nur besonders augenscheinlich ist, lässt sich aber weitestgehend auf jegliche Technik übertragen. Die Trivialität einer Tastatur ermöglicht ein ungemein geschwindes und „blindes“ Schreiben in Könnerschaft. Mit dem Auto werden präzise Manöver auf engstem Raum möglich; Computer werden „personalisiert“; ausgeklü182
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gelte komplexe arbeitsteilige Prozesse werden möglich, weil man mit einer verlässlichen Trivialität der „Komponenten“ rechnen kann; der dichte, von außen schwer vorstellbare Verkehr am Flughafen beruht auf dieser basalen Trivialität. Trivialität führt also nicht zu Trivialität. (2) Trivialisierung bleibt nichts Äußerliches: Merleau-Ponty hat, wie dargestellt, beschrieben, wie Technik in ihrer Habitualisierung das Körperschema verändert, in das Körperschema eingeht. Es ist kaum eine größere Nähe denkbar als diese Integration in das Körperschema. Ohne ihre basale Trivialität, würde die Gewöhnung aber nicht möglich sein. Heißt das aber nun nicht, dass vertraute Personen zu Technik werden? Ich vermute, dieser Gedanke schreckt erneut unter der Annahme eines mechanistischen Technikbegriffs. Wird verstanden, dass anspruchsvolle, raffinierte, von Nähe bestimmter Beziehungen zu Technik bestehen, verliert sich dieser Schrecken recht schnell. Heißt das aber, dass keine Unterschiede zwischen Technik und Individuen bestehen? Es bestehen, je nach Situation, Unterschiede im Grade der Trivialisierung, diese können erheblich sein. So sind die Entwicklungsprozesse von Individuen von gänzlich anderer Art als die von Technik, die funktioniert oder kaputt geht. (Gleichwohl kann auch Technik in individuelle Entwicklungsprozesse maßgeblich einbezogen sein.) Das schließt es nicht aus, dass über lange Zeiten hinweg auch Individuen auf basaler Ebene in höherem Maße trivial fungieren. Durch diese Überlegungen gewinnt die in Frage stehende enge Beziehung zwischen Technik und Vertrautheit aber noch einen neuen Anhalt. Die bisherige Antwort lautet, dass zwischen Trivialitäts- und Vertrautheitserwartungen kein Unterschied besteht. Allerdings bestehen Unterschiede zwischen dem, was prototypisch als Technik gilt (Maschinen, Apparaturen, Sachtechnik aller Art) und weicher, informeller Technik sowie Individuen. Die Unterschiede bestehen an eingebauter, mitgebrachter Trivialität. Bei Technik im prototypischen Sinne kann bestehende Trivialität in höherem Maße vorausgesetzt werden, sie muss – was dann die Habitualisierung ausmacht – durch ein Vertrautwerden mit ihr nur aufgegriffen werden, wie kunstvoll und adaptiv dieses Vertrautwerden auch erfolgen mag. Zwischen Individuen werden Trivialisierungen in höherem Maße aus dem miteinander Vertrautwerden erwachsen; sie entstehen gleichsam mit und in der Habitualisierung. Sie können nicht derart vorausgesetzt werden, wie es bei Technik im engeren Sinne der Fall ist. Damit kann ein weiterer Punkt im Verhältnis von Vertrautheit und Technik erfasst werden. Trivialitätserwartungen und Vertrautheitserwartungen unterscheiden sich zwar nicht. Allerdings bestehen Unterschiede im Maße der in den Gegenständen verfügbaren Trivialität. Technik im 183
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prototypischen Sinne bietet daher äußerst günstige Voraussetzungen zur Habitualisierung. Durch die vorab in Sachen inkorporierte Trivialität kann es schneller und leichter zur Vertrautheit mit Technik im engeren Sinne kommen als bei komplexeren, weniger trivialen Gegenständen. Daher ist ein zweifaches Verhältnis zwischen Technik und Vertrautheit zu berücksichtigen: Auf der Ergebnisebene bestehen keine Unterschiede, Vertrautheits- und Trivialitätserwartungen entsprechen einander. Auf der Genese-Ebene können beide aber unterschieden werden: Das eine, nämlich Technik im prototypischen Sinne, stellt hier eine günstige Voraussetzung für das andere, nämlich Vertrautheit, dar. Auf der Erwartungsebene bestehen also keinerlei Unterschiede, auf der Sachebene kann Technik im engeren Sinne eine günstige Voraussetzung zur Habitualisierung sein, nämlich wenn sie gut erkennbar rigide koppelt. Es handelt sich daher um ein verwickeltes Verhältnis von Technik und Vertrautheit. Die Gründe, warum beide in einem engen Verhältnis zueinander gesehen werden, sind damit jedoch freigelegt und bestimmt. Als Ergebnis lässt sich nun festhalten: 1. Vertrautheits- und Trivialitätserwartungen unterscheiden sich nicht. Das Ergebnis von Habitualisierung ist Trivialisierung. 2. Unterschiede bestehen in Bezug auf das Technische im Maße eingebauter Trivialität. Zwischen Personen entsteht Trivialität vielmehr im Prozess des miteinander Vertrautwerdens, als dass sie vorausgesetzt werden kann. 3. Die Folge davon ist, dass Habitualisierungen an Technik leichter und schneller von der Hand gehen. Technik bietet mit ihrer angebotenen Trivialität in hohem Maße die Voraussetzung für eine gelingende Habitualisierung. Denn Habitualisierung führt Trivialität. 4. Auch wenn Vertrautheits- als Trivialitätserwartungen aufgefasst werden können, bedeutet dies nicht, dass sie ausschließlich zu Standardisierungen, zu Uniformität und Monotonie führen. Verkannt wird dabei, dass basale Trivialisierungen die Voraussetzung für anspruchsvolle, raffinierte Leistungen bieten. Damit wird eine andere Perspektive auf Technik gewonnen. Statt den Begriff des Individuums zu technisieren, ändert sich nun der Technikbegriff. Technik ist nichts Mechanistisches, und zwar gerade unter dem Gesichtspunkt Gewohnheit. Das Ergebnis ist daher überraschend, sofern Gewohnheit doch selbst unter einem Mechanisierungsverdacht stand. Technik als Vertrautheitserwartung belegt, dass sie nicht einer Mechanisierung des Alltags gleichzusetzen ist. Zu Technik besteht
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ein ungemein intimes Verhältnis. Diesem Gedanken gehen die beiden folgenden Kapitel zwei und drei weiter nach.
2. Technische Praxisstile Trivialisierung und Gewohnheit lassen an Eindimensionalität, an Homogenisierung von Zeitrhythmen und an Gleichförmigkeit denken. Trivialisierung führt dazu, dass ein Ereignis auf ein anderes folgt, unabhängig davon, wer Technik „nutzt“ und unabhängig von der Situation und Sache, um die es geht. Individualität scheint ausgeschlossen. Die Begriffsgeschichte von Gewohnheit weist ebenfalls auf Gleichförmigkeit hin: Sinne und Sinnreichtum stumpfen ab aufgrund uniformer Abläufe. Technisierung als Trivialisierung und Technisierung als Habitualisierung legen es deshalb nicht gerade nahe, dass mit ihnen auch eine Individualisierung einhergeht. Tatsächlich ist die technische Praxis hochindividuell. Dafür steht der Ausdruck: Technische Praxisstile. Der Stilbegriff zielt auf Individualität, sei es die von Personen oder auch Epochen. Dass die technische Praxis Stile hervorbringt, dass ein Stil sogar in einer besonderen Technik bestehen kann, ist nicht unbekannt, wenngleich es in Techniktheorien selten Eingang findet. In der Musik oder im Sport wird von Stilen gesprochen, und zwar in Hinsicht auf Technik. Der Anschlag eines Pianisten oder die Ballführung einer Fußballballspielers gelten als sein technischer Stil, in dem sich die Eigenart, das Idiom des Verhältnisses von Person und Gegenstand ausdrücken. Nun scheinen diese Beispiele mehr in den ästhetischen als in den technischen Kontext zu führen. Wenn hier von Stilen gesprochen wird, in der Musik sowieso, aber auch im Sport, dann wird damit in der Regel die ästhetische Erscheinungsweise gemeint, die mit dem jeweiligen Stil verbunden ist. Der Stil eines Fußballers gibt beispielsweise Aufschluss über die Eleganz, die Dynamik, die Rhythmik seines Spiels. Daher mag die Verwendung des Stilbegriffs hier leicht fallen. Rechtfertigt das aber eine Übertragung auf den Alltag, der doch ungleich standardisierter, weniger kunstvoll und gerade deshalb als Vertrautheitssphäre erscheint? Ferner: Sind sie paradigmatisch für Technik? Zunächst muss man dem Missverständnis vorbeugen, dass von Stil nur in ästhetischen Bezügen gesprochen werden kann. Stil ist zunächst, wie gesagt, ein Begriff für Individualität.5 Der Stilbegriff zieht Identität 5
Die Phänomenologie kennt diesen Stilbegriff. Vgl. Merleau-Ponty 1945: 378. Eingeführt wird der Stilbegriff allerdings schon bei Husserl in Bezug auf die Vorzeichnung des Horizonts oder die jeweilige Einstellung. Vgl. Hua III: 57, Hua VI: 59, 28 f. 185
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und Verschiedenheit aufs engste zusammen: Ein identischer und daher ein einen Vergleich ermöglichender Gesichtspunkt wird im Hinblick auf die Verschiedenheit seiner Ausführung betrachtet, die so verschieden ausfallen kann, dass sie „unvergleichbar“ erscheint. Für literarischen Stil etwa heißt das, das ein und dasselbe auf verschiedene Weise gesagt wird; etwas, das in bestimmter Hinsicht vergleichbar sein muss, nämlich in seiner Referenz, seiner Bedeutung im Sinne Freges, wird auf jeweils ganz andere Weise, mit ganz anderem Sinn ausgedrückt wird, so dass es nicht mehr gleich ist.6 Betrachtet man ein anderes Beispiel wie den Stilvergleich der Portraitmalerei verschiedener Epochen, erkennt man auch: Es muss nicht um einen personalen Stil gehen, auch Zeiten, Systeme, Disziplinen, eventuell sogar Gesellschaften können einen Stil haben. Zudem lässt der gemeinsame Bezugspunkt des Vergleiches weitgehende Abstraktionsspielräume zu (nicht das Portrait eines bestimmten Menschen muss als Vergleichspunkt dienen). Dieser abstrakte Stilbegriff kann auch auf Technik angewandt werden und eröffnet dadurch ein bislang wenig beachtetes Feld für Untersuchungen: Es gibt technische Praxisstile. Was ist damit gemeint? In Bezug auf das Autofahren handelt es sich um ein bekanntes Phänomen. Es gibt mannigfache Stile beim Autofahren: Autofahrer, welche von Ampel zu Ampel ruckartig beschleunigen, um dann wiederum vehement zu bremsen; solche, die dicht auffahren und aggressiv drängeln; solche die mit „weichem Stil“, gleichsam sanft ihre Kurven elegant ausfahren, „smooth“ beschleunigen und verlangsamen. Ein und dasselbe technische Artefakt – es kann sich um das gleiche Modell handeln – drückt sich in verschiedenen Gebrauchsstilen aus. Solche Praxisstile sind Resultat und Ausdruck von Vertrautheit. Sie ändern sich in der Regel nicht abrupt; gerade insofern sie eine Gewohnheit darstellen, sind sie schwer zu verändern. Da der technische Stil Ausdruck und Resultat von Vertrautheit ist, kann dieser an jenem abgelesen werden. Erläutern möchte ich dies an einem historischen Fall: dem Fahrstuhl mit Fahrstuhlführer. Vor 1900 kam dem Fahrstuhlführer eine Bedeutung bei, die heute nicht mehr bekannt ist. Die Fahrstühle besaßen eine komplizierte Steuerungstechnik: Mittels eines Seils, eines Handrads oder einer Kurbel regulierte der Aufzugswärter die Geschwindigkeit, die Umkehr der Fahrrichtung und die Anhaltepunkte. Das stellte hohe Anforderungen an das Fahrgefühl, es war eine Angelegenheit äußerster Vertrautheit mit dem technischen Artefakt. Denn zu Beginn war nicht einmal eine Markierung am Steuerungsinstrument angebracht, durch welche der Fahrstuhlführer dessen 6
Vgl. zur Unterscheidung von Sinn und Bedeutung Frege 1892.
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Mittelstellung erkennen konnte. Später befand sich daran eine Reihe von Knöpfen, die aufgelassen oder niedergedrückt werden mussten. Außerdem musste der Fahrstuhlführer aufgrund des trägen Verhaltens des Fahrstuhls zu einem Zeitpunkt, da das Zielstockwerk noch gar nicht sichtbar war (anscheinend sogar einige Sekunden bevor dieses erreicht war), das heißt in Erwartung der baldigen Ankunft die Geschwindigkeit drosseln; er durfte sie allerdings auch nicht zu niedrig halten, damit die Fahrt nicht unnötig lange dauerte. Neben der optimalen Geschwindigkeit war ein wichtiges Ziel, möglichst keine Schwelle zwischen Kabine und Etage entstehen zu lassen. Das erklärt, warum es Zulassungsprüfungen für Anwärter gab, von denen gefordert wurde, dass sie mit dem „‚Betriebe des Aufzugs vertraut sein‘“ müssen.7 Die Vertrautheit mit der Fahrstuhltechnik wurde allerdings nicht bloß gefordert, um eine Gefahr abzuwehren. Es ging um eine Form von „Virtuosität“, „nur den zuverlässigsten Führern gelingt es, den Aufzug bei größtmöglicher Geschwindigkeit mit größtmöglicher Präzision abzustellen.“ (Bernhard 2006: 165) Ohne zu Ruckeln und in gleichförmiger Beschleunigung den Fahrstuhl zu führen, deutete auf einen guten Fahrstil hin. In Andreas Bernards Geschichte des Fahrstuhls wird das „am berühmtesten Liftboy der Geschichte“ verdeutlicht: an Thomas Manns Felix Krull. Bei Krull, der es nach kurzer Zeit zu einer wahren Könnerschaft hierbei bringt, kommt es zu keiner Ebenendifferenz beim Stoppen des Aufzugs. Er bedient gleichsam künstlerisch sein Instrument. Die Anbahnung der für seine „Karriere“ bedeutenden Liebesnacht verläuft daher nicht ohne Grund im Fahrstuhl; die Fahrt mit seiner Geliebten im Fahrstuhl hat für Krull etwas von der Art eines Tanzes. Trotz trivialer technischer Artefakte sind also individuelle Praxisstile zu erkennen, die unmittelbar mit Vertrautheit zusammenhängen, ohne jedoch von ihr determiniert zu sein – sonst müsste etwa jeder Autofahrer und jeder Fahrstuhlführer den gleichen Fahrstil ausbilden in Abhängigkeit vom Maß seiner Fahrroutine; das ist aber nicht der Fall. Vertrautheit drückt sich daher im Stil aus, legt ihn aber nicht fest.8
7 8
„Polizei-Verordnung über die Einrichtung und den Betrieb von Aufzügen“ für Berlin von 1893, zitiert nach Bernhard 2006: 163. Dieser Begriff technischer Praxisstile weicht offensichtlich von individuellen Einstellungsstilen zu Technik ab. Zu individuellen Einstellungs- und Nutzungsstilen gegenüber Technik in soziologischer Perspektive vgl. Hörning, Ahrens, Gerhard 1997. Dort geht es um mit Lebensstilen zusammenhängende Stile des Einsatzes von Technik: „technikfaszinierte Wellenreiter“, „zeitjonglierende Spieler“ usw. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Beck 1997: 260-269. 187
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3. Reibungsloses Nichtfunktionieren Zu Technik besteht ein gleichsam intimes Verhältnis. Sie integriert sich unserem Körper, ohne dass sie dazu unter die Haut transplantiert werden muss; viel intimer genügt dafür, dass sie mit unseren Vertrautheiten verwoben ist, weil Technik Vertrautheit produziert. Sie ist zudem Ausdruck der Individualität, welche sich in den Routinen verkörpert. Die basalen Trivialisierungen technischer Vertrautheit stellen die Basis für die Bildung anspruchsvoller, individueller Technikstile dar. Es gibt einen weiteren Zusammenhang zwischen Technik und Vertrautheit. Zu diesem gelangt man über eine zentrale These Heideggers: Intakte Technik ist athematisch, unaufdringlich, gleichsam verborgen, solange sie funktioniert. Man kann diese Korrelation zwischen Funktionieren und Unaufdringlichkeit auch konditional verstehen: Wenn Technik funktioniert, dann ist sie unauffällig. Die These ist gleichsam zu einem Axiom von Medien- und Techniktheorien geworden.9 Sie ist in den selbstverständlichen Bestand technik- und medientheoretischer Ergebnisse eingegangen; sie ist so selbstverständlich, dass sie kaum mehr diskutiert, sondern vorausgesetzt wird. Dadurch bleibt am Phänomen etwas unentdeckt: Die Unauffälligkeit störrischer Technik im idiomatischen Gebrauch. Entgegen Heideggers Überlegung und seiner Rezeption vertrete ich im Folgenden zwei Thesen: 1. Es gibt eine Unauffälligkeit nicht intakter, aber vertrauter Technik. 2. Zu Funktionieren heißt vertraut und daher unauffällig zu sein. In Sein und Zeit begreift Heidegger die technische Praxis, wie dargestellt, als Gleiten entlang der Bezüge, der Verweisungen (der Stift verweist auf das Papier). Dinge treten in dieser technischen Praxis nicht auf (man ist nicht einem Stift befasst, wenn man schreibt), stattdessen ist sie bestimmt durch den Verweisungszusammenhang. Ist der Verweisungszusammenhang, ist ein Bezug in diesem Verweisungszusammenhangs unterbrochen, dann kann das „Zuhandene“ wie ein Kippbild seine Gestalt wandeln und vorhanden werden, dann kann „Zeug“ thematisch und zu einem Ding werden. Eine Unterbrechung des Verweisungszusammenhangs erfolgt für Heidegger, wenn eine von drei Bedingungen gegeben ist: (1) Wenn ein Zeug kaputt ist, dann wird es „auffällig“; (2) wenn es fehlt, dann ist es „aufdringlich“; (3) wenn es im Weg liegt, dann ist es „aufsässig“ (Heidegger 1927: 73 f.).
9
Vgl. Luhmann 1997: 190-202; Krämer 2003; Halfmann 2003, um nur einige, wenige zu nennen
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DREI ANTWORTEN: VERTRAUTHEIT/TECHNIK
Betrachten wir dazu wiederum die technische Praxis: Man kommt nach Hause, steht an der Eingangstür, um sie aufzuschließen. Man steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn um und – statt die Tür nun einfach aufzudrücken – zieht man die Türklinke leicht zu sich und hebt sie zugleich in die Höhe. Man weiß, dass man nur so die Tür öffnen kann: Indem man den Schlüssel umdrehend die Tür zu sich zieht und leicht anhebt; erst anschließend kann man die Tür aufdrücken. Als man eine Nachbarin bat, die Pflanzen zu gießen, da man nicht zu Hause war, hatte sie Probleme, die Tür zu öffnen; sie brauchte eine ganze Weile, bevor es ihr gelang. Eine Computertaste ist defekt, blöderweise ein Vokal, eine Taste also, die man häufig benötigt. Oder aber eine Taste an der Fernbedienung des Fernsehers funktioniert kaum mehr. Inzwischen hat man allerdings ein Gefühl dafür, wie man diese Taste zu drücken hat, an welcher Stelle und mit welchem Druck, damit sie funktioniert. Man fährt einen PKW, der im untertourigen Bereich eine extrem sensible Handhabung (eigentlich: Fußhabung) erfordert. Ein feines Spiel von Gas und Kupplung ist nötig, um ihn nicht „abzusaufen“. Anderen, die mal hinterm Steuer sitzen, gelingt dies nicht. Wiederholt geht der Motor aus. Die Mischbatterie für Warm- und Kaltwasser scheint nicht mehr recht zu funktionieren. Jedenfalls „springt“ sie immer dann von heiß auf kalt oder umgekehrt, wenn man den Regler eigentlich geringfügig verschiebt; man hat aber ein Feingefühl dafür gewonnen und, unter der Dusche stehend, gelingt es einem inzwischen wie einem Dirigenten mit dem sensibelsten „al niente“ eine Feineinstellung zu erzielen und die Wassertemperatur passend zu regulieren. Was passiert hier? Es handelt sich um Technik, die eigentlich nicht recht intakt ist, die teilweise defekt und deshalb für die meisten nicht mehr brauchbar ist. Einigen aber gelingt es, sie recht problemlos zu verwenden. Es gelingt jenen, die mit dieser Technik vertraut sind, und zwar mit den individuellen technischen Dingen. Vertrautheit mit der individuellen, nicht intakten Sache, kann diese Technik am „Funktionieren“ halten: Durch die individuelle Vertrautheit mit einem individuellen Artefakt können dessen Macken, Störungen und kleinen Defekte wegroutinisiert werden. Sicherlich kann man einiges von dieser Vertrautheit mit dem individuellen technischen Ding, das Macken hat, auf andere Dinge transferieren. Ist eine andere Tür „defekt“ oder klemmt die Taste an einer anderen Fernbedienung, versucht man es, wie man es an der Tür oder der Fernbedienung gelernt hat, bei der es funktioniert. 189
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Bei dieser Vertrautheit handelt es sich um ein leibliches, schwer explizierbares Wissen; es ist ein Wissen im Fuß auf der Kupplung, im Finger auf der Taste. Versucht man anderen zu erläutern, wie es geht, treten deshalb die üblichen Probleme impliziten, leiblichen Wissens auf: „Probier mal mehr so …“. Durch diese Vertrautheit mit der nicht intakten, aber noch zu verwendenden Technik wird der Spezialgebrauch (Tür anheben, um sie zu öffnen) zu einer Art zweiten Normalgebrauch: „Das macht man eben so“. Das Handlungsskript zur Bedienung der Technik wird gleichsam umgeschrieben oder erweitert. Deshalb schlage ich vor, hier von einer Konjektur im textwissenschaftlichen Sinne zu sprechen: Wie ein fehlerhafter Text wird das Handlungsskript korrigiert. So umwegig die Lösungen erscheinen mögen, so nichtfunktional die Störungen sind: So alltäglich, weit verbreitet und vertraut ist der Umgang mit ihnen. Man kann dabei in keinem Fall sagen, dass die Störungen funktional seien, im Gegenteil stellen sie eigentlich einen Fehler der Technik dar. Dieser Fehler wird aber durch eine individuelle Vertrautheit und sich daraus ergebende Lösungen aufgefangen, wobei die Lösungen selbst wiederum so vertraut werden können, dass Außenstehende und insbesondere Experten nur den Kopf schütteln können aufgrund der ihnen allzu umwegigen, verblüffenden und scheinbar so unökonomischen Umgangsweise mit der störrischen Technik. Diese Überlegung ermöglicht es, nun eine Unterscheidung zwischen Gewohnheit und Vertrautheit einzuführen, nachdem beide bislang synonym behandelt wurden: Gewohnheiten bestehen im Normalgebrauch. Sofern dieser Normalgebrauch gestört wird, können aufgrund der Vertrautheit kreative Lösungen gesucht werden. Vertrautheit ist dann ein Vermögen, aufgrund intimer Kenntnis mit etwas, Umgangsweisen damit auszuloten. Aufgrund eines Vertrautseins können mögliche Verhaltensweisen abgeschätzt werden, neue Effekte vorgestellt, andere Möglichkeiten exploriert werden. In jedem Fall tauchen Vertrautheit und Gewohnheit an zwei Stellen des Umgangs mit der problematischen Technik auf. Einmal ist man mit der jeweiligen Technik vertraut, den konkreten Artefakten und ihren spezifischen Macken, was erst dazu befähigt, mögliche und in jedem Fall wiederum individuelle Lösungen zu erkennen. Zweitens werden die aufgrund dieses Vertrautseins gefundenen Problemlösungen wiederum habitualisiert, in der Regel werden sie zu körperlichen Routinen. Diese doppelte Vertrautheit erklärt auch, warum Experten der Umgang mit solchen Problemen idiomatisch im Sinne von besonders, eigen, schrullig erscheinen mag. Statt das Problem direkt anzugehen, die Symptome zu analysieren und entsprechend unmittelbar an den Ursa190
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chen anzusetzen (Schloss ölen, Inspektion des Wagens in der Werkstatt, Fernbedienung austauschen usw.), werden die Symptome und ihre Therapie als quasinormale Funktionsereignisse in die Handlungssequenzen integriert – so unsinnig sie auch vom idealtypischen Blick aus sein mögen. Erleichtert wird diese Integration, diese Normalisierung der Sonderpraxis durch das den Laien fehlende Wissen über die Infrastruktur der Technik, das mangelnde Wissen über den „inneren“ Aufbau in der Black Box und die daraus abgeleiteten Verwendungsnotwendigkeiten – ein Wissen, über das nur die Experten verfügen. Die Dysfunktion in ihrer Unverständlichkeit hebt sich so für die Laien nicht von der Unverständlichkeit anderer technischer „Notwendigkeiten“ ab: Warum braucht man überhaupt eine Kupplung? Wie funktionieren eigentlich Schloss und Schlüssel, warum muss man den Schlüssel herumdrehen und nicht bloß einschieben? Und wenn man ihn herumdrehen muss, warum sollte es dann nicht auch „normal“ sein, die Tür an der Türklinke anzuheben? Vor dem Hintergrund einer symmetrischen Unverständlichkeit – nämlich einerseits fehlenden Gründen dafür, warum der normale Gebrauch so und nicht anders vollzogen werden muss, und andererseits, warum die Konjektur zu dieser Lösung und eben nicht zu einer anderen führt – erscheint die Normalpraxis als nicht weniger kontingent denn die idiomatische Sonderpraxis. Daher können diese Unterschiede nivelliert, die neuen Handlungssequenzen ins Skript integriert und derart schließlich leichter habitualisiert werden. In Tabelle 6 sind die jeweiligen Handlungsskripte parallelisiert. Entgegen Heideggers wirkungsvoller Überlegung vermag Technik daher auch unauffällig zu sein, wenn sie nicht recht funktioniert, wenn sie störrisch ist. Die oben genannte erste These ist somit belegt. Vertrautheit kommt eine Art reparierende, Technik (weiter) funktionieren lassende Leistung zu. Daher verwundert es in keiner Weise, wenn fehlende Vertrautheit mit einer Technik zu ihrem Scheitern beiträgt10; im Gegenteil, das ist banal, aber die Schlussfolgerung daraus ist es nicht, sie führt zur zweiten oben genannten These: Vertrautheit lässt funktionierende Technik nicht bloß unmerklich werden, funktionierende Technik äußert sich nicht nur darin, dass sie Routinen hervorbringt und so vom Apparat zu einem unbemerkten Medium wird. In das Funktionieren
10 Vgl. das bekannte, krasse Scheitern einer Automatisierung der Notrufannahme und Weiterleitung beim Londoner Ambulance Service. Der Report of the Inquiry into the London Ambulance Service (1993) führt ausdrückliche fehlende Vertrautheit als einen der Gründe für das Scheitern an und fordert daher Maßnahmen zu Vertrautheitsbildung, § 7/62. 191
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von Technik selbst geht Vertrautheit ein: Funktionieren heißt vertraut sein. Tabelle 6: Konjektur des Handlungsskripts Handlungsskript 1: Normalgebrauch Schlüssel wird umgedreht und Tür wird aufgedrückt
Keine Natürlichkeit dieser Gebrauchsweise. Könnte auch ganz anders sein
Handlungsskript 2: Sondergebrauch Schlüssel wird umgedreht, Tür zu sich gezogen und dabei leicht an der Türklinke angehoben, um sie anschließend aufzudrücken und zu öffnen Könnte auch die normale Handlungsweise sein, um eine Tür zu öffnen
Gewöhnung an diesen Gebrauch macht ihn zum Normalgebrauch
Vertrautheit mit der Tür ermöglicht die Lösung des Problems, woraufhin die Lösung selbst wieder zur Routine, zum Quasinormalgebrauch wird Symmetrische Unverständlichkeit Fehlendes Wissen über den Funktionsaufbau in der Black Box
Diese These ergibt sich aus der ersten, in deren Diskussion erkennbar wurde, dass Vertrautheit Technik am Funktionieren halten kann. Beide Formulierungen sind aber offensichtlich nicht äquivalent, die zweite These ist keine Reformulierung der ersten. Sie ergibt sich daraus, dass zwischen dem Nichtintaktsein von Technik und ihrem Nichtfunktionieren unterschieden werden muss. Technik kann nicht intakt sein und Funktionieren. Mit Intaktsein wird dabei offensichtlich Bezug genommen auf Abläufe in der Black Box. Der Begriff Funktionieren ist dann auf das Zusammenspiel von Technik und Nutzern bezogen, also ein Relationsbegriff. Dieses Verständnis von Intaktsein und Funktionieren eröffnet dann die Möglichkeit, auch den umgekehrten Fall zu fassen: Intakte Technik kann nicht funktionieren. Die Gründe für das Nichtfunktionieren intakter Technik liegen darin, dass Technik sich nicht in bestehende Routinen integrieren lässt, seien es Wahrnehmungs-, Handlungs- oder auch moralische Vertrautheiten. Von daher begründet sich die These, dass Vertrautheit und Funktionieren äquivalent sind.
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Die Abkehr von einem Laborbegriff von Funktionieren findet inzwischen auch in der Technikgestaltung statt. Bestehende Gewohnheit, Routinen, Vertrautheit gelten dort als bedeutsame Ressourcen, die man nutzen oder an denen man Widerstand erfahren und so scheitern kann. Insbesondere die Gestaltung von Informationstechnologie hat sich damit beschäftigt, vielleicht weil sie besonders fremd anmutete und sich schnell verändert, so dass Routinen besonders schnell „ins Leere zu greifen“ drohen. Terry Winograd und Fernando Flores betrachten in Erkenntnis – Maschinen – Verstehen. Zur Neugestaltung von Computersystemen das „Verschwinden“ von Technik in Unaufdringlichkeit als „Gestaltungsrichtlinie“ (Winograd/Flores 1992: 267). Dann funktioniert für sie Technik. Marc Weiser hatte das – ohne ausdrücklichen Bezug auf Flores und Winograd, aber mit Blick auch auf Heidegger – zur zentralen Intention eines neuen IT-Paradigmas gemacht: des Ubiquitous Computing (auch Pervasive Computing oder Ambient Intelligence genannt). Die Entwicklung von IT soll sich von ihrer Orientierung am Desktop-PC lösen und das Lernen von für die eigentlichen Zwecke fremden Operationen ersparen. Stattdessen soll IT in den Alltag einsickern, ihn durchdringen und vollständig assistieren, aber eben auf gänzlich unauffällige Weise: „The most profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until they are indistinguishable from it“, schreibt Weiser (Weiser 1991). Das gilt es auf IT zu übertragen, so Weiser, und er spricht daher von „[t]he idea of integrating computers seamlessly into the world“ (Weiser 1991). Auch in ethnomethodologischen Zugängen der Technikgestaltung spielt Vertrautheit eine bedeutende Rolle: Hier werden bestehende Routinen gezielt kartiert. Im Vordergrund steht die Suche nach den spezifischen lokalen Methoden, welche Akteure zur Problemlösung verwenden (vgl. als Beispiel Britland et al. 2003; Ideen gebend natürlich Garfinkel 1967). In die Technikgestaltung sollen dann etwa die ermittelten und aufgrund ihres Vertrautheitscharakters leicht übergangenen Nutzererwartungen und Nutzungspraxen mit einfließen (vgl. Wales, O’Neill, Mirmalek 2002). Wichtig im Zusammenhang der aufgestellten These, dass Vertrautheit eine reparierende Funktion zukommt, sind Bemühungen, bestehende, aber für Störungen hochanfällige Technikpraxen auf vertraute Problemlösungen der Handelnden vor Ort abzusuchen. Man geht dabei nicht mehr davon aus, dass technische Artefakte und Organisationen perfekt funktionieren, sondern umgekehrt: dass sie wiederholt ins Stocken geraten, dass aber vertraute Lösungen bereits bereit stehen (ebd.). Selbstgefundene Lösungen sollen in diesen Fällen durch eine ReOrganisation nur mehr unterstützt werden (vgl. Hughes et al.: 1995).
