Taktungen und Rhythmen: Raumzeitliche Perspektiven interdisziplinär 9783110466591, 9783110455489

New series What is the potential power of "rhythm" as a conceptual key term for understanding the interplay

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German Pages 274 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Taktungen und Rhythmen. Einleitung
Rhythmusanalyse nach Lefebvre
Messezeit: Handelsrhythmen und Jahreszeit
Von der Zeit jenseits des Uhrzeigers – die physiologische Zeit
Verführerische Zyklen und historische Fantasien. Richard W. Butlers Modell des Tourism Area Life Cycle (TALC) und die Geschichte des Tourismus auf Mallorca
Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen in einer Beobachtungsstation zwischen 1949 und 1989
Verkehrsnöte. Rhythmus, Taktung und Störungen des Essener Straßenbahnverkehrs während des Ersten Weltkriegs
Einen Moment bitte. Moderation als Technik im 20. Jahrhundert
Retroaktion und Intensität. Zur Zeitlichkeit der Jazzimprovisation
Vom glatten und gekerbten Raum im Zeitgenössischen Schlagzeug-Spiel. Zu Aspekten der Dynamisierung und Fragmentierung des Rhythmus bei Günter ‚Baby‘ Sommer
Rhythmus ‚in Takt‘. Die Bedeutung des Rhythmus in der musikpädagogischen Konzeption von Émile Jaques-Dalcroze
“(kakˮ znat’)”. The (Epistemological) Bracket in Tatiana’s Letter and “Rhythmanalysis”
Autorinnen und Autoren
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Taktungen und Rhythmen: Raumzeitliche Perspektiven interdisziplinär
 9783110466591, 9783110455489

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Sabine Schmolinsky, Diana Hitzke, Heiner Stahl (Hrsg.) Taktungen und Rhythmen

SpatioTemporality / RaumZeitlichkeit

Practices – Concepts – Media / Praktiken – Konzepte – Medien Edited by / Herausgegeben von Sebastian Dorsch, Bärbel Frischmann, Holt Meyer, Susanne Rau, Sabine Schmolinsky, Katharina Waldner Editorial Board Jean-Marc Besse (Centre national de la recherche scientifique de Paris), Petr Bílek (Univerzita Karlova, Praha), Fraya Frehse (Universidade de São Paulo), Harry Maier (Vancouver School of Theology), Elisabeth Millán (De-Paul University, Chicago), Simona Slanicka (Universität Bern ), Jutta Vinzent (University of Birmingham), Guillermo Zermeño (Colegio de México)

Volume / Band 2

Taktungen und Rhythmen Raumzeitliche Perspektiven interdisziplinär Herausgegeben von Sabine Schmolinsky, Diana Hitzke und Heiner Stahl

Printed with the Financial Support of Erfurter RaumZeit-Forschung (ERZ) / Erfurt SpatioTemporal Studies Group, University of Erfurt, Germany

ISBN 978-3-11-045548-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046659-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046449-8 ISSN 2365-3221 Library of Congress Control Number: 2018950893 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Nikko brand mechanical metronome in motion, Foto: Vincent Quach, 1.11.2008, Weitergabe unter gleichen Bedingungen - Bild-CC BY-SA 3.0 Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Heiner Stahl, Diana Hitzke und Sabine Schmolinsky Taktungen und Rhythmen Einleitung 1 Susanne Rau Rhythmusanalyse nach Lefebvre

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Michael Rothmann Messezeit: Handelsrhythmen und Jahreszeit

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Veronika Lang Von der Zeit jenseits des Uhrzeigers – die physiologische Zeit

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Ekkehard Schönherr Verführerische Zyklen und historische Fantasien Richard W. Butlers Modell des Tourism Area Life Cycle (TALC) und die 53 Geschichte des Tourismus auf Mallorca Sylvelyn Hähner-Rombach Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen in einer Beobachtungsstation zwischen 1949 und 1989 109 Heiner Stahl Verkehrsnöte Rhythmus, Taktung und Störungen des Essener Straßenbahnverkehrs während des Ersten Weltkriegs 143 Daniela Zetti Einen Moment bitte. Moderation als Technik im 20. Jahrhundert Daniel Martin Feige Retroaktion und Intensität Zur Zeitlichkeit der Jazzimprovisation

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VI

Inhalt

Oliver Schwerdt Vom glatten und gekerbten Raum im Zeitgenössischen Schlagzeug-Spiel Zu Aspekten der Dynamisierung und Fragmentierung des Rhythmus bei Günter ‚Baby‘ Sommer 207 Lucia Kessler-Kakoulidis Rhythmus ‚in Takt‘ Die Bedeutung des Rhythmus in der musikpädagogischen Konzeption von 215 Émile Jaques-Dalcroze Holt Meyer “(kakˮ znat’)” The (Epistemological) Bracket in Tatiana’s Letter and “Rhythmanalysis” 243 Autorinnen und Autoren

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Heiner Stahl, Diana Hitzke und Sabine Schmolinsky

Taktungen und Rhythmen

Einleitung Finger hinterlassen Bewegungen auf Tastaturen. Die Anschläge markieren zeitliche Abstände. Das Fließen und Stocken der Worte zeichnet Figuren aus Gedanken in Reihen von Wörtern: Schreiben, Löschen, Umformulieren, Zurücksetzen, Neubeginnen, Schreiben, Löschen, Schreiben … Aus der Abfolge von Buchstaben bilden sich Wörter, entstehen Sätze, die gelesen, gesprochen und an andere kommuniziert werden. Die Anordnung von Sätzen enthält Beziehungen, verdichtet Bezugnahmen und Abfolgen, erzeugt Bewegungen der Zunge und der Lippen. Luft strömt durch Mund und Rachen. Einatmen, Ausatmen, Herzschläge dazwischen. Das Geschriebene wandelt sich zum Gesprochenen, verschiebt sich zum Gesagten, wird Gehörtes, in der Vergangenheit Erzähltes. Narrative betonen bestimmte Inhalte, heben einzelne Aussagen hervor. Sie sind Notationen historischen Erzählens, bahnen und spuren Verläufe, die bestimmte Rekonstruktionen des Vergangenen, Zurückliegenden und Geschichtlichen freilegen. Historische Erzählungen enthalten Muster, bezeichnen Ablaufpläne, geben der Zeit der Geschichte – mindestens – einen Rhythmus. Abweichungen lösen sich darin auf, Zufälligkeiten, die die Möglichkeiten von Takt-Verschiebungen bieten, werden vom rhythmischen Erzählen der Vergangenheit überdeckt.

Was bezeichnet „Rhythmus“? Es handelt sich, ganz allgemein gesprochen, um eine Anordnung von Beziehungen, die zeitliche Bewegungen und räumliche Konstellationen enthalten. Rhythmus drückt Verhältnisse aus, die sich auf Anordnungen aus Wiederholungen, Abweichungen und Verschiebungen beziehen. Jedoch unterscheiden sich die Einschätzungen der fachwissenschaftlichen Zugänge deutlich voneinander. Der Rhythmusbegriff der Musik ist ein anderer als der anthropologische oder der ethnografische. Die Übertragung und Übermittlung von bestimmten Stoffen, elektrischen Impulsen oder Informationspaketen zwischen Orten, zwischen Startund Endpunkten, konturiert Bewegungen, die als Rhythmen in Erscheinung treten können. Rhythmen der Kommunikation sind für den professionellen Blick von Physikerinnen und Physikern in einer anderen Weise geordnet als in der Perspektive von Biologinnen und Biologen auf Organismen, Zellen oder Viren in Körpern. Infektion, Krankheit und relative Gesundung erscheinen als instabile https://doi.org/10.1515/9783110466591-001

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Bewegungen, die sich über Zeit zu konstanten Erscheinungen festigen. Diese können wiederum als Rhythmen verstanden werden. Das beobachtende Erkennen der Regelmäßigkeit, des Wiederkehrens, hilft dabei, solche Erscheinungen in ein Verständnis von Normalität einzufügen, besser gesagt, die (historischen) Gegenstände darin einzufangen. Die fortlaufende Betrachtung behauptet Aneinanderreihungen, die in eine – zumeist – linear gedachte Abfolge münden. Natur enthält Rhythmen und Bewegungen. Das trifft auf Lebewesen, Pflanzen, Landschaft, Wasser, Böden und Luft gleichermaßen zu. Menschen machen Rhythmen, sie unterstützen Individuen, sich in Umgebungen und Umwelten zurechtzufinden. Mit diesem vielschichtigen Verfahren integrieren Menschen unterschiedliche Wissensbestände von und über rhythmische Erscheinungen, die sich auf landschaftliche, geografische, technische, soziale, kulturelle, ästhetische, visuelle oder mediale Kontexte beziehen. Rhythmus ordnet Ähnliches und Gegensätzliches, reguliert Geschwindigkeiten und Abfolgen in räumlichen und in zeitlichen Rahmen. Die Institutionen von Macht und Herrschaft legen bestimmte Rhythmen fest: Kriegsgänge, Militärdienst, Gefängnisstrafen, Regierungszeiten, Wahlen, Nationalfeiertage. Dadurch wird ein Modus der Disziplinierung bekräftigt, der über Wiederholung gesellschaftliche (Selbst‐)Verständigungen festigt. Gerade in diesen asymmetrischen Beziehungsverhältnissen bietet die Analyse der Auf-, Ab- und Durchbrüche Ansatzpunkte, die Manifestationen des Rhythmischen in historischen Zusammenhängen zu betrachten und einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Kritik zu unterziehen. Das Gewesene schreibt sich in die Gegenwart ein, und mit einem bestimmten Verständnis über das Jetzt werden die Entwicklungsmöglichkeiten des Zukünftigen raumzeitlich gerahmt und rhythmisiert. Beide Prozeduren sind von bestimmten Verdichtungen geformt, die unterschiedliche soziale, gesellschaftliche, politische, mediale, kulturelle, ästhetische und technische Rhythmisierungen aufgesogen haben.

Was bezeichnet „Taktung“? Taktung unterstellt eine vorhersagbare Wiederholbarkeit bestimmter Vorgänge. Maschinelle und mechanische Arbeitsabläufe sind dadurch gekennzeichnet – zumindest solange die Apparate keine Fehlfunktionen aufweisen und sich nicht im Zustand der Störung befinden. Taktung erzeugt eine Anmutung der Symmetrie, der Gleichmäßigkeit und der Nachvollziehbarkeit. Sie ist ein Gerüst zur Ordnung der Vielfalt von Bewegungen. Sie bietet ein Verfahren der (Selbst‐)Disziplinierung, durch welches Energie, Informationsverarbeitung, Sinnesleistung und Anstrengung mit einem möglichen Endresultat in Bezug gesetzt werden können. Tak-

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tungen normieren. Sie vermitteln zwischen dem Einsatz von Kraft und dem Aufwand zur Erreichung und Herstellung eines Ergebnisses. Taktung versieht Rhythmen mit Richtung in der Zeit. Das geschieht durch eine Änderung des Modus. Diese betrifft die Verlangsamung oder die Beschleunigung von Abläufen, aber auch die Wiederkehr von Zuständen. Taktungen geben der Wiedererzeugung von Gleichheiten Form. Das gilt für die Praktiken der Aneignung von Orten, Räumen und zeitlichen Einheiten in gleicher oder ähnlicher Weise wie für Interaktionen zwischen Materialien und Agierenden, zwischen Rohstoffen und Handelnden, zwischen Orten und Gütern, Körpern und Wissen, oder für Instanzen der Regulierung sowie Zusammenhänge der Verflechtung. Taktungen sind „Maschinen“ des Abgrenzens und Ordnens. Diese Perspektive bietet die Möglichkeit, Normierungen und Regulierungen als verfestigte Hierarchien von Bewegungen zu denken. Taktungen konservieren Macht- und Herrschaftsverhältnisse in noch nicht eindeutig geordneten, offenen, unbestimmten Rhythmen. Der Sammelband Taktungen und Rhythmen. Raumzeitliche Perspektiven interdisziplinär rückt die Dimensionen und Beziehungsverläufe von Rhythmen und Taktungen ins Blickfeld der geistes- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung. Die Beiträgerinnen und Beiträger knüpfen mit ihren Aufsätzen in unterschiedlicher Weise daran an. Dabei stehen soziale, kulturelle, (musik‐)ästhetische, literarische, medizinische, biologische, logistische und wirtschaftliche Interaktionen im Mittelpunkt, welche von der Rhythmisierung zeitlicher und räumlicher Kontexte geprägt sind. Durch die Begriffe „Taktung“ und „Rhythmus“ entstehen Konturen von Zusammenhängen aus zuvor vorhandenen Disparitäten und Vielfältigkeiten. Rhythmen und Taktungen lassen sich als Brenngläser verwenden. Sie bieten Raum für thematische, inhaltliche und methodische Erweiterungen geistes- und kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei geht es gleichermaßen um eine Schärfung der Begriffe und ihrer Anwendungen sowie ihrer Einsatzgebiete. Von unterschiedlichen disziplinären Prägungen und Bezeichnungskulturen herkommend, versuchen sich die Autorinnen und Autoren an einer Neujustierung von Betrachtungsweisen – und zwar mit jeweils anderen Pointierungen. Als ferneres Ziel wird möglich, Rhythmusverschiebungen zu provozieren. Die eingeführten Verfahren des Bestimmens, Bewertens und Begutachtens, wie sie in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Analysen praktiziert und als ‚richtig‘ bezeichnet werden, sollten in Bewegung versetzt werden. Timing wird dabei ein entscheidender Faktor sein.

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Zu den einzelnen Beiträgen Der erste Beitrag befasst sich mit Henri Lefebvres Rhythmusanalyse. Susanne Rau betont, dass es Lefebvre um die Routinen von Bewegungsabläufen in städtischen Räumen geht, wenn er über die sozialen Rhythmen nachdenkt. Rhythmusanalyse will also mehr als den Takt der Arbeit bestimmen. Sie soll die Interferenzen zwischen zyklischen und linearen Rhythmen untersuchen, die im alltäglichen Leben auftreten. Dort kommen Physisches, Psychisches und Soziales zusammen. Im Alltag werden die Beziehungen zwischen Arbeit, Familie und Privatleben geformt, bekräftigt und gemacht. Gerade die Stadt bietet den Ort, an dem Raumzeitlichkeit erfahrbar und -spürbar wird. Rhythmus verdichtet sich in den Praktiken des saisonalen Umherreisens zu Messen und Jahrmärkten. Das zeigt Michael Rothmann auf. Kaufleute befahren Märkte, beschicken diese mit Waren, handeln dort, erzeugen dadurch Verflechtungen von Orten und Räumen. Sie vermitteln, stellen Kommunikationsflüsse her. Die stadtgeschichtliche Forschung hat bislang den periodischen bzw. saisonalen, freien Markt zu einer Sonderform des an einen Ort gebundenen, lokalen Markts behandelt. Zeitliche Rhythmen in den Mittelpunkt zu stellen, verändert die Perspektive. Der saisonale Jahrmarkt ist durchaus eine Erscheinung, die feste Strukturen aufweist. Nimmt man zudem das gesamte System aus räumlich, terminlich und funktional verwobenen Jahrmärkten in den Blick, so ist zwar der einzelne Markt saisonal räumlich gebunden; jedoch lösten sich die Kaufleute durch das Umherreisen während einer Handelssaison aus der zeitlichen Gebundenheit an feste Orte. Schließlich war irgendwo immer Markt. Diese Zyklen des Handelns sind zeitliche Schleifen in geografischen Räumen. Wiederholungen stabilisieren sie. Körper sind ebenfalls Räume, physische, in denen sich bestimmte Abläufe einzeichnen. Veronika Lang wählt in ihrem Aufsatz einen naturwissenschaftlich geformten, physiologischen Zugang zum Verständnis von Zeiteinheiten des Körpers und der Zellen. Menschen durchlaufen verschiedene Chronotypen, während sie altern. Die Phasen des Schlafs verkürzen sich mit ansteigendem Alter. Gerade in der Schlafphase lassen sich die Verschiebungen des Chronotyps messen und anhand der Verlaufskurve des Hormons Melatonin im Blut nachzeichnen. Die Beschleunigung des Alltags, den schnell getakteten Lebensstil sowie die Lichtverschmutzung in Städten und Wohnumgebungen führt die Autorin in dieser Hinsicht als Ursachen an, welche das empfindliche System mehr und mehr aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn die circadiane Uhr und die Umwelt aus dem Takt geraten, hat das gravierende Folgen für die menschliche Gesundheit.

Taktungen und Rhythmen

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Ganz anders ist es bei der touristischen Entwicklung von Orten und Regionen. Hier wird auf ein Streben nach Gleichgewicht – zu Gunsten von Fortschritt und Landspekulation – verzichtet. Tourismus verläuft in Zyklen. Solche zeitlichen Ordnungen gestalten den sozialen Raum, die darin enthaltenen Beziehungen sowie die Modi der Bewegung. Ekkehard Schönherr geht es in seinem Text um die touristische Erschließung der Insel Mallorca vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Mallorquinische Urlauberinnen und Urlauber erwarben Grundstücke für Sommerhäuser, besetzten und behaupteten dadurch (Insel‐)Raum. Die Anreisen und Abreisen auswärtiger Touristinnen und Touristen bildeten saisonale Rhythmen aus. Die Ersetzung der mallorquinischen Landwirtschaft und Industrien durch die Tourismuswirtschaft seit den 1950er Jahren und der vom faschistischklerikalen General Franco geförderte Massentourismus schrieben sich in den touristischen Bewegungsraum Insel ebenso ein, wie die drei Phasen touristischer Booms von den späten 1950er Jahren bis zur Jahrtausendwende. Sylvelyn Hähner-Rombach analysiert an den Aufenthalten von jungen Patientinnen und Patienten der ‚Kinderbeobachtungsstation‘ der Psychiatrischen Universitätsklinik Innsbruck, wie das Wissen von Medizinerinnen und Medizinern, Schwestern und Pflegern in die rhythmisierten Abläufe des Klinikalltags eingebettet und eingefügt ist. Aufnahme und Entlassung, Medikalisierung und Dosis, Aufstehen, Essenszeiten und Bettruhe markieren Taktungen von Körpern, verleihen professionellen Abläufen zeitlichen Sinn, liegen jedoch jenseits der gängigen medizinischen Aufschreibesysteme. Die Station ist der Raum, die Aufenthaltsdauer der Behandelten ist der zeitliche Indikator für die Tätigkeiten und Interaktionen. Es gibt Schlaf- und Esszeiten, Schulunterricht, Kirchgänge, Freizeiten, Therapiezeiten. Sie ordnen den Tagesablauf und produzieren Normalität in solchen medizinischen Beobachtungsräumen. Pflege, Betreuung und pädagogische Behandlung verlaufen nach Taktungen, die im professionellen Wissen gespeichert, jedoch nicht schriftlich festgehalten werden. Die (heil‐)pädagogischen Maßnahmen finden beiläufig statt, erfolgen ohne Zeitangaben. Die Analyse von Taktungen erlaubt es mit Hilfe der festgestellten Rhythmen, die die behauptete lineare Ordnung einer solchen Einrichtung der Beobachtung und Heilung differenzierter zu betrachten. In Heiner Stahls Aufsatz geht es um die Rhythmen und Taktungen von Straßenbahnen. Sie prägen um 1900 entscheidend die Geräuschkulisse des Verkehrs im städtischen Raum. Mobilität und Verkehrsbewegungen im öffentlichen Raum sind polyrhythmische Anordnungen, die Zeitlichkeit und Räumlichkeit immer wieder neu bestimmen. Am Beispiel des Straßenbahnverkehrs in der Ruhrgebietsstadt Essen vor und während des Ersten Weltkriegs versucht der Autor, die Verkehrsverhältnisse zum Klingen zu bringen. Dabei verweisen die technischen Rhythmen der Mobilität auf die Macht- und Herrschaftsbeziehungen, welche den

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sozialen Raum durchziehen. Mit dem Begriff ‚Verkehrsnot‘ wird in diesem Zusammenhang eine Auffassung darüber ausgedrückt, wie städtischer Raum in einem bestimmten Zeitabschnitt beschaffen ist. Rhythmen enthalten Störungen. Es reibt, sprüht Funken, Befürchtungen entfalten sich, Ängste brechen sich Bahn, weil Verkehrsabläufe aus dem zeitlichen und rhythmischen Gleichlauf zu geraten drohen. Dadurch gerät die funktionale Ordnung der Stadt aus den Fugen, die auf Beherrschung von Fortschritt und sozialen Ungleichheiten bezogene Begründung kommunaler politischer Herrschaft gerät ins Wanken. Die erlernte, überlieferte und beherrschte sinnliche Wahrnehmung von Stadt ‚springt‘ aus den vorgegebenen Bahnen. Rhythmusanalyse legt hier die sozialen und technischen Kommunikationsbeziehungen frei. Sie hebt die Unterbrechungen von Verkehrsflüssen hervor, markiert Lücken und fordert die Leistungsfähigkeit städtischer Herrschaft heraus, macht sie als umkämpftes öffentliches Gut sichtbar. Im Flow bleiben, heißt die Dinge in Reihe, Ordnung und Sortierung halten, sie zu verschalten. Dazu sind oftmals Handgriffe notwendig, kleine, nahezu unsichtbare, manuelle Interventionen: Telefonanschlüsse stecken, Leitungen herstellen, Verbindungen schaffen. Diesen Praktiken des Moderierens kommt Daniela Zetti auf die Spur. Sie blickt auf Frauen, die Technologien am Laufen hielten, die eingriffen, um die versendeten Bilder der Medien zurecht zu schneiden, um Informationsflüsse aufrecht zu erhalten. Die Telefonistinnen stellten Anschlüsse zwischen Apparaten her, die Cutterinnen klebten Bilder aneinander, förderten deren Bewegung und Beweglichkeit. Frauen koppelten, schalteten und walteten immer dort, wo die Maschine oder das System noch nicht perfekt und noch nicht autonom war. Sie moderierten historische Prozesse der Mensch-Maschine-Medien-Kommunikation. Als historiografische Figuren halfen sie, den Gang der Geschichte zu gestalten und zu erklären. Die weiblichen Moderatorinnen dieser Prozesse waren Medientechnikerinnen der Praxis. Mehr noch: Sie waren Pionierinnen flexibilisierter Lebensläufe. Für Daniel Martin Feige ist das Improvisieren ein Handeln in und mit Zeit, eine Neuordnung von Bewegungen in Räumen des Tönens. Es bezieht sich auf Beschleunigungen und Verlangsamungen, mit Pausen. Er interessiert sich für die zeitlichen und räumlichen Rhythmen, die sich in verschiedenen Künsten artikulieren. Dabei besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den zeitlichen und räumlichen Strukturen innerhalb der einzelnen Kunstwerke und der Raumzeitlichkeit ihrer Rezeption. Zeit und Raum werden dabei jedoch nicht als abstrakte Kategorien vorausgesetzt, sondern als konstituierende Faktoren des Kunstwerks selbst begriffen. Sie werden erst beim Lesen eines bestimmten Romans oder beim Hören eines bestimmten Musikstücks fassbar. Die Zeitlichkeit eines musikalischen Werks wird daher nicht als abstrakte Kategorie verstanden, sondern mit den Begriffen der Retroaktion und Intensität gefasst, was dem offenen Charakter der

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Improvisation im Jazz gerecht wird. Im Jazz, den Feige als offene Praxis versteht, steht bei jeder einzelnen Improvisation aufs Neue der ästhetische Sinn des Musikstücks auf dem Spiel. Erst durch eine retroaktive Betrachtung fügen sich die einzelnen Teile zu einem Ganzen, eine gelungene Improvisation etabliert sich erst im Entstehen. Doch eine solche, gespielte und gehörte Improvisation ist in sich nicht abgeschlossen; sie steht in einem Verhältnis zu früheren und späteren Interpretationen. Der Beitrag beschreibt den Rhythmus im Jazz als aktiv gestaltbar, als intensivierte Zeitlichkeit und nicht zuletzt als den (wiedererkennbaren) persönlichen Ausdruck der jeweiligen Spielenden. Fragmentierungen und Dynamisierungen von Rhythmen treten unter anderem im Schlagen von Trommeln und Becken hervor. Was bei Militärkapellen geordnet erscheint, als eine musikalische Einfassung von Schritten, Körpern und Gleichstimmung der sich Bewegenden auftritt, wird bei Oliver Schwerdt zu Eingriffen in die Räume des Hörens und Fühlens. Er untersucht das Schlagzeugspiel von Günter ‚Baby‘ Sommer und spürt den Einkerbungen künstlerischer Zeit nach. Das Überraschende, Unerwartete und Unvorhersehbare gerät in den Blick. Es bringt die über Zeit ‚geschulten‘ Strukturen von Sound und Klangempfindungen aus den Bahnen, setzt sie neben die Gleise. Lucia Kessler-Kakoulidis betont in ihrem Beitrag die Bedeutung des Rhythmus für verschiedene Lebensbereiche und gibt einen Überblick über unterschiedliche Konzepte von Rhythmus, wobei sie sich sowohl für dessen Bedeutung für das menschliche Leben als auch für seine ordnende Funktion interessiert. Besonders hebt sie den Zusammenhang zwischen Musik und Bewegung hervor und führt damit zu ihrer Fragestellung hin, die sich mit der Rolle des Rhythmus im musikpädagogischen Konzept von Émile Jaques-Dalcroze auseinandersetzt. Rhythmen zeichnen sich, so Kessler-Kakoulidis, durch Gleichmäßigkeit, Gliederung und Harmonie aus – die Abläufe erneuern sich von selbst, sind aber etwa beim Atmen oder beim Herzschlag niemals absolut identisch. Rhythmen werden als das ganze Leben prägend beschrieben. Abgesehen von den bereits genannten biologischen Abläufen werden rhythmisch geprägte raumzeitliche Vorgänge in der Natur und soziale sowie psychologische Rhythmen thematisiert. Die Bedeutung des Rhythmus für die Künste, insbesondere für die musikpädagogische Ausbildung, steht im Zentrum des Beitrags. Kessler-Kakoulidis beschreibt JaquesDalcrozes um die Jahrhundertwende entwickeltes Prinzip „la rhythmique“, das auf der Annahme beruht, dass die körperliche Bewegung zum musikalischen Lernen beiträgt. Dabei beschränkt sich der Rhythmusbegriff allerdings nicht auf den musikalischen Rhythmus, sondern schließt auch melodische, harmonische und weitere Faktoren mit ein. Die musikpädagogische Ausbildung wird dabei als ganzheitlich verstanden, es geht auch um die Entfaltung der Persönlichkeit von Individuen. Dem Rhythmus und den rhythmischen Formen wie zum Beispiel Takt,

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Metrum, Satzbau und Harmonie kommt dabei die Rolle des Vermittlers zwischen Körper, Mensch und Musik zu. Die Autorin beschreibt, wie Jaques-Dalcrozes Konzeption der Rhythmik an der Bildungsanstalt Hellerau – einer Gartenstadt und Künstlerkolonie nahe Dresden, Künstlerkolonie, an der verschiedene Künste vertreten waren – nicht nur im Bereich der Musikpädagogik, sondern auch in der Architektur und Bühnenästhetik des Gebäudes umgesetzt wurde. Rhythmen, bezogen auf das Verhältnis der Texte zueinander, untersucht Holt Meyer, indem er Puškins Gebrauch der Klammer in Evgenij Onegin analysiert und zu Textstellen in Werken von Lord Byron und Jane Austen in Beziehung setzt. Er geht vom Konzept des Fragments, so wie es in der Romantik diskutiert wurde, aus und schlägt das Verhältnis eines unvollständigen Stücks zu einem mehr oder weniger sichtbaren Ganzen als Analysekategorie vor. Rhythmus lässt sich in diesem Verhältnis, dem Verhältnis eines Teils zu einem Ganzen, begreifen. Dabei können die Rhythmen der Fragmente Teil eines übergreifenden Rhythmus sein – sie können jedoch auch Teil eines Ganzen sein, das sich aus verschiedenen rhythmischen Ensembles zusammensetzt, die sich arrhythmisch zueinander verhalten. Innerhalb der einzelnen Textpassagen oder Fragmente werden durch Vers- und Reimstrukturen Rhythmen konstituiert, sie werden jedoch auch durchbrochen. An diesem Punkt, so die zentrale These, wird die Klammer, ein zunächst visueller Bruch, bedeutungstragend. Meyer zeigt auf, dass in den Passagen in Klammern sowohl bei Puškin als auch bei Byron das Prinzip der Ordnung – des Textes, der Gesellschaft – verhandelt wird. Er macht deutlich, wie der Rhythmus der Klammer (mitsamt ihrer ordnungskritischen Aussage) Texte in verschiedenen Sprachen und Literaturen miteinander in Verbindung bringt. Die Aneignung Byrons durch Puškin hat allerdings erstaunlich wenig mit den Rhythmen einer bestimmten Sprache, mit den Versen, Reimen und Metren zu tun – Puškin hat Byron nämlich in der französischen Prosaübersetzung rezipiert, wie Holt Meyer feststellt. In diesem Sinne lässt sich die Klammer auch als (ar‐) rhythmisches Fragment lesen. Die interdisziplinären Beiträge thematisieren ganz unterschiedliche Konzepte und Konnotationen von Taktungen und Rhythmen. Sie sind an Macht- und Herrschaftsverhältnisse gebunden, die die Fundamente von Gesellschaften legten und legen. Es geht um die Imaginationen des Gleichlaufs, der Ausrichtung und der Abfolge. Taktungen sind Verdichtungen von einzelnen Bewegungsabläufen. Rhythmen erhalten durch Taktungen Form. Sie drücken sich in Verflechtungen aus, die die Beiträgerinnen und Beiträger in ihren Texten aufspüren.

Susanne Rau

Rhythmusanalyse nach Lefebvre English abstract: Rhythmanalysis according to Lefebvre. In the fields of Social Sciences and Cultural Studies, the first analytical and systematic approach to the interplay of spatiality and temporality is found in the French philosopher Henri Lefebvre’s (1901– 1991) considerations on rhythm. These were first published posthumously in 1992. Albeit not finalized by its author, the text offers in its core a notion of rhythm related to urban research. The term „rhythmanalysis“ is implemented to explore the routines of movements in urban spaces. Lefebvre’s method generally deduces concrete applications from concepts and categories. Two times, however, he focused on concrete application first: in the case of an analytical view from the window and in a rhythmanalysis of Mediterranean cities performed with Catherine Régulier in the 1980s. Throughout his career, Lefebvre maintained a complicated relationship to various branches of Marxism. He was read predominantly as a Marxist theorist of urban research in the Anglo-American scientific community until his reception in France began in the 21st century. It was Lefebvre’s intention to establish rhythmanalysis as a new scientific discipline. His method conceptualized time in nature as cyclical, underscoring the fact that it is spatially perceived. Lefebvre notes that time in the social space of modernity is linear and artificial, being conditioned by industrialization and economic calculation based on the market. He further claims that remnants of non-adapted time and rhythm react to this conditioning in the form of affectivity, energy, and creativity. Rhythmanalysis thus examines the complex day-to-day interferences of cyclical and linear rhythms, particularly in urban space. In his first chapter („The Critique of the Thing“) Lefebvre emphasizes repetition and difference as main categories coming together in the notion of rhythm. In any (dichotomic) manifestation, the latter is deeply involved with measure. Rhythmanalysis appears to be a new field of knowledge applicable to all phenomena of individual or collective life, music and history. Although rhythm is not a new topic to various scientific disciplines, the reception of Lefebvre’s concept of rhythmanalysis has but begun to develop. Expanding it to a new field of knowledge would require an interdisciplinary team that is able to analyze the complexity of intertwined cosmic, physical, social, and artificial rhythms which shape groups and societies.

https://doi.org/10.1515/9783110466591-002

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Susanne Rau

Das Zusammenspiel räumlicher und zeitlicher Praktiken zu analysieren und dafür auch geeignete Analyseinstrumente zu finden, ist seit ihrer Gründung ein Anliegen der Forschungseinheit, jetzt Forschungsgruppe „Erfurter RaumZeit-Forschung“, die an der Universität Erfurt angesiedelt ist. In den Sozial- und Kulturwissenschaften gibt es wenige Raumanalytiker, die in systematischer Weise zeitliche Dimensionen des Raums mit einbezogen oder Konzepte der Raumzeitlichkeit entworfen haben. Im Bereich der Literatur- und Kulturtheorie steht dafür das Chronotopos-Konzept von Michael Bachtin.¹ Die soziologische Institutionentheorie hat die Begriffe Eigenräume und Eigenzeiten eingeführt und auch erfolgreich angewandt.² Sie hat diese beiden Dimensionen von Institutionalität aber selten aufeinander bezogen, jedenfalls nicht primär und damit konzeptuell. Bei dem französischen Sozialphilosophen und Stadtforscher Henri Lefebvre (1901– 1991) wird man fündig. Die zeitliche Dimension ist bereits in seiner Raumtheorie – La production de l’espace – enthalten. Systematisch hat er sich mit der Verbindung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit in seinen Überlegungen zum Begriff des Rhythmus beschäftigt. Deren Verschriftlichung lässt sich allerdings erst in dem postum erschienenen Werk zur Rhythmusanalyse nachlesen.³ Dabei handelt es sich um einen nicht ganz vollendeten, passagenweise noch skizzenhaften Text, jedenfalls ohne Fußnoten, was das Verständnis und die Rezeption etwas erschwert. Lefebvre hat durchaus Erkenntnisse der Musikwissenschaft und der Chronobiologie mit in seine Überlegungen einfließen lassen, aber im Wesentlichen entwickelte er seinen Rhythmusbegriff aus der und für die Stadtforschung. Im Kern heißt Rhythmusanalyse bei ihm also, die Routinen von Bewegungsabläufen in städtischen Räumen zu untersuchen. Als geordnete oder getaktete Bewegungen sind Rhythmen nicht nur ein Aspekt von Zeitlichkeit, sondern zugleich auch von Räumlichkeit. Die von Lefebvre selbst gewählte Vor-

 Michail M. Bachtin. Chronotopos. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.  Karl-Siegbert Rehberg. Die stabilisierende ‚Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung. In Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, hg. von Reinhard Blänkner, Bernhard Jussen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998, 381– 407. Aus systemtheoretischer Sicht sind Eigenzeiten die spezifischen Systemzeiten; vgl. dazu Niklas Luhmann. Gleichzeitigkeit und Synchronisation. In ders. Soziologische Aufklärung. Bd. 5. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990, 95 – 130; Niklas Luhmann. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997.Vgl. ferner Helga Nowotny. Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, die sich mit der gesellschaftlichen und individuellen Strukturierung von Zeit und deren qualitativen Veränderungen befasst.  Henri Lefebvre. Éléments de rythmanalyse. Introduction à la connaissance des rythmes. Paris: Éditions Syllepse, 1992; Henri Lefebvre. Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life, übers. von Stuart Elden, Gerald Moore. London, New York: Continuum, 2004.

Rhythmusanalyse nach Lefebvre

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gehensweise ist „philosophisch“: vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Konzept und den definierten Kategorien zum Konkreten.⁴ Doch hat er sich auch zwei Mal auf die Anwendungsseite begeben: zum einen mit der Analyse des Geschehens auf der Straße beim Blick aus dem Fenster;⁵ zum anderen in einem gemeinsam mit Catherine Régulier verfassten Aufsatz zur Rhythmusanalyse mediterraner Städte.⁶ Um Lefebvres Konzept besser zu verstehen und auf seine Tauglichkeit für sozial- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen zu prüfen, wird im Folgenden das Rhythmuskonzept im Rahmen von Lefebvres Raumtheorie verortet (1), bevor das Rhythmuskonzept selbst – soweit es fassbar ist – skizziert wird (2); anschließend werden Anwendungen vorgestellt (3), um abschließend auf Chancen und Grenzen des Konzepts (4) einzugehen.

1 Räume und deren Rhythmen Die Notwendigkeit einer Rhythmusanalyse hat Lefebvre bereits in seinem Buch La production de l’espace angedeutet: „Enfin, dernier point, l’hypothèse d’une ‚spatio-analyse‘ pourrait nuire en l’obscurcissant au projet, d’une rythmanalyse qui complète l’exposé de la production d’espace.“⁷ Sie steht auch im Kontext seiner Reflexionen zur Zeit, die er – etwas dichotomisch – in lineare und zyklische Zeitvorstellungen einteilt. In der Natur, so Lefebvre, werde Zeit stets im Raum empfunden; im sozialen Raum der Moderne werde sie durch die künstliche Zeit der Uhren und Messapparate ersetzt, die zudem einer linearen Zeitvorstellung Vorschub leiste, die laut Lefebvre mit der Industrialisierung, der Orientierung am Markt und der notwendigen wirtschaftlichen Kalkulation aufgekommen sei. Die Zeit degradiere zur Ware. Es ist kaum zu übersehen, dass Lefebvres Zeitkonzept hier mit seiner Theorie der Entfremdung zusammenläuft. Das dichotomische Zeitkonzept wird im nächsten Schritt dann auch auf Rhythmen als routinierte

 Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 13.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 41– 53.  Der ‚Essai de rythmanalyse des villes méditerranéennes‘ von Henri Lefebvre und Catherine Régulier wurde erstmals publiziert in: Peuples Méditerrannéens 37 (1986), wiederabgedruckt in: Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 97– 109; vgl. auch Henri Lefebvre, Catherine Régulier. Le projet rythmanalytique. Communications 41 (1985): 191– 199, DOI: 10.3406/comm.1985.1616.  Henri Lefebvre. La production de l’espace. Paris: Anthropos, 2000, 465; vgl. dazu die Ausführungen bei Guelf, an denen ich mich für die folgende Passage orientiere: Fernand Mathias Guelf. Die urbane Revolution. Henri Lefèbvres [!] Philosophie der globalen Verstädterung. Bielefeld: transcript Verlag, 2010, 205 – 207.

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Bewegungsabläufe übertragen, die jedoch nicht aufeinander folgen, sondern im gleichen Leben aufeinander treffen: Die natürlichen Rhythmen wie Atmung, Blutkreislauf, Puls, durch die der Mensch in einem frühen Stadium seines Lebens geprägt wird, werden früher oder später mit den rationalen, qualitativen Rhythmen, die in der städtischen, marktwirtschaftlichen Gesellschaft erzeugt werden, konfrontiert. Das heißt, die zwei Regime stoßen aufeinander, wobei Lefebvre davon ausgeht, dass die rationalisierenden, auf linearen Abläufen beruhenden Rhythmen die natürlichen und körperbezogenen beeinflussen und zu homogenisieren vermögen. Die Zeit bzw. der Rhythmus jedoch, die bzw. der sich den Homogenisierungsversuchen entziehen kann, reagiert im Sinne von Emotionalität („affectivité“), Energie („énergie“) und Kreativität („créativité“).⁸ Um die verschiedenen – parallelen oder sich überlagernden – Rhythmen der Stadt näher zu untersuchen, wollte Lefebvre eine Rhythmusanalyse als eine neue Wissenschaft („science nouvelle“) begründen.⁹ Schon dies – die Idee, eine neue Wissenschaft einzuführen –, bedarf eines gewissen Wagemutes, der sich gewiss nicht bei jedem gewöhnlichen Wissenschaftler finden lässt. Dass Lefebvre keineswegs gewöhnlich war, zeigt sich schon an seinem besonderen Lebensweg, der ihn von einer Schulstelle als Philosophielehrer unter anderem über einen Direktorenposten bei Radio-diffusion française in Toulouse (1944 – 1949) und eine Forscherstelle am CNRS¹⁰ (1949 – 1961) erst 1961 auf eine Soziologie-Professur in Straßburg führte. Ganz am Ende seiner Universitätslaufbahn war er noch Professor in Paris X-Nanterre (1965 – 1973). Seine Laufbahn endete am Institut d’urbanisme, der Vorgängerinstitution der École d’urbanisme de Paris.¹¹ In Nanterre kam er mit der 68er-Studentenbewegung in Berührung. Anfangs hatte er wohl die Rolle einer Leitfigur inne, geriet jedoch bald in den Schatten von Louis Althusser.¹² Auch zum Marxismus hatte er ein kompliziertes Verhältnis. Den dialektischen Marxismus lehnte er ebenso ab wie die stalinisti-

 Lefebvre, Production, 452.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 5. René Lourau verweist hier im Vorwort auf die Critique de la vie quotidienne von 1981. Lefebvres Einleitung zur Rhythmusanalyse beginnt dann wie folgt: „L’ambition de ce petit livre ne se dissimule pas. Il ne se propose rien de moins que de fonder une science, un nouveau domaine du savoir: l’analyse des rythmes; avec des conséquences pratiques.“ Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 11.  CNRS = Centre national de la recherche scientifique.  Veronika Deffner. Henri Lefebvre (1901– 1991). In Theoretiker der Globalisierung, hg. von Matthias Middell, Ulf Engel. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 307– 308; Art. Lefebvre, Henri. In Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http://www. munzinger.de/document/00000017368 (28.06.2018).  Rob Shields. Henri Lefebvre. In Key Thinkers on Space and Place, hg. von Phil Hubbard, Rob Kitchin. London: Sage, 2004, 211.

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sche Staatsdoktrin, weswegen er 1958 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde. Erst in den 1980er Jahren näherte er sich der Partei wieder an. Die Position als marxistischer Stadttheoretiker und Marxist „à la marge“ – gewissermaßen eine zweifache Außenseiterposition – führte dazu, dass sein Werk zunächst kaum in Frankreich, sondern eher im anglo-amerikanischen Sprachraum (Soziologie, Geographie) rezipiert wurde, bis er seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts auch in Frankreich wieder gelesen wird. Wie andernorts, wo sich sozial-politische Bewegungen auf ihn berufen („Recht auf Stadt“-Bewegungen oder Globalisierungskritiker), bezieht man sich auch in Frankreich auf ihn als engagierten Intellektuellen.¹³

2 Rhythmen und Rhythmusanalyse In seinem Versuch, eine Rhythmusanalyse zu begründen, setzt Lefebvre mit einer Kritik an den Marxisten an: sie hätten Rhythmus nur auf Arbeit bezogen. Mit der Rhythmusanalyse sollen jedoch die komplexen Interferenzen zwischen zyklischen und linearen Rhythmen untersucht werden, die im Alltagsleben auftreten. Das Alltagsleben ist für Lefebvre die „praktische“, nicht die theoretische Seite des Lebens, in dem Physisches, Psychisches und Soziales zusammenkommen. Es ergibt sich aus den – jeweils individuellen und kontextspezifischen – Beziehungen zwischen Arbeit, Familie und Privatleben. Die Stadt ist für ihn auch hier das Untersuchungsfeld par excellence, also der Ort, an dem sich eine Kondensierung der Raumzeitlichkeit, vor allem des Staates als Abstraktum, erkennen lässt. Lefebvre konstatiert für die Stadt allerdings auch die zunehmende Bedeutung von Musik im Alltag. Und schließlich spielt der Faktor Beschleunigung eine Rolle. Genauer betrachtet, geht es um Bewegungen, um soziale Bewegungen, die heute schneller als früher entstehen und wieder vergehen. Exemplarisch verweist er auf das Christentum und den Marxismus. Lefebvre betont in dem Buch auch Körperlichkeit, Empfindsamkeit und Beobachtung – Letzteres geht aus Kapitel 3 hervor: „Blick aus dem Fenster“.¹⁴ Darin beschreibt er, was er – am Fenster stehend – beobachtete, den Blick auf die Straße gerichtet, bei der es sich um die rue Rambuteau handelt. Der Blick vom Fenster aus, das heißt vermutlich aus einer Etage, ist der methodische Standpunkt des Beobachters, der sich in einer gewissen Distanz zu dem Geschehen befinden

 Vgl. zuletzt Hugues Lethierry (Hg.). Agir avec Lefebvre. Altermarxiste? Géographe radical? Lyon: Chronique sociale, 2015.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 41– 53.

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muss, um es besser analysieren zu können, sich aber gleichzeitig auf das Geschehen einlassen muss, vor allem auf seine Dauer. Auf der Straße nimmt er verschiedene Dinge wahr: Lärm und Gespräche (relativ arrhythmisch), Fußgänger, die die Straße überqueren, Autos, Taxis, Busse, leises Murmeln, ab und zu ein Rufen. Die Fußgänger produzieren ihre eigenen Geräusche, ebenso wie die Autos, insbesondere in Abhängigkeit von den Ampelphasen. Was Augen und Ohren wahrnehmen, stimmt weitgehend überein. Touristen aus fernen Ländern bewegen sich, ihren Interessen folgend, auf bestimmten Wegen durch die Straßen. Es folgen die Kinder, die zur Schule gehen, und ab 9.30 Uhr die Einkäufer, die zu den Läden strömen. Ein anderes Fenster eröffnet einen Blick auf Hinterhöfe und Gärten, die den Alltagsrhythmen der anderen Seite ganz entzogen sind. Hier lassen sich vielmehr das Spiel von Sonne und Schatten beobachten sowie die jahreszeitlichen Rhythmen der Pflanzen. Am Abend schließlich entsteht auf dem Vorplatz von Saint-Merri eine Art ephemeres Festival mit Jongleuren, Feuerspeiern, Schlangenmännern und Predigern, die eine große Menge Menschen wellenartig anziehen. Dies geht solange, bis die Anwohner protestieren: Ab 22 Uhr soll kein Lärm mehr gemacht werden. Eine Kamera allein kann diese Rhythmen nicht einfangen. Man benötigt neben den Augen auch Ohren sowie das Gedächtnis, um die verschiedenen Momente zusammenzusetzen und um sich an ältere zu erinnern. So verlagert sich die eigene Zeit des Beobachters während des Beobachtungsvorgangs hin zum beobachteten Geschehen, was eine Passage vom Subjekt zum Objekt bedeutet. Doch die Seite des Konkreten und des Empfindsamen verschwindet schnell wieder. Man sieht es vom ersten Kapitel der Rhythmusanalyse an: Der Weg vom Abstrakten zum Konkreten liegt Lefebvre näher.¹⁵ Auch wenn dem Philosophen der Ausgang vom Konkreten, von den Beobachtungen, von spürbaren körperlichen Rhythmen nicht entspricht, was das methodische Vorgehen betrifft, so ist ihm andererseits doch wichtig, die qualitativen und organischen Rhythmen mit zu berücksichtigen. Im Folgenden werde ich versuchen, das Anliegen Lefebvres etwas systematischer zu umschreiben. Dazu sollen zehn wesentliche Punkte dienen, die sich vor allem aus Kapitel 1 („Critique de la chose“) ergeben: a. Es geht weniger um die Frage, was Rhythmus ist, als um die Frage, wie Rhythmen analysiert werden können und warum man sie analysieren sollte. Das scheint zunächst dem Ansinnen zu widersprechen, vom Abstrakten zum Konkreten vorgehen zu wollen, doch ist es eher eine Folge des Bewusstseins darüber, dass eine einfache Definition des Rhythmusbegriffs alles andere als einfach ist.

 Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 13.