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Auch User-zentrierte Verfahren in der Technikgestaltung knüpfen an Vertrautheit als Bedingung für das Funktionieren von Technik an. Ein Gestaltungsziel ist dabei, technische Dinge so darzustellen, dass sich ihr Gebrauch möglichst unmittelbar von selbst erklärt. Versucht wird das durch eine Anknüpfung an bereits Vertrautes. Die Mülltonne auf dem Desktop ist dafür ein Exempel. Ein anderes Beispiel: Antikollisionssysteme im PKW müssen ohne Nachdenken verständlich sein, in der Gestaltung von Symbolen wird daher auf möglichst vertraute Formen und Farben zurückgegriffen (Cacciabue, Martinetto 2004: 6467).
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III. Z W I S C H E N F AZ I T : V E R T R AU T H E I T P O T E N Z I AL
UND
Was ist nach den ersten beiden Teilen erreicht? Es wurde gezeigt, dass Technik Formen des Erwartens sind, Potenzial- und Vertrautheitserwartungen. Dabei wurde die Sachhaltigkeit von Technik nicht verflüchtigt, obgleich dennoch ein Technikbegriff gebildet werden konnte, der nicht am technischen Ding klebt. Vertrautheitserwartungen sind Ausdruck technischer Verlässlichkeit. Beide Formen des Erwartens stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Potenzialerwartungen beziehen sich auf neue, auf fremde, auf wunderbare Technologien. Vertrautheitserwartungen fußen auf Alltagstechniken. Dieses kontradiktorische Verhältnis der beiden Formen des Erwartens findet sich auch im Modell der Entstehung von Potenzialerwartungen: Potenzialerwartungen entstehen in der Aufhebung von Angelannahmen, das heißt den hochgradig selbstverständlichen, außerordentlich vertrauten Annahmen. Das Maß an erwarteten Verlust von Vertrautheit war daher zugleich das Maß des erwarteten Potenzials einer Technologie. Dabei sind Potenzialerwartungen nicht nur die Negation von Vertrautheit, sondern Vertrautheitserwartungen sind eine steigerbare Voraussetzung von Potenzialerwartungen. Je vertrauter, trivialer Welt ausfällt, desto schärfer treten Potenzialerwartungen hervor, desto potenzialreicher können sie ausfallen. Die wichtigsten Verhältnisse zwischen beiden Formen technischen Erwartens im Überblick:
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Tabelle 7: Vergleich von Potenzial- und Vertrautheitserwartungen Potenzialerwartung Neue, fremde, wunderbare Technologien
Vertrautheitserwartung Alltagstechniken
Erwartete Auflösung des Vertrauten wird zum Thema. Vertrautes steht in Frage
Entzieht sich selbst der Thematisierung und daher Fraglichkeit
Kontingenz, Kontingenzdynamik, Hyperkontingenz Ausschließlich in Kommunikationen, Visionen, Bildern, Szenarien
Ausklammerung von Kontingenz (obgleich kontingent) Ausschließlich in der technischen Praxis
Bringen Risiko und Nichtwissen hervor durch den erwarteten Abbau des Vertrauten
Trivialisierung als Habitualisierung steigert die Möglichkeit technologischer Potenziale
Nach diesen beiden Formen technischen Erwartens gerät eine dritte in den Fokus: Vertrauens- und Misstrauenserwartungen. Sofern Potenzialerwartungen durch neue, fremde Technologien evoziert werden und dabei im erwarteten Verlust der vertrauten Welt bestehen, tauchen als Themen Risiko und Nichtwissen auf. Kann den neuen oder fremden Technologien vertraut werden, sofern sie mit einem riskanten Verlust vertrauter Welt verbunden sind? Wie wäre außerdem Welt, würde die erwartete Technologie realisiert? Man weiß es nicht, eben weil der Verlust an Vertrautheit auch ein Verlust an Maßstäben ist. Eine Extrapolation ist nicht mehr möglich. Ferner: Vertrauen und Vertrautheit, wie verhalten sie sich zueinander? Sind die so ähnlich klingenden Termini nicht Ausdruck einer Ähnlichkeit der Phänomene? Aus den beiden bislang behandelten Formen des Erwartens motiviert sich bereits die Beschäftigung mit Vertrauenserwartungen.
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T EIL C T ECHNIK
ALS
V ERTRAUENSERW ARTUNG
I.
W AS
HEISST ES,
TECHNIK
Z U V E R T R AU E N ?
Ein typischer Fall: Im Frühjahr 2001 wird gemeldet, dass das Bundessortenamt die Zulassung von T 25 plant. T 25 ist eine gentechnisch veränderte Maissorte eines großen deutschen Saatgutherstellers. Dieser Mais ist technisch so modifiziert, dass er widerstandsfähig gegen Herbizide, also Pflanzenvernichtungsmittel ist. Herbizide können dann auf dem Acker gegen Unkraut verspritzt werden, ohne dass der Mais davon Schaden nimmt, so heißt es – von Seiten des Herstellers. Allerdings gibt der Saatguthersteller auch an, T 25 selbst im Falle einer Zulassung nicht auf den Markt zu bringen, da „das Vertrauen der Öffentlichkeit in gentechnisch veränderte Produkte“ noch nicht gegeben sei (Spiegel, Mai 2001). Knapp drei Jahrzehnte zuvor: In den 1970ern tritt in der BRD ein Bruch mit dem bislang kaum angetasteten Vertrauen in Atomenergie ein. Plötzlich ist die Rede vom „Atomstaat“, der „atomaren Apokalypse“, „no future“ heißt es dann später. Den staatlichen Versicherungen, es handele sich um eine zuverlässige Technik, stellen sich „Netzwerke des Misstrauens“ entgegen (Weisker 2003: 407). Ein Zukunftsszenario im Ubiquitous Computing: Man trägt miniaturisierte, kontextintelligente Informationstechnologie mit sich und zieht Nutzen aus der Möglichkeit von Ad-hoc-Netzwerken, das heißt: Stationäre und mobile IT-Geräte vernetzen sich situativ. Man ist beispielsweise in der Stadt auf der Suche nach einem Produkt. Beim Flanieren erfolgt eine Suchanfrage an die mobilen Geräte anderer Flaneure in der Nähe, ob sie hilfreiche Information hierzu anbieten können: Kennen sie ein Produkt, das sie empfehlen können? Andere Geräte verfügen über diese Informationen möglicherweise, weil ihre Benutzer dieselben Interessen haben und über bestimmte Erfahrungen 199
TECHNIK ALS ERWARTUNG
mit dem Produkt verfügen. Geben die anderen Flaneure entsprechende Information frei, erhalten sie vom Suchenden im Gegenzug auch Informationen oder einen anderen Bonus. In diesem Szenario werden Informationen Preis gegeben, nur so können Ad-hoc-Netzwerke entstehen. Die Preisgabe von Informationen ist aber riskant, da nicht klar ist, was andere damit anfangen könnten. Deswegen versucht man Vertrauen zu modellieren. Vertrauen zwischen Geräten wohlgemerkt. Denn der Nutzer soll nicht jedes Mal mit einer Anfrage seiner Geräte belästigt werden, ob Informationen mit anderen Geräten geteilt werden dürfen. Dazu werden Software-Architekturen entwickelt, welche das eigene Endgerät als eine Art Vertrauensfigur konzipieren (Encarnação, Mühlhäuser, Wichert 2007: 8). Vertrauen wird zu einer Angelegenheit, für welche Technik zu sorgen hat, nämlich durch ein spezifisches „Vertrauensmanagement (trust management)“ (BSI 2006: 46). Die Modellierung und das Management von Vertrauen zwischen Geräten ist aber letztlich Vertrauensmanagement gegenüber ihrem Nutzer, der ihr schließlich vertrauen soll. Nur wenn er ihr vertraut, wird er sie im Hintergrund agieren lassen. Ein vertrauteres Alltagszenario: Man erhält eine E-Mail und fragt sich, ob man ihren Anhang öffnen sollte. Der Absender ist unbekannt und der Text der E-Mail merkwürdig. Allerdings signalisieren weder EMailanwendung noch Virenscanner, dass eine Gefahr bestehe. Außerdem wird im Text der E-Mail eine gewisse Dringlichkeit angezeigt. Kann man den Angaben des Virenscanners und der E-Mailanwendung trauen – oder stellt sich diese Frage nur in Bezug auf den Absender? In den geschilderten Fällen geht es um Vertrauen in Unternehmen, in Personen, in Institutionen oder den Staat. Allerdings geht es auch um Vertrauen in Technik. Ausdrücklich sogar wird von Vertrauen in Technik gesprochen.1 Vertrauen wie auch Misstrauen in Technik stellen dabei Erwartungen dar: Vertraut man den gentechnisch veränderten Pflanzen oder der Antivirensoftware, der Atomtechnik oder dem mobilen De1
Hier eine kleine Auswahl aus dem Ubiquitous Computing, in der ausdrücklich Vertrauen in Technik thematisiert wird: „Bei der Nutzung und Verarbeitung der Daten scheint es dabei weniger darauf anzukommen, dass für den Nutzer alle Prozessschritte sichtbar und in ihrer Logik nachvollziehbar sind. Vielmehr müssen die Nutzer ein explizites Vertrauen gegenüber dem jeweiligen System haben.“ (BSI 2006: 14, siehe auch 15, 31). „Sie müssen sich adaptiv an die hoch dynamische Landschaft eines Ad-hoc-Netzes anpassen können, wo Knoten wesentlich häufiger verschwinden oder neu erscheinen. Hierbei stellen sich auch Fragen nach der Sicherheit und Zuverlässigkeit der Zwischenstationen, womit Aspekte wie Vertrauen und Reputation relevant werden.“ (ULD 2006: 35) „Ein weiterer wichtiger Aspekt für den Erfolg neuer Technologien und Dienste ist das Vertrauen, das die Nutzer den neuen Produkten entgegenbringen.“ (ULD 2006: 88)
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W AS HEISST ES, TECHNIK ZU VERTRAUEN?
vice im Ubiquitous Computing, dann erwartete man eine andere Zukunft, als wenn man ihnen misstraute. Entsprechend handelt man anders. Man öffnet den Anhang, bringt die Saat aus oder teilt Informationen mit anderen – wenn man der Technik vertraut. Handelt es sich dabei aber um eine präzise und sinnvolle Redeweise? Kann es Vertrauen in Technik geben? Ist Technik nicht etwas Mechanisches, eine blinde, wenngleich präparierte Kausalität, weshalb von „Vertrauen in Technik“ zu sprechen ein Kategorienfehler wäre? Was heißt es also, Technik zu vertrauen? Diese Frage leitet den aktuellen Teil an.
1 . Zw e i An t w o r t e n i n d e r F o r s c h u n g Zwei Antworten darauf sind in der gegenwärtigen Diskussion zu erkennen. Die jeweilige Antwort wird anscheinend vom Ausgangspunkt beeinflusst. Theorien, welche von Technik ausgehend das Vertrauensthema aufnehmen, neigen zu einer anderen Antwort als Theorien, welche sich vom Gesichtspunkt Vertrauen aus dem Technikthema nähern. 1. Technikliteratur: Technikliteratur, welche sich mit Vertrauen in Technik beschäftigt, sieht vor allem in Risiko und Nichtwissen begründet, warum Vertrauen und Technik zusammenhängen (vgl. Slaby, Urban 2002; Weisker 2003: 397; Sigrist 2001: 5-11). Es ist vermutlich eine Konsequenz dieser Betonung von Nichtwissen, dass der Adressat von Vertrauen häufig ausschließlich in den Experten als „den Wissensträgern“ gesehen wird: Die Nichtwissenden können den Wissenden nur vertrauen oder misstrauen. In der Technikliteratur ist außerdem zwischen System- und Personenvertrauen unterschieden worden (u.a. Wagner 1994: 149; Siegrist 2001).2 Dadurch wurden differenziertere Beschreibungsmöglichkeiten gewonnen. Jedoch bleibt der Systembegriff in Bezug auf Technik diffus. System scheint manchmal den gesamten Bestand an technischen Einrichtungen zu bezeichnen. Inwiefern diesem vertraut werden kann, bleibt ungeklärt. Bei näherem Hinsehen deutet sich an, dass unter System bald ein Expertensystem verstanden wird, das dann durch personale Experten vermittelt wird. Vertrauen in Technik wird so schrittweise wieder auf Vertrauen in Personen zurückgeführt. Exemplarisch hierfür ist Anthony Giddens Argumentation in Konsequenzen der Moderne: 2
Referenzpunkt dieser Technikliteratur ist vor allem Luhmann 1968, der zwischen System- und Personenvertrauen differenziert, allerdings ohne Bezug zur Technik. 201
TECHNIK ALS ERWARTUNG
• Erster Schritt: Giddens unterscheidet zwischen personalem Vertrauen und Vertrauen in abstrakte Systeme. • Zweiter Schritt: Abstrakte Systeme werden nun vor allem als Expertensysteme betrachtet und das Expertensystem wird schließlich als Expertenwissen angesprochen. • Dritter Schritt: Experten repräsentieren schließlich das Expertensystem. An diesen Überlegungen ist nichts falsch, allerdings wird Vertrauen damit tendenziell re-personalisiert beziehungsweise es bleibt personal grundiert. Inwiefern Vertrauen in abstrakte Systeme möglich ist, bleibt bei Giddens unbeantwortet, es wird stattdessen vorausgesetzt.3 Die Frage, was es heißt, Technik zu vertrauen, scheint mir von der techniktheoretischen Seite generell nicht beantwortet zu sein. Dass Technikvertrauen auch mit Vertrauen in Institutionen und Personen zusammenhängt, ist zwar nicht von der Hand zu weisen, darüber hinausgehendes Vertrauen wird zwar thematisiert, bleibt jedoch begrifflich nicht erfasst.4 2. Vertrauensliteratur: Betrachtet man Literatur, welche sich primär mit Vertrauen beschäftigt und von diesem Ausgangspunkt dem Technikthema nähert, fällt die Antwort auf die Frage, ob man Technik vertrauen könne, klar aus: In Technik zu vertrauen ist nicht möglich. Exemplarisch hierfür schreibt Bernd Lahno: Die bloße Kenntnis von Regelmäßigkeiten und ihre Fortschreibung in die Zukunft, die die Grundlage mancher Vorhersagen im Bereich der unbelebten Natur ist, ist mit einer Haltung eines Vertrauenden nicht vereinbar. Der tiefere Grund hierfür liegt in dem besonderen Charakter, den wir Handlungen als Ereignissen zuschreiben. Die Erwartungen eines Vertrauenden in einem Vertrauensproblem betreffen das Verhalten des Adressaten seines Vertrauens als einem Handelnden. Auf einen Mechanismus, dessen Verhalten durch seine mechanischen Eigenschaften festgelegt ist, kann man sich zwar verlassen, man kann ihm aber nicht im eigentlichen Sinne des Wortes vertrauen. (Lahno 2002: 46 f.)
3
4
Vgl. die Rückführung der ontologischen Sicherheit in: „Aus dieser Analyse folgt, daß das Vertrauen in die Zuverlässigkeit nichtmenschlicher Gegenstände auf einem primitiveren Glauben an die Zuverlässigkeit und Versorgungsbereitschaft menschlicher Individuen beruht.“ (Giddens 1990: 124) Vgl. auch: „Triftigkeit des Expertenwissens“ (41), „Richtigkeit der Prinzipien“ (49). Vgl. einen Vorschlag, Beziehungen zu Technik zu überdenken, von Knorr Cetina 1998.
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Die Unterscheidung von Vertrauen (in Handelnde) und sich verlassen (auf Mechanismen) gewinnt Lahno letztlich aus der Unterscheidung von Autonomie und Kausalität.5 Das zeigt sich, wenn er Vertrauen durch zwei Haltungen charakterisiert sieht: die personale und die teilnehmende Haltung. In der personalen Haltung wird als Person behandelt, wem Autonomie zugeschrieben wird. Autonom ist, wer nicht nur Wünsche hinsichtlich seines Willens hat, sondern von dem Willen geleitet wird, den er zu haben wünscht (Lahno 2001: 167-172). Die teilnehmende Haltung grenzt sich von einer beobachtenden Haltung ab: Man antwortet mit reaktiven Gefühlen (z.B. mit Ärger, Dankbarkeit) auf das Verhalten von Personen. Objekte dagegen, dessen Verhaltensregeln beobachtet werden, mögen zwar auch Gefühle hervorrufen, aber keine reaktiven (ebd.: 172179). Mit einigen Veränderungen formuliert Lahno damit eine ZweiWelten-Theorie, was sich auch im folgenden Zitat ausdrückt: „Einen Mechanismus betrachtet man in der Regel unter dem Gesichtspunkt kausaler Gesetzmäßigkeiten, einer Person schreibt man dagegen die Fähigkeit zu, in einem gewissen Rahmen frei zu entscheiden.“ (Ebd.: 169) Die Ausgangsunterscheidung Autonomie/Kausalität schließt Technikvertrauen notwendigerweise aus. Entweder muss man dann Technik personalisieren, was kein plausibler Weg ist, oder Technikvertrauen als falsche Redewendung betrachten. Die einzige Alternative zur Personalisierung von Technik bietet dann die Re-Personalisierung von Vertrauen, wie sie oben dargestellt wurde. Die Frage nach dem Sinn von Technikvertrauen kann deshalb als bislang nicht (Technikliteratur) oder nur abschlägig (Vertrauensliteratur) beantwortet gelten.
2 . D e r Ar g u m e n t a t i o n s g a n g : B e d i n g u n g e n für Vertrauen Eine positive Antwort zu finden, bedeutet folglich, eine Ebene zwischen der Personalisierung von Technik und der Re-Personalisierung von Vertrauen in Technik zu finden. So alternativlos und prinzipiell die Unterscheidung zwischen Autonomie und Mechanismus zu sein scheint, sie ist es meines Erachtens nicht und verwischt feinere Auflösungsmöglichkeiten.6 5
6
Sie geht zurück auf einen inzwischen klassischen Text von Baier 2001, welcher die Unterscheidung zwischen Vertrauen und sich-verlassen-auf begründet. In Bezug auf die Handlungsträgerschaft von Technik bestehen ähnliche Probleme. Vgl. für einen Überblick Rammert, Schulz-Schäfer 2002. 203
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Um zu zeigen, dass Vertrauen in Technik keine unsinnige Formel ist und was es heißt, Technik zu vertrauen, bediene ich mich der Überlegung, dass Phänomene wie Vertrauen Konstitutionsbedingungen haben. Ich erläutere dies am analogen Beispiel von Versprechen. Ein Versprechen kann nur gegeben werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, beispielsweise: wenn es (a) in der Macht des Versprechenden liegt, es zu erfüllen, und wenn (b) seine Erfüllung nicht von selbst eintritt. Deshalb kann man nach Performanztheorien nicht versprechen, dass die Sonne aufgeht; beide Bedingungen werden hierbei verletzt.7 Ähnliche Bedingungen unterstellen personale Vertrauenstheorien anscheinend mit der Voraussetzung Autonomie: Die Person, der vertraut wird, muss mit ihren Handlungen auf dieses Vertrauen antworten und es daher nicht nur zufällig nicht enttäuschen, sondern weil sie es nicht enttäuschen will und es auch in ihrer Macht liegt, es nicht zu enttäuschen. Man kann jemanden, der einen nicht kennt und nicht weiß, welche Effekte seine Handlungen haben können, und der ein Geschehen zudem nicht einmal beeinflussen kann, weil er nicht anders handeln kann, nicht Vertrauen gewähren und deshalb enttäuscht sein, falls es nicht erfüllt wurde. Vertrauen in Technik wäre für personale Vertrauenstheorien aber offensichtlich ein solcher Fall – in dem „jemandem“, hier Technik, der einen nicht „kennt“ und nicht „weiß“, welche Effekte seine Handlungen haben können, der außerdem das Geschehen nicht ändern kann, weil es automatisch abläuft, vertraut werden soll. Offen ist aber, ob diese Bedingung wirklich für Vertrauen oder nicht nur für personales Vertrauen gültig ist. Meine Absicht ist, zu zeigen, dass Vertrauen auch ohne diese Bedingung gegeben ist. Sie gilt für personales Vertrauen, aber nicht für andere Vertrauensformen. Diese Behauptung könnte nun so verstanden werden, als würde einfach eine Bedingung gestrichen und dann behauptet, es handelt sich noch immer um Vertrauen, nur um einen anderen Typ als personales Vertrauen. Genauso könnte ein Hase als der Typ Löwe definiert werden, der anders als die üblichen Löwen aussieht und sich zudem von üblichen Löwen fressen lässt; ansonsten teilt er ja mit ihm viele Merkmale wie das lebendig oder tierisch sein usw. Welche Rechtfertigung kann also dafür gegeben werden, dass es sich noch um Vertrauen handelt und nicht bloß Definitionsakrobatik betrieben wird? In Kapitel V werde ich begründen, warum Vertrauen auch ohne diese Bedingung auskommt. Vertrauen eröffnet, wie ich dort zeigen werde, einen pragmatischen Spielraum, der nicht bloß Personen einschließt. 7
Vgl. zu Gelingensbedingungen Austin 1962, insbesondere die 2. Vorlesung
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Die Begründung wird auf zwei anderen Bedingungen von Vertrauen aufbauen, die uns zuvor beschäftigen: Risiko (Kap. II) und Nichtwissen (Kap. III). Risiko und Nichtwissen sind Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit vertraut oder misstraut werden kann. Gibt es kein Risiko, steht nichts auf dem Spiel, kann Vertrauen nicht gewährt werden und nicht einmal misstraut werden. Weiß man, welchen Ausgang ein Prozess nehmen wird, kann weder vertraut noch misstraut werden. In allen eingangs genannten Beispielen zu Technikvertrauen waren daher Risiko und Nichtwissen gegeben. Man weiß nicht, was im Anhang der Mail ist oder was andere mit Informationen über einen anfangen könnten. Es könnte jedenfalls gefährlich sein. Man weiß nicht, was die Aussaat von Genmais bewirken könnte oder wie sicher Atomkraftwerke wirklich sind, sie sind in jedem Fall riskant. Die Überlegungen in Kapitel VI werden schließlich erste Konsequenzen aus dem dann entwickelten Vertrauensbegriff ziehen, indem das Verhältnis von Vertrauen und Vertrautheit mit Blick auf unspürbare Technologien untersucht wird.
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II. R I S I K O
Risiko ist eine Bedingung für Vertrauen.1 Sofern es keine Schadensmöglichkeit gibt, kann auch nicht vertraut werden, was nicht heißt, dass vertraut werden muss, wenn es ein Risiko gibt. Stattdessen besteht die Alternative zu misstrauen oder andere Antworten auf die riskante Situation (wie ihre Vermeidung beispielsweise) zu suchen. Doch welcher Sachverhalt wird mit Risiko eigentlich bezeichnet? Von Risiko zu sprechen, Risiken wahrzunehmen, eine Entscheidung als riskant zu erleben, ist keineswegs selbstverständlich. Denn nicht immer gab es Risiken. Risiko gehört zu den wenigen Begriffen, von denen sich recht klar sagen lässt, dass sie vergleichsweise späte Erfindungen sind.2 Unsicherheit in Bezug auf Zukunft bestand auch früher, doch sie wurde mit anderen Formen wie Vorsehung (providentia), Glück (fortuna) oder Schicksal (moira, fatum) begriffen. Risiko gehörte also nicht immer schon zum Formenrepertoire, mit dem die Ungewissheit der Zukunft thematisiert wurde. Was ist dann aber neu an diesem Sachverhalt? Wie erscheint Zukunft, wenn sie unter dem Gesichtspunkt Risiko betrachtet wird?
1
2
Dass wird durchweg in der Literatur so gesehen. Vgl. nur einige sporadische, weit auseinander liegende Beispiele: Schottlaender 1957: 28; Giddens 1990: 50; Baier 2001: 43; Holeschak 2000: 103; Slaby, Urban 2002; Weisker 2003: 397; Sigrist 2001: 5-11. Zur historischen Einschätzung vgl. Frevert 2000: 185-187 sowie Frevert 2003: 65 f. Vermutlich ist der Risikobegriff im 14. Jahrhundert ein Ausdruck im Seeversicherungswesen gewesen und von dort im 15. Jahrhundert in die Kaufmannsprache eingegangen als Ausdruck für gewagte Handelsgeschäfte. Vgl. den Eintrag zu Risiko im Historischen Wörterbuch für Philosophie, Bd. 8, 1045. 207
TECHNIK ALS ERWARTUNG
In der Risikodiskussion lassen sich aktuell vor allem zwei Risikokonzepte erkennen: Einerseits Verfahren des Risk Assessments, welche Risiko quantitativ zu handhaben suchen und sich mit spieltheoretischen Überlegungen und Rational-Choice-Modellen verbinden, andererseits stärker auf Begriffsbildung drängende Theorien, die vor allem von Niklas Luhmanns Unterscheidung von Risiko und Gefahr inspiriert sind.3
1. Was ist Risiko? 1.1 Quantitatives Risikokonzept und Rational-Choice-Theorie Durchforstet man die Literatur, so stößt man einerseits auf wahrscheinlichkeitstheoretische Risikokonzepte. Mit Risiko wird dann in der schlichtesten Fassung ein Maß bezeichnet, das sich aus dem Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe ergibt (Widmer 1995: 90; Henne 1994: 49). So verlockend einfach der Vorschlag ist, so schwerwiegend sind seine Folgeprobleme. Erstens ist offen, wie quantifiziert werden kann. Beim Faktor Eintrittswahrscheinlichkeit stellt sich das Problem, dass Ereignisklassen betrachtet werden müssen, für die keine oder nur unzureichende Häufigkeitsverteilungen bekannt sind.4 Deutli3
4
Es gibt zwar ungemein viel Literatur zum Thema Risiko, aber damit sind die beiden zentralen Risikokonzepte, soweit mein Überblick reicht, schon genannt. Die psychologische Forschung beschäftigt sich vor allem mit den Faktoren, die den Ausschlag dafür geben, was in welchem Maße und in welcher Weise als riskant oder nicht riskant erlebt wird. Durch dieses Forschungsinteresse zerfasert der Risikobegriff gewissermaßen von selbst in eine Reihe von Aspekten: Schrecklichkeit, Freiwilligkeit, zeitliche Distanz, Bekanntheit usw. Dadurch ist der Rückweg zur Bildung eines Risikobegriffs zwar nicht versperrt, aber auch nicht unbedingt geebnet. Vgl. exemplarisch Jungermann, Slovic: 1993; 1993a. Covello 1983. Auch die soziologische Risikoforschung sucht nach den Bedingungen unterschiedlicher Risikowahrnehmungen, zudem nach Verfahren des Umgangs mit Risiko. Ein Hauptthema ist ferner die Entstehung und Modernität von Risiko. Auch dadurch werden aber eher Entstehungsbedingungen als Bestimmungen von Risiko gefunden: Technisierung/Modernisierung (Beck 1986), Individualisierung (Krohn/Krücken 1993), Wissen (Luhmann 1991) und neuerdings der gesuchte Vorteil durch früh(er) gemachte Irrtümer (Willke 2005). Dies wurde im Zusammenhang mit dem Rasmussen-Report zur Sicherheit von Atomkraftwerken problematisiert. Da man über keine Erfahrungswerte bezüglich der Häufigkeit verfügt, wurden mehrere Wahrscheinlichkeiten hypothetisch unterstellt: Wahrscheinlichkeit einer Dampfexplosion bei Kernschmelze = 0,1. Wahrscheinlichkeit einer dadurch ausgelösten Sprengung des Sicherheitsummantelung = 0,1. Vgl. Bechmann 1993: X.