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Rhythmus, so Lefebvre an anderer Stelle, gehöre zu den Begriffen, von denen jeder denkt, er wisse, was es ist, ein Definitionsversuch dann aber jedem schwerfalle.¹⁶ b. Lefebvre beginnt mit einer Definition ex negativo: Rhythmus sei weder zu verwechseln mit Bewegung noch mit Geschwindigkeit, Takt, Ritus, einer Sukzession von Gesten noch mit Wiederholungen allein.¹⁷ c. Vielmehr haben Rhythmen, insbesondere soziale Rhythmen, mit Wiederholung & Differenz zu tun. Neben der Wiederholung gibt es im Rhythmus immer auch das Andere, das Unvorhergesehene oder das Neue – im Alltäglichen, in Riten, bei Zeremonien oder Festen.¹⁸ d. Zur Genese dieser neuen Wissenschaft: Der Begriff Rhythmusanalyse stammt nicht von Lefebvre selbst. Seinen eigenen Angaben nach hat er ihn von dem portugiesischen Philosophen Lúcio Alberto Pinheiro dos Santos übernommen, der 1931 den Begriff geprägt und in seinem Werk die physiologischen Prinzipien einer Rhythmusanalyse entwickelt hat. Pinheiro dos Santos hat in seiner Phänomenologie vorgeschlagen, alle Elemente der Wirklichkeit in einer rhythmischen Bezugnahme zueinander zu sehen.¹⁹ Von ihm hat Gaston Bachelard den Begriff in seiner Psychanalyse du feu übernommen. Wie Pinheiro dos Santos ging Bachelard davon aus, dass ein gut rhythmisiertes Leben, vielmehr ein regelmäßiger Wechsel von Aktivität und Ruhe, heilsame Wirkungen haben kann.²⁰ Lefebvre fand jedoch, dass weder der Eine noch der Andere den Begriff ausreichend definiert habe, um damit unmittelbar arbeiten zu können.²¹ e. Lefebvre schlägt eine Annäherung an das Konzept des Rhythmus mit Hilfe von Dichotomien vor: Wiederholung und Differenz – mechanisch und organisch – Entdeckung und Kreation – zyklisch und linear – kontinuierlich und diskontinuierlich – quantitativ und qualitativ.²² Diese analytischen Oppositionspaare, die noch weiterentwickelt werden sollen, laufen in dem zentralen Begriff der Messung („mesure“) zusammen. Rhythmen sind dann aber nicht entweder das eine oder das andere, sondern oftmals beides: z. B. Wiederholung und Differenz. f. Mithilfe dieser Kategorien sollen folgende Rhythmusarten analysiert werden: geheime, öffentliche, fiktive, dominant-dominierte Rhythmen. Geheime

 Lefebvre, Régulier, Projet, 194.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 14.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 14.  Vgl. Guelf, Urbane Revolution, 204.  Kurt Meyer. Rhythms, streets, cities. In Space, Difference, Everyday Life. Reading Henri Lefebvre, hg. von Kanishka Goonewardena u. a. New York, London: Routledge, 2008, 147.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 18.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 18.

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Rhythmen können physiologisch, aber auch psychologisch sein. Gedächtnis und Erinnerung, das Gesagte und das Nicht-Gesagte werden angeführt. Als öffentliche (oder soziale) Rhythmen werden Kalender, Feste, Zeremonien und Feiern genannt sowie alle Dinge, die hervorgehoben werden, die also „Potenzial“ haben („virtualité“), oder die man ausdrückt (Verdauung, Müdigkeit). Zu den fiktiven Rhythmen gehören Eloquenz, verbale Rhythmen, Eleganz, Gesten, Lernprozesse, auch falsche Geheimnisse, Pseudo-Dissimulationen (Berechnungen und Einschätzungen) und das Imaginäre. Dominant-dominierte Rhythmen tauchen in der Musik oder beim Reden auf, sind in der Regel neu erfunden, alltäglich oder dauerhaft.²³ g. Was soll also die Rhythmusanalyse leisten? Rhythmusanalyse ist nach Lefebvre, wie erwähnt, eine Wissenschaft, ein neues Feld des Wissens, mit praktischen Konsequenzen bzw. empirischen Anwendungsfeldern. Trotz der Privilegierung der Stadt soll diese Wissenschaft transdisziplinär sein, sie soll in vielen Bereichen anwendbar sein. Die Frage wäre nun, ob es sich um eine Metawissenschaft handelt. Lefebvre würde diese Frage verneinen. Denn die Rhythmusanalyse steht nicht über dem Leben, sondern soll die komplexen Realitäten analysieren, also die Art des Ineinanderverwobenseins von Menschen, Dingen, Handlungen und Artefakten.²⁴ Sie ist eine Methode zur Analyse von Gesellschaft, ihrer Machtverhältnisse, aber auch ihrer Geschichte. In dem Abschnitt zur Kritik der Kurzsichtigkeit von Schopenhauer und Marx klingt es an: Im 19. Jahrhundert hätten die Dinge einen Warencharakter erhalten.²⁵ Auch Raum und Zeit wurden unter dem Einfluss des Marktes zu Produkten mit ihren eigenen Rhythmen. Dies übertrug sich auf den Alltag: schuf zeitliche Bedürfnisse, das Transportwesen und anderes mehr, Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten, die sich ständig wiederholen. h. Ein zentraler Aspekt von Rhythmus sind Wiederholungen. Aber es ist eben nur ein Aspekt, weil Rhythmus nicht in der Wiederholung aufgeht. Die reine Wiederholung ist nach Lefebvre eine Fiktion, die es nur in der Logik oder in der Mathematik gibt (A=A).²⁶ In einer Folge von Wiederholung gibt es nicht nur Gleiches. Es gibt zum einen die Abfolge: gerade/ungerade Zahlen, teilbare/unteilbare Zahlen. Differenz wird also durch die Wiederholung produziert. Dies scheint ein theoretischer Widerspruch zu sein. Doch Lefebvre setzt ganz anders an: Er formuliert die Frage, ob die durch Wiederholungen formulierten Differenzen nicht gerade den Lauf der Zeit ausmachen. Eine andere Art von Wiederho-

   

Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 29. Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 21. Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 15. Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 16.

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lungen sind zyklische und lineare Wiederholungen. Auch hier zeigt Lefebvre, dass sie nur in der Theorie getrennt sind, in der Realität aber häufig interferieren.²⁷ Ihr Zusammenwirken ist häufig von Kompromissen und Störungen geprägt. Die Zeiger auf der Uhr bewegen sich zirkulär, hinzu kommt das lineare Ticktack. Doch erst beides zusammen mache das Maß der Zeit, also den Rhythmus aus. Das Zusammenwirken von Zyklischem und Linearem bezeichnet er als reziprokes Anziehen, als dialektische Beziehung („unité dans l’opposition“), die wir auch bei den Kategorien Raum und Zeit vorfinden.²⁸ Aber auch die gemessene Zeit ist Lefebvre zufolge wiederum nur der quantitative Rhythmus (der einzelne Momente unterscheidet). Es gibt dabei auch qualitative Aspekte, die die Elemente verbinden und Ensembles herstellen: „Le rythme apparaît comme un temps réglé, régi par les lois rationnelles, mais en liaison avec le moins rationnel de l’être humain: le vécu, le charnel, le corps.“²⁹ Zum einen ist der Rhythmus also an logisch-mathematische Kategorien gebunden, zum anderen an den lebendigen Körper. An ihn sind die Wiederholungen, die Interferenzen der linearen und zyklischen Prozesse gebunden; durch ihn entsteht, wächst, vergeht und verfällt etwas. Überall, so Lefebvre, wo Raum, Zeit und Energie zusammenwirken, ist auch Rhythmus.³⁰ Dieser kann in allen Bereichen, in der Musik, in der Geschichte, im individuellen oder kollektiven Leben analysiert werden. i. Zur Differenzierung der Rhythmen: Wenn verschiedene Rhythmen zusammentreten, gibt es Isorhythmie, Polyrhythmie, Eurhythmie oder auch Arrhythmie.³¹ Isorhythmie finden wir beim Auftreten gleichartiger Rhythmen, was selten vorkommt, außer vielleicht bei einem gut dirigierten Orchester. Polyrhythmie ist eher der Normalzustand. Im Körper wie im Alltagsleben gibt es verschiedene Rhythmen, die nicht unbedingt aufeinander abgestimmt sind. Ist dies der Fall, haben wir einen Zustand von Eurhythmie. Das Gegenteil ist die Arrhythmie, die dann vorliegt, wenn die Rhythmen gar nicht aufeinander abgestimmt sind. Dies kann auch zu einem pathologischen Zustand führen. Funktional betrachtet ist Rhythmus eine Art ideelles Bindeglied, der die (bewegten) Dinge, Handlungen  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 16 – 17.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 17: „Le temps et l’espace, le cyclique et le linéaire ont cette action réciproque; ils se mesurent l’un par l’autre; chacun se fait mesurant-mesuré; tout est répétition cyclique à travers des répétitions linéaires. Un rapport dialectique (unité dans l’opposition) prend ainsi sens et portée, c’est-à-dire généralité. On atteint, par cette voie comme par d’autres, la profondeur de la dialectique.“  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 18. Übersetzt: „Rhythmus erscheint als regulierte Zeit, reguliert durch rationale Gesetze, aber in Verbindung mit dem weniger Rationalen des menschlichen Wesens: dem Erlebten, dem Fleischlichen, dem Körper.“  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 26.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 26 – 27 und 91– 92.

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und Menschen zusammenhält, wenngleich er sie nicht fixiert, sondern die Konstellationen des Zusammenspiels variierbar hält. Ein Rhythmus hat dann seine bestimmte Taktung, seine Zeitlichkeit, die mit anderen Rhythmen harmoniert oder eben nicht. Rhythmen organisieren das durchaus verschiedenartige Zusammenspiel der Dinge zwischen Individuen und Gesellschaft. Sie können auch aktiv hergestellt werden (etwa bei militärischen Übungen) oder wenigstens ein Ziel sein (Versuche, bestimmte Prozesse in Einklang zu bringen).³² In der Rhythmusanalyse der mediterranen Städte wird dies nochmals deutlicher: Die philosophische und wissenschaftliche Tradition habe Raum und Zeit getrennt betrachtet, als seien es zwei verschiedene Entitäten.³³ Dabei stehen sie in einem relationalen Verhältnis. Bestimmte Zeitlichkeiten seien deshalb eher Rhythmen, also als Rhythmen zu bezeichnen, weil sie mit einer bestimmten Räumlichkeit (einem Ort, einer Bewegung) in Beziehung stehen: das Schlagen des Herzens, die Bewegung einer Straße, das Tempo eines Walzers. Die Rhythmusanalyse soll diese Konzepte bestimmen – und dabei auch das Zusammenwirken von Raum, Zeit und Energie, zeitliche Abweichungen und den Einsatz von Energie. j. Schließlich wird darauf verwiesen, dass die Rhythmusanalyse alt sei. Sie begann bereits in der Frühgeschichte der Menschheit, als die Menschen anfingen, Geräusche der Natur – des Regens, der Blumen, der Stimmen – aufzufangen und diese zu differenzieren.³⁴ Das Gehör spielt dabei die entscheidende Rolle; dadurch werden die objektiven äußeren Rhythmen in unsere subjektiven inneren übersetzt. Man kann diese hörbaren Rhythmen aufnehmen, sie wiederholen, um sie dadurch noch besser zu unterscheiden und zu analysieren. Möglichst viele Arten von Rhythmen sollen so zusammentreten. Dann ist die Rhythmusanalyse keine Einzelanalyse mehr, sondern eine „globale“, umfassende Wissenschaft, die dazu dienen kann, ganze Organismen oder gesellschaftliche Formationen, deren Rhythmen und Interaktionen zu analysieren. Angewandt auf die Stadt bedeutet es, Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten, das Öffentliche und das Private, das Staatlich-Politische und das Intime, das Sakrale und das Profane sowie deren Verbindungen untereinander und Verschachtelungen ineinander zu untersuchen:

 Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 92.  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 99: „Malgré ces théories [contemporaines, S.R.], dans les sciences sociales on continue à morceler le temps en temps vécu, temps mesuré, temps historique, temps de travail et temps de loisir, temps quotidien, etc., que l’on étudie le plus souvent hors de leur cadre spatial. Or les temps concrets ont des rythmes ou plutôt sont des rythmes – et tout rythme implique le rapport d’un temps avec un espace, un temps localisé ou si l’on veut un lieu temporalisé.“  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 93.

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das Zimmer, das Appartement, das Haus, die Straße, den Platz und das Viertel, schließlich die Stadt („ville“) – oder auch noch die Kleinfamilie, die Großfamilie, die Nachbarschaft, die freundschaftlichen Beziehungen und die Stadt als Bürgerschaft („cité“).³⁵ Zur Rhythmusanalyse in der Stadt gehört schließlich auch die Analyse der unterschiedlichen Nutzung dieser Räume durch die Bürger bzw. den Staat, deren unterschiedliche Zeiten und Rhythmen.

3 Rezeption und Anwendung Lefebvres Rhythmusanalyse hat in den historischen Kulturwissenschaften bis dato eine eher spärliche Rezeption erfahren. Dies mag partiell an dem noch nicht ganz ausgereiften Text liegen, den Lefebvre hinterlassen hat.³⁶ Rhythmen werden zwar nach wie vor in der Musikwissenschaft, in der Poetik wie auch in der Biologie („Chronobiologie“³⁷) und in der Medizin („Chronomedizin“³⁸) analysiert. Die Rhythmusanalyse hat es aber noch nicht in den Rang der allgemeinen Wissenschaft geschafft, den Lefebvre ihr zudachte.³⁹ Gleichwohl gibt es historische Studien zu zeitlichen und zu räumlichen Praktiken⁴⁰ – Praktiken der Zeitnutzung, Konzepten wie Arbeitszeit und Freizeit⁴¹ – sowie zu Riten insbesondere in vormodernen Gesellschaften,⁴² an die sich Rhythmusstudien leicht anschließen ließen. Exemplarisch sollen im Folgenden zwei Arten der Rezeption von Rhythmusanalyse im Bereich der Stadtforschung – die eine historisch, die andere humangeographisch – vorgestellt werden. Bei dem ersten Projekt handelt es sich um  Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 104– 105.  Die beste erläuternde Zusammenfassung zu Lefebvres Text bietet Meyer, Rhythms.  Vgl. dazu den Beitrag von Veronika Lang in diesem Band.  Vgl. dazu die Arbeiten des an der Universität Frankfurt am Main angesiedelten „Dr. Senckenbergischen Chronomedizinischen Instituts“, URL: http://www.senckenbergische-stiftung.de/dr–senckenbergisches-chronomedizinisches-institut.html (07.07.2018).  Bemühungen in diese Richtung gehen von den Initiator_innen und Autor_innen einer Internet-Plattform aus, die den Titel „Rhuthmos. Plateforme internationale et transdisciplinaire de recherches sur les rythmes dans les sciences, les philosophies et les arts“ trägt; URL: http://rhuth mos.eu/ (28.06. 2018). An Kolloquien, Seminaren und selbst Dissertationen scheint es in jüngster Zeit nicht zu fehlen; Pascal Michon. Une bibliographie récente sur le rythme. In Rhuthmos, 13 décembre 2014 [en ligne]. http://rhuthmos.eu/spip.php?article1412. Doch wird allgemein beklagt, dass die verschiedenen Studien kein gemeinsames theoretisches Idiom haben; http://rhuthmos. eu/spip.php?rubrique13 (28.06.2018).  Vgl. Susanne Rau und Benjamin Steiner. Raumforschung, historische. In Enzyklopädie der Neuzeit – Online, URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352– 0248_edn_a6014000 (28.06. 2018).  Peter Borsay. A History of Leisure. Houndmills: Palgrave Macmillan, 2006.  Barbara Stollberg-Rilinger. Rituale. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2013.

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eine Tagung zu städtischen Rhythmen zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert, die im April 2000 in Lyon stattfand. Der ausführliche Call for Papers begründete die Notwendigkeit einer solchen Tagung mit der Feststellung, dass die Spezifik von Rhythmen in der historischen Stadt im Unterschied zu Rhythmen des ländlichen Raums bis dato noch nicht untersucht worden sei.⁴³ Weder Lefebvre noch ein anderer Theoretiker werden jedoch erwähnt. Vielmehr scheint man von einer Art Allgemeinverständlichkeit des Begriffs auszugehen. Analytisch werden tägliche, wöchentliche und jährliche bzw. saisonale Rhythmen unterschieden, die in demographischen, religiösen und politisch-institutionellen Bereichen untersucht werden. Hinzu kommen Aspekte der Regulierung, des Messens und der hörbaren Zeichen von Zeit im städtischen Alltag. Ganz im Gegensatz dazu bezieht sich die Dissertation von Anne Vogelpohl ganz bewusst auf das Werk Henri Lefebvres und orientiert sich im gesamten Untersuchungsdesign an den von ihm geprägten Begriffen wie Stadt, Alltagsleben, das Urbane, Urbanisierung der Gesellschaft.⁴⁴ Ihre sozialwissenschaftliche Studie zu Stadtquartieren – dem Hamburger Schanzenviertel und dem New Yorker Williamsburg – nahm sie zum Anlass, die Begriffe Stadt, Alltag und Rhythmen von Lefebvre konzeptionell so aufzuarbeiten, dass sie für die Untersuchung von Stadträumen mit ihren spezifischen Zeitverhältnissen anwendbar werden. Das Rhythmuskonzept soll es ermöglichen, die Zusammenhänge von räumlichen und zeitlichen Elementen im Alltag greifbarer zu machen.⁴⁵ Lefebvre folgend geht Vogelpohl davon aus, dass es natürliche, soziale, individuelle und technische Rhythmen gibt, die auf unterschiedliche Weise zusammentreten, dass sie harmonieren und disharmonieren können. Nicht alle Rhythmusarten sind unbeeinflussbar, das heißt positiv gewendet, dass Individuen wie Kollektive die Zusammensetzung bestimmter Rhythmen zu urbanen Alltagsrhythmen auch mit beeinflussen können. Zyklische und lineare Rhythmen können so zusammentreten, Arrhythmien können korrigiert werden, Differenzen können (als produk-

 Olivier Zeller. Colloque Les rythmes urbains (XVe-XIXe siècles). Appel à communication. Cahiers d’histoire [online], 43:1 (1998),Version vom 12. Mai 2009, URL: http://ch.revues.org/46 (28.06. 2018); das Tagungsprogramm findet sich auf der Rhuthmos-Plattform: URL: http://rhuthmos.eu/ spip.php?article373 (28.06. 2018).  Anne Vogelpohl. Urbanes Alltagsleben. Zum Paradox von Differenzierung und Homogenisierung in Stadtquartieren. Wiesbaden: Springer VS, 2012; vgl. auch dies. Städte und die beginnende Urbanisierung. Henri Lefebvre in der aktuellen Stadtforschung. Raumforschung und Raumordnung 69 (2011): 233 – 243; vgl. auch Antonio Da Cunha, Luc Gwiazdzinski und Lou Hermann. Vers un urbanisme des temps. URBIA. Les Cahiers du développement urbain durable, 16 (2014), 11-17, sowie Robin James Smith und Kevin Hetherington (Hg.). Urban Rhythms. Mobilities, space and interaction in the contemporary city. Malden, MA: Wiley, 2013.  Vogelpohl, Urbanes Alltagsleben, 71– 102.

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tive Unterschiede) entstehen und von den Menschen angeeignet werden. Mittels sogenannter fokussierter Interviews verbindet Vogelpohl Raumanalyse (wahrgenommener – konzipierter – gelebter Raum) mit Rhythmusanalyse: Wie wird der persönliche Alltag organisiert? Welche sozialen Beziehungen sind dabei wichtig? Welche Rolle spielt das Quartier? Welche durch die Stadtpolitik induzierten Veränderungen werden als bedeutsam wahrgenommen? Die Antworten über Alltagsorganisation und soziale Beziehungen geben Auskunft über zyklische und lineare Zeiten im Alltag, über Rhythmen und darüber, wie sehr man in einer bestimmten städtischen Umgebung fremd- oder selbstbestimmt ist. Mit ihrer Studie kann Vogelpohl schließlich zeigen, dass Zeiten des Alltags heutzutage de facto weit weniger standardisiert und dass Orte des Alltags nicht nur vorgegeben sind. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede in der Charakterisierung des urbanen Alltagslebens gegenüber Lefebvres Einschätzung des Alltags der Städte, die seines Erachtens stark von dem Einfluss der Industrialisierung und des Kapitals geprägt waren. Damit zeigt die Studie aber auch, dass sich Lefebvres Konzept durchaus als analytisches Instrumentarium verwenden lässt, ohne dass dadurch gleich seine Kritik an Konsum und Kapitalismus, die sich auf die 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bezog, übernommen werden muss. Erweitert werden könnte das Verständnis von „städtischem Raum“, der bei Vogelpohl im Grunde nur den des Stadtquartiers abdeckt.⁴⁶

4 Chancen und Grenzen des Konzepts Von dem Ziel Lefebvres, Rhythmusanalyse als neues Wissenschaftsfeld zu etablieren, sind wir immer noch weit entfernt, weil hierzu verschiedenste – und damit verschieden arbeitende – Disziplinen zusammenkommen müssten. Dies würde nur in einem großen interdisziplinären Team funktionieren, welches zuerst einmal zusammenzustellen wäre. Die erste Aufgabe dieses Teams wäre es dann, das Begriffs- und Methodeninstrumentarium so zu schärfen, dass es disziplinenübergreifend anwendbar wäre. Auch wäre zu entscheiden, ob mit der Rhythmusanalyse nur analytische oder auch therapeutische Ziele verfolgt werden sollen. Bei Lefebvre klingt der therapeutische Aspekt an, wenn er feststellte, dass zu viele Dissonanzen beziehungsweise Arrhythmien zu Krankheiten führen können. Die vorhandenen sozialwissenschaftlichen Analysen greifen diesen As-

 Vgl. Susanne Rau. Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2. Aufl. 2017, 154– 158.

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pekt nicht auf. Sie untersuchen Routinen von Bewegungsabläufen in städtischen Räumen oder im Arbeitskontext. Auch wenn Lefebvre die Stadt als Untersuchungsobjekt privilegierte und sich hier am ehesten ein einigermaßen kohärenter Begriff von Rhythmus und auch Ziele einer Rhythmusanalyse herauslesen lassen, hätte Lefebvre diese Einengung auf Dauer gar nicht anstreben wollen. Sein Konzept sollte von vorneherein ein allgemeines sein, um damit die Spezifik von Rhythmen wie auch die Spezifik ihres Zusammenwirkens an den verschiedensten Orten und in unterschiedlichen Bereichen zu untersuchen. Doch hier herrscht bis dato auch noch eine Vielfalt der Ansätze – was freilich nicht per se negativ ist – die sich aber nicht schon im Kern widersprechen sollten. Diese vielfältigen Ansätze und Versuche müssten zusammengebracht werden. Dies hieße zum einen, sich auf ein analytisches Konzept zu einigen, welches weiterhin die Kapazität haben müsste zu unterscheiden zwischen kosmischen, körperlichen, sozialen und artifiziellen Rhythmen. Zum anderen hieße es, einen Standpunkt zu formulieren, von dem aus die verschiedenen Rhythmen analysiert werden. Lefebvre schlug dafür den Körper (sowie den Geist, nimmt man die kognitive Seite noch hinzu) vor.⁴⁷ Denn ihn interessierte Rhythmusanalyse nicht als Partikularwissenschaft, sondern ihn interessierte die Frage, wie „natürliche“ (kosmische, körperliche) und soziale Rhythmen zusammenwirken, wie soziale Vorgänge getaktet sind, wie sie soziale Beziehungen („Gruppenbildung“) beeinflussen, wie das Zusammentreffen verschiedener Rhythmen auf die Individuen wirkt und welche Möglichkeit die Individuen haben, sie zu beeinflussen und zu verändern. Dies ist freilich kein geringes Vorhaben. Doch um Gesellschaft, die komplex ist, zu verstehen, reicht es nicht, sich mit isolierten Realitäten zu beschäftigen. Hierfür muss das – gut oder auch schlecht funktionierende – Zusammenwirken verschiedener Vorgänge sowie deren Wahrnehmung analysiert werden. Der Begriff Rhythmus hätte das Potenzial, nicht nur Raum, Zeit und Bewegung zusammenzubringen, sondern auch das jeweilige Verhältnis von Individuen und Gruppen dazu, das heißt deren aktives Zutun oder passives Erleben damit. Mit den Elementen der Rhythmusanalyse hat Lefebvre einen Vorschlag gemacht, den es aufzugreifen und weiterzuentwickeln gilt.

 Vgl. FN 27 sowie Lefebvre, Éléments de rythmanalyse, 92: „C’est bien dans le corps que nous avons situé le paradigme de l’étude rythmologique.“

Rhythmusanalyse nach Lefebvre

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Michael Rothmann

Messezeit: Handelsrhythmen und Jahreszeit English abstract: Times of Trade Fairs: Rhythms of Commerce and Season. During the Middle Ages a culture of seasonal trade fairs developed which inaugurated the rise of the relationship between supply and demand, thus being the nucleus for the so-called Free Market. Urban History formerly tended to interpret seasonal fairs as an addition to the permanent markets. The seasonal fair, however, exerted a pull beyond the proper zone of influence of the organising location. Its cyclicity responded to the regional needs of an agrarian society supplying towns and their surroundings with products. It also corresponded to the terms of manorial authorities as well as to Christian feast days. According to dates and functions, networks of coordinated trade fairs emerged which may be differentiated by local, regional, and transregional motivations. In a comparative perspective, however, cyclical sequences of trade fairs may be observed throughout medieval Europe. If one also takes account of trading fairs networks in the ancient world, this phenomenon appears to represent a basic idea of trading. From the 16th century onwards schedules of trade fairs keep records of the interdependency of temporal and spatial conditions. Adding issues of function seven types of seasonal markets are proposed which focus features like the supply with and the distribution of goods, locality and regionality, long-distance trading. Taking the whole networking system of trade fairs on all levels into consideration, the conclusion is that single markets were shaped by seasonality and spatiality. The market networks, however, began to loosen those linkings through the groups of actors who performed them.

In Kenntnis der Handelsrhythmen seiner Zeit bemerkte der dank Goethe wohl bekannteste deutsche Fehderitter Götz von Berlichingen in seinen Memoiren mit keineswegs freundlichen Hintergedanken: „Ich wust wann die Franckfurter mesz wahr.“¹ Er prahlte, dass er einen Kaufmann sogar dreimal und in einem halben Jahr zweimal überfallen habe: Auch Überfälle auf Kaufleute richteten sich also an der regelmäßigen Wiederkehr von saisonalen Jahrmärkten aus.  Götz von Berlichingen. Mein Fehd und Handlungen, hg. von Helga Ulmschneider. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1981, 97– 98. Die Frankfurter Messe. Besucher und Bewunderer. Literarische Zeugnisse aus ihren ersten acht Jahrhunderten, hg. von Johannes Fried mit einem Essay von Hartmut Boockmann. Frankfurt am Main: Umschau Verlag, 1990, 73. https://doi.org/10.1515/9783110466591-003

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Michael Rothmann

Gewachsen aus einer zunächst naturräumlich bevorzugten und verkehrsgeographisch zentralen Lage waren Jahrmärkte durch ihre prinzipielle Offenheit, bzw. offene Infrastruktur geprägt. Ihre gesellschaftlichen Auswirkungen sind daher vielfältiger, flüchtiger und schwerer zu fassen als etwa an konkrete naturräumliche Voraussetzungen gebundene Infrastrukturen von Gewerberegionen. Dennoch sind ihre Strukturmerkmale in den zeitgenössischen Quellen sichtbar, wie das obige Beispiel anschaulich und gewalttätig belegt. Um die Vielfalt der Erscheinungsformen in ihrer Komplexität sichtbar werden zu lassen, sollen die Auswirkungen einer entstehenden Jahrmarktskultur nicht nur in abstrakter Form, sondern auch an exemplarischen konkreten Marktorten vorgeführt werden. Jahrmärkte werden dabei als Keimzellen des sogenannten Freien Marktes verstanden, an denen der Siegeszug der Angebot- und NachfrageRelation begann und die Instrumente und Institutionen des Freien Marktes sich sukzessive durchzusetzen begannen. Die stadthistorische Forschung hat den periodischen, bzw. saisonalen, freien Markt zumeist als Sonderform des lokalen Marktes mit behandelt. Dies liegt vor allem daran, dass der ständige Markt als topographisches, rechtliches und wirtschaftliches Institut für die Stadtentstehung von großer Bedeutung war und mit all seinen Begleiterscheinungen – Bannbezirk, Immunität, Zoll, Münze – als eine Keimzelle der Stadt gilt. Der saisonale Jahrmarkt wurde dagegen in seiner Bedeutung eher unterschätzt und gerne als ein allenfalls ergänzendes Phänomen angesehen, das angeblich keine festen Strukturen schuf. Wirtschaftsgeschichtlich war er freilich kaum weniger bedeutsam, entfaltete er seine Anziehungskraft doch über den eigentlichen Einzugsbereich des einrichtenden Ortes hinaus und wurde vor allem durch seine Handelsfreiheiten zu einer kapitalistischen Musterinstitution. Er versorgte Stadt und Umland mit den saisonal verfügbaren und benötigten Gütern. Zeitlich stellte er zudem das frühere Phänomen dar, das in seinen Zyklen auf die Bedürfnisse einer agrarischen Gesellschaft, d. h. auf die Ernte- und Produktionsbedingungen der jeweiligen Region, abgestimmt werden konnte. Ihre Regelmäßigkeit zu einem bestimmten Termin hatten Jahrmärkte und Messen zunächst mit den Abgabeterminen der Grundherrschaften gemein, ebenso die Nähe zu bestimmten Kirchenfesten. Begrifflich gefasst klingt der Bezug zu den Kirchenfesten im deutschen Wort Messe an. Da die meisten Grundherrschaften keine räumliche Geschlossenheit, sondern die Form des Streubesitzes auszeichnete, wurde der Jahrmarkt zum natürlichen Ort des Ausgleiches. Zudem waren die Abgabetermine auch der Zeitpunkt, zu dem Überschüsse oder Bedürfnisse festgestellt und auf dem Markt in Geld umgetauscht oder befriedigt werden konnten. Die Grundherren steigerten mit der Einrichtung eines solchen Zentrums die Attraktivität ihrer Region und zugleich ihre möglichen Einnahmen aus den Markt-

Messezeit: Handelsrhythmen und Jahreszeit

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abgaben aber auch den Transitzöllen, wenn der Jahrmarkt überregionale Anziehungskraft entwickelte. Für das alte deutsche Reich ergab eine keineswegs abgeschlossene und vollständige Sammlung saisonaler Märkte bis zum Jahr 1500 eine Zahl von über 5000 saisonalen Einrichtungen in ca. 1500 Orten.² Fast jede Stadt besaß nun einen oder mehrere wie auch immer genutzte Jahrmärkte. Für die beginnende frühe Neuzeit fällt sogleich die ungeheure terminliche Verdichtung des vom Mittelalter übernommenen Netzes an Jahrmärkten und Messen auf.Waren bis etwa 1400 zwei Jahrmärkte pro Ort typisch, erhöhte sich die Zahl bis 1600 häufig auf vier, bis 1700 nicht selten auf acht.³ Die Ursache hierfür lag im Bevölkerungswachstum begründet. Die Nachfrage von immer mehr Menschen konnte nur durch immer mehr Handwerker, Kaufleute und Krämer über eine kontinuierlich steigende Zahl von Jahrmärkten mit immer besserem Angebot befriedigt werden. Im Laufe der Zeit formten sich terminlich und funktional aufeinander abgestimmte Marktnetze. Für deren räumliche Differenzierung bietet sich die übliche Unterteilung in drei Ebenen an: die lokale, die regionale und die überregionale Ebene. Als lokal wird hier keine Begrenzung auf einen einzigen Ort verstanden, sondern eine räumliche Einheit, die man heute als Landkreis bezeichnen würde. Das bedeutendste dieser frühen Messenetze war sicherlich das der Champagne. Zum Teil auf antike Vorformen zurückgreifend, für die zumindest Ortskontinuität bezeugt ist⁴, bildete sich bis zum Ende des 12. Jahrhunderts ein terminlich und räumlich abgestimmter Zyklus von sechs großen überregionalen Messen heraus. Einige kleinere Jahrmärkte mussten zugunsten der vier großen Messezentren Troyes, Provins, Lagny und Bar-sur-Aube auf ihre angestammten  Ähnliche Beobachtungen bei: Ferdinand Opll. Jahrmarkt oder Messe? Überlegungen zur spätmittelalterlichen Handelsgeschichte Wiens. In Europäische Messen und Märktesysteme in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Peter Johanek, Heinz Stoob. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 1996, 189 – 204, vor allem 202. Opll spricht völlig zu Recht von einer „Inflation des Jahrmarktswesens im österreichischen Donauraum“. Siehe hierzu auch Michel Pauly. Foires luxembourgeoises et lorraines avant 1600. In Europäische Messen und Märktesysteme in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Peter Johanek, Heinz Stoob. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 1996, 105 – 141.  Auf Durchschnittszahlen wird verzichtet, da hierfür eine weitere kleinräumlichere Differenzierung notwendig wäre.  Siehe hierzu vor allem. Anne Lombard-Jourdan. Du problème de la continuité: Y a-t-il une proto-histoire urbaine en France? Annales. Economies, Sociétés, Civilisations 25:4 (1970): 1121– 1142, 1121 ff. sowie vor allem Michael Mitterauer. Jahrmärkte in Nachfolge antiker Zentralorte. In ders. Markt und Stadt im Mittelalter. Beiträge zur historischen Zentralitätsforschung. Stuttgart: Hiersemann, 1980, 68 – 153; zusammenfassend ders. Jahrmarktskontinuität und Stadtentstehung. Ebd., 154– 191. Über die Ortskontinuität hinaus ist der Nachweis nur schwer zu erbringen. Zudem zieht der Limes eine scharfe Grenze zwischen dem römisch geprägten Alteuropa und den jenseitigen Gebieten. Für Letztere entfällt der Bezug auf antike Vorformen.

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Michael Rothmann

Termine verzichten und sanken auf lokales Niveau herab. Insgesamt verfügte die Champagne über mindestens 18 hierarchisch geordnete Jahrmarktsorte, die den Raum fast lückenlos abdeckten.⁵ Die Hauptplätze bildeten folgenden Zyklus: Das Messenetz der Champagne Termin

Ort

Januar

Lagny

Mittfasten

Bar-sur-Aube

Mai

Oberstadt Provins

Juli/August

Troyes

September

Unterstadt Provins

Oktober

Troyes

Eine ähnliche zyklische Abfolge von Jahrmärkten lässt sich freilich mit gewisser zeitlicher Verzögerung und räumlicher West-Ost-Verschiebung in ganz Europa feststellen. Vor allem auf der lokalen Ebene zeigt sich die Universalität des Phänomens Jahrmarkt. Dies haben inzwischen Studien zur regionalen Verteilung von Jahrmärkten etwa für England, Frankreich, Spanien, Luxemburg oder die Schweiz deutlich gemacht, zumeist jedoch ohne die Universalität dieser Entwicklung über ihre jeweilige Region hinaus zu betonen.⁶ Als Beispiel für die Verbreitung des

 Michel Bur. Note sur quelques petites foires de Champagne. In Studi in memoria di Federigo Melis, hg. von Luigi De Rosa. Bd. 1. Neapel: Giannini, 1978, 225 – 267; zuletzt Heinz Thomas. Die Champagnemessen. In Brücke zwischen den Völkern – Zur Geschichte der Frankfurter Messe, hg. von Rainer Koch u. a. Bd. 1. Frankfurt am Main: Historisches Museum, 1991, 13 – 36; hier auch sämtliche Literaturangaben zur Forschung.  Patrick O’Flanagan. Markets and Fairs in Ireland, 1600 – 1800: Index of Economic Development and Regional Growth. Journal of Historical Geography 11:4 (1985): 364– 378. Dominique Margairaz. Foires et marchés dans la France industrielle. Paris: Éditions de l’École des Hautes Études en Sciences Sociales, 1988. Michel Pauly. Foires luxembourgeoises et lorraines avant 1600. Martin Körner. Das System der Jahrmärkte und Messen in der Schweiz im periodischen und permanenten Markt 1500 – 1800. Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 19 (1993 – 1994): 13 – 34. Mit starker Perspektive auf die ländlichen periodischen Märkte der Tagungsband: Foires et Marchés dans les Campagnes de l’Europe médiévale et moderne. Actes des XIVes Journées Internationales d’Histoire de l’Abbaye de Flaran Septembre 1992, hg. von Christian Desplat. Toulouse: Presses Universitaires du Mirail, 1996. Hierin vor allem die Beiträge: Richard H. Britnell. Les marchés hebdomadaires dans les îles Britanniques avant 1200, 27– 46; Pascual Martínez Sopena. Foires et

Messezeit: Handelsrhythmen und Jahreszeit

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Netzes saisonaler Märkte bis in den kleinsten Winkel soll hier ein kleineres lokales Jahrmarktsnetz vorgeführt werden: das Taubertal im Raum zwischen Bad Mergentheim und Tauberbischofsheim.⁷ Durch das Taubertal verlief eine seit alters bedeutende Fernhandelsstraße, die Schwaben über Rothenburg, Mergentheim, Bischofsheim und Wertheim mit dem Main in Richtung Würzburg oder Frankfurt verband. Die Stadtentstehung vollzog sich in der zweiten Hälfte des 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Erste Jahrmärkte sind seit 1340 belegt. Die Hauptorte Bischofsheim und Mergentheim zeigen die stärkste Jahrmarktskonzentration; jedoch entfalteten benachbarte Orte wirkungsvolle Konkurrenz, so Königshofen und Lauda. Daneben finden sich Jahrmärkte im Umkreis von ca. 20 Kilometern in sieben weiteren Orten: in Grünsfeld, Boxberg, Külsheim, Weikersheim, Creglingen, Niederstetten und Aub, die jedoch kaum über die Orte selbst hinaus wirkten. Abgesehen von Königshofen hielten im mittleren Taubertal also nur städtische Siedlungen Jahrmärkte ab. Das Jahrmarktsnetz im Taubertal Ort

Termin

Königshofen

. .

Bischofsheim

. .

Mergentheim

. . ( Tage)

Lauda

. .

Bischofsheim

. .

Mergentheim

. . Martini ( Tage)

Königshofen

. .

Königshofen

. .

marchés ruraux dans les pays de la couronne de Castille et Léon du Xe au XIIIe siècle, 47– 69; Giovanni Cherubini. Foires et marchés dans les campagnes italiennes au Moyen Âge, 71– 84; Adrian Blazquez. Foires et marchés ruraux en Castille à l’Époche moderne, approche et problématique: le cas de la province de Guadalajara, 105 – 127; Jürgen Schneider, Markus A. Denzel. Foires et marchés en Allemagne à l’Époche moderne, 137– 152; J. A. Chartres. Foires et marchés en Angleterre de 1500 à 1850, 153 – 175; Jack Thomas. Foires et marchés ruraux en France à l’Époche moderne, 177– 207.  Siehe hierzu aus geographischer Perspektive: Ulrich Wagner. Tauberbischofsheim und Bad Mergentheim. Eine Analyse der Raumbeziehungen zweier Städte in der Frühen Neuzeit. Heidelberg: Geographisches Institut der Universität, 1985.

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Michael Rothmann

Auch hier zeigt sich die universelle Tendenz zur Vernetzung der einzelnen Jahrmärkte für einen bestimmten Raum. Die Jahrmärkte waren räumlich und zeitlich relativ gleichmäßig verteilt und überschnitten sich bis auf die Martinimärkte in Königshofen und Mergentheim nicht. Dies gewährleistete über das ganze Jahr hinweg eine regelmäßige Versorgung des Raumes mit Handels- und Gewerbegütern. Die allgemeine Verbreitung von miteinander vernetzten Jahrmarktsystemen und Messesystemen in den verschiedenen Wirtschaftsregionen und auf den verschiedenen räumlichen Ebenen spricht gegen eine spezielle Vorbildfunktion eines einzigen Jahrmarktsnetzes. Zwar lässt sich wie gesagt eine sukzessive WestOst-Verschiebung des Phänomens beobachten, doch spiegelt sich darin lediglich die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung. Auf den Champagne-Messen machten die auswärtigen Kaufleute sicherlich viele neue Erfahrungen im internationalen Waren-, Zahlungs- und Kreditverkehr. Die terminliche, räumliche und funktionale Abstimmung von saisonalen Märkten entsprach jedoch schon seit der Antike den saisonalen Ernte- und Produktionszyklen der jeweiligen Region, kaufmännischer Mentalität und den Bedürfnissen der einzelnen Wirtschaftsräume.⁸ Es scheint fast eine Grundidee des Handels zu sein, Marktzyklen zu bilden, damit die Marktteilnehmer im ständigen Wechsel von einem Markt zum anderen ziehen können. Durch einen glücklichen Zufall der Überlieferung hat sich ein Graffito aus Pompeji erhalten, der den Weg nachzeichnet, den ein Wochenmarkt im 1. Jahrhundert n.Chr. nahm und auf dem der Händler seine Waren anbot: Samstag in Pompeji, Sonntag in Nuceria, Montag in Atella, Dienstag in Nola, Mittwoch in Cumae, Donnerstag in Puteoli, Freitag in Rom. Das Marktnetz zwischen Pompeji und Rom Dies

Nundinae

Tag

Markt

Saturni

Pompeis

Sonnabend

Pompeji

Solis

Nuceria

Sonntag

Nuceria

Lunae

Atilla

Montag

Atella

Martis

Nola

Dienstag

Nola

Mercuri

Cumis

Mittwoch

Cumae

Iovis

Putiolos

Donnerstag

Puteoli

 Siehe hierzu vor allem: CIL IV 8863, nach Werner Krenkel. Pompejanische Inschriften. Leipzig: Koehler & Amelang, 1961, 55; zitiert nach: Hans Kloft. Die Wirtschaft der griechisch-römischen Welt. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, 220 – 221.

Messezeit: Handelsrhythmen und Jahreszeit

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Das Marktnetz zwischen Pompeji und Rom (Fortsetzung) Dies

Nundinae

Tag

Markt

Veneris

Roma

Freitag

Roma

Capua

Capua

Besonders prägnant dokumentieren diese Formen der terminlichen Vernetzung die Messekalender, die seit Beginn des 16. Jahrhunderts immer verbreiteter wurden. Bekanntestes Beispiel dieses Typus dürfte der terminlich geordnete Messekalender in der „Allegorie des Handels“ von Jost Ammann aus dem Jahre 1577 mit 171 saisonalen Märkten sein. Sogar Adam Rieses „Rechenbuch auf der Linien und Federn“ enthielt eine solche Liste von Jahrmärkten.⁹ Die terminliche Unterscheidung knüpfte an die räumliche an. Die Dauer der saisonalen Märkte und die räumliche Ausdehnung ihres Einzugsbereichs bedingten sich gegenseitig. Liefen die lokalen Jahrmärkte häufig nur einen oder wenige Tage, so fanden die regionalen und überregionalen zumeist über einen Zeitraum von einer oder mehreren Wochen bis zu einem Monat statt. Dies bedeutet negativ formuliert, dass die betroffenen Wirtschaftsräume keinen ganzjährigen Markt gewährleisten konnten und dass der Fernhandel weiterhin zum großen Teil an die Jahrmärkte gebunden, d. h. terminabhängig war.¹⁰ Die  Die Kalender folgen in ihrer Anordnung zumeist der räumlichen und terminlichen Ordnung der Wirtschaftsregion, der der Autor entstammte. Vergleichbare Listen in: Georg Reichelstein. Kaufmanns-Handbüchlein, ca. 1520. In Cambridge St. Johns College, Aa. 3.37; Anonym. Livret des monnaies evaluées. In Lille, Bibliothèque municipale, 90375 (2); Anonym. Der Cooplieden Handboucxkin. In Bruxelles, Bibliothèque royale Albert I-er, II 11113. A.1-LP; Anonym. Registre ofte Handbouck. In Bruxelles, Bibliothèque royale Albert I-er,VH 25.628b; Anonym. Calendrier eewelic du rende: met de jaermaercten, 1544 (?). In Bruxelles, Bibliothèque royale Albert I-er, II.24.214. A.LP; Lorenz Meder. Handelsbräuche des 16. Jahrhunderts. Das Meder’sche Handelsbuch und die Welser’schen Nachträge, hg. und eingeleitet von Hermann Kellenbenz. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1974; Richard Rowlands. The Post of the World, 1576. In London British Library, 800.a.25; Adam Riese. Rechenbüchlein auf der Linien und Federn, 1586. In Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire, H 105 797; Thédore Mayerne-Turquet. Sommaire description, 1591. In Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire, R 104 701; letztes Großunternehmen stellt in diesem Sinne Paul Jacob Marperger. Beschreibung der Messen und Jahr-Märckte. Leipzig: Joh. Friedr. Gleditsch und Sohn, 1710 dar. Seine Liste zeigt eine starke Konzentration auf die östlichen Gebiete. Dies folgt zum einen seiner eigenen regionalen Herkunft, zum anderen hatte sich das Jahrmarktswesen weiter nach Osten ausgebreitet. Marperger versuchte auch erstmals das Phänomen des saisonalen Marktes als Ganzes zu beschreiben, mit immer noch lesenswertem Erfolg.  Mit Henri Pirenne ließe sich also behaupten, dass die Stärke von saisonalen Märkten ein Signum für die Schwäche der betreffenden Wirtschaftsregion sei. Diese These ist jedoch zu modifizieren. Zuletzt wieder vertreten von Jürgen Schneider in: Zum Geleit. In Nils Brübach. Die

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Michael Rothmann

Schwäche lag seit dem Spätmittelalter vor allem in der Langsamkeit des Transportwesens. Handel jedoch fand zu jeder Zeit statt, nur nicht dauerhaft am selben Ort. Die Waren befanden sich, bevor sie den Endverbraucher erreichten, immer auf Achse, von einem saisonalen Markt zum anderen. Der Laden reiste von Ort zu Ort. Hieraus erklärt sich auch die hohe Zahl von saisonalen Märkten. Der freie Markt verteilte sich terminlich abgestuft im Raum. Bei den bevorzugten Terminen für die Abhaltung von Jahrmärkten liegen die statistischen Spitzen in der ersten Hälfte des Jahres zwischen April bis Anfang Juni und in der zweiten Hälfte zwischen Mitte August bis Ende Oktober. Je nach landwirtschaftlicher Region und angebauter Frucht und ihren Verarbeitungs- und Erntebedingungen variieren die Termine leicht. Eine immer noch agrarisch strukturierte Gesellschaft orientierte sich an den landwirtschaftlichen Erntezeiten, Abgabeterminen und Verarbeitungsbedingungen. Entsprechend veränderte sich die eingespielte saisonale Fluktuation in der frühen Neuzeit nur geringfügig. Die Ergebnisse ähneln den entsprechenden Studien für Frankreich, Spanien, die Schweiz¹¹, Luxemburg oder England¹². Mit der terminlichen und der räumlichen Differenzierung ist wiederum die funktionale verbunden. Entsprechend der Bedeutung der Funktion entfaltete sich die terminliche und räumliche Ausdehnung. Für eine funktionale Gliederung der saisonalen Märkte sei eine Unterteilung in sieben Typen vorgeschlagen: 1. den lokalen grundherrschaftlichen Sammeljahrmarkt 2. den lokalen Versorgungsjahrmarkt 3. den verkehrsgeographisch bedingten Stationsjahrmarkt 4. den regionalen Gewerbejahrmarkt 5. den lokalen und regionalen Ergänzungsjahrmarkt 6. den überregionalen Verteilermarkt (= Messe)

Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1994, 5 – 6, 6. Der nach dem Untergang der Champagne-Messen im beginnenden 14. Jahrhundert einsetzende Aufstieg etwa Genfs oder Frankfurts als Messeplätze ist alles andere als ein Ausweis von Schwäche des jeweiligen Wirtschaftsraums, sondern im Gegenteil Zeichen des Aufstiegs und der wirtschaftlichen Stärke. Denn die Champagne-Messen gehen kaum aufgrund der noch größeren Schwäche anderer zugrunde, sondern können den Bedarf neu erstarkter Wirtschaftsräume nicht mehr decken, so dass sich innerhalb dieser neue Messeplätze formieren. Wenn allerdings der Fernhandel auch im beginnenden 18. Jahrhundert noch vornehmlich messeorientiert ist, so kann man diese Region mit Recht als strukturschwach bezeichnen.  Martin Körner. Das System der Jahrmärkte und Messen in der Schweiz.  J. A. Chartres. Foires et marchés en Angleterre de 1500 à 1850; Jack Thomas. Foires et marchés ruraux en France à l’Époche moderne.

Messezeit: Handelsrhythmen und Jahreszeit

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und schließlich als letzte Sonderentwicklung 7. die überregionalen Wechselmessen.¹³ Der lokale grundherrschaftliche Sammeljahrmarkt war die saisonale Marktform der Grundherrschaft zur Sammlung von Abgaben und Naturalleistungen. Er diente zugleich der schnellen Umwandlung der grundherrlichen Naturalabgaben in Geldleistungen. Der lokale Versorgungsjahrmarkt erfüllte die Funktion der regelmäßigen Versorgung der örtlichen Bevölkerung mit saisonal verfügbaren Gütern. Der Stationsjahrmarkt war ein Versorgungsmarkt an Rastorten des Fernhandels. Er passte sich mit seinen Terminen an die großen Verteilermärkte an, wenn deren Besucher mit ihren Waren vorbeizogen. Häufig diente er auch deren Versorgung mit Zugtieren. Der regionale Gewerbejahrmarkt war vom Typus her eine Mischung aus Verteilermarkt und Sammelmarkt, von dem die gewerblichen Produkte einer Region in den Fernhandel gelangten. Der Ergänzungsjahrmarkt auf lokaler und regionaler Ebene ergänzte den zentralen Verteilermarkt zum Teil terminlich, zum Teil funktional. Man denke etwa an Bergen op Zoom für Antwerpen¹⁴ oder Friedberg¹⁵ für Frankfurt. Funktion des Verteilermarktes (= Messe) war der Austausch der verschiedenen Güter aus verschiedenen Regionen. Wie bei jeder Differenzierung waren die Übergänge zwischen den einzelnen Funktionen fließend. Vor allem die Messen erfüllten häufig alle Funktionen gleichzeitig und waren nicht selten von der untersten Stufe des lokalen Sammeljahrmarktes zur Messe aufgestiegen. Die hier begrifflich differenzierten Markttypen waren im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wirtschaftssystem eng miteinander verknüpft. So bildeten sich terminlich und funktional aufeinander abgestimmte Marktnetze auf jeder räumlichen Ebene: der lokalen, der regionalen und der überregionalen. Einzelne Leitmärkte auf der lokalen Ebene waren wiederum mit anderen Märkten auf der regionalen vernetzt. Leitmärkte der regionalen Ebene ergänzten sich mit anderen

 Vgl. hierzu die allerdings auf den ständigen Markt bezogene Systematik bei Peter Schöller. Der Markt als Zentralisationsphänomen. Das Grundprinzip und seine Wandlungen in Zeit und Raum. Westfälische Forschungen 15 (1962): 85 – 92.  C. J. F. Slootmans. Paas- en Koudemarkten te Bergen op Zoom 1365 – 1565. 3 Bde. Tilburg: Stichting Zuidelijk Historisch Contact, 1985.  Hektor Ammann. Die Friedberger Messen. Rheinische Vierteljahresblätter 15/16 (1950/1951): 192– 225.

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Michael Rothmann

Märkten auf der überregionalen. Die jeweiligen Einzugsbereiche überschnitten sich dabei nur an ihren Grenzzonen. Aus den jeweiligen Einzugsbereichen stammten die eigentlichen Träger der Institution Jahrmarkt. Der gastgebende Ort konnte zwar die Infrastruktur fördern und zu sichern suchen, dauerhafter Erfolg maß sich jedoch an der Besucherzahl. Erfolgreiche große Jahrmärkte oder Messen zeichneten sich durch ein hohes Maß an Kontinuität und Konstanz der Besuchergruppen aus. Die Messegäste nächtigten alle Jahre wieder in denselben Häusern, kauften und verkauften dieselben Warengruppen an denselben Ständen an dieselben Kunden oder bei denselben Händlern. Diese saisonal strukturierte Regelmäßigkeit dokumentiert etwa das Einkaufsverhalten der Grafen von Ysenburg auf den Frankfurter Messen: Die Grafen schickten ihre Diener auf nahezu jede Messe, verkauften ihre landwirtschaftlichen Produkte, etwa aus der Schaf- und Schweinezucht, und deckten sich zumeist bei denselben Händlern mit Spezereien und Tuchen, vor allem für die saisonspezifische Sommer- und Winterkleidung ihrer Dienstleute, ein. Die gekauften Tuche und Stoffe übergab der Kammerschreiber an den Hofschneider und verausgabte sie in der Kammerrechnung, während der Hofschneider sie in seinen Schneiderrechnungen vereinnahmte. Ist schon die nahezu lückenlose Rechnungsüberlieferung ein ausgesprochener Glücksfall der Überlieferung, so hat der Hofschneider den Schneiderrechnungen zusätzlich noch Musterzeichnungen der jeweiligen, hochmodischen Dienstkleidungen beigegeben. Wir verfügen für diese Warengruppe aus der Perspektive der Ysenburger Kammerschreiber gewissermaßen über eine geschlossene Überlieferungs- und Verwertungskette. Nicht nur die Ein- und Verkäufe, sondern auch die Rechnungslegung wurden auf dauerhafte Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit gestellt. Diese Regelmäßigkeit der Begegnung schuf das Vertrauen, auf dem die Handelsgeschäfte basierten. Dies galt insbesondere, wenn Gläubiger Schuldnern vertrauten und Kredite gewährten. Die Zahlwochen der großen Messen wurden zu internationalen Clearingstellen, auf die sich der Geld- und Kreditverkehr konzentrierte. Wer einmal mangelhafte Qualität lieferte oder seinen Zahlungsterminen nicht nachkam, verlor seinen guten Ruf auf Dauer. Die Wirkung der Messen im Zahlungs- und Kreditverkehr war so weitreichend, dass diese mit der Zeit zu festen Terminen in den Kalendern der Kaufleute wurden und die angestammten Heiligentage als Bezeichnungen verdrängten. Erschien ein Messetermin am Horizont, herrschte Hochbetrieb in den Kontoren, Handwerkshäusern, städtischen Ratsstuben, adligen Kanzleien und auf den Land- und Wasserstraßen der Region. Zunächst einmal galt es, das Geleit zu beantragen. Die Boten der Städte machten sich auf den Weg zu den Geleitsherren, um die Anfragen persönlich abzugeben und die Genehmigungen einzuholen. Erst nachdem diese eingetroffen waren, traute man sich auf den Weg. Die Geleits-

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herren gaben ihre Anweisungen an ihre Amtleute oder Beauftragten, die die Kaufleute jeweils einen genau festgelegten Teil des Weges mit ihren Bewaffneten führten. Ebenso hielten die Geleitsherren ihre Zöllner zur erhöhten Aufmerksamkeit an, denn die Einnahmen aus Geleitsgeldern und Zöllen waren jetzt am höchsten und dies nicht nur, weil sie in Messezeiten zumeist in doppelter Höhe erhoben wurden. Etliche Zölle und Geleite waren sogar allein auf die großen Messen zugeschnitten und zu ihnen eingerichtet worden. Da die Messen aus einem weiten Einzugsgebiet jedes Jahr Tausende von Besuchern anlockten, zählte ein hohes Maß an Sicherheit auf allen Zugangsstraßen zu den wichtigsten Rahmenbedingungen, die die städtischen Räte im Verbund mit den jeweiligen Geleitsherren zu gewährleisten hatten. Der Nürnberger Rat etwa organisierte für über 160 Städte zentral das Geleit zu den Frankfurter Messen. Die Regelmäßigkeit, mit der die Messebesucher geschützt werden mussten, führte zu einem Organisationsgrad des Messegeleits, der vorbildlich für alle anderen Formen des Geleits wurde. Die Geleitsbriefe wurden zu Serienbriefen mit regelmäßig anzuschreibenden festen Adressatenlisten. Trat dennoch ein Schadensfall ein, so ging der Geleitsherr zumeist hart gegen die Verursacher vor. Auch waren die Landesherren aus fiskalischen Gründen an einer hohen Frequenz durchziehender Kaufleute und Gewerbetreibender und damit an einem hohen Maß an Frieden interessiert, steigerten diese doch ihre Zolleinnahmen, während die Einnahmen andererseits durch Überfälle und die daraus herrührende Unsicherheit bedroht waren. Dachte der Adel eher an seine durch die saisonalen Marktbesucher gesteigerten Zolleinnahmen oder die eigenen Einkäufe, legte man in den Handwerksstuben des Einzugsgebietes letzte Hand an die termingerecht zu liefernden Produkte. Zugleich erwarben die Handwerker die Rohstoffe für die Folgeproduktion.¹⁶ Über diese wirtschaftliche Mittelpunktfunktion hinaus wurden die Messen häufig zu politischen Treffpunkten etlicher Handwerkerbünde.¹⁷ Der kleine Krämer packte sein geringes Angebot zusammen und schloss sich den großen Geleitszügen an. Verleger und Aufkäufer sammelten ihre Aufträge in Stadt und Umland. Einige gewissenhafte Messebesucher gingen in ihren Planungen noch einen Schritt weiter und machten vor den Messen ihr Testament, um

 Siehe unter anderem IFS Frankfurt am Main Reichssachen Nachtr. 1522; Bürgermeisterbuch 1468 fol. 35v; Judicialia E 112; Handwerker, Akten 5336. Vgl. hierzu Michael Rothmann. Die Frankfurter Messen im Mittelalter. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1998, 12.  Michael Rothmann. Die Frankfurter Messen im Mittelalter, 12.

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ihre zu Haus gebliebenen Ehepartner für den Todesfall abzusichern.¹⁸ Ich habe dies bewusst geschlechtsspezifisch neutral formuliert, da sich auf mittelalterlichen Märkten ein ausgesprochen hoher Frauenanteil nachweisen lässt. Das Fuhrgewerbe und die Schiffsleute hatten ebenfalls Hochkonjunktur und erhöhten ihre Frachtraten.¹⁹ Auf der Basis verkehrsgeographischer Notwendigkeiten nutzten die Städte die Chance, um sich ihren Teil vom Handel zu beschaffen. Vor allem die Schiffsleutezünfte profitierten zu Messezeiten vom gestiegenen Verkehrsaufkommen und erließen Sondertarife. Auch neue Güter zogen die großen etablierten Messen in ihren Bann. So präsentierte Gutenberg, wie Enea Silvio Piccolomini zu berichten wusste, dem erstaunten Publikum auf der Frankfurter Herbstmesse seine ersten gedruckten Bibeln.²⁰ Vor allem beschrieb Enea die hohe und gleichbleibende Qualität der über 150 Exemplare, die man, wie er besonders hervorhob, „ohne Brille“ lesen könne.²¹ Gutenberg nutzte die wichtigste saisonale Markteinrichtung der Region zur Präsentation seiner bahnbrechenden Erfindung, die sich von hier aus rasend schnell verbreiten sollte.

Zusammenfassung Ihre Saisongebundenheit und Regelmäßigkeit zu einem bestimmten Termin hatten Jahrmärkte und Messen mit den Abgabeterminen der Grundherrschaften gemein, ebenso die Nähe zu bestimmten Kirchenfesten. Saisonale und zyklisch wiederkehrende Märkte waren terminlich und räumlich eng an das Abgabesystem der Grundherrschaft gekoppelt. Terminlich hing dies mit den natürlichen Erntebedingungen und Produktionsbedingungen einer agrarisch strukturierten Gesellschaft zusammen. Ihre räumliche Funktion gründete zunächst in der mangelnden räumlichen Geschlossenheit der meisten Grundherrschaften, die sich

 StA Basel, Gerichtsbücher, Bd. 13, fol. 34r; Rudolf Wackernagel. Geschichte der Stadt Basel. 3 Bde. Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1907– 1924, Bd. 2,1, 514 sowie Bd. 2,2, 769; für den freundlichen Hinweis sei Gabriela Signori herzlichst gedankt.  Zu den Fuhrleuten u. a. Peter Moser. Mittel- und Nordwesteuropäischer Landtransport. Die Frammersbacher Fuhrleute und ihr Beitrag zur Transportgeschichte (15.–19. Jahrhundert), Bamberg: Univ. Diss., 1990.  Erich Meuthen. Ein neues frühes Quellenzeugnis (zu Oktober 1454?) für den ältesten Bibeldruck. Enea Silvio Piccolomini am 12. März 1455 aus Wiener Neustadt an Kardinal Juan de Carvajal. Gutenberg-Jahrbuch 57 (1982): 108 – 118. Gerhardt Powitz. Die Frankfurter Gutenberg-Bibel. Ein Beitrag zum Buchwesen des 15. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1990, 19 – 27 und 40 – 46.  Erich Meuthen. Ein neues frühes Quellenzeugnis, 118.

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durch die Form des Streubesitzes auszeichneten. Der Jahrmarkt wurde zum natürlichen Ort des Ausgleiches. Zu den Abgabeterminen konnten über den Jahrmarkt die erwirtschafteten Überschüsse oder Bedürfnisse erhoben und die Naturalabgaben in Geld umgetauscht werden. Dieser naturräumlich geprägte saisonale Marktrhythmus bildete die Basisstruktur des Phänomens Jahrmarkt. An manchen Orten mit bevorzugter Infrastruktur entwickelten sich aus lokalen grundherrschaftlichen Jahrmärkten transregionale Messen. Zwar blieb auch hier die Zeitgebundenheit erhalten, etliche Produktgruppen lösten sich jedoch aus ihrer zunächst nur räumlichen Verfügbarkeit. Nimmt man zudem das gesamte System aus räumlich, terminlich und funktional verwobenen Jahrmärkten in den Blick, so ist zwar der einzelne Markt saisonal räumlich gebunden, das terminlich, räumlich und funktional über die handelnden Personengruppen verwobene Marktnetz begann sich jedoch über eben diese Personen aus der raumgebundenen Saisonalität zu lösen. Irgendwo war immer Markt. Ebenso stieg an vielen Orten sukzessive die Zahl der Jahrmärkte, bis im Grunde an jedem Tag Markttag war und die saisonalen Marktstände zu festen Läden wurden. Im Geldund Kreditverkehr entwickelten sich aus den informellen saisonalen Zahlwochen der großen Jahrmärkte mit Banken und Börsen eigenständige Institutionen. Lediglich als Unterhaltungsveranstaltung, Mustermesse und Warenschau einzelner Warengruppen, zu denken ist etwa an die spätere Buchmesse, blieb ein Rest von saisonaler Gebundenheit erhalten, allerdings ohne den Bezug auf natürliche Produktionsbedingtheiten. Für diese gilt wohl weiterhin der alte saisonal beschleunigte Rhythmus der Produktionszyklen, sobald ein Messetermin nahte, wie es bereits Erasmus von Rotterdam beklagte: „Wenn es auf die Messen zugeht, bin ich immer erschlagen, […] wegen der Arbeitslast, da die Druckpressen dann am meisten lärmen (es dröhnen nämlich in der Frobenschen Offizin ständig nicht weniger als sechs Pressen) […]. Zu dieser Zeit kann ich kaum meine Gesundheit retten: Niemals bin ich mehr belastet als in jenen Tagen.“²²

 Erasmus von Rotterdam. Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami, denuo recogn. et auctum per P. S. Allen. Bd. 8: 1529 – 1530. Oxford: Clarendon, 1934, Nr. 2300.

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Veronika Lang

Von der Zeit jenseits des Uhrzeigers – die physiologische Zeit English abstract: Beyond the Hands of the Clock: Physiological Time. The author chooses a scientific, physiological approach to understand the evolutionary role of timing with respect to, organisms, behaviour and cellular rhythms. The circadian time of a human is reflected by the chronotype, which changes throughout a life time. The notion of a timely orchestrated physiology is thought to be essential for maintenance of homeostasis and a balanced metabolism in healthy subjects. The acceleration of everyday life, a rapidly clocked lifestyle as well as light pollution in urban and domestic spaces leads to an unbalancing of the physiological time regime. This misalignment of inner and environmental time can have a severe impact on health, ultimately minimizing longevity.

Circadian: – lateinisch Circa Dias – ungefähr ein Tag Die tägliche Rotation der Erde um die Sonne führt zu einem ca. 24-Stunden LichtDunkel-Zyklus und zu täglichen Temperaturschwankungen. Im Laufe der Evolution haben sich in Organismen – vom Einzeller wie Cyanobakterien bis hin zum Menschen – biologische Zeitmessmechanismen entwickelt, um optimal auf die wechselnden Umweltbedingungen vorbereitet zu sein: die sogenannte circadiane Uhr. Diese ist messbar z. B. in Wach-Schlafzyklen und rhythmischen Schwankungen im Hormonspiegel (z. B. Cortisol und Melatonin¹), dem Blutdruck oder der Körpertemperatur. Eines der Hauptcharakteristika der sogenannten inneren circadianen Uhr ist, dass sie endogen und ohne externe Zeitinformationen funktioniert. Dies wurde bereits in den 1960er Jahren in den berühmten Bunkerexperimenten von Andechs ermittelt². Hierbei wurden Probanden unter völligem

 Melatonin: das „Dunkelhormon“. Bei Nacht steigt das Hormon Melatonin stark an. Dessen Produktion wird durch Licht, z.B. bei Tagesanbruch, gehemmt. Das Pendant zu Melatonin ist Cortisol – das „Wachhormon“. Kurz vor Aktivitätsbeginn hat Cortisol seine höchste Konzentration im Blut.  Vgl. Rütger A. Wever. Light effects on human circadian rhythms: a review of recent Andechs experiments. Journal of biological rhythms 4:2 (1989): 161– 185. https://doi.org/10.1515/9783110466591-004

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Ausschluss von „Zeitgebern“³ (kein natürliches Licht, konstante Umgebungstemperatur, selbstgewählte Essenszeiten, keine Uhren und Schallisolation) über mehrere Wochen hinweg beobachtet. Bei den Probanden wurden mehrere Parameter wie der Schlaf-Wach-Zyklus, die Körpertemperatur und der Hormonspiegel im Blut regelmäßig gemessen. So wurde erstmals festgestellt, dass der Mensch auch ohne Zeitgeber einen ungefähren 24-Stunden Rhythmus hat – um genau zu sein waren es ca. 25 Stunden⁴. Spätere Studien haben dies verifiziert und haben einen Durchschnittswert der Periode von 24,18 Stunden ermittelt⁵. Eine weitere Eigenschaft der circadianen Uhr ist, dass sie sich durch externe Zeitgeber synchronisieren lässt, das heißt sie kann sich an die Umgebung anpassen. Diese Synchronisationsfähigkeit wird zum Beispiel bei transkontinentalen Flügen deutlich, indem sich Menschen in neuen Zeitzonen wieder einem neuen 24Stunden Rhythmus anpassen. Der wichtigste Zeitgeber für Menschen ist das Licht. Licht wird durch das Auge wahrgenommen und die Zeitinformation wird im Gehirn durch den retinohypothalamischen Trakt an den Suprachiasmatischen Nukleus (SCN), die „Hauptuhr“, weitergeleitet. Das circadiane System ist im Säugetier hierarchisch aufgebaut: Die Hauptuhr im SCN leitet die verarbeitete Zeitinformation aus der Umwelt an die peripheren Uhren in jeder Körperzelle weiter. Diese lokalen Uhren spielen eine wichtige Rolle in der Regulierung der lokalen Gewebe-/ Organphysiologie und können auch durch andere Zeitgeber wie Nahrung beeinflusst werden⁶. Alle Uhren des Körpers, seien es die zentrale Hauptuhr im SCN oder die peripheren Uhren, haben das gleiche molekulare Uhrwerk. Dieses besteht aus diversen Proteinen, sogenannte Uhrproteine, die sich in einer ineinandergreifenden Transkriptions-Translations-Rückkopplungsschleife⁷ gegenseitig aktivieren und inhibieren. Dies führt dazu, dass die Uhrproteine zu verschiedenen Tageszeiten unterschiedlich hoch exprimiert (vorhanden) sind. Da sie als

 „Zeitgeber“ ist ein Begriff, der vom Pionier der Chronobiologie, Jürgen Aschoff, geprägt wurde. Er bezieht sich auf einen äußeren Einfluss, der den Körper mit dem 24-Stunden Tag synchronisieren kann. Vgl. Jürgen Aschoff. Zeitgeber der tierischen Tagesperiodik. Die Naturwissenschaften 41:3 (1954): 49 – 55.  Vgl. Wever, Light effects.  Vgl. Charles A. Czeisler, Jeanne F. Duffy, Theresa L. Shanahan, Emery N. Brown, Jude F. Mitchell, David W. Rimmer, Joseph M. Ronda, u. a. Stability, precision, and near-24-hour period of the human circadian pacemaker. Science 284 (1999): 2177– 2181.  Vgl. Steven M. Reppert and David R. Weaver. Coordination of circadian timing in mammals. Nature 418 (2002): 935 – 941.  Transkription: Ein Gen (DNA) wird umgeschrieben in RNA, einem „Informationsüberträger“. Translation: Die RNA wird übersetzt und dient als Basis für die Proteinsynthese.

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Transkriptionsfaktoren⁸ fungieren, können sie gewebespezifisch Gene tageszeitabhängig regulieren⁹.

Chronotyp: Jeder Mensch tickt anders Warum sind manche Menschen Frühaufsteher und andere Langschläfer? Entgegen der geläufigen Meinung, der Langschläfer sei einfach nur faul, ist die Neigung, spät zu Bett zu gehen, genetisch bestimmt. Die innere Uhr jedes Menschen hat zwar eine ähnliche Periode (ca. 24 Stunden), sie ist jedoch nicht identisch. Sie ist vergleichbar mit einem konventionellen Uhrwerk: Bei einem frühen Chronotyp tickt diese etwas „schneller“. Im Gegensatz dazu wird bei einer etwas „langsamer tickenden“ inneren Uhr von einem späten Chronotyp gesprochen. Dies zeichnet sich darin aus, dass der klassische frühe Chronotyp („Lerche“) früh (vor 21:00) schlafen geht und auch früh aufsteht. Bei einem späten Chronotyp („Eule“) verhält es sich genau umkehrt. Jedoch sind dies extreme Chronotypen, die meisten Menschen lassen sich zwischen diesen Extremen einordnen. Es gibt allerdings auch Krankheitsbilder wie z. B. FASP (familial advanced sleep syndrom), die durch eine genetische Mutation des Uhrgens, Period 2, einen sehr frühen Chronotyp ausbilden¹⁰. Im Laufe eines Menschenlebens verändert sich der Chronotyp mehrfach. Nach der Geburt ist das Gehirn, und somit der SCN, noch nicht vollständig ausgebildet und das neuronale Netzwerk des circadianen Systems noch in der Entwicklungsphase. Dadurch kommt es zu fast arrhythmischen Verhalten, das heißt der Säugling hat schnell aufeinanderfolgende Schlaf- und Wachphasen¹¹. Im Kindesalter gibt es die Tendenz zum frühen Chronotyp, jedoch während der Pubertät verändert sich dies hin zu einem späten Chronotyp. Im weiteren Verlauf des Lebens neigen wir wieder dazu, eine „Lerche“ zu werden. Allerdings ist noch

 Transkriptionsfaktor: ein Protein, welches die Transkription und damit Aktivierung anderer Gene induzieren kann.  Vgl. Ueli Schibler. Circadian time keeping: the daily ups and downs of genes, cells, and organisms. Progress in brain research 153 (2006): 271– 282.  Vgl. Katja Vanselow, Jens T. Vanselow, Pål O. Westermark, Silke Reischl, Bert Maier, Thomas Korte, Andreas Herrmann, Hanspeter Herzel, Andreas Schlosser and Achim Kramer. Differential effects of PER2 phosphorylation. Molecular basis for the human familial advanced sleep phase syndrome (FASPS). Genes and Development 20:19 (2006): 2660 – 2672.  Vgl. Scott A. Rivkees. Developing circadian rhythmicity. Seminars in perinatology 24:4 (2000): 232– 242.

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nicht abschließend geklärt, ob das auch mit einer kürzeren Schlafphase zusammenhängen könnte. Diese Veränderung des Chronotyps lässt sich nicht nur phänotypisch an der Schlafphase messen, sondern auch anhand der Verlaufskurve des Hormons Melatonin im Blut. So nimmt der Melatoninspiegel im Alter ab, was eine kürzere Schlafphase zur Folge hat. Dies könnte auch unter anderem daran liegen, dass ältere Menschen weniger mobil sind und dadurch wenig natürliches Tageslicht bekommen. Diese Faktoren führen zu einer reduzierten Melatoninauschüttung, was für die Betroffenen unter anderem auch Schlafprobleme zur Folge hat¹². Die Veränderungen des Chronotyps im Laufe des Lebens könnten allerdings auch ein Überbleibsel aus der prähistorischen Zeit der „Jäger und Sammler“ sein. Für die Jagd bei Nacht war es von großem Vorteil, wenn der Jäger, typischerweise ein Jugendlicher bis junger Erwachsener, zu dieser Zeit in seiner aktivsten Phase war, bzw. auch in der Lage war, den verpassten Schlaf zu einer späteren Zeit aufzuholen. Die Tatsache, dass sich die Chronotypen über die Lebenszeitdauer verändern, ist daher nicht nur bei Erwachsenen, die einen frühen Arbeitsbeginn haben, zu beachten, sondern auch bei sich in der Pubertät befindenden Jugendlichen. Ein früher Schulbeginn hemmt die Leistungsfähigkeit der meisten Schüler, da sie sich zu dieser Zeit, zumindest biologisch gesehen, noch in einer Schlafphase befinden. Was geschieht, wenn man keine externen Zeitgeber wie Licht wahrnehmen kann, wie dies bei Blinden der Fall ist? Grundsätzlich ist hier zwischen den unterschiedlichen Formen von Blindheit zu unterscheiden. Nur Blinde, die keine funktionierenden, speziell für die circadiane Verarbeitung von Licht verantwortlichen Sehzellen haben, können keine Zeitinformation wahrnehmen. Allerdings können andere soziale Zeitgeber, wie z. B. Nahrungsmittelaufnahme, Umweltgeräusche, die circadiane Uhr ebenfalls „entrainen“¹³, wenngleich nicht so effektiv wie Licht selbst. Daher leiden blinde Personen oftmals an Schlafstörungen bzw. Schlaflosigkeit¹⁴. Diese Erkenntnis unterstreicht die Wichtigkeit von Licht als circadianer Zeitgeber für den menschlichen Organismus.

 Vgl. K. Mishima, M. Okawa, T. Shimizu and Y. Hishikawa. Diminished melatonin secretion in the elderly caused by insufficient environmental illumination. Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism 86:1 (2001): 129 – 134.  entrainment: die Synchronisierung der endogenen, circadianen Uhr mit einem externen Zeitgeber wie Licht.  Vgl. Robert L. Sack, Alfred J. Lewy, Mary L. Blood, Donald L. Keith and Hiroki Nakagawa. Circadian Rhythm Abnormalities in Totally Blind People. Incidence and Clinical Significance. The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism 75:1 (1992): 127– 134.

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Der Wächter der Physiologie Wie schon erwähnt reguliert die innere Uhr zahlreiche physiologische Prozesse. Evolutionär hat sich die Fähigkeit des Körpers, Energie zu sparen, indem z. B. bestimmte physiologische oder metabolische Prozesse, die zu bestimmten Tageszeiten nicht notwendig sind, unterbleiben, als vorteilhaft herausgestellt. Dies zeigt sich auch in der Funktionsweise des menschlichen Immunsystems. In einem gesunden Organismus schwanken nicht nur die verschiedenen Immunzellpopulationen tageszeitabhängig, sie reagieren zu verschiedenen Tageszeiten auch unterschiedlich auf Keime¹⁵. In einem richtungsweisenden Experiment von Halberg et al. (1960) wurde zu unterschiedlichen Tageszeiten ein endotoxischer Schock in Mäusen ausgelöst¹⁶. Dabei variierten die Überlebenschancen um bis zu 60 %: Bei Mäusen, die in ihrer inaktiven Phase infiziert worden waren, lag die Überlebensrate nur bei ca. 20 %, wohingegen bei den in der aktiven Phase infizierten Versuchstieren bis zu 80 % überlebten¹⁷. Diese Erkenntnis wurde auch über andere Infektionsmodelle, wie Pneumokokken, Listerien oder Salmonellen bestätigt¹⁸. Auch bei Menschen konnte beobachtet werden, dass die Reaktion des

 Vgl. Erhard Haus and Michael H. Smolensky. Biologic rhythms in the immune system. Chronobiology international 16:5 (1999): 581– 622; Maren Keller, Jeannine Mazuch, Ute Abraham, Gina D. Eom, Erik D. Herzog, Hans-Dieter Volk, Achim Kramer and Bert Maier. A Circadian Clock in Macrophages Controls Inflammatory Immune Responses. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 106:50 (2009): 21407– 21412; Luciano Marpegan, María Juliana Leone, Marcelo E. Katz, Patricio M. Sobrero, Tristan A. Bekinstein and Diego A. Golombek. Diurnal Variation in Endotoxin-Induced Mortality in Mice: Correlation with Proinflammatory Factors. Chronobiology International 26:7 (2009): 1430 – 1442; Julie E. Gibbs, John Blaikley, Stephen Beesley, Laura Matthews, Karen D. Simpson, Susan H. Boyce, Stuart N. Farrow. The Nuclear Receptor REV-ERBα Mediates Circadian Regulation of Innate Immunity through Selective Regulation of Inflammatory Cytokines. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 109:2 (2012): 582– 587.  Der endotoxische Schock ist ein Modell für Sepsis, umgangssprachlich auch „Blutvergiftung“ genannt. Hierbei wird bakterielles Endotoxin in den Bauchraum injiziert, welches eine komplexe, systemische Entzündungsreaktion auslöst, die oftmals zum Tod führen kann.  Vgl. Franz Halberg, Eugene A. Johnson, Byron W. Brown and John J. Bittner. Susceptibility to E. Coli Endotoxin and Bioassay. Proceedings of the Society for Experimental Biology and Medicine 103 (1960): 142– 144.  Vgl. Khoa D. Nguyen, Sarah J. Fentress, Yifu Qiu, Karen Yun, Jeffery S. Cox and Ajay Chawla. Circadian Gene Bmal1 Regulates Diurnal Oscillations of Ly6C(hi) Inflammatory Monocytes. Science 341:6153 (2013): 1483 – 1488; Marina M. Bellet, Elisa Deriu, Janet Z. Liu, Benedetto Grimaldi, Christoph Blaschitz, Michael Zeller, Robert A. Edwards. Circadian Clock Regulates the Host Response to Salmonella. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 110:24 (2013): 9897– 9902; Penelope G. Shackelford and Ralph D. Feigin. Periodicity of

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Immunsystems auf eine sublethale Dosis LPS¹⁹ in der inaktiven Phase stärker ausfällt, als in der aktiven Phase²⁰. Andere Krankheitsbilder zeigen ebenfalls einen tageszeitabhängigen Phänotyp. Das Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung wie Herzinfarkt und Schlaganfall ist besonders hoch in den Morgenstunden, da hier der Blutdruck extrem schnell steigt²¹. Rheumatische Beschwerden, wie die Versteifung der Gelenke, oder auch asthmatische Symptome, wie Atembeschwerden, treten ebenfalls tageszeitabhängig auf ²². Aufgrund dieser Korrelationen stellt sich unter anderem die Frage, ob der Zusammenhang nicht auch umgekehrt zustandekommen könnte. Hat eine „ aus dem Takt gekommene“ innere Uhr Auswirkungen auf unsere Gesundheit?

Modern Times – ein Leben gegen die innere Uhr Wie kann die innere Uhr aus dem Takt geraten? In begrenztem Maße geschieht dies bei Interkontinentalflügen, bei denen mehrere Zeitzonen überquert werden. Zu den typischen Symptomen gehören Schlafprobleme oder ein generelles Unwohlsein. Eine der Ursachen ist, dass der SCN, also die Hauptuhr des Gehirns, relativ schnell durch das Tageslicht mit der neuen äußeren Zeit synchronisiert wird, die Organe hingegen benötigen deutlich mehr Zeit bzw. unterschiedlich lang, um sich anzupassen²³. Was passiert jedoch, wenn dieser „Jetlag“ zum Dauerzustand wird, wie z. B. bei der Schichtarbeit? Schichtarbeit gibt es schon lange in der Geschichte des Susceptibility to Pneumococcal Infection: Influence of Light and Adrenocortical Secretions. Science 182 (1973): 285 – 287.  LPS: Lipopolysaccharide, ein endotoxischer Schock auslösender, bakterieller Bestandteil (Endoxin).  Vgl. Mahdi Alamili, Klaus Bendtzen, Jens Lykkesfeldt, Jacob Rosenberg and Ismail Gögenur. Pronounced Inflammatory Response to Endotoxaemia during Nighttime: A Randomised CrossOver Trial. PloS One 9:1, 27. Januar 2014. http://dx.doi.org/10.1371/journal.pone.0087413 (28. November 2016).  Vgl. James E. Muller, Geoffrey H. Tofler and Peter H. Stone. Circadian Variation and Triggers of Onset of Acute Cardiovascular Disease. Circulation 79:4 (1989): 733 – 743.  Vgl. M. Cutolo, B. Seriolo, C. Craviotto, C. Pizzorni and A. Sulli. Circadian Rhythms in RA. Annals of the Rheumatic Diseases 62:7 (2003): 593 – 596; Richard J. Martin and Susan BanksSchlegel. Chronobiology of Asthma. American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 158 (1998): 1002– 1007.  Vgl. Shin Yamazaki, Rika Numano, Michikazu Abe, Akiko Hida, Ri-ichi Takahashi, Masatsugu Ueda, Gene D. Block, Yoshiyuki Sakaki, Michael Menaker, and Hajime Tei. Resetting Central and Peripheral Circadian Oscillators in Transgenic Rats. Science 288 (2000): 682– 685.

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Menschen, wie wir aus historischen Aufzeichnungen z. B. über die Wachposten in der Antike wissen. Die moderne Form der Schichtarbeit tritt seit ca. 1800, vornehmlich in der Stahl- und Kohleindustrie, auf. Epidemiologische Studien zeigen, dass bei Schichtarbeitern vermehrt gesundheitliche Probleme auftreten, wie z. B. metabolische Krankheiten (Übergewicht, Diabetes), Krebs, bis hin zu kardiovaskulären Erkrankungen (Schlaganfälle, Herzinfarkte)²⁴. Eine Studie von Hatori et al. (2012) liefert erste Hinweise, wie sich bei Schichtarbeit ein metabolischer Phänotyp entwickeln könnte. In dieser Studie konnten Mäuse entweder nur in ihrer aktiven Phase Nahrung zu sich nehmen oder ad libitum. Insbesondere bei fettreicher Nahrung war zwar die Kalorienaufnahme vergleichbar, aber die ad libitum gefütterten Tiere hatten ein bis zu 25 % höheres Körpergewicht. Zusätzlich war das Insulinlevel bei den ad libitum gefütterten Mäusen sehr stark erhöht, was ein signifikantes Merkmal für eine Diabeteserkrankung ist²⁵. Dies legt nahe, dass nicht nur die Qualität und Quantität der Nahrungsaufnahme einen Einfluss auf den allgemeinen Gesundheitszustand haben, sondern auch der Zeitpunkt. Eine Erklärung hierfür konnten Thaiss et al. (2014) geben, die Mikrobiome²⁶ untersuchten und nachwiesen, wie wesentlich es ist, dass sich der Organismus und dessen Mikrobiom in der gleichen Phase befinden. Bei einer Desynchronisierung, wie beim Jetlag oder bei der Schichtarbeit, führt dies im Mausmodell zu einer starken Gewichtszunahme mit einer einhergehenden Glukoseintoleranz (Indikator für Diabetes)²⁷. Schichtarbeit kann nicht nur – wie oben gezeigt – zu metabolischen Erkrankungen führen, sie kann auch das Risiko für Krebs erhöhen. In der Studie von Hansen et al. (2001) wurde das Risiko für Brustkrebs bei Frauen ermittelt, die hauptsächlich in der Nachtschicht  Vgl. Frank A. J. L. Scheer, Michael F. Hilton, Christos S. Mantzoros and Steven A. Shea. Adverse Metabolic and Cardiovascular Consequences of Circadian Misalignment. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 106:11 (2009): 4453 – 4458; Johnni Hansen. Increased Breast Cancer Risk among Women Who Work Predominantly at Night. Epidemiology 12:1 (2001): 74– 77; X. S.Wang, M. E. G. Armstrong, B. J. Cairns, T. J. Key and R. C. Travis. Shift Work and Chronic Disease: The Epidemiological Evidence. Occupational Medicine 61:2 (2011): 78 – 89; Berndt Karlsson, Lars Alfredsson, Anders Knutsson, Eva Andersson and Kjell Torén. Total Mortality and Cause-Specific Mortality of Swedish Shift- and Dayworkers in the Pulp and Paper Industry in 1952– 2001. Scandinavian Journal of Work, Environment and Health 31:1 (2005): 30 – 35.  Vgl. Megumi Hatori, Christopher Vollmers, Amir Zarrinpar, Luciano DiTacchio, Eric A. Bushong, Shubhroz Gill, Mathias Leblanc. Time-Restricted Feeding without Reducing Caloric Intake Prevents Metabolic Diseases in Mice Fed a High-Fat Diet. Cell Metabolism 15:6 (2012): 848 – 860.  Mikrobiom: in diesem Fall die Gesamtzahl der im Darm angesiedelten Bakterien (Darmflora).  Vgl. Christoph A. Thaiss, David Zeevi, Maayan Levy, Gili Zilberman-Schapira, Jotham Suez, Anouk C. Tengeler, Lior Abramson. Transkingdom Control of Microbiota Diurnal Oscillations Promotes Metabolic Homeostasis. Cell 159:3 (2014): 514– 529.

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tätig waren. Es konnte gezeigt werden, dass das Risiko an Brustkrebs zu erkranken in dieser Gruppe um 1,5-fach höher ist, als bei hauptsächlich tagsüber arbeitenden Frauen²⁸. Eine Hypothese hierfür ist, dass durch die Nachtschichtarbeit das zur „falschen Zeit“ vorhandene Licht die Melatoninausschüttung vermindert. Dies führt dann zu beschleunigtem Tumorwachstum, denn Melatonin kann einen protektiven Effekt haben, indem es das Wachstum von Tumorzellen inhibiert²⁹. Außerdem sind der Zellzyklus und die circadiane Uhr auf molekularer Ebene eng miteinander verbunden. Wenn dieses empfindliche Gleichgewicht durcheinander gebracht wird, könnte dies zu einem anomalen Zellzyklus, mitunter zu einer unkontrollierten Zellproliferation, führen³⁰. Des Weiteren konnte bei Schichtarbeitern eine höhere Prävalenz für Depression festgestellt werden³¹. Interessanterweise leiden depressive Patienten oftmals unter Schlafstörungen, die mit einer gestörten circadianen Uhr einhergehen. Diese Schlafstörungen kann man auf zweierlei Arten behandeln: Einerseits kann gezielte Lichttherapie, bzw. ein streng regulierter Tagesablauf die circadiane Uhr wieder entrainen und zu einer Linderung der depressiven Symptome führen. Andererseits führt die Behandlung mit Antidepressiva ebenfalls zu einer Rekonsolidierung der circadianen Uhr ³². Es gibt jedoch nicht nur den Jetlag, welcher durch interkontinentales Reisen verursacht wird, sondern auch den sogenannten. „Social Jetlag“, der durch das soziale Umfeld determiniert wird. Dieser entsteht, wenn z. B. frühe Chronotypen abends noch sozialen Verpflichtungen nachkommen, obwohl dies ihrem Biorhythmus widerspricht. Umgekehrt ist dies natürlich auch der Fall bei späten Chronotypen, wenn diese an starre, früh beginnende Arbeitszeiten gebunden sind. Der Social Jetlag äußert sich in beiden Fällen darin, dass sich ein Schlafdefizit akkumuliert. Der Versuch, dies durch Ausschlafen / Überschlafen am Wochenende zu kompensieren, ist allerdings nur ein begrenzter Ausgleich, der es nicht erlaubt, das gesamte Schlafdefizit wettzumachen. Roenneberg et al. (2012)

 Vgl. Hansen, Increased Breast Cancer.  Vgl. Richard G. Stevens. Circadian Disruption and Breast Cancer: From Melatonin to Clock Genes. Epidemiology 16:2 (2005): 254– 258.  Vgl. Saurabh Sahar and Paolo Sassone-Corsi. Metabolism and Cancer: The Circadian Clock Connection. Nature Reviews. Cancer 9:12 (2009): 886 – 896.  Vgl. A. J. Scott, T. H. Monk and L. L. Brink. Shiftwork as a Risk Factor for Depression: A Pilot Study. International Journal of Occupational and Environmental Health 3 (1997): 2– 9.  Vgl. Stefanie A. Hlastala and Ellen Frank. Adapting Interpersonal and Social Rhythm Therapy to the Developmental Needs of Adolescents with Bipolar Disorder. Development and Psychopathology 4 (2006): 1267– 1288; Urs Albrecht. Circadian Clocks and Mood-Related Behaviors. In Circadian Clocks, Handbook of Experimental Pharmacology 217, hg. von Achim Kramer, Martha Merrow. Heidelberg: Springer-Verlag, 2013, 227– 240.

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haben gezeigt, dass ein großer Social Jetlag, zusammen mit der einhergehenden verkürzten Schlafzeit, stark mit einem erhöhten BMI (bodymass index) korreliert³³.

Lichtverschmutzung im technisierten Alltag Vom Smartphone bis hin zu Straßenlaternen – mit der Zunahme der künstlichen elektrischen Beleuchtung und der damit einhergehenden künstlichen Verlängerung des Tages wird auch die innere circadiane Uhr getäuscht. Dies macht sich nicht nur beim Menschen bemerkbar, sondern auch in der Natur, wie eine Studie von Dominoni et al. (2013) zeigte. In dieser Studie wurde der Aktivitätsbeginn von Amseln in einer urbanen Umgebung mit Artgenossen im ländlichen Raum verglichen. Es konnte beobachtet werden, dass – im Vergleich zu den ländlichen Artgenossen – die städtischen Amseln viel langsamer und über einen längeren Zeitraum aktiv werden³⁴. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf den Menschen übertragen. In einer sehr einfachen, jedoch sehr aussagekräftigen Studie wurden Studenten bei einem Campingausflug aufs Land beobachtet. Vor, während und nach der Studie wurde die Aktivität der Probanden durch acti-watches³⁵ überwacht und ihr Melatoninrhythmus erfasst. Während der Campingphase gab es kein künstliches Licht, nur Lagerfeuer war erlaubt. Interessanterweise passten sich fast alle Studienteilnehmer in ihrem Verhalten, aber auch in ihrem Melatoninrhythmus der natürlichen Umgebung an³⁶. Dies lässt einen ähnlichen Schluss zu wie bei den Amseln: Ohne künstliches Licht und mit viel natürlichem Licht passen, nähern sich Menschen wieder dem 24-Stunden Rhythmus an, der durch die Licht-Dunkel-Zyklen der Erdumdrehung vorgegeben wird. Zusammengefasst hat sich im Laufe der Evolution ein intrinsischer Mechanismus der Zeitmessung entwickelt, den man in einem Großteil aller Organismen nach Vgl. Till Roenneberg, Karla V. Allebrandt, Martha Merrow and Céline Vetter. Social Jetlag and Obesity. Current Biology 22:10 (2012): 939 – 943.  Vgl. D. M. Dominoni, B. Helm, M. Lehmann, H. B. Dowse and J. Partecke. Clocks for the City: Circadian Differences between Forest and City Songbirds. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 280, 7. März 2013. http://dx.doi.org/10.1098/rspb.2013.0593 (28. November 2016).  Messgerät für Aktivität, Lichtmenge, Schlaf- und Wachphasen. Wird wie eine Uhr am Handgelenk getragen.  Vgl. Kenneth P. Wright, Andrew W. McHill, Brian R. Birks, Brandon R. Griffin, Thomas Rusterholz and Evan D. Chinoy. Entrainment of the Human Circadian Clock to the Natural Light-Dark Cycle. Current Biology 23:16 (2013): 1554– 1558.

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weisen kann. Er ermöglicht eine optimale Anpassung an die Umgebung, durch die sich physiologische Prozesse effizient gestalten. Wenn die circadiane Uhr und die Umwelt aus dem Takt geraten, hat dies gravierende Folgen für die menschliche Gesundheit. Der moderne, schnell getaktete Lebensstil, die Lichtverschmutzung in den Städten und in den Häusern, führen allerdings immer mehr dazu, dass dieses empfindliche System aus dem Gleichgewicht gebracht wird, mit schwerwiegenden gesundheitlichen Konsequenzen. Wir sollten daher wieder lernen, mehr auf unsere innere Uhr zu hören.

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Verführerische Zyklen und historische Fantasien Richard W. Butlers Modell des Tourism Area Life Cycle (TALC) und die Geschichte des Tourismus auf Mallorca English abstract: Seductive Cycles and Historical Fantasies. Richard W. Butler’s Tourism Area Life Cycle (TALC) Model and the History of Tourism on Mallorca. The island of Mallorca in the Balearics is considered to be a prototypical example of early sun and beach tourism. Popular conceptions of the Mallorca’s entrance into the tourist industry correspond precisely to the early phases in Richard Butler’s Tourism Area Life Cycle (TALC) model. More recent studies show that these conceptions are historically skewed. This article begins by describing the history of tourism on Mallorca and the perceptions of the island in the 19th and 20th centuries. It then demonstrates how the development of Mallorca deviates from the TALC model. Tourism in Mallorca came not to an isolated and economically underdeveloped region, but rather to a region which was industrially developed and connected to the global flow of commodities. The main Mallorcan protagonists were not as marginalized as the model describes them. It is they who produced the perceptions which were passed on to later travelers. From the very beginning, it was the indigenous Mallorcans who advocated the installation of a tourist industry and then organized it. In this way, Mallorca became the tourist center of Spain already in the 1930s. This laid the groundwork for the boom of the postwar era. To this day, indigenous companies dominate the Mallorcan tourist industry. Since other historical studies also describe deviating entries into the development of tourism, the question arises as to whether the TALC model reproduces stereotypes. The article advocates a more flexible approach to the early phases of the model. In addition, the article notes that Mallorca is perhaps a special case, rather than a prototype for the development of regions for sun and beach tourism.