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RISIKO
che Schwierigkeiten ergeben sich auch beim anderen Faktor. Die Schadenshöhe lässt sich bei materiellen Gütern noch leicht monetisieren und derart quantifizieren. Sind allerdings Tote, Verletzte, Umwelt, Imageverlust und ähnliches im Bereich möglicher Schäden zu erwägen, stellen sich unlösbare Probleme.5 Ein weiteres Problem: Die Gleichung (Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert mit der Schadenshöhe) führt zu einer kontraintuitiven Konsequenz (Vgl. Binswanger 1990). Aufgrund ihrer Linearität setzt sie nämlich zwei gänzlich ungleiche Fälle gleich: Fälle, in denen eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit, aber nur eine äußerst geringe Schadenshöhe zu veranschlagen ist, wären genauso riskant wie jene, in denen die Eintrittswahrscheinlichkeit äußerst gering, die Schadenshöhe aber sehr groß ist.6 Komplexere Modelle haben versucht, diese Probleme zu umgehen, indem mögliche Schäden nach Dimensionen differenziert und seltene Fälle, für die keine Häufigkeiten bekannt sind, anders erfasst werden (vgl. vor allem Kaplan, Garrick 1993: 98-101, 106 f.). Dadurch wird das quantitative Risikomodell zwar komplexer, aber nicht unbedingt berechenbarer. Zwischen den verschiedenen Schadensdimensionen (Tote, Umwelt, Geld) kann dann zwar gewichtet, mit ihnen deshalb aber noch nicht gerechnet werden: Man kann festlegen, was besonders schwerwiegend ist, aber wie schwer ist schwerwiegend?7 Kaplan und Garrick versuchen deshalb subjektive und objektive Faktoren zu verbinden. Dazu unterscheiden sie zwischen Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit. Häufigkeit bezeichnet dabei eine „objektive, meßbare Zahl“, die aufgrund wiederholter Versuche ermittelt werden kann. Wahrscheinlichkeit bestimmen sie dagegen als eine subjektive Erwartung, einen Glauben, der sich
5
6
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Zu den Operationalisierungsversuchen, den „Wert eines Lebens“ in die Risikokalkulation einzubeziehen, siehe den Überblick bei Rowe 1983: insbesondere S. 23-26. Ferner: Alberini 2005. Man hat versucht, diese Konsequenz zu vermeiden, indem man die lineare Kurve ab einer bestimmten (nur wie wird diese bestimmt?) Schadenshöhe aussetzt. Vgl. Widmer 1995: 90. Luhmann (1991: 11) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Katastrophenschwelle. Trotz aller Beteuerungen und der tatsächlichen Vorsicht der Autoren, entsteht der Eindruck (etwa durch den Titel der Arbeit von Kaplan und Garrick: „Die quantitative Bestimmung von Risiko“), man bekomme am Ende zahlenmäßig das Ergebnis geliefert, ob das Risiko Atomkraft (momentan, aus der Sicht bestimmter Organisationen zumindest) akzeptabel sei oder nicht. Tatsächlich führen sie statt auf eine Gleichung auf ein Modell und statt auf eine Risikozahl auf Risikokurven, die durch unsichere Mutmaßungen entstehen und extrem vorsichtig zu interpretieren sind. 209
TECHNIK ALS ERWARTUNG
allerdings auch quantifizieren lassen soll, und zwar durch kalibrierte Hilfsskalen, die dann aber auf nicht mehr als Analogien führen.8 Das quantitative Risikokonzept wurde vielfach mit spieltheoretischen Modellen und Rational Choice-Überlegungen verbunden. Die quantitativen Bestimmungen des Risikos sollen rationale Entscheidungen ermöglichen. Zusätzlich wird in Rational Choice-Theorien auch Vertrauen quantifiziert. Vertrauen wird als eine Wahrscheinlichkeit verstanden, nämlich: als positive Erwartung.9 Deutlich tritt eine solche Auffassung von Vertrauen in den für diesen Bereich einschlägigen Arbeiten James Colemans hervor. Seine Theorie des Erwartungsnutzens modelliert Vertrauen quasi mathematisch. Dabei wird auf eine erweiterte Form der Risikokalkulation zurückgegriffen. Der Erwartungsnutzen bestimmt sich bei Coleman durch das Produkt aus Wahrscheinlichkeit des Gewinns und Gewinnhöhe abzüglich des Produkts der Wahrscheinlichkeit eines negativen Ausgangs und der dann eintretenden Schadenshöhe: p = Gewinnchance (die Wahrscheinlichkeit der Vertrauenswürdigkeit des Treuhänders) L = möglicher Verlust (falls Treuhänder nicht vertrauenswürdig ist) G = möglicher Gewinn (falls Treuhänder vertrauenswürdig ist) Entscheidung: ja, wenn p/1-p größer als L/G unentschieden, wenn p / 1 - p gleich L/G nein, wenn p /1-p kleiner L/G. (Coleman 1991: 126)
Diese Modellierung des Erwartungsnutzens ist, was für Rational ChoiceTheorien typisch ist, sowohl normativ als auch deskriptiv zu verstehen. Sie beschreibt, warum in bestimmten Situationen vertraut wird oder nicht, und sie schreibt vor, warum in bestimmten Situationen vertraut werden sollte oder nicht.10 Die zentralen Probleme dieses Modell von Vertrauen, für das Coleman ungemein exemplarisch ist, betreffen drei Annahmen: 8
Siehe das Beispiel von Kaplan und Garrick (1993: 104): Die Wahrscheinlichkeit, dass bei 1000 durchnummerierten Zetteln ein gezogener die Nummer 632 oder kleiner haben wird, ist 0,623. Das soll dann eine Hilfsskala kalibrieren, aufgrund derer man verstehen kann, was es heißt, wenn man jemand sagt, die Wahrscheinlichkeit, dass das Pferd morgen gewinnt, sei 0,623. 9 Bereits Kaplan und Garrick nennen Wahrscheinlichkeit das „Maß […] eines Grades des Vertrauens“ (1993: 103, siehe auch 104, 106). 10 Zu dieser Doppelfassung siehe auch Lahno 2002, der sich intensiv mit diesem Ansatz auseinandersetzt. Hier S. 108 f. 210
RISIKO
1. Vertrauen = Erwartung: Zwischen Vertrauen und Erwartung besteht eine vollkommene Deckungsgleichheit. Man muss und kann daher nicht mehr über Vertrauen sagen, als man über Erwartungen sagt. Eine positive Erwartung besteht, wenn das Produkt aus Gewinnwahrscheinlichkeit und Gewinnhöhe größer ist als das Produkt aus Verlustwahrscheinlichkeit und Verlusthöhe. Besteht eine positive Erwartung, dann vertraut man.11 Dies gilt deskriptiv als auch normativ. Denn vertraut man in diesem Fall nicht, ist man kein rationaler Akteur. 2. Erwartung = Kognition: Erwartung wird in den Rational ChoiceTheorien in einem engen Sinne kognitiv verstanden. Erwartung ist das Resultat einer Kalkulation, in der die Interessen, die soziale Konstellation, typische Situationsverläufe sowie die Gewinnchancen und Verlustmöglichkeiten der Beteiligten reflektiert werden. Eine solche kognitive Erwartung unterscheidet sich daher nicht prinzipiell von Kausalitätserwartungen, von wissenschaftlichen Beobachtungen, in denen aufgrund erkannter Regelmäßigkeiten Prognosen getroffen werden.12 Diese Gleichsetzung von Vertrauen und positiver Kognition ist dabei keineswegs nebensächlich oder zufällig, denn erst die strikte Begrenzung auf kognitive Erwartungen erfüllt die Anforderungen der gesuchten Theorie: Rational Choice. 3. Erwartungen unterscheiden sich nur graduell in ihrer Höhe: Vertrauen als kognitive Erwartung variiert in seiner Höhe in graduellem Maße. Da die Gleichung kontinuierliche Ergebnisse für den Erwartungsnutzen liefert, steigt Vertrauen stetig an oder sinkt stetig. „Diese Erwartungen können verschiedene Werte zwischen vollkommenem Misstrauen (0) und vollkommenem Vertrauen (1) annehmen und sind um den Mittelwert (0,5) angeordnet, der Unsicherheit anzeigt.“ (Gambetta 2001: 211) Ist die Erwartung positiv, im Prinzip also etwas größer als 0,5, dann vertraut Ego oder sollte es zumindest.13 Diese Konzeption von Vertrauen als graduelles Maß kann sich auf Erfahrungen und sprachliche Wendungen berufen: Man vertraut mal mehr, mal weniger, mal ist man unsicher, ob man vertrauen soll, mal ist man sich so sicher, dass sich die Frage gar nicht stellt. Es erscheint daher so, als wenn man tatsächlich mal in dem Maße vertraut, als sei das
11 Vgl. auch Gambetta 2001: 211: „Vertrauen […] ist ein bestimmter Grad der subjektiven Wahrscheinlichkeit“, dass von Alter Ego eine Handlung ausgeführt werden wird, die günstig für Ego ist. 12 Auch moralische Sanktionsmöglichkeiten bei einem Fehlverhalten von Alter gehen nur als mögliches Interesse von Alter, diese Sanktion zu vermeiden, in die Kalkulation von Ego ein. 13 Coleman normiert anders, deshalb ist Vertrauen bei ihm größer als Null. Das zugrundeliegende Konzept ist jedoch dasselbe. 211
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Vertrauen etwa in der Nähe von Wert 1, und dann, als sei es nur bei 0,55. Man vertraut auch dann, aber nur in geringerem Maße. Diesem Modell stelle ich eine Reihe von Einwänden gegenüber, die zugleich einen Ausblick auf eine andere Vertrauenstheorie enthalten. Der Ausgangspunkt meiner Einwände ist, dass (in der Sprache der Rational Choice-Theorie formuliert) fungierendes Vertrauen immer den Wert 1 hat, gleichviel, wie niedrig es ist. Das mag paradox klingen, es erläutert sich aber wie folgt: 1. Vertrauen wird bei Unsicherheit bedeutsam: Vertrauen wird gerade dann bedeutsam, wenn Unsicherheit besteht – im Sinne der Rational Choice-Theorie also bei 0,5. Das ist von diesem Ansatz aus nicht zu erklären, denn Vertrauen ist in Rational Choice-Theorien im Gegenteil gerade dann gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit hinreichend groß ist. Dann allerdings benötigt man Vertrauen, welches ja auf Risikolagen und Nichtwissen antwortet, am allerwenigsten.14 Damit hängt der folgende Punkt zusammen: 2. Die Leistung von Vertrauen: 0,5 = 1. Eine Leistung von Vertrauen ist, Unsicherheit in Sicherheit zu verwandeln. Man ist sich unsicher, etwas scheint riskant, man weiß nicht, ob es gut ausgehen wird. Sobald man vertraut, nimmt man an, dass es gut gehen wird. Es besteht dann keine Unsicherheit mehr. Sonst vertraut man nicht. Die Leistung von Vertrauen besteht darin, eine Unsicherheit in eine Gewissheit zu verwandeln. Vertrauen macht daher (wiederum in der Sprache der Rational Choice-Theorie gesprochen) aus einer 0,5 oder 0,6 (einer Situation der Unsicherheit) eine 1,0. Diese funktionale Leistung kann Vertrauen nur dann erfüllen, wenn sie erforderlich ist, also nur bei unsicheren Situationen. Der Gedanke, höchstes Vertrauen sei dann gegeben, wenn die Situation – wie Rational Choice-Theorien annehmen – ohnehin genau auf den gewünschten Ausgang zuläuft, ist daher widersinnig.
14 „Der Partner [dem vertraut wird] muß, als Rahmenbedingung, die Möglichkeit haben, das Vertrauen zu enttäuschen, und nicht nur die Möglichkeit, sondern auch ein gewichtiges Interesse daran. Er darf nicht schon von sich aus, in eigenem Interesse, auf der Vertrauenslinie laufen“, schreibt Luhmann (1969: 53). Es verhält sich hier ähnlich wie bei den Gelingensbedingungen für Versprechen (wo es eine Bedingung ist, dass nur das versprochen werden kann, was nicht von selbst und mit Sicherheit eintreten wird). Vgl. Austin 1962: 2 . und 3. Vorlesung. Vertrauen ist dann allerdings anders als Versprechen nicht notwendig ein performativer Akt, das heißt: ein Ereignis, das mit einer Entscheidung verbunden ist. Das ist gerade nicht die Regel bei Vertrauensverhältnissen, die vielfach prozesshaft sind und nicht in expliziten Entscheidungen bestehen. 212
RISIKO
Nun kann man allerdings nicht in Abrede stellen, dass es schwaches und starkes Vertrauen gibt. Wie lassen sich Grade des Vertrauens erklären, wenn Vertrauen stets in Gewissheit besteht? Beides ist miteinander konsistent. Starkes und schwaches Vertrauen bedeuten nicht, dass Unsicherheit trotz Vertrauen besteht, was wiederum widersinnig wäre. Starkes und schwaches Vertrauen beziehen sich nicht auf fungierendes Vertrauen, sondern darauf, dass nicht vertraut wird. In zweierlei Weise gibt es hierbei starkes und schwaches Vertrauen. (1) Wenn Vertrauen schwach ist, dann wird es viel leichter und schneller dazu kommen, dass es ausgesetzt wird, es also nicht fungiert. Ist Vertrauen schwach, dann können allerlei, innere und äußere, Gründe dazu führen, dass man nicht mehr vertraut. Mit anderen Worten: Ist Vertrauen schwach, genügen schwache Gründe, um sein Fungieren zu unterbrechen. (2) Eine zweite Bedeutung von schwach besteht in frühen Schwellen des Vertrauens. Vertrauen wächst nicht kontinuierlich. In der Regel wird es bis zu einem bestimmten Punkt gewährt. Es kann diese Schwelle überwinden, das ist dann jedoch kein kontinuierlicher Zuwachs, sondern ein sprunghafter. Schwaches Vertrauen besteht dann darin, dass früh hohe Schwellen des Vertrauens vorkommen, die nicht überwunden werden. Bis zu dieser (frühen) Schwelle wird vertraut (und bis hierhin ganz), aber nicht weiter. Auf diese Weise sind also beide Aussagen miteinander konsistent: Im Vertrauen besteht jeweils die volle Gewissheit, dass es gut gehen wird; zugleich gibt es starkes und schwaches Vertrauen. 3. Enttäuscht sein, insbesondere bei geringen Wahrscheinlichkeiten: Wäre Vertrauen nicht mehr als eine positive Wahrscheinlichkeit, dann bestände nicht die Möglichkeit, enttäuscht zu sein. Bloße Wahrscheinlichkeit (bei p < 1) schließt ungünstige Ereignisse nicht aus, sondern ein. Ginge jemand, der vertraut, ausschließlich von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen aus, hätte er weder Grund noch Möglichkeit, enttäuscht zu sein. Seine Erwartung, dass ein positiver Ausgang wahrscheinlich ist, hätte sich dadurch ja noch nicht als falsch erwiesen, sie wäre dadurch gar nicht enttäuschbar, der positive Ausgang war eben nur wahrscheinlich. Was die Enttäuschung hervorbringt, ist aber nicht einfach ein Verlust, ein Schaden, eine Frustration, sondern es ist jene eigentümliche Form von Vertrauensgewissheit, die auch niedrige Wahrscheinlichkeiten im Sinne der Rational Choice-Theorie begleitet. Insbesondere die Enttäuschung in jenen Fällen, in denen die Chance – nüchtern und spielstrategisch betrachtet – nicht sehr hoch (0,6) ist, sind durch diesen Ansatz nicht anders zu erklären, als indem man den Akteur für nichtrational erklärt. Damit wird der Effekt von Vertrauen aber nicht beachtet. Wenn man vertraut, vertraut man ganz und ist daher auch ganz enttäuschbar. 213
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das quantitative Risikokonzept führt zu einer Reihe nichtlösbarer Probleme. Es kann Hinweise auf Faktoren geben, die für Risikobewertungen wichtig sind. Eine einfache Gleichung, mittels derer sich Risiken berechnen und Entscheidungen treffen lassen, bietet es in vielen und insbesondere bedeutsamen Fällen allerdings nicht. Quantitative Vertrauenstheorien, welche das quantitative Risikokonzept integrieren, führen ebenfalls zu einer Reihe nichtlösbarer Probleme. An den Grenzen dieser Konzepte werden allerdings Umrisse einer stimmigeren, dem Phänomen Vertrauen besser entsprechenden Theorie erkennbar.
1.2 Risiko und Gefahr Einen spannenden Vorschlag, wie Risiko zu verstehen ist, unternimmt der Soziologe Niklas Luhmann. Dessen Risikotheorie ist sehr viel stärker an einer genauen Begriffsbildung interessiert und stellt eine Alternative zum quantitativen Risikokonzept dar. Im Mittelpunkt steht die Leitdifferenz von Risiko und Gefahr. Risiko und Gefahr unterscheiden sich durch ihre Attribution, also in der Frage, worauf ein eventueller Schaden zugerechnet wird: Entweder wird der etwaige Schaden als Folge der Entscheidung gesehen, also auf die Entscheidung zugerechnet. Dann sprechen wir von Risiko, und zwar vom Risiko der Entscheidung. Oder der etwaige Schaden wird als extern veranlasst gesehen, also auf die Umwelt zugerechnet. Dann sprechen wir von Gefahr. (Luhmann 1991: 31 f.)
Gefahren ist man ausgesetzt wie beispielsweise einem Erdbeben oder dem Bau eines atomaren Endlagers, über dessen Standort in unmittelbarer Nähe andere entschieden haben. Risiken geht man dagegen ein, wenn man sich beispielsweise entscheidet, wegen der niedrigen Grundstückspreise in einem erdbebengefährdeten Gebiet zu bauen oder als politischer Entscheider über einen Standort für Endlager bestimmt. Wie schon bei den Rational Choice-Theorien gibt es auch bei Luhmann eine Verbindung zwischen Vertrauen und Risiko beziehungsweise Gefahr. Auf Risiken kann mit Vertrauen geantwortet werden, auf Gefahren mit Zuversicht. Vertrauen setzt für Luhmann ein „vorangegangenes Engagement“, das heißt eine Entscheidung und damit „eine Risikosituation voraus“ (Luhmann 2001: 148). Zuversicht dagegen erwägt keine Alternativen, weil diese gar nicht bestehen. Zuversicht bezieht sich nämlich auf Sachverhalte, die weitgehend nicht vom eigenen Verhalten abhängen. Man kann sich zwar fragen, ob man in ein Auto mit schlechten 214
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Bremsen oder ohne Sicherheitsgurt einsteigen möchte, aber es gibt keine praktikable Alternative dazu, am Personenverkehr überhaupt teilzunehmen. Die Alternative zu Zuversicht wäre, „in permanenter Ungewissheit zu leben und seine Erwartungen zurückzuziehen, ohne irgend etwas zu haben, das sie ersetzen könnte.“ (ebd.) Zuversicht bietet sich daher gleichsam von selbst an, weil sie praktisch nahezu alternativlos ist. Wie Risiko und Gefahr so unterscheiden sich auch Vertrauen und Zuversicht durch ihre Zuschreibungsweisen. Im Falle der Zuversicht reagiert man auf Enttäuschung, indem man sie den äußeren Umständen zuschreibt. Im Falle des Vertrauens wird man die Zuschreibung interner Faktoren in Betracht ziehen müssen und schließlich die vertrauensvolle Wahl bereuen. (Luhmann 2001: 148)
Zuversicht ist für Luhmann vor allem auf soziale Systeme bezogen, weil die Teilnahme an ihnen relativ alternativlos ist. Vertrauen sieht Luhmann dagegen eher personal gefärbt. Technik ist für Luhmann wie auch die meisten Systemtheoretiker Luhmann‘scher Provenienz kein soziales System.15 Die Unterscheidung von Zuversicht und Vertrauen kann allerdings, wie das Beispiel vom Auto mit defekten Bremsen und dem Verkehrssystem zeigt, sinnvoll auf Technik übertragen werden. Ein Vorteil dieser Unterscheidung liegt darin, Erwartungen differenzieren zu können: Man kann generell der Atomkraft oder Medizintechnik gegenüber zuversichtlich sein und gleichzeitig der Atomanlage in der Nähe oder dem Behandlungsvorschlag des Arztes misstrauen – wie auch umgekehrt. Luhmann kann anhand der Differenz von Risiko und Gefahr erklären, wie politische Konflikte zustande kommen: Diejenigen, welche eine Risiko eingehen, nehmen eine Situation anders wahr als jene, für welche sie eine Gefahr darstellt. Zwischen Betroffenen und Entscheidern lässt sich schon aufgrund dieser unterschiedlichen Perspektiven schwer vermitteln. Die Differenz von Risiko und Gefahr vermag aber noch anderes zu erklären.16 Ob etwas ein Risiko oder eine Gefahr darstellt, hängt von der Zuschreibung ab. Die Zuschreibungsweise (Gefahr oder Risiko, ‚extern‘ oder ‚intern‘) bestimmt sich aber nicht ausschließlich durch die Eigenschaften des riskanten Gegenstands. Das zeigte schon das Beispiel des Atommüllendlagers: Für die Betroffenen ist es eine Gefahr, für die ande15 Vgl. zu den Grenzen eines strikt systemtheoretischen Technikverständnis Klaus P. Japp 1998. 16 Ich gehe hier in Teilen über Luhmann hinaus, der diese Implikation seines Ansatzes nicht genügend ausnutzt. 215
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ren ist ein und derselbe ‚Gegenstand‘ ein Risiko. Da Risiko entscheidungsabhängig ist, ist Macht ein bedeutsamer Faktor, der Risiken erzeugt. Macht führt dazu, Gefahren in Risiken zu transformieren. Es gibt allerdings noch weitere Faktoren, an denen sich zeigt, dass die Weise, in der die Zuschreibungen erfolgen, historisch ist. Die Attributionsweise gibt daher Aufschluss über die aktuelle Gesellschaft und über ihre Unterschiede zu früheren Gesellschaften. Die Zuschreibungsweise wird wesentlich von Wissen bestimmt, und zwar Wissen jenes empirischen, Handlungen anleitenden, technischen Typs, den moderne Gesellschaften hervorgebracht und gesteigert haben. Vielfach gilt: Wissen diesen Typs transformiert Gefahren in Risiken. Das heißt, die meisten Wissensfortschritte steigern das Risiko. Denn Risiko ist keine Objekteigenschaft, sondern entsteht durch Zuschreibungen, nämlich, dass ein möglicher Schaden von eigenen Entscheidungen abhängt und daher (auch) sich selbst zuzurechnen ist. Wissen führt nun dazu, Kausalität zu erkennen und damit zugleich Interventionsoptionen anzubieten. Die Konsequenz ist, dass man aus dem Wissen heraus, wie der etwaige Schaden zustande käme, und weil man die Option hätte, einzugreifen, vor einem Risiko steht. Sobald man weiß, dass Keime in der Milch zu Krankheiten führen und dass diese Keime durch Hitze abgetötet werden, wird es zu einem Risiko, Milch unpasteurisiert zu trinken. Durch Wissen wird es zu einer Quasi-Entscheidung. Man kann den Sachverhalt, wie Risiken durch Wissen entstehen daher auch so formulieren: Risiko ist entscheidungsabhängig, Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsbedarf werden durch Wissen hervorgebracht, also bringt Wissen Risiko hervor. Folgende Entstehungsmomente von Risiko durch Wissen sind zu erkennen: Wissen verwandelt Gefahren in Risiko: Die Aufklärung über Gefahren tilgt in vielen Fällen nicht die Schadensmöglichkeit, sondern verwandelt die externe Gefahr in ein Risiko. Nachdem man weiß, wie eine Krankheit zustande kommt und technische Mittel gegen sie bereithält, wird es zu einem Risiko auf diese zu verzichten: auf Kondome bei HIV/AIDS oder auf das Messen und Steuern bei Diabetes. Wissen entdeckt Risiken: Wo zuvor nicht einmal eine Gefahr gesehen wurde, kann Wissen auch Risiken entdecken. Man wusste beispielsweise nichts von der krebserregenden Wirkung von Asbest. Mit diesem Wissen ist der Stoff nicht schon aus der Welt geschafft, es wird nunmehr allerdings zu einem Risiko, sich ihm weiterhin auszusetzen, das zuvor nicht bestand. Zwischen beiden Momenten der Risikoerzeugung durch Wissen besteht ein fließender Übergang. Antivirenprogramme, Firewall, Dial- und Tro216
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janerschutz, die ein Internet voller gefährlicher Orte, dunkler Ecken und betrügerischer Oberflächen suggerieren, steigern als Abwehrmaßnahmen das Risikobewusstsein. Für zumindest einige wäre ohne diese Abwehrtechniken das Risiko schlicht weder bekannt oder noch genau bedacht. Wissensfortschritt bringt Optionen und daher Risiken hervor: Auch ohne dass Gefahren in Risiken verwandelt oder Risiken entdeckt werden, bringt der Wissensfortschritt in vielen Fällen Risiken hervor. Denn Wissen vermehrt die Optionen und damit die Alternativen, dadurch steigen die Entscheidungsmöglichkeiten und auch Entscheidungszumutungen. Ohne dass das Wissen ein Wissen über Schadenkausalitäten ist, wie in den bisherigen Fällen, schärfen die Alternativen das Bewusstsein, möglicherweise falsch zu entscheiden. Man entdeckt beispielsweise alternative Energiequellen und hat damit eine Alternative zu Atomkraft und Kohle. Die Alternative ermöglicht, eine Entscheidung zu treffen (auf welche Energiegewinnung setzt man), und führt mit der Entscheidungsmöglichkeit zu einem Risiko, nämlich sich falsch zu entscheiden. Oder: Alternative medizinische Behandlungsformen werden entdeckt, was dazu führt, dass ein Risiko entsteht, sich für die falsche Behandlungsmethode zu entscheiden. Diese Co-Produktion von Wissen und Risiko liefert zugleich die Gründe, warum Technik und Risiko so ‚gut‘ zueinander passen. Wir sprechen eben über spezifisches Wissen, primär handlungsanleitendes, technisches Wissen. Mit der Technisierung gehen Wissensfortschritte einher, Optionen werden vermehrt, Machtmittel erweitert. All das führt zu einem Anstieg des Risikos durch Technisierung. Und zwar noch bevor man im Weiteren daran denkt, dass Technik in der Regel Schadensmöglichkeiten mit sich bringt und es sogenannte Hochtechnologien gibt, die zugleich Hochrisikotechnologien sind. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wissenschaft und Technisierung als Produktion von Wissen und Optionen produzieren zugleich Risiken – und zwar jenseits dessen, dass die Technologie selbst ein Schadenspotenzial aufweist. Hinzu kommt, dass neue Gefahren entstehen, Wolfgang Bonß hat für diese den Titel „Gefahren zweiter Ordnung“ vorgeschlagen (Bonß 1995). Ökologische Risiken sind dafür das treffendste Beispiel. Sie hängen von einer Vielzahl von Ereignissen und ‚Beiträgen‘ ab und können so nicht mehr eindeutig jemandem zugeschrieben werden. Luftverschmutzung oder Klimaveränderung beispielsweise kommen nicht ohne die Entscheidung vieler Einzelner zustande, etwa das Auto statt der Bahn zu nehmen, aber sie lassen sich nicht auf eine Entscheidung zurückführen (Luhmann 1991: Kap. 5). Risiken schlagen so in Gefahren um. Aber eben Gefahren anderer Art, wie der Terminus von Bonß an217
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zeigen soll. Gefahren zweiter Ordnung entstehen aus riskanten Handlungen (Atomkraftwerke beispielsweise sind keine Naturgegebenheit), die Ursachen für katastrophale Folgen sind außerdem gebunden an riskante Handlungen (Art der Konstruktion, Verhalten der Ingenieure vor Ort), aber die Kausalitäten sind uneindeutig (und werden von Kommissionen eher zu Zwecken der Sicherheitsdemonstration vereindeutigt). Vor allem sind aber zu viele an den Entscheidungen beteiligt, so dass die Verantwortung diffundiert (vgl. Günther 2005). Schließlich gilt: Die Folgen können die Erwartungs- und Kalkulationsräume sprengen (Bonß 1995: 74-84).17 Es gibt eine Art Witz bei Luhmann, der häufig zur Erläuterung seines Risikobegriffs herangezogen wird. Man kann ihn statt als schmunzelnde Marginalie auch als Zeitdiagnose lesen: „Wenn es Regenschirme gibt, kann man nicht mehr risikofrei leben: Die Gefahr, dass man durch Regen naß wird, wird zum Risiko, das man eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn irgendwo liegenzulassen.“18 Luhmanns Beispiel hat eine eigenartige Art von Komik, da das gewählte Beispiel so nichtig erscheint – angesichts des Risikos von Atom-, Gen- oder allgegenwärtiger Informationstechnik. Luhmanns Beobachtung verrät aber etwas über die Durchschlagskraft von Risiko als dominantem Gesichtspunkt, unter dem Zukunft beobachtet wird.19 Vom Regenschirm bis zum AKW, ob man es nämlich baut, was ein Risiko ist, oder nicht baut, was auch riskant ist, erstreckt sich die Bandbreite von Risiko, vom Banalsten bis zum Katastrophalsten. „Nichts ist an sich ein Risiko […]. Umgekehrt kann alles zum Risiko werden“ (Ewald 1991: 295). Risiko bietet eine beliebig generalisierbare Form an, Zukunft zu betrachten. Und Technik zieht diese Form gleichsam an. Dies schlägt durch bis auf die Zeitsemantik moderner Gesellschaften. Risiko kontrastiert Gegenwart und Zukunft stärker. Steht eine riskante Entscheidung an, dann bedeutet das, dass Zukunft entweder als besser (es lohnt sich, das Risiko einzugehen) oder schlechter (es ist zu riskant) vorgestellt wird – und das heißt in jedem Fall anders als die Ge17 Ähnlich ist der Begriff „evolutionäre Risiken“ motiviert. Es geht um Risiken, die historisch singulär und insofern unvergleichbar sind. Das schließt versicherungstechnische Zugriffe auf sie aus, da diese auf Statistik und Stochastik beruhen (Krohn, Krücken 1993: 21-25). 18 Luhmann 1993: 328. 19 Wie weit die Risikowahrnehmung geht, kann man vielleicht an einem Beispiel erkennen: Auf Rügen warnen Schilder inzwischen vor dem Bau von Sandburgen, weil dadurch Strukturen im Sand entstehen, die den Abfluss von Sand begünstigen. Die Sandburg wird so zum Risikobeitrag dafür, dass Rügen verschwindet. 218
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genwart. Das Jetzt selbst wird dadurch zu einem Umschaltpunkt zusammen geschnürt, zum Entscheidungsmoment (vgl. Luhmann 1980: 263, 267 f., 285; sowie Luhmann 1985: 122; und ferner 1991: 55).20 Zusammenfassend lässt sich sagen: Luhmann bietet eine produktive Unterscheidung zwischen Vertrauen und Zuversicht sowie Risiko und Gefahren dar. Die Begriffe machen sichtbar, wie Risiko und Gefahren (zweiter Ordnung) durch technisches Verfügungswissen und technische Optionen entstehen. Warum der Risikobegriff spät entsteht und dann eine immense Bedeutung gewinnt, kann dadurch erklärt werden.
2. Vertrauen als risikoloses Risiko Der Risikobezug ist, wie gesagt, konstitutiv für Vertrauen.21 Wenn kein Risiko besteht, muss auch nicht vertraut werden. Technisierung bringt Risiko im umfassenderen Maße hervor als ‚nur‘ durch die Schadensmöglichkeiten der Technik. Zukunft wird durch die Risikoperspektive dominant. Es scheint, als wenn man alle Naivität des selbstvergessenen in die Gegenwart Verschossenseins verliert. Wie verhält sich Vertrauen dazu? Nach dem bisher Gesagten ist klar: Vertrauen ist keine günstige Wahrscheinlichkeit und bietet auch keine Risikokalkulationsstrategien an. Es besteht nicht in einer Verbesserung des Wissens, etwa über Technikfolgen. Was leistet Vertrauen dann in Bezug auf Risiko? Eine Antwort darauf lässt sich in Auseinandersetzung mit der Vertrauenstheorie von Olli Lagerspetz wenngleich nicht übernehmen, so doch an ihr gewinnen. Denn Lagerspetz’ Frage ist: Hat Vertrauen überhaupt etwas mit Risiko zu tun? Der weitgehend akzeptierten RisikoThese hat er vehement widersprochen. Seiner Analyse nach besteht Vertrauen darin, das Risiko nicht zu kennen. Der Vertrauende ist risikolos. Lagerspetz führt dies an einem personalem Beispiel aus: Wer einen Freund aufnimmt und in der Küche bei den Messern schlafen lässt, für 20 Spricht nicht schon die Antike von der Gegenwart als Jetztpunkt? Dabei ist Vorsicht geboten. Aristoteles versteht Jetztmomente als übergehende und damit Stetigkeit sichernde, wie Heidegger gründlich belegt und freilegt 1927a: 342-352. Auch Augustinus geht es um den Zusammenhang der Zeit. Eher entspricht der Risikozeitform die moderne Zeitlogik. Vgl. Kienzle 1994, von Wright 1974. 21 Im folgenden Argumentationszusammenhang macht es keinen Unterschied, ob es sich um Risiko oder um Gefahren handelt. Deshalb spreche ich hier vereinfacht nur von Risiko. Das dabei entwickelte Argument gilt jedoch gleichermaßen für Gefahren. 219
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den besteht gar nicht die Möglichkeit (und damit das Risiko), dass der Freund dadurch gefährlich werden könnte. Zu vertrauen besteht genau darin: dies nicht als Möglichkeit wahrzunehmen. „Vertrauen heißt, bestimmte Möglichkeiten oder Risiken aus unseren Überlegungen zu streichen.“22 Für den Vertrauenden ist es also unmöglich, dass der Freund zum Messer greifen könnte. Und damit besteht auch kein Risiko. Nun könnte eingewandt werden, dass es sich ja in dem Beispiel um einen Freund handele. Wie steht es dagegen mit der Aufnahme eines Fremden? Das würde doch vor eine ausdrückliche Entscheidungssituation, eine Risikowahrnehmung und -abwägung stellen. Würde man sich bei einem Fremden nicht fragen, ob es nicht riskant sei, ihn nach Hause zu nehmen und ihm die Möglichkeit zu geben, zum Messer oder zum Schmuck zu greifen? Für Lagerspetz wäre diese Möglichkeit nur solange gegeben, wie Misstrauen besteht. Misstrauen heißt eben, dies als Möglichkeit zu denken. Vertrauen würde dagegen die Möglichkeit in eine Unmöglichkeit verwandeln. ‚Ich vertrauen ihm‘ heißt: die Möglichkeit besteht nicht, dass er zum Messer greift. Der Schaltpunkt in Lagerspetz’ Argument ist der Möglichkeitsbegriff. Wer vertraut, für den bestehen bestimmte Möglichkeiten nicht, etwa dass ein Freund einen bestiehlt. Was soll das aber heißen? Hat der Freund, wenn er unbeaufsichtigt in der Wohnung ist, nicht die Möglichkeit zu stehlen? Mehr noch: Wer, wenn nicht er, hat so leicht die Möglichkeit dazu? Lagerspetz sieht hier eine Zweideutigkeit im Begriff Möglichkeit. Möglichkeit heißt manchmal alles, was logisch-theoretisch, was prinzipiell denkbar ist. So kann von einem metaphysischen Verständnis aus alles, was keinen Widerspruch in sich enthält, als möglich betrachtet werden. Das Leitbild dafür ist der cartesische Zweifel, mit dem von der faktischen Welt abstrahiert wird. Umgekehrt gibt es einen situativen Möglichkeitsbegriff, nach dem, was möglich ist, durch die Situation bestimmt wird, in der man sich gerade befindet (105). So mag es relativ kontextfrei prinzipiell möglich sein, dass ich von einem Freund bestohlen werde. Die nichttheoretische Vertrauenssituation jedoch hat andere Zuschnitte dessen, was möglich ist. Situativ ist es nicht möglich; weil es mein Freund ist, besteht diese Möglichkeit in der Situation schlichtweg nicht. Daher gibt es auch kein Risiko für denjenigen, der vertraut. Zu vertrauen, heißt, risikolos zu sein. Dass diese Möglichkeit schlicht nicht besteht, lässt sich für Lagerspetz auch daran erkennen, dass einem der Gedanke, ob der Freund zum Messer greife, vollkommen fremd ist. Der Vertrauende muss diese Mög22 Lagerspetz 2001: 101. Alle folgenden Angaben in Klammern beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf diesen Text. 220
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lichkeit nicht explizit negieren. Man denkt aus prinzipiellen Gründen nicht ausdrücklich: ‚Der Freund greift nicht zum Messer‘. Lagerspetz’ Argument lautet ja, dass im Vertrauen die riskante Möglichkeit nicht gegeben ist: Es ist nicht möglich (und zwar im Sinne der in einer Situation gegebenen Möglichkeiten), dass derjenige, dem vertraut wird, zum Messer greift.23 Deshalb kann der Vertrauende auch nicht denken, der andere werde nicht zum Messer greifen, da diese Möglichkeit nicht in seinem Horizont existiert. Aber kann nicht gerade er, weil er vertraut, dies denken? Muss nicht gerade er es denken? Besteht darin nicht das Vertrauen: Zu denken, dass er es nicht tun wird? Lagerspetz verweist an dieser Stelle auf die Analysen Wittgensteins, nach denen ‚denken‘ zweierlei Bedeutung hat. Es kann eine Art innere Stimme mit Präsenz und Dauer bezeichnen, es kann aber auch Handlungen meinen. Wer sich, so Lagerspetz, auf einen Stuhl setzt, der zusammenbricht, wird vielleicht sagen: ‚Ich dachte, der Stuhl hält.‘ Dies bedeutet aber nicht, dass er es in irgendeiner Weise ‚laut‘ dachte. Sein Handeln war vielmehr der Gedanke (96). Ein solches explizites (Be-)Denken würde für Lagerspetz vielmehr gerade Zweifel und damit Misstrauen ausdrücken. Er zeigt dies auf zweifache Weise. Der Gebrauch des Wortes ‚sicher‘: Man könnte nun meinen, dass man ‚sicher‘ sagt, wenn keine Zweifel vorliegen, wenn absolute Evidenz besteht, etwas nicht anders sein kann. Lagerspetz weist aber in Anlehnung an Wittgenstein nach, dass man das Wort ‚sicher‘ gerade dann verwendet, wenn Zweifel bestehen, oder man ruft die durch Verwendung des Wortes ‚sicher‘ gerade Zweifel hervor (92). Das Gleiche betrifft die Verwendung des Ausdrucks ‚wissen‘. Dieser wird, so Lagerspetz, dann gebraucht, wenn es sich mit etwas auch anders verhalten könnte. Bei etwas Apodiktischem „wäre es sinnlos, diese Tatsache als etwas hinzustellen, das ich weiß. Warum ‚ich weiß‘ sagen, anstatt bloß die Fakten nennen? Warum überhaupt feststellen, was doch eh offensichtlich ist?“ (93)
23 Ferner argumentiert Lagerspetz: Wenn Vertrauen darin bestehen würde, bestimmte Möglichkeiten denkend auszuschließen, dann würde das eine Unendlichkeit von Gedanken implizieren (96). Man müsste etwa daran denken, dass der andere nicht zum Messer greift; nicht den Schmuck mitnimmt; keine teuren Telefonate tätigt; sich nicht bei mir versteckt usw. Gegen Lagerspetz Argument kann man jedoch einwenden, dass Vertrauen häufig auch nur Ausschluss der Enttäuschungsmöglichkeit ist, also rein negativ und unbestimmt gedacht werden muss. Dann folgt daraus auch nicht, auf eine Unendlichkeit von positiv bestimmten Erwartungen rekurrieren zu müssen. 221
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Die Verwendung von Ausdrücken wie ‚sicher‘ und ‚wissen‘ erfolgt also in unsicheren Situationen. Gleiches gilt nun auch für Vertrauen. Den Ausdruck ‚Vertrauen‘ verwendet man in unsicheren Situationen, dann, wenn Misstrauen besteht.24 Vertrauen wird für Lagerspetz erst thematisch, wenn man statt des Freundes einen Fremden bei sich übernachten lassen soll. Dann stellt sich die Frage: ‚Kann ich ihm vertrauen?‘ Sie stellt sich aber nicht in einer Vertrauenssituation, also für Lagerspetz etwa beim Freund im Gegensatz zum Fremden. „So wird deutlich, daß der Begriff des Vertrauens an vorstellbare Gründe des Mißtrauens gekoppelt ist.“ (92) Formuliertes Vertrauen als Beleidigung: Dass Vertrauen an vorstellbare Gründe des Misstrauens gebunden ist, zeigt sich auch daran, dass ein Freund, dem man sagte, man vertraue darauf, dass er einen nicht bestehlen werde, sich beleidigt zeigen würde. Dies würde nämlich „implizieren, daß ernsthafte Zweifel an seiner Ehrlichkeit bestehen könnten.“ (92) Thematisches Vertrauen schließt Misstrauen ein, umgekehrt heißt dies für Lagerspetz: Vertrauen schließt in der Regel sich selbst aus Bewusstsein und Kommunikation aus. Fungierendes Vertrauen zeigt sich folglich nicht nur darin, nicht zu denken: ‚Er wird nicht zum Messer greifen‘, es zeigt sich auch darin, nicht über Vertrauensverhältnisse nachzudenken (oder zu sprechen). Es gibt mithin prinzipielle Gründe dafür, Vertrauen primär als vorreflexiv zu verstehen, so „daß dieses Fehlen von Bewußtsein unseren Begriff des Vertrauens überhaupt erst konstituiert.“ (99) Sicherheit über eine Sache und apodiktisches Wissen zeigen sich in der vorreflexiven Praxis. Die praktische, vorreflexive Gewissheit ist jedenfalls theoretisch nicht mehr zu gewinnen. Vertrauen ist eine Sache der stillen Praxis. Wie lassen sich Lagerspetz’ Überlegungen in Einklang damit bringen, dass Vertrauen nur dann möglich ist, wenn ein Risiko gegeben ist? Für Lagerspetz lautet die Antwort: Vertrauen ist ein strikt „asymmetrischer“ Begriff (107f.). Vertrauen ist nicht der Geisteszustand eines Vertrauenden, es ist aber auch nicht lediglich eine riskante Situation, auf die man sich einlässt. Vielmehr ist Vertrauen für Lagerspetz nur in der Asymmetrie zweier Perspektiven gegeben, bei der der Vertrauende vorreflexiv und risikolos handelt, während ein Beobachter die Riskanz der Situation wahrnimmt. „Kurz, unsere Verwendung des Wortes ‚Vertrauen‘ toleriert nicht nur eine Ungleichheit zwischen den Perspektiven der
24 Dies wird häufig festgestellt, so auch Böhme 1998: 24: „So wird [über Vertrauen] zu reden nötig, wenn das Vertrauen schon nicht mehr existiert, und das Reden selbst untergräbt noch mehr seine Selbstverständlichkeit.“ 222
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dritten und der ersten Person (oder der des Handelnden und des Betrachters), sondern gründet sogar in ihr.“ (108) Vertrauen wird also durch diese Perspektivendifferenz konstituiert. Dadurch wird Vertrauen für Lagerspetz vergleichbar mit Unschuld oder Naivität, die auch in einer Asymmetrie von Perspektiven bestehen: Wer ein unschuldiger Mensch ist, kann sich nicht selbst so beschreiben, ohne seine Unschuld zu verlieren. Der Unterschied zum Vertrauen besteht für ihn aber darin, dass es Ausnahmefälle gibt, in denen der Vertrauende beide Perspektiven einnehmen kann; etwa um für einen Freund zu bürgen. Genau genommen ist aber das, anders als es Lagerspetz beschreibt, kein vollkommener Ausnahmefall; denn schließlich wird beim Bürgen – wenn auch reflexiv – die Möglichkeit eines Risikos negiert. Es bleibt also bei der Asymmetrie. Soweit Lagerspetz’ verblüffende Theorie. Ist sie plausibel? Lagerspetz Argument von der Risikolosigkeit des Vertrauenden ist überzeugend. Allerdings halte ich seine Behauptung, dass Vertrauen in einer Asymmetrie zwischen 1. und 3. Person bestehe, für unzutreffend. Mein Argument ergibt sich, wenn man Lagerspetz‘ eigenes Beispiel variiert. Nehmen wir an, jemand beobachtet von seinem Fenster aus, dass ein Einbrecher in der Küche des Nachbarn ist und dort nach den Messern greift oder – weniger spektakulär – nach Geld sucht. Der Nachbar selbst weiß nichts vom Einbrecher, daher kann er selbst auch kein Risiko erkennen. Der Nachbar beobachtet jedoch die riskante Situation, die seinem Nachbarn Geld oder gar das Leben kosten kann. Nach Lagerspetz’ Asymmetrie-These würde diese Situation exakt den Vertrauensfall kennzeichnen. Vertraut der Nachbar aber? Man wird dies keinen Vertrauensfall nennen. Derjenige, der vom Einbrecher in seiner Wohnung nichts weiß, vertraut nicht. Aber diese Situation entspricht exakt Lagerspetz’ Definition des Vertrauens. Wir haben hier eine Asymmetrie von zwei Perspektiven, in der ein Beobachter ein Risiko, der Handelnde jedoch kein Risiko wahrnimmt. Dennoch liegt hier keine Vertrauenssituation vor. Es lassen sich weitere Situationen erkennen, die klar einer Vertrauenssituation widersprechen, aber Lagerspetz’ Vertrauensdefinition entsprechen. Solche Fälle ließen sich, gerade auf Technik bezogen, beliebig vervielfältigen: Wer in die Tomate beißt, ohne zu wissen, dass sie technisch manipulierte Gene hat, vertraut deshalb noch nicht grüner Gentechnik usw. Auch dann nicht, wenn ein Beobachter dieses Verhalten als riskant betrachtet. Meine These ist deshalb: Beide Perspektive müssen in der 1. Person zusammen kommen, damit von Vertrauen gesprochen werden kann. (i) Der Vertrauende muss eine Kenntnis vom Risiko haben, das er mit sei223
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nen Handlungen eingeht. Nur dann lässt sich von Vertrauen sprechen, wenn die Riskanz des eigenen Unternehmens dem Vertrauenden selbst bekannt ist und nicht nur einem anderen Beobachter. (ii) Der Vertrauende muss aber auch das Risiko als nichtig durchstreichen, es einklammern, es als nicht gegeben vergessen. Für den Vertrauenden ist daher beides konstitutiv: Risiko und Risikolosigkeit. Die Asymmetrie findet sich daher vollständig im Vertrauenden selbst wieder. Für ihn ist die Situation risikolos riskant. Der Vertrauende gewahrt ein Risiko und er klammert es gleichzeitig ein. Der Vertrauende kennt das Risiko und er erklärt es gleichzeitig für nichtig. Diese Suspension des Risikos verschiebt es auf die Grenzlinie zwischen Gegebensein und Verschwinden. Dieser Grenzlage entspricht, dass der Vertrauende, der ja das Risiko kennen muss, im Vertrauen dennoch nicht an das Risiko denkt. Ein Denken an das Risiko wäre folglich Misstrauen, Vertrauen ist dagegen gedankenlos – in Kenntnisnahme des Risikos. Vertrauen ließe sich deshalb so notieren: (Risiko) Als Risiko, das zwar gegeben, aber eingeklammert und das heißt unwirksam ist. Vertrauen als risikoloses Risiko ist eine Paradoxie. Sie lässt sich entfalten, wenn sie auf die eingangs genannten unterschiedlichen Möglichkeitsbegriffe bezogen wird. Risikolos bezieht sich auf den situativen Möglichkeitsbegriff: Die Möglichkeit der Schädigung ist nicht gegeben. Riskant bezieht sich auf den abstrakten Möglichkeitsbegriff: Prinzipiell ist eine Schädigung nie auszuschließen (aber natürlich nicht in diesem Fall…). Das heißt: Im Vertrauen sind nur abstrakte, aber keine situativen Schadensmöglichkeiten gegeben. Alle jene an sich bekannten Schadensmöglichkeiten, die lediglich in der abstrakten, aber nicht in der situativen Menge vorhanden sind (wie die Elemente a, c, d, e, f in der Abbildung 19), sind aufgrund von Vertrauen ausgesperrt. Das heißt nun nicht, dass jede mögliche Schädigung negiert werden und man dazu die gesamte abstrakte Menge durchgehen müsste. Es reicht, wenn negativ erwartet wird, nicht weiter enttäuscht zu werden, außer vielleicht in dieser oder jener Hinsicht. Alles, was dagegen Element der Menge der situativen Schadensmöglichkeiten ist (in Abbildung 19 ist es das Element b), ist kein Gegenstand von Vertrauen.
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Abbildung 19: Vertrauen als risikoloses Risiko
a c
d e
Menge situativer Schädigungsmöglichkeiten
bb
f
Menge abstrakter Schadensmöglichkeiten
Außenstehende, die nicht vertrauen, werden die Möglichkeiten anders zuschneiden. Für sie wird es, wenn sie misstrauen, zur Möglichkeit der Situation gehören, dass eine Schädigung eintreten könnte, sie ist für diese nicht bloß abstrakt. Durch den vorgeschlagenen Ansatz, Vertrauen als risikoloses Risiko zu begreifen, lässt sich auch ein Folgeproblem von Lagerspetz’ Asymmetrie-These lösen. Ihm fehlt nämlich die Möglichkeit, Vertrauen von Naivität zu unterscheiden. Deren Unterschied liegt im Engagement, mit dem sich auf ein Risiko eingelassen wird. Naivität besteht in einer Unkenntnis von Risiken, Vertrauen in einer Kenntnis, welche das Risiko zugleich inhibiert. Insofern handelt es sich bei Vertrauen vielmehr um ein reflektiertes sich Dumm stellen, Naiv sein wollen – mit den aus Vertrauen resultierenden Vorteilen. Diese Fassung der funktionalen Leistung von Vertrauen – es klammert an sich vorhandene Risiken als gegenstandslos ein – erklärt, wieso Vertrauen und riskante Technologien zusammenhängen. Technologien bringen Risiken mit sich. Wird diesen vertraut, dann werden sie als eigentlich risikolos betrachtet. Es handelt sich dann mehr um prinzipielle, abstrakte Bedenken, die aber auf die jeweilige Technologie selbst nicht zutreffen. Vertrauen in Technik weist stets diese Form risikolosen Risikos auf. Wer im Vertrauen Gentechnik befürwortet, kennt die behaupteten Risiken, sie stellen sich ihm jedoch als abstrakte Risiken dar, die nicht eintreten werden. Wer Atomtechnik vertraut, der weiß um das prinzipielle Risiko, er klammert es jedoch als konkret nicht gegeben ein. Wer vertrauensvoll mit dem Auto oder im Internet unterwegs ist, negiert damit nicht, dass prinzipiell Risiken bestehen, nur erscheinen sie situativ nicht gegeben. Stets wird das mit Technik einhergehende Risiko als 225
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prinzipielles, situativ aber nicht relevantes betrachtet – sofern vertraut wird.
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III. N I C H T W I S S E N
Es kann kein Vertrauen geben, wo nicht auch Nichtwissen besteht. Wird gewusst, wie sich Dinge verhalten, dann ist weder Vertrauen noch Misstrauen möglich. Daher stellt Nichtwissen ebenso wie Risiko eine Konstitutionsbedingung für Vertrauen dar. Zugleich scheint infolge der Technisierung das Nichtwissen zu steigen – und daher der Vertrauensbedarf. In den letzten Jahrzehnten haben jedenfalls Zeitdiagnosen moderne Gesellschaften auf erstaunliche Weise bestimmt. Die vielfach geäußerte These lautet: Die Moderne zeichne sich gegenüber anderen Gesellschaften durch ihr Nichtwissen aus. Nichtwissen wird zu einem Bestimmungsmerkmal: „Nicht Wissen, sondern Nicht-Wissen ist das ‚Medium‘ reflexiver Modernisierung. [...] Wir leben im Zeitalter der Nebenfolgen.“ (Beck 1996: 298) Diese Diagnose entstand zeitgleich und im Umfeld der scheinbar entgegen gesetzten Diagnose: Moderne Gesellschaften seien Wissensgesellschaften. Beide Zeitdiagnosen werden allerdings in der Regel nicht als einander widersprechend, sondern als einander ergänzend betrachtet. In der Tat wurde vielfach, wie noch gezeigt wird, der Anstieg von Nichtwissen in einem logischen Zusammenhang mit dem Anstieg von Wissen verstanden: Wissen bringt zugleich Nichtwissen hervor, moderne Gesellschaften nehmen sich Wissen zum Ziel und landen schließlich (auch) bei Nichtwissen. Technisierung und technisches Wissen werden als Motor dieser Entwicklung betrachtet. Die Rede vom Zeitalter der Nebenfolgen deutet dies an. Nach Risiko geht es nun also um die Bedeutung der zweiten Konstitutionsbedingung von Vertrauen: Nichtwissen. Ohne dass Nichtwissen besteht, kann nicht vertraut werden, kann es nicht einmal ein Ri-
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siko geben. Was allerdings Nichtwissen ist, scheint mir hier kaum geklärt zu sein. Daher fallen auch historische Superlative leicht. Es wird meinem Erachten nach für zu selbstverständlich gehalten, dass die Moderne gleichsam die Epoche des Nichtwissens wäre. Dass die Moderne das Zeitalter des Nichtwissens ist, ist historisch zumindest fragwürdig. Für einen Nikolaus von Kues oder die pyrrhonische Skepsis war Nichtwissen ebenfalls von großer Bedeutung – allerdings in einem gänzlich anderen Zusammenhang. Eine Gleichsetzung von Moderne und antiker Skepsis würde daher wiederum eine zu große Abstraktionshöhe verraten. Kann man also die Bedeutung von Nichtwissen verstehen und dabei zugleich weder historische Verhältnisse außer Acht lassen noch in eins setzen? Um die Bedeutung von Nichtwissen für technisierte Gesellschaften historisch besser zu verstehen, wird es daher nötig sein, zu begrifflichen Differenzierungen zu gelangen. Das wird eine zentrale Aufgabe im Folgenden sein. Technik bringt stabile Erwartungen und Nichtwissen hervor. Wird eine neue Technologie nicht auch verhängnisvolle Folgen mit sich bringen? Wird eine riskante Hochtechnologie nicht irgendwann einmal zu irreversiblem Schaden führen? Man weiß es nicht. In jedem Fall scheint mit der Technisierung die Bedeutung von Nichtwissen anzusteigen. Andererseits scheint Nichtwissen schon vor aller Technik, gleichsam am Beginn von Geschichte und Erkenntnisprozesse zu bestehen. Ist Nichtwissen nicht der Ausgangspunkt, gleichsam ein Naturzustand? In einem ersten Schritt werde ich den Status von Nichtwissen anhand verschiedener Theorien untersuchen, in einem zweiten Schritt unternehme ich dann einen eigenen begrifflichen Vorschlag für Nichtwissen. Die leitende Frage wird dabei sein, ob Nichtwissen ein technisches Folgeprodukt oder gleichsam eine Art ‚Naturressource‘ ist. In einem dritten Schritt schließlich wird auf dieser Grundlage das Verhältnis von Vertrauen und Nichtwissen konzeptuell erfasst.
1. Stationen einer Metapherngeschichte von Nichtwissen Ich wende mich zunächst einigen neuzeitlichen Metaphorisierungen von Nichtwissen zu. Denn ein passabler Teil der neuzeitlichen Geschichte von Nichtwissen spielt sich an Metaphern ab. Und diese Metaphern sind folgenreich gewesen für aktuelle Selbstbeschreibungen – allerdings in anderer Weise, als angenommen werden könnte.
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Begierde und Grenze Neugierde als fragender Antrieb, Welt zu verstehen, wurde nicht immer positiv betrachtet. Die christliche Philosophie wendete sich gegen die Wissbegierde, weil sie eine Begierde war. Hans Blumenberg zeigt in einer detailreichen Studie, wie im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit Neugierde legitimiert, das heißt aus dem (christlichen) Lasterkatalog befreit wurde (Blumenberg 1966). Wie wurde dann in der Neuzeit mit der freigesetzten Wissbegierde umgegangen? Betrachtet man vor diesem Hintergrund Humes Schrift Treatise of Human Nature kann man die Fortentwicklung des Problems entdecken. Hume kommt in der Einleitung auf das Ausbleiben eines Fortschritts der Philosophie in den bedeutenden Fragen zu sprechen. Es sei „die Unwissenheit zu beklagen, die in den wichtigsten Fragen, welche vor den Richterstuhl menschlicher Vernunft kommen können, noch immer auf uns lastet“ (Hume 1739: 1). Humes doppelter Lösungsversuch besteht einerseits in der Untersuchung der „human nature“, auf die sich alle Wissenschaften in der ein oder anderen Weise für Hume beziehen. Eine Klärung der „human nature“ solle die feste Grundlage dieser Wissenschaften bilden. Andererseits besteht Humes Lösungsversuch darin, eine neue Methode zu wählen, um nicht in Spekulation über menschliche Natur die Konfusion zu vergrößern. Die empirische Methode, welche Hume vorschlägt, besteht wesentlich in der disziplinierenden Regel, „nie über Erfahrung hinauszugehen.“ (Hume 1739: 5) Dadurch will Hume bestimmte spekulative Erklärungsstrategien ausschließen: „Jede Hypothese, welche die letzteren und ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Natur entdeckt haben will, sollte darum von vornherein als anmaßend und chimärisch zurückgewiesen werden.“ (ebd.) Die „ultimate principles“ zu erforschen ist für Hume nicht möglich, was zur Konsequenz hat, dass prinzipielle Unwissenheit unvermeidbar ist. Man kann (oder darf) nicht (mehr) über Erfahrung hinausgehen. Eine Grenze wird errichtet, die Wissbares vom Unwissbaren trennt, indem sie die Erkenntnisgrenze der „human nature“ markiert. Aber was kann diese Grenze schützen, damit ihr zumindest imaginäres Überschreiten, das zu Scheinwissen führt, unterbleibt? Die christlich-moralischen Grenzwächter haben den Posten verlassen. Die Gefahr einer schrankenlosen, sich selbst verirrenden Wissbegierde tritt auf, kann aber gleichwohl nicht mit dem Tugendkatalog zugedeckt werden. Hume selbst behandelt die Wissbegierde in seinem zweiten Buch Über die Affekte denn auch gänzlich positiv und bezeichnet sie dort als „die erste Quelle aller unserer Untersuchungen“ (Hume 1739/40: 188). Um die Grenze zu schützen, formuliert Hume daher eine affektökonomische 229
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Klugheitsregel: „Es ist Tatsache, dass Verzweiflung annähernd dieselbe Wirkung auf uns ausübt wie die Befriedigung; ein Wunsch verschwindet, sobald wir mit dem Gedanken der Unmöglichkeit ihn zu befriedigen, uns vertraut gemacht haben.“ Die Erfüllung ist unmöglich und das muss eingesehen werden. An dieser Stelle bahnt sich bei Hume die Grenzmetaphorik an: „Wenn wir sehen, dass wir an der äußersten Grenze menschlichen Denkens angelangt sind, ruhen wir befriedigt aus; obgleich wir im Grunde vollkommen von unserer Unwissenheit überzeugt sind“ (Hume 1739: 6).1 Die Geographie von Wissens und Nichtwissen ist damit entworfen. Kant greift sie auf. Er wirft Hume vor, dass dieser in Wirklichkeit nur eine Schranke errichtet habe, wo eine Grenze zu kartieren sei, was er nun mit seiner Kritik nachhole (Kant 1787: B 789/A 761).
Horizont Mit der Metapher der Grenze wird nicht nur die Wissbegierde behandelt, sondern zugleich der Bereich des Wissbaren vom prinzipiell Nichtwissbaren getrennt. Diese Grenze ist fix. Sie ist unveränderlich, ebenso unverschiebbar wie im Hinblick auf Wissen unüberschreitbar. Bei Kant wird diese Grenze an einer Stelle mit einer anderen Metapher identifiziert: Die Grenze sei die eines Horizontes, welcher „den Inbegriff aller möglichen Gegenstände für Erkenntnis“ einfasse (Kant 1787: B787/ A759). Durch diese neue Metapher ist die Möglichkeit einer innerempirischen Dynamisierung des Bereichs von Wissen und Nichtwissen geschaffen. Zunächst nimmt Edmund Husserl die Horizont-Metapher auf (Hua III: 57 f.). Mit jedem Schritt auf den Horizont zu verschiebt sich dieser. Er wandert mit, so dass man sich ihm nie annähern kann, auch wenn man auf ihn zugeht. Dieses metaphorische Beschreibungspotential führen Schütz und Luckmann aus. Der Horizont ist nie einholbar, was für sie dazu führt, dass Wissensprozesse nie zu einem in der Gegenständlichkeit selbst liegenden Ende gelangen können: „Der innere und äußere Horizont der Erfahrungen, auf die sich die Auslegungen beziehen, ist prinzipiell unbegrenzt, die Auslegungen selbst aber grundsätzlich beschränkt.“ (Schütz/Luckmann 1979: 230. Hervorhebung AK) Erneut wird Wissen limitiert, so dass jenseits der Scheidelinie Nichtwissen liegt. Aber die 1
Hume selbst spricht im englischen Text an der entscheidenden Stelle von der „utmost extent“ (statt von Grenze), welche erreicht ist. Die Rezeption hat sich durch Kant darauf verfestigt, dies als Grenze zu verstehen, was sachlich auch richtig ist.
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Grenze ist – der Re-Metaphorisierung als Horizont entsprechend – zweideutig. Die doppelte Metaphorik im Zitat spricht es aus. So seien die Erfahrungen ‚prinzipiell unbegrenzt‘, ihre Auslegung aber ‚grundsätzlich beschränkt‘. Denn alles Nichtwissen ist zwar nun, soweit es überhaupt zugänglich ist, potentielles Wissen – Wissen ist also prinzipiell unbegrenzt. Aber weil das Nichtwissen infinit, der Wissensprozess aber finit ist, gilt Schütz und Luckmann Nichtwissen als prinzipielles Nichtwissenkönnen – Wissen ist also grundsätzlich beschränkt trotz der prinzipiellen Unbegrenztheit. Durch den Einsatz von Schranke und Grenze innerhalb des Horizonts kann es konsequenterweise nur zu einer Annäherung ohne Ankunft kommen, ja sogar ohne Verringerung der Distanz.
Das Ganze und die Teile Innerhalb dieser Metaphorik von Fundament und Horizont ist der Gedanke nicht formulierbar, dass durch Wissen Nichtwissen entstünde. Erst recht nicht: dass durch die Steigerung des Wissens das Nichtwissen gesteigert werde. Der Horizont weicht nicht mit jedem Schritt auf ihn zu um zwei Schritte zurück. Eben dieser Gedanke eines Nichtwissens durch Wissen taucht aber zu dem Zeitpunkt auf, als die Arbeitsteilung vermehrt soziologisches Interesse auf sich zieht. Um die Folgen der Arbeitsteilung zu thematisieren, arbeitet Georg Simmel mit der Differenz von Ganzheit und Teil. Durch die Arbeitsteilung wird für Simmel nicht nur die Produktivität materieller Güter gesteigert, sondern vor allem auch Wissen vergrößert. Das Wissen der Individuen ist Teil des ganzen Wissens der Gesellschaft. Vermehren die Individuen ihr Wissen, vermehren sie auch das Wissen der Gesellschaft – allerdings in einem für sie unkomfortablen Verhältnis. Denn im Verhältnis wird das Wissen der Individuen kleiner – aufgrund ihrer Wissenszuwächse. Wenn die Einzelnen in der Arbeitsteilung das Wissen der Gesellschaft als dem Ganzen ständig vermehren, so werden für Simmel die Teile, welche die Individuen davon erlangen, in Relation zum Ganzen zunehmend kleiner. Absolut wird ihr Wissen größer, relativ wird es in Bezug zum gesellschaftlichen Wissen kleiner. Und „in diese Kategorie gehört es, dass die Maschine so viel geistvoller geworden ist als der Arbeiter. Wie viele Arbeiter, sogar unterhalb der eigentlichen Großindustrie, könnten denn heute die Maschine [...] verstehen?“ (Simmel 1900: 98) Dadurch ergibt sich für Simmel ein tragisches Übermaß objektiven Wissens, nämlich die Tragödie der Kultur,
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dass in einer größeren Gesellschaft immer nur ein gewisser Teil der objektiven Kulturwerte zu subjektiven werden wird. Betrachtet man die Gesellschaft als ein Ganzes, [...] so ist die gesamte Kulturentwicklung, für die man so einen einheitlichen Träger fingiert hat, reicher an Inhalten, als die jedes ihrer Elemente. Denn die Leistung jedes Elements steigt in jenem Gesamtbesitz auf, aber dieser nicht zu jedem Element hinab. (Simmel 1900: 104)
Vor diesem Hintergrund gewinnt bei Simmel ein Vergleich an Farbkraft: Der „primitive Mensch, in einem Kreise von geringerem Umfang lebend“, hat verglichen mit „höherer Kultur“ einen größeren Überblick über sein Dasein (Simmel 1908: 388). Er muss darum für Simmel weniger Vertrauen aufbringen als der moderne, wobei Vertrauen „ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“ sei (Simmel 1908: 393). In weitestgehend gleicher Weise beschreibt Max Weber das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen. Machen wir uns zunächst klar, was denn eigentlich diese intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik praktisch bedeutet. Etwa, dass wir heute, jeder z.B., der hier im Saale sitzt, eine größere Kenntnis der Lebensbedingungen hat, unter denen er existiert, als ein Indianer oder ein Hottentotte? Schwerlich. Wer von uns auf der Straßenbahn fährt, hat – wenn er nicht Fachphysiker ist – keine Ahnung, wie sie das macht, sich in Bewegung zu setzen. Er braucht auch nichts davon zu wissen. Es genügt ihm, dass er auf das Verhalten des Straßenbahnwagens „rechnen“ kann, er orientiert sein Verhalten daran; aber wie man eine Trambahn so herstellt, dass sie sich bewegt, davon weiß er nichts. Der Wilde weiß das von seinen Werkzeugen ungleich besser. (Weber 1913: 473)
Weber arbeitet wie Simmel mit dem Topos des Vergleichs moderner mit so genannten einfachen Gesellschaften und sieht in der Arbeitsteilung einen entscheidenden Faktor. Der Fortschritt der gesellschaftlichen Differenzierung und Rationalisierung bedeutet also [...] ein im ganzen immer weiteres Distanzieren der durch die rationalen Techniken und Ordnungen praktisch Betroffenen von deren rationaler Basis, die ihnen, im ganzen, verborgener zu sein pflegt wie dem ‚Wilden‘ der Sinn der magischen Prozeduren. (ebd.)