Dieser Aufsatz basiert auf Ergebnissen meiner Dissertation Infrastrukturen des Glücks. Eine Bild-, Raum- und Infrastrukturgeschichte Mallorcas im 19. und 20. Jahrhundert unter Berücksichtigung des Tourismus, Erfurt, 2016, URL: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:547 – 201600417 (29. 06. 2018). https://doi.org/10.1515/9783110466591-005

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1 Einleitung Vor nunmehr 38 Jahren stellte der britische Geograph Richard W. Butler das Modell eines (damals noch leicht anders benannten) Tourism Area Life Cycle (TALC) vor.¹ Zu seiner eigenen Verwunderung erfreut sich das Modell in der Tourismusforschung bis in die Gegenwart hinein einiger Beachtung.² Zahlreiche Autoren haben es angewandt oder sich damit auseinandergesetzt und auch Butler selbst hat es ausformuliert und mehrfach erneut zur Diskussion gestellt.³ Dabei lag das Hauptaugenmerk auf mehr oder weniger aktuellen Vorgängen, etwa dem gegenwärtigen oder dem geplanten Einstieg bestimmter Gebiete in die touristische Entwicklung oder dem Niedergang und möglicherweise der Neuetablierung traditioneller Tourismusgebiete, die sich in der Krise befinden. Deutlich weniger Interesse wurde der historischen Betrachtung des Einstiegs traditioneller, 1980 längst etablierter Regionen in die touristische Entwicklung entgegengebracht.⁴ Mallorca, das eine solche traditionell etablierte Destination ist, scheint sich auf den ersten Blick gut in das TALC-Modell einzupassen. Beim genaueren Hinsehen kann dieser Eindruck allerdings nur für den zweiten Teil des Modells bestätigt werden. Nach neueren Untersuchungen zum Mallorca des 19. und 20. Jahrhunderts verlief der Aufbau der Tourismuswirtschaft auf Mallorca anders als in Deutschland populäre Vorstellungen nahelegen. Damit weist die Entwicklung des mallorquinischen Tourismus auch erhebliche Unterschiede zum TALCModell auf. Dieser Befund ist insofern schwerwiegend, als Mallorca gern als „prototypisch“ für massentouristische Entwicklungen oder gar als „Inbegriff des

 R.W. Butler. The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution: Implications for Management of Resources. Canadian Geographer 24 (1980): 5 – 12 (erneut in The Tourism Area Life Cycle, hg. von Richard W. Butler. Bd. 1: Applications and Modifications. Clevedon Buffalo Toronto: Channel View Publications, 2006, 3 – 12).  R.W. Butler. Tourism Area Life Cycle. Contemporary Tourism Reviews. Oxford 2011, 3, URL: http://www.goodfellowpublishers.com/free_files/fileTALC.pdf (29.06. 2018).  Zu Butlers Aufsätzen vgl. die Bibliographie in Butler, Tourism Area Life Cycle, 18 – 19. Eine allgemeine Bestandsaufnahme zum Modell, seinen Anwendungen und Modifikationen bieten die Beiträge in The Tourism Area Life Cycle, hg. von Richard W. Butler. Bd. 1: Applications and Modifications. Bd. 2: Conceptual and Theoretical Issues. Clevedon Buffalo Toronto: Channel View Publications, 2006; vgl. auch in Bd. 1 zur Vorgeschichte des TALC: Richard W. Butler. The Origins of the Tourism Area Life Cycle, 13 – 26.  Dies zusätzlich zum allgemeineren Befund, dass das Modell, obwohl selbst longitudinal konzipiert, mehrheitlich in Querschnittstudien angewandt wurde (Jerry D. Johnson, David J. Snepenger. Residents’ Perceptions of Tourism Development Over the Early Stages of the TALC. In The Tourism Area Life Cycle. Bd. 1, 222– 236, hier 222).

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Massentourismus“ verstanden wird.⁵ Neben der Empfehlung für eine Modifikation des TALC-Modells legt das die Frage nach der Bewertung der Entwicklung Mallorcas nahe. Bleibt die Insel „Prototyp“ oder ist sie viel eher als „Sonderfall“ touristischer Entwicklung zu verstehen?

2 Der Tourism Area Life Cycle (TALC) und einige Implikationen Trotz seines relativ hohen Alters wird der Artikel, mit dem Butler 1980 das TALCModell vorstellte, von manchen Autoren als „die zentrale Arbeit zum Thema Lebenszyklus von touristischen Destinationen“ angesehen.⁶ Tatsächlich hat das konzeptionelle Schema des Modells auch in neueren Ausführungen kaum Veränderungen erfahren⁷ und kann deshalb nach dem Text der Erstveröffentlichung vorgestellt werden.⁸ Nach R.W. Butler beginnt der „Lebenszyklus“ von Touristengebieten mit einer Phase der exploration, in der eine kleine Zahl von Touristen das zukünftige Touristengebiet mit individuellen Reisearrangements und nach unregelmäßigen Besichtigungsmustern erkundet. Häufig seien dies Künstler, die ein meist unzugängliches Gebiet aufsuchen, das sich durch seine landschaftliche Schönheit, sein besonderes Klima oder ungewöhnliche kulturelle Merkmale auszeichne. Es gebe keine speziellen Einrichtungen für Reisende, so dass die Nutzung lokaler Einrichtungen und der Kontakt mit Einheimischen wahrscheinlich hoch seien.

 Cord Pagenstecher. Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben. 1950 – 1990. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2012², 405; Thomas Schmitt. Tourismus und Landschaftsschutz auf Mallorca. Geographische Rundschau 45:7– 8 (1993): 459 – 467, hier 459.  M. Peters, M. Schuckert, K. Weiermair. Die Bedeutung von Marken im Management von Tourismus-Destinationen. In Dienstleistungsmarken, hg. von M. Bruhn, B. Stauss. Wiesbaden: Gabler, 2008, 303 – 323, hier 310, zitiert nach: Bernd Eisenstein. Modul 5. Grundlagen des Destinationsmanagements. In: Axel Schulz, Waldemar Berg, Marco A. Gardini, Torsten Kirstges, Bernd Eisenstein. Grundlagen des Tourismus. Lehrbuch in 5 Modulen. München: Oldenbourg, 2010, 551– 708, hier 616.  Butler, Tourism Area Life Cycle, 12. Die einzige substantielle Veränderung ist die Einführung einer zusätzlichen Phase der „Re-Orientation“ zwischen stagnation und rejuvenation bzw. decline, die den Anstrengungen gerecht werden soll, die Tourismusgebiete unternehmen, um den Niedergang abzuwenden.  Seitenangaben hier nach der erneuten Publikation in The Tourism Area Life Cycle (vgl. Anm. 2); die folgende Darstellung des TALC jeweils ohne die konkreten Beispiele, die Butler für jede Phase gibt.

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Dieser Umstand selbst könne für manche Besucher attraktiv sein. Die physische Verfasstheit und die sozialen Milieus der Region blieben vom Tourismus unbeeinflusst und Ankunft und Abreise der Touristen hätten relativ wenig Bedeutung für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Einwohner.⁹

Abb. 1: Entwicklungszyklus von Touristengebieten bei R.W. Butler (Butler, The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution, 5)

In der sich anschließenden involvement-Phase steigt die Zahl der Besucher und nimmt eine gewisse Regelmäßigkeit an. Einige Einheimische begännen, Einrichtungen bereitzustellen, die vor allem oder ausschließlich von Touristen genutzt würden. Der Kontakt zwischen Touristen und Einheimischen bleibe weiter hoch. Mit Fortschreiten dieses Stadiums sei spezifische Tourismus-Werbung zu erwarten und eine Marktzone für Touristen könne definiert werden. Es sei eine Saisonalisierung zu erwarten und dass am Tourismus interessierte Einheimische begännen, mit Eigeninitiative, aber auch durch Druck auf die Kommu-

 Butler, The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution, 5 – 6.

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nalverwaltungen und öffentliche Akteure die Rahmenbedingungen für den Tourismus zu verbessern.¹⁰ Während der sich anschließenden development-Phase, die durch einen definierten Tourismus-Markt und intensive Werbung in den touristischen Herkunftsgebieten gekennzeichnet ist, käme es oft zu einer boomartigen Entwicklung, die nun auch von auswärtigen Kräften gefördert würde. Dadurch entgleite die Kontrolle über den Tourismus rasch den lokalen Kräften, auswärtige HotelInvestoren und Reiseveranstalter bestimmten nun das Geschehen. Von Einheimischen vorgehaltene touristische Infrastrukturen würden durch größere und komfortablere Einrichtungen ersetzt. Die ursprünglichen natürlichen und kulturellen Attraktionen würden nun unterschiedlich entwickelt und vermarktet und neu geschaffene, importierte kämen hinzu. In der physischen Erscheinung des Touristengebiets würden Veränderungen sichtbar und es stehe zu erwarten, dass nicht alle von ihnen von allen Teilen der lokalen Bevölkerung begrüßt würden. Die Zahl der Touristen entspreche nun in der Hochsaison der Zahl der einheimischen Bevölkerung oder übersteige sie sogar.¹¹ In der folgenden consolidation-Phase steigen die Touristenzahlen zwar noch, und die Zahl der Touristen übersteigt die der Einheimischen, aber die Zuwachsraten werden kleiner. Ein größerer Teil der Wirtschaft des Gebiets basiere nun auf dem Tourismus, Vermarktung und Werbung reichten weit. Der Tourismus entwickele allerdings keine großen neuen Impulse mehr, auch wenn die großen Tourismusunternehmen nun präsent seien und Versuche unternommen würden, die Saison und das vermarktete Gebiet zu erweitern. Die hohe Zahl von Touristen und die für sie bereitgestellten Infrastrukturen stießen nun unter den permanenten Bewohnern des Gebiets auf Kritik, insbesondere unter denen, die wirtschaftlich nicht vom Tourismus abhingen.¹² In der stagnation-Phase schließlich sind die Spitzenwerte der Besucherzahlen erreicht. Die Grenzen der Kapazität sind in vielen Variablen ausgeschöpft oder, mit den entsprechenden sozialen, ökonomischen und Umweltproblemen, überschritten. Das Image des Gebiets sei gut etabliert, dieses sei aber nicht länger in Mode. Es gebe ein hohes Vertrauen in wiederkehrende Besuche und Konventionen. Es seien überschüssige Bettenkapazitäten vorhanden und es würden erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Zahl der Besucher aufrechtzuerhalten. Die eigenständigen natürlichen und kulturellen Attraktionen seien wahrscheinlich durch „künstliche“ Angebote ersetzt worden. Das Image der Re-

 Butler, The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution, 6.  Butler, The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution, 6.  Butler, The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution, 7.

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gion habe sich von seinem geographischen Umfeld abgelöst. Neue Entwicklungen lägen peripher zum eigentlichen Touristengebiet und existierende Infrastrukturen wechselten wahrscheinlich häufig die Besitzer.¹³ In der decline-Phase ist das Gebiet nicht mehr mit neueren Attraktionen konkurrenzfähig – sein Markt schrumpft sowohl räumlich als auch numerisch. Wenn es für viele Menschen erreichbar sei, dann ziehe es nun nicht mehr Urlauber an, sondern Wochenendausflügler und Tagestouristen. Eigentümer wechselten häufiger und touristische Infrastrukturen würden oft von solchen abgelöst, die nicht-touristisch genutzt würden. Das Gebiet trete also aus der touristischen Nutzung aus. Gleichzeitig wachse die Einbindung der Einheimischen in den Tourismus wahrscheinlich, da sie eher in der Lage seien, die niedrigeren Preise, die der schrumpfende Markt erfordert, zu gewährleisten. Wahrscheinlich würden viele Einrichtungen für ähnliche Aktivitäten umgewidmet, also etwa Hotels zu Wohnanlagen oder Appartements für Pensionäre werden, falls das Gebiet für andauernde Niederlassung attraktiv sei. Letztlich werde das Gebiet zu einem touristischen Slum oder verliere vollständig seine touristische Funktion.¹⁴ Andererseits könne auch eine rejuvenation geschehen, obwohl fast sicher sei, dass dieses Stadium nicht ohne den vollständigen Austausch der touristischen Attraktionen erreicht werden könne. Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung sah Butler zwei Wege zu einer solchen Verjüngung eines Touristengebiets. Einmal sei das die Hinzufügung neuer künstlicher Attraktionen. Der andere Weg sei die Erschließung bisher unerschlossener natürlicher Ressourcen wie etwa der Aufbau eines Wintertourismus in Zielen, die bisher im Sommer besucht wurden. Auch wenn neue Formen der Erholung entstünden, sei es nicht unmöglich, dass Touristenziele bisher unbeachtete natürliche Ressourcen ausbauten. In vielen Fällen seien dafür aber gemeinsame öffentliche und private Anstrengungen notwendig.¹⁵ Bei dem TALC-Modell handelt es sich also um ein Produktzyklus-Modell, wobei hier touristische Nutzungen einer bestimmten Region angeboten werden und der Erfolg bzw. Misserfolg dieser Region durch die Nachfrage von Touristen definiert wird.¹⁶ Die Faszination des Modells dürfte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass es zentralen Angstvorstellungen von Unternehmern Ausdruck verleiht, gleich-

 Butler, The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution, 7.  Butler, The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution, 7– 8.  Butler, The Concept of a Tourist Area Cycle of Evolution, 8.  Zu anderen Anwendungen von Produktzyklus-Modellen auf den Tourismus: Antonio Alcover Casasnovas, Andreu Sansó Rosselló. The tourist area lifecycle and the unit roots test. A new economic perspective for a classic paradigm in tourism, [2– 3], URL: http://dea.uib.es/digitalAssets/ 136/136622_w38.pdf (29.06. 2018).

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zeitig aber auch die Erlösung von dieser Angst in Aussicht stellt: Der Untergang deines Produkts wird kommen, aber er kann aufgehalten werden. Dem entsprechend haben sich tourismuswissenschaftlich und -wirtschaftlich orientierte Studien, die das Modell benutzten, eher mit aktuellen Problemen des Aufbaus und der Reform von Tourismusgebieten auseinandergesetzt.¹⁷ In dieser angstbesetzten und gleichzeitig hoffnungsvollen Beschäftigung mit Gegenwart und Zukunft geriet die Vergangenheit allzu sehr aus dem Blick. Auch im historischen Rückblick auf die jahrzehntelange Nutzung und Auseinandersetzung mit dem Modell geht es vor allem um die Ausdifferenzierung der Vielzahl verschiedener touristischer Produkte, die 1980 noch nicht abzusehen war.¹⁸ Der Einstieg lang etablierter Ziele in die touristische Entwicklung hingegen wurde vergleichsweise wenig behandelt. Entsprechend wurde die historische Tragfähigkeit der Darstellung, die die ersten Phasen des Modells geben, eher selten hinterfragt.¹⁹

 Gern wird etwa in Arbeiten auf das TALC-Modell Bezug genommen, die sich mit wirtschaftlicher und/oder ökologischer Nachhaltigkeit in bestimmten Tourismusgebieten beschäftigen (vgl. etwa Tourism, Recreation and Sustainability. Linking Culture and the Environment, hg. von Stephen F. McCool, R. Neil Moisey. New York u. a.: CABI Publishing, 2001; Island Tourism and Sustainable Development. Caribbean, Pacific, and Mediterranean Experiences, hg. von Yorghos Apostolopoulos, Dennis J. Gayle. Westport, Conn., London: Praeger, 2002).  Vgl. dazu die genannten retrospektiven Arbeiten Butlers.  Zu Kritik und Kontroversen um das Modell vgl.: Butler, Tourism Area Life Cycle, 9 – 13 und Richard M. Lagiewski. The Application of the TALC Model: A Literature Survey. In The Tourism Area Life Cycle. Bd. 1, 27– 50. Für die Auseinandersetzung mit den frühen Phasen des Modells ist etwa D.B. Weaver interessant, der mehrfach mit Blick auf den TALC zu kleinen Karibik-Inseln wie den Grand Cayman Islands bzw. Antigua veröffentlichte, dabei die entscheidende Rolle einheimischer Plantagenbesitzer beim Aufbau der Tourismuswirtschaft betonte und eine „‘plantation’variant“ des TALC vorgeschlagen hat (D.B. Weaver. The evolution of a ‘plantation’ tourism landscape in the Carribean Island of Antigua. Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 69 (1988): 319 – 331; D.B. Weaver. Grand Cayman Island and the resort cycle concept. The Journal of Travel Research 21 (1990): 9 – 15; D.B. Weaver. The ‘Plantation’ Variant of the TALC in the Smallisland Caribbean. In The Tourism Area Life Cycle. Bd. 1, 185 – 197). N. Douglas hat bei seiner Untersuchung der melanesischen Inselstaaten Papua Neuguinea, Salomonen und Vanuatu festgestellt, dass die touristische Entwicklung vor und nach der Unabhängigkeit wesentlich von den Regierungen der drei Staaten beeinflusst wurde und darauf hingewiesen, dass die ersten Touristen vor allem Kontakt zu ausgewanderten Landsleuten und kaum zu den eigentlichen, den melanesischen „Einheimischen“ hatten (Lagiewski, The Application of the TALC Model, 42– 43 unter Bezug auf: N. Douglas. Applying the life cycle model to Melanesia. Annals of Tourism Research 24:1 (1997): 1– 22). Eine Untersuchung neuerer, ebenfalls vom TALC in seiner klassischen Form abweichender Entwicklungen, nämlich des von Einheimischen betriebenen Aufbaus einer nachhaltigen Tourismuswirtschaft in vier ländlichen Gemeinden in den USA (Nashville, Nappanee, Centerville und Parke County im Staat Indiana) ist: James B. Lewis. Self-developed Rural Tourism: a Method of Sustainable Tourism Development. In Tourism, Recreation and Sustain-

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Die Beliebtheit des TALC-Modells hängt möglicherweise auch mit seinen Unschärfen zusammen. Es ist offen in der Frage der absoluten Dauer eines vollen Zyklus und seiner Phasen, es ist aber auch offen in der Frage, welchen Bereich genau ein tourism area umfasst. Zudem ist es quantitativ weitgehend unbestimmt.²⁰ Diese drei Unschärfen werden im Folgenden von Bedeutung sein. Außerdem muss vorab auf zwei Implikationen der ersten Phasen hingewiesen werden, die die Einheimischen betreffen. Zum einen sei die exploration-Phase unter anderem dadurch charakterisiert, dass die touristischen Pioniere „irregular visitation patterns“ folgten. Diese charakterisierende Eigenschaft wird man wohl auf die Annahme zurückführen können, dass erst die Touristen den gültigen Katalog von Sehenswürdigkeiten definieren, um den herum sich dann feste Reiserouten etablieren. Da diese symbolische Erschließung des werdenden Tourismusgebiets durch Auswärtige erfolgt, impliziert das Modell, dass entsprechende Zuweisungen des Sehenswerten nicht vorher schon von Einheimischen vorgenommen worden sind. Diese selbst werden, zum anderen, im TALC-Modell zwar durchaus als Akteure wahrgenommen, allerdings ausschließlich in der Rolle der Organisatoren des Tourismus, die vor allem in den frühen Phasen die notwendigen Infrastrukturen bereitstellen. Auch das wird im Folgenden zu kritisieren sein.

3 Der Mallorca-Tourismus bis 1936 in populären Darstellungen deutschsprachiger Medien Angesichts der immensen Popularität Mallorcas in Deutschland ist erstaunlich, wie lange es bis zur ersten Publikation eines deutschsprachigen Fachhistorikers gedauert hat, die auch die neuere Geschichte Mallorcas erfasst.²¹ Noch erstaun-

ability, 177– 194; Anwendungen und Kritikpunkte, sowie Lösungsvorschläge am Beispiel von Mallorca in: Alcover, Sansó, The tourist area lifecycle and the unit roots test.  Lediglich das Verhältnis von Touristen und Bewohnern eines Gebiets spielt in der Charakterisierung der Phasen development und consolidation eine Rolle.  Thomas Freller. Geschichte Mallorcas. Ostfildern: Thorbecke, 2013 – hier nehmen das 19. und das 20. Jahrhundert allerdings nur wenig Raum ein; in Bezug auf die frühe Geschichte des Mallorca-Tourismus ist das Buch unergiebig. Hinzu kommen einige Übersetzungen mallorquinischer Historiker, die sich mit enger geführten Themen und mit Tourismus allenfalls am Rande beschäftigen (David Ginard i Féron. Mallorca während der Franco-Diktatur. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1939 – 1975. Berlin: edition tranvía,Verlag Walter Frey, 2001; Josep Massot i Muntaner. Georges Bernanos und Mallorca. 1934 – 1938. Berlin: edition tranvía, Verlag Walter Frey, 2002). Unter den Arbeiten deutschsprachiger Nicht-Historiker darüber hinaus erwähnenswert: Reinhard Andress. ‚Der Inselgarten‘ – das Exil deutschsprachiger Schriftsteller auf Mallorca, 1931 – 1936.

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licher ist vielleicht, dass sich auch deutschsprachige Tourismushistoriker bisher nicht ernsthaft mit der Geschichte des Tourismus auf Mallorca beschäftigt haben.²² Bei ihnen taucht die größte Baleareninsel allenfalls am Rande und auch da nur innerhalb eines Rahmens auf, den populäre, hoch topische Vorstellungen vorgeben, die deutlich von Insel-Metaphorik und den romantischen Wahrnehmungen des 19. Jahrhunderts geprägt sind.²³ Diese populären Vorstellungen bilden gewissermaßen den common sense der Deutschen zur neueren Geschichte Mallorcas.²⁴ Bemerkenswerterweise korrespondieren sie stark mit den Abläufen des TALC-Modells. Einerseits erhalten sie dadurch scheinbar zusätzliche Evidenz, vor allem wirft das aber die Frage auf, wie topisch das TALC-Modell verfasst ist. Nach den in deutschsprachigen Medien verbreiteten Vorstellungen ist Mallorca bis zum Eintreffen des Massentourismus Anfang der 1960er Jahre ein isoliertes, rückständiges Gebiet gewesen, auf dem sich quasi-mittelalterliche Ver-

Amsterdam, Atlanta, GA: Rodopi, 2001; Martin Breuninger, Germà García i Boned. Mallorcas vergessene Geschichte. Wie das Inselparadies zur Hölle wurde. Mit Kraft durch Freude und braunem Terror – Auslandsdeutsche zwischen Nazis und Falange. Santa Eugenia, Mallorca: Vitolibro, 2011. Relativ umfangreich und differenziert, aber ohne wissenschaftlichen Anspruch und ebenfalls unergiebig für die Tourismusgeschichte: Heide Wetzel-Zollmann, Wolfgang Wetzel. Mallorca. Ein Streifzug durch die 6000jährige Geschichte der Mittelmeerinsel. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1991.  Die differenziertesten Aussagen zur historischen Entwicklung des Tourismus in deutscher Sprache finden sich in Arbeiten von Geographen und hier vor allem in: Eberhard Mayer. Die Balearen. Sozial- und wirtschaftsgeographische Wandlungen eines mediterranen Inselarchipels unter Einfluß des Fremdenverkehrs. Stuttgart : Selbstverlag des Geographischen Instituts der Universität Stuttgart, 1976; außerdem: Uwe Riedel. Entwicklung, Struktur und räumliche Differenzierung des Fremdenverkehrs der Balearen. Ein Beitrag zur Methodik der Fremdenverkehrsgeographie. Erdkunde 26 (1972): 138 – 153; Elisabeth Schmitt, Thomas Schmitt. Auf Tour. Mallorca, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 2011, 156 – 174.  So etwa Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, 405 – 406. Noch 2011 hieß es etwa bei Albrecht Steinecke: „Es ist davon auszugehen, dass Mallorca ohne eine touristische Erschließung ein agrarer Passivraum geblieben wäre und auf einer Stufe mit anderen unterentwickelten spanischen Provinzen stehen würde – z. B. Andalusien oder Estremadura“ (Albrecht Steinecke. Tourismus. Braunschweig: Westermann, 2011, 158 unter Verweis auf Schmitt, Tourismus und Landschaftsschutz auf Mallorca, 463).  Zu Mallorca und dem Tourismus auf Mallorca gibt es im nicht-wissenschaftlichen Bereich eine ungeheuer große Anzahl von Einzelbelegen. Sie finden sich etwa in touristischen Medien wie Reiseführern und Reisezeitschriften, den Urlaubsbeilagen der Tages- und Wochenpresse oder auch in den Reisejournalen des Fernsehens. Der generelle Schwerpunkt der historischen Wahrnehmung Mallorcas in diesen Medien liegt auf dem Mittelalter, das an dieser Stelle nicht behandelt wird. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hingegen wird meist nur sehr kurz behandelt, ist häufig eine reine Tourismusgeschichte und verlässt als solche kaum den im Folgenden umrissenen Rahmen.

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hältnisse bewahrt hätten.²⁵ Aus diesem „Dornröschenschlaf“ habe erst der Tourismus die Insel erlöst.²⁶ Damit habe der Tourismus die Insel in die Moderne geführt, allerdings habe er ihr nicht nur Prosperität sondern auch eine Reihe von Problemen gebracht, so die Bauwut an den Küsten der Insel oder moralische Überschreitungen wie den Bikini, die Exzesse alkoholisierter Touristen oder steigende Kriminalität und Prostitution in den Touristengebieten. Nach diesen Darstellungen waren die ersten Mallorca-Touristen George Sand und Frédéric Chopin, die von Anfang November 1838 bis Mitte Februar 1839 einige Monate auf der Insel verbrachten. Der Reisebericht George Sands (1804– 1876) über diese Zeit²⁷ ist einer der wirkmächtigsten Texte zum Mallorca des 19. Jahrhunderts, dessen Bedeutung für die internationale Wahrnehmung der Insel der des siebenbändigen Monumentalwerks Die Balearen in Wort und Bild geschildert des Habsburger Erzherzogs Ludwig Salvator von Habsburg-Lothringen (1847– 1915)²⁸ gleichkommt oder sie sogar übertrifft. In diesen beiden Leitwerken der Mallorca-Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts wird Mallorca als paradiesisch schöne, malerische Insel beschrieben, die von einfachen und ungebildeten Bauern bewohnt wird. Bei Sand, die grob behandelt und wohl auch betrogen worden war, löste das Verachtung für die Einheimischen aus, bei Ludwig Salvator paternalistisches Wohlwollen. Die anderen Reisenden der Zeit, aus Frankreich kamen Künstler, aus Deutschland Gelehrte, berichteten in der Regel ebenfalls wohlwollend Ähnliches von den Insulanern, die sie als bescheiden, treu und ehrlich, wenn auch nicht über die Maßen arbeitsam schilderten. Der französische

 Zur Repräsentanz Mallorcas in deutschsprachigen Medien im 19. und 20. Jahrhundert vgl.: Ekkehard Schönherr. La voluntad del paraiso. Mallorca en los artículos de viajeros alemanes en el siglo XIX. Estudis Baleàrics 94/95, Imatge i turisme (Okt. 2008/April 2009): 117– 134; Ekkehard Schönherr. De nereidas y una isla sin lugar. Mallorca en los medios escritos alemanes entre 1900 y 1960. In Turisme i mitjans de comunicació de les Illes Balears, hg. von Sebastià Serra Busquets, Tomeu Canyelles Canyelles. Palma de Mallorca, 2015, 382– 398; Ekkehard Schönherr. Mito Mallorca. Las tres narratives de Mallorca en medios alemanes del fin del siglo XX. In Turisme i mitjans de comunicació, 148 – 163, URL: https://www.dropbox.com/s/toyizguc23lw99v/Turisme%20i% 20mitjans%20de%20comunicaci%C3 %B3 %20de%20les%20Illes%20Balears%20AAEE322014. pdf?dl=0 (29.06. 2018).  So die Geschichtskonstruktion etwa bei Schmitt, Schmitt, Auf Tour. Mallorca; „Dornröschenschlaf“ etwa in: Ingo Wolff. Mallorca. Nürnberg: Edition Erde, 1995², 78 – allerdings hatte schon 1931 der Maler und Grafiker Fritz Preiss davon geschrieben, dass bei seiner Ankunft auf Mallorca seine Fantasie enttäuscht worden sei, die Insel „im Dornröschenschlaf einer vergessenen Kultur“ vorzufinden (Fritz Preiß. Mallorca. Die Bergstadt. Monatsblätter 19:1 (1930/31): 459 – 466, hier 460).  George Sand. Un Hiver à Majorque. Paris: Hippolyte Souverain, 1842.  Ludwig Salvator. Die Balearen in Wort und Bild geschildert. 7 Bde. in 9 Büchern. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1869 – 1891.

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Reisende Gaston Vuillier beschrieb Mallorca als eine der „vergessenen Inseln“ des westlichen Mittelmeers.²⁹ Der in dieser Lesart entstehende Eindruck, die Wahrnehmung Mallorcas sei vor allem von auswärtigen Akteuren geprägt worden³⁰, verstärkt sich durch den Umstand, dass nach 1900 viele Maler aus Festlandspanien, Südamerika oder dem europäischen Ausland nach Mallorca kamen und mit kraftvoll farbigen Landschaftsbildern in neuen, subjektivierenden Malweisen die ästhetische Repräsentanz der Insel revolutionierten. Santiago Rusiñol (1861– 1930), einer der bekanntesten spanischen Maler dieser Zeit, war außerdem Schriftsteller und schuf mit Die Insel der Ruhe eine viel rezipierte Beschreibung der Insel, deren Titel zum gebräuchlichen und allgemein verständlichen Synonym für Mallorca geworden ist.³¹ In der Begrifflichkeit des TALC-Modells entspräche diese Phase der exploration. Die sich anschließende involvement-Phase würde demnach auf Mallorca kurz nach 1900 einsetzen, nämlich mit der Eröffnung des ersten Luxushotels in Palma 1903 bzw. mit der Gründung des Förderverbands Fomento del Turismo de Mallorca 1905. Nach dem Verweis auf diese von Einheimischen betriebenen Institutionen wirken die populären Darstellungen etwas gerafft. Relativ häufig erfährt man nun nur noch, dass bereits vor dem ersten Weltkrieg weitere Hotels eröffnet wurden und dass sich dann in den zwanziger und dreißiger Jahren ein erster Tourismus herausgebildet hat, zu dem länger oder dauerhaft auf Mallorca lebende englische Pensionäre und deutsche Residenten hinzugekommen sind. Zentrum dieses Tourismus ist Palmas südwestlicher Vorort El Terreno gewesen. Insgesamt habe dieser Tourismus aber nur einen geringen Umfang gehabt, sei weitgehend auf Palma und seine Umgebung beschränkt geblieben und im Übrigen mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs zum Erliegen gekommen. Der Vorkriegstourismus wird in diesen Darstellungen als unbedeutendes Vorspiel zum eigentlichen Mallorca-Tourismus, nämlich dem massenhaften Sonne-und-Strand-Tourismus verstanden, der etwa um 1960 eingesetzt habe.  Gaston Vuillier. Les îles oubliées. Les Baléares, la Corse et la Sardaigne. Paris: Hachette, 1893.  Besonders explizit ist Helga Schwendinger geworden, die Ludwig Salvator gleichsam in den Rang eines Kulturheros erhoben hat: „[…] Mit all diesen Werken versuchte der österreichische Erzherzog die Mallorquiner zum Studium ihrer eigenen Geschichte zu motivieren, um dann – aufgrund dieses Wissens – ihre Heimat, die sie nun erst richtig kennengelernt haben, verstehen und lieben zu lernen. […] Die Schönheit dieser Insel, dem Einheimischen kaum bewusst und oftmals übersehen, zu beschreiben und auch andere darauf hinzuweisen, sie zu sensibilisieren für das Vertraute und Selbstverständliche, verstand Erzherzog Ludwig Salvator als eine vordringliche Aufgabe.“ (Helga Schwendinger. Erzherzog Ludwig Salvator. Der Wissenschaftler aus dem Kaiserhaus. Die Biographie. Palma de Mallorca: Libreria Ripoll, 2005², 209 – 210).  Santiago Rusiñol. L’illa de la calma. Barcelona, 1913.

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Über die Mallorquiner vor dem Eintreffen des Massentourismus erfahren wir in diesen populären Darstellungen in aller Regel nur, sie seien mehrheitlich Bauern gewesen, außerdem Fischer, Handwerker oder Schmuggler. Individuelle mallorquinische Akteure kommen hier kaum vor. Wenn einheimische Akteure des 19. und 20. Jahrhunderts überhaupt genannt werden, dann geht es meist um einen kleinen Personenkreis, der schnell umrissen ist: die bekanntesten mallorquinischen Dichter Miquel Costa i Llobera (1854– 1922) und Joan Alcover i Maspons (1854– 1926), der Unternehmer Juan March Ordinas (1880 – 1962), der aus der Familie eines mallorquinischen Schweinehändlers stammte und durch breit angelegte legale und illegale Geschäfte zum reichsten Mann Spaniens und zu einem der reichsten Männer der Welt aufstieg, der Bauingenieur Antonio Parietti Coll (1899 – 1979), der die spektakuläre Straße gebaut hat, die aus dem TramuntanaGebirge an die Bucht Sa Calobra führt. Gerade die letzten beiden sind eminent moderne Figuren, die allerdings in einem als vormodern beschriebenen Mallorca nicht recht verortbar sind. In der Masse der imaginierten ungebildeten mallorquinischen Bauern lassen die populären Darstellungen sie wie überragende, sehr fremde Solitäre erscheinen.

4 Mallorca – eine Insel mit Industrie und nichtmarginalen Einheimischen In katalanischer und spanischer Sprache liegen inzwischen einige fundierte Untersuchungen zur Geschichte des frühen Mallorca-Tourismus vor.³² Zusammen mit zahlreichen anderen Publikationen zum wirtschaftlichen, sozialen und kul Nennenswerte neuere tourismusgeschichtliche Arbeiten bzw. breiter angelegte Sammelbände zum Tourismus, in denen sich auch tourismusgeschichtliche Aufsätze finden, sind etwa: Welcome! Un siglo de turismo en las Islas Baleares [Band zur gleichnamigen Ausstellung vom 20.09.26.11. 2000 in Palma], hg. von Fundación „la Caixa“. Barcelona: Fundación La Caixa, 2000; Turisme i societat a les Illes Balears, hg. von Climent Picornell Bauzà, Francesc Sastre Albertí, Sebastià Serra Busquets. 2 Bde. Palma de Mallorca, 2002– 2004; Joan Buades. On brilla el sol. Turisme a Balears abans del boom. Eivissa: Res Pública Edicions, 2004; Antoni Vives Reus. Historia del Fomento del Turismo de Mallorca (1905 – 2005), Palma: Foment del Turisme de Mallorca, 2005; Joan-Carles Cirer. La invenció del turisme de masses a Mallorca. Palma: Edicions Documenta Balear, 2009; zur Einführung: Joan-Carles Cirer. El turisme a les Balears (1900 – 1950). Palma: Edicions Documenta Balear, 2006; Miquel Seguí Llinàs. El turisme a les Balears (1950 – 2005). Palma: Edicions Documenta Balear, 2006; vgl. auch auf Englisch: Richard J. Buswell. Mallorca and Tourism. History, Economy and Environment. Bristol, Buffalo, Toronto: Channel View Publications, 2011; Richard J. Buswell. Mallorca. The Making of the Landscape. Edinburgh, London: Dunedin Academic Press, 2013.

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turellen Wandel der Insel im 19. und 20. Jahrhundert erlauben sie, die in Deutschland populären Vorstellungen, die in vielen Fällen mit traditionellen mallorquinischen Wahrnehmungen übereinstimmen, auf den Prüfstand zu stellen. Dabei zeigt sich, dass das von Fachhistorikern entworfene Bild nicht den in Deutschland kursierenden Vorstellungen entspricht und deshalb auch nicht mehr ohne Weiteres mit dem TALC-Modell in Einklang zu bringen ist. Eine Neuformulierung der frühen Tourismusgeschichte Mallorcas führt deshalb direkt in eine Kritik der Postulate der frühen Phasen des TALC-Modells und ihrer Implikationen.

4.1 Eine Modernisierung ohne Tourismus³³ In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Mallorca von starken Krisen geprägt. Wegen der Kriege Spaniens gegen Frankreich und England hatte der mallorquinische Handel schon am Anfang des Jahrhunderts den weitaus größten Teil seiner Flotte verloren. 1808 war die Insel nicht von napoleonischen Truppen besetzt worden, weshalb sie nach Ausbruch des Spanischen Befreiungskriegs 1808 – 1814 zum Ziel von 30 – 40.000 zumeist aus Katalonien und Valencia kommenden Flüchtlingen wurde. Auf Mallorca, das ohnehin auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen war, führte diese zusätzliche Bevölkerung zu einer Lebensmittelknappheit, die auch lange nach Ende des Kriegs noch anhielt. Wegen der Unabhängigkeitskriege in Hispanoamerika konnte der Handel mit den Kolonien zunächst nicht wieder aufgenommen werden. Verschiedene Epidemien verschärften die krisenhafte Situation zusätzlich: 1820 brach in Son Servera und Artá die Beulenpest aus, an der allein 1.040 Einwohner Son Serveras starben. 1821 forderte das Gelbfieber in Palma innerhalb weniger Monate mehr als 5.000 Todesopfer. 1828 traten die Pocken auf, 1834 die Röteln und Keuchhusten (cucurutxa), 1835 Typhus. Eine wirtschaftliche Erholung setzte erst in den 1840er Jahren ein. Abgesehen von konjunkturellen Krisen in einzelnen Wirtschaftszweigen hatte dieser Aufschwung über die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Bestand. Er wurde vor allem von einer verarbeitenden Industrie getragen, die ihre Rohstoffe zu einem großen Teil vom spanischen Festland und aus dem Ausland bezog, wohin sie auch ihre Produkte verkaufte – Textilien, Schuhe, Wein und Branntwein, Seife, Mehl und Lebensmittelkonserven. Um 1880 wurden zahlreiche Finanzinstitute und Aktiengesellschaften gegründet, der Warenverkehr im Hafen von Palma

 Dieser Abschnitt ist hoch aggregiert. Zu Einzelbelegen vgl. Schönherr, Infrastrukturen des Glücks, insbes. 71– 147, 359 – 514.

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vervielfachte sich. Gleichzeitig wurden die traditionell äußerst schlechten Straßen Mallorcas modernisiert.³⁴ Die wirtschaftlichen Veränderungen führten zu starken Wanderungsbewegungen in die Städte, so dass die Balearen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die spanische Region mit dem dritthöchsten Anteil an städtischer Bevölkerung waren. Auch die Bildungssituation verbesserte sich. Gemeinsam führten diese Veränderungen zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Kindersterblichkeit war die bei weitem niedrigste in Spanien und seit 1910 waren die Balearen die spanische Region mit der höchsten Lebenserwartung. Auch der physische Index der Lebensqualität weist für die Inselgruppe in den Jahrzehnten um 1900 einen zweiten Platz und damit, verglichen mit den übrigen spanischen Regionen, sehr gute Lebensbedingungen aus.³⁵ Bereits für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kann also festgestellt werden, dass Mallorca keineswegs die isolierte rückständige Insel war, als die sie gern von auswärtigen Besuchern wahrgenommen wurde. Mallorca hatte im Gegenteil Anteil an allen großen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen, die Westeuropa in dieser Zeit erfassten. Wegen ihrer engen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Barcelona kann die Insel auch als Teil des katalanischen Wirtschaftsraums verstanden werden, der die modernste Region Spaniens gewesen ist. Ein Ausdruck dieser Modernität ist der hohe Anteil an Arbeitern unter den Beschäftigten, der nur in den Wirtschaftszentren Kataloniens und des Baskenlandes höher als auf den Balearen ausfiel.³⁶

 Vgl. zur Einführung Jaume Alzina. El segle XIX. In Ders. Història de Mallorca. Bd. 2. Palma de Mallorca: Moll, 1994², 184– 262; Carles Manera, Joana Maria Petrus Bey. Mallorca. La indústria. In Gran Enciclopèdia de Mallorca. 25 Bde. Palma de Mallorca: Promomallorca Edicions, 1989 – 2005, Bd. 8, 334– 362; Gerard Móra i Ferragut. Els orígens del capitalisme a Mallorca. Pensament econòmic i progressos materials (1776 – 1895). Barcelona: Curial, 1995; Carles Manera. Història del creixement econòmic a Mallorca (1700 – 2000). Palma de Mallorca: Lleonard Muntaner, 2001; Carles Manera. La riqueza de Mallorca. Una historia económica. Palma de Mallorca: Lleonard Muntaner, 2006; Joan Roca i Avellà. La indústria a Mallorca (Segles XIX-XX). Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2006.  Antonio Gómez Mendoza, Gloria Luna Rodrigo. El desarollo urbano en España, 1860 – 1930. Boletín de la ADEH 4:2 (1986): 3 – 22, hier 12, 20; Fausto Dopico. Desarrollo económico y social y mortalidad infantil. Diferencias regionales (1850 – 1950). Dynamis. Acta Hispanica ad Medicinae Scientiarumque Historiam Illustrandam 5 – 6 (1985 – 86): 381– 396, hier 385; Francisco Muñoz Pradas. Geografía de la mortalidad española del siglo XIX. Una exploración de sus factores determinantes Boletín de la A.G.E. 40 (2005): 269 – 310, hier 280; Rafael Domínguez Martín, Marta Guijarro Garvi. Evolución de las disparidades espaciales del bienestar en España, 1860 – 1930. El índice físico de calidad de vida Revista de história Económica 17:1 (2000): 109 – 137, hier 129.  Bei der Zählung für die Wahlen 1917, die die männliche Bevölkerung über 25 Jahren erfasste, verzeichneten die Balearen einen Anteil von 19,45 % der Wähler, der in der Industrie beschäftigt

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Zu dieser Modernisierung gehörten auch die technischen Veränderungen des Alltags, wie etwa der Aufbau neuer Verkehrssysteme oder die Einführung der Elektrizität. Das Eisenbahnnetz, das seit den 1870er Jahren das Inselinnere erschloss, wurde bis in die 1930er Jahre ausgebaut. 1912 wurde eine davon unabhängige Bahnlinie eröffnet, die zwischen Palma und Sóller das nordwestliche Hochgebirge Serra de Tramuntana querte.³⁷ Das erste mallorquinische Auto wurde 1897 aus Frankreich eingeführt, das erste spanische Autokennzeichen wurde 1901 auf Mallorca vergeben.³⁸ Nachdem seit Beginn der zwanziger Jahre die Zulassungen von Autos stark zugenommen hatten, gehörten die Balearen in der Mitte des Jahrzehnts zu den spanischen Provinzen mit den meisten Fahrzeugen.³⁹ Das erste mallorquinische Elektrizitätswerk wurde 1901 in Alaró eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Elektrifizierung Palmas vorbereitet, zwei Jahre später wurde sie umgesetzt.⁴⁰ In den folgenden Jahren nahmen überall auf den Balearen weitere Kraftwerke ihre Arbeit auf, so dass schon vor 1920 in praktisch allen mallorquinischen Gemeinden ein Stromnetz installiert war.⁴¹ Die Elektrifizierung ermöglichte einen wirtschaftlichen Aufschwung, der die mallorquinische Mittelschicht und mit ihr den Binnenmarkt der Insel stärkte. Immer mehr industriell gefertigte Geräte hielten Einzug in die privaten Haushalte.⁴² Arnau Company hat unter Bezug auf diese technischen Entwicklungen die mallorquinischen Zwanziger als Zeit der Modernisierung beschrieben. Dabei verwies er auch auf Radio Fornalutx, den ersten mallorquinischen Radiosender, der seit 1924 klandestin betrieben worden ist. Das Dekret vom 8. Dezember 1932, das die Gründung kleiner lokaler Sender gestattete, führte binnen kurzer Zeit überall in Spanien zum Aufbau legaler Sender, darunter auch von mehreren auf Mallorca. 1933 waren in

war. Damit standen sie innerhalb Spaniens nach den Provinzen Barcelona (28,45 %), Guipúscoa (22,24 %) und Girona (21,70 %) an vierter Stelle (von damals 49 Provinzen). Der gesamtspanische Durchschnitt lag 1917 bei noch nicht einmal 12 % (Pere Gabriel. El moviment obrer a les Balears (1869 – 1936). Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 1996, 6).  Vgl. Nicolau S. Cañellas Serrano. El ferrocarril a Mallorca. La via del progrés. Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2001.  Ferran Pujalte i Vilanova. Transports i comunicacions a les Balears durant el segle XX. Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2002, 23; Miquel-Àngel Casasnovas. L’economia balear (1898 – 1929). Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2005, 17.  Pujalte i Vilanova, Transports i comunicacions a les Balears durant el segle XX, 26.  Casasnovas, L’economia balear (1898 – 1929), 31– 32. Die Elektrifizierung Palmas erfolgte vor allem deshalb relativ spät, weil die Straßenbeleuchtung mit Gas gut etabliert war (ebd.).  Fernando Pujalte i Vilanova. El rumor sumergido de la isla de la calma. In Welcome! Un siglo de turismo en las Islas Baleares, 87– 100, hier 90 – 91.  Pujalte i Vilanova, El rumor sumergido de la isla de la calma, 90.

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Palma de Mallorca 1.943 Empfänger registriert. Nach Mahón, Zaragossa und Ceuta war Palma damit die Stadt mit der vierthöchsten Empfängerdichte in Spanien.⁴³ Das steigende Bildungsniveau ging mit einer kulturellen Nivellierung weiter Teile der Bevölkerung einher und schuf ein neues Publikum für die Vergnügungsindustrie. Die zweite Hälfte der zwanziger Jahre ließ sich dank der prosperierenden Wirtschaft auch auf Mallorca als „goldene Zwanziger“ erleben.⁴⁴ Zu den elf Kinos und anderen Orten, an denen 1921 in Palma regelmäßig Filme gezeigt wurden, kamen bis 1931 fünf weitere Kinos hinzu, darunter 1930 das erste Tonkino.⁴⁵ Für die damals äußerst beliebten Stierkämpfe wurde 1929 in Palma die neue Stierkampfarena Coliseo Balear eingeweiht, die 14.400 Zuschauer fasste.⁴⁶ Im gleichen Zeitraum begann die Institutionalisierung mehrerer Sportarten. Zu älteren Clubs wie dem Regatta-Club, der „Erholungs-Gesellschaft“ (sociedad recreativa) La Veda und dem Club Veloz Sport kam 1916 der Palmaer Fußballklub Real Sociedad Alfons XIII, der spätere Real Club Deportivo Mallorca, hinzu.⁴⁷ In den zwanziger bis Anfang der dreißiger Jahre folgte die Gründung weiterer Klubs für Segeln, Tennis, Boxen, Schwimmen, Pelota und Schach.⁴⁸ Diese umfassende technische und lebensweltliche Modernisierung fand unabhängig vom Tourismus statt und lange bevor er massenhafte Ausmaße annahm. Sie ist hier so breit ausgeführt worden, um dem Erscheinen neuer Akteursgruppen Evidenz zu verleihen, die später in der Lage sein würden, eine

 Arnau Company i Mates. De la dictadura de Primo de Rivera a la Guerra Civil (1923 – 1939). In El segle XX a les Illes Balears. Estudis i cronologia, hg. von Sebastià Serra i Busquets. Palma de Mallorca: Edicions Cort, 2000, 141– 180, hier 141– 142.  Casasnovas, L’economia Balear (1898 – 1929), 46; Miquel A. Casasnovas, David Ginard. L’època contemporània a les Balears (1780 – 2005). Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2006, 72. In Spanien werden Stimmung und Zeit die „glücklichen zwanziger Jahre“ genannt (span.: los felizes años veinte, kat.: els feliços anys vint).  Margalida Pujals i Mas. El cinema a Mallorca als anys vint. In Els anys vint a les illes Balears. XVII Jornades d’estudis històrics locals, Palma, del 9 a l’11 de desembre de 1998, hg. von Antoni Marimon Riutort, Sebastià Serra Busquets. Palma de Mallorca: Institut d’Estudis Baleàrics, 1999, 309 – 319, hier 311– 312; Cristòfol-Miquel Sbert hat die Jahre 1924– 1930 als „goldenes Zeitalter des Kinos der Balearen“ behandelt, wobei er sich nicht nur auf die Entwicklung der Kinos auf der Insel, sondern auch auf mallorquinische Eigenproduktionen bezogen hat (Cristòfol-Miquel Sbert i Barceló. El cinema a les Balears des de 1896. Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2001, 103 ff.).  Company i Mates, De la dictadura de Primo de Rivera a la Guerra Civil (1923 – 1939), 143.  Eine mallorquinische Besonderheit ist, dass sich Fußballmannschaften zunächst innerhalb von Clubs formierten, die eigentlich dem Radsport gewidmet waren, der Anfang des Jahrhunderts Mallorcas beliebteste Sportart gewesen ist (Miquel Vidal Perelló, Jordi Vidal Reynés. História del Reial Mallorca (1916 – 2003), 6, URL: http://www.mvidal.es/mvidal.es/mvp.pdf [29.06. 2018]).  Company i Mates, De la dictadura de Primo de Rivera a la Guerra Civil (1923 – 1939), 143 – 144.