Und Weber fährt fort: „Ganz und gar nicht eine Universalisierung des Wissens [...] bewirkt also [die] Rationalisierung, sondern meist das gerade Gegenteil.“ (ebd.)
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Figur: Nichtwissen durch Wissen Die durch die Differenzierungsmetaphorik von Ganzem und Teil gewonnene Idee einer Dynamisierung von Nichtwissen durch Wissen wurde in der Folgezeit auf eine abstraktere Figur gebracht: Nichtwissen als direkte Folge von Wissen. Mehr noch und vor allem: Steigerung des Nichtwissens durch eine Steigerung des Wissens. Damit wird Nichtwissen als prinzipielles Nichtwissenkönnen konzipiert. Denn wenn Wissen selbst zu Nichtwissen führt, dann ist eine Lösung dieses Problems versperrt. Eine deutliche Veränderung zu den Rationalitätstheorien von Nichtwissen bei Weber und Simmel ist dabei zu verzeichnen. Es ist nicht mehr die Arbeitsteilung, welche die Differenz zwischen Ganzem und Teil, Wissen und Nichtwissen dehnt. Vielmehr wird nun immer deutlicher Wissen selbst – und nicht mehr seine Akkumulation – als Grund für Nichtwissen angeführt. Es handelt sich dabei um eine extrem erfolgreiche Figur, die in nahezu allen aktuellen Debatten zu Technik und Wissen wirksam ist. Exemplarisch für die weite Verbreitung seien nur einige Einsätze benannt. Bei Luhmann heißt es in einer generellen Einschätzung der Soziologie des Risikos: Je mehr man weiß, desto mehr weiß man, was man nicht weiß [...]. Je rationaler man kalkuliert und je komplexer man die Kalkulation anlegt, desto mehr Facetten kommen in den Blick, in bezug auf die Zukunftsungewissheit und daher Risiko besteht. (Luhmann 1991: 37)
Diese Figur ist für Luhmann die paradoxe Form der Hochtechnologie. Technik stellt für Luhmann eine funktionierende Simplifikation dar im Vergleich zu einem komplexeren Außen. Das Technische ist dabei nicht der Apparat oder das Innere der Black Box, sondern die Grenze, welche den simplifizierten und den wild komplexen Bereich trennt (Luhmann 1997: 517-536). Wird im Fall der Hochtechnologie Technik zunehmend mit Komplexität angereichert, dann wird diese Grenze destabilisiert (Luhmann 1991: 97-100). Letztlich führt diese zu einer Steigerung des Nichtwissens durch eine Steigerung des Wissens, da Hochtechnologien komplexer werden und dadurch das Nichtwissen steigern. In Ökologie des Nichtwissens wendet Luhmann diese Figur zeitlich. Die in der Moderne relevanten zu beobachtenden Zeiträume, so Luhmann, werden sowohl erheblich größer als auch kleiner, und zwar durch Technik und Wissenschaft (Luhmann 1992: 167). Man denke an radioaktive Halbwertszeiten, welche Planungen für große Zeiträume erfor233
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dern (würden), während in Reaktoren zugleich kleinste zeitliche Prozesse steuerbar gemacht werden müssen. Mit dieser Ausdehnung der Zeiträume ins Große und Kleine verschiebt sich auch das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen. Eine weit entfernte Zukunft wird nun vorstellbar, aber: „Je weiter man in die Zukunft blickt, desto wahrscheinlicher ist ein Übergewicht der nicht vorhergesehenen Folgen.“ (Luhmann 1992: 185) Auch beim Soziologe Klaus P. Japp findet sich die Überlegung, dass Wissen zu mehr Nichtwissen führt: „Die Grenzen [zwischen beiden] werden zunehmend porös.“ (Japp 2002: 46) Denn die Wissensgewinne führen etwa durch Vernetzung und Komplexität zu Risiken. Japp verdeutlicht dies am BSE-Konflikt. In diesem Kontext verwendet Japp die in Frage stehende Figur: Im Zuge der Steigerung von Wissen stellt sich Nichtwissen in Form wissensoperativ konstitutiver ‚blinder Flecken‘ überproportional ein. Zum Beispiel erzeugt das hypothetische Wissen über ökologisch riskante Tiermehlverfütterung noch weit größeres Nichtwissen im Hinblick auf Zeitfolgen der Verbreitung, sachliche Alternativgenesen des Auslösesyndroms und der Verbreitung sowie soziale Betroffenheitsverteilungen. Und dies geht irreduzibel so weiter. (Japp 2002: 46)
Dies wird durch die erwähnte Metapher des Horizonts ins Generelle plausibilisiert: „In einem radikalen Sinn wird der Horizont möglichen Nichtwissens mit den kognitiven Operationen des Wissenserwerbs mitgezogen.“ (Ebd.)2 Die Überlegungen des Philosophen Gerhard Gamm zur Paradoxie unbestimmter Bestimmtheit führen ihn in der Diskussion von Technik zu derselben Figur, wenn es heißt, dass „das Unbestimmte in Folge einer Überlast analytischer Bestimmungen entsteht.“ (Gamm 1994: 37) Oder „wenn mit dem vermehrten Wissen über die Varianz der Verhältnisse das Nichtwissen und damit die Unbestimmbarkeit steigt.“ (Gamm 2000a: 178) Gamms Bestimmung von „Technik als Medium“ nimmt dies dann schon in die Begriffsbildung von Technik auf (Gamm 2000). Man könnte weitere Theorien anführen, welche mit dieser Figur operieren.3 Entscheidender wird es nun aber sein, die Implikationen und Konsequenzen, die Annahmen und Erklärungslücken dieser Positionen abzuschätzen und gegebenenfalls zu präzisieren. Denn dass die zuletzt genannte, extrem erfolgreiche Arbeitsfigur wichtige Sachverhalte und 2 3
Japp (1997) hat in diesem Zusammenhang auch vorgeschlagen, zwischen spezifischem und unspezifischem Nichtwissen zu unterscheiden. Vgl. beispielsweise Beck 1998: 269f. Giddens 1990: 54-56.
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Problemlagen zu beobachten hilft, hat eine enorme Plausibilität für sich. Nur welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? In der ersten Annäherung geht es um die Frage der Übertragbarkeit der Resultate auf die alltägliche Praxis.
2. Nichtwissen im Überfluss? Was ist das Ergebnis dieser Rekonstruktion von Konzeptmetaphern für Nichtwissen? Dazu möchte ich einige Hinweise geben. Die genannten Positionen zeigen eine klare Kontinuität auf. Sie unterstellen zumeist: 1. dass Nichtwissen einfach vorhanden sei; und vor allem, 2. dass es im Überfluss vorhanden sei. Dies implizieren bereits die verschiedenen Territorialmetaphoriken des Nichtwissens. In Humes Rede von der „utmost extent“ des Wissens ist dies schon angelegt. Wenn das Wissbare wie eine „res extensa“ einfach vorliegt und immer schon vorhanden ist – nämlich qua „human nature“ –, dann ist jenseits der Grenze das Nichtwissbare, welches ebenfalls vorliegt wie der Raum in der Welt. Zudem: Eine Begrenzung des Nichtwissbaren jenseits des Wissbaren ist nicht gegeben, Nichtwissen liegt somit – der Konzeptmetapher entsprechend – unendlich in den Raum hinaus. Die Metapher des Horizonts führt daher aus, was in der Territorialmetaphorik des Nichtwissens potentiell angelegt ist. Sie dynamisiert innerempirisch die Möglichkeiten zu Wissen; doch jeder Landgewinn verringert keinen Zentimeter der infiniten Erstreckung der „terra incognita“. Das Land des Nichtwissens liegt so immer schon vor uns – ob wir es beachten oder nicht – und ist gar im Überfluss vorhanden. Die Metaphorik von Ganzem und Teil denkt zwar nicht mehr das Nichtwissen als vorhanden, sondern sieht es als Folge von Wissensprozessen. Gleichwohl ist es auf diese Weise umso deutlicher im Überfluss gegeben. Denn wenn Wissen die einzig denkbare Lösung zur Negation von Nichtwissen ist, die Lösung das Problem jedoch steigert, dann ist keine Lösung zu erreichen. Damit ist eine Verbindung zu der die Technikdiskussion bestimmenden Figur einer Steigerung des Nichtwissens durch Wissen angezeigt. Denn auch in dieser Figur ist Nichtwissen als im Überfluss gegeben konzipiert. Ein weiterer Punkt, welcher eng damit zusammenhängt, ist: Nichtwissen wird als prinzipielles Nichtwissenkönnen verstanden. Humes Argument für die Verzichtsbereitschaft der Wissbegierde beruht ja genau darauf, dass ohnehin nicht gewusst werden kann, was die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit überschreitet. Die Horizontmetapher 235
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stellt Erkenntnis als unendlichen Gang der Wissenschaften vor, der aber niemals den Horizont erreicht oder gar überschreitet und schon deshalb prinzipielles Nichtwissenkönnen niemals umgehen kann. Die Metapher vom Ganzen und Teil modelliert zumindest für moderne Gesellschaften eine unüberwindbare Diskrepanz und Trennung. Und das aktuelle Theorem von Nichtwissen durch Wissen verlagert die Unvermeidlichkeit von Nichtwissen in die Mitte des Wissensbegriffes hinein.
3 . N i c h t w i s s e n u n d U nw i s s e n h e i t Die kleine Geschichte von Konzeptmetaphern für Nichtwissen relativiert die behauptete Einmaligkeit der späten Moderne als Epoche des Nichtwissens. Frühere Theorien attestieren ebenfalls ein hohes Maß an Nichtwissen. Zumindest müsste eingängiger diskutiert werden, was an der Moderne singulär ist. Dafür bietet die Figur, dass Nichtwissen mit dem Wissen entsteht einen Hinweis. Diesen Hinweis möchte ich aufgreifen, um zu einer Theorie von Nichtwissen zu gelangen, die den vertrauten Alltag und die wissenschaftlich-technische Reflexion miteinander verbindet. Dabei sollen zwei Probleme in der Konzeption von Nichtwissen vermieden werden: Es soll weder als einfach vorliegend noch als im Übermaß vorhanden konzipiert werden. Nichtwissen – das soll im Folgenden deutlich werden – ist nicht einfach gegeben, sondern unten Umständen schwer zu erreichen. Nichtwissen ist eine Leistung, ein Produkt. Die Konzeptmetaphern suggerierten das einfache Vorhandensein von Nichtwissen im Überfluss. Sie verdecken damit, dass Nichtwissen zumeist nicht gegeben ist, sondern in mühevollen Prozessen erarbeitet werden muss. Dies gilt für die alltägliche Praxis, es gilt jedoch auch für die Wissenschaft, welche zunächst die Erarbeitung von Fragen ist. Wissenschaft und die Reflexion von Technik unterscheiden sich allerdings vom Alltag in der Logik dessen, was als möglich gilt. Wittgensteins Philosophie kann in vielen Passagen als Versuch gelesen werden, die differente Logik von Reflexion und pragmatischem Alltag auszubuchstabieren und dabei zu zeigen, wie schwer es ist – fern bloß vorgestellter Zweifel – etwas nicht zu wissen. Wittgensteins überraschende Wendung ist, die aus theoretischer Sicht Unterbestimmtheit, Anzweifelbarkeit, Unschärfe und Offenheit der alltäglichen Praxis nicht als Problem zu begreifen: Es kann leicht so scheinen, als zeigte jeder Zweifel nur eine vorhandene Lücke im Fundament; so dass ein sicheres Verständnis nur dann möglich ist, wenn
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wir zuerst an allem zweifeln, woran gezweifelt werden kann, und dann alle diese Zweifel beheben. (Wittgenstein 1952: §87)
Die in der neuzeitlichen Philosophie durch Descartes vorgebrachte Methode des Zweifelns hat suggeriert, dass es kinderleicht sei, an allem zu zweifeln. Scheinbar beliebig könne der Zweifel auf dieses oder jenes angewandt und der im Zweifel stehende Gegenstand bezüglich seines Status befragt werden. Spielerisch leicht gelingt dies für Wittgenstein allerdings nur in einer bestimmten Form des Zweifels, nämlich des fingierten, bloß gedachten. Wittgensteins Pointe ist, dass diverse Philosophien ihre Form des Zweifels für den Zweifel schlechthin gehalten hat, sie waren hier nicht präzise. Aber das sagt nicht, dass wir zweifeln, weil wir uns einen Zweifel denken können. Ich kann mir sehr wohl denken, daß jemand jedesmal vor dem Öffnen seiner Haustür zweifelt, ob sich hinter ihr nicht ein Abgrund aufgetan hat, und daß er sich darüber vergewissert, eh’ er durch die Tür tritt (und es kann sich einmal erweisen, daß er recht hatte) – aber deswegen zweifle ich im gleichen Fall doch nicht. (Wittgenstein 1952: §84)
Mit anderen Worten: Die neuzeitliche Philosophie hat die prinzipiellen Möglichkeiten zu zweifeln untersucht.4 Aber nicht die Wirklichkeit fungierenden Zweifels. Vor diesem Hintergrund weist Wittgenstein am Beispiel des Spiels nach, dass die prinzipielle Unklarheit, Offenheit, Unterbestimmtheit des Alltags aus theoretischer Sicht für dessen Funktionieren keineswegs abträglich ist: „[E]s gibt ja auch keine Regel dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark“ (Wittgenstein 1952: §68). Stattdessen weist Wittgenstein gerade in seiner Nichtexaktheit die Möglichkeit seines reibungslosen Funktionierens nach: Wenn ich Einem sage ‚Halte dich ungefähr hier auf!‘ – kann denn diese Erklärung nicht vollkommen funktionieren? Und kann jede andere nicht auch versagen? ‚Aber ist diese Erklärung nicht doch unexakt?‘ – Doch; warum soll man sie nicht ‚unexakt‘ nennen? Verstehen wir aber nur, was ‚unexakt‘ bedeutet! Denn es bedeutet nun nicht ‚unbrauchbar‘. (Wittgenstein 1952: §88)
Jeder Versuch hier exakter zu sein, würde das problemlose Gleiten des Alltags geradezu behindern. Wollte man, um die Aufforderung, wo sich 4
Was Descartes durchaus klar war. Es handelt sich, wie er in den Mediationen schreibt, um einen methodisch-funktionalen Zweifel zur Theoriebildung. 237
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jemand aufhalten solle, exakter zu bestimmen, etwa eine Markierung durch einen Kreidestrich auftragen, würde das sogleich zu der Unsicherheit führen, „dass der Strich eine Breite hat.“ (ebd.) Dass es uns im Alltag gerade nicht relevant schiene, wenn sich als genauere Positionsangabe auf dem Boden ein Kreidestrich fände, dass er eine Breite hat, liegt zum einen am pragmatischem Umgang mit Unbestimmtheit im Alltag und vor allem daran, dass – im Vergleich zur Wissenschaft – hier ein recht geringes Maß an Exaktheit schon ausreicht. Es muss eben in der Regel nicht exakter sein. Wittgenstein löst die üblichen Annahmen in Bezug auf Nichtwissen auf, indem er drei Gegenpositionen markiert: (1) eine stärkere Begründung führt zu größerer Zweifelhaftigkeit, (2) eine größere Vereindeutigung führt zu größerer Mehrdeutigkeit, (3) eine stärkere Bestimmtheit führt zu mehr Reibung in der Praxis. Am Beispiel der Positionsmarkierung: Je eindeutiger ich diese fassen will, desto mehrdeutiger ist selbst der Kreidestrich: Soll man sich in der horizontalen Mitte aufstellen? Und wie steht es mit seiner vertikalen Breite? Steht man hier exakt in der Mitte? Solche Fragen machen deutlich, dass die größere Bestimmtheit zu mehr Reibung, zu weiterem Klärungsbedarf führt. Außerdem kann jede gegebene Antwort wiederum angezweifelt werden. Öffnet man sich penibler Begründungen, treten damit die Unklarheiten stärker hervor. Übertragen auf Technik im Alltag heißt dies, dass aus theoretischer Perspektive zwar ungemein viel unklar, ungewiss, unbestimmt ist. Aber weder behindert dies die Praxis noch wird es als solches, das heißt als unklar, ungewiss, unbestimmt erlebt. Zwar wird beispielsweise nicht gewusst, wann welche Funktionsausfälle auftreten: Abweichungen, Störungen, Ausfälle, falscher Gebrauch von Technik – es gibt genügend Gründe, die man sich denken könnte, um am Funktionieren zu zweifeln. Pragmatisch tut man es in der Regel nicht. Die Vagheit, die darin besteht, dass offen ist, wann es zu einem Funktionsversagen kommen könnte, führt in der Praxis zu einem Verhalten, das in vielen Fällen dem gleicht, welches sich ergäbe, wenn Technik auf das Schärfste bestimmt wäre. Im vorigen Teil B war das einer der Gründe dafür, Heinz von Foersters Begriff der trivialen Maschine als eine Form des Erwartens zu lesen. Umgekehrt stellt es regelmäßig eine mühsame Herausforderung dar, Nichtwissen zu ermitteln. Das gilt für den Alltag, der mit Nichtwissen wenig anfangen kann. Aber auch jene Bereiche, in denen gezielt und professionell nach Nichtwissen gesucht wird wie bei riskanten Hochtechnologien. Diese Schwierigkeiten sind nicht lediglich epistemisch. Gerade erhöhte Funktionserwartungen machen es schwerer, sich unbe238
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kannte Enttäuschungsmöglichkeiten zu vergegenwärtigen. Denn (1) je sicherer Erwartungen erfüllt werden, desto schwerer wird es, sich Enttäuschungen überhaupt vorzustellen. Die Bereitschaft, die Möglichkeit von Funktionsausfällen überhaupt als gegeben anzusehen und ernst zu nehmen, sinkt. Außerdem (2) haben große Trivialisierungserfolge zur Konsequenz, dass die Untersuchung möglicher Funktionsausfälle sich auf immer unwahrscheinlichere Ereignisverkettungen einlassen muss. Das zeigen die Probleme, vor die sich Sicherheitstechnologen gestellt sehen. Sie liegen darin, mit der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen rechnen zu müssen. Perrow erläutert diese Schwierigkeit an dem Szenario einer Verkettung ‚unglücklicher Zufälle‘: Stellen sie sich vor, Sie gehen eines Morgens nicht zur Arbeit, weil es ihnen nach vielen Mühen gelungen ist, für diesen Vormittag ein wichtiges Vorstellungsgespräch in der Presseabteilung einer anderen Firma zu vereinbarem. Ihre Freundin oder Frau hat das Haus bereits verlassen, wenn Sie das Frühstück machen, aber dummerweise hat sie die fast geleerte Kaffeekanne auf der Heizplatte der angeschalteten Kaffeemaschine stehenlassen, so daß der Kaffee verkocht und die Kanne gesprungen ist. Ohne Kaffee am Morgen sind Sie zu nichts gebrauchen, also stöbern Sie im Schrank, bis sie Filterpapier und einen alten Kaffeefilter entdecken. Sie müssen nur noch warten, bis das Wasser kocht und durch den Filter gelaufen ist, dann trinken sie hastig, unter nervösen Seitenblicken auf ihre Uhr, die Tasse leer und stürmen aus dem Haus. Vor der Autotür stellen Sie fest, daß Sie in der Eile ihr Schlüsselbund vergessen haben. Das ist nicht weiter tragisch, da sie eigens für derartige Notfälle einen zweiten Hausschlüssel in einem Blumenkasten versteckt und einen zweiten Autoschlüssel in der Wohnung deponiert haben. (Das ist eine Sicherheitsvorkehrung, eine sogenannte „Redundanz“.) Aber dann fällt ihnen ein, daß sie am Abend zuvor den Hausschlüssel einem Bekannten gegeben haben, der bei Ihnen, während Sie nicht daheim sind, im Laufe des Tages einige Bücher abholen will. (Damit ist dieser „Redundanzpfad“, wie es in der Fachsprache heißt, nicht weiter gangbar.) Nun drängt allmählich die Zeit, aber immerhin hat ja der Nachbar ein Auto. (Perrow 1992: 18-23)
Um die Erzählung Perrows abzukürzen: Das Auto des Nachbarn ist, wie sich herausstellt, wegen eines kleinen Defekts, den zu beheben der Nachbar sich ausgerechnet an diesem Tag entschieden hat, bis zum Nachmittag noch in der Werkstatt. Wie der Nachbar erzählt, streikt außerdem der öffentliche Nahverkehr. Taxen sind deshalb momentan nahezu nicht zu bekommen („enge Kopplung zweier Ereignisse“) usw. Dass einzelne Ereignisse auftreten, ist nicht unwahrscheinlich. Extrem unwahrscheinlich ist jedoch ihre Verkettung. Um solche unwahrscheinlichen Verkettungen zu imaginieren, das ist Perrows Botschaft, müssen 239
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außergewöhnliche, mit Reflexion aufs Unwahrscheinliche beauftragte Einrichtungen geschaffen werden. Der Alltag denkt nicht daran. Dass Organisationen wie Technikfolgenforschungsinstitute geschaffen werden müssen, um Nichtwissen zu gewinnen, steht konträr zu der Auffassung, dass es unweigerlich und im Überfluss gegeben ist. Vor dem Hintergrund solcher Anstrengungen bietet es sich an, zwischen Nichtwissen und Unwissenheit zu unterscheiden. Nichtwissen wäre demnach gegeben, wenn die Relevanzsetzung, das Interesse, die Bemühung auftritt, mehr zu wissen, als gewusst wird. Anders gesagt: Wenn man mehr zu wissen begehrt, als man augenblicklich weiß, dann ist man nichtwissend. Die Wissenschaftstheorie liegt somit falsch, wenn sie Nichtwissen primär auf fehlende Gründe, auf nicht abarbeitbare Horizonte oder Komplexitätsniveaus bezieht. Vorgängig entsteht Nichtwissen durch einen, sei es gesellschaftlichen, sei es organisatorischen, sei es individuellen Willen, mehr zu wissen, als man augenblicklich weiß. Gerade weil die Gründe und der Horizont infinit sind und jeder Abbruch damit willkürlich ist, kommt es auf diesen Willen zum Mehr-Wissen an. Der Einwand liegt nahe, dass Nichtwissen vor allem das Geschehen der Welt betrifft, von dem ich nur im Nachhinein erfahre und das sich in einer mir unbekannten Welt abspielte. Man hatte die ganze Zeit über Asbest im Wohnraum oder Amalgam im Mund, der Autoreifen wurde immer poröser und erfährt erst im Nachhinein, welche Ereignisse sich in der Welt abspielten, von denen man nichts wusste. Ist dies nicht der Prototyp des Nichtwissens? Dagegen spricht: Zu Nichtwissen wird dies erst, weil man es so sehr gewusst haben wollte. Deshalb findet der umgefallene Sack Reis in China auch keine Erwähnung in der Aufzählung jener Dinge, die man nicht wusste. Zum Sprachspiel des Nichtwissens gehört das Wissen-Wollen. Unwissenheit kennzeichnet dagegen den Ausschluss verfügbaren, vielleicht gar leicht verfügbaren Wissens. Man könnte erfahren, wie Pkw-Motoren funktionieren, wüsste aber nicht, wozu das gut sein sollte. Man könnte den Zahnarzt fragen, woraus die Füllung besteht, aber man interessiert sich nicht dafür. Der vorgeschlagene Begriff von Nichtwissen und seine Unterscheidung von Unwissenheit ermöglichen es, zu verstehen, warum Nichtwissen im Zusammenhang mit Technik, Risiko und Institutionen, die auf die Erarbeitung von Nichtwissen spezialisiert sind, auftritt – und Nichtwissen daher nicht mit der Anzahl umgefallener Säcke zunimmt. Technologie und Technik gehen mit Risiko einher, ist etwas riskant, würde man gerne wissen, wie es sich entwickelt. Risiko ist daher wesentliches Motiv für Nichtwissen. Man versteht mit diesem Begriff von Nichtwis240
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sen auch, warum Nichtwissen im Alltag keine so große Rolle spielt wie in Technikfolgenforschungsinstituten und auch, warum es wann dort auftritt. In den Alltag ist die Risikoperspektive nicht scharf eingezeichnet wie in derartigen Einrichtungen. Wird Nichtwissen aber im Alltag virulent, dann, wenn es um etwas geht, wenn man gerne mehr wüsste. Man bemerkt, dass man etwas nicht weiß, wenn der Computer nicht startet, obwohl man dringend eine Datei öffnen müsste, oder wenn man sich fragt, ob die Symptome auf eine ernsthafte Erkrankung hindeuten. Dagegen gibt es kein Nichtwissen, wenn man im Zug sitzend sich nach draußen in die Landschaft träumt oder gerade auf den eigenen Geburtstag anstößt. Nur ein äußerer Beobachter mag dann die Perspektive einer Person und das ihr unterstellte Wissen mit jenen Vorgängen abgleichen, die sich zeitgleich zutragen, von denen die Person aber nichts weiß. Zu Nichtwissen wird diese Synopse aber auch erst dadurch, dass man der Person eigentlich unterstellt, sie würde es gerne wissen (vielleicht weil, während sie im Zug träumt, ihr Koffer entwendet wird).
4. Vertrauen als wissendes Nichtwissen Nichtwissen ist eine Bedingung für Vertrauen. Das lässt sich nun erklären. Nur, wenn es um etwas geht, ein Risiko also besteht, ist es möglich zu vertrauen. Dann aber besteht ein prinzipielles Interesse an Wissen. Dies mag aber nicht oder nicht leichthin verfügbar sein. Im Vertrauen wird daher Nichtwissen virulent, nicht Unwissenheit. Vertrauen ist eine Form, die spezifisch auf diese Situation zugeschnitten ist: Vertrauen ist asketisch in Hinsicht auf dieses gewünschte Wissen, eine Art fröhlicher Enthaltsamkeit. Im Vertrauen genügt das ungenügende Wissen, welches man hat. Vertrauen ist somit das Paradox wissenden Nichtwissens. Man möchte mehr Wissen, weil man ein Risiko eingeht, und ist doch befriedigt durch das Wissen, welches man hat. Die Parallele zu Risiko und Vertrauen ist kaum zu übersehen. Auch Nichtwissen wird nicht lediglich negiert, sondern eingeklammert. Es muss gegeben sein, damit vertraut werden kann, im Vertrauen ist es jedoch unwirksam. Man handelt so, als ob man wüsste. Analog zu Risiko kann Vertrauen angesichts von Nichtwissen daher, wie folgt, notiert werden: (Nichtwissen)
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Die Klammern sind die Funktion von Vertrauen. Wohl in diesem Sinne schreibt Luhmann, Vertrauen ist ein „Überziehen der Information“. Man „weiß“ mehr, als man weiß (Luhmann 1968: 23).
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IV. V O R L ÄU F I G E S R E S Ü M E E : P AR AD O X E S V E R T R AU E N
Ziehen wir ein Resümee nach den ersten beiden Bedingungen von Vertrauen, nämlich Risiko und Nichtwissen: Vertrauen weist beide Male dieselbe Figur auf, es klammert ein, was doch vorliegen muss, damit vertraut werden kann. In dieser Einklammerung besteht die funktionale Leistung von Vertrauen. Vertrauen stellt sich daher als risikoloses Risiko und wissendes Nichtwissen dar. Nur wenn beides zusammenkommt, das Vorhandensein von Risiko und Nichtwissen und ihr „außer Geltung sein“, besteht Vertrauen. Genauer: Vertrauen ist dieses Zugleich von Bedingung und Aufhebung der Bedingung. Dies kann überprüft werden: Ist eine der Bedingung nicht gegeben, kann nicht vertraut werden. Sind diese Bedingungen gegeben, aber nicht aufgehoben, wird nicht vertraut. Alle Vertrauenssituationen sind so beschaffen. Es mag wie eine Spielerei klingen, von einem paradoxen Vertrauen zu reden. Das Phänomen erweist sich allerdings so. Das kann als erstes Ergebnis festgehalten werden. Rational Choice-Theorien verwechseln Bedingungen und Leistungen von Vertrauen. Wie oben diskutiert, gehen diese Theorien davon aus, dass Vertrauen eine positive kognitive Erwartung (p > 0,5) ist. Primär ist dabei die kognitive Erwartung: Ist diese positiv, dann ist sie gleichbedeutend mit Vertrauen. In einem logischen Sinne ist die positive Erwartung primär, die rationale Folgerung ist zu vertrauen. Tatsächlich ist es umgekehrt: Dass die Erwartung positiv ist, ist die Leistung von Vertrauen. Es wird erwartet, dass es gut geht, dass keine Schädigungen eintreten, weil vertraut wird. Für Rational Choice-Theorien stellt es sich jedoch umgekehrt dar: Man vertraut dann und rationalerweise nur dann, 243
TECHNIK ALS ERWARTUNG
wenn die kognitive Erwartung positiv ist.1 Nur dann vertraut man gerade nicht, sondern rechnet und muss nicht vertrauen, weil die Situation ohnehin darauf zuläuft, gut auszugehen. Für diesen Irrtum der Rational Choice-Theorien ist damit eine Erklärung gefunden. Die Leistung wird für die Bedingung gehalten, was an der paradoxen Verfasstheit von Vertrauen liegt. Der Zusammenhang zwischen Vertrauen, Risiko, Nichtwissen und Technik ist nun begrifflich erfasst. Die Diskussion des Risikobegriffs hatte eine Steigerung von Risiko durch Optionen (und damit durch Wissen und Technik) belegt, weil Risiko eine entscheidungsabhängige Größe ist. Außerdem konnte ein Begriff für Nichtwissen gebildet werden, der mit dem Vertrauensbegriff abgestimmt ist. Er ist außerdem auf Technik abgepasst, sofern Technisierung mit dem Willen, mehr zu wissen, als man aktuell weiß, einhergeht.
1
Diese Verkehrung hat Lahno 2002 in herausragender Weise rekonstruiert.
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V. D I E S P I E L R ÄU M E
VON
V E R T R AU E N
Die Ausgangsfrage lautete: Was heißt es, Technik zu vertrauen? Dass Vertrauen risikoloses Risiko oder wissendes Nichtwissen ist, erklärt noch nicht, ob Vertrauen in Technik möglich ist oder es nicht lediglich ein Kategorienfehler ist, davon zu sprechen. Vertrauen, schreiben verschiedene Autoren, könne nur Personen gewährt werden. Denn Voraussetzung für Vertrauen sei die Autonomie und das Wohlwollen desjenigen, dem vertraut wird. Auch wenn sich keine direkte Antwort auf dieses Problem aus der Leistung von Vertrauen angesichts von Risiko und Nichtwissen ergibt, wird das bisherige Ergebnis Teil des Erklärungsversuchs sein, warum Vertrauen in Technik möglich ist. Ich werde dazu im Folgenden den Status von Vertrauen untersuchen. Dabei geht es um die Frage, ob zu vertrauen notwendig ist. Zuweilen klingt es in verschiedenen Theorien an, als wenn Vertrauen einen quasitranszendentalen oder anthropologischen Status habe. Wenn Vertrauen eine notwendige und allgemeine Form ist, würde es eine Begründung für Vertrauen in Technik geben. Dem schließe ich mich jedoch nicht an, auch wenn ich das mögliche Motiv aufgreife, das im Hintergrund der transzendentalen Argumentation stehen mag.
1 . D e r u n g e k l ä r t e S t a t u s vo n V e r t r a u e n In der Vertrauensliteratur kann man eine gewisse Verlegenheit bezüglich des Status von Vertrauen beobachten: Ist Vertrauen nicht notwendig, fundamental, primordial, transzendental? Gleichwohl kann man sich entscheiden, diesem oder jenem zu misstrauen. Daher kann Vertrauen doch nicht notwendig sein, im Gegenteil ist es kontingent. Allerdings 245
TECHNIK ALS ERWARTUNG
sind Entscheidungen gegen Vertrauen doch nur auf der Grundlage eines basalen Weltvertrauens möglich – oder nicht? Exemplarisch dafür sind Aussagen wie, dass Vertrauen ein „mehr oder weniger notwendiger sozialer Mechanismus ist.“ (Weisker 2003: 397) Mehr oder weniger notwendig – geht das? Warum so über Vertrauen gesprochen wird, soll im Folgenden geklärt werden. Es gibt nämlich Gründe dafür.
2. Notwendig oder kontingent? Viele Theorien nehmen einen irgendwie notwendigen, anthropologischen oder primordialen Status von Vertrauen an: Annette Baier geht von einem angeborenen und für das Überleben notwendigen Vertrauen aus (Baier 2001: 54). Anthony Giddens spricht von „ontologischer Sicherheit“ (Giddens 1990: 117 f.), Gaston Bachelard von einem „instinktiven“ oder „kosmischen Vertrauen“, das der Kulturarbeit an der „Welt“ zugrunde liegt (Bachelard 1957: 115 f.). Hermann von Helmholtz spricht Vertrauen einen quasi-transzendentalen Status zu, indem das transzendentale Kausalschema für ihn zu einem Ausdruck von Vertrauen wird, und zwar eines „Vertrauen[s] auf die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens. Die Gesetzmäßigkeit aber ist die Bedingung der Begreifbarkeit“, weswegen das Kausalgesetz „das Vertrauen auf die vollkommene Begreifbarkeit der Welt“ ausdrückt (Helmholtz 1878: 133).1 Zusammenfassend lässt sich allerdings sagen: Begründungen für diesen irgendwie grundlegenden, notwendigen oder primordialen Status sind zumeist mehr intuitiv angedeutet als ausgeführt. Vertrauen gilt als irgendwie notwendig, man kann nicht ohne. Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich die Rational Choice-Theorien, welche Vertrauen/Misstrauen als binäre Entscheidung betrachten. Ist Vertrauen eine Entscheidung angesichts einer Alternative, dann kann es per se nicht notwendig sein. Zu vertrauen oder zu misstrauen wird dann kontingent, da von einer kontingenten Situation abhängt, was rational zu tun wäre. Luhmanns Vertrauenstheorie spiegelt diesen Konflikt zwischen notwendigem und kontingentem Vertrauen intern wider. In einer Eingangsformulierung zu seinem Vertrauensbuch betont Luhmann die Unvermeidlichkeit von Vertrauen: „Vertrauen im weitesten Sinne eines Zutrauens zu eigenen Erwartungen ist ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens.“ (Luhmann 1968: 1) Als solcher ist es alternativlos:
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In Helmholtz’ Text ist gleichwohl noch mehr Hume finden, als es Helmholtz’ Selbstverständnis und Terminologie zugeben.
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DIE SPIELRÄUME VON VERTRAUEN
Der Mensch hat zwar in vielen Situationen die Wahl, ob er in bestimmten Hinsichten Vertrauen schenken will oder nicht. Ohne jegliches Vertrauen aber könnte er morgens sein Bett nicht verlassen. Nicht einmal ein bestimmtes Mißtrauen könnte er formulieren und zur Grundlage defensiver Vorkehrungen machen; denn das würde voraussetzen, daß er in anderen Hinsichten vertraut. (ebd.)
Luhmann spricht daher von einer „Notwendigkeit des Vertrauens“. Wie ist sie begründet? Luhmanns bekannte Antwort: Komplexität. „Alles wäre möglich“ – ohne Vertrauen, aber solch eine unvermittelte Konfrontierung mit der äußersten Komplexität der Welt hält kein Mensch aus. Diesen Ausgangspunkt kann man als unbezweifelbares Faktum, als ‚Natur‘ der Welt bzw. des Menschen feststellen und würde damit etwas Wahres aussagen. (ebd.)
Vertrauen stellt daher bei Luhmann eine „Notwendigkeit“ dar, sei sie nun anthropologisch oder anders begründet. Allerdings kennzeichnet Luhmann auch Vertrauen durch ein Handlungsengagement. Im Unterschied zu Vertrautheit, die sich gleichsam vor sich hin entwickelt und läuft, entscheidet man sich zu vertrauen (Luhmann 1968: 29). Engagement impliziert: Man kann, muss aber nicht. Vertrauen beziehe sich „stets auf eine kritische Alternative“, schreibt Luhmann daher, etwa nicht zu vertrauen (Luhmann 1968: 28 f.). Das Risiko in Bezug auf die Folgen eines etwaigen Engagements kann übernommen werden – oder nicht. Diese Bestimmungen machen klar, dass Vertrauen keine bloße Notwendigkeit sein kann. Wie lassen sich diese beiden Aussagen über den Status von Vertrauen aufeinander beziehen? Luhmann weist in der zitierten Eingangspassage selbst darauf hin, dass es viele Situationen gebe, in denen eine Wahl bestünde, zu vertrauen oder auch nicht, er setzt jedoch hinzu, dass es keine Wahl gebe, ob man überhaupt vertraut. Vertrauen ist daher in sich unterschieden bei Luhmann in ein Vertrauen überhaupt, das gewährt werden muss, und ein Vertrauen, zu dem man sich entscheiden kann. Das mag ein Hinweis auf das Statusproblem von Vertrauen sein, eine Antwort findet sich darin nicht. Auch an anderer Stelle ist die Ambivalenz des Vertrauensstatus erkennbar. Luhmann nennt Komplexität das Letztproblem seiner Vertrauenstheorie. Er stellt diese methodisch unter den Titel „funktionale Analyse“ (Luhmann 1968: 2). Vertrauen funktional zu analysieren, heißt aber, es mit Alternativen zu vergleichen. Funktionale Analysen fragen nicht nur nach der Lösung (Vertrauen) für ein Problem (soziale Kom-
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
plexität). Sie erweitern den Blick über faktisch vorkommende Lösungen auf die (in diesem Fall nicht gewählten) Lösungsalternativen. Darin bestehen ihre abstrakte Bezugnahme und ihr Vergleichspotenzial. Schärfer noch: In diesem Vergleich gänzlich heterogener Alternativen sieht Luhmann die methodische Eigenständigkeit der funktionalen Analyse.2 Notwendigkeit und funktionale Analyse beißen sich deshalb.3 Das Problem setzt sich anderer Stelle noch fort: Vertrauen ist für Luhmann steigerbar. Es ist, etwa im Falle persönlichen Vertrauens, ein Prozess, der mehrere Schwellen aufweisen und überwinden kann: Bislang vertraute man bis zu einer bestimmten Grenze, mit einem Mal macht eine Beziehung einen Sprung und ist durch umfassenderes Vertrauen geprägt (Luhmann 1968: 56-58). Vertrauen kann außerdem reflexiv werden: Vertrauen in Vertrauen. Wie beim Lernen des Lernens sind mit der Reflexionsform von Vertrauen Vorzüge verbunden: „Reflexive Mechanismen erweitern das Komplexitätspotential“, der „Effekt [wird] potenziert“ (Luhmann 1968: 85). Wenn Vertrauen ein dynamischvariables, ein steigerbares Phänomen ist, dann wird die Frage nach dem Status von Vertrauen noch einmal angeschoben. Vertrauen als dynamisch-steigerbares Phänomen lässt sich dann nur schwer in der einfachen Form ‚notwendig‘ abhandeln. Ein letzter Hinweis auf das Statusproblem von Vertrauen: Vertrauen wird bei Luhmann einerseits, wie gesagt, als Handlungsengagement, als Entscheidung unter Alternativen verstanden. „Vertrauen reflektiert Kontingenz“ (Luhmann 1968: 29). Trotz des Engagements von Vertrauen lässt sich nicht immer ein Entscheidungspunkt identifizieren, ab dem man sich entschließt zu vertrauen. Ein drastisches Beispiel: Man wurde von einem guten Freund beklaut. Hatte man zuvor eine Entscheidung getroffen, ihm zu vertrauen und ihn deshalb in die Wohnung zu lassen? Offensichtlich hat man ihm vertraut und es mag der Fall sein, dass es zuvor Zeiten gab, in denen man sich kannte, aber noch nicht befreundet war und ihm auch nicht in dieser Weise vertraute. Dennoch: Hat man 2
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Vgl. dazu auch Luhmann 1962: 13: „Sie [die funktionalistische Methode] bezieht Einzelleistungen auf einen abstrakten Gesichtspunkt, der auch andere Leistungsmöglichkeiten sichtbar werden läßt. Der Sinn funktionalistischer Analyse liegt mithin in der Eröffnung eines (begrenzten) Vergleichsbereichs.“ Deshalb lässt sich das Problem auch nicht durch die Unterscheidung von Zuversicht (Systemvertrauen) und personalem Vertrauen lösen – so als wenn Zuversicht notwendig, Vertrauen dagegen kontingent ist. Natürlich kann auch Zuversicht weitgehend entzogen werden, beispielsweise dem Wirtschaftssystem in Krisen. Vgl. zu dieser Unterscheidung von Zuversicht und Vertrauen, die auf einige Resonanz gestoßen ist: Luhmann 1968: Kap. 7. Sowie Luhmann 2001: 147 f.
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DIE SPIELRÄUME VON VERTRAUEN
sich irgendwann angesichts von Alternativen dazu entschieden, ihm zu vertrauen? In vielen Fällen weist Vertrauen weder eine markante Entscheidungssituation auf noch das Betrachten von Alternativen. Luhmann merkt dies selbst an, wenn er schreibt: [So] setzen wir nicht voraus, daß das Risiko und die Gründe des Vertrauens vor dem Verhalten rational abgewogen werden. Vertrauen kann auch unbedacht, leichtsinnig, routiniert erwiesen werden und erfordert insbesondere dann keinen unnötigen Bewusstseinsaufwand, wenn die Erwartungen nahezu sicher sind. (Luhmann 1968: 29)
Doch wie ist dieser (eventuell kontinuierliche) Gegensatz zwischen Vertrauen als Entscheidung und einem Vertrauen, das sich präreflexiv gleichsam ergibt, zu verstehen? Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht darum, dass fungierendes Vertrauen präreflexiv ist – denn das muss es sein, um seine funktionale Leistung zu erbringen – sondern darum, dass die Entstehung, der Gewährungsprozess von Vertrauen in der Aktenlage eher lückenhaft ist, was Entscheidungen zu vertrauen angeht. Das Problem könnte so gelöst werden, dass Vertrauen pluralisiert wird. Es gäbe dann schlicht verschiedene Formen von Vertrauen, in einer Form von Vertrauen bedenkt man Alternativen, bei anderen nicht (Hartmann 2001: 8). So wenig falsch dieser Vorschlag ist, so wenig befriedigt er. Nicht dass Vertrauen nicht vielfältige Formen aufweisen kann, aber um einen Nachweis handelt es sich eben noch nicht. Abbildung 20 fasst die wichtigsten Momente dieses Schwankens zwischen der Notwendigkeit und der Kontingenz von Vertrauen zusammen. Für beide Behauptungen gibt es Gründe. Doch beide Behauptungen oder „Formen“ von Vertrauen sind offensichtlich nicht miteinander in Einklang zu bringen. Meine Vermutung ist, dass die Begriffe notwendig und kontingent hier zu sehr nach Art einer Kippfigur funktionieren: Entweder ist etwas kontingent oder notwendig. Es handelt sich um einen kontradiktorischen Unterschied. Dieses binäre Schema lässt sich auf den Status von Vertrauen nicht anwenden. Meine These im Folgenden lautet demgegenüber, dass Spielräume des Vertrauens bestehen.
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
Abbildung 20: Ist Vertrauen notwendig oder kontingent? Situativ
Welt
Vorausliegend
Entscheidung Reflexion
Vorreflexiv
Alternativen
Kontingent
Alternativlos
Vertrauen
Notwendig
3 . D i e p r a g m a t i s c h e B e d e u t u n g vo n V e r t r a u e n Das Problem des unklaren Status von Vertrauen besteht, wie so oft, in der falschen Alternative. Die Alternative notwendig oder kontingent ist nicht alternativlos, wenngleich sie so erscheint. Die These, die ich im Folgenden zu begründen suche, lautet: Vertrauen ist nicht notwendig, gleichwohl fällt es schwer, darauf zu verzichten, was aber recht weitgehend gelingen mag. Es besteht weder eine transzendentale noch anthropologische Notwendigkeit, aber es bestehen starke pragmatische Gründe zu vertrauen. Wichtige Argumente hierfür liefert David Hume. Humes Beitrag zur Vertrauenstheorie wird zumeist in seinem Erntehelferszenario gesehen, das ähnliche Merkmale wie das Gefangenendilemma aufweist und an dem Hume ein ökonomisches Argument für Vertrauen und Versprechen entwickelt (Hume 1739/40: 262-274). Allerdings wird das Thema Vertrauen von Hume auch an anderer Stelle behandelt, und zwar grundlegender. Am Ende des ersten Bandes seines Treatise of human Nature (1739) erweist sich David Hume nämlich als zutiefst betrübt. Er gleiche einem Reisenden, der mit seinem Schiff bereits auf viele Sandbänke aufgelaufen, beinahe in einer Meerenge Schiffbruch erlitten, nun aber mit eben diesem schwer ramponierten Schiff sich nicht nur auf den riesigen Ozean wagen, sondern sogleich die Erde umrunden wolle – so Humes dramatische Schilderung seines Gemütszustands (Hume 1739: 341). Hume hatte zuvor unter anderem einen glänzenden Angriff auf Kausaltheorien unternommen – und diese versenkt. Was also ist der Grund für seine, 250
DIE SPIELRÄUME VON VERTRAUEN
wie er es nennt, „Melancholie“? Hume spricht vom verloren gegangenen Vertrauen in Erkenntnis, seine früheren Irrtümer machten ihn „misstrauisch für die Zukunft“ (ebd.). Aber nicht nur seine eigenen, sondern die Makel der menschlichen Erkenntnisnatur überhaupt lassen für ihn die Frage aufkommen: „Mit welchem Vertrauen gar kann ich mich auf so kühne [erkenntnistheoretische] Unternehmungen einlassen“? (Hume 1739: 342) Humes Zweifel ruft unter anderem eine Überlegung hervor, welche seine Unterscheidung von Wissen und Wahrscheinlichkeit betrifft. Intuitive oder demonstrative Gewissheit stellt für Hume ein Wissen dar, welches nicht angezweifelt werden kann, unbedingt gewiss ist und daher auch nur in Vernunfterkenntnis gründen kann; exemplarisch sind geometrische Aussagen. Demgegenüber ist Wahrscheinlichkeit lediglich erfahrungsgeprüft (vgl. dazu Hume 1739: 93-98). Humes späte Wendung am Ende des ersten Bandes des Treatise ist, dass sich diese Differenz theoretisch nicht halten lässt. Stets könne ein Irrtum vorliegen. Mögen geometrische Regeln etwa unbedingt sicher und gewiss sein, so können sie dennoch falsch angewendet werden. Um mehr Gewissheit zu erreichen, so Hume, müsste daher „eine Art Statistik aller der Fälle“ erstellt werden, in denen der Verstand täuscht – um im Einzelfall die Irrtumsmöglichkeit (beispielsweise einer bestimmten Person) abschätzen zu können. Doch sobald die Wahrscheinlichkeit eines Irrtum abgeschätzt wird, gerät alles ins Rutschen: „Damit schlägt alles Wissen in bloße Wahrscheinlichkeit um.“ (Hume 1739: 241) Denn die Wahrscheinlichkeit, richtig gerechnet zu haben, kann zwar bei einer besonders geübten und erfahrenen Person sehr groß sein, dennoch gibt es, so Hume, keinen Mathematiker, der „unmittelbar volles Vertrauen“ in seine Rechnung setzte (ebd.). Mit der Wahrscheinlichkeit „wächst sein Vertrauen“ (Hume 1739: 242). Verfolgt man das zugrunde liegende probabilistische Argument nur konsequent, dann löst sich, wie Hume feststellt, Vertrauen im Sinne einer streng kalkulierten Wahrscheinlichkeit auf. Man muss, um zu einer validen Abschätzung zu gelangen, nicht nur die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums abschätzen, sondern auch die Irrtumswahrscheinlichkeit dieser ersten Wahrscheinlichkeitsabschätzung. Aber kann man sich nicht auch dabei geirrt haben? Also muss anschließend wiederum die Irrtumswahrscheinlichkeit jener zweiten Irrtumswahrscheinlichkeitsabschätzung abgeschätzt werden – und so weiter. Eben dies führt für Hume zur Auflösung jeglicher Gewissheit. Der Grund für den Verlust von Vertrauen ist ein grundlegender wahrscheinlichkeitstheoretischer Sachverhalt. Je mehr Wahrscheinlichkeiten aufeinander angewendet (multi-
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
pliziert) werden, desto kleiner ist deren Produkt.4 Mit jeder weiteren präzisierenden und kontrollierenden Reflexionsrunde wächst folglich notwendigerweise das Misstrauen. Die skeptischen Zweifel betreffen auch Kausalität – und damit für Hume eine, wenn nicht die Schlüsselannahme. Denn jegliche Tatsache ist für Hume auf kausale Annahmen bezogen, anders nicht denkbar. Wie kann man mit diesen theoretischen Problemen fertig werden? Gar nicht – und man muss es auch nicht, lautet Humes Pointe. Denn diese und ähnliche Zweifelschleifen, insbesondere jedoch deren drohende Konsequenz, also die Auflösung jeglicher Gewissheit, sind für Hume grober Unsinn. Und das nicht, weil es gute theoretische Gründe gegen solche Zweifel gibt. In der Tat, Hume führt noch viele weitere Gründe an, welche den Zweifel stärken könnten.5 Aber mit Einwänden ist solchen Zweifeln nicht beizukommen, jedenfalls nicht im abgeschlossenen Bezirk theoretischen Denkens, „dort ist es freilich schwer, wenn nicht unmöglich, sie zu widerlegen.“ (Hume 1748: 198) Seine Wendung besteht denn auch in etwas anderem als einem Grund dagegen: Es ist überflüssig, diesen Punkt [die Gründe für Zweifel und Misstrauen] eingehender zu behandeln; dies sind nur schwache Einwürfe. Denn da wir im täglichen Leben jederzeit Denkakte über Tatsachen und Dasein bilden und unmöglich leben könnten, ohne diese Art der Begründung [gemeint sind vor allem Kausalannahmen] dauernd anzuwenden, so können alle populären Einwürfe, die aus ihr geschöpft sind, nicht genügen jene Evidenz zu zerstören. Der große Gegner, der den Pyrrhonismus oder die übertriebenen Prinzipien des Skeptizismus untergräbt, heißt Tätigkeit, Beschäftigung und die Verrichtungen des täglichen Lebens. (Hume 1748: 198)
Die Auflösung der radikalen Zweifel durch die Praxis ist wiederum keine theoretische Wahl oder Entscheidung, sie kann auch nicht theoretisch begründet sein. Zur Praxis kann man sich nicht einfach entscheiden, wiederholt Hume, da es zur Lage des Menschen gehört, dass er handeln, denken und glauben muß, wenn er auch nicht imstande ist, durch die sorgsamste Untersuchung über die Grundlagen dieser Tätigkeiten befriedigende Aufklärung zu erlangen oder die gegen sie erhobenen Einwände zurückzuweisen (Hume 1748: 2000).
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Vgl. Hume 1739: 244 f. – Natürlich gilt das nur, solange sie kleiner eins sind. Aber dann wäre es für Hume wohl auch Wissen, nicht Wahrscheinlichkeit. Vgl. im Treatise: 341-352 und in der Enquiry vor allem 187 f. et passim.
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DIE SPIELRÄUME VON VERTRAUEN
Mit anderen Worten: Das Schiff fährt, weil es kaum anders kann. Auf offener See verschwindet der Sinn der Frage, aus was Wasser besteht und ob und warum es trägt. Es trägt, solange es trägt. Es gibt allerlei theoretische Zweifelmöglichkeiten, sie verlieren sich aber in der Praxis – und gegen diese kann man sich nicht entscheiden, zumindest nicht auf Dauer. Dennoch bleiben für Hume Spielräume, wie das Verhältnis des Aufgehens in der Praxis und der misstrauischen Distanzierung von ihr gestaltet werden kann. Sein bekanntes Plädoyer für einen gemäßigten Skeptizismus zeigt diese Spielräume an. Mal kann man sich mehr naiv überlassen und hinweg geben, mal können die Zweifel überstrapaziert werden, mal sanftere Grade dazwischen gewählt werden. Wobei allerdings eine Asymmetrie besteht: Weitgehendes Misstrauen, vehemente und umfassende Zweifel lassen sich nur schwer zeitlich und sachlich gleichermaßen umfassend aufrechterhalten, weil man doch wieder pragmatisch werden muss. Dazu ist umfassendes Misstrauen in der Regel auch zu ‚kostenintensiv‘, wie Hume am Erntehilfebeispiel erläutert (Hume 1739/40: 262-274). Wir gewinnen damit die Idee eines Vertrauens zwischen bloßer Kontingenz und strenger Notwendigkeit. Misstrauen muss für Hume aufgegeben werden, sofern man nicht auf Praxis überhaupt verzichten möchte. Zwar kann alles theoretischem Misstrauen ausgesetzt werden, aber es bleibt eben ein theoretisches Misstrauen. Wie belastbar ist die an Hume erläuterte Idee, dass Vertrauen asymmetrisch zwischen Notwendigkeit und Kontingenz steht? Testen wir sie. Kann, wie Hume behauptet, auf Vertrauen außer in der fingierenden Theorie nicht verzichtet werden? Um das zu prüfen, wird die Alternative von Vertrauen, nämlich Misstrauen, thematisiert werden müssen. Misstrauen tritt in zwei Formen auf: einerseits als Gewissheit, andererseits im Modus „es-könnte-sein, dass …“. Misstrauen als Gewissheit geht davon aus, dass etwas oder jemand einen schädigen wird, woraufhin man Abwehrmaßnahmen einleitet, wie beispielsweise nicht zu vertrauen, oder gar Gegenmaßnahmen ergreift. Die misstrauische Gewissheit kann – analog zu Vertrauen – nicht auf einem Wissen beruhen. Weiß ich beispielsweise, dass eine E-Mail mit verdächtigem Titel und Absendernamen Malware enthält, weil ich davon in der Zeitung las, so besteht kein Misstrauen – es sei denn, ich zweifele an der Korrektheit der Nachricht. Vermute ich dagegen nur, dass es so kommen könnte, besteht Misstrauen. Das gewisse Misstrauen kann also nicht auf einem Wissen beruhen – woher bezieht es dann aber seine Gewissheit? Ähnlich wie im Vertrauen eine an sich offene Zukunft als die kommende Zukunft betrachtet werden kann, man also ohne Ge253
TECHNIK ALS ERWARTUNG
wissheit davon ausgeht, dass es so und nicht anders kommen wird, und diese Gewissheit eine Folge und nicht die Voraussetzung von Vertrauen ist, so entsteht die Gewissheit als Folge des Misstrauens. Luhmann hat daher Misstrauen als funktional äquivalent zu vertrauen betrachtet: Beide reduzieren Komplexität (vgl. Luhmann 1968: 92-101). Misstrauen im Modus „es-könnte-sein, dass …“ dagegen bleibt im Zweifel, was geschehen wird, es handelt sich um ein Misstrauen einer möglichen Gefährdung. Es könnte sein, dass man geschädigt werden würde, man weiß es nicht, und daher ist man sich unsicher, ob man die E-Mail öffnen sollte oder ins wenig Vertrauen erweckende Flugzeug steigen sollte. Wie weit kann dieses zweifelnde oder gewisse Misstrauen nun gehen? Kann auf Vertrauen gänzlich verzichtet werden? Zunächst scheint es, dass Misstrauen einen Fokus aufweist: Ob es sich um gewisses oder zweifelndes Misstrauen handelt, es hat eine Intention, eine Schädigungshinsicht: eine E-Mail, die einem verdächtig erscheint, ein Flugzeug, dessen schlechter Zustand Argwohn hervorruft. Sofern es sich um ein intentionales Misstrauen handelt, beruht es auf Voraussetzungen, die selbst keinem Misstrauen unterliegen. Man liest von der Gefahr von Mails mit bestimmtem Absender und vertraut dann zumindest der Zeitung. Oder man sieht das Flugzeug oder den Kapitän und zweifelt nicht an seiner Wahrnehmung oder dem eigenen Urteilsvermögen. Zweifelndes Misstrauen kann allerdings nicht nur im intentionalen Fokus auftreten, sondern sich in den Horizont ausbreiten. Man weiß dann gar nicht, was genau wie in welchem Ausmaße droht. Man verhält sich dann wie ein misstrauischer Hund, der bei jeder Bewegung knurrt und winselt. Dieses Misstrauen, das sich über den Horizont ausbreitet, ist unbestimmt. Ein solches Misstrauen ist analog der Angst, die sich nicht zu einem Objekt verdichten kann, sondern diffus bleibt (vgl. Teil A, Kap. IV, Abschn. 1). Die Suche nach den Grenzen des Misstrauens gerät hierbei in kaum noch zu klärende unscharfe Bereiche. Es ist kaum noch entscheidbar, wo unbestimmtes Horizontmisstrauen und noch Restzonen von Vertrauen bestehen. Es gibt hierbei insbesondere ein epistemisches Problem, welches eine weitere Klärung verhindert. Theoretisch arbeitend können wir uns kaum vorstellen, wie weitgehend Horizontmisstrauen sich ausbreiten kann. Zudem ist es eben ein unbestimmtes Horizontmisstrauen. Für die leitende Frage ist dies aber auch nicht entscheidend. Vertrauen als notwendige Form anzusprechen ist nach dem bisher Gesagten entweder falsch oder aber zumindest unpassend. Denn wenn Vertrauen weitgehend suspendiert werden kann, ist es keine notwendige Form. Wird aber eingewandt, dass selbst bei weitgehendem Misstrauen noch 254
DIE SPIELRÄUME VON VERTRAUEN
Restgebiete des Vertrauens bestehen – was meines Erachtens kaum zu entscheiden sein dürfte – so bedeutet dies nicht, dass es angemessen wäre, Vertrauen als notwendig zu bestimmen. Vertrauen geht mit seinem Gegenteil einher, nämlich Misstrauen, zum anderen aber ist es steigerbar, also variabel. Auf ein solches Phänomen passt die Kategorie „notwendig“ schlichtweg nicht. Mit Blick auf diese Argumentationsschritte lässt sich nun angeben, was es heißt, dass Vertrauen weder notwendig noch kontingent ist: Vertrauen ist nicht notwendig, da es gleichzeitig mit einem Überschuss an Horizontmisstrauen bestehen kann und so auf ein unbestimmtes Minimum verringert werden kann. Vertrauen ist nicht kontingent, da die Suspendierung von Vertrauen die geteilte Welt verarmen lässt, es schränkt Handlungsmöglichkeiten drastisch ein, weitgehend zu misstrauen. Zum einen: Weil dann auf viele Formen verzichtet werden muss, die im Vertrauensfall eröffnet werden: Sozialbeziehungen intimer Art, dazu Verträge, Recht, wirtschaftliche und wissenschaftliche Kooperationen. Luhmanns Rede von Vertrauen als Mechanismus hat stets einen Doppelsinn: Es geht um eine Reduktion von Komplexität, welche die Voraussetzung für den Aufbau immenser Komplexität bietet. Zum anderen: Weil man dann damit beschäftigt ist, Gegenmaßnahmen gegen die Gefahr zu ergreifen, was wiederum extrem unökonomisch in einem weiten Sinne ist. Es gibt daher sehr starke pragmatische Gründe, wo möglich auf Vertrauen zu setzen, wie Hume es beschrieben hat. In diesem Sinne möchte ich vorschlagen von Spielräumen des Vertrauens zu sprechen. Horizontvertrauen kann weitläufig oder eng umgrenzt sein, darauf aufbauend können Vertrauensfragen im Fokus stehen: Man ist – auf der Grundlage des Horizontvertrauens – vor die Entscheidung gestellt, zu vertrauen oder nicht. Damit ergibt einerseits ein Zusammenhang zwischen den zuvor auseinanderlaufenden Bestimmungen von Vertrauen. Vertrauen ist zwar nicht alternativlos, aber grundlegend, es ist daher nicht generell entscheidungsabhängig, sondern vorreflexiv, vorausliegend auf Welt bezogen. Und es ist situativ, von Entscheidungen abhängig, reflektiert und weist auf Alternativen hin (vgl. Abb. 20 oben). Statt um konkurrierende, alternative Bestimmungen von Vertrauen handelt es sich um Pole, mit einem gewissen Drall zu den Vorzügen grundlegenden Vertrauens. An den pragmatischen Gründen für Vertrauen wird deutlich, dass es sich um ein grundlegendes Verhältnis handelt, das Spielräume aufweist. Die schwankenden Beschreibungen zwischen einem notwendigen und einem kontingenten Vertrauen sind daher in der Sache begründet –
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
wenngleich man auf die Begriffe notwendig/kontingent verzichten kann oder gar sollte. Die Kontinuität zwischen diesen Polen stellt zugleich eine zweite Kontinuität her, und zwar zwischen Vertrauen in Technik und Vertrauen in Personen. Vertrauen ist nicht notwendig, aber dennoch zu grundlegend, als dass man ohne es auskommen könnte/wollte. Diese pragmatische Bedeutung von Vertrauen ist dem Unterschied Person oder Technik vorgelagert. Vertrauen in Personen wird vor diesem Hintergrund zu einer Spezifikation von Vertrauen. Man kann dann zwar noch immer zwischen Vertrauen in Personen und sich Verlassen auf Technik unterscheiden – das verwischt jedoch die pragmatische, grundlegende Bedeutung von Vertrauen. Vertrauen in Technik ist daher kaum erklärungsbedürftiger als Vertrauen in Personen beziehungsweise: Beidem liegt dieselbe Erklärung zugrunde.
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VI. V E R T R AU E N , V E R T R AU T H E I T , TECHNOLOGIEN
U N S P Ü R B AR E
Vertrauen klingt so ähnlich wie Vertrautheit. Vertrauen und Vertrautheit sind beide häufig in Nahverhältnissen gegeben. Ihr ähnlicher Klang und ihr gemeinsames Vorkommen führen wohl dazu, dass sie zuweilen auch als ähnliche Phänomene verstanden werden (etwa bei Endreß 2001). Vertrauen und Vertrautheit weisen allerdings ein viel komplizierteres Verhältnis zueinander auf. Was ich im Folgenden zeigen möchte, ist: Vertrauen und Vertrautheit 1. haben eine kongruente Erscheinungsform, wodurch ein epistemisches Problem ihrer Unterscheidbarkeit besteht 2. schließen sich aus 3. setzen sich wechselseitig voraus Ich wende mich zunächst dem ersten Punkt zu. Ihre kongruente Erscheinungsform ist eine Folge ihrer identischen Leistung. Vertrauen und Vertrautheit reduzieren jeweils Komplexität. So werden durch Vertrauen die Schadensmöglichkeiten ausgeblendet (vgl. Teil C, Kap. II, Abschn. 2). Vertrautheit lässt das, womit man vertraut ist, unscheinbar werden, bis zur Abstumpfung der Sinne reicht dieser Effekt (vgl. Teil B, Kap. I, Abschn. 1f.). Die Aufmerksamkeit wird dadurch für anderes freigesetzt. Wer vertraut, ist nicht an die Sorge der Enttäuschung gebunden. Wer mit etwas vertraut ist, kann seine Aufmerksamkeit davon abwenden und sich mit anderem beschäftigen: als geübter Radfahrer auf vertrauter Strecke den Blick etwa umherschweifen lassen.