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autochthone Tourismuswirtschaft aufzubauen – nämlich vor allem ein kapitalistisches Unternehmertum und flexible Arbeitskräfte, die in der Lage waren, sich an einen sich verändernden Arbeitsmarkt anzupassen und neue Chancen zu ergreifen.⁴⁹

4.2 Mallorquiner beschreiben Mallorca, die ersten touristischen Infrastrukturen Weit älter allerdings war das einheimische Bewusstsein von den Schönheiten Mallorcas und seiner sehenswerten Orte. So beschrieb der mallorquinische jesuitische Jurist und Historiker Juan Dameto (1554– 1633) schon 1632 am Anfang seiner Geschichte des Balearischen Königreichs⁵⁰ ausführlich die Insel. Dabei hob er gerade diejenigen Orte wegen ihrer landschaftlichen Schönheit hervor, die den Kern des landschaftlich reizvollen Mallorca ausmachten, das dann im 19. Jahrhundert von Mallorquinern und Touristen aufgesucht und gepriesen worden ist: die Höhle von Artà, die Bucht Sa Calòbra und die Schlucht des Torrent de Pareis, das Tal von Sóller und die Umgebung von Valldemossa, das sich durch seine reine Luft auszeichne.⁵¹ Spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich innerhalb der gebildeten Schichten von Palma ein ausgeprägtes Interesse nachweisen, auswärtigen Besuchern die Insel Mallorca zu erklären. Mit Bonaventura Serra y Ferragut (1728 – 1784) fungierte eine der zentralen Figuren der mallorquinischen

 Die mallorquinischen Bauern waren ohnehin seit langem auf solche Flexibilität angewiesen, denn die Landwirtschaft der Insel war traditionell durch einen hohen Anteil an Tagelöhnern charakterisiert. Zwar konnten viele von ihnen im 19. Jahrhundert Grundbesitz erlangen, doch war der häufig so klein, dass er sie nicht ernähren konnte, so dass es auch weiter einen starken Anteil an Lohnarbeit und an handwerklicher Heimarbeit gab, in die in breitem Umfang auch die Frauen eingebunden waren.  Juan Dameto. Historia General del Reino Baleàrico. Palma de Mallorca 1632. Neuausgabe in Historia General del Reino de Mallorca. escrita por los cronistas D. Juan Dameto, D. Vicente Mut y D. Gerónimo Alemany, hg. von Miguel Moragues Pro, Joaquin Maria Bover. Bd. 1. Palma de Mallorca: Juan Guasp y Pascual, 1840².  Hinzu kam ein Preis der Albufera von Alcúdia, die nirgendwo sonst so wohlwollend beschrieben worden ist. Auch Alcúdia selbst, neben Palma die einzige Siedlung mit Stadtrecht, wurde hier ungewöhnlich positiv geschildert, wobei Dameto ausdrücklich auf die Loyalität der Stadt während der germanies-Unruhen von 1521 hinwies (Dameto, Historia General del Reino Baleàrico, Höhle von Artà: 39 – 40; Albufera: 43; Sa Calòbra/Torrent de Pareis: 46, 48; Tal von Sóller: 52; Valldemossa: 54. Im Text außerdem durch lateinische Preisgedichte hervorgehoben: die Balearen: 19, der Berg Randa: 33 und die Quelle Porcelli bei Valldemossa: 54).

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Aufklärung regelmäßig auch als Informant ortsfremder Reisender.⁵² An dieser Bereitschaft, die eigene Insel vorzustellen und zu erklären, hat sich im 19. Jahrhundert wenig geändert. So motivierte im April 1840 der Drucker und Verleger Pedro José Gelabert eine geplante Serie von Lithografien mit mallorquinischen Gebäuden, Gemälden und Landschaften auch unter Bezug auf Auswärtige.⁵³ Auch der Palmaer Historiker Antonio Furió (1798 – 1853) hat seine monumentale, ab 1840 in Fortsetzungen erschienene Inselbeschreibung Panorama Optico-Histórico-Artístico de las Islas Baleares mit der Absicht begründet, dem Desinteresse einiger spanischer Autoren bzw. den verzerrenden Darstellungen von Ausländern zu begegnen.⁵⁴ Ludwig Salvators Die Balearen in Wort und Bild geschildert war und bleibt also die monumentalste Beschreibung Mallorcas, aber sie ist nicht die erste umfangreiche und auf Vollständigkeit bedachte Darstellung der Insel gewesen.⁵⁵ Auch dem starken Interesse, das die mallorquinische Landschaft seit 1900 durch auswärtige Maler erfahren hat, gingen ästhetische Landschaftswahrnehmungen einheimischer Künstler voraus. So liegt der besondere Beitrag der mallorquinischen romantischen Dichtung gerade in der Vielzahl von Landschaftsgedichten, die sich im Unterschied zur spanischen Romantik nicht mit idealisierten Landschaften beschäftigten, sondern mit konkreten Orten, die zunächst meist im mittleren Bereich des Tramuntana-Gebirges, später aber auch an seinen Extremen

 Joaquin María Bover. Biblioteca de Escritores Baleares. 2 Bde. Palma: Pedro José Gelabert, 1868, Bd. 2, 367– 378: Serra (Buenaventura), hier 368. In Serras Nachlass fand sich eine auf 1771 datierte Schrift Compendio de las cosas mas notables del reino de Mallorca para noticia de los estrangeros (d.i.: Sammlung der bemerkenswertesten Dinge des Königreichs von Mallorca zur Nachricht für die Ausländer; Joaquin María Bover und Ramón Medel. Varones ilustres de Mallorca. Palma: Pedro José Gelabert, 1847, 708 – 713: Serra y Ferragut [Buenaventura], hier 711). Auch José Vargas Ponce nannte Serra, neben dem Kardinal Antonio Despuig y Dameto (1745 – 1813), der Vargas Ponce auf seiner Reise begleitet und auf wichtige Punkte aufmerksam gemacht habe, als eine der Hauptquellen für seine Beschreibung Mallorcas (José Vargas Ponce. Descripciones de las Islas Pithiusas y Baleares. Madrid: Imprenta viuda de Ibarra, hijos y compañia, 1787. Reprint Palma, Barcelona: José J. de Olañeta, 1983, xj–xij, 36).  Prospecto. El Genio de la Libertad. 22.04.1840, 4. In Maria-Josep Mulet. La fotografia a les Balears (1839 – 1970). Palma: Edicions Documenta Balear, 2001, 52– 53, hier 53.  Antonio Furió. Panorama Optico-Histórico-Artístico de las Islas Baleares. Palma: Pedro José Gelabert, 1840 (Faksimile Palma 1966, Palma 1975³), Vorwort A Nuestros Lectores, o.S.  Außer den erwähnten Arbeiten der Mallorquiner Dameto und Furió sowie des Festlandspaniers Vargas Ponce muss noch die Beschreibung des französischen Konsuls auf den Balearen André Grasset de St.-Sauveur erwähnt werden (André Grasset de St.-Sauveur. Voyage dans les îles Baléares et Pithiuses; fait dans les années 1801, 1802, 1803, 1804 et 1805, Paris: Léopold Collin, 1807).

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lagen.⁵⁶ Aber auch die einheimischen Maler hatten sich schon vor 1900 eingehend mit der Landschaft der Insel beschäftigt und hatten dabei ihre Motive auch außerhalb der Tramuntana, etwa im Flachland oder an den Küsten, gefunden. Bereits um 1890 malte Ricardo Anckermann (1842– 1907) Bilder von Badenden in Palmas östlichem Stadtteil El Molinar. ⁵⁷ Als im 19. Jahrhundert die ersten auswärtigen Touristen nach Mallorca kamen, begegneten sie dort also Menschen, die die sehenswerten Orte der Insel kannten und die in der Lage waren, sie ästhetisch zu erfassen. Außerdem waren diese Menschen bereit, den Auswärtigen Reiserouten zu empfehlen. Das galt für frühe Besucher wie den Historiker und Schriftsteller Juan Cortada aus Barcelona ebenso wie für die späteren deutschen Reisenden, etwa den Zoologen Heinrich Alexander Pagenstecher oder den Botaniker Moritz Willkomm, also die Autoren der beiden umfangreichsten deutschsprachigen Mallorca-Reisebeschreibungen des 19. Jahrhunderts.⁵⁸ Für die Reiserouten der Auswärtigen hatte das zur Folge, dass sie von Anfang an weitgehend identisch waren. Standard waren eine kleine mehrtägige Rundreise von Palma über Sóller und Valldemossa nach Palma zurück und eine große Rundreise, die länger und bis zu mehreren Wochen dauern konnte. Von Palma ausgehend wurde dabei schnell das Zentrum Mallorcas durchreist, um in ein bis zwei Tagen nach Artà im Osten der Insel zu gelangen, wo die Höhlen besucht wurden. Nach einem kurzen Aufenthalt ging es dann in einer eintägigen Reise nach Pollença, dann weiter zum Santuario Lluch im Tramuntana-Gebirge, dann nach Sóller, wo viele Reisende mehrmals übernachteten, dann

 Landschaftsgedichte als bestes Element der mallorquinischen romantischen Dichtung: Pere Rosselló i Bover. Els moviments literaris a les Balears (1840 – 1990). Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 1997, 15; geographische Unschärfe der Landschaften in der spanischen Romantik: Rafael Núñez Florencio. Orígenes del paisajismo literario en España: La naturaleza romántica. Letras de Deusto 34:102 (2004): 145 – 159, hier 145; landschaftliche Bezüge der mallorquinischen Dichter: eigene Untersuchung.  Zur Einführung: Catalina Cantarellas Camps. La pintura a les Balears en el segle XIX. Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2005; Manuela Alcover. De l’Illa d’Or a l’Illa de Nacre. La pintura paisatgística de Mallorca, Palma de Mallorca: Edicions Cort, 2005; insbes. für Bildbeispiele vgl. außerdem: Francesc Fontbona, Ramon Manent. El paisatgisme a Catalunya. Barcelona: Edicions Destino, 1979; Consell de Mallorca. Fons de pintura del Consell de Mallorca (1650c.– 1939). Palma: Consell de Mallorca, 2012.  Juan Cortada. Viaje á la isla de Mallorca en el estio de 1845. Barcelona: Imprenta de A. Brusi, 1845, 49; Heinrich Alexander Pagenstecher. Die Insel Mallorka. Reiseskizze. Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1867; Moritz Willkomm. Spanien und die Balearen. Reiseerlebnisse und Naturschilderungen nebst wissenschaftlichen Zusätzen und Erläuterungen. Mit Plan der Tropfsteinhöhlen von Artá. Berlin: Theobald Grieben, 1876. Berlin: Hoffmann, 1879².

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über Valldemossa zurück nach Palma.⁵⁹ Weitgehend unbeachtet blieben der Süden und der Westen Mallorcas, aber auch das Zentrum der Insel bot keine Attraktionen, die Reisende angezogen hätten.⁶⁰ Indem die auswärtigen Reisenden von Anfang an weitgehend gleichen Reiserouten folgten, ist ein charakteristisches Element der exploration-Phase des TALC-Modells auf Mallorca nicht erfüllt. Dem Modell völlig fremd ist darüber hinaus der Umstand, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einheimischen selbst begannen, ihre Insel zu bereisen und touristische Infrastrukturen für den eigenen Bedarf und schließlich auch für Auswärtige zu schaffen. Voraussetzung dafür waren die wirtschaftlichen Entwicklungen seit den 1840er Jahren. In dem geschilderten wirtschaftlichen Aufschwung entstanden in Palma aber auch in den Städten des Hinterlands ein neues Bürgertum und eine Arbeiterklasse, die zu den gleichen Organisationsformen und sozialen Reformbestrebungen wie im übrigen Westeuropa fanden. Gleichzeitig beförderten die proletarischen und bürgerlichen Kultur- und Bildungsvereine die Herausbildung einer eigenen, einheimischen Freizeitkultur. Wanderungen und Ausflüge an die schönsten Punkte der Insel gewannen ebenso an Bedeutung wie das Baden im Meer.⁶¹ Darüber hinaus begannen Angehörige der neuen Mittelschicht, sich Sommerhäuser zuzulegen. Hatten die traditionellen Landhäuser des Adels auf Gütern im Landesinneren gelegen, so befanden sich diese neuen Sommerhäuser im Einzugsgebiet der jeweiligen Gemeinde, meist an deren Küste, wo sie bald kleine, siedlungsähnliche Ansammlungen formierten.⁶² Allein im Süden und Südosten Mallorcas entstanden so die Orte El Arenal, Cala Morlanda, S’Estanyol und Ses

 Dieselbe Route konnte auch anders herum genommen werden, also mit dem Besuch Valldemossas und Sóllers beginnend und mit dem Besuch der Höhle von Artà endend.  Zu den Routen der internationalen Reisenden vgl.: Joan Miquel Fiol Guiscafré. Descobrint la Mediterrània. Viatgers anglesos per les Illes Balears i Pitiüses el segle XIX. Palma de Mallorca: Miquel Font, 1992 und Miquel Seguí Llinàs. El descubrimiento de las islas olvidadas. Las Baleares y Córcega vistas por los viajeros del siglo XIX. Palma de Mallorca: Alpha-3, 1992.  Vgl. zur Einführung Gabriel, El moviment obrer a les Balears (1869 – 1936); Bernat Sureda Garcia. L’educació a les Balears en el segle XIX. Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 1998; Manel Santana Morro. Classe obrera, cultura i educació a Mallorca (1868 – 1936). Palma de Mallorca: Lleonard Muntaner, 2007; Isabel Peñarrubia. L’origen de la Caixa de Balears. Els projectes d’una burgesia modernitzadora. Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2001; Gaspar Valero i Martí. La llarga ruta de l’excursionisme mallorquí. Aproximació a la història de l’excursionisme a Mallorca. Volum I. Des dels inicis a 1920. Palma: El Gall Editor, 2001.  Eine gewisse Ausnahme ist Palma, wo von vier neuen Sommerhaussiedlungen nur eine, nämlich das bereits erwähnte El Terreno, am Meer gelegen war.

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Covetes.⁶³ In der Regel lassen sich diese Orte einer Hauptgemeinde zuordnen, aus der die Sommerurlauber kamen. Mitunter formierte sich eine ständige Wohnbevölkerung, doch blieb diese in der Unterzahl. Ein Beispiel für diesen Verlauf ist El Arenal, das heute ein Zentrum besonders des deutschen Sonne-und-Strand-Tourismus ist, sich zunächst aber als Urlaubsort der Bewohner Llucmajors herausbildete. Die Geschichte des Orts begann mit der 1861 fertiggestellten Straße von Llucmajor an die Mündung des Torrent de Jueus. 1872 wurde der erste Hausbau beantragt, später wurden weitere Häuser am Meer gebaut. 1897 bestand der Ort aus 41 Wohnhäusern und Herbergen, dauerhaft lebten hier aber nur sechs Familien von Steinbrucharbeitern. Die restlichen Häuser gehörten Sommerurlaubern aus Llucmajor.⁶⁴ Es lässt sich also feststellen, dass noch vor dem Aufbau einer internationalen Tourismuswirtschaft einheimische Akteure begonnen hatten, die Insel touristisch zu nutzen. Das betraf gerade auch die bis dato weitgehend ungenutzten Küstenzonen der Insel. Hier formierten sich in den Jahrzehnten um 1900 erste Sommerhaussiedlungen⁶⁵, von denen einige in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Zentren des massenhaften Sonne-und-Strand-Tourismus ausgebaut wurden.

4.3 Der Aufbau einer einheimischen Tourismuswirtschaft Die Idee, Fremde nach Mallorca zu locken, kursierte bereits Jahrzehnte vor 1900 in der mallorquinischen Öffentlichkeit. Sie muss im Kontext des allgemeinen Aufbruchs in einer wirtschaftlichen Gründerzeit verstanden werden und zielte, wie viele andere Projekte, von Beginn an auf die Steigerung der eigenen Prosperität

 Miquel Seguí Aznar. La arquitectura del ocio en Baleares. La incidencia del turismo en la arquitectura y el urbanismo. Palma de Mallorca: Lleonard Muntaner, 2001, 73 unter Verweis auf Vicente Rosselló Verger. Mallorca. El Sur y Sureste (Municipios de Llucmajor, Campos, Ses Salines, Santanyí, Felanitx y Manacor). Palma de Mallorca: Gráficas Miramar, 1964, 488 – 497. Ebenda, 488 berichtet Rosselló Verger außerdem, bereits 1811 seien in Sa Ràpita Häuser für Sommer- und Feiertagsurlauber errichtet worden.  Josep Mascró Passarius. Arenal, S’. In Gran Enciclopèdia de Mallorca. Bd. 1. Palma de Mallorca: Promomallorca Edicions, 1989, 209 – 214, hier 209.  Außer den bereits genannten: Cala Moreia, das zur Sommerhaussiedlung für Bewohner von Manacor wurde, Can Picafort für die Bewohner von Santa Margalida und Inca, Colònia de Sant Jordi für die von Campos und Porreres, Cala Ratjada für Capdepera, Cala Figuera für Santanyí, Porto Colom für Felanitx und schließlich Cas Capellans für die Bewohner von Muro (Seguí Aznar, La arquitectura del ocio en Baleares, 84).

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ab.⁶⁶ Dafür wurden im September 1881 in Palma breit angelegte öffentliche Festwochen mit zahlreichen Wettbewerben und Ausstellungen durchgeführt, um Fremde anzuziehen. Gerade hier war das Unternehmen allerdings wenig erfolgreich und fand deshalb keine unmittelbare Wiederholung.⁶⁷ Das wirtschaftliche Eigeninteresse Mallorcas war auch in den beiden frühen programmatischen Texten zum Aufbau einer eigenen Tourismuswirtschaft die zentrale Motivation. Der Journalist und Unternehmer Miquel dels Sants Oliver (1864 – 1920) beschrieb 1890 in einer Artikelserie in der Zeitung La Almudaina das Leben in El Terreno und regte zum Aufbau einer Tourismuswirtschaft den Bau eines komfortablen Hotels, umfangreiche Werbung dafür und die Einrichtung einer modernen Dampfschifflinie an.⁶⁸ Mehrfach appellierte er dabei an die Mallorquiner, endlich aufzuhören, die Vorzüge ihrer eigenen Insel zu vernachlässigen und sie als Kapital zu verstehen, das sich ausbeuten lasse.⁶⁹ Zehn Jahre später sprach Bartolomé Amengual (1866 – 1961, 1902– 1957 Generalsekretär der Kammer für Handel, Industrie und Schifffahrt in Barcelona) in seiner Artikelserie La Industria de Forasteros offen davon, die Fremden auszubeuten. Dabei stelle „die Fremdenindustrie“ […], weit davon entfernt, ein sündhafter Gegenstand zu sein, eines der zulässigsten und ehrenhaftesten Geschäfte dar, dem man im weiten Feld der wirtschaftlichen Spekulationen nachgehen kann. So zulässig und ehrenhaft, dass diejenigen, die ihr Gegenstand sind, die wir Ausgebeutete nennen könnten, die höchstmögliche Perfektion in der Kunst, sie auszu-

 So wurde das Eisenbahnnetz von Gemeinden und Unternehmen im Hinterland finanziert, die sich dadurch einen verbesserten Zugang zum Markt in Palma und vor allem zum Hafen der Stadt versprachen (Cañellas Serrano, El ferrocarril a Mallorca, 55 ff.). Während die Idee eines Freihandelshafens scheiterte, wurde nach 1900 der ebenfalls lange diskutierte Abriss der Stadtmauern Palmas begonnen. Auch in der maßgeblichen konzeptionellen Arbeit für diesen Schritt hatte der Ingenieur Eusebio Estada primär wirtschaftlich argumentiert, nämlich dass die Befestigung der industriellen Entwicklung Palmas im Wege stünde (Eusebio Estada. La ciudad de Palma. Su industría, sus fortificaciones, sus condiciones sanitarias y su ensanche, con un apéndice sobre las condiciones que han de reunir las viviendas para ser salubres. Palma: 1885, 1892² (ein Faksimile der Zweitausgabe: Palma de Mallorca: Govern de Les Illes Balears, Conselleria d’Innovacio´ i Energia, 2003).  Peñarrubia, L’origen de la Caixa de Balears, 163 – 173; Cirer, La invenció del turisme de masses a Mallorca, 138 – 139.  Zusammengefasst als: Miguel Sants Oliver. Desde la terraza. In Ders. Cosecha periodística (Artículos varios). Palma: 1891. Faksimile als Miquel S. Oliver. Cosecha periodística (Artículos varios). Palma de Mallorca: El Tall Editorial, 1990, 35 – 109.  Sants Oliver, Desde la terraza, 48, 107.

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beuten, wünschen; weil sie aus Erfahrung wissen, oder leicht lernen, dass sie um so größere Vorteile erhalten, je besser der Industrielle oder Ausbeuter sie beherrscht.⁷⁰

Unter Verweis auf die italienische Tourismuswirtschaft empfahl Amengual die Gründung einer Gesellschaft Pro Maiorica zur Förderung der Fremdenindustrie⁷¹, deren Aufgabenfeld er in einem Zusatz für die Neuausgabe von 1903 spezifizierte. Die wichtigste Aufgabe des Verbands wäre demnach, die bisher nicht existierende Fremdenindustrie zu erschaffen, also die Ausbildung von Dienern und Köchen auf den Weg zu bringen bzw. diesen die Möglichkeit zu geben, im Ausland zu lernen und sich zu perfektionieren. Gleichzeitig müsse die Herbergssituation verbessert werden, die Werbung nach außen vorangebracht und nach innen gewirkt werden, um bei Allen das Gefühl des Respekts und des Ansehens des Reisenden zu wecken und ihnen die Überzeugung einzuprägen, dass sie großen moralischen und materiellen Nutzen daraus ziehen, wenn sie sich bemühen, die Fremden mit Höflichkeit zu behandeln und ihnen kunstgerecht behilflich zu sein.⁷²

Wenn das erreicht sei, müsse die Gesellschaft Überwachungsfunktionen ausüben und eine Reklamationsstelle einrichten, die dafür sorge, dass die Touristen nicht betrogen und von den öffentlichen Organen respektvoll behandelt würden. Außerdem müsse sich die Gesellschaft um die Verkehrsverbindungen kümmern, die

 Bartolomé Amengual. La industria de los forasteros. Palma de Mallorca: Amengual y Muntaner, 1903. Faksimile Palma de Mallorca: Miquel Font Editor, 1993, 11– 12; auch diese Betrachtungen erschienen (1900) zuerst als Artikelserie in La Almudaina; das Zitat im Original: „[…] de que la industria de los forasteros, lejos de ser materia pecaminosa, constituye uno de los negocios más lícitos y honestos que puedan darse en el vastísimo campo de las especulaciones económicas. Tan lícito y honesto, que los que son objeto de él, los que podríamos llamar explotados, desean la mayor perfección posible en el arte de explotarlo; porque saben por experiencia, ó aprenden fácilmente, que cuanto –mejor lo conoce el industrial ó explotador, mayores ventajas ellos obtienen.“ (Hervorhebungen im Original, Übersetzungen hier und im Folgenden vom Verf.).  Amengual, La industria de los forasteros, 33. Der Name der fiktiven Gesellschaft ist ein Wortspiel, in dem der Terminus „Mallorca“ durch die gleich bzw. ähnlich lautenden Worte „maior“ (kat.: größer) und „rica“ (reich) neu gebildet wird – „Pro Maiorica“ muss deshalb wohl als programmatisches „für ein reicheres Mallorca“ übertragen werden.  Amengual, La industria de los forasteros, 42; das Zitat im Original: „[…] para despertar en todos el sentimiento del respeto y de la consideración à los visitantes é imbuirles la convicción de que esmerándose en tratar á los forasteros con cortesía y en servirles con arte se obtienen grandes beneficios morales y materiales“.

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Qualität der Züge verbessern und Straßen bauen, um abgelegene Sehenswürdigkeiten, wie etwa den Torrent de Pareis, zugänglich zu machen.⁷³ In diesem partiell fast kulturrevolutionär angelegten Text erwähnte Amengual schon 1900 ein Hotel, das gerade erbaut werde. Tatsächlich wurde drei Jahre später mit dem Grand Hotel in Palma das erste mallorquinische Hotel eröffnet, das auch gehobenen Ansprüchen gerecht wurde. Damit war die erste Forderung Miquel dels Sants Olivers erfüllt. Zwei weitere Jahre später wurde mit dem Förderverband für den Tourismus Fomento del Turismo de Mallorca genau die Institution geschaffen, für die sich Amengual eingesetzt hatte. Mit der Eröffnung des Hotels und der Gründung des Verbands war 1905 der infrastrukturelle Durchbruch zur ersten Phase des internationalen Mallorca-Tourismus vollzogen. Die Gründung des Verbands war maßgeblich von Enric Alzamora Goma (1866 – 1914), dem Präsidenten der mallorquinischen Industrie- und Handelskammer, betrieben worden. Sie fand in den Räumen der Handelskammer statt und Alzamora Goma wurde de facto der erste Präsident des Fomento del Turismo. Wie Artikel 1 der Satzung informiert, wurde der Verein mit dem Ziel gegründet, Mittel zu erkunden und in die Praxis umzusetzen, die die Prosperität der Balearen im Allgemeinen ausweiten und im Speziellen die Ankunft von Fremden ermöglichen und ihnen den Aufenthalt auf den Inseln angenehm und interessant machen würden.⁷⁴ Von Beginn an hatte der Verband eine beeindruckend breite Mitgliedschaft. Das Spektrum der institutionellen Mitglieder reichte von politischen Entitäten (so die Diputación Provincial de Baleares), über Finanzinstitute (die Sparkasse Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Baleares, die Bank Crédito Balear), die Schifffahrtsgesellschaft La Isleña Marítima und Wirtschaftsunternehmen (die Gas-Beleuchtungs-Gesellschaft Sociedad de Alumbrado por Gas) bis zu gesellschaftlichen Verbänden unterschiedlicher sozialer Schichten (der Selbsthilfeverband Unión Protectora Mercantil, der bürgerliche Kulturverein Círculo Mallorquín).⁷⁵ Die individuellen Mitglieder des Fomento del Turismo entstammten in seinen Anfangsjahren mehrheitlich dem mittleren Bürgertum. Auffällig ist die Breite des sowohl politischen als auch professionellen Spektrums, das durch sie abgedeckt wurde. In den frühen Mitgliedslisten des Fomento fanden sich vor allem Unternehmer, daneben aber auch Personen, die einen freien Beruf ausübten. Vertreter der mallorquinischen Kirche fehlten völlig im Fomento, sehr stark vertreten war hingegen die mallorquinische Presse, sowohl durch ihre Autoren als auch durch

 Amengual, La industria de los forasteros, 43.  Vives Reus, Historia del Fomento del Turismo de Mallorca, 45.  Vives Reus, Historia del Fomento del Turismo de Mallorca, 48.

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die Besitzer bzw. Direktoren verschiedener Tageszeitungen. Die Mehrheit des Direktoriums wurde von Kaufmännern gestellt, die mit der Seefahrt verbunden waren. Erstaunlicherweise gab es zunächst kaum Hoteliers oder Restaurantbesitzer in den Reihen des Fomento. Ausnahmen bildeten hier einer der beiden Besitzer und der Direktor des Grand Hotels in Palma.⁷⁶ Die starke institutionelle Verquickung der Mitglieder des Fomento blieb lange erhalten. Auffällig ist dabei, dass unter den späteren Präsidenten mehrfach auch Ingenieure waren, die zentrale administrative Funktionen ausübten. Das betraf etwa Gabriel Roca Garcias, der während seiner Zeit als Chefingenieur des Hafens von Palma von 1949 bis 1956 auch die Präsidentschaft des Fomento innehatte. 1962– 1972 war der Straßenbauingenieur Antonio Parietti Coll Präsident des Fomento, während er parallel dazu als Chefingenieur für öffentliche Bauten der Balearen wesentlichen Einfluss auf das Baugeschehen auf der Insel hatte.⁷⁷ Auch die Stadt Palma stand den Interessen des Tourismus aufgeschlossen gegenüber. 1906 ließ sie hundert Exemplare der Neuausgabe von Amenguals Industria de Forasteros kaufen und auf die Schulen der Stadt verteilen.⁷⁸ Darüber hinaus war sie neben der Diputación Provincial einer der wichtigsten Finanziers des Fomento und wurde in der Auflösungsklausel des Verbands als Empfänger des auf Stadtgebiet befindlichen Nachlasses geführt.⁷⁹ 1917 nahmen die Mitglieder des Stadtrats ein von dem Stadtarchitekten Gaspar Bennazar (1869 – 1933) vorgelegtes Projekt zur Reform der Innenstadt an, das explizit auf einen tourismusgerechten Umbau der Altstadt angelegt war.⁸⁰ Angesichts dieses tourismusfreundlichen Klimas muss nicht verwundern, dass auch in einigen wichtigen Städten des Hinterlands rasch neue Hotels er Vives Reus, Historia del Fomento del Turismo de Mallorca, 48; Cirer, La invenció del turisme de masses a Mallorca, 211 ff. Eine größere Gruppe von Hoteliers konnte erst im April 1906 durch gezielte Ansprache für eine Mitgliedschaft bzw. regelmäßige Unterstützung gewonnen werden (Vives Reus, Historia del Fomento del Turismo de Mallorca, 56; Cirer, La invenció del turisme de masses a Mallorca, 216).  Die Präsidenten des Fomento in Cirer, La invenció del turisme de masses a Mallorca, 210, FN 451 (für 1905 – 1962) und in Vives Reus, Historia del Fomento del Turismo de Mallorca, 425 (für 1905 – 2005).  Bartomeu Barceló i Pons, Einleitung zu Amengual, La industria de los forasteros,VII–VIII, hier VIII.  Vives Reus, Historia del Fomento del Turismo de Mallorca, 84 ff.; Fomento del Turismo, Estatutos, vom 22.11.1905, Art. 16.  Miguel Seguí Aznar. Arquitectura contemporánea en Mallorca (1900 – 1947). Palma de Mallorca: Universidad de las Islas Baleares. Servicio de Publicaciones, 1990, 104; eine Abb. des Projekts auch in Seguí Aznar, La arquitectura del ocio en Baleares, 1. Bildteil, 4. Bennazars Entwurf wurde nicht umgesetzt, zur Realisierung gelangte ein 1941 von Gabriel Alomar Esteve vorgelegter Plan (Seguí Aznar, Arquitectura contemporánea en Mallorca (1900 – 1947), 336).

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richtet (Hotel Marina in Sóller, 1903) oder bestehende Einrichtungen erweitert und modernisiert wurden (Fonda Femenias zu Hotel Femenies in Manacor, 1905).⁸¹ Vor allem aber in Palma eröffneten bis zum Ende des Jahrzehnts mehrere neue Hotels im Luxussegment, die nun meist südwestlich der Altstadt am Meer gelegen waren. Dadurch entstand ein Überangebot an Plätzen, das den Sektor in eine erste Krise führte, als sich gegen Ende des Jahrzehnts die politischen Verhältnisse in Spanien verschlechterten und Mallorca deshalb weniger besucht wurde.⁸² Dennoch lässt sich die Zeit bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs als eine erste Phase des organisierten internationalen Tourismus verstehen. Wie der Reisebericht Else Seegers zeigt, die wohl zu Ostern 1907 Mallorca besuchte, ließ sich die Insel nun unter Rückgriff auf vororganisierte Angebote bereisen, auch wenn man keiner der Landessprachen mächtig war.⁸³ Der Aufbau einer stabilen Tourismuswirtschaft gelang dann in den zwanziger und dreißiger Jahren. In diesem Tourismus hatte das Luxussegment quantitativ an Bedeutung verloren, auch wenn es mit dem Hotel Formentor bei Pollença seit 1929 ein Spitzenhotel gab, das zahlreiche internationale Filmstars und andere Künstler, Politiker und Unternehmer nach Mallorca zog.⁸⁴ Der weitaus größte Teil der Mallorca-Urlauber der dreißiger Jahre gehörte nicht zu dieser Klientel. Nach Art ihrer Besuche unterteilten sie sich in drei Gruppen. Dazu gehörte einmal ein langfristiger Übernachtungstourismus mit mehr als 100 Tagen Aufenthalt meist in angemieteten privaten Unterkünften. Zentrum dieses Tourismus war der Palmaer Vorort El Terreno. Besucher eines kürzeren Übernachtungstourismus mit durchschnittlich 11 bis 17 Tagen Aufenthalt übernachteten in Hotels und Herbergen, die nun nicht mehr nur in Palma, sondern auch in den Buchten des südwestlichen Mallorca (so etwa Cala Mayor, Paguera, Camp de Mar) bzw. im Norden (Port de Pollença) oder Südosten (Porto Cristo) der Insel eröffnet wurden. Die dritte Säule bildeten die Tagestouristen, die mit Kreuzfahrtschiffen bzw. als Passagiere der

 Cirer, La invenció del turisme de masses a Mallorca, 171, 176.  Cirer, La invenció del turisme de masses a Mallorca, 186 – 187.  E. Seeger. Streifzüge auf Mallorca. Leipzig-Gohlis: Bruno Volger, 1910. Seeger nutzte umfangreich ein Gutschein-System, das Gästen des Grand Hotels auch anderswo auf der Insel Unterkunft, Verpflegung und Transport garantierte. Sie sah dabei mehr von der Insel als der spanischsprachige Otto Bürger, der 1912 fast zwei Monate auf Mallorca verbrachte, dabei in dem billigeren Hotel Balear an der Plaza Mayor wohnte und die Insel unter bewusstem Verzicht auf die Eisenbahn bereiste (Otto Bürger. Spaniens Riviera und die Balearen. Eine gemächliche Frühlingsund Sommerreise. Leipzig: Dieterich, 1913. 1924²).  Pablo Llull. 50 años del Hotel Formentor (1929 – 1979). de Adan Dihel a Miguel Buadas. Palma de Mallorca: Imp. Mossèn Alcover, 1979; Rafael Alcover González. Adan Diehl i Formentor. Palma: Comissió de les Illes Balears per a la Commemoració del Vè Centenari del Descobriment d’Amèrica, 1992; Formentor. The possible utopia, hg. von Grupo Barceló. Madrid: 2009.

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Transozeanischen Linien die Insel besuchten und Palma besichtigten oder mit Bus und Bahn einen Tagesausflug auf der klassischen Rundreise Palma-SóllerValldemossa-Palma, ergänzt um einen Besuch Port de Sóllers, unternahmen.⁸⁵ Die neuen, küstennahen Hotels der zwanziger und dreißiger Jahre hatten eine einfachere Ausstattung und waren deutlich kleiner als die älteren Häuser in Palma. Sie richteten sich nicht mehr an die exklusive Klientel, die die Hotels des ersten Jahrzehnts angesprochen hatten. Durch die allmähliche Absenkung ihrer Qualität gelang es ihnen, eine ständig wachsende Kundschaft zu erreichen. Während sich diese in den zwanziger Jahren noch aus Angehörigen der Mittelund oberen Mittelschicht rekrutiert hatte, zeichnete sich bereits gegen Ende des Jahrzehnts ab, dass der größte Teil der Touristen der unteren Mittelschicht angehörte.⁸⁶ Anfang der dreißiger Jahre waren die Steigerungsraten erheblich. 1930 zählte die Industrie- und Handelskammer 20.168 Übernachtungs- und 15.991 Transit(also Kreuzfahrt‐) Touristen, 1935 waren es dann schon 40.045 Übernachtungsund 50.363 Transit-Touristen.⁸⁷ Die in Bezug auf die Nationalität größte Touristengruppe der dreißiger Jahre waren die Spanier, die 1934 48 % der Übernachtungstouristen stellten (absolut: 18.239). Besonders im katalanischen Industriegebiet waren die Löhne so hoch, dass relativ viele Katalanen Urlaubsreisen unternehmen konnten. Für sie bot sich das kulturell und sprachlich eng verbundene Mallorca an, zu dem es von Barcelona aus häufige, manchmal tägliche Schiffsverbindungen gab.⁸⁸ Die zweitgrößte Gruppe von Übernachtungstouristen waren Engländer, die 1934 einen Anteil von 16 % am Aufkommen hatten (absolut: 6.072). Danach kamen mit 14 % Franzosen (5.186). Deutsche machten 1934 auf Mallorca 8 % der Übernachtungstouristen aus (absolut: 2.898), womit sie die viertgrößte nationale Gruppe stellten. An fünfter Stelle standen Bürger der USA (ein Anteil von 4 % bei absolut 1.479 Übernachtungstouristen).⁸⁹ Die Bedeutung, die der internationale Mallorca-Tourismus bereits zu diesem Zeitpunkt hatte, wird aber erst greifbar, wenn man die hiesigen Zahlen mit denen für Gesamtspanien vergleicht. Unter den acht touristisch wichtigsten Provinzen Spaniens waren die Balearen die einzige, in der zwischen 1930 und 1933 die Zahl der Besuche von Ausländern wuchs. Hier verdreifachte sie sich nahezu (von 5.047

 Bartolomé Barceló Pons. El turismo en Mallorca en la época de 1925 – 1936. Boletín de la Cámara Oficial de Comercio, Industria y Navegación de Palma de Mallorca (im Folgenden BCOCIN) 651– 652 (1966): 47– 61, hier 50.  Cirer, La invenció del turisme de masses a Mallorca, 242.  Barceló Pons, El turismo en Mallorca en la época de 1925 – 1936, 51.  Cirer, La invenció del turisme de masses, 250 – 251.  Cirer, La invenció del turisme de masses, 268.

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auf 14.983), während sie in den übrigen Provinzen zurückging oder sogar erheblich einbrach (Barcelona: 38.575 im Jahr 1930 auf 18.221 im Jahr 1933).⁹⁰ Damit waren 1933 die Balearen nach Barcelona und noch vor Madrid die Provinz mit der höchsten Zahl ausländischer Besucher in Spanien, wobei diese Statistik die Passagiere von Linien- oder Kreuzfahrtschiffen nicht berücksichtigte, die Palma anliefen und auch den Anteil an spanischen Urlaubern vernachlässigte. Kombiniert man diese gesamtspanischen Entwicklungen mit dem auch in den Folgejahren auf Mallorca erzielten Wachstum, so muss man sich dem Diktum Carles Cirers anschließen, demzufolge die Balearen ohne Zweifel bereits in den Jahren 1933, 1934 und 1935 das touristische Zentrum Spaniens gewesen sind.⁹¹ Diese Entwicklungen blieben im In- und Ausland nicht unbeobachtet. Schon 1931 zeichnete die deutsche Fachzeitschrift Hotel zwar ein insgesamt deprimierendes Bild der Entwicklung in Spanien, nahm davon aber die Balearen aus: Das gesamte [spanische] Hotelwesen hat seit vorigem Jahre überhaupt eine starke Einbuße erlitten, da der Fremden- und Touristenverkehr sehr abgenommen hat. Viele, auch selbst große Hotels sind genötigt gewesen, ihre Pforten zu schließen […]. Viele geplant gewesene Hotelbauten haben eingestellt werden müssen, nur auf den Balearen ist eine starke Bautätigkeit zu bemerken. Denn ihr Besuch ist, kann man sagen, mit jedem Jahre mehr Mode geworden, und sie verlocken rasch wachsende Massen von Ausländern, die dort […] Erholung suchen. Das bevorzugte Mallorca rüstet sich mit jedem Jahre mehr, allen Wünschen und Forderungen der verwöhnten ausländischen Touristen völlig Genüge zu leisten.⁹²

 Instituto Nacional de Estadística (INE). Movimiento activo de los extranjeros en España. Número de extranjeros que visitaron y pernoctaron en cada una de las provincias, zitiert nach Cirer, La invenció del turisme de masses, 291. Die Angaben des INE waren auch nach Geschlecht und Monat aufgeschlossen, wobei hier die Balearen den höchsten Frauenanteil unter den Besuchern und eine Saisonalität aufwiesen, die am besten mit den saisonalen Schwankungen des Tourismus korrelierten. Das weist darauf hin, dass die von der Statistik erfassten ausländischen Besucher der Balearen in ihrer Mehrheit tatsächlich Touristen gewesen sind (Cirer, La invenció del turisme de masses, 291).  Cirer, La invenció del turisme de masses, 292 wörtlich: „Angesichts der Daten glauben wir, dass man ohne jeden Zweifel feststellen kann, dass die Balearen in den Jahren 1933, 1934 und 1935 bereits das touristische Zentrum Spaniens waren.“; das Zitat im Original: „A la vista de les dades creiem que es pot afirmar, sense cap dubte, que durant els anys 1933, 1934 i 1935 les Illes Balears ja constituïen la capital turística d’Espanya.“  [‐]. Spanischer Brief. Hotel. Internationale Hotelzeitschrift. Organ und Verlag des Internationalen Hotelbesitzer-Vereins 63:16 (17.04.1931), 325 – 329, zitiert nach Wilhelm Schmitz. Der Fremdenverkehr in Spanien. Köln: W. May, 1936, 157. Im November 1933 grenzte ein Artikel des deutschen illustrierten Magazins Das Leben die Balearen nicht nur gegenüber Spanien ab. Hier hieß es: „Gegenwärtig, da die Sommerorte der ganzen Welt im Stiche gelassen zu sein scheinen, sind die Balearen vielleicht die einzige Krume Erde, die Menschenkinder in Massen herbeilockt.“ (P.B.. Eine Villa auf Mallorca. Das Leben 6:5 (1933): 17– 24, hier 24).

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Ein Jahr später bezeichnete die Barcelonaer Zeitschrift La Revista Blanca Palma de Mallorca als „eine der vom Welttourismus am meisten besuchten Städte“ und 1933 beschrieb der Barcelonaer Journalist Carles Sentis Palma als „die internationalste Stadt Spaniens“ und fuhr fort: „In Phasen nationaler politischer Ruhe sprechen die nordamerikanischen und englischen Tageszeitungen mehr von Palma als von Barcelona und Madrid zusammen.“⁹³ Auch in deutschen Medien änderte sich die Darstellung Mallorcas. Die seit Mitte der zwanziger Jahre immer zahlreicheren Schilderungen der Insel in deutschsprachigen Publikationen beruhten nun meist nicht mehr auf längeren Reisen über die Insel, sondern häufig nur noch auf einem kurzen Halt mit dem Kreuzfahrt- oder dem Linienschiff. Häufig wurden auch die neuerdings zahlreichen Besucher Mallorcas erwähnt.⁹⁴ Der Aufschwung des Mallorca-Tourismus Anfang der dreißiger Jahre war für die Wirtschaft der Insel besonders wichtig, da die traditionellen Industrien stark von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise betroffen waren. Die 1931 eingeführten jährlichen Erhebungen der Industrie- und Handelskammer zur Tourismusindustrie können als Anerkennung der wirtschaftlichen Bedeutung des neuen Industriezweigs „Tourismus“ verstanden werden⁹⁵, der binnen weniger Jahre neben der Textil- und der Schuhindustrie zu einer der drei Stützen der mallorquinischen Wirtschaft geworden war und von dem auch die Bauindustrie profitierte. Im Oktober 1932 hieß es dazu im Bulletin der Industrie- und Handelskammer: Der starke Strom des ausländischen Tourismus […], der von Jahr zu Jahr spürbar wächst, hat dazu geführt, dass sich gegenwärtig zwei Industrien in blühendem Zustand befinden: die Hotel- und die Bauindustrie. Die große Zahl von Ausländern, die sich vor allem im Winter auf der Insel niederlassen, hat eine beträchtliche Nachfrage nach Unterkünften erzeugt – nicht nur in Hotels, sondern auch in Privathäusern – hat Kapitalinvestitionen und den Bau von Wohnhäusern an den

 La Revista Blanca. Sociologia Ciencia Arte. Revista quincenal ilustrada 10:222 (15.08.1932): 183, Bildunterschrift; Carles Sentis. Les Balears desencalmades. Teil 4: Palma en camí de Babel mediterrània. Mirador. Setmanari de literatura art i politica 253 (07.12.1933), 2; das Zitat im Original: „Palma: cent mil habitants, la ciutat més internacional d’Espanya. En períodes de quietud política nacional, els diaris nordamericans i anglesos parlen més de Palma que de Barcelona i Madrid plegats.“  Schönherr, De nereidas y una isla sin lugar, 387, 390.  Cirer, La invenció del turisme de masses, 270.

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malerischsten Orten der Insel und auf einzigartige Weise in der Umgebung von Palma angeregt.⁹⁶

Das neue Geschäft schlug sich auch in der Unternehmensstruktur nieder. Zwischen 1930 und 1935 wurden zwölf mallorquinische Aktiengesellschaften (sociedad anónima) gebildet, die ihr Geschäftsfeld auf dem Gebiet des Tourismus hatten. Darunter waren Hotelunternehmen, Reiseunternehmen, Autoverleiher, Bauunternehmen und eine Gesellschaft, die die Errichtung einer Seilbahn auf den Puig Major zum Ziel hatte.⁹⁷ Als Zeichen einer einsetzenden Bodenspekulation lässt sich eine Reihe von Projekten für touristische Wohnsiedlungen verstehen. Abgesehen von der Tramuntana-Küste im Nordwesten umfassten diese Projekte die Küstenzone der ganzen Insel. Ein deutlicher Schwerpunkt lag jedoch auf dem Gemeindegebiet von Calvià, wo es mindestens vier Siedlungsprojekte gab, nämlich in Santa Ponça, Palma Nova, Portals Nous und Paguera. Projekte auf dem Gebiet anderer Gemeinden wurden für Can Pastilla (zu Palma), Cala d’Or (zur Gemeinde Santanyí), Cala Moreia (zu Manacor), Playa de Alcúdia und Pueblo Español de Alcanada (zu Alcúdia) und Port de Pollença (zu Pollença) entworfen.⁹⁸ Diese Siedlungen wurden ex novo an landschaftlich reizvollen, bisher unbebauten Orten geplant und waren, ebenso wie weitere Projekte, die auf eine einheimische Klientel abzielten,⁹⁹ alle am Meer gelegen. Bis auf eine Ausnahme stammten diese Projekte nicht von Mallorquinern, sondern von Festlandspaniern oder Ausländern, die sich zum Teil selbst auf Mallorca niedergelassen hatten.¹⁰⁰ Mit Beginn des Bürgerkriegs 1936 kamen die Projekte touristischer Siedlungen für Auswärtige zum Erliegen  Boletín de la Cámara Oficial de Comercio, Industria y Navegación de Palma de Mallorca (BCOCIN) 481 (octubre 1932), zitiert nach Cirer, La invenció del turisme de masses, 272; das Zitat bei Cirer: „La fuerte corriente de turismo extranjero, […], creciendo notablemente de año en año, ha dado lugar a que dos industrias se encuentren en la actualidad en estado floreciente: la industria hotelera y la de la construcción. El gran número de extranjeros que establecen su residencia en la isla, sobre todo en la estación invernal, ha motivado una demanda considerable de estancias, no solo en hoteles, sino también en casas particulares, ha estimulado la inversión de capitales y la construcción de viviendas en los sitios más pintorescos de la isla, y de un modo singular, en los alrededores de Palma.“  Cirer, La invenció del turisme de masses, 282. Hinzu kamen mindestens zwei Aktiengesellschaften, die schon vor 1930 auf der Insel existierten (Ebenda, 283).  Seguí Aznar, La arquitectura del ocio en Baleares, 50, 54– 69.  Auf Palmaer Stadtgebiet wären hier etwa die Urbanisierung von Son Armadans zwischen Santa Catalina und El Terreno oder die Siedlung Las Maravillas am Strand von El Arenal zu nennen.  Seguí Aznar, La arquitectura del ocio en Baleares, 50 – 51.