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
Zwar ist Vertrauen an die Bedingungen Risiko und Nichtwissen gebunden, die Leistung von Vertrauen besteht allerdings darin, Risiko und Nichtwissen einzuklammern. Daher verbirgt sich dieser Unterschied zwischen ihnen gewissermaßen von selbst. Neben ihrer identischen Leistung sind es zwei weitere Punkte, die zusammen zum epistemischen Problem führen, Vertrauen und Vertrautheit zu unterscheiden: Vertrauen kann in Vertrautheit übergehen und retrospektiv kann Vertrautheit als Vertrauen erscheinen. Die Geschichte des Fahrstuhls ist für das Zusammenwirken dieser beiden Punkte beispielhaft. Als Gebäude begannen in die Höhe zu wachsen, bot sich die schon bekannte Fahrstuhltechnik an, um die oberen Stockwerke bequem erreichbar zu halten. Mit der Höhe kam natürlich auch die Frage nach der Sicherheit der Fahrtstühle auf. Der Fahrstuhl hing an einem Drahtseil, so dass, wenn dieses riss, er in die Tiefe stürzen würde. Um 1850 entwickelte Elisha Graves Otis eine Sicherheitstechnik, die den Fall verhindert. Ihre Präsentation war spektakulär. Bei einer öffentlichen Vorführung ließ er, während er in einiger Höhe auf einem offenen Aufzug stand, das Seil durchschneiden – nichts passierte. Ein „‚Nichtereignis als Höhepunkt‘“1. Das „Misstrauen gegenüber dem Seil“ sollte von einem Vertrauen in die Sicherheitstechnik aufgefangen werden (Bernhard 2006: 31). Heute wird nach Unfällen mit Fahrstühlen schnell vom „fehlenden Vertrauen, das wir hier wieder herstellen müssen“ gesprochen.2 Allerdings ist fraglich, ob in der Zwischenzeit Vertrauen bestand, das nun verloren ging und daher wieder hergestellt werden müsse. Anfänglich als riskant geltende Technik wie der Fahrstuhl verliert mit zunehmender Vertrautheit und vor allem den ausbleibenden Unfällen seine Risikoprägnanz. Man steigt täglich in den Fahrstuhl, ohne dass etwas passiert. Und wenn etwas passiert, erweist er sich in der Regel auch dabei als verlässlich – man bleibt stecken, ruft den Notdienst und ist zumeist bald wieder befreit (und im nächsten Fahrstuhl). Durch die zunehmende Vertrautheit werden die Vorstellungen um den Fahrstuhl von schlichten Routinen ersetzt. Vertrauen geht derart in Vertrautheit über. Einerseits kennt man den Fahrstuhl mit der Zeit besser, andererseits bleichen Nichtwissen und Risiko mit der Zeit aus. Daher verlieren sich in der Zwischenzeit die Bedingungen von Vertrauen. Kommt nun tatsächlich 1 2
Rem Koolhaas: Delirious New York zitiert nach Bernhard 2006: 31. So ein Mitarbeiter des Unternehmens Schindler, nachdem ein Schindleraufzug in Japan in einen spektakulären Unfall verwickelt war: Ein Junge starb, nachdem sich die Tür des Aufzugs zwar korrekt geöffnet hatte, der Aufzug jedoch plötzlich weiter fuhr, so dass der austretende Junge zerquetscht wurde. Vgl. Neue Züricher Zeitung online vom 13. Juni 2006.
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VERTRAUEN, VERTRAUTHEIT, UNSPÜRBARE TECHNOLOGIEN
ein ernsthafter Unfall vor, springen Risiko und Nichtwissen hervor – und es scheint, als habe man die ganze Zeit über vielleicht zu Unrecht Vertrauen gewährt. Doch Vertrauen bestand in der Zwischenzeit nicht, jedenfalls nicht hauptsächlich, sondern Vertrautheit. Vertrauen mag der Ausgangspunkt gewesen, der durch Gewöhnung in Vertrautheit überging. Erst durch einen Unfall und damit das Aufspringen von Risiko und Nichtwissen wird Vertrauen wieder möglich. Retrospektiv erscheint damit als Vertrauen, was in der Zwischenzeit vor allem Vertrautheit war, die nun durch den Unfall in Frage gestellt ist – sind Fahrstühle wirklich so sicher, wie man sie bislang erlebte? Täuschte man sich nicht vielleicht? Abbildung 21 gibt diesen Verlauf typisiert wieder. Ein hoher Vertrauensbedarf zu Beginn sinkt schließlich dadurch ab, dass sich die Technik im Alltag bewährt und man mit ihr vertraut wird. Risiko und Nichtwissen schwinden; manchmal mag einem ein Gedanke im Fahrstuhl daran kommen, aber dann schon fast wie eine Spielerei. Kommt es dann zu einem Unfall, den man selbst erlebt oder im nahen Umfeld mitbekommt oder wird spektakulär darüber berichtet, treten Nichtwissen und Risiko hervor. Der Vertrauensbedarf steigt sprunghaft an. Der Unfall stellt die Vertrautheit mit der Technik in Frage, die nun anders erscheint, als sie sich zuvor darstellte – als gefährlicher, unkontrollierbarer, unberechenbarer als gedacht wurde. Abbildung 21: Typisierte Darstellung: Vertrauensbedarf/Vertrautheit
Vertrautheit
Vertrauensbedarf
Einführung
Unfall Zeit
Die Antwort auf die Frage, warum Vertrauen und Vertrautheit sich ausschließen, wie zu Beginn behauptet, ist noch offen. Der Vertrauensbedarf ist umso höher, je größer Risiko und Nichtwissen sind. Vertrautheit senkt jedoch tendenziell Risiko und Nichtwissen. Zum einen schon deshalb, weil man mehr weiß, weil etwas, mit dem man vertraut ist, kein diffuses x mehr darstellt; zum anderen, weil der Wunsche mehr zu wis259
TECHNIK ALS ERWARTUNG
sen, als man weiß (Nichtwissen), und das Bedenken von Gefahren, die man eingeht (Risiko), durch Vertrautheit verdeckt werden. Anders formuliert: Wenn etwas Neues diffus gefährlich erscheint und in keiner Weise bekannt ist, ist der Vertrauensbedarf am größten. Diese begrifflichen Überlegungen entsprechen auch vielen technikhistorischen Beobachtungen. Insbesondere Katastrophenszenarien (wie sie beispielsweise mit der Einführung des Computers oder auch des Automobils in Deutschland verbunden waren) werden in der Regel blass, wenn die Technik in den Alltag sickert. Damit ist nichts über ihre Berechtigung ausgesagt, sondern nur der Verlauf beschrieben. Es bedarf dann neuer Erkenntnisse oder aber vor allem: spektakulärer Unfälle, um Risiko und Nichtwissen wieder zu evozieren. Dieser Gegensatz von Vertrauen und Vertrautheit erläutert auch, warum Vertrauen in Vertrautheit übergehen kann und warum das eine Prämisse des anderen ist. Sofern Vertrautheit aufgebaut wird, schwinden in der Regel sowohl Risiko als auch Nichtwissen und damit Vertrauen. Dennoch ist Vertrauen Prämisse für Vertrautheit, denn anders kann diese kaum aufgebaut werden. Man muss sich trauen, mit einer Sache umzugehen, um mit ihr vertraut zu werden. Auch wenn Vertrauen dann mehr oder weniger durch Vertrautheit getilgt wurde, ist sie es, wovon die Vertrautheit ausging. Umgekehrt ist Vertrautheit allerdings auch Prämisse von Vertrauen. Denn allzu hoher Vertrauensbedarf kann durch (wenn auch noch so geringe) Vertrautheit entlastet werden. Der Vertrauensbedarf wird geringer, sofern Vertrautheit besteht, wodurch die Vertrauensbereitschaft gesteigert wird. Vertrautheit entlastet also Vertrauen. Eine Reihe moderner Technologien entfaltet Wirkungen unterhalb der natürlichen Wahrnehmungsschwelle oder die Technik selbst ist miniaturisiert und daher nicht wahrnehmbar. Radioaktive Strahlung wird erst durch Messgeräte „sichtbar“, herkömmlicher und genetisch veränderter Mais unterscheidet sich weder im Aussehen noch im Geschmack, miniaturisierte Informationstechnik fällt zuweilen kaum mehr auf, Nanotechnik ist per definitionem unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Kann zu diesen Technologien Vertrautheit aufgebaut werden, die Vertrauen entlastet? Diese Frage führt zur Vorfrage, was genau an diesen Technologien anders ist hinsichtlich der Möglichkeit, mit ihnen vertraut zu werden. Dass Technik aufgrund von Miniaturisierung nicht wahrgenommen werden kann, ist historisch nicht gänzlich neu, da in der Neuzeit die Natur insgesamt als aus Maschinen bestehend gedacht wurde, die nur zu kleinteilig sind, als dass der Naturforscher sie gänzlich verstehen könnte (vgl. Descartes 1637: V, §9 sowie 1644: IV, §§201-204). Es ist auch nicht das Problem. Denn sowohl Vertrautheit als Vertrauensbedarf kön260
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nen prinzipiell nicht mit Blick auf das Innere der Black Box entstehen. Gleichgültig was in der Black Box passiert, es ist eben in der Black Box und interessiert deshalb weder bei mechanischer Technik noch bei Informations- oder Nanotechnik (sofern letztere überhaupt noch über eine Black Box verfügt). Vertrautheit und Vertrauen richten sich auf den Output, die Beziehungen, die zwischen Black Box und Umwelt bestehen. Denn die Vertrautheit besteht wesentlich aus Interaktionsroutinen. Lässt man jene Outputbeziehungen beiseite, in denen der Output einer Maschine der Input für eine andere Maschine ist, wäre Technik, deren Output gänzlich unmerklich wäre, in der Tat neu, aber auch sinnlos. In irgendeiner Weise muss Technik erfahren werden können. Sie muss schließlich irgendetwas ändern, neu einführen oder verbessern. Das gilt für nanotechnisch behandelte Farben, für gentechnisch veränderte Tomaten wie für intelligente und kontextsensitiv gesteuerte Heizungen. Es ist also nicht jeglicher Output unmerklich. Dabei handelt es sich allerdings um Wahrnehmungsspitzen. Derartige Technologien können über längere Zeit hinweg unmerklich wirken und nur bestimmte Spitzen von ihnen überschreiten die Wahrnehmungsschwelle. An den neuen Technologien ist daher anders, dass mehr Output unmerklich ist und zudem auch nicht erkennbar ist, ob eine neue Technologie vorliegt und daher mit diesem verborgenen Output gerechnet werden muss. An dieser Stelle kommt dann wiederum die Bedeutung der Black Box ins Spiel. Denn wenn auch das Innere der Black Box bei klassischen Technologien der Wahrnehmung entzogen war, so war zumindest die Black Box als Black Box erkennbar. Die Black Box selbst ist nun „white“, das heißt: sie ist transparent (im Sinne von vollständig durchlässig) geworden, sie kann nicht mehr als Black Box erkannt werden. Zuvor konnte das Design von Technik die Black Box nutzen, um Vertrauenswürdigkeit zu stiften und Vertrautheit zu unterstützen. Dies fällt nun weg. Der Output ist ferner eher selten eine Interaktionsroutine. Zumindest trifft dies weder auf genetisch veränderte Lebensmittel, auf Atomtechnik, noch auf Nanotechnik zu. Abbildung 22 fasst diese Unterschiede zusammen. Die Frage ist, was das für den Vertrauensbedarf neuer Technologien und die Möglichkeit, Vertrautheit aufzubauen, bedeutet. Die Möglichkeit, mit solchen Technologien vertraut zu werden, ist von vollkommen anderer Art als beim herkömmlichen PC, beim Auto oder beim Kühlschrank. Vertrautheit kann hier kaum etwas anderes heißen, als die vertraute Kenntnis, dass es solche Technologien gibt. Das hat Folgen für den Vertrauensbedarf. Denn Vertrauen kann nun nicht mehr – oder zumindest nicht mehr in dem Maße – durch Vertrautheit entlastet werden. Ob es funktionale Äquivalente gibt, die an die Stelle von Vertrautheit treten, ist allerdings offen. Wenn nicht, erklärt es, wieso der Vertrauens261
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bedarf hier so groß zu sein scheint – jenseits der gesteigerten Schadenspotenziale. Technik gewinnt dann eine Form der Unheimlichkeit. Sie verdichtet sich nicht zu einem prägnanten Objekt mit klaren Gefährdungshinsichten. Im Abschnitt zur Angst (Teil A, Kap. IV, Abschn. 1) wurde dieses Phänomen bereits diskutiert. Abbildung 22: Was ist anders an neuen Technologien hinsichtlich der Möglichkeit zu Vertrautheit und Vertrauen?
Die Black Box selbst ist der Wahrnehmung entzogen (nicht nur ihr Inneres)… Der spürbare Output stellt seltener eine Interaktionsroutine dar … wie auch Input und Output
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VII. Z W I S C H E N F AZ I T : V E R T R AU E N , V E R T R AU T H E I T , P O T E N Z I AL
Nachdem nun drei Formen technischen Erwartens zur Darstellung gebracht wurden, wird der Zusammenhang zwischen ihnen zunehmend erkennbar Tabelle 8 stellt ihn kompakt zusammen. Vertrauenserwartungen und auch Misstrauenserwartungen stellen Antworten auf Potenzialerwartungen dar. Da Potenzialerwartungen die Erwartung eines radikalem Verlusts an Vertrautem sind und Vertrautheit Vertrauen (ausschließt und dabei) entlastet, ergibt sich gewissermaßen als zwingender Schluss der Vertrauensbedarf, den neue Technologien hervorrufen. Da Vertrautheit allerdings auch im Alltag schwinden kann (eine Technik verhält sich vollkommen anders als erwartet, bei einem Unfall wird vertraute Technik fremd und neu „erfahren“), sind Vertrauenserwartungen nicht auf neue, als potenzialreich geltende Technologien begrenzt; wenngleich hier Risiko und Nichtwissen und daher Vertrauensbedarf in der Regel am größten sind. Damit komme ich gleich zum letzten der vier Teile: Technik als Funktionierbarkeitserwartung. Es geht nun um eine zentrale Prämisse von Technisierung. Da hierzu bislang kaum Vorarbeiten unternommen worden sind, kann ich nur einige wenige Proben und Umrisse anbieten.
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TECHNIK ALS ERWARTUNG
Tabelle 8: Potenzial-, Vertrautheits-, Vertrauenserwartungen Potenzialerwartung Neue, fremde, wunderbare Technologien Erwartete Auflösung des Vertrauten wird zum Thema. Vertrautes steht in Frage Kontingenz, Kontingenzdynamik, Hyperkontingenz Ausschließlich in Kommunikationen, Visionen, Bildern, Szenarien Bringen Risiko und Nichtwissen hervor durch den erwarteten Abbau des Vertrauten Entlastung durch Vertrautheit Prämisse und Ausschluss von Vertrautheit Pragmatische Gründe für Technikvertrauen (Nichtwissen) (Risiko) Neue und bekannte, aber erneut fremd gewordene Technik Vertrauenserwartung
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Vertrautheitserwartung Alltagstechniken Entzieht sich selbst der Thematisierung und daher Fraglichkeit Ausklammerung von Kontingenz (obgleich kontingent) Ausschließlich in der technischen Praxis Trivialisierung als Habitualisierung steigert die Möglichkeit technologischer Potenziale
T EIL D T ECHNIK ALS F UNKTIONIERB ARKEITSERW ARTUNG
I. W AS S I N D F U N K T I O N I E R B AR K E I T S E R W AR T U N G E N ?
Pronouncements of experts to the effect that something cannot be done have always irritated me. (Leo Szilard, Physiker, 1922 – später beteiligt am Manhattan-Projekt)
Fragt man sich, was Funktionierbarkeitserwartungen sind, dann könnte man an die Exploration eines Möglichkeitsraumes, an eine QuasiMachbarkeitsstudie denken, wie sie der renommierte Physiker Richard Feynman in seinem Vortrag „There’s Plenty of Room at the Bottom“ (1959) unternimmt. Feynman lotet darin die Möglichkeit einer neuen Technologie aus: der Nanotechnologie. Sein Text ist Ausdruck der Möglichkeitserwartung dieser Technologie: „In the year 2000, when they look back at this age, they will wonder why it was not until the year 1960 that anybody began seriously to move in this direction.“ (Feynman 1959: 1) Die Frage nach der Machbarkeit der Nanotechnologie ist für Feynman die Frage, ob prinzipiell die Gesetze der Physik gegen ihre Realisierbarkeit sprechen. Seine Antwort lautet: „The principle of physics, as far as I can see, do not speak against the possibility of maneuvring things atom by atom.“ (Feynman 1959: 11) Den gesamten Text durchzieht diese Möglichkeitserwartung der Nanotechnologie: „note the possibility“, „a very interesting possibility“, „one weird possibility“, „it is a possibility“ oder „it is not impossible“, „an enormously greater range of possible properties“, „new opportunities“, „we can expect to do different things“ lauten Feymans prospektive Ausrufezeichen (Feynman 1959: 7, 8, 10).
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Die sich in Feynmans Text bekundende Möglichkeitserwartung könnte als Ausdruck einer Potenzialerwartung oder einer Vertrauenserwartung verstanden werden. Feynman stellte dann das ungeheure Potenzial, welches mit der Nanotechnologie verbunden ist, in Aussicht – im Vertrauen, dass katastrophale Schädigungen ausbleiben. Das trifft auf Feynmans Text auch zu, in der Tat finden sich Potenzialerwartungen. Feynman nennt eine Reihe der erwarteten Potenziale, welche mit der Realisierung der Nanotechnologie verbunden wären: eine neue Art von Minicomputern und Minimaschinen (auch im medizinischen Anwendungsfeld), eine neue Informatisierung von Welt, insofern Information dann den Raum durchdringen könnte (man könnte, so Feynman exemplarisch, alle je geschriebenen Bücher mitsamt Bildern unvercodet in einem Heft in der Hand herumtragen). Die mit der Nanotechnologie verbundene Möglichkeitserwartung aber ausschließlich als Potenzial- oder Vertrauenserwartung zu verstehen, verdeckt, dass es noch eine andere Form technischen Erwartens in diesem Text gibt, die fast noch zentraler ist. Feymans Text ist ein Paradigma einer Funktionierbarkeitserwartung: einer Erwartung, dass sich etwas, das bislang nicht geht, machen lässt. Potenzial- und Vertrauenserwartungen sind Funktionierbarkeitserwartungen sehr ähnlich, daher werden sie leicht mit ihnen vermengt. Um die Spezifizität dieser Erwartungsform zu verdeutlichen, hilft daher vielleicht noch ein weiteres Beispiel. Es geht darin um eine Tüftelei. Sie findet sich in einem Brief von Thomas David an Edison vom 11. Juli 1877. David, der Präsident der Central District and Printing Telegraph Company of Pittsburgh, tüftelte am Telefon. In seinen Versuchen, die er mit einem Prototyp von Alexander Graham Bell unternimmt, tritt ein Problem auf: The greatest difficulty is the interference from other lines, and from earth currents – If we attempt to use it on poles where there are a great many wires, we have a sound like frying fat which drowns the articulations – I yesterday tried the experiment on a single, independent wire, ten miles long – The articulations were perfect, but we had some trouble from the frying tho’ mark you, the line was on seperate poles and away from other lines – we tried the same experiment on the same line the day before with better results, there being less frying. (Edison 1994: 430)
Wie solche Störgeräusche vermieden werden können, ist noch nicht gelöst, das Telefon funktioniert nicht richtig. Der nächste Satz ist in unserem Zusammenhang von größter Bedeutung, obgleich er von geradezu unscheinbarer Selbstverständlichkeit ist: „I propose to try now a metalic circuit in amongst our other wires and see, to what extent we can over268
WAS SIND FUNKTIONIERBARKEITSERWARTUNGEN?
come the frying.“ (ebd.) Der Brief berichtet von einem Scheitern, das ganz unausdrücklich als nur vorläufiges Scheitern den beiden Briefpartnern gilt. Sie erwarten, dass, wenngleich die Technik momentan nicht funktioniert, sie doch zum Funktionieren gebracht werden kann. Was hier so banal erscheint, ist ein entscheidender Zug technisierter Gesellschaften: Es wird trotz aktueller Probleme die technische Funktionierbarkeit erwartet. Mit Funktionierbarkeitserwartungen wird eine neue, andersartige technische Erwartung zum Thema. Es ist nicht leicht, die Spezifik und Eigenständigkeit von Funktionierbarkeitserwartungen zu treffen. Denn sie ähneln Vertrauens- und Potenzialerwartungen – und sie verbinden sich mit ihnen, sie fungieren gemeinsam. Funktionierbarkeitserwartungen sind dort anzutreffen, wo Technik nicht funktioniert, aber die Gewissheit besteht, dass sie zum Funktionieren gebracht werden kann. Deshalb spreche ich von Funktionierbarkeitserwartungen, nicht von Funktionserwartungen. Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Das Auto springt nicht an. Man beugt sich über die Motorhaube, prüft, ob die Batterie aufgeladen ist, die Zündkerzen in Ordnung sind. Oder: Man sucht nach einer Möglichkeit eine Lampe aufzuhängen, ohne dass man über das entsprechende Werkzeug verfügt und improvisiert sich etwas aus dem, was gerade vorhanden ist. Oder in einer ganz anderen Größendimension: Bislang ist es nicht gelungen, eine stabile Kernfusion zu erreichen. Aber man erwartet, dass dies möglich ist, führt Versuche durch, sortiert Probleme und ihre mögliche Lösung. „Ich wage es zu prophezeien, daß innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte eine Methode gefunden wird, thermo-nukleare Energie in gebändigter Form freizusetzen.“1 Was sich hier ausdrückt, ist nicht allein das Potenzial dieser Technologie, dieses wird schon vorausgesetzt, und auch nicht das Vertrauen in das Ausbleiben von Schädigungen, sondern eine Funktionierbarkeitserwartung. Die Beispiele – von der Nano- und Atomtechnologie über das Tüfteln am Telefon bis zum Reparieren des Autos – verdeutlichen die enorme Spannbreite von Funktionierbarkeitserwartungen. Sie fungieren sowohl beim kleinen Werkeln, beim Reparieren und Tüfteln als auch beim großtechnologischen Erfinden und Entwickeln.
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Der Physiker Homi Bhaba zur Möglichkeit technisch erzeug- und nutzbaren Kernfusion, zitiert nach Müller 1960: 194. 269
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1. Eigenständigkeit und Funktion von F u n k t i o n i e r b a r k e i t s e rw a r t u n g e n Funktionierbarkeitserwartungen sind von Funktionserwartungen verschieden. Ein Indiz für ihren Unterschied ist ihre logisch voneinander unabhängige Negierbarkeit. Funktionserwartungen können negiert werden, ohne dass Funktionierbarkeitserwartungen dadurch mit negiert werden. Es gibt keine logische Notwendigkeit und Implikation. Man erwartet nicht, dass etwas funktioniert, aber man erwartet, dass man es zum Funktionieren bringen kann. Dazwischen besteht kein Widerspruch. Zwischen beiden Erwartungen besteht jedoch auch kein kontradiktorisches Verhältnis: Funktionierbarkeitserwartungen können zwar nur dann gegeben sein und einspringen, wenn Funktionserwartungen nicht gegeben sind – oder aber wenn sie unsicher sind. Sie müssen aber nicht. Es kann auch sein, dass etwas nicht funktioniert und auch nicht erwartet wird, dass es funktionieren könnte. Daher besteht auch kein kontradiktorisches Verhältnis zwischen beiden. Dabei ist mit Blick auf die Funktionserwartungen die Leistung der Funktionierbarkeitserwartung faszinierend. Sie mildern Enttäuschungen. Man könnte sagen: Funktionierbarkeitserwartungen rechnen mit der Enttäuschung, sie erwarten sie – ohne dass sie darin ihre Erfüllung fänden. Die Zündkerzen auszuwechseln brachte keinen Erfolg, das führt aber nicht dazu, dass man nun glaubt, der Wagen sei nicht mehr zum Fahren zu bringen. Die Kernfusion ist nicht länger als 1 bis 2 Sekunden lang stabil gewesen, aber man erwartet deshalb nicht, dass sie nicht dauerhaft stabilisierbar ist. Im Gegenteil „wird man sich über die prinzipielle physikalische und technische Machbarkeit der Fusion klargeworden sein.“2 Man erwartet geradezu Probleme, Scheitern, Misserfolge und erwartet genau deshalb: „Angesichts der nötigen Planungs-, Bau- und Betriebszeiten von jeweils 20 Jahren könnte ein Fusionskraftwerk also etwa in der Mitte des nächsten Jahrhunderts wirtschaftlich nutzbare Energie liefern.“ (Ebd.) Funktionierbarkeitserwartungen erscheinen wie ein Sonderfall von Vertrauenserwartungen. Ihre Gemeinsamkeit besteht in der Unterstellung eines glücklichen Ausgangs. Allerdings bestehen deutliche Differenzen. Ihre Leistung liegt weniger, mit Luhmann gesprochen, in einer Reduktion von Komplexität, welche neue Möglichkeiten und insofern neue Komplexität eröffnet, als in einer Enttäuschungsresistenz. Vertrauenserwartungen sind sensibel für Indizien möglicher Enttäuschung. Das
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Klaus Pinkau, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Plasmaphysik (IPP), zitiert nach Müller 1960: 220.
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WAS SIND FUNKTIONIERBARKEITSERWARTUNGEN?
Ausmaß der Sensibilität variiert; würde jedoch jedes Indiz genügen, wäre die Leistung von Vertrauen gefährdet. Man müsste daher schon von einem blinden Vertrauen im Falle von Funktionierbarkeitserwartungen sprechen, die ganz offen – nicht bloß indizienhaft – mit Enttäuschungen konfrontiert werden. Zudem – anders als im Vertrauensfall – erwarten sie diese ja geradezu. Und schließlich ist Riskanz keine konstitutive Bedingung für Funktionierbarkeitserwartungen, anders als für Vertrauen. Es mag beispielsweise ökonomische Risiken geben, welche die kostenintensive Entwicklung einer Technologie begleiten, Funktionierbarkeitserwartungen können dann den Vorzug haben, auch durch schwierige Phasen zu führen und vor Entmutigung bei Großprojekten zu schützen. Beim Werkeln und Tüfteln sind allerdings Risiken häufig kaum gegeben, es kann sogar ganz risikofrei sein, dennoch bestehen hier eindeutig Funktionierbarkeitserwartungen. Die Enttäuschungsresistenz dieser Erwartung macht – wiederum funktional gesehen – Technik auf einer anderen Ebene robust. Technik hört nicht auf Technik zu sein, wenn sie kaputt ist oder nicht geht. Ein Radio bleibt ein technisches Gerät, auch wenn es defekt ist. Das ist ein geradezu selbstverständlicher Sachverhalt. Er überrascht aber, wenn man bedenkt, dass Funktionieren als eine Art konstitutives Merkmal von Technik betrachtet wird. Eine Technik, die nicht funktioniert, dürfte deshalb eigentlich keine Technik sein; wie etwa landläufig ein Lebewesen nicht mehr als Lebewesen verstanden wird, wenn es aufgehört hat zu leben. Technik ist also nicht das Synonym für das Eindeutige, Exakte, Funktionale. Das heißt aber: Die Grammatik von Technik wird als viel zu bestimmt gedacht, wenn angenommen wird, dass die „differentia specifica“ von Technik darin bestehe: zu funktionieren. Technik gewinnt so jenseits von technischen Zusatzeinrichtungen, welche vor Funktionsausfall schützen sollen, einen viel wirksameren Schutz. Funktionierbarkeitserwartungen machen sie robust gegen Funktionsausfälle, gegen Defekte und Scheitern. Technik ist durch Funktionierbarkeitserwartungen tiefer liegend technisch. Überspitzt könnte man sagen: Die störanfällige Technik erweist sich – und dies ist die Pointe der Funktionierbarkeit – als materiell nicht ohne weiteres zerstörbar. Eine weitere Leistung von Funktionserwartungen wird deutlich, vergleicht man sie mit zwei anderen Erwartungsformen, nämlich kognitiven und normativen Erwartungen. Beide sind von Luhmann in einem ähnlichen Funktionsgefüge angesiedelt, sie betreffen „die Möglichkeiten der Steigerung von akzeptierter Unsicherheit und damit Möglichkeiten, mehr Erwartungen erwartbar zu machen und unwahrscheinlicheren Erwartungen eine strukturierende Funktion zu geben. […] Die Modalisierung betrifft das Sicherheits/Unsicherheitsproblem direkt, nämlich die 271
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Frage, wie man sich im Enttäuschungsfalle verhalten kann.“ (Luhmann 1984: 436) Das ist keineswegs, so Luhmann, für alle Erwartungstypen geregelt, viele Alltagserwartungen sind so stabil und grundlegend, dass nicht feststeht, wie man mit ihrer Enttäuschung umgeht. Tritt jedoch historisch, so Luhmann weiter, ein Bedarf nach unwahrscheinlicheren Erwartungen ein, nach Erwartungen, welche Unsicherheit miterwarten, dann kann dies nicht mehr einfach offen gehalten werden. „In die Erwartung wird [dann] eine Vorwegdisposition für den Enttäuschungsfall eingebaut. Das gibt […] der Erwartung zusätzliche Stabilität. So kann man in technischen Vorkehrungen […] gegenwärtig schon Sicherheit schaffen dafür, daß man im Enttäuschungsfalle nicht hilflos dasteht“ (Luhmann 1984: 436 f.). Die Spezifik dieser Erwartungstypen liegt also darin, vom Enttäuschungsfall auszugehen. Was heißt das aber nun: vom Enttäuschungsfall ausgehen? Luhmann sieht zwei Möglichkeiten, mit Enttäuschungen umzugehen. Das Unsichere, die Enttäuschung, wird vielmehr so behandelt, als ob es sicher wäre, und die Frage ist dann: ob man in diesem Falle die Erwartung aufgeben oder ändern würde oder nicht. Lernen oder Nichtlernen, das ist die Frage. Lernbereite Erwartungen werden als Kognitionen stilisiert. Man ist bereit sie zu ändern, wenn die Realität andere, unerwartete Seiten zeigt. Man hatte gedacht, der Freund sei zu Hause, aber er nimmt das Telephon nicht ab: Also ist er nicht zu Hause. Man muß davon ausgehen und für diese Sachlage das nächstsinnvolle Verhalten suchen.
Das ist die eine Möglichkeit, auf Enttäuschungen zu reagieren: kognitiv – man lässt von der entsprechenden Erwartung ab. Eine andere besteht darin, auf ihr zu beharren. Solch lernunwillige Erwartungen [werden] als Normen stilisiert. Sie werden auch im Enttäuschungsfalle kontrafaktisch festgehalten. Man erfährt später, daß der Freund doch zu Hause war, aber sich nicht stören lassen wollte. Oder: Er hatte zugesagt, zu Hause zu sein und auf den Anruf zu warten. Dann sieht man keinen Anlaß, seine Erwartungen zu revidieren, weil man auf Telephonabnahmebereitschaft und erst Recht auf Zusagen nicht verzichten möchten. Man fühlt sich im Recht und läßt das den Freund spüren. Er wird nach einer Entschuldigung suchen, die die Erwartung reetabliert. (Luhmann 1984: 437)
Die normalen Funktionsausfälle von Technik können entsprechend dieser Luhmann’schen Differenz kognitiv oder normativ bewältigt werden – und häufig wohl auf beide Weisen zugleich: Man reklamiert den Defekt und man verwendet zugleich Alternativen, etwa bis ein Ersatz wie272
WAS SIND FUNKTIONIERBARKEITSERWARTUNGEN?
der zur Verfügung steht. Man schaltet um auf die von Luhmann oben angeführten „technischen Vorkehrungen“, verwendet einen Ersatz. Es ist aber offensichtlich, dass kognitive oder normative Stilisierungen nicht die einzigen Möglichkeiten sind, Enttäuschungen handhabbar zu machen. Funktionierbarkeitserwartungen stellen einen anderen Typus dar, der an diesem Problem ansetzt. Bei ihnen geht es nicht um technische Ersatzvorrichtungen, sondern um Forschung und Entwicklung oder Tüfteln und Werkeln. Funktionierbarkeitserwartungen haben nun Anteile von normativen und kognitiven Erwartungsstilen – und sie unterscheiden sich von beiden. Mit normativen Erwartungen teilen sie sich die Kontrafaktizität. Sie halten an der Erwartung fest, relativ unabhängig von der Realität. Dennoch sind sie darin nicht normativ. Es gibt keine Adressierung von Enttäuschung oder das Bewusstsein, im Recht zu sein. Und es ist mehr als fraglich, ob es überhaupt eine entsprechende Enttäuschung gibt – unabhängig vom Fehlen ihres Adressaten. Denn dieser Erwartungstyp rechnet mit Enttäuschungen. Das tun normative Erwartungen zwar auch, sie können es sich aber nur anders, zumeist schlechter eingestehen – obgleich sie ja (nur) deshalb existieren.3 Zugleich sind Funktionierbarkeitserwartungen aber hochgradig lernbereit. Das haben sie mit kognitiven Erwartungen gemein, oder: insoweit sind sie kognitiv. Erwartungen darüber, wie etwas zum Funktionieren zu bringen sei, werden im Enttäuschungsfalle aufgegeben. Vermutete Problemlösungen werden fallen gelassen, sobald sie sich als unbrauchbar erweisen. Die Enttäuschungserfahrung wird ernst genommen – aber nicht bitter. Weil sie von einer generellen Erwartung übergriffen bleibt, dass Erfüllung zu erreichen sein wird. Die Erwartung bleibt lernbereit, aber nur bis zu dem bestimmten Punkt, an dem sie kontrafaktisch ist: Die generelle Erwartung, dass es nämlich möglich sei, etwas zum Funktionieren zu bringen, lässt sie sich von Enttäuschungserfahrungen nicht ausreden. Hochsensibel für Wirklichkeitseffekte, insbesondere Enttäuschungen – und zugleich kontrafaktisch, enttäuschungsresistent, gleichgültig ge3
Hierin liegt eine interessante Paradoxie oder Illusio im Sinne Bourdieus. Erwartungen wie insbesondere das Recht werden unter der Voraussetzung des Enttäuschungsfalls gebildet, sie müssen aber vorweg so tun, als wenn er nicht vorkommen würde. Zur Prüfung: Man stelle sich vor, bei einem Gesetzerlass würden Prognosen mitgeteilt, wie oft das entsprechende Gesetz wohl in der Folge überschritten werden wird. Obgleich ja klar ist, dass genau das der Fall sein wird und es nur wegen eines faktisch vorkommenden, aber für sanktionierungswürdig erachteten Verhaltens das Gesetz gibt. Diese Paradoxie oder Illusio tritt bei Funktionierbarkeitserwartungen nicht auf. Sie können offen ihre Erwartung des Scheiterns mitteilen. 273
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genüber einer Realität, die scheitern lässt. In dieser Mischung liegt der erstaunliche Vorzug von Funktionierbarkeitserwartungen. Sie sind sensibel und robust zugleich, feinfühlig und zäh ausdauernd. Das macht sie geeignet, Technologieentwicklungen anzuleiten. Denn offensichtlich ist beides hierbei in hohem Maße gefordert. Funktionierbarkeitserwartungen spielen unverkennbar eine wichtige Rolle für die Ausbildung von Potenzialerwartungen. Die Realisierung von Potenzialen ist nur denkbar, wenn die Überzeugung gegeben ist, dass sie zum Funktionieren gebracht werden können. Im Grunde genommen ist diese Formulierung sogar falsch, weil die Verbindung enger ist. Potenzialerwartungen zu haben, heißt, an ihre Funktionierbarkeit zu glauben. Andernfalls handelt es sich weder um Potenziale, noch werden diese erwartet. Dennoch ist durch Funktionierbarkeitserwartungen in keiner Weise festgelegt, um welche Potenziale es sich handelt. Mehr noch: Diese Implikation ist nur einseitig, Potenzial- setzen Funktionierbarkeitserwartungen voraus, nicht umgekehrt. Denn Funktionierbarkeitserwartungen müssen nicht auf die Erschließung von Potenzialen gerichtet sein. Funktionierbarkeit kann sich, wie bereits dargestellt, ebenso auf kleine Tüfteleien und Werkeleien beziehen: Wie improvisiere ich eine Lösung für das „Problemchen“ mit der nicht offen bleibenden Balkontür, dem kaputten Radio usw. Funktionierbarkeitserwartung ist also eine grundlegende Form mit großem Spannungsbogen, sie reicht vom Tüfteln und Reparieren bis zur Technologieentwicklung. Damit wird die Historizität dieser Erwartung zur Frage. Sie mag zwar (aktuell) grundlegend (geworden) sein, aber sie ist nicht überhistorisch. Dazu mehr im folgenden Abschnitt.
2 . F u n k t i o n i e r b a r k e i t a l s E rw a r t u n g technisierter Gesellschaften Funktionierbarkeitserwartungen sind keine ahistorische Erwartungsform. Im Gegenteil, sie stellen, so die These, eine ungemein moderne Erwartung dar, so dass sich technische Gesellschaften gerade an ihnen erkennen lassen. Gab es sie aber nicht schon immer? Gehören sie nicht zu den allgemeinen Bedingungen menschlichen Handelns und dessen Gelingens? Die These meint nicht, dass es zuvor nie Funktionierbarkeitserwartungen gab oder geben konnte, sondern dass in den letzten Jahrhunderten diese Form des Erwartens eine erhebliche Steigerung erfahren hat, und zwar sowohl in ihrer Intensität als auch in ihrem Umfang, das heißt dem, was als funktionierbar gilt. Ich versuche dies in einigen Punkten zu präzisieren. 274
WAS SIND FUNKTIONIERBARKEITSERWARTUNGEN?
(1) Nicht jeder Umgang mit Enttäuschungen besteht in einer Funktionierbarkeitserwartung. Nur dann würde jedes Handeln eine Funktionierbarkeitserwartung implizieren, wenn es immer ein Funktionieren voraussetzte. Der jeweilige Weltbezug kann jedoch auch anders ausfallen. Gibt es ein Kriterium, um das festzustellen? Funktionierbarkeit kann nur dort gegeben sein, wo etwas auch nicht funktionieren kann. Wird daher ein Bereich etwa als ausschließlich organisch, poetisch, moralisch, als eigensinnig oder als evolutionär verstanden, dann gibt es dort kein Funktionieren. Funktionieren in seiner starken Fassung setzt die Möglichkeit voraus, dass etwas kaputt sein kann, in seiner schwachen, dass eine Leistung nicht erfüllt wird und die Gründe dafür im jeweiligen Gefüge selbst liegen und nicht außerhalb (Wille Gottes, Zufall) sowie dass in dieses Gefüge interveniert werden kann, um seine Leistung zu verändern. (2) Zwar lässt sich Funktionierbarkeit als Distinktionsmerkmal für technische von nichttechnischen Gesellschaften verwenden, dennoch handelt es sich dabei nicht um eine digitale Zäsur; es gibt also nicht nur den Unterschied funktionierbar/nichtfunktionierbar. Funktionierbarkeit ist ein Steigerungskonzept, es gibt also auch ein mehr oder weniger. Die Intensität der Erwartung und der Umfang dessen, worauf sie sich bezieht, sind steigerbar. (3) Die gesteigerte Intensität ist an der Robustheit gegenüber Enttäuschungen zu erkennen. Auch ein Scheitern über viele Jahrzehnte hinweg wird (Beispiel Kernfusion) in der Moderne in Kauf genommen. (4) Die Steigerung hinsichtlich des Umfangs lässt sich an der Ausweitung der Gegenstandsbereiche erkennen. Recht heterogene Bereiche lassen sich als technisierbar denken: Materielle Gefüge, Kommunikationen, Fortbewegung, Organisationen, Menschen, Lernen, Geschichte, Gesellschaft usw. (5) Historisch ist nicht nur die Erwartung, sondern auch der Umgang mit Enttäuschungen. Sicherlich haben auch Funktionierbarkeitserwartungen ihre Grenzen der Enttäuschbarkeit, jedoch sind diese historisch bestimmt. Ab wann eine Enttäuschung die Erwartung kippen lässt, dass etwas funktionierbar ist, hängt nicht von der Sache alleine ab. Der Grund hierfür ist einsichtig: Funktionierbarkeitserwartungen immunisieren gegen Enttäuschungen. Daher kann die Frage, ab wann Erwartungen fallen gelassen und verworfen werden, nicht durch ihre Enttäuschung allein bestimmt sein. (6) Dennoch haben Erfüllungserfahrungen, gerade nach zähem Ringen, eine steigernde Wirkung. Technologieerfolgsgeschichten gehören hierher, gerade in ihren langen Linien: ‚So lange träumte die Menschheit den Traum vom Fliegenkönnen. Und so spät wurde er erreicht – man 275
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muss also weiter hoffen, gerade angesichts der Kürze der bisherigen Forschungsdauer zur Technologie x …‘ Erfüllung und Enttäuschung haben einander verstärkende Effekte. Historisch lang anhaltende Enttäuschungen stärken, wenn es dann einen Durchbruch gibt, die Fortsetzung von Funktionierbarkeitserwartungen, die Resistenz gegen künftige Enttäuschungen. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen lassen sich das Vorkommen und die Veränderung von Funktionierbarkeitserwartungen historisch erforschen. Dabei variieren sowohl Intensität, Umfang, die konkreten Reaktionsformen auf Enttäuschungen als auch die Reflexionsform, in der Funktionierbarkeit historisch zum Thema wird. Einige Stichproben hierfür: Die mit der französischen Revolution anhebende Revolutionssemantik war insbesondere eine Erschließung neuer Bereich für Funktionierbarkeitserwartungen. Revolution war zuvor der Begriff für das vollständige Arsenal an Verfassungsformen, die sich in einer Art „natürlichem Kreislauf“ abwechselten (Koselleck 1979: 70 f.). Wie in Kopernikus Werk über die Himmelskörper De revolutionibus orbium caelestium (1543) diese in Kreisbewegung über die Menschenköpfe hinweg zogen, so zogen auch die politischen Regierungsformen über diese hinweg – und bestimmten sie. Politisches war in diesem Sinne der Funktionierbarkeit entzogen. Mit und in der Nachfolge der französischen Revolution entsteht allerdings ein ganz anderer Gedanke der Revolution: das fertige Arsenal der Regierungsformen sollte gesprengt werden. Dieser Aufbruch war mit der Überzeugung einer „Machbarkeit der Revolution“ verbunden. „Von Condorcet stammt die Erläuterung, wie man zugunsten der Freiheit eine Revolution hervorbringen (produire) und dirigieren (diriger) müsse. Und une loi révolutionnaire est une loi, qui a pour objet de maintenir cette révolution, et d’en accélerer ou régler la marche.“ (Koselleck 1979: 83 f.) Ähnlich verhält sich das Projektkonzept vom „Geschichte machen“. Der Gedanke, dass „Geschichte machbar“ sei, wurde erst um 1780 denkbar (Koselleck 1979: 262). Dazu mussten andere Geschichtsmodelle nicht nur verdrängt, sondern Geschichte überhaupt zu einem Kollektivsingular werden. Geschichte wurde damit nicht bloß zu einem Reflexions-, sondern zu einem Handlungs- und Planungsbegriff. Nun mag man freilich die Abfolge der Voraussicht, der Planung und des Machens als eine anthropologische Grundbestimmung des menschlichen Handelns ansprechen. Das Novum, vor dem wir stehen, liegt in der Bezugnahme dieser Handlungsbestimmungen auf die neu konzipierte ‚Geschichte über276
WAS SIND FUNKTIONIERBARKEITSERWARTUNGEN?
haupt‘. Nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft der Weltgeschichte schien damit zur Debatte, ja zu Disposition zu stehen. (Koselleck 1979: 266)
In Marx und Engels Geschichte aus Freiheit, in der ihre sie antreibenden Ursachen nach den in ihr gewollten Wirkungen ausgewählt werden, drückt sich in der Folge dieser Machbarkeitsgedanke aus – trotz aller dialektischen oder gar kausalen Notwendigkeitsannahmen. Eine spezifische Form der Funktionierbarkeit stellen Planungstheorien dar. Diese erreichten im Verbund mit kybernetischen Steuerungskonzepten und ihrer Umsetzung in entsprechenden Planungsbehörden in verschiedenen europäischen Staaten während der 1960er Jahre einen Höhepunkt, der bis in die Mitte der 1970er hinein andauerte.4 Erkennbar wird dabei gleichermaßen die Steigerung der Intensität und der Extension von Funktionierbarkeitserwartungen: Bereiche, die bislang nicht als machbar oder funktionierbar aufgefasst wurden, wurden nun als der technischen Planung zugänglich gedacht. Machbarkeit ist dabei selbst eine historische Reflexionsform von Funktionierbarkeitserwartungen. Prägend war – soweit ich es überblicke – Hans Freyer, seines Zeichens Soziologe und den Planungstheorien verbunden (vgl. etwa Freyer 1987). Freyer spricht in seiner Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, die 1955 in erster Auflage erschien und mehrfach wieder aufgelegt wurde, von den langen geschichtlichen Trends der „Machbarkeit der Sachen“, der „Organisierbarkeit der Arbeit“, „der Zivilisierbarkeit des Menschen“ und der „Vollenendbarkeit der Geschichte“ (Freyer 1955: 1. Kap. – Hervorhebung AK). Das spezifische dieser Reflexionsform von Funktionierbarkeit besteht in den Annahmen einer Planbarkeit des Fortschritts und starken Handlungssubjekten. Das sind auch Gründe dafür, warum ich von Funktionierbarkeits- statt von Machbarkeitserwartungen spreche. Freyer spricht zudem noch ganz aus der Furcht vor der Perfektion der Technisierung, nicht ihrer Imperfektion. Zudem – und dies ist fast noch wichtiger: Machbarkeit bezieht sich vor allem auf Großtechnologien. Das Werkeln an und Reparieren von bestehender Alltagstechnik wird durch den Ausdruck Machbarkeit nicht mit adressiert. Gerade dieser Bereich ist ohnehin notorisch unterbelichtet, nicht zuletzt, weil hier Quellen Mangelware sind. Aus diesem Grund betrachte ich die Planungsvorstellungen als eine historische Erscheinungsform und Machbarkeit als die historische Reflexionsform von Funktionierbarkeitserwartung.
4
Vgl. als ein Beispiel aus der Fülle der damalig verfügbaren Planungstheorien Rieger 1967: 64-76, in der Technologie als ein „Aussagenkomplex“ zur Voraussetzung von Planung wird. 277
TECHNIK ALS ERWARTUNG
Eine andere Reflexionsform von Funktionierbarkeit findet sich meines Erachtens bei Martin Heidegger. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend lässt sich Heideggers Theorie des Gestells weitgehend öffnen. Heideggers Absicht in „Die Frage nach der Technik“ ist, das Technische zu begreifen. Dieses Technische besteht für Heidegger nicht in den einzelnen Sachtechniken, in den technischen Artefakten, in denen es sich gleichwohl verkörpert. Das Technische ist für Heidegger vielmehr eine Rationalitätsform, welche einen spezifischen Natur- und Weltbezug ausbildet. Natur wird als technisch, insbesondere als technisches Potenzial begriffen: Der Wald als Forst, der Berg als Steinbruch, der Wind als Wind in den Segeln. Mit anderen, älteren Worten aus Sein und Zeit: Das Technische eröffnet so ein bestimmtes „hermeneutisches Als“, das den Sinnhorizont von Natur vorgibt, welcher sich in jedem urteilenden, also dem „apophantischen Als“ ausspricht. Was ist mit dieser Unterscheidung von hermeneutischem und apophantischem Als gemeint? Es geht darum, dass stets etwas als etwas bestimmt wird. Diese Bestimmungsleistung wird in jeglicher Wahrnehmung, Handlung, Phantasie vollzogen. Das kennzeichnet zunächst das apophantische Als. Es beruht allerdings auf einer Vorleistung. Diese besteht darin, dass zuvor eine Auslegung stattgefunden haben muss. Diese Voraussetzung einer vollzogenen Auslegung bezeichnet das hermeneutische „Als“. Dass es sich, konstitutionslogisch betrachtet, um zwei Vorgänge handelt, bleibt in der Regel im Alltag verdeckt. Die hermeneutische Vorauslegung stellt allerdings eine Voraussetzung dar, wie sich zeigt, wenn sie nicht erfüllt ist. Wir stehen zum Beispiel vor einem uns fremden Ding und können es nicht als etwas bestimmen, weil wir es nicht als etwas auslegen können. Es zeigt sich auch dann, wenn die Voraussetzung gewissermaßen übererfüllt ist: Wenn historisch unterschiedliche Auslegungen nebeneinander bestehen, die miteinander konkurrieren. In Sein und Zeit, wo Heidegger diese Unterscheidung eines apophantischen und eines hermeneutischen „Als“ einführt, ist es noch vom Dasein und dessen Zeitlichkeit abhängig, wie etwas erschlossen wird. Am Beispiel des Hammers: So ist es zunächst die Praxis, in welcher der Hammer als schwer erfahren wird: „zu schwer“, „den anderen Hammer!“ heißt es gewissermaßen wortlos (Heidegger 1927: 157). Eine aussagende Bestimmung wie „Der Hammer ist schwer“ geht auf die vorgängige Erschließung zurück, ist in ihr fundiert. Während Heidegger also noch in Sein und Zeit die Erschließung an die zeitlichen Modi des Daseins bindet, ist es beim späteren Heidegger das anonyme Sein, welches die Auslegungen gibt bzw. vorgibt. „Die Technik ist eine Weise des Entbergens“, schreibt Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ 278
WAS SIND FUNKTIONIERBARKEITSERWARTUNGEN?
(Heidegger 1950: 12). Das Entbergen geschieht über dieses vorauslegende hermeneutische Als, das nun technisch geprägt ist. Es führt dazu „die Natur als einen Gegenstand der Forschung anzugehen“, „das Wirkliche als Bestand“, „das Sichentbergende als Bestand“ oder „die Natur als einen berechenbaren Kräftezusammenhang“ (Heidegger 1950: 18 ff. – Hervorhebungen AK). Oder konkreter: „Das Erdreich entbirgt sich jetzt als Kohlrevier, der Boden als Erzlagerstätte.“ (Heidegger 1950: 14) Was Heidegger mit diesem schwierigen Titel, Gestell, bezeichnet, sind jeweils Erwartungen der Indienstnahme: dass Natur potenziell funktionsfähig gemacht werden kann für etwas. Wird der Fluss ins Wasserkraftwerk verbaut, wie Heidegger schreibt, dann liegt dem die Erwartung zugrunde, dass er Teil eines Funktionszusammenhangs werden kann. Es wird erwartet, dass der Fluss so und so funktionieren kann bzw. dass er in einem bestimmten Zusammenhang funktionieren kann. Er wird als Komponente eines möglichen Funktionszusammenhangs verstanden. Der Fluss „ist, was er jetzt als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des Kraftwerks.“ (Heidegger 1950: 15) Dies charakterisiert die Funktionierbarkeitserwartung, welcher Heidegger mit der Reflexionsform „Gestell“ nachgeht. Funktionierbarkeit so verstanden wird zum Kennzeichen moderner, technisierter Gesellschaften. Die Funktionierbarkeit von Sachen, Menschen, Organisationen zu erwarten, sei es planerisch, sei es pragmatisch, sei es selbstorganisatorisch, sei es vor dem Hintergrund einer rekonstruierten Seinsgeschichte, ist eine spezifische, historisch entstandene Form – mit all ihren Folgeproblemen.
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II. F AZ I T : V I E R F O R M E N E R W AR T E N S
TECHNISCHEN
Mit Funktionierbarkeitserwartung ist nun der letzte Baustein zur Grundlegung einer allgemeinen Theorie von Technik als Erwartung gesetzt. Funktionierbarkeitserwartungen, sind enttäuschungsrobust und enttäuschungssensibel (lernend) zugleich. Sie treten in der Erforschung und Entwicklung neuer Technologien und beim alltäglichen Basteln und Reparieren auf. Sie sind die Voraussetzung für Potenzialerwartungen und ähneln in ihrer Blindheit gegenüber Enttäuschungen einem unerschütterlichen Vertrauen. Nachdem nun alle vier Formen technischen Erwartens dargestellt und die Theorie in ihrem Zusammenhang entwickelt wurde, stellt sich die Frage: Was ist geleistet worden – und was nicht? Entwurf einer allgemeinen Techniktheorie: Der Anspruch war, eine allgemeine Techniktheorie zu begründen. Die Theorie, welche nun vorliegt, behandelt die jeweiligen Phasen von Technik – von ihrer Antizipation in Visionen über ihre Erforschung und Entwicklung bis hin zu ihrer Einführung in den und ihrem Aufgehen im Alltag – unter einem einheitlichen Gesichtspunkt. Zusammenhang der Theorie: Die jeweiligen Erwartungen beleuchten sich wechselseitig. Erwartete Potenziale sind gleichbedeutend der Aussicht eines radikalen Vertrautheitsverlusts. Technik baut zugleich – dank ihrer Trivialisierungsleistungen – Vertrautheit in vielleicht nie gekanntem Maße auf, sie steigert damit die Chancen für potenzialreiche Technologien, sofern das Potenzial umso größer ausfällt, je mehr es Vertrautes in Frage stellt. Potenziale als Verlust an Vertrautheit bringen Risiko und Nichtwissen hervor und damit die Möglichkeitsbedingung von Ver281
TECHNIK ALS ERWARTUNG
trauen. Vertrauen wiederum schließt Vertrautheit aus, gleichwohl es von Vertrautheit entlastet wird. Funktionierbarkeit schließlich ist die Prämisse technologischer Potenziale. Die vier Formen technischen Erwartens greifen damit schlüssig ineinander. Die Konsequenzen jeweils einer Form ergeben sich in den anderen (wie Tabelle 9 noch einmal im Überblick darlegt). Tabelle 9: Vier Formen technischen Erwartens Potenzialerwartung Neue, fremde, wunderbare Technologien
Vertrautheitserwartung Alltagstechniken
Erwartete Auflösung des Vertrauten wird zum Thema. Vertrautes steht in Frage
Entzieht sich selbst der Thematisierung und daher Fraglichkeit
Kontingenz, Kontingenzdynamik, Hyperkontingenz Ausschließlich in Kommunikationen, Visionen, Bildern, Szenarien
Ausklammerung von Kontingenz (obgleich kontingent) Ausschließlich in der technischen Praxis
Bringen Risiko und Nichtwissen hervor durch den erwarteten Abbau des Vertrauten
Trivialisierung als Habitualisierung steigert die Möglichkeit technologischer Potenziale
Entlastung durch Vertrautheit
Kennzeichen technisierter Gesellschaften
Prämisse und Ausschluss von Vertrautheit
(Nichtwissen)
Vom „Geschichte machen“ über die Planungstheorie bis zur Selbstorganisation Historische entstehende und in verschiedenen Erscheinungen auftretende Form Funktion 2: Lernbereitschaft
(Risiko)
Funktion 1: Enttäuschungsresistenz
Neue und bekannte, aber erneut fremd gewordene Technikng
Forschung und Entwicklung, Alltag
Pragmatische Gründe für Technikvertrauen
Vertrauenserwartung
Funktionierbarkeitserwartung
Was Technik ist: Technik ist jeweils auf andere Weise gegeben. Als neue Technologie ist sie als verheißungs- oder verhängnisvolle Vision gegeben, welche in Spannung zu ihren Archetypen oder Prototypen steht. Im Alltag ist sie eine verkörperte Interaktionsroutine, welche einen 282
FAZIT: VIER FORMEN TECHNISCHEN ERWARTENS
individuellen Praxisstil aufweist. Als Funktionierbarkeitserwartung ist sie die lernbereite Hartnäckigkeit des Tüftelns und Entwickelns, nicht der Prototyp. Ich möchte insistieren, dass Technik dabei tatsächlich jeweils eine Erwartung ist – und nicht nur mit Erwartungen zusammenhängt. Lediglich bei Vertrauen und Misstrauen stellt sich dies, wie zu Beginn schon angekündigt, leicht anders dar. Dabei verliert sich durch die Formel Technik als Erwartung ihre Sachhaltigkeit nicht. Verkörperte Interaktionsroutinen basieren auf der Voraussetzung ungemein verlässlicher Artefakte. Nichtsdestotrotz bedeutet dies eben nicht, dass Technik das Artefakt selbst schon ist. Historische Analysen: Der allgemeine Ansatz ermöglicht historische Analysen. Zwar scheint es, als wenn Vertrauen und Vertrautheit allgemeine Weltverhältnisse darstellen. Durch den Gesichtspunkt Technik gewinnen jedoch auch sie ein historisches Profil. So wird – angesichts der mit Risiko und Nichtwissen einhergehenden Technisierung – verständlich, warum die Vertrauensdiskussion in den letzten Jahrzehnten ungemein an Bedeutung gewonnen hat. Vertrauen war zuvor eher ein marginales Thema. Ebenso konnte ein plausibler Zusammenhang zwischen den Trivialisierungsleistungen von Technik und der Bedeutung von Gewohnheit hergestellt werden. Technisierung steigert Trivialität und Trivialität steigert Routinen immens. Obgleich Vertrauen und Vertrautheit also Formen allgemeinen Weltverhaltens darstellen, sind sie eng mit Technik verbunden und werden durch sie historisiert. Potenzialerwartungen wiederum gab es nicht schon immer. Sie entstehen gemeinsam mit den Bindestrichtechnologien (Atom-, Info-, Bio-, NanoTechnik). Funktionierbarkeit ist ebenfalls keine ahistorische Erwartung. Dass Dinge als funktionierend oder nicht funktionierend betrachtet werden, ist ebenso eine historische Veränderung, wie dass sie zum Funktionieren gebracht werden sollen. Erklärungen und neue Details: Der allgemeine und dabei historische Ansatz bot außerdem Möglichkeiten für produktive Analysen. Es konnte erklärt werden, warum neue Technologien Potenzialerwartungen auslösen. Davon ausgehend konnte deren Verlauf, das wechselseitige Steigerungsverhältnis von Archetyp und Technologie, der Zickzack-Verlauf zwischen Gegenwarts- und Zukunftssprache beschrieben werden. Wenig beachtete Formen des Umgangs mit solchen Technologien – Angst im Gegensatz zu Furcht, die fremde oder die wunderbare, statt „nur“ der neuen Technologie – waren Thema teils von Erklärungen, teils von historischen Entdeckungen. Ferner konnte der Zusammenhang zwischen Vertrautheit und Technik näher bestimmt werden; dabei wurden die identischen Merkmalscluster von Gewohnheit und Technik aufgedeckt und einer Begründung zugeführt. Technikphilosophische Axiome wie 283
TECHNIK ALS ERWARTUNG
das der verschwindenden Technologie wurden präzisiert. Dabei gerieten auch interessante neue Details in den Blick wie die reparierende Funktion von Vertrautheit in Form von Konjekturen. Es konnte begründet werden, was es heißt, Technik zu vertrauen. Begriffliche Präzisierungen wie die Unterscheidung von Nichtwissen und Unwissenheit oder der paradoxe Status von Vertrauen wurden dadurch eröffnet. Mit Funktionierbarkeitserwartung wurde schließlich eine bislang kaum beachtete Erwartungsform entdeckt. Mängel und offen gebliebenes: Allzu vieles blieb kursorisch und unausgewuchtet. So konnten nur erste Proben zu Funktionierbarkeitserwartungen vorgelegt werden. Dagegen fiel die Darstellung der Potenzialerwartungen deutlich weiter fortgeschritten aus. Vielfach mussten auch erst die Grundlagen bereitet werden, die eher Skizzen bieten als ein ausgefülltes Panorama. Insgesamt wurde eher zu weniger Anwendungen entwickelt, der Fokus bestand mehr in einer Grundlegung. Wie weit die einzelnen Analysen richtig und von Bedeutung sind, müsste im Weiteren diskutiert werden. Ein Vorschlag für eine allgemeine Techniktheorie und für Detailanalysen liegt jedenfalls nun vor und lädt dazu ein, dass mit ihm und an ihm weiter gearbeitet wird.
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Edition panta rei Christoph Asmuth (Hg.) Transzendentalphilosophie und Person Leiblichkeit – Interpersonalität – Anerkennung 2007, 532 Seiten, kart., 39,90 €, ISBN 978-3-89942-691-5
Christoph Hubig Die Kunst des Möglichen II Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik Band 2: Ethik der Technik als provisorische Moral 2007, 266 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-531-4
Christoph Hubig Die Kunst des Möglichen I Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik Band 1: Technikphilosophie als Reflexion der Medialität 2006, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-431-7
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Edition panta rei Nicole C. Karafyllis Die Phänomenologie des Wachstums Eine Philosophie des produktiven Lebens zwischen Natur und Technik Dezember 2010, ca. 720 Seiten, kart., ca. 54,80 €, ISBN 978-3-89942-722-6
Andreas Luckner Heidegger und das Denken der Technik 2008, 152 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-840-7
Joachim Schickel Der Logos des Spiegels Struktur und Sinn einer spekulativen Metapher (herausgegeben von Hans Heinz Holz) Dezember 2010, ca. 290 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-295-5
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Edition panta rei Siegfried Blasche, Mathias Gutmann, Michael Weingarten (Hg.) Repræsentatio Mundi Bilder als Ausdruck und Aufschluss menschlicher Weltverhältnisse. Historisch-systematische Perspektiven 2004, 342 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-127-9
Albrecht Fritzsche Schatten des Unbestimmten Der Mensch und die Determination technischer Abläufe 2009, 194 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1233-2
Gerhard Gamm, Mathias Gutmann, Alexandra Manzei (Hg.) Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften 2005, 264 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-319-8
Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Unbestimmtheitssignaturen der Technik Eine neue Deutung der technisierten Welt 2005, 362 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-351-8
Mathias Gutmann Erfahren von Erfahrungen Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie 2004, 766 Seiten, kart., 2 Bände, 49,80 €, ISBN 978-3-89942-187-3
Hans Heinz Holz Mensch – Natur Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie 2003, 194 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-126-2
Heinwig Lang Die Individualität der Dinge Kultur-, wissenschaftsund technikphilosophische Perspektiven auf die Bestimmung eines Unbestimmbaren 2008, 362 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-951-0
Lars Meyer Absoluter Wert und allgemeiner Wille Zur Selbstbegründung dialektischer Gesellschaftstheorie 2005, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-224-5
Nikos Psarros Facetten des Menschlichen Reflexionen zum Wesen des Humanen und der Person 2007, 194 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-89942-613-7
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