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bzw. traten in eine lange Pause bis in die fünfziger Jahre ein, als unter stark veränderten Bedingungen an die bestehenden Pläne angeknüpft werden konnte. Nun kamen weitere Projekte für touristische Wohnnutzung hinzu, so dass 1956, bei Verabschiedung des ersten gesamtspanischen Raumordnungsgesetzes Ley de Suelo, auf Mallorca 25 Projekte für touristische Wohnsiedlungen bestätigt waren und sich in unterschiedlichem Grad der Umsetzung befanden.¹⁰¹ Zählt man diese Projekte und die Sommerhaussiedlungen der Einheimischen zusammen, so kommt man bereits für die Mitte der fünfziger Jahre auf eine beachtliche Zahl von Freizeitsiedlungen. Gemeinsam mit Hafenorten wie Porto Cristo, Porto Colom, Port de Pollença oder Port de Alcúdia, die zwar auch in den Sommermonaten steigende touristische Nutzungen erlebten, in ihrem Charakter durch diese aber noch nicht gefährdet waren,¹⁰² konnten sie als Kristallisationskeime für den touristischen Ausbau Mallorcas fungieren und bildeten so eine wichtige Voraussetzung für die nachfolgende rasche Erschließung der mallorquinischen Küste durch den Tourismus. Hans-Werner Prahl und Albrecht Steinecke haben 1979 geschrieben: „,[…] Der Spanien-Tourismus war traditionslos. Gerade deshalb konnte das Land fast problemlos für den organisierten Massen-Urlaub von Mittel- und Unterschichten […] vermarktet werden.‘“¹⁰³ Daran anknüpfend hat Cord Pagenstecher dann 2003 für Mallorca formuliert: „Seit Ende der 1950er Jahre schuf die Tourismusindustrie hier einen traditionslosen Massentourismus. Die tourismusindustrielle Entwicklung konzentrierte sich vor allem entlang der 1966 mit dem Kunstnamen ‚Playa de Palma‘ versehenen Bucht zwischen Palma und Arenal.“¹⁰⁴ Dem muss entschieden widersprochen werden. Der Mallorca-Tourismus konnte nach 1945 so erfolgreich sein, gerade weil er nicht traditionslos war und an Entwicklungen anknüpfen konnte, die ihren Ursprung in der Zeit vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs hatten. Die Agglomeration touristischer Bauten in El Arenal bzw. an der Playa de Palma mag zwar aktuell die größte auf Mallorca sein, doch ist sie bei weitem nicht die einzige. Die Beschränkung deutscher Forscher auf diese Zone ist da unangemessen, wo es eigentlich um „Mallorca“ gehen soll, und vor allem ist sie historisch nicht neutral. Denn dieses Gebiet stellt den Son-

 Seguí Aznar, La arquitectura del ocio en Baleares, 83.  Seguí Aznar, La arquitectura del ocio en Baleares, 85.  Hans-Werner Prahl, Albrecht Steinecke. Der Millionen-Urlaub. Von der Bildungsreise zur totalen Freizeit. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand, 1979, 70 ff., zitiert nach Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, 402.  Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, 405, so unverändert noch in der Neuausgabe 2012².

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derfall einer Touristenzone auf Mallorca dar, deren touristische Nutzung in größerem Umfang¹⁰⁵ tatsächlich erst in den fünfziger Jahren und damit relativ spät begann. Die Beschränkung auf die Betrachtung der Zone El Arenal / Playa de Palma führt deshalb fast notwendig zur Vernachlässigung tourismuswirtschaftlich wichtiger Entwicklungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die unabdingbare Voraussetzungen für die beeindruckenden Entwicklungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gewesen sind.

5 Die Entwicklung des Mallorca-Tourismus seit 1945 und das TALC-Modell Nach dem Bürgerkrieg blieben die Rahmenbedingungen für den Tourismus schlecht. Das in Teilen zerstörte Spanien befand sich in einer schweren Krise und war international isoliert, Europa war bald im Krieg. Erst in den Vierzigern nahmen die Reisen von Spaniern nach Mallorca wieder zu. Ausschlaggebend war dabei, dass es dem Fomento del Turismo mit seiner Kampagne Luna de Miel gelang, die Insel als Ziel für Flitterwochen zu etablieren.¹⁰⁶ Hochzeitsreisende machten schnell einen erheblichen Anteil der Touristen aus, die erneut vor allem aus Katalonien kamen.¹⁰⁷ Unter den 53.134 Touristen, die 1945 die Balearen besuchten, waren nur 691 Ausländer, aber 6.000 Brautpaare. Im Jahr darauf stieg die Zahl der Besucher insgesamt auf 61.514, von denen 1.229 Ausländer waren.¹⁰⁸ Die steigenden Touristenzahlen führten bereits in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre zu Engpässen in der Versorgung mit Unterkünften.¹⁰⁹ Bald wurden auch

 Auf den Ursprung El Arenals als Sommerhaussiedlung Einheimischer und damit im Kontext touristischer Nutzung wurde oben bereits hingewiesen.  Manel Santana i Morro. El turisme a les Illes Balears (1936 – 1960). In Turisme i societat a les Illes Balears. Bd. 1, 49 – 64, hier 52– 53.  Moralisch nicht einwandfreies Verhalten scheint aus Sicht der Behörden auch in der Zeit ein Problem gewesen zu sein, in der Mallorca fast nur von Spaniern besucht wurde. Jedenfalls sah sich die Zivilregierung veranlasst, am 24.07.1941 ein Rundschreiben über Disziplin und Moral an den Stränden herauszugeben, in dem man den Badenden verbot, außerhalb des Wassers ohne Bademantel oder ein analoges Kleidungsstück zu verweilen (Grup d’estudi de la cultura, la societat i la política al món contemporani [UIB]. El segle XX a les Illes Balears. Estudis e cronologia, hg. von Sebastià Serra i Busquets. Palma de Mallorca: Edicions Cort, 2000, 458).  Bartomeu Barceló i Pons, Guillem Frontera i Pascual. Historia del turismo en las Islas Baleares. In Welcome! Un siglo de turismo en las Islas Baleares, 15 – 36, hier 25.  Am 21. März 1947 wies die mallorquinische Presse darauf hin, dass bei aktuell 18 Hotels und 48 Pensionen in Palma die Rückkehr des internationalen Tourismus das Angebot an Unterkünften total unzureichend machen würde. Am 14. August desselben Jahres informierte der Fomento del

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wieder neue Hotels gebaut. Gab es 1950 insgesamt 105 Hotels und Pensionen mit 4.054 Betten auf Mallorca, so waren es 1963 schon 780 solche Einrichtungen mit insgesamt 38.512 Betten.¹¹⁰ Seit den sechziger Jahren wurde die Wirtschaft Mallorcas zunehmend von der Tourismuswirtschaft dominiert. Die wegen des Aufkommens von Kunstfasern unrentabel gewordenen Textilunternehmen stellten in den Sechzigern mehrheitlich ihre Produktion ein.¹¹¹ Die Schuhproduktion hingegen hielt sich bis in die siebziger Jahre. Bei ähnlichen Verläufen in kleineren Industrien erfuhr die Insel seit den sechziger Jahren und dann verstärkt durch die Ölkrise 1973 eine fortschreitende Deindustrialisierung. Joan Roca führt dies auf die Wirtschaftspolitik Francos zurück, die einseitig auf den Ausbau der Tourismuswirtschaft gesetzt habe.¹¹² Allerdings hatten die Unternehmer aus der traditionellen Wirtschaft Mallorcas schon in den fünfziger Jahren begonnen, in den Tourismus zu investieren. Baumwollunternehmer aus Sóller legten ihr Geld am Paseo Marítimo in Palma an und Mitglieder der Familie Fluxà, deren Vermögen aus der Schuhproduktion in Inca stammte, kauften 1960 Viajes Ibèria und bauten das Auditòrium, einen der größten und repräsentativsten Veranstaltungsorte der Stadt, das ebenfalls am Paseo Marítimo gelegen ist.¹¹³ Das alte Kapital lag nun in den Hotels am Paseo Marítimo, deren Rezeptionen, so Roca, voll gewesen seien mit Werkmeistern aus den Baumwollfabriken in Sóller. Mallorca habe sich dem tourismuskompatiblen Konzept der „Insel der Ruhe“ angepasst, auf der es „keine Kriege, keine Erhebungen […] und keine Fabriken gegeben hat“.¹¹⁴ An die Stelle der Landwirtschaft und der Industrien trat so fast vollständig die Tourismuswirtschaft, in der schließlich fast 85 % des BIP der Balearen erzeugt wurden.¹¹⁵

Turismo die Besitzer von großen und geräumigen Wohnungen in Palma über den Mangel an Hotels in Palma und die dadurch gegebene Möglichkeit, Touristen privat zu beherbergen (Grup d’estudi de la cultura, la societat i la política al món contemporani [UIB]. El segle XX a les Illes Balears. Estudis e cronologia, hg. von Sebastià Serra i Busquets. Palma de Mallorca: Edicions Cort, 2000, 489, 491).  Bartolomé Barceló Pons. Mallorca: Fantasía, realidad y sinrazón del turismo. Cuadernos de arquitectura 65:3 (1966): 13 – 16, hier 14; Barceló, Frontera, Historia del turismo en las Islas Baleares, 29.  Joan Roca Avellà. La indústria mallorquina durant el franquisme (1939 – 1975). Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2010, 46 ff.  Roca Avellà, La indústria mallorquina durant el franquisme (1939 – 1975), 58 – 59.  Roca Avellà, La indústria mallorquina durant el franquisme (1939 – 1975), 51.  Roca Avellà, La indústria mallorquina durant el franquisme (1939 – 1975), 59.  Antònia Ripoll Martínez. El turisme al món i a les Illes Balears. In Turisme i societat a les Illes Balears. Bd. 1, 1– 16, hier 9.

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Es ist nicht ganz einfach, diese Entwicklung mit den Phasen des TALC-Modells in Einklang zu bringen. Daran ist weniger die Unterbrechung durch den Bürgerkrieg schuld. Nachdem man exploration und involvement in die Vorkriegszeit verlegt hat, kann man leicht davon ausgehen, dass in den Vierzigern das development einsetzte. Allerdings wird es danach schwierig, weil im TALC-Modell ausländische Unternehmen nun zunehmend die einheimischen Akteure verdrängen. Auf Mallorca ist das nicht so gewesen. Mit dem Bau und der Eröffnung zahlreicher neuer Hotels, 1973 waren es 1.484 Hotels und Pensionen mit 164.106 Betten¹¹⁶, entstand ein „Gelegenheitsunternehmertum“, das aus dem Umfeld der alten Hotellerie oder nahe liegenden Sektoren stammte. Ausländische Reiseveranstalter finanzierten ehemaligen Rezeptionisten, Köchen, Bauleuten, Ladenbesitzern und Steinbrucharbeitern den Bau von Hotels und erwarben im Gegenzug für vier bis fünf Jahre das Recht auf die Belegung der Betten des Hauses.¹¹⁷ Diese neuen Hoteliers waren besser als die der traditionellen Branche in der Lage, sich den Bedürfnissen des Massentourismus anzupassen. Davon zeugt nicht zuletzt der Umstand, dass die mallorquinischen Hotels bis heute mehrheitlich im Besitz von Einheimischen geblieben sind.¹¹⁸ Darüber hinaus haben die vier größten spanischen Hotelketten ihren Ursprung in dem bunten Milieu der Neu- und Seiteneinsteiger des mallorquinischen Hotelgewerbes der fünfziger und sechziger Jahre und sind längst selbst global player geworden: Gabriel Escarrer Juliá (geb. 1935), der Gründer der ersten mallorquinischen Hotelkette Hoteles Mallorquines (1970 gegründet), begann als Bote in der Palmaer Niederlassung der Reiseagentur Wagons Lits Cook. 1956 mietete er sein erstes Hostal, das Altair in Palma. 1976 wurde Hoteles Mallorquines zu Cadena Sol, aus der später Sol-Meliá hervorgegangen ist (2002 Marktführer in Spanien, 2004 Nr. 13 weltweit). Simón Barceló (1902– 1958) hatte 1931 in Felanitx das Transportunternehmen Autocares Barceló gegründet. Mit dem Kapital aus diesem Unternehmen eröffnete er 1954 in Palma die Reiseagentur Viajes Barceló. Im Jahr darauf übernahmen seine Söhne die Agentur. Das erste Hotel (Ánfora in Can Pastilla) wurde 1963 eingeweiht¹¹⁹, als nächstes 1965 das Hotel Pueblo am Strand von Arenal. 1968

 Barceló, Frontera, Historia del turismo en las Islas Baleares, 29 – 30.  Joan Amer i Fernàndez. Turisme i política. L’empresariat hoteler de Mallorca. Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2006, 48; zu weiteren Finanzierungsmöglichkeiten für Hotelneubauten vgl. auch Buades, On brilla el sol, 159 – 160 und Buswell, Mallorca and Tourism, 73.  Amer i Fernàndez, Turisme i política, 46.  Nach Eigendarstellung der Gruppe ist bereits 1962 das erste Hotel in das Unternehmen eingegliedert worden (URL: http://www.barcelogrupo.com/?section=historia [29.06. 2018]).

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eröffneten die Brüder Barceló die ersten Hotels in Menorca und Ibiza. 2002 war Barceló Hotels & Resorts die zweitgrößte Hotelkette Spaniens und 2004 die Nummer 32 weltweit. Joan Riu (1908 – 1996) stammte aus Katalonien, wo er zunächst als Obsthändler tätig war. Ab 1950 sammelte er in Venezuela erste Erfahrungen in der Tourismuswirtschaft. Nach der Übersiedlung nach Mallorca kaufte er 1953 das Hotel San Francisco am Strand von El Arenal, das zuvor als Hostal Brisas der Pionier in dieser Zone gewesen war. Nach und nach wurden von Rius Unternehmen neue Hotels im Bereich der Urbanisierung Las Maravillas gebaut. In den Achtzigern expandierte es dann auf den internationalen Markt. Riu Hotels & Resorts war 2002 das drittgrößte Hotelunternehmen in Spanien und stand 2004 auf Platz 26 weltweit. Die Familie Fluxà, deren Vermögen aus der Schuhproduktion in Inca stammte, ist bereits erwähnt worden. 1960 übernahm Llorenç Fluxà Figuerola das Reiseunternehmen Viajes Ibèria, das 1930 als kleines Familienunternehmen auf Mallorca gegründet worden war. Die daraus hervorgegangene Iberostar Hotels & Resorts ist 2002 die viertgrößte Hotelkette in Spanien gewesen und war 2004 Nr. 33 in der Welt.¹²⁰ Obwohl also der Einfluss ausländischer Unternehmen auf die hotelären Infrastrukturen Mallorcas begrenzt geblieben ist¹²¹, lassen sich besonders für die letzten Phasen des TALC-Modells Entsprechungen in den mallorquinischen Entwicklungen finden. Allerdings sind die maßgeblichen Akteure auch hier einheimische Unternehmer und Politiker, Ingenieure und Planer sowie Vertreter der Zivilgesellschaft gewesen.¹²² Im Allgemeinen werden bei der Beschreibung des

 Darstellung nach Antoni Sastre Albertí. Empresaris pioners i significatius. Cadenes hoteleres. In Turisme i societat a les Illes Balears. Bd. 1, 353 – 368, hier 360 – 365; aus Amer i Fernàndez, Turisme i política, 49 die Position auf dem spanischen Markt 2002; die Daten zur Position im Weltmaßstab 2004 aus Antoni Serra. The Expansion Strategies of the Majorcan Hotel Chains. In Europe at the Seaside. The Economic History of Mass Tourism in the Mediterranean, hg. von Luciano Segreto, Carles Manera, Manfred Pohl. New York, Oxford: Berghahn Books, 2009, 125 – 143, hier 126 ff.; zu Escarrer und Hoteles Mallorquines vgl. knapp Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 10 – 11, hieraus 1970 als Gründungsjahr von Hoteles Mallorquines.  Damit hat die einheimische Hotellerie auch eine ungewöhnlich starke Position gegenüber den ausländischen Reiseveranstaltern.  Zu den verschiedenen aktiven Gruppen und den gesellschaftlichen Diskussionen um die im Folgenden umrissenen Entwicklungen vgl. die genannten Arbeiten zur Tourismusgeschichte Mallorcas.

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mallorquinischen Tourismus seit 1950 drei Boomphasen unterschieden, die sich direkt von den Besucherzahlen ableiten lassen:¹²³

Abb. 2: Entwicklung der Besucherzahlen der Balearen und Anteil der einzelnen Inseln, 1950 – 2002

Da die Stagnationsphasen zwischen den Boomphasen nur mit kurzzeitigen Rückgängen der Besucherzahlen einhergingen, lässt die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch eine Interpretation als fast permanentes Wachstum der Besucherzahlen zu. Momenten der Stagnation konnte dabei immer wieder rasch und erfolgreich begegnet werden. Am Ende eines Booms fielen die Besucherzahlen nie auch nur annähernd hinter die Zahlen vom Anfang des Booms zurück. Mit jeder Boomphase etablierten sie sich dauerhaft auf einem neuen sehr hohen, kurz vorher noch kaum für möglich gehaltenen Niveau.

 Eigene Darstellung, die Daten für 1950 – 1959 aus: Bartolomé Barceló Pons. Origen y evolución de la afluencia turística y la Oferta hotelera en las islas Baleares y su distribución en 1965. BCOCIN 663 – 664 (1969): 57– 103, hier 82; für 1960 – 1989 aus: Josep Benítez Mairata, Antoni Ginard Bujosa, Roger Gotarredona Fiol, Antònia Ripoll Martínez. El turisme a les Illes Balears. Aspectes econòmics i socials. In Turisme, societat i economia a les Balears, hg. von Josep Benítez Mairata, Antònia Ripoll Martínez, Sebastià Serra Busquets. Palma: Fundacio´ Emili Darder, 1994, 87– 110, hier 90 – 91; für 1990 – 2002 aus: El turisme a les Illes Balears. Dades Informatives. any 2000, hg. von Govern de les Illes Balears, Conselleria de Turisme. Palma de Mallorca: Conselleria de Turisme, 2001, 64 und El turisme a les Illes Balears. Dades Informatives. any 2002, hg. von Govern de les Illes Balears, Conselleria de Turisme. Palma de Mallorca: Conselleria de Turisme, 2003.

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So ist die Periodisierung insgesamt unkritisch. Lediglich der konkrete Beginn des ersten Booms ist angesichts permanent steigender Touristenzahlen seit den vierziger Jahren umstritten. Gern wird das Jahr 1960 als Marke für das Einsetzen des Massentourismus genommen¹²⁴, doch weisen die Besucherzahlen schon in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre erstaunliche Wachstumsraten aus, die nun vor allem durch den Zuwachs bei ausländischen Touristen erzielt wurden¹²⁵:

Abb. 3: Prozentualer Zuwachs der Touristenzahlen gegenüber dem Vorjahr, Mallorca 1950 – 2002

Aus deutscher Sicht ist vielleicht noch wichtiger, dass die mediale Wahrnehmung Mallorcas als „Ferieninsel“ schon 1955 ausgeprägt und dass die erklärungslose Verknüpfung von „Massen-“ bzw. „Chartertourismus“ mit dem Namen der Insel spätestens 1961 verständlich gewesen ist und explizit abwertend gebraucht wurde.¹²⁶

 So etwa in Barceló, Frontera, Historia del turismo en las Islas Baleares. Für diese Deutung spräche etwa, dass in den Jahren um 1960 erstmals in der Hauptsaison mehr Touristen nach Mallorca gekommen sind als die Insel Einwohner hat bzw. dass zu diesem Zeitpunkt der neue Flughafen und der modernisierte Hafen von Palma eingeweiht wurden. Miquel Seguí Llinàs hingegen sieht die Grenze zum Massentourismus 1965 überschritten, als 1 Million Touristen die Insel besuchten (Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 9).  David Ginard i Féron. L’economia balear (1929 – 1959). Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 1999, 51. Besonders hoch war zunächst der Anteil spanischer, britischer und französischer Touristen. Der Anteil bundesdeutscher Touristen war in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre mit 8 – 9 % relativ gering, erhöhte sich aber bis 1965 auf 18,2 %. 1960 waren die Deutschen (noch hinter Schweden) nur die fünftstärkste Gruppe, doch schon 1965 belegten sie nach den Briten den zweiten Platz (Buswell, Mallorca and Tourism, 60). Seit 1989 stellen Deutsche die größte nationale Touristengruppe auf Mallorca. Im Jahr 2001 hatten sie einen Anteil von 42,9 % unter den ausländischen Touristen (Antoni Sastre Albertí. Fluxos turístics i despesa turística (I). In Turisme i societat a les Illes Balears. Bd. 1, 369 – 384, hier 374).  Beate Neugebauer. Ferieninsel Mallorca. Westermanns Monatshefte 96:9 (1955): 48 – 54; [‐]. Konto Entwicklungshilfe. DER SPIEGEL 43 (1961) vom 18.10.1961, 47– 48, hier 48; [‐]. Tote Seelen. DER SPIEGEL 46 (1961) vom 08.11.1961, 39 – 42, hier 41. Dieser Verlauf stützt, nebenbei bemerkt,

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Mit Einschränkung des umstrittenen Beginns des ersten Booms lassen sich für Mallorca in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts also drei touristische Boomphasen unterscheiden. In der Terminologie des TALC-Modells entspräche das Ende eines Booms der stagnation- bzw. sogar einer einsetzenden declinePhase. Allerdings ist es den Akteuren auf der Insel in solchen Phasen immer wieder gelungen, eine rejuvenation zu initialisieren und den Tourismus in einen neuen Boom hineinzuführen. Dabei lassen sich zwei Effekte gut beobachten, die das TALC-Modell beschreibt. Das ist zum einen die Erschließung neuer Räume für den Tourismus¹²⁷, zum anderen ist es die Neu-Erfindung des touristischen Angebots. Allerdings ersetzten auf Mallorca die neuen Angebote nicht einfach die alten. Stattdessen wurden der etablierte Sonne-und-Strand-Tourismus und die von ihm besetzten Räume systematisch und tiefgreifend modernisiert, so dass er parallel zu neuen Angeboten auch in späteren Phasen erhalten geblieben ist. Auf diese Weise erhält jede der Boomphasen ihr eigenes charakteristisches „Antlitz“ in Bezug auf die räumliche Verteilung des Tourismus und auf die Art und Weise der touristischen Nutzung der betroffenen Gebiete.

5.1 Der erste Boom, 1955/1960 – 1973 Zwischen 1955 und 1973 stieg die Zahl der Touristen, die Mallorca besuchten, von 188.000 über (1960) 361.000 auf 2.850.000. Auch die Zahl der Beherbergungseinrichtungen und deren Bettenkapazität wuchs beträchtlich. 1963 gab es 780 Hotels und Pensionen mit zusammen 38.512 Betten, 1973 waren es dann schon 1.484 Einrichtungen mit insgesamt 164.106 Betten.¹²⁸ Da der Mallorca-Tourismus von einem massenhaften Sonne-und-Strand-Tourismus dominiert war, wurden neue Beherbergungseinrichtungen vor allem in der Küstenzone gebaut. Im Bau und im Service entstanden dabei Arbeitsplätze, die besser als die Tätigkeiten in

die Darstellung Hermann Bausingers, wonach um 1960 der Tourismus bereits etabliert war und danach nur noch quantitative Steigerungen und Diversifikationen folgten (Hermann Bausinger. Wie die Deutschen zu Reiseweltmeistern werden. In Endlich Urlaub! Die Deutschen reisen. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn, 6. Juni bis 13. Oktober 1996, hg. von Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Köln: DuMont, 1996, 25 – 32, hier 29).  Auf die grundsätzliche Bedeutung dieses räumlichen Aspekts schon in der ersten, unveröffentlichten Fassung des Modells von 1972 hat Butler selbst ausdrücklich hingewiesen (Richard Butler. The Tourism Area Life Cycle in the Twenty-First Century. In A Companion to Tourism, hg. von Alan A. Lew, C. Michael Hall, Allan M. Williams. Malden, Oxford, Victoria: Blackwell Publishing, 2004, 159 – 169, hier 160).  Barceló, Frontera, Historia del turismo en las Islas Baleares, 29 – 30.

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der Landwirtschaft bezahlt wurden. Dementsprechend verlagerten sich erhebliche Anteile der Bevölkerung aus dem Inselinneren nach Palma und an die Küste.¹²⁹ Die Urbanisierung an der Küste, die sich in den wachsenden Hotelzahlen ausdrückt, erfolgte auf drei verschiedenen Wegen. So wuchsen die Küstenorte und Häfen der Fischer, Steinbruch- und Hafenarbeiter, zu denen seit den zwanziger Jahren Sommerhäuser der Inselbewohner und die ersten Hotels gekommen waren (Porto Cristo, Porto Colom, Port de Pollença, Port de Andratx). Auch die an den Küsten gelegenen traditionellen Sommerhaussiedlungen der Inselbevölkerung wurden ausgebaut (El Arenal, Colònia de Sant Pere, Can Picafort, S’Estanyol, Sa Ràpita, Colònia de Sant Jordi). Und es kamen gänzlich neue Siedlungen hinzu, die für Ausländer errichtet wurden (mit Vorlauf einiger Hotels bzw. von Urbanisierungsplänen aus den dreißiger Jahren: Palma Nova, Portals Nous, Santa Ponça, Paguera, Playa de Alcúdia, Cala Millor).¹³⁰ Die größte Agglomeration von Hotels entstand dabei in El Arenal und an dem Strand zwischen El Arenal und Can Pastilla, der ab 1967 als Playa de Palma vermarktet worden ist. Die in dieser Phase schnell und in großer Zahl errichteten kleinen Hotels und Pensionen mit niedrigem Standard wurden gegen Ende der sechziger Jahre zum Problem. Buchungsprobleme, mangelnder Service und Belästigungen durch das permanente Baugeschehen führten zu einer steigenden Unzufriedenheit der Kunden, über die auch die deutschen Qualitätsmedien gern berichteten. Die erste Krise ab 1973 war dann aber nicht die unmittelbare Folge der Mängel in der Tourismuswirtschaft, sondern ist allgemein als ein Element der ersten Ölkrise und des damit verbundenen Wirtschaftseinbruchs in den westlichen Ländern zu verstehen.¹³¹ Obwohl zahlreiche kleine Hotels und Pensionen schlossen, stieg die Zahl der touristischen Betten bis 1975 weiter an und verringerte sich erst zwischen 1976 und 1978, wobei sie nie unter den Stand von 1974 fiel.¹³² Bereits in diesen Zahlen drückt sich der Beginn eines lange anhaltenden Modernisierungsund Konzentrationsprozesses hin zu größeren und besser ausgestatteten Einrichtungen aus, die sich besser als zu kleine Einrichtungen behaupten konnten.¹³³

 Onofre Rullan Salamanca. La construcció territorial de Mallorca. Palma de Mallorca: Editorial Moll, 2002, 352 ff.  Seguí Aznar, La arquitectura del ocio en Baleares, 84 ff.  Barceló, Frontera, Historia del turismo en las Islas Baleares, 31.  Vgl. die Daten für die Balearen insgesamt in Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 12.  Barceló, Frontera, Historia del turismo en las Islas Baleares, 31 unter Verweis darauf, dass die Zahl von 1.484 hotelären Einrichtungen (1973) auf Mallorca bis 1996 auf 987 gesunken ist,

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5.2 Der zweite Boom, 1981 – 1988¹³⁴ Der zweite Boom ist von einem erneuten Anstieg der jährlichen Besucherzahlen von etwa 3.065.000 (1981) auf 5.300.000 (1988) gekennzeichnet. In diese Phase fiel eine Reihe von politischen Veränderungen wie der Aufbau der Institutionen der Autonomie und der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft. Auch die Tourismuswirtschaft veränderte sich. Die Beschäftigten im Tourismusgewerbe organisierten sich zusehends und konnten Lohnsteigerungen durchsetzen. Im Gegenzug wurden neue Angebotsformen wie das Buffet eingeführt, die die Versorgung der Besucher weniger arbeitsaufwändig machten und den Unternehmen halfen, die Lohnkosten niedrig zu halten.¹³⁵ Bereits in den siebziger Jahren leiteten die traditionellen und die Gelegenheitsunternehmer im bis dato atomisierten Hotelgewerbe Konzentrationsprozesse ein. Um ihre Interessen besser gegen die großen Touristikunternehmen durchsetzen und ihre Arbeitsprozesse rationalisieren zu können, schlossen sie sich seit 1973 zu Hotelketten, Assoziationen oder Föderationen wie Hotels Riu, Hoteles Mallorquines, Hoteles Albertí oder Hoteles Agrupados zusammen.¹³⁶ 1978 konstituierte sich die Federación de Hoteleria de las Baleares, in der neun Jahre später 21 Verbände von Hoteliers vertreten waren, die insgesamt 553 mallorquinische Hotels und 46 Appartementanlagen mit zusammen 130.145 Betten vertraten.¹³⁷ In diesem Konzentrationsprozess entstand ein neues Finanzunternehmertum, das die zweite Generation der mallorquinischen Hotelunternehmer stellte. Diese neuen Unternehmer waren ab 1985 bereit und in der Lage, die mallorquinischen Ketten auf einen internationalen Markt auszuweiten. Dabei blieben vier der fünf größten Ketten aus Mallorca weiter im Besitz der Gründerfamilie. Gerade diese großen, internationalen Ketten machen ihr Geschäft heute nur noch zu einem kleinen Teil auf der Insel.¹³⁸

gleichzeitig aber die Bettenzahl von 164.106 auf 204.129 anstieg. Hinzu kamen 1996 440 Appartementhäuser bzw. -anlagen mit weiteren 56.697 Betten.  Datierung nach Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 12; Barceló, Frontera, Historia del turismo en las Islas Baleares, 31 unterschieden 2000 noch nicht zwischen einem zweiten und dritten Boom.  Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 12– 13.  Amer i Fernàndez, Turisme i política, 49 – 50.  Antoni Sastre, Francesc Sastre. La problemàtica laboral i empresarial. In Llibre blanc del turisme a les Balears, hg. von Conselleria de Turisme del Govern Balear, Universitat de les Illes Balears. Bd. 1. Palma de Mallorca: Conselleria de Turisme, Universitat de les Illes Balears, Caixa de Balears: 1987, 138 – 155, hier 155.  Amer i Fernàndez, Turisme i política, 50 – 51; vgl. auch Serra, The Expansion Strategies of the Majorcan Hotel Chains sowie Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 15 – 16.

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Auch die Kundschaft wandelte sich im zweiten Boom. Nun wurden die Balearen häufiger von jungen Familien mit Kindern besucht. Damit stieg, vor allen Dingen unter britischen Touristen und besonders stark auf Menorca, die Nachfrage nach Appartements.¹³⁹ Auch auf Mallorca bilden Appartementanlagen und Sommerhaussiedlungen die typische territoriale Signatur des zweiten Booms.¹⁴⁰ Wegen ihrer großzügigen Anlage verbrauchten Appartements und Zweitwohnsitze wesentlich mehr Territorium als die dichteren Hotelzonen.¹⁴¹ Da diese die Strandzonen schon während des ersten Booms mit Hotels besetzt hatten, griff die Bebauung nun auch auf die felsigen Kliffküsten der Insel über. Für diesen Vorgang der fortschreitenden rücksichtslosen Verbauung der Küstenzone etablierte sich in kritischen Analysen der Begriff balearització – Balearisierung. Gegen Ende der Achtziger konnten viele Einrichtungen auf Mallorca den gewachsenen Ansprüchen ihrer Kundschaft nicht mehr genügen. Durch die in amortisierten Hotels mögliche Verbilligung der Angebote wurde das Billig-Image der Insel zusätzlich verstärkt.¹⁴² So geriet die mallorquinische Tourismuswirtschaft in eine tiefe strukturelle Krise. 1989 und 1990 sanken die Besucherzahlen. Schon im Folgejahr stiegen sie wieder, nicht jedoch die Einnahmen, die bis einschließlich 1992 weiter zurückgingen.¹⁴³ In der einheimischen Bevölkerung hatte in den Achtzigern eine massive Kritik an der Tourismusentwicklung eingesetzt, die vor allem umweltschützerisch motiviert war. Daneben gerieten der bauliche Zustand der Tourismusanlagen und der schlechte urbanistische Zustand der Touristengebiete selbst in die Kritik, die nun teilweise auch aus der Tourismuswirtschaft kam. Die Autonomiebehörden reagierten mit Ordnungsplänen für das Territorium bzw. das touristische Angebot und mit einer entsprechenden Gesetzgebung. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre wurden die hotelären und öffentlichen Infrastrukturen umfassend erneuert sowie wichtige Landschaftsbestandteile unter Schutz gestellt. Damit gelang es, die internationale Wahrnehmung Mallorcas deutlich zu verbessern

 Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 13.  Frühe Literatur dazu: Onofre Rullan Salamanca. Ensayo de regresión lineal entre densidades de residencias secundarias y proximidad a la costa en Mallorca. Anales de Geografía de la Universidad Complutense 7 (1987): 527– 533; Pere A. Salvà Tomàs, Jaume Binimelis Sebastian. Las residencias secundarias en la isla de Mallorca: tipos y procesos de crecimiento. Mediterranee 77:1– 2 (1993): 73 – 77.  Onofre Rullan. L’urbanisme. In Llibre blanc del turisme a les Balears, hg. von Conselleria de Turisme del Govern Balear, Universitat de les Illes Balears. Bd. 1. Palma de Mallorca: Conselleria de Turisme, Universitat de les Illes Balears, Caixa de Balears: 1987, 266 – 330, hier 291.  Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 14– 15.  Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 16 – 17.

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und das touristische Image wieder so aufzuwerten, dass eine neue Wachstumsphase einsetzen konnte.¹⁴⁴

5.3 Der dritte Boom, 1993 – 1999¹⁴⁵ Während der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stiegen die Besucherzahlen Mallorcas von 4.879.000 (1992) auf 8.017.000 im Jahr 1999. Diese Phase war von einer erheblichen Ausdifferenzierung des touristischen Angebots geprägt. Dabei wurde versucht, das Billig-Image Mallorcas und die Konzentration auf den Sonne-und-Strand-Tourismus mit seiner ausgeprägten Saisonalität zu überwinden und einen „Qualitätstourismus“ zu etablieren. Deshalb wurden nun Angebote geschaffen und propagiert, die eine zahlungskräftigere Kundschaft ansprechen sollten.¹⁴⁶ Neben dem Bau von Golfplätzen oder neuen sport-touristischen Angeboten (Radurlaub, Wandern) kam dabei die Schlüsselrolle einem ökologisch vermeintlich verträglicheren ecoturismo bzw. agroturismo zu. Diese Strategien blieben nicht ohne Erfolg, schufen vor allem aber ein neues, zusätzliches Element touristischer Ausbeutung der Insel, das nicht einmal ansatzweise in der Lage war, den traditionellen Sonne-und-Strand-Tourismus zu verdrängen.¹⁴⁷ Die Nutzbarmachung der inselinneren Regionen für die Tourismuswirtschaft war politisch durchaus gewollt, wobei man sich ein neues touristisches Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Entlastung der Küsten, eine Stärkung der Nebensaison und die Schaffung neuer Einkommensquellen mit einer Erhöhung des Lebensniveaus im Inselinneren versprach. Abgesehen von der festen Eta-

 Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 28. Dabei behauptete die Insel sich auch erfolgreich gegenüber neuen Konkurrenten mit einem billigeren Angebot (Türkei, Tunesien).  Eine statistische Analyse des dritten Booms bieten Macià Blàzquez, Ivan Murray, Joana Maria Garau. El tercer boom. Indicadors de sostenibilitat del turisme de les Illes Balears 1989 – 1999, Palma de Mallorca: Centre d’Investigacions i Tecnologies Turístiques de les Illes Balears, 2002. Rullan sah 2007 den dritten Boom als noch nicht abgeschlossen an, weil der infrastrukturelle Ausbau der Insel weiter anhielt (Onofre Rullan. L’ordenació territorial a les Balears (Segles XIXXX). Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 2007, 36).  Ausführlich: Thomas Schmitt. Ökologische Landschaftsanalyse und -bewertung in ausgewählten Raumeinheiten Mallorcas als Grundlage einer umweltverträglichen Tourismusentwicklung. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1999, 237 ff.; Buswell, Mallorca and Tourism, 150 ff.  2011 zogen auch Schmitt, Schmitt, Auf Tour. Mallorca, 172– 173 eine explizit negative Bilanz und stellten fest, „dass der traditionelle Tourismus der Insel sehr viel höhere Einnahmen bei gleichzeitig viel niedrigerem Landschaftsverbrauch bringt als der Qualitätstourismus“.

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blierung einiger neuer Tourismusformen im Inselinneren blieb der Erfolg aber bescheiden.¹⁴⁸ Das wichtigste Symbol dieser Phase ist die „Finca“, deren Besitz in den Neunzigern bei Ausländern, und hier besonders bei Deutschen, in Mode kam. Kurzzeitig führte dies bei einheimischen Landbesitzern zu einer Euphorie, weil sie nun Land zu Preisen verkaufen konnten, die im Inselinneren nicht mehr erwartbar schienen. Allerdings wurden die Gewinne aus Landverkäufen häufig in Konsumgüter mit hohem Wertverlust investiert (Autos, Reisen) und gingen mittelfristig verloren. Als der Grundstücksboom bei steigenden Preisen auch langfristig anhielt, konnten die alten mallorquinischen Besitzer nicht mehr davon profitieren. Wertsteigerungen konnten nun von den neuen ausländischen Eigentümern abgegriffen werden.¹⁴⁹ Besonders die späteren Phasen des TALC-Modells scheinen für das Verständnis der drei Boomphasen des Tourismus auf Mallorca eine gute Basis zu legen und tatsächlich sind die Reformanstrengungen während des dritten Booms gelegentlich im Horizont des TALC-Modells beschrieben worden.¹⁵⁰ Allerdings korrespondieren die Anfangsphasen des Modells zwar mit traditionellen Vorstellungen von der Entwicklung des Tourismus auf einem unterentwickelten  Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 30 – 31. Auch Blàzquez, Murray, Garau, El tercer boom, ziehen eine negative Bilanz.  Seguí Llinàs, El turisme a les Balears (1950 – 2005), 31– 32. Zur Entwicklung des balearischen Immobilienmarkts Anfang der 1990er Jahre: Joan Seguí i Ramon. Les Balears en venda. La desinversió immobilària dels illencs. Palma de Mallorca: Edicions Documenta Balear, 1998.  David Bruce, Antonio Serra Cantallops. The Walled Town of Alcúdia as a Focus for an Alternative Tourism in Mallorca. In Sustainable Tourism in Islands and Small States, hg. von Lino Briguglio, Richard Butler, David Harrison, Walter Leal Filho. Bd. 2: Case Studies. London, New York: Pinter, 1996, 241– 261, hier vgl. bes. 248; Dimitri Ioannides. Tourism Development in Mediterranean Islands. Opportunities and Constraints. In Island Tourism and Sustainable Development, 67– 89, hier bes. 83 – 84. Am eingehendsten haben sich Alcover, Sansó. The tourist area lifecycle and the unit roots test, mit der Anwendbarkeit des TALC-Modells auf Mallorca beschäftigt. In einer statistischen Untersuchung, deren Komplexität deutlich über die einfache Auswertung der Besucherzahlen hinausgeht, konnten sie nicht bestätigen, dass sich das TALC-Modell auf Mallorca anwenden lässt (Alcover, Sansó. The tourist area lifecycle and the unit roots test, 24). Ihre rein quantitativ ausgerichtete Untersuchung ist mit der vorliegenden qualitativen schwer vergleichbar, weil sie sich auf den Zeitraum von 1950 bis 2004 beschränkt und weil sie Mallorca als Entität behandelt. Beides wird hier kritisiert, ist aufgrund der vorhandenen Daten aber für statistik-basierte Untersuchungen nahezu unumgänglich. Alcover und Sansó stellen hier eher „zufällige“ (random) Verläufe fest, die keine Prognosen erlauben würden. Wenn zukünftige Studien mit derselben Methode auf andere Touristengebiete angewendet würden und zu ähnlichen Ergebnissen kämen, dann könne der TALC „be definitely challenged as one of the most important paradigms in tourism.“ (Ebenda, 25).

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Mallorca, nicht aber mit neuen Erkenntnissen der historischen Forschung. Das gilt insbesondere für die marginalisierte Rolle von Einheimischen. Darüber hinaus gibt es aber auch ein grundsätzliches Problem, das die zeitliche, räumliche und quantitative Skalierung des Modells betrifft.

6 Das TALC-Modell in der Kritik mallorquinischer Entwicklungen Im Juni 1920 schrieb Cirano, Kolumnist der in Palma erscheinenden Illustrierten Baleares: Unsere Stadt ist in allen Kategorien des Lebens in eine Phase so großer Aktivität eingetreten, dass wir mit gutem Recht sagen können, dass sie ihr Angesicht vollständig verändert hat. Theater, Stiere, Sommerfeste, Kinematographen, Seefeste, Ausflüge, Taubenschießen, Fußballspiele, Radrennen und tausend andere Spektakel werden uns ständig angeboten und jedes von ihnen erreicht den vollständigsten Erfolg.¹⁵¹

In derselben Nummer der Baleares äußerte sich ein anderer Autor auch zum Tourismus, der in diesem Sommer eine außergewöhnliche Intensität erreicht habe und die optimistischsten Erwartungen übertreffe. Die Dampfer kämen gedrängt voll und es sei notwendig, einen Platz an Bord lange vorher zu bestellen. Bedeutend sei aber nicht nur die Zahl der Besucher, sondern vor allem deren Qualität: Künstler von großem Ruhm, gesegnete Literaten, Repräsentanten der reinsten Abstammung, Männer, die tief in der Geschäftswelt verwurzelt sind… alle kommen, um diese Goldene Insel zu besuchen, […].¹⁵²

 Cirano. Vida Social. Baleares 116 vom 30.06.1920, 5; das Zitat im Original: „Nuestra ciudad ha entrado en un periodo de actividad tan grande, en todos los ordenes de la vida, que bien podemos decir que ha cambiado por completo su fisonomía. Teatros, toros, verbenas, cinematógrafos, fiestas marítimas, excursiones, tiradas de pichón, partidas de foot ball, carreras de bicicletas y otros mil espectáculos se nos ofrecen constantemente y cada uno de ellos alcanza el más completo éxito.“  Joaquin Domenech. La visita del „Foment Martinenc“. Baleares 116 vom 30.06.1920, 22– 23; das Zitat im Original: „Pero no es sólo el número de pasajeros que cruzan el charco, lo importante. Lo importante es, a la vez, la calidad de los que nos visitan. Artistas de gran fama, literatos consagrados, representantes de las más puras alcurnias, hombres que tienen profundo arraigo en el mundo de los negocios… todos vienen a visitar esta Isla Dorada, […]“ (Ebenda, 22).

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Anfang der Dreißiger konnte man dann auch in deutschsprachigen Artikeln lesen, Mallorca würde „massenhaft“ oder „in Massen“ aus dem Ausland besucht.¹⁵³ Carles Cirer schließlich hat nach eingehender Untersuchung der nicht-touristischen Voraussetzungen und dann unter Verweis auf Touristenzahlen und auf die Produktionsweisen im mallorquinischen Hotelgewerbe davon gesprochen, dass bereits Mitte der dreißiger Jahre der Massentourismus auf Mallorca erfunden worden sei.¹⁵⁴ Zeitgenössische Beobachtungen bzw. spätere Bewertungen wie diese werden völlig ausgeblendet, wenn man sich auf die übliche, rein quantitativ determinierte Lesart beschränkt, der Massentourismus nach Mallorca habe in den sechziger Jahren eingesetzt, dann die drei dargestellten Boomphasen durchlaufen und alles Vorhergehende sei unbedeutender Vorlauf. Auch für das TALC-Modell mangelt es nicht an Versuchen, es quantitativ zu unterfüttern bzw. zu überprüfen.¹⁵⁵ Allerdings wird das dem Modell, zumindest in der von Butler entworfenen Ausprägung, nur insofern gerecht, als man das einfache Kurvendiagramm, das die Beschreibung begleitet, in den Mittelpunkt stellt und versucht, entsprechende Verlaufsformen zu finden. In Butlers Text allerdings sind die einzelnen Phasen des Modells qualitativ beschrieben und quantitativ äußerst vage gefasst. Diese Reduktion auf Kurvenverläufe tendiert dazu, die definierenden qualitativen Entwicklungen zu vernachlässigen. Im Fall von Mallorca ist das verhängnisvoll, denn die auch in nationalem und internationalem Maßstab nicht unbedeutenden Entwicklungen der zwanziger und dreißiger Jahre auf Mallorca mögen a posteriori betrachtet quantitativ unwichtig erscheinen, doch entsprach das nicht den Wahrnehmungen der Zeitgenossen. Darüber hinaus waren diese Entwicklungen die Voraussetzung für die erstaunliche Dynamik des internationalen Mallorca-Tourismus seit den fünfziger Jahren.Vernachlässigt man die Vorgeschichte, so kann man Späteres kaum verstehen. Allerdings müssen nicht nur rein quantitative Interpretationen des TALCModells kritisch betrachtet werden. Auch das Modell selbst zeigt die Tendenz, den Stilisierungen der ersten auswärtigen Besucher auf den Leim zu gehen. Diese waren aber keine unabhängigen oder gar objektiven Beobachter, sondern Partei. Sie entwarfen Sehnsuchtsbilder, in denen sie selbst die Position von Entdeckern einnahmen, die eine unbekannte Weltgegend mit ungebildeten Einheimischen für die Außenwelt erschließen. Indem das TALC-Modell den Entdeckungs-Fantasien des romantischen 19. Jahrhunderts folgt, reproduziert es eine zutiefst touristische Denkfigur, die auch heute noch höchste Attraktivität besitzt. Damit gehört das,  Bereits oben zitiert: Schmitz, Der Fremdenverkehr in Spanien, 157; P.B., Eine Villa auf Mallorca, 24.  Cirer, La invenció del turisme de masses, 333 – 334.  Vgl. Alcover, Sansó, The tourist area lifecycle and the unit roots test.

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was das TALC-Modell historisch als Einstieg in die Tourismuswirtschaft beschreibt, zum imagologischen Teil des touristischen Produkts selbst. Unter Bezug auf die frühen Entwicklungen auf Mallorca wird das gut beschreibbar. So inszenierte sich George Sand 1841 gleich im Vorwort ihres ReisePamphlets Un Hiver à Majorque als Entdeckerin Mallorcas und berichtete später davon, bei ihrer Rückreise habe sich die Gruppe in Barcelona gefühlt, „als hätten wir eine Weltreise gemacht und gerade die Wilden Polynesiens verlassen, um in die zivilisierte Welt zurückzukehren“.¹⁵⁶ 1865 betonte auch Heinrich August Pagenstecher die Einsamkeit der Bucht von Alcúdia, wo er das Linienschiff Barcelona-Mahón verlassen hatte und mallorquinischen Boden betrat. Man habe sich, schrieb er, „ganz wohl an eine ferne indianische Küste, an der nie Europäer landeten, versetzt glauben können“.¹⁵⁷ Die Erwartungen, mit denen frühe Reisende Mallorca betraten, zeigen sich nicht zuletzt bei denen, die hier eine Enttäuschung erlebten. So befand 1908 der deutsche Kunsthistoriker Wolfgang von Oettingen, „sachlich und unverblümt von Palma und den Balearen zu berichten“ würde sicher heißen, „manchem allerlei schöne Illusionen [zu] rauben“, denn: Kaum glaubt man hier noch in Spanien zu sein, viel eher im weit gesitteteren Frankreich! Und unseren vielleicht immer noch nicht ganz geschwundenen Hoffnungen auf eine hier fortwährend fandangotanzende und mandolinenspielende Romantik können wir nur getrost Valet sagen, sobald wir den Hafendamm betreten. […]¹⁵⁸

Auch das, was der Maler und Schriftsteller Santiago Rusiñol, der Mallorca später zur „Insel der Ruhe“ stilisiert hat, bei seiner ersten Ankunft erlebte, passte nicht zu den grotesk verschlafenen Verhältnissen, die er zwanzig Jahre später beschrieb. In seinem ersten Mallorca-Text von 1893 war die Ankunft in Palma eine Enttäuschung, denn er fand Mallorca „[…] mit tausend Details einer Zivilisation, die auf den höchsten Stand geführt ist, die aber nicht mit der Idee einer Insel übereinstimmte, die wir seit unserer zartesten Kindheit ausgebildet hatten.“

 George Sand. Ein Winter auf Mallorca. Übersetzung von Annette Keilhauer. München: Goldmann, 2001, 221.  Pagenstecher, Die Insel Mallorka, 46; zu den Motiven der stereotypen Südsee-Topik des 18. und 19. Jahrhunderts in den Beschreibungen Mallorcas bei deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts vgl. Schönherr, La voluntad del paraiso, 123 – 124.  Wolfgang von Oettingen. Palma de Mallorca. Die Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift 10:20 (1908), 866 – 870, hier 866, 868.

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Entweder sei das keine Insel oder diese wären von derselben Gleichförmigkeit wie irgendein Kontinent.¹⁵⁹ Über diese Punkte hinaus teilt das TALC-Modell mit der Wahrnehmung Mallorcas eine räumliche Unschärfe. Was Mallorca angeht, so kann man diese Unschärfe nicht dem Modell anlasten, aber das Beispiel Mallorcas kann zeigen, in welche Gefahren räumliche Unbestimmtheit, auch die des TALC, in dem der Begriff „tourism area“ nicht genau definiert ist, führen kann. In Deutschland, aber auch darüber hinaus, hat sich spätestens seit den sechziger Jahren eine assoziative Wahrnehmung etabliert, die Mallorca als Ganzheit begreift, die vom Tourismus betroffen ist. Historisch ist das überaus unpräzise, denn bis in die jüngste Vergangenheit wurde nie die ganze Insel touristisch genutzt. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde vor allem das Tramuntana-Gebirge bereist. Die Nutzung der Strände der kleineren Buchten durch den Tourismus setzte in den zwanziger Jahren ein und gelangte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Durchbruch, wobei nun auch erstmals die langen Strände der großen Buchten in größerem Umfang betroffen waren. In Bezug auf diese Sandstrände und nur in Bezug auf diese Sandstrände ist die populäre Geschichtserzählung sinnvoll, nach der Mallorca vor 1960 vom Tourismus weitgehend „unberührt“ geblieben sei. Anders als früher bezog sich die „touristische“ Wahrnehmung Mallorcas nach 1960 denn auch auf die Strände und nicht mehr auf die Tramuntana. Obwohl einige der wichtigsten Ausflugsziele der Insel in der Tramuntana liegen, wurde diese nun gern, etwa in Raumordnungsplänen, aber auch in geographischen Untersuchungen, als „nicht-touristisch“ behandelt.¹⁶⁰ Das inselinnere Flachland war bis in die 1990er Jahre von diesen Entwicklungen nicht betroffen und blieb touristisch weitgehend ungenutzt.

 Santiago Rusiñol. Desde una isla. In Ders. Des de les Illes, hg. von Margarida Casacuberta. Barcelona: Publicacions de l’Abadia de Montserrat, 1999, 31– 68, hier 38; das Zitat im Original: „[…] Porque a juzgar, señores, por lo que veíamos al alcance de nuestra mirada de lince, o aquello no era isla, o éstas son de la misma conformidad que cualquier continente. […] Casas con cuatro pisos y pico, palacios levantados con sabias reglas de arquitectura, calles empedradas tersamente y mil detalles de una civilización llevada al máximo grado, pero que no cuadraba con la idea que de una isla nos habíamos formado desde nuestra más tierna infancia.“ Ein zusätzliches Element der Enttäuschung, die Rusiñol die Insularität Mallorcas in Frage stellen ließ, war, dass die Reisenden hier anstelle von Indios „nur gebildete Freunde fanden“ (Ebenda, 43).  So 1995 im Plan de Ordenación de la Oferta Turística – POOT (Avelino Blasco Esteve. Planificación y gestión del territorio turístico de las Islas Baleares. Fundació Càtedra Iberoamericana, Universitat de les Illes Balears, 2001, URL: http://fci.uib.es/digitalAssets/164/164625_ablasco.pdf [29.06. 2018], 9); zur geographischen Einordnung der Tramuntana als nicht-touristischer Raum vgl. die dritte Dichotomie zwischen touristisch genutzter Küstenzone und dem Rest Mallorcas in Rullan Salamanca, La construcció territorial de Mallorca, 382; siehe auch die Darstellung der

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Die unreflektierte Behandlung Mallorcas als Ganzheit bei gleichzeitiger Beschränkung auf die Untersuchung einzelner Touristenzentren, wie etwa der Zone El Arenal / Playa de Palma, lässt die zeitliche und räumliche Ausdifferenzierung des Tourismus und seiner Entwicklung verschwinden. In der historischen Wahrnehmung tritt neben diese räumliche die scheinbare soziale Homogenität der Bewohner der Insel. Die Wahrnehmung der Mallorquiner als Bauern wird der sozialen Komplexität auf der Insel im 19. Jahrhundert nicht gerecht. Mit dem Beharren auf der Rückständigkeit des „vortouristischen“, als „nicht-industriell“ gedachten Mallorca schwindet die Wahrnehmbarkeit wichtiger Akteursgruppen, die zu den ersten Touristen auf Mallorca gehörten. Auch das sind keine Probleme, die mit dem TALC-Modell nach Mallorca gekommen wären, aber es sind auch Probleme des TALC-Modells, die an Mallorca gezeigt werden können.

7 Schlussfolgerungen Mit den Ergebnissen der spanisch- und katalanischsprachigen Forschung der letzten 25 Jahre hat sich das Bild Mallorcas im 19. und 20. Jahrhundert radikal gewandelt. Die Entwicklungen auf dem modernen Mallorca, so wie sie uns die neuen Forschungen zeigen, passen sich nicht in das TALC-Modell ein. Das deutlichste Problem ist hierbei, dass dieses besonders die Aktivitäten auswärtiger Akteure betont. So erfolgt die „Entdeckung“ eines Touristengebiets von außen und Einheimische spielen zwar in der Anfangsphase touristischer Entwicklung eine gewisse Rolle, werden dann aber schnell marginalisiert. Auf Mallorca ist das anders gewesen. Mallorquiner haben die ersten Beschreibungen der Insel entweder selbst vorgelegt oder maßgeblich beeinflusst. Sie waren die ersten, die Mallorca bereist haben und sie waren die maßgeblichen Akteure, die schon früh und erfolgreich den Aufbau einer Tourismuswirtschaft betrieben. Auch heute noch liegt der größte Anteil an der mallorquinischen Tourismuswirtschaft in der Hand einheimischer Unternehmer. Das Beispiel Mallorca zeigt die Möglichkeit, dass gerade in den relativ wenig diskutierten Anfangsphasen des Modells unhistorische Entdecker-Fantasien der ersten auswärtigen Besucher reproduziert worden sind. Sie sollten deshalb in der Arbeit mit dem Modell stärker hinterfragt werden. Sollte Mallorca tatsächlich verschiedenen touristischen Gebiete auf Mallorca in: Miquel Grimalt Gelabert. Els espais turístics de Mallorca (I) (Costa de tramuntana, costa de ponent, badia de Palma i costa de migjorn). In Turisme i societat a les Illes Balears. Bd. 1, 161– 176 und Miquel Grimalt Gelabert. Els espais turístics de Mallorca (II) (Costa de Llevant, badia d’Alcúdia, badia de Pollença). In Turisme i societat a les Illes Balears. Bd. 1, 177– 192.

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„prototypisch“ für touristische Verläufe sein, dann würde sich eine generelle Änderung des Modells empfehlen. Ist es hingegen – und das ist wohl wahrscheinlicher – ein Sonderfall touristischer Entwicklung, so wäre das Modell zu variieren und um alternative Verläufe des Starts in den Tourismus zu ergänzen.

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Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen in einer Beobachtungsstation zwischen 1949 und 1989 English abstract: Psychiatric Assessment Routines at an Observation Station for Children and Youths 1949 – 1989. Evaluating archival material from the children’s medical unit at University of Innsbruck psychological care center, the author demonstrates the ways in which medical, psychological and naturopathic treatment is structured by multiple rhythms and specific forms of timing. Focusing on young patients, being stationed due to alleged behavioral deficits, the article outlines the production of a daily routine in terms of observation, therapy, care and medicalization. This approach marks several time regimes bringing to light procedures of repetition that exert impact on the relations between those people who medicate and those individuals who are being treated.

1 Einleitung Eine sog. „Kinderbeobachtungsstation“ war eine psychiatrische bzw. heilpädagogische Einrichtung, in der für eine gewisse, durchaus variierende Zeit Kinder und Jugendliche stationär untergebracht wurden. Der Aufenthalt diente vor allem ihrer Beobachtung, psychologischen Testung und Begutachtung, gegebenenfalls wurden die Kinder und Jugendlichen dort auch therapiert. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde an der Psychiatrischen Universitätsklinik Innsbruck ein Zimmer zur Beobachtung von Kindern eingerichtet, aus dem 1954 eine eigene Station in einer angemieteten Villa wurde. Ihr Zweck war es, nach der Beobachtung und Behandlung von verhaltensauffälligen Kindern Empfehlungen für den weiteren Umgang mit ihnen zu geben. Aus der Beschränkung des Raums „Kinderbeobachtungsstation“, d. h. der Aufnahmekapazität, aus seiner Besonderheit – eine Spezialeinrichtung, von denen es im Untersuchungszeitraum nur wenige gab –, aus den Kosten, die durch eine Unterbringung in ihm entstanden, folgte die zeitliche Begrenzung des Aufenthaltes in dieser Einrichtung. Trotz dieser komplexen Abhängigkeits-Beziehungen schwankte die Dauer des Aufenthaltes zwischen einem und 414 Tagen, auch war die Zusammensetzung der dort Untergebrachten sehr heterogen. https://doi.org/10.1515/9783110466591-006

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Im Folgenden werden nach einer Skizzierung der Charakteristika und Entwicklung von Kinderbeobachtungsstationen im deutschsprachigen Raum die Innsbrucker Einrichtung, das Untersuchungssample und die Fragestellung vorgestellt. Daran schließen sich Ausführungen zu den Bedingungen der Begutachtungspraxis an. Der Hauptteil wird sich mit der Taktung bzw. den Routinen der Begutachtungen befassen.

1.1 Kinder und Psychiatrie Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein fehlte es in den sich ausbreitenden psychiatrischen Einrichtungen an Abteilungen für die Aufnahme von Kindern.¹ Diejenigen, die eingewiesen wurden, mussten – zum großen Unbehagen der Psychiater – meist mit den Erwachsenen untergebracht werden. Kinder und Jugendliche wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständige Patientengruppe wahrgenommen, für die es spezielle Einrichtungen oder wenigstens Räumlichkeiten geben sollte. Das erste kinderpsychiatrische Lehrbuch wurde 1887 von dem Freiburger Psychiater Hermann Emminghaus veröffentlicht.² Die Gründung der ersten eigenen Abteilung für Kinder und Jugendliche wird von Castell u. a. der „Städtischen Klinik für Geisteskranke in Frankfurt“ im Jahr 1900 unter dem Arzt Emil Sioli zugeschrieben.³ Nach der Jahrhundertwende entstan-

 Während die Forschungen zur Erwachsenenpsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert einige substanzielle Arbeiten aufweisen, ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie mitsamt ihren Vorläufern noch wenig erforscht. Sehr hilfreich ist das Werk über die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie von 1937 bis 1961, das auch auf die Zeit vor 1937 eingeht: Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961, hg. von Rolf Castell, u. a. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003. Die übrigen Arbeiten werden in den folgenden Ausführungen genannt. Zur Entwicklung kinderpsychiatrischer Beobachtungsstationen siehe Sylvelyn HähnerRombach. Patientinnen und Patienten der Kinderbeobachtungsstation Innsbruck: Einweisung und Aufenthalt zwischen 1949 und 1989 im Spiegel der Krankenakten. Medizinhistorisches Journal 52 (2017): 308 – 351, hier 313 – 320.  Hermann Emminghaus. Die psychischen Störungen des Kindesalters. Tübingen: Verlag der H. Laupp’schen Buchhandlung, 1887 [erschienen als Nachtrag II zu Handbuch der Kinderkrankheiten, hg. von Carl Adolph Christian Jacob Gerhardt. 6 Bde. und 3 Nachträge. Tübingen:Verlag der H. Laupp’schen Buchhandlung, 1877– 1896].  Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 405. Mit der Gründung der Universität Frankfurt am Main 1914 wurde diese Kinderabteilung zur ersten „Abteilung für Kinder und Jugendpsychiatrie an einer deutschen Universität.“ Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 406. Sie war, laut Matron, als „klinische Beobachtungsstation für alle Arten seelisch kranker und schwachsinniger Kinder gedacht.“ Kristina Matron. Kommunale Jugendfürsorge in Frankfurt am Main in der Weimarer Republik. Frankfurt/Main: Henrich Editionen, 2012, 79.

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den in den Großstädten die ersten ambulanten Beratungsstellen für Kinder mit „Erziehungsschwierigkeiten, Entwicklungsstörungen oder psychischen Auffälligkeiten“.⁴ Im selben Zeitraum wurden die ersten Beobachtungsabteilungen für Jugendliche, speziell sog. Fürsorgezöglinge, eingerichtet, so beispielsweise in Göttingen 1907.⁵ In Wien kam es 1911 zur Gründung der Heilpädagogischen Abteilung der Universitäts-Kinderklinik.⁶ Sie ist die europaweit erste heilpädagogische Einrichtung und steht in der Folge für die enge Verbindung von Pädiatrie, Heilpädagogik und Psychiatrie in Österreich. Die Wirkungen und Folgen des Ersten Weltkriegs auf Kinder und Jugendliche führten noch während seines Andauerns zu einer steigenden Zahl von Einrichtungen zur Beobachtung, Begutachtung und Behandlung von als auffällig wahrgenommenen Kindern und Jugendlichen: 1916 eröffnete der Psychiater Gabriel Anton an der Universitätsnervenklinik in Halle eine Beobachtungsstation, die 12 bis 15 Kinder aufnehmen konnte.⁷ Im selben Jahr wurde in Frankfurt am Main die ärztlich-heilpädagogische Jugendsichtungsstelle eingerichtet, der das 1917 gegründete kommunale Heilerziehungsheim „Hermannsheim“ an die Seite gestellt wurde⁸. In Heidelberg eröffnete August Homburger, Professor an der Psychiatrischen Universitätsklinik, 1917 eine heilpädagogische Beratungsstelle, die er mit der von ihm geleiteten Poliklinik verband. In einem Kinderheim konnte er einen Teil seiner Patienten stationär beobachten.⁹ Während der Weimarer Republik kam es zu weiteren Gründungen kinder- und jugendpsychiatrischer Einrichtungen in Tübingen¹⁰, Berlin¹¹, Bonn¹², Hamburg¹³, Leipzig¹⁴ oder München¹⁵.

 Frank Köhnlein. Zwischen therapeutischer Innovation und sozialer Selektion. Die Entstehung der „Kinderabteilung der Nervenklinik“ in Tübingen unter Robert Gaupp und ihre Entwicklung bis 1930 als Beitrag zur Frühgeschichte universitärer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland. Neuried: ars una, 2001, 38 – 39.  Köhnlein, Innovation, 39.  Köhnlein, Innovation, 40.  Ekkehardt Kumbier, Kathleen Haack, Sabine Herpertz. Überlegungen zum Wirken des Neuropsychiaters Gabriel Anton (1858 – 1933). Der Nervenarzt 76 (2005): 1132– 1140, hier 1139.  Matron, Jugendfürsorge, Kap. 2.3.3.  Manfred Müller-Küppers. Aufbau, Funktion und Arbeitsergebnisse (für das Jahr 1961) einer kinderpsychiatrischen Abteilung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 11 (1962): 167– 171, hier 167.  Köhnlein, Innovation.  Michael Gregor Kölch. Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin 1920 – 1935. Die Diagnose „Psychopathie“ im Spannungsfeld von Psychiatrie, Individualpsychologie und Politik. Diss. med. Freie Universität Berlin 2002. Berlin: 2006, Kap. III.3, URL: http://www.diss.fuberlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000002422 (05.08. 2018).; Petra Fuchs,Wolfgang Rose, Thomas Beddies. Heilen und Erziehen: Die Kinderbeobachtungsstation an der Psychiatrischen

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In der nicht kriegsteilnehmenden Schweiz entstanden ebenfalls in den 1920er und 1930er Jahren kinderpsychiatrische und heilpädagogische Einrichtungen, so 1921 in Zürich¹⁶, 1929 in Solothurn, genauer Wangen bei Olten¹⁷ und 1937 in Biberist¹⁸. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs führten erneut zu Gründungen, und diese in stetig steigender Zahl: 1946 wurde an der Marburger Nervenklinik eine Kinderstation eingerichtet¹⁹, 1949 folgte die Eröffnung der Bremer Kinderbeobachtungsstation²⁰ und der Würzburger „Station Czerny“²¹, 1950 erhielt in Frankfurt die Universitäts-Nervenklinik eine Kinderpsychiatrische Abteilung ²², 1951 entstand in Wien ein „Therapieheim“²³, 1952 wurde in Essen eine Beobachtungs-

und Nervenklinik der Charité. In Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne, hg. von Volker Hess, Heinz-Peter Schmiedebach.Wien, Köln,Weimar: Böhlau, 2012, 11– 148.  Linda Orth. Die Transportkinder aus Bonn. „Kindereuthanasie“. Köln: Rheinland-Verlag, 1989, 9 – 19; Silke Fehlemann, Frank Sparing. Gestörte Kindheiten. Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen in psychiatrischen Einrichtungen des Landschaftsverbandes Rheinland (1945 – 1975). Berlin: Metropol, 2017, 21.  Köhnlein, Innovation, 41.  Köhnlein, Innovation, 41.  Die klinische Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bayern. Entwicklungen – Gegenwart – Perspektiven. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dr. Martin Linder, hg. von Christian A. Rexroth. Göttingen: V&R unipress, 2011, 41, 66 – 67; Renate Jutz. Die Heckscher-Klinik von 1929 bis 1989. Geschichte, Menschen, Schicksale. 60 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bayern. München: 1989.  1921 Eröffnung der Beobachtungsstation Stephansburg am Burghölzli in Zürich. Vgl. Susanna Zürrer-Simmen. Wege zu einer Kinderpsychiatrie in Zürich. Dietikon: Juris, 1994.  Elisabeth Schaffner-Hänny. Wo Europas Kinderpsychiatrie zur Welt kam. Anfänge und Entwicklungen in der Region Jurasüdfuss (Aargau, Solothurn, Bern, Freiburg, Neuenburg). Dietikon: Juris, 1997, 59.  Ruth Ranft. Aus der psychotherapeutischen und heilpädagogischen Arbeit einer Kinderbeobachtungsstation in der Schweiz. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2 (1953): 233 – 235.  Daraus ging 1958 die neue kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung der UniversitätsNervenklinik hervor. Vgl. Hermann Stutte. Die Kinder- und Jugendpsychiatrische Station an der Philipps-Universität zu Marburg a. d. L. Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und ihre Grenzgebiete 2 (1960): 194– 202, hier 194. Bei Keim findet sich 1947 als Jahr der Gründung dieser Abteilung: Ingeborg M. Keim. Die institutionelle Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hessen ab 1900. Frankfurt/Main: Mabuse-Verlag, 1999, 73.  Gerda Engelbracht. Von der Nervenklinik zum Zentralkrankenhaus Bremen-Ost. Bremer Psychiatriegeschichte 1945 – 1977. Bremen: Edition Temmen, 2004, 134.  Gerhardt Nissen. Psychisch gestörte Kinder und Jugendliche gestern und heute. Persönliche Erinnerungen aus 60 Jahren. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2009, 228.  Keim, Entwicklung, 73.  Walter Spiel. 25 Jahre Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters in Wien (1951– 1976). Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 5:1 (1977): Beilage, 3.

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station an der Städtischen Kinderklinik²⁴ eröffnet, weitere folgten.Während in der Bundesrepublik Deutschland die meisten Kinder(beobachtungs)stationen an psychiatrische Einrichtungen angegliedert wurden (Ausnahmen Essen und Stuttgart), bestanden in Österreich und in der Schweiz engere Verbindungen zu Pädiatrie und Heilpädagogik. In Wien gab es beides, eine – die ältere, schon genannte – heilpädagogische Abteilung an der Kinderklinik²⁵ und ab 1951 eine an der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik²⁶.

1.2 Beobachtungsstationen Wie bereits erwähnt, dienten diese speziellen Stationen der Beobachtung, Testung, Begutachtung und zunehmend auch der Therapie. Ihre Einrichtung galt als Fortschritt und wurde von den Jugendämtern sehr begrüßt.²⁷ Denn dadurch ergab sich die vorher nicht oder nur selten gegebene Möglichkeit oder Hoffnung, auffällige Kinder und Jugendliche durch medizinische Experten und Expertinnen „sichten“ und „klassifizieren“ zu lassen, um den zukünftigen Aufenthaltsort adäquater bestimmen zu können. Die Leitung der Stationen lag in den Händen von Psychiatern und Psychiaterinnen, Pädiatern und Pädiaterinnen oder/und Heilpädagoginnen und -pädagogen. Zum weiteren Personal konnten Psychologinnen bzw. Psychologen gehören, daneben die sog. „Psychagogen“, die späteren Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -therapeutinnen. Dazu kamen in größerer Zahl Erzieherinnen bzw. später Heilpädagoginnen und -pädagogen sowie teilweise Krankenschwestern für die eigentliche und alltägliche Beobachtung und Beschäftigung der Kinder. Mitunter sind auch Fürsorgerinnen, die späteren Sozialarbeiterinnen, erwähnt. Für die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen wurde in den meisten Fällen eine

 Karl Heinz Bleckmann. Über die Arbeit einer klinischen Beobachtungsabteilung für erziehungsschwierige Kinder. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 5 (1956): 8 – 11, hier 8.  Erwin Lazar. Die heilpädagogische Abteilung der Kinderklinik in Wien. Zeitschrift für Kinderforschung 28 (1923): 161– 174.  Spiel, 25 Jahre, 8.  So hatte beispielsweise die Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus, ein großer diakonischer Heimträger in Württemberg, 1959 der Forderung ihres 1953 eingestellten „Anstaltsarztes“ Rechnung getragen und eine kleine Beobachtungsstation für Kinder eingerichtet, bei denen nicht klar war, für welches Heim sie sich eigneten. Die Einstellung eines Arztes (sowie weiterer Akademiker) und Einrichtung der Beobachtungsstation können für die Heimgeschichte als innovativ gewertet werden. Vgl. Sylvelyn Hähner-Rombach. „Es ist jetzt das erste Mal, dass ich darüber rede…“. Zur Heimgeschichte der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus und der Haus am Berg gGmbH 1945 – 1970. Frankfurt/Main: Mabuse-Verlag, 2013, 85 – 86, 90 – 91.

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Schule (d. h. Anstellung von Lehrerinnen und Lehrern, die in eigens geschaffenen Unterrichtsräumen tätig waren) mit verschiedenen Bildungsstufen eingerichtet. Aus dieser Bandbreite unterschiedlicher Professionen wird deutlich, dass es sich bei den Kinderbeobachtungsstationen um einen hochspezialisierten Raum handelte. Die Aufzählung des Personals erweckt vielleicht den Eindruck, dass diese Stationen sehr groß gewesen waren, das Gegenteil ist der Fall. Die Aufnahmekapazität bewegte sich für den Untersuchungszeitraum in der Regel zwischen vier und knapp 30 Betten, in Ausnahmen möglicherweise auch mehr.²⁸

1.3 Die Innsbrucker Einrichtung Der offizielle Name der Beobachtungsstation in Innsbruck lautete „Kinderstation des A. Ö.²⁹ Landeskrankenhauses“. Sie wurde im Juli 1954 von der Tiroler Landesregierung gegründet.³⁰ Es gab jedoch, wie erwähnt, bereits kurz nach Kriegsende ein eigenes Kinder(beobachtungs)zimmer an der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik, in dem die spätere Leiterin der Kinderstation, die Psychiaterin und Heilpädagogin Maria (Nowak)-Vogl³¹ schon seit 1947 zunächst als Gastärztin, ab 1949 als Hilfsärztin tätig war³².³³ Die Abtrennung der Station von der Nervenklinik mit der formellen Gründung 1954 wurde von der Klinik kritisiert,

 So ist für die Bonner Einrichtung von 60 Betten die Rede; ob diese allerdings alle der eigentlichen Beobachtungsstation zuzurechnen sind, ist ungewiss. Vgl. Orth, Transportkinder, 10.  A. Ö. = Allgemeinen-Öffentlichen.  Vgl. Michaela Ralser. Psychiatrisierte Kindheit – Expansive Kulturen der Krankheit. Machtvolle Allianzen zwischen Psychiatrie und Fürsorgeerziehung. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25 (2014): 128 – 155, hier 143.  Maria Vogl trug nach ihrer Eheschließung den Familiennamen Nowak-Vogl.  Vgl. Michaela Ralser. Die Kinderbeobachtungsstation (1954– 1987) der Maria Nowak-Vogl und deren Stellung im Fürsorgeerziehungssystem des Landes Tirol. In Bericht der medizinhistorischen ExpertInnenkommission: Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl. Innsbruck: 2013, 28 – 40, hier 33, URL: https://www.i-med.ac.at/pr/presse/2013/Bericht-MedizinHistorische-ExpertInnenkommission_2013.pdf (05.08. 2018).  Zur Vorgeschichte der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation siehe Friedrich Stepanek. Die Anfänge der Kinderpsychiatrie in Innsbruck (erscheint 2016). Ich danke Friedrich Stepanek für die Einsicht in seine Arbeit ganz herzlich. [Erschienen als: Friedrich Stepanek. Die Vor- und Frühgeschichte der Kinderpsychiatrischen Beobachtungsstation in Innsbruck (1941– 1954). In Schlussbericht des Forschungsprojekts: Studie betreffend die Kinderbeobachtungsstation der Maria Nowak-Vogl – interdisziplinäre Zugänge, hg. von Elisabeth Dietrich-Daum, Michaela Ralser, Dirk Rupnow, Innsbruck: 2017, 76 – 102, URL: https://www.uibk.ac.at/iezw/forschungen-zur-kinderbe obachtungsstation/dokumente/studie-kinderbeobachtungsstation-nowak-vogl-2017.pdf (05.08. 2018).]

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weil ihr dadurch Personal und „eine wichtige Sparte, die Kinder-Psychiatrie verloren“ ging.³⁴ Da mit Ausnahme der vollständigen Überlieferung der Krankenakten kaum Schriftgut zur Station vorliegt, ist über ihre eigentliche Entwicklung wenig bekannt. 1954 waren neben der Ärztin Maria Vogl eine Erzieherin ganztätig sowie eine weitere halbtätig und eine Lehrerin angestellt.³⁵ In einer Patientenakte von 1953 ist die Rede von sieben Betten.³⁶ Mit dem Umzug der Station 1954 in eine Villa in der Sonnenstr. 44 ging eine Erhöhung auf 21 Plätze einher, es wurden zwei Gruppen für Jungen und eine für Mädchen eingerichtet.³⁷ 1978 kam es zum zweiten Umzug, der zu einer Aufstockung der Plätze auf 28 führte. Damit gehörte die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation zu den größeren ihrer Art. So wurde beispielsweise die der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik Wien 1953 auf 12 Betten vergrößert.³⁸ Der Innsbrucker Station war eine Erziehungsberatungsstelle bzw. Ambulanz³⁹ angeschlossen, die in einigen Fällen die erste Anlaufstelle für besorgte Eltern war und aus der sich mitunter stationäre Aufnahmen ergaben. Spätestens ab 1958 war ein Psychologe, Dr. Höllebauer, tätig. Die Zahl der Erzieherinnen stieg an⁴⁰, auch kam es schon vor 1961 zur Einstellung einer zweiten Lehrerin an der stationseigenen Schule, da zwei Klassen eingerichtet wurden.⁴¹ Die Station war bis 1979 eigenständig, dann wurde sie wieder in die Universitätsklinik eingegliedert. Maria Nowak-Vogl war dort bis zu ihrer Pensionierung 1987 tätig.⁴²

 Sitzung der Primärärzte des Innsbrucker Allgemeinen Krankenhauses am 13.12.54. Universitätsarchiv Innsbruck, Med. Fakultät, Psychiatrische Kinderstation Sonnenstrasse 44.  Vgl. Denkschrift. Entwicklung der kinderpsychiatrischen Station an der Nervenklinik. Von Maria Vogl. 2. Dez. 1954. Universitätsarchiv Innsbruck, Med. Fakultät, Psychiatrische Kinderstation Sonnenstrasse 44.  Tiroler Landesarchiv, Krankenaktenbestand Kinderpsychiatrie, TLA-Zahl 2300.  Vgl. Maria Vogl. Die Kinderpsychiatrische Station des Innsbrucker Krankenhauses. Heilpädagogik. Beiblatt der Zeitschrift „Erziehung und Unterricht“ (1961), 38 – 40, hier 38.  Vgl. Spiel, 25 Jahre, 3.  Vgl. Denkschrift.  So ist 1961 bei der Erwähnung von drei Gruppen die Rede davon, dass jede Gruppe eine eigene Erzieherin hat; das macht also mindestens drei Erzieherinnen aus. Vgl. Vogl, Station, 38.  Vgl. Vogl, Station, 38.  Zur Person Maria Nowak-Vogl und ihren Funktionen in der Fürsorgeerziehung siehe Ralser, Kinderbeobachtungsstation, 28 – 40 und Michaela Ralser. Maria Nowak-Vogl und ihre akademische Stellung zwischen Medizin und Heilpädagogik. In Bericht der Medizin-Historischen ExpertInnenkommission: Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl. Innsbruck: 2013, 41– 49, URL: https://www.i-med.ac.at/pr/presse/2013/Bericht-Medizin-Historische-ExpertIn nenkommission_2013.pdf (05.08. 2018).

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1.4 Das Untersuchungssample Zwischen 1949 und 1989 waren insgesamt rund 3.600 Kinder und Jugendliche auf der Station untergebracht.⁴³ Aus diesem Gesamtbestand wurden 10 Prozent nach Zufallszahlen ermittelt⁴⁴, das Untersuchungssample umfasst 362 Akten. Diese stammten zu 37,6 Prozent von weiblichen, zu 62,4 Prozent von männlichen Patienten⁴⁵. Unter den 362 Aufnahmen finden sich auch Mehrfachaufnahmen, und zwar in knapp 12,2 Prozent der Fälle. Dabei handelt es sich meist um Zweitaufnahmen, teils erfolgten diese im selben Jahr, meist in den Folgejahren, es gab aber auch Fälle von mehr als zwei Wiederaufnahmen. Die Kinder und Jugendlichen kamen zum großen Teil aus Tirol, es finden sich aber auch welche aus anderen österreichischen Bundesländern, vereinzelt aus Südtirol und selten aus Deutschland. Das Alter bei Aufnahme deckte bei den Jungen den Zeitraum zwischen sechs und 18 Jahren, bei den Mädchen zwischen den sieben und 18 Jahren ab. Die Verteilung der Altersgruppen sah wie folgt aus: Tab. 1: Verteilung der Alterskohorten nach Geschlecht zwischen 1949 und 1989 Alterskohorte

Jungen

Mädchen

 –  J.

 (, %)

 (, %)

 –  J.

 (, %)

 (, %)

 –  J.

 (, %)

 (, %)

 J. und älter

 (, %)

 (, %)

Summe





Quelle: Eigene Berechnungen

Man sieht, dass prozentual mehr Jungen in jungem und jüngerem Alter aufgenommen wurden als Mädchen. Die Jungen überwiegen in den Alterskohorten 1– 6 und 7– 11 Jahre, die Mädchen in den beiden letzten Kohorten. Das könnte darauf  Der Bestand umfasst tatsächlich 3.654 Akten, die bis zum Aufnahmejahr 1994 reichen. Da meine Untersuchung mit dem Jahr 1989 endet, habe ich die Akten ab 1990 (45 Akten) aus der Gesamtzahl der Akten herausgerechnet, außerdem fehlen drei Akten; so kommt man auf 3.606 Akten Gesamtbestand bis 1989.  Vgl. dazu Matthias Buchholz. Archivische Überlieferungsbildung im Spiegel von Bewertungsdiskussion und Repräsentativität. 2. überarb. Aufl. Köln: sh-Verlag, 2011, 278 ff.  Die Geschlechterverteilung beim Gesamtbestand der Akten bis 1989 lag bei 62,9 Prozent Jungen und 37,1 Prozent Mädchen.

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hinweisen, dass man den Jungen schon in jüngerem Alter den durchaus auch längeren Aufenthalt in einer klinischen Station „zumutete“ bzw. dass sie schon in frühen Altersphasen als problemhaft wahrgenommen wurden. Dass die Mädchen in den letzten beiden Kohorten prozentual überwogen, mag auch mit dem Eintreten der Menstruation zusammenhängen, die durch ungewollte Schwangerschaften beispielsweise als Zeit der Gefährdung junger Frauen galt. Aufschlussreich ist auch der Blick auf das durchschnittliche Alter im Lauf der Jahrzehnte: Tab. 2: Durchschnittsalter gesamt und nach Geschlecht im Lauf der Jahrzehnte Zeitraum

Durchschnittsalter gesamt

Durchschnittsalter Jungen

Durchschnittsalter Mädchen

 – 

,

,



 – 

,

,

,

 – 

,

,

,

 – 

,

,

,

Quelle: Eigene Berechnungen

Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Aufnahme auf die Station stieg insgesamt mit einem auffallenden Sprung in der letzten Dekade, in der die Kinder im Durchschnitt über zwei Jahre älter waren als im Jahrzehnt zuvor. Außerdem lag das Durchschnittsalter der Jungen immer unter dem der Mädchen. Die Aufenthaltsdauer variierte, wie bereits erwähnt, zwischen einem und, als extremster Wert, 414 Tagen, eine genauere Aufschlüsselung folgt im dritten Kapitel. Die Mehrheit der Kinder muss den Unterschichten zugerechnet werden. Sehr viele von ihnen waren unehelich geboren und unterstanden demzufolge der Vormundschaft des Jugendamtes, kamen aus unvollständigen oder zerrütteten Familien, waren im Heim oder auf Pflegeplätzen untergebracht. Dementsprechend hoch war hier der Anteil derer, die der Station vom Jugendamt zugewiesen wurden.

1.5 Erkenntnisinteresse Der Aufenthalt in einer Beobachtungsstation konnte für die Kinder und Jugendlichen weitreichende Folgen haben. Für einige ging es um die Frage, ob sie aus der Familie oder der Pflegefamilie herausgenommen werden sollten und in ein Er-

118

Sylvelyn Hähner-Rombach

ziehungsheim kamen. Letzteres bedeutete für die Betroffenen nicht nur lebenslange Stigmatisierung, sondern auch eingeschränkte Förderung in ihrer individuellen Entwicklung und in vielen Fällen leidvolle Erfahrungen.⁴⁶ Für andere sollte die Frage beantwortet werden, ob bei ihnen überhaupt Erziehungsfähigkeit, bei anderen, ob Hilfsschulfähigkeit vorliege. Die Begutachtung am Ende des Aufenthaltes konnte für die Kinder und Jugendlichen gravierende Folgen haben. Davon ausgehend scheint die Länge des jeweiligen Beobachtungszeitraums nicht unbedeutend, wenn man voraussetzt, dass sie in Beziehung zu einer genaueren Kenntnis der Betroffenen steht. Denkbar ist aber umgekehrt auch, dass ein „zu langer“ Aufenthalt kontraproduktiv sein konnte, beispielsweise bei Kindern, die es nicht gewohnt waren, in einer Gruppe mit strengen Tagesabläufen und Regeln zu leben, und die sich entsprechend daran rieben, was zu einer negativeren Beurteilung führte. Aus diesen Gründen scheint eine genauere Untersuchung der Aufenthaltszeiträume und damit der „Taktungen“ aufschlussreich. Die Differenzierung soll neben dem Alter und dem Geschlecht der Kinder auch den Initiator bzw. die Initiatorin der Zuweisung berücksichtigen sowie danach fragen, ob und welche Therapien zur Anwendung kamen oder ob die Betreffenden nur beobachtet wurden. Schließlich soll auch der Frage nachgegangen werden, wohin die Kinder und Jugendlichen nach der Beobachtung und Begutachtung kamen.

2 Beobachtungspraxis Die Dauer und Intensität der Beobachtung hing von externen und internen Maßgaben und Voraussetzungen ab.

2.1 Externe Bedingungen Die externen Bedingungen wurden vor allem von den Kostenträgern bestimmt, denn der Aufenthalt in der Station musste bezahlt werden. Kostenträger konnten Eltern, Krankenkassen, Jugendämter oder Gerichte sein. So gehörte ein Heimkind, das auf die Station gebracht wurde, keiner Krankenversicherung an, und blieb (dementsprechend) nur eine Woche dort. Eltern, die kostenpflichtig waren, hatten ein Interesse an einem möglichst kurzen Aufenthalt, wenn ihre finanziellen Mittel

 Das haben die seit Anfang der 2000er Jahre veröffentlichten Untersuchungen von Heimgeschichten unterschiedlicher Träger eindrücklich gezeigt sowie die Ergebnisse des „Runden Tisch Heimerziehung“. Eine Auflistung der zahlreichen Arbeiten würde hier zu weit führen.

Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen

119

begrenzt waren. Bei den Krankenkassen mussten Verlängerungsanträge gestellt, begründet und bewilligt werden. Hauptargument dafür waren erste therapeutische Erfolge, die stabilisiert werden sollten. Bei Jugendämtern und Gerichten kann man ebenfalls davon ausgehen, dass sie aus Kostengründen für eine kurze Aufenthaltsdauer votierten. So wollte ein Bezirksgericht 1960 wissen, ob Erziehbarkeit überhaupt gegeben sei, weil nach einem Jahr Heimaufenthalt noch keine Erziehungserfolge sichtbar seien, und erwartete eine kurze Beobachtungszeit auf der Station.⁴⁷ Die Feststellung von Notwendigkeit bzw. „Erfolg“ von Heimerziehung war öfter das Anliegen von Jugendämtern, die in solchen Fällen meistens voraussetzten, dass diese Frage schnell geklärt werden könnte. Bei in ihren Augen aussichtlosen Fällen, wie (schwerer) Debilität, gingen sie fast immer von noch kürzeren Beobachtungsperioden aus. Daneben waren auch die Eltern in der Lage, die externen Bedingungen zu beeinflussen, wenn sie zum Beispiel gegen die vom Jugendamt verfügte Einweisung waren, und das Amt sich bemüßigt sah, die Geduld der Eltern nicht zu sehr zu strapazieren, oder wenn die Eltern mehrfach auf der Station auftauchten und die Entlassung ihres Kindes beschleunigen wollten. Auch das Gegenteil konnte der Fall sein, wenn die Mutter oder die Eltern ihr Kind nicht abholen wollten bzw. eine Verlängerung erbaten, weil sie sich (momentan) außerstande sahen, das Kind zuhause zu beaufsichtigen, oder wenn es eine Zeit zu überbrücken galt, bis das Kind an anderer Stelle untergebracht werden konnte. In manchen Fällen drängten Eltern und Pflegeeltern auf Entlassung, weil sie das Kind im Haushalt oder in der Landwirtschaft zur Mithilfe brauchten. Wenn für ein Kind überraschend schnell ein Pflegeplatz gefunden werden konnte, führte auch dies zu einer früheren Entlassung.

2.2 Interne Bedingungen Zu den internen Bedingungen gehörte in erster Linie die räumliche Kapazität: Die Bettenzahl war begrenzt und meist gab es Wartelisten. Die Dringlichkeit letzterer konnte zu einer früheren Entlassung führen, als geplant war. Manchmal wurden Kinder auch einfach „ausgetauscht“, wenn ein Heim schnell ein Kind einweisen lassen wollte und dafür ein anderes vorzeitig zurücknahm. In ganz akuten Fällen wurden mitunter Kinder, für die es kein Bett auf der Station gab, nachts auf die Erwachsenen-Psychiatrie gelegt. Tagsüber waren sie dann mit den anderen Kindern zusammen und wurden beobachtet, untersucht und gegebenenfalls therapiert. Wenn die ärztliche Leitung zu der Ansicht kam, dass die Möglichkeit, eine

 Tiroler Landesarchiv, Krankenaktenbestand Kinderpsychiatrie, TLA-Zahl 0560.

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Sylvelyn Hähner-Rombach

Veränderung im Verhalten eines Kindes auf der Station herbeizuführen, aussichtslos war, wurde es (früher) entlassen. Konnte eine (medikamentöse) Therapie auch außerhalb der Station – also im Heim oder zuhause – weitergeführt werden, kam es ggf. ebenfalls zu einer frühen Entlassung. Zur räumlichen kam die personelle Kapazität. Das begann hinsichtlich der Therapie und Begutachtung mit der Anzahl und Qualifizierung des ärztlichen Personals und des Einsatzes von Psychologinnen bzw. Psychologen. Die Anzahl der Erzieherinnen bzw. Heilpädagoginnen hatte ebenfalls Auswirkungen, und zwar besonders auf die Intensität der Beobachtungen und auf die Zeit, die für die einzelnen Kinder und Jugendlichen zur Verfügung stand. Ein paar Kinder und Jugendliche wurden vorzeitig ins Erziehungsheim zurückgeschickt, weil sie auf der Station „nicht tragbar“ waren. Das bedeutete, dass sie die Gruppe und/oder die Erzieherinnen über Gebühr beanspruchten oder im Rahmen der Station nicht diszipliniert werden konnten. So heißt es bei einem 13jährigen Jungen im Jahr 1957: „Sein augenblicklicher Aufenthalt auf der Kinderstation ist deshalb nicht mehr möglich, da er an so schwere disziplinäre Maßnahmen gewöhnt ist, wie sie bei uns im Interesse der übrigen Kinder nicht verwendet werden können.“⁴⁸ Die Aufnahmezahlen veränderten sich im Lauf des Untersuchungszeitraums, deshalb soll kurz ein Blick auf die Verteilung der Aufnahmen nach Dekaden geworfen werden: Tab. 3: Verteilung der Aufnahmen nach Dekaden Dekade

Aufnahmen im Sample

 – 



 – 



 – 



 – 



Summe



Quelle: Eigene Berechnungen

Hier wird deutlich, dass in der letzten untersuchten Dekade die Zahl der Aufnahmen insgesamt rapide zurückging, diese Entwicklung aber schon im Jahrzehnt zuvor begann. Das weist darauf hin, dass es in oder ab diesem Zeitraum

 Tiroler Landesarchiv, Krankenaktenbestand Kinderpsychiatrie, TLA-Zahl 1705.

Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen

121

mehr institutionelle und therapeutische Alternativen zu einer Einweisung auf die Station gab.

2.3 Einflüsse bei der Begutachtung In den Krankenakten findet sich neben der ärztlichen Meinung eine Vielzahl von Stimmen bzw. Stichwortgeberinnen.⁴⁹ Außerdem wurde eine unterschiedlich zusammengesetzte Gruppe Außenstehender befragt, vor allem, wenn es um die Anamnese ging. Dazu zählten Vater, Mutter, Pflege- oder Adoptiveltern, Vormünder, sonstige Familienangehörige, Verlobte von Familienangehörigen, Fürsorgeschwestern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendämtern, SOS-Kinderdörfern und Heimen, Lehrer und Lehrerinnen, Schuldirektoren, Pfarrer, niedergelassene Haus- und Fachärzte und -ärztinnen, Kliniker und Klinikerinnen. Während des Aufenthaltes auf der Station kamen die Beobachtungen der Ärztinnen und Ärzte, der Psychologinnen und Psychologen, der Erzieherinnen, der Lehrerinnen, der Nachtschwestern, konsultierender Ärzte und Ärztinnen hinzu. Auf der Innsbrucker Station fertigten die Erzieherinnen kurze Beobachtungsprotokolle an, die auf besonderen Formblättern handschriftlich festgehalten wurden, von den Lehrerinnen stammen kurze formlose Zusammenfassungen der Beobachtung und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Die vorläufige und die abschließende Beurteilung stammen in der Regel von der ärztlichen Leiterin, in Ausnahmen von dem angestellten Psychologen. In den Einträgen im Verlauf des Aufenthaltes finden sich  Zu Krankenakten gibt es mittlerweile eine Reihe von Arbeiten, die sich mit den Besonderheiten dieser Quellenart differenziert auseinandergesetzt haben. In Auswahl: Max Gawlich. Tabellen, Kurven, Schicks. Somatische Therapien und ihre Aufschreibesysteme. In Das psychiatrische Aufschreibesystem, hg. von Cornelius Borck, Armin Schäfer. Paderborn: Wilhelm Fink, 2015, 77– 91; Petra Fuchs und Wolfgang Rose. „Unter Wahrung der gegenseitigen Kompetenzen“. Pädagogische Betrachtungen in den Krankenakten der psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation an der Charité (1921– 1933). In Das psychiatrische Aufschreibesystem, 135– 152; Sophie Ledebur. Schreiben und beschreiben. Zur epistemischen Funktion von psychiatrischen Krankenakten, ihrer Archivierung und deren Übersetzung in Fallgeschichten. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011): 102– 124. Sophie Ledebur. Krankenakten. In Sachunterricht. Fundstücke aus der Wissenschaftsgeschichte, hg. von Thomas Brandstetter, Dirk Rupnow, Christina Wessely. Wien: Löcker, 2008, 140 – 145; Volker Hess, Sophie Ledebur. Taking and Keeping: A Note on the Emergence und Function of Hospital Patient Records. Journal of the Society of Archivists 32:1 (2011): 21– 33; Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Sybille Brändli, Barbara Lüthi, Georg Spuhler. Frankfurt/Main, New York: campus, 2009; Martina Wernli. Schreiben am Rand. Die „Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau“ und ihre Narrative (1895 – 1936). Bielefeld: transcript, 2014.

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Sylvelyn Hähner-Rombach

neben den ärztlichen Äußerungen vereinzelt Bemerkungen des Erziehungspersonals. In den abschließenden Gutachten tauchen öfter Beobachtungen der Erzieherinnen und Lehrerinnen auf, die wesentlich mehr Zeit mit den Kindern und Jugendlichen verbrachten als das ärztliche Personal. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Einschätzungen des Erziehungspersonals von dem des ärztlichen abweichen.

3 Routinen der Begutachtung Im Folgenden geht es um die Aufenthaltsdauern der Kinder und Jugendlichen, die im Zusammenhang mit anderen Parametern (Geschlecht, Alter, Diagnose, Therapien, Initiator der Zuweisung und Entlassungsort) untersucht werden sollen.

3.1 Aufenthaltsdauer Hier soll es darum gehen, die Dauer des Aufenthalts auf der Station mit anderen Einflussgrößen in Verbindung zu setzen. Die durchschnittlich verbrachte Zeit beim ersten Aufenthalt lag für beide Geschlechter zusammen bei rund 61,8 Tagen. Die Verteilung nach bestimmten Zeiträumen sah folgendermaßen aus: Tab. 4: Verteilung der Aufenthaltsdauer zwischen 1949 und 1989 nach festgelegten Zeiträumen Zeitraum

absolute Zahl

Prozent

unter  Tage





 –  Tage



,

 –  Tage



,

mehr als  Tage



,

Summe





Quelle: Eigene Berechnungen

Die größte Gruppe war 51 bis 100 Tage auf der Station (42,6 Prozent), dicht gefolgt von derjenigen, die 10 bis 50 Tage dort war (39,2 Prozent). Aufenthalte von mehr als 100 Tagen kamen bei 10,2 Prozent der Kinder und Jugendlichen vor, unter 10 Tagen waren es rund 8 Prozent der Patientinnen und Patienten. Da die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hier nicht auffallend variieren, wurde auf eine tabellarische Übersicht verzichtet.

Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen

123

Zuletzt soll noch ein Blick auf die Entwicklung der durchschnittlichen Dauer der Aufenthalte im Lauf der Jahrzehnte gerichtet werden. Tab. 5: Durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Verlauf der Jahrzehnte gesamt Zeitraum

Durchschnitt

 – 

, Tage

 – 

, Tage

 – 

 Tage

 – 

, Tage

Quelle: Eigene Berechnungen

Die durchschnittliche Dauer des Aufenthaltes nimmt zu. Die Steigerungen sind vor allem in zwei Dekaden auffallend, in den 1960er Jahren, noch mehr in den 1970er Jahren. Dies korreliert mit den gesunkenen Aufnahmen auf die Station aus Tabelle 3 in diesen Zeiträumen und weist darauf hin, dass weniger Aufnahmen zu längeren Verweildauern führen konnten, weil der Druck, schnell wieder Platz zu schaffen, nachgelassen hatte. Die Zunahme im letzten Jahrzehnt der Untersuchung zum vorherigen ist mit 2,3 Tagen gering. Das wiederum deutet darauf hin, dass sich das Wachstum langer stationärer Aufenthalte seinem Ende näherte. Als nächstes soll der Zusammenhang zwischen Alter und Aufenthaltsdauer nach Geschlechtern getrennt interessieren. Dazu wurden die Alterskohorten der Kinder und Jugendlichen aus Tabelle 1 übernommen und die Aufenthaltstage in fünf Gruppen unterteilt: Tab. 6: Altersverteilung und Aufenthaltsdauer bei den Jungen in Prozent Altersgruppe

unter  Tage

 –  Tage

 –  Tage

mehr als  Tage

bis  Jahre

,

,

,

,

 –  Jahr

,



,



 –  Jahre

,



,



 –  Jahre

,

,





Summe

,

,

,

,

Quelle: Eigene Berechnungen

124

Sylvelyn Hähner-Rombach

Tab. 7: Altersverteilung und Aufenthaltsdauer bei Mädchen in Prozent Altersgruppe

unter  Tage

 –  Tage

 –  Tage

mehr als  Tage

bis  Jahre



,

,



 –  Jahr

,

,

,

,

 –  Jahre



,

,

,

 –  Jahre



,

,



,

,

,

,

Summe

Quelle: Eigene Berechnungen

Die prozentuale Verteilung der Altersgruppen bei den Aufenthaltsdauern divergiert insgesamt zwischen den Geschlechtern nicht sehr stark. Man sieht aber gleich, dass die Jungen vor allem bei den sehr langen Aufenthalten stärker vertreten sind als die Mädchen. Bei letzteren kommen dagegen etwas häufiger Aufenthaltsdauern von 51– 100 Tagen vor. Die größten Unterschiede finden sich bei den Jungen in der Altersspanne von 7 bis 11 Jahre, bei den Mädchen in der von 12 bis 15 Jahren. Letzteres korreliert damit, dass ihr Durchschnittsalter bei den Aufnahmen höher als das durchschnittliche Alter der Jungen war, wie Tabelle 2 gezeigt hat.

3.2 Diagnose und Aufenthaltsdauer Insgesamt wurden bei 362 Kindern rund 120 Diagnosen angegeben⁵⁰, bei einigen gab es nur eine Nennung, bei vielen finden wir Mehrfachnennungen. Es erschien sinnvoll, bei der Frage des Zusammenhangs von Aufenthaltsdauer und Diagnose vor allem die Gruppen anzuschauen, die besonders kurz (unter 10 Tage) und diejenigen, die besonders lang (mehr als 100 Tage) auf der Station waren. Ein Aufenthalt von unter 10 Tagen kam bei insgesamt 28 Kindern und Jugendlichen, also bei rund 7,7 Prozent des Sample, vor. Bei fünf von diesen spielt die Diagnose keine Rolle, da sie von der Station weggelaufen waren. Zwölf Kinder und Jugendliche waren wegen Debilität, (Verdacht auf) Epilepsie oder (Verdacht

 Eine genaue Zahl anzugeben ist schwierig, weil die Ausdrucksweisen wechseln; sie ist für die Fragestellung aber auch nicht wichtig.

Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen

125

auf) Hirnschaden⁵¹ nur kurz auf der Station. Aus Diagnosen und Einweisungsgründen, die mit mangelnden geistigen Fähigkeiten oder hirnorganischen Auffälligkeiten verknüpft waren, folgten in der Regel ohnehin kürzere Stationsaufenthalte. Drei Kinder und Jugendliche wurden auf Drängen von Familienangehörigen schnell wieder entlassen.⁵² Bei zwei ging es um die Abklärung, welches Heim für sie geeignet wäre, eine Frage, die in der Regel ebenfalls schnell beantwortet werden konnte. Bei den restlichen sechs Kindern und Jugendlichen lagen unterschiedliche Diagnosen und Bedingungen vor.⁵³ Mehr als 100 Tage befanden sich insgesamt 37 Kinder und Jugendliche (rund 10,2 Prozent) auf der Station. Im ersten Untersuchungsjahrzehnt (1949 – 1959) waren es vier, im zweiten (1960 – 1969) neun, im dritten zehn Kinder und Jugendliche. Die meisten, insgesamt 14 Kinder, wurden ab 1980 eingewiesen. Das war auch das Jahrzehnt, in dem die Aufnahmezahlen insgesamt um mehr als die Hälfte zurückgingen, d. h. es gab mehr Kapazitäten. Die Diagnosen dieser Kinder lagen an erster Stelle bei unterschiedlich ausgeformten Erziehungsschwierigkeiten und Schulproblemen (18 Fälle), gefolgt von Bettnässen und/oder Einkoten (10 Fälle) und schwereren psychischen Erkrankungen, wie Depressionen und Schizophrenie (4 Fälle). Die anderen fünf Kinder verteilten sich auf verschiedene Diagnosen.⁵⁴

3.3 Therapien und Aufenthaltsdauer Auf der Station kamen medikamentöse Behandlungen einerseits und Psycho- und andere Therapien andererseits zur Anwendung. Die medikamentöse Behandlung

 Ein Junge mit Verdacht auf Hirnschaden wurde 1957 vom Jugendamt eingewiesen; da das Kind nicht krankenversichert war, kam es schnell wieder zurück ins Heim. Vgl. Tiroler Landesarchiv, Krankenaktenbestand Kinderpsychiatrie, TLA-Zahl 2938.  Ein Mädchen war wegen psychogener Anfälle aufgenommen worden, ein Junge aus gut bürgerlicher Familie wegen Bettnässens und Wutanfällen und einer wegen Problemen in der Schule. Bei letzterem ging die Initiative für die Aufnahme von der Schule aus.  Bei einem Jungen sollte eine Lungenkontrolle durchgeführt werden, bevor er auf einen Pflegeplatz kam, ein anderer wurde wegen Psychoseverdacht auf die Erwachsenenpsychiatrie verlegt, bei einem Jungen, der in einer Pubertätskrise steckte, schien keine erzieherische Besserung möglich, zwei machten nicht den Eindruck, dass die (weitere) Notwendigkeit eines stationären Aufenthalts bestand und bei einem Jungen sollte geklärt werden, warum er immer wieder aus dem Erziehungsheim entwich.  Ein Kind wegen Suizidversuchs, eines wegen Misshandlungen durch die Eltern, eines wegen „reaktiver Verstimmung“, eines wegen „Milieuschädigung“ und eines wegen „Angst- und Trotzneurose“.

126

Sylvelyn Hähner-Rombach

kann unterschieden werden in Psychopharmaka und Arzneimittel, die nicht mit dem Aufnahmegrund in Zusammenhang standen, z. B. Mittel gegen Infektionskrankheiten oder Pilzerkrankungen, außerdem Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel. Im Folgenden stehen nur Psychopharmaka im Fokus. Die Angaben über die Vergabe dieser Medikamente bzw. Wirkstoffe entstammen in der Regel den Fieberkurven.⁵⁵ Medikamentöse Therapien bei Kindern sind prinzipiell problematisch. Die allermeisten Wirkstoffe sind aus ethischen Gründen nicht an Kindern getestet. Bei vielen Wirkstoffen ist zudem nicht bekannt, wie sie sich auf einen in der Entwicklung befindlichen Organismus auswirken. Auch die Dosierung ist ein Problem, weil Kinder eben nicht einfach „kleine Erwachsene“ sind. Diese Schwierigkeiten sind bei Psychopharmaka noch gravierender. Letztere kamen erst in den 1950er Jahren mit der Einführung des Chlorpromazin auf und in der Folge verstärkt zum Einsatz.⁵⁶ Insgesamt erhielten ab dem Jahr 1950 insgesamt 98 Patientinnen und Patienten Psychopharmaka. Das entspricht einem Anteil von 27,1 Prozent des Untersuchungssample. Die Verteilung nach Geschlechtern entspricht ungefähr der Geschlechterverteilung auf der Station, d. h. 61,2 Prozent der Jungen erhielten Psychopharmaka und 38,6 Prozent der Mädchen. Aufschlussreich ist die Verteilung der Psychopharmaka-Gaben auf die vier Jahrzehnte des Untersuchungszeitraums: Tab. 8: Verteilung der Psychopharmaka zwischen 1950 und 1989 Jahrzehnt

Anzahl der Fälle

prozentualer Anteil

 – 



,

 – 



,

 – 



,

 – 



,

Quelle: Eigene Berechnungen

 In Ausnahmefällen tauchten Medikamentengaben nur in den Verlaufsnotizen auf, waren also nicht in den Fieberkurven festgehalten. Das heißt, dass man nicht von Vollständigkeit ausgehen kann. Es gibt aber m. E. nach keinen Grund, dabei von bewusstem Nicht-Dokumentieren auszugehen.  Dazu v. a.Viola Balz. Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka. Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950 – 1980. Bielefeld: transcript, 2010.

Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen

127

Abgesehen vom ersten Untersuchungsjahrzehnt, der Zeitraum, in dem die psychopharmakologische Behandlung erst einsetzte, sind zwei Sprünge zu beobachten: ein sehr großer zu den 1960er Jahren – die Phase, in der die neuen medikamentösen Möglichkeiten zunächst enthusiastisch begrüßt wurden⁵⁷ – und ein etwas geringerer zwischen den 1970er und 1980er Jahren. Letzterer könnte damit zusammenhängen, dass bei insgesamt stark zurückgegangenen Aufnahmen viele schwerere Fälle auf die Station kamen, bei denen dementsprechend öfter Psychopharmaka zum Einsatz kamen. Kinder, die Psychopharmaka erhielten, waren, lässt man einen Fall außen vor, der nur zur Kontrolle kam und deshalb nur vier Tage auf der Station war⁵⁸, durchschnittlich 129 Tage auf der Station im Vergleich zu einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer aller Kinder des Untersuchungssample von 61,8 Tagen. Das heißt, dass die Behandlung mit Psychopharmaka mit einer durchschnittlich gut doppelt so langen Aufenthaltsdauer einherging. Die kürzeren Aufenthalte hatten dabei Kinder, die wegen ihrer Anfallsleiden antiepileptische Medikamente erhielten, und Kinder mit geistigen Behinderungen. Die medikamentöse Behandlung von Bettnässen und Einkoten dauerte schon deutlich länger.⁵⁹ Kinder und Jugendliche mit schweren psychischen Problemen (Psychosen, Schizophrenien) waren am längsten dort, bei ihnen wurde aber auch mit verschiedenen Medikamenten in wechselnden Dosierungen lange nach der richtigen Einstellung gesucht. Die Gabe von Psychopharmaka wurde in 32 Fällen mit verschiedenen Formen der Psychotherapie⁶⁰ kombiniert, auf die jetzt das Augenmerk gerichtet werden soll. Es finden sich bei 116 Patientinnen und Patienten⁶¹ Hinweise auf die Durchführung von Psychotherapie, also 32,3 Prozent des untersuchten Sample. Das bedeutet, dass dieser Anteil höher ist als derjenige der Psychopharmaka-

 Vgl. Balz, Wirkung, 20 – 21, 31.  Tiroler Landesarchiv, Krankenaktenbestand Kinderpsychiatrie, TLA-Zahl 0920.  Die Kinder erhielten ein Depressivum, weil sich – gleichsam als Nebenwirkung – gezeigt hatte, dass nach Gabe des Mittels das Bettnässen besser wurde. Man ging davon aus, dass durch das Medikament „die Schlaftiefe gehoben und der Blasentonus gesenkt“ wurde. Kinder- und Jugendpsychiatrie. Praktische Einführung für Krankenpflege-, pädagogische und soziale Berufe, hg. von Helmut Remschmidt. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 1979, 213.  Unter dem Begriff „Psychotherapie“ wurden folgende Bezeichnungen und Therapien subsumiert: Psychotherapie, Hypnosetherapie und Einzelgespräche, Wachsuggestion (Autogenes Training), Suggestivtherapie, psychotherapeutische Behandlung, Spiel-, Bastel- und Lerntherapie mit Kurzberichten, Sitzungen, die in einem ausführlicheren „Gesprächsprotokoll“ endeten, tiefenpsychologische Therapie, ab 1984 Einzel- und Gruppentherapie, ab 1985/86 Verhaltenstherapie.  Plus einmal „Psychotherapie geplant“, und das 1949.

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Gaben. Die erste Nennung findet sich im Jahr 1953, hier noch unter der Bezeichnung „psychische Beeinflussung“. Die Anzahl der Psychotherapiesitzungen schwankte sehr. Die Einträge in den Fieberkurven, die allerdings nur in den Anfangsjahren bis 1957 erfolgten, wechselten zwischen dem niedrigsten Wert von zwei Sitzungen bis zum maximalen Wert von 56 Sitzungen⁶² während eines Aufenthaltes. Der Schnitt lag bis zum genannten Jahr bei knapp 18 Sitzungen. Psychotherapien trugen in der Regel nicht zur Aufenthaltsverlängerung bei, weil sie in kurzen zeitlichen Abständen durchgeführt wurden. Bei 59 Patientinnen und Patienten wurden sonstige, nicht-medikamentöse Therapien erwähnt, die von dem (heil)pädagogischen Personal durchgeführt wurden, das sind 16,3 Prozent des untersuchten Sample. Darunter fallen v. a. Sprechunterricht, Lerntraining, Spiel, Bastel- und Lesetherapie, motorische und Gleichgewichts-Übungen sowie seit Mitte der 1970er Jahre Beschäftigungs- und Körpertherapie. Diese Maßnahmen kamen sehr oft in Kombination mit Psychound medikamentöser Therapie zur Anwendung. Auch diese Behandlungen erwecken in den Akten nicht den Eindruck, dass sie Einfluss auf die Aufenthaltsdauer der betreffenden Kinder hatten. Einzig die Gabe von Psychopharmaka steht also in einem Zusammenhang mit einer Verlängerung des stationären Aufenthalts.

3.4 Initiatoren der Zuweisung und Aufenthaltsdauer Bei der Frage nach den Initiatoren der Zuweisung waren nicht die einweisenden Ärzte oder überweisenden Kliniken von Interesse, sondern die Akteure, die hinter der Zuweisung standen, die also das größte Interesse an der Aufnahme der Kinder auf die Station hatten bzw. dafür plädierten. Folgende Gruppen konnten als Initiatoren der Zuweisung aus den Krankenakten eruiert werden: Tab. 9: Initiatoren der Zuweisung auf die Station zwischen 1949 und 1989 Initiator Eltern, darunter Anregung durch: Haus-/Nervenärzte Schule Krankenhaus andere*

absolute Zahl

prozentualer Anteil

    

,

 Diese Anzahl war einzigartig; es handelte sich um einen Jungen, der unter starker Enkopresis, also Einkoten, litt.

129

Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen

Tab. : Initiatoren der Zuweisung auf die Station zwischen  und  (Fortsetzung) Initiator

absolute Zahl

prozentualer Anteil

Jugendamt/Gericht



,

Heime



,

Pflegeeltern



,



,





Adoptiveltern Summe

* Dazu gehören: Psychologische Dienste, Erziehungsberatungsstellen, Lehr- und Kolpingheime, Tageseinrichtungen für Kinder. Quelle: Eigene Berechnungen

Die Eltern machten mit 54,1 Prozent die absolute Mehrheit aus. Diese kann man differenzieren nach der Institution, die den Eltern den Rat gab, die Kinder auf die Station zu geben; darunter wurden auch die Krankenhäuser subsumiert, weil auch hier die Eltern mit der Überweisung einverstanden sein mussten. An zweiter Stelle stehen die Ämter und Behörden mit 26,8 Prozent. Im Prinzip könnte man hier die verschiedenen Heimeinrichtungen (Erziehungsheime, Waisenheime, Hilfsschulheime) und die Pflegeeltern mit einrechnen, weil normalerweise die formale Anfrage vom Jugendamt erfolgte. Da jedoch die eigentliche Initiative in diesen Fällen von dem betreffenden Heim oder den Pflegeltern ausging, wurden diese gesondert aufgelistet. Hauptakteure sind also Familienmitglieder und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ämtern und Behörden. Nun soll der Blick darauf gerichtet werden, ob sich ein Zusammenhang zwischen dem Initiator der Zuweisung und der Aufenthaltsdauer feststellen lässt. Tab. 10: Initiator und Aufenthaltsdauer Initiator Familienangehörige (davon mit Haus-/Nervenarzt) davon Schule davon Krankenhaus davon andere Jugendamt/Gericht

unter  Tagen

 –  Tage

 –  Tage

mehr als  Tage

 /   

 /   

 /   

 /   









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Tab. : Initiator und Aufenthaltsdauer (Fortsetzung) Initiator

unter  Tagen

 –  Tage

 –  Tage

mehr als  Tage

Heime









Pflegeeltern









Adoptiveltern

















Summe

Quelle: Eigene Berechnungen

Auffallend ist, dass eine Aufenthaltsdauer von mehr als 100 Tagen am häufigsten auftrat, wenn die Familie die Zuweisung des Kindes in die Station initiiert hatte. In der Gruppe der zweitlängsten Aufenthalte (51– 100 Tage) sind auch Familienangehörige als Initiatoren in der Mehrheit. Das heißt, wenn die Familie aktiv wurde, waren die Kinder und Jugendlichen tendenziell länger auf der Station. Dabei muss man bedenken, dass der Kostenträger in den seltensten Fällen die Familien selbst waren, sondern deren Krankenkassen. In der Rubrik unter 10 Tagen waren die Familien als Gruppe zwar ebenfalls am stärksten vertreten, allerdings müsste man hier eigentlich die Nennungen von Ämtern, Heimen und Pflegeeltern addieren, weil die Ämter in den meisten Fällen die Kostenträger waren und die Heime und Pflegeeltern nicht unabhängig vom jeweiligen Amt agieren konnten. Dann wären die Familienangehörigen in dieser Rubrik nicht mehr in der Mehrheit. Die Differenzierung nach Jugendamt – Heim – Pflegeltern ist insofern aufschlussreich, als bei den Aufenthalten unter 10 Tagen Ämter und Heime den Hauptanteil dieser Dreiergruppe ausmachen, während bei den langen Aufenthalten von mehr als 100 Tagen diejenigen mehr Nennungen aufweisen, die mit den Kindern und Jugendlichen „leben“ mussten, die Heime und Pflegeeltern. Bei Einweisungen durch Ämter und Behörden musste bei der oft fehlenden Krankenversicherung der Kinder und Jugendlichen die öffentliche Hand den Aufenthalt finanzieren. Dadurch lassen sich zumindest teilweise die kürzeren Aufenthaltsdauern erklären.

3.5 Entlassungsorte nach der Begutachtung Die Zuordnung erfolgte nach dem Ort, an den die Kinder und Jugendlichen nach der Entlassung gebracht wurden, auch wenn verabredet war, dass sich die Eltern

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um eine konkret genannte andere Möglichkeit kümmern sollten oder wollten. Denn aus einzelnen Nachträgen kann ersehen werden, dass dieser Empfehlung oder diesem Vorhaben nicht immer gefolgt wurde. Tab. 11: Verbleib der Kinder nach der Entlassung aus der Station zwischen 1949 und 1989 Orte nach Verlassen der Station

absolute Zahl

prozentuale Verteilung



,

Großeltern



,

Onkel/Tante



,

Heim



,

Pflegeeltern



,

Adoptiveltern



,

Entweichungen



,



,



,





Eltern

andere nicht bekannt gesamt

Quelle: Eigene Berechnungen

Die Kinder und Jugendlichen wurden in der absoluten Mehrheit der Fälle (57,4 Prozent) nach Hause entlassen, gefolgt von den Heimen mit 20,2 Prozent, an dritter Stelle stehen die Pflegeltern mit 9,1 Prozent. In 80 Fällen war es zu Abweichungen zwischen dem vorherigen Aufenthalt und dem Entlassungsort gekommen. Das sind 22,1 Prozent, also ein starkes Fünftel des Sample. Das Gros der Abweichungen findet sich in einem Transfer in ein Erziehungsheim oder Heim, meistens von der Ursprungsfamilie, seltener von der Pflegefamilie. Das lag meist im Interesse der Eltern, die sich mit der Erziehung des betreffenden Kindes überfordert fühlten oder sich nicht für den Fortgang ihres Kindes interessierten. Es gab aber auch Fälle, in denen es zu einem Übergang von einem Heim auf einen Pflegeplatz oder zu den Großeltern kam, nämlich dann, wenn „Gruppenerziehung“ den betreffenden Kinder nicht gut tat. Daneben kam es in vereinzelten Fällen zu einer Rückkehr in die Familie bzw. zur Mutter nach einem nicht tauglichen Pflegeplatz, außerdem erfolgten Wechsel in einen anderen Heimtypus (z. B. mit Sonderschulzweig).

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Eine „Überstellung“ von der Station aus in ein Erziehungsheim gegen den Willen der Eltern oder Erziehungsberechtigten erfolgte nur sehr selten.⁶³ Die Entweichungen sind übrigens ein Phänomen, das erst im letzten Drittel des Untersuchungssample auftaucht.

3.6 Beziehung zwischen Geschlecht, Alter, Diagnose, Therapie, Initiator der Zuweisung und der Aufenthaltsdauer Jungen, die im Untersuchungszeitraum mit 62,4 Prozent deutlich überrepräsentiert waren, blieben mit durchschnittlich 63,5 Tagen 4,6 Tage länger auf der Station als Mädchen mit durchschnittlich 58,9 Tagen. Dabei lag nur der prozentuale Anteil der Jungen bei Aufenthaltsdauern von mehr als 100 Tagen über dem der Mädchen. Die vorherrschende Altersgruppe war bei den Jungen die Spanne von sieben bis elf Jahren, bei den Mädchen die von zwölf bis 15 Jahren, also bei beiden Geschlechtern die mittleren Alterskohorten. Dennoch zeigt sich bei den Jungen die Tendenz, in jüngeren Jahren auf die Station zu kommen. Das bedeutet, dass Jungen öfter als Mädchen als verhaltensauffällig wahrgenommen wurden, dies tendenziell bereits in jüngeren Jahren, und dass sie längere Aufenthaltsdauern aufwiesen. Das korreliert mit den Diagnosegruppen, bei denen die Jungen prozentual deutlich überwogen: Erziehungsprobleme, dissoziales Verhalten, Delinquenz, Verwahrlosung und Bettnässen/Einkoten⁶⁴, die mit längeren Aufenthaltsdauern verbunden waren. Darüber hinaus hatten die Diagnosen, wie gezeigt wurde, (auch) geschlechterunabhängig Einfluss auf die Aufenthaltsdauer, wie im Falle der geistigen Einschränkungen und Hirnschädigungen. Lediglich die medikamentösen Therapien mit Psychopharmaka trugen zu einer Verlängerung des Aufenthaltes bei, andere Maßnahmen, wie Autogenes Training oder Psychotherapie scheinen keine Auswirkungen auf die Dauer des stationären Aufenthaltes gehabt zu haben.Von Bedeutung hinsichtlich der Dauer erwies sich, wie erwähnt, auch die Initiatorin bzw. der Initiator der Zuweisung. Ging die Initiative von öffentlichen Einrichtungen (Ämtern) aus, verkürzte dies tendenziell die Aufent-

 Häufiger finden sich in den Akten Hinweise auf den Widerstand von Eltern gegen den amtlichen Beschluss über Fürsorgeerziehung in der Zeit vor dem Aufenthalt auf der Station. Je weiter die Zeit voranschritt, umso mehr nehmen Aussagen von Jugendamtsvertretern zu, die darauf hinweisen, dass man sich nicht ohne weiteres gegen die Wünsche der Eltern stellen wolle.  Diese drei häufigsten Diagnosegruppen tauchten bei 62,4 Prozent der Jungen und bei 44,1 Prozent der Mädchen auf.

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haltsdauer aus Kostengründen, war die Familie aktiv geworden, trug dies eher zur Verlängerung bei. Abgesehen von diesen externen spielten aber auch die inneren Bedingungen der Station eine Rolle, vor allem hinsichtlich der räumlichen Kapazitäten.

4 Schluss In den folgenden Ausführungen soll es zunächst um die Bedeutung des Raums „Kinderbeobachtungsstation“ für die in ihm Anwesenden gehen, bevor die Taktungen und Rhythmen in diesem Raum zusammenfassend in den Blick genommen werden.

4.1 Raum Die Bedeutung des hier behandelten Raums und die Wahrnehmung und Funktion der in ihm verbrachten oder zur Verfügung stehenden Zeit unterschieden sich für die ihm Anwesenden fundamental. Kinder und Jugendliche, die in eine Beobachtungsstation kamen, wurden bis in die 1980er Jahre hinein nicht gefragt, ob sie damit einverstanden waren. Die meisten werden auch keine Erklärung erhalten haben, warum sie dorthin kamen und wie lange der Aufenthalt vermutlich dauern werde. Ab dem Moment der Aufnahme wurden sie beobachtet: während der Selbstbeschäftigung, bei der Erledigung von Haushaltspflichten und Schulaufgaben, beim Spielen in der Gruppe, während des Unterrichts, bei den gemeinsamen Wanderungen, bei Festen, in Therapiesitzungen, zum Teil auch nachts. Aus Interviews mit ehemaligen Kinderpatienten der Innsbrucker Station weiß man, dass einige von ihnen diese Beobachtung als lückenlos und bedrohlich empfanden.⁶⁵ Dazu kamen nicht oder kaum erklärte medikamentöse Behandlungen. Wenn diese injiziert wurden, konnte dies (auch) als Strafmaßnahme interpretiert werden. Die Station litt bis Ende der 1970er Jahre chronisch unter Platzmangel, das heißt, die Kinder und Jugendlichen waren eng in Mehrbettzimmern, nach Geschlechtern getrennt, untergebracht. Es kam unter ihnen durchaus zu Gewalt, Demütigungen, Instrumentalisierungen, Übergriffen, etc., denen die Betroffenen mehr oder weniger

 Vgl. Horst Schreiber. Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag, 2010, 275 – 291: Die psychiatrische Kinderbeobachtungsstation Innsbruck 1961– 1963.

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hilflos ausgeliefert waren.⁶⁶ Das heißt, für einige, um nicht zu sagen: viele, war der Aufenthalt auf der Station alles andere als angenehm und das Nichtwissen, wie lange man ihn erdulden musste und was danach kam, zermürbend. Um das Verhalten von widerspenstigen Kindern und Jugendlichen zu disziplinieren, wurden mitunter Drohungen eingesetzt, vor allem hinsichtlich ihrer Unterbringung nach dem Aufenthalt auf der Station, zum Beispiel in einem Erziehungsheim. Es gab aber auch Kinder und Jugendliche, für die der Aufenthalt auf der Beobachtungsstation eine deutliche Verbesserung zum vorherigen Aufenthaltsort bedeutete, weil sie beispielsweise aus einem Milieu herausgenommen wurden, in dem es zu häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch oder kompletter Vernachlässigung gekommen war. Von ihnen fanden manche Schutz, Förderung oder Verständnis auf der Station, entsprechend gerne waren sie dort. Doch auch diese Fälle ändern nichts an der grundsätzlichen Feststellung, dass die Kinderbeobachtungsstation kein von ihnen gewählter oder gesuchter, sondern ein von außen bestimmter (Zwangs)Raum war, den sie nicht kraft eigenen Entschlusses verlassen konnten. Für die ärztliche Leiterin der Station, Maria Nowak-Vogl, bot der „Raum“ die Möglichkeit, sich durch die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich zu profilieren, sie konnte ihre Position in der Heimlandschaft Tirols durch eine entgegenkommende Aufnahme und Behandlung von als schwierig eingestuften Heimkindern stärken, sie stand im hierarchischen Gefüge der Station an der Spitze und konnte ziemlich autonom Entscheidungen treffen.⁶⁷ Einzig Eltern oder Elternteile, die sich der Aufnahme bzw. Verlängerung der Aufenthaltsdauer ihres Kindes widersetzten, der Platzmangel und der dadurch bzw. durch Kostenargumente begrenzte Aufenthalt setzten ihr Grenzen. Zumindest war dies so in den Fällen, in denen sie einen längeren Aufenthalt eines Kindes oder Jugendlichen für wünschenswert gehalten hätte, sei es, um die Betreffenden länger zu beobachten, zu kontrollieren oder zu therapieren, sich damit jedoch nicht durchsetzen konnte. Für eine Kinderbeobachtungsstation gilt, dass Raum und Zeit als Grundkategorien für die Beobachtung von – in diesem Falle als verhaltensauffällig wahrgenommenen – Kindern und Jugendlichen zusammengehören. Dieser Zusammenhang ist bereits in der Konzeption einer solchen Einrichtung angelegt bzw. für  Diese Vorkommnisse können zumindest zum Teil wiederum an den Raum rückgebunden werden.  Zu ihrer Position auf der Station und in der Heimlandschaft Tirols vgl. Schreiber, Im Namen, 292– 316: Maria Nowak-Vogl und die Kinderpsychiatrie in Innsbruck; Ralser, Kinderbeobachtungsstation, 28 – 40.

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diese grundlegend, eben weil es um Beobachtung und daraus folgend um Bewertung und nicht etwa um Verwahrung geht. Und diese Beobachtung soll aus Kosten- und Platzgründen während einer bestimmten Zeit abgeschlossen sein. Fundamental ist daneben die Abgeschlossenheit des Raums. Diese bleibt allerdings nicht auf das Gebäude selbst beschränkt, sondern wird auf den Außenraum ausgedehnt, weil auch dieser der Beobachtung dient. Die Kinder und Jugendlichen dürfen den Rahmen dieser Räume nicht eigenständig verlassen, auch dem Eindringen von außen sind enge Grenzen gesetzt, zum Beispiel durch den ohnehin selten vorgesehenen Besuch von Eltern oder Verwandten, der stark reglementiert wurde.

4.2 Taktungen Die hier untersuchten Taktungen bestehen einerseits in den „normalen“, in Aussicht genommenen oder durchschnittlichen Aufenthaltsdauern, andererseits in den durchschnittlichen Aufnahmen pro Jahr.

Aufenthaltsdauern 1954 äußerte die Leiterin der Station in einer Fachzeitschrift, dass verhaltensauffällige Kinder einen bis drei Monate in eine Kinderbeobachtungsstation gehörten⁶⁸, 1961 in einer anderen Publikation, dass sich die in der Beobachtungsstation benötigte Zeitspanne „je nach Schwere der Ausgangslage von wenigen Wochen bis wenigen Monaten“⁶⁹ erstrecke. Wie erwähnt, war die durchschnittliche Aufenthaltsdauer zwischen 1949 und 1979 für beide Geschlechter bei rund 61,8 Tagen, auf die Jahrzehnte bezogen lag sie von 1949 bis 1959 bei 42,2 Tagen, von 1960 bis 1969 bei 56,1 Tagen, von 1970 bis 1979 bei 72 Tagen und von 1980 bis 1989 bei 74,3 Tagen. Die „Taktungen“ der Beobachtung und Bewertung sind dabei insofern Distinktions- bzw. Ordnungsregler, als für Fälle, die als aussichtslos hinsichtlich einer Besserung oder Förderung eingeschätzt wurden, eine kurze Aufenthaltsdauer vorgesehen war. Dazu kamen solche Fälle, für die überraschend schnell ein als adäquat dargestellter Entlassungsort gefunden werden konnte, der im Sinne der

 Maria Vogl. Ueber die moderne Kinderpsychiatrie. In Medizinische Klinik 49:25 (1954), 995 – 998, Sonderdruck 1– 10, hier 8.  Vogl, Station, 40.

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einweisenden Akteure lag. Lange Aufenthaltsdauern wurden den Kindern und Jugendlichen zugestanden (bzw. je nach Einzelfall zugemutet), bei denen von Fortschritten durch den Aufenthalt ausgegangen wurde.

Durchschnittliche Aufnahmen pro Jahr Das Innsbrucker Beispiel zeigt, dass die Aufnahmezahlen mit den vorhandenen Kapazitäten sowohl korrelieren als auch nicht korrelieren können. Der Umzug der Station 1954 in ein eigenes Haus mit einer Erhöhung der Bettenzahl auf 21 führte ab 1955 bis zum Jahr 1978 zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Aufnahmen pro Jahr auf 112,6 gegen 39,4 durchschnittliche Aufnahmen pro Jahr von 1946 bis 1954. Im Jahr 1978 kam es zu einem zweiten Umzug, der eine erneute, wenn auch geringe Erhöhung der Bettenzahl mit sich brachte. Dennoch ging die durchschnittliche Zahl der Aufnahmen pro Jahr von 1979 bis 1989 auf 54,8 zurück. Diese Reduzierung hing damit zusammen, dass es, wie erwähnt, zu einem Aufenthalt auf der Kinderbeobachtungsstation mehr institutionelle und therapeutische Alternativen gab.

4.3 Rhythmen Rhythmen werden hier als Wellenbewegungen bei den Aufenthaltsdauern auf einer Zeitschiene verstanden. Diese können vor allem durch die folgenden Faktoren hervorgerufen werden: – Aufnahmezahlen/Raumkapazität – Diagnose – Medikation – Alternativen durch Ausweitung der Angebote – Änderungen im Krankheitsspektrum der infrage kommenden Kinder und Jugendlichen Raumkapazitäten spielten vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums eine Rolle, als die Nachfrage nach Plätzen auf der Station ständig stieg und größer war als der zur Verfügung stehende Raum. Durch externe Veränderungen hinsichtlich alternativer Angebote ging die Bedeutung der Raumkapazität in den 1980er Jahren stark zurück. Nun konnten durch Änderungen im Krankheitsspektrum neue Rhythmen erzeugt werden. Die Diagnosen hatten von Anfang an Einfluss auf die Aufenthaltsdauern, doch gab es auch hier Entwicklungen bezüglich einer Zunahme von schweren psychischen Erkrankun-

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gen (Schizophrenie, Psychosen). Diese brachten zum Teil⁷⁰ extrem lange Aufenthaltsdauern – in einem Fall bis 414 Tage – mit sich. Dies konnte wiederum mit einem anderen Faktor zusammenhängen, der Behandlung mit Psychopharmaka (vor allem Neuroleptika und Antidepressiva), deren Auswahl und Einstellung Zeit in Anspruch nahm. Zu den Faktoren, die zwar die Aufenthaltsdauern, aber nicht die Rhythmen beeinflussen, gehören die Initiatoren der Einweisung sowie das Alter und das Geschlecht der Kinder und Jugendlichen. Hier war eine gewisse Gleichförmigkeit zu beobachten.

5 Fazit Im Folgenden möchte ich versuchen, die Frage, inwiefern sich die Kategorien Raum und Zeit bzw. Taktung und Rhythmus für die Analyse der Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung eignen, zu beantworten. Wie bereits erwähnt, sind Raum (Kinderbeobachtungsstation) und Zeit (Aufenthaltsdauer) grundlegend für die Arbeit und den Aufenthalt in einer solchen Station. Der Aufenthalt auf der Station war einer Reihe von Taktungen unterworfen: Es gab Schlaf- und Esszeiten, Schulunterricht, Kirchgänge, Freizeiten, Therapiezeiten, die den Tag strukturierten. Die Funktion dieser Taktungen bestand darin, einen „normalen“ Tagesablauf widerzuspiegeln. Die Taktungen in der Pflege, Betreuung und pädagogischen Behandlung wurden nicht schriftlich festgehalten.⁷¹ Zudem waren sie von vielen, sich sozusagen ständig ändernden Faktoren abhängig: Zusammensetzung und Stärke des ärztlichen, psychologischen und (heil)pädagogischen Personals, der Patientinnen- und Patientengruppen und ihrer Erkrankungen und ihrer Compliance, der Einflussnahmen von außen, etc. Die Abfolgen von Therapien waren sehr verschieden, da manche Störungen oder Erkrankungen leichter oder schneller medikamentös einstellbar waren als andere, für wieder andere gab es gar keine medikamentöse Therapie. Die (heil)pädagogischen Maßnahmen liefen gleichsam „nebenher“, ohne dass Zeitangaben erfolgten. Dazu muss man bedenken, dass sich die Kinder und Jugendlichen der Station aus einer sich

 Aber auch hier muss festgehalten werden, dass eine schwere psychische Erkrankung nicht zwangsläufig einen langen Aufenthalt zur Folge hatte.  Und wenn sie festgehalten wurden, zum Beispiel durch die von den (Heil)Pädagoginnen meist wöchentlich verfassten, kurzen Beobachtungsprotokolle, dann war dies eine Routine, deren Taktung selbst keine Folgen hatte.

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ständig ändernden⁷², extrem heterogenen Gruppe zusammensetzten mit ganz unterschiedlicher individueller Vorgeschichte, sozialer, kultureller und räumlicher Herkunft, Erkrankung oder Störung, Mentalität, verschiedenen Altersgruppen, etc. Aufschlussreich ist dagegen die Analyse von Taktungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer und der Aufnahmezahlen. Die Betrachtung dieser Taktungen im Zusammenspiel mit den festgestellten Rhythmen bringt einen Erkenntnisgewinn, der direkt mit diesem Ansatz verbunden ist. Denn dadurch kann die ansonsten vermeintlich lineare Entwicklung einer solchen Kinderbeobachtungsstation differenzierter betrachtet werden.

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Heiner Stahl

Verkehrsnöte Rhythmus, Taktung und Störungen des Essener Straßenbahnverkehrs während des Ersten Weltkriegs English abstract: Verkehrsnot – Traffic Emergency. Rhythm, Scheduling and Disturbances in Tramway Traffic in Essen During WWI. Mobility and urban traffic are polyrhythmic constellations which redefine the conditions of time and space in cities. Referring to tramways in Essen, a major industrial city in the Ruhr district before and during the First World War, the article sounds out the relations of traffic, vehicles, consumers and urban space. Technical rhythms of mobility point to the power relations that make social space. The term ‘Verkehrsnot’ refers to the manner in which space is temporally structured, clocked and organized by repetition and interruption. The analysis of rhythms supports the attempt to lay open the social and technical conditions of communication.

Einleitung Im Jahr 1905 berichten Essener Lokaljournalisten häufig und gerne über funkenschlagende, feuerspeiende Tramwagen der Straßenbahn. Den Betriebsdirektor der Essener Verkehrsgesellschaft Stremmer ärgert das gehörig. Immer wieder heben die örtlichen Zeitungen die Defekte hervor, die an den Fahrzeugen, Gleisen und Kreuzungen entstehen und auf diese Weise die Fahrpläne stören. Dadurch, so Stremmer in einem Schreiben an den Essener Oberbürgermeister Erich Zweigert, rücke die Lokalpresse das Nahverkehrsunternehmen absichtlich in ein schlechtes Licht.¹ Solche öffentlichen Selbstverständigungen über das Verhältnis von Störung und Mobilität im städtischen Raum verweisen auf die Bedeutung der Straßenbahn als Verkehrs- und Transportmittel in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts. Weil sich die Rhythmen und Taktungen wiederholen, erkennbar sind und erwartbar bleiben, trägt die reibungslose Beförderung von Passagieren – Berufspendlerinnen und -pendlern, Schulpflichtigen, Einkaufenden und Amü Stadtarchiv Essen (StA Essen), Rep. 102 XXI Nr. 58, Essener Strassenbahnen, Betriebsverwaltung, Herr Stremmer an Herrn Oberbürgermeister Erich Zweigert, Betr.: Besprechung mit Stadtbaurat Wiebe bezüglich „feuerspeiende Wagen“ und „Entgleisungen“, Essen, 7.10.1905, Bl. 89 – 90 (RS), Bl. 90. https://doi.org/10.1515/9783110466591-007

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sementsuchenden – zur Stabilität des öffentlichen Raums bei. Die mediale Begleitung des technischen Fortschritts bedient sich jedoch des Reizes des Defekten, gewürzt mit einer Prise Voyeurismus und Schadenfreude. So legt es zumindest die Mitteilung der Geschäftsführung der Essener Verkehrsgesellschaft an den Oberbürgermeister vom Oktober 1905 nahe. Die Defizite, die bei der täglichen Bewältigung des städtischen Verkehrsaufkommens auftreten, können Journalistinnen und Journalisten auf diese Weise gegenüber dem Zeitung lesenden Publikum als Missstand massenmedial aufbereiten. Essener Bürgerinnen und Bürger bilden jenes Publikum und sind zugleich die Adressaten staatlicher und kommunaler Regulierungsbestrebungen. Sie konsumieren Verkehrsdienstleitungen, formulieren Erwartungen und kommunizieren Unzufriedenheit in Beschwerdebriefen. Das Publikum ist dabei stets auch eine Projektionsfläche für verschiedene Vorstellungen vom Zusammenleben in einer Großkommune. An diesen imaginierten ‚Wünschen‘ und ‚Erwartungen‘ des Publikums werden die bestehenden, konkurrierenden Interessen der Stadtverwaltung, der städtischen Betriebe, des Einzelhandels und der Industrieunternehmen der Beförderten verhandelt. Bremsende Straßenbahnwagen, die bei Kurvenfahrten oder beim Überqueren von Weichen Funken schlagen, sind Repräsentationen von Verkehrsgefahren. Diese medialen Inszenierungen markieren die akustischen und auditorischen Spuren von Mobilität im städtischen Raum. Am Beispiel Essen lässt sich zeigen, wie Störungen, Unfälle, Defekte und Verspätungen alternierende Rhythmen erzeugen und auf diese Weise die zeitlichen Eintaktungen individueller Mobilität und kollektiver Bewegungen herausfordern. In der Ruhrgebietsstadt überschneiden sich die Gleisanlagen der großen Industriebetriebe mit den Schienensträngen der kommunalen Straßenbahnen. Diese liegen in den Fahrbahnen, teilen sich also die Straße mit Kraftwagen, Automobilen, Bussen, Pferdekarren, Radfahrenden und zu Fuß Gehenden. Dadurch verdichtet sich der Straßenraum. Das befördert Nutzungskonflikte, verlangt Optimierungen vorhandener und vermeintlicher ‚Verkehrsnöte‘ und erzeugt zugleich ungleiche Versorgungen verschiedener Stadtteile. Verkehrsbewegungen sind Interaktionen von Menschen, Maschinen, Fahrbahnen und Haltepunkten, die sich in einer spezifischen räumlichen Anordnung vollziehen. Verkehrsführungen der Straßenbahnen markieren bezeichnen städtischen Raum bereits vor 1914. Gerade mit Blick auf die sozialen Verwerfungen, die der Erste Weltkrieg an der ’homefront’ verstärkt, ist eine Betrachtung von Verkehrsverhältnissen in einer (Rüstungs‐)Industriestadt hilfreich, um die raumzeitlichen Aushandlungen von Normalität, Stabilität und kommunaler Ordnung zu beleuchten. Die Bewegungsverhältnisse des öffentlichen Nahverkehrs enthalten Kommunikationsbeziehungen. Sie bezeichnen Gehalte, Qualitäten, Distanzen, Geschwindigkeiten, Fahr- und Wartezeiten und verweisen dadurch auf die vorhandenen Herrschaftsverhältnisse, die sich in den

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städtischen Raum einschreiben. Fahrende, bremsende und haltende Straßenbahnen erzeugen ein Geflecht aus zeitlichen und räumlichen Beziehungen. Es sind Interaktionen, die in Form von Beschleunigungen, Blockierungen und Betriebsstörungen auftreten und verschiedene Rhythmen markieren. Straßenbahnen sind Verkehrsmittel, die Relationen von Bewegung und Rhythmus erzeugen. Sie stehen deshalb im Mittelpunkt dieser Überlegungen, weil sich an ihnen – und ihren technischen Infrastrukturen – sowohl die Verkehrsverhältnisse als auch die damit entstehenden Konstellationen des Urbanen veranschaulichen lassen. Zu diesen Anordnungen gehören auch auftretende Störungen. Verkehrsüberlastungen, Unfälle, Personenschäden, technische Defekte an Wagen oder Gleisen sowie der Massenandrang der Fahrgäste, die Überfüllung der Wagen, Demonstrationen und Streikhandlungen können für die Rhythmusverschiebungen durch Unterbrechungen verantwortlich gemacht werden. Die folgenden Ausführungen bestimmen am Essener Beispiel die Mobilitätsverhältnisse einer Großstadt im rheinischen Industriebezirk. Sie beziehen sich auf die räumlichen, zeitlichen und rhythmischen Verkehrsbeziehungen in der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts steht die Verkehrskommission des Essener Stadtparlamentes vor vielfältigen Herausforderungen. Sie zeichnet dafür verantwortlich, die raumzeitliche Stabilität im öffentlichen Nahverkehr aufrecht zu erhalten. Das Lenken täglicher Verkehrsspitzen und die Optimierung der Personenbeförderung bekräftigt die Leistungsfähigkeit der Kommune. Auseinandersetzungen über Fahrplangestaltung und -abstimmung sowie Streckenführungen verweisen auf ein Verlangen nach logistischer Optimierung. Diese Erwartungen waren im Verlauf des Weltkrieges immer schwieriger zu erfüllen. Die Regulierungsbemühungen kommunaler Akteure treffen dabei auf die wiederholte öffentliche Behauptung von ‚Verkehrsnot‘. Mit der Betonung dieses Begriffes verbinden sich verschiedenartige Erwartungen der Akteure und der Öffentlichkeit, insbesondere an die räumliche und zeitliche Beschaffenheit von Mobilität sowie die Gleichmäßigkeit von Bewegungen im sozialen Raum der Stadt.² Unterschiedliche Optimierungsziele füllen diesen vermeintlichen Notstand aus. Die schnelle Beförderung der zur Arbeit Pendelnden, die Versorgung der Essener Stadtviertel mit schnelleren Abfolgen von Tramwagen und verkürzten Taktzeiten sowie das Versprechen eines Sitzplatzes im – von vielen Menschen in Anspruch genommenen – Nahverkehrsmittel zählen dazu. Straßenverkehr kann als ein Resultat von mobilen beschleunigten und motorisierten Interaktionen in urbanen Räumen verstanden werden. Die darin ent-

 Gunter Weidenhaus. Soziale Raumzeit. Frankfurt/Main: suhrkamp, 2015, 50 – 51.

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haltenen Relationen sind polyrhythmisch, sie sind instabil und schwankend. Um diesen Ausgangspunkt zunächst zu bestimmen, beschäftigt sich der erste Abschnitt eingehend mit verschiedenen theoretischen Zugängen zur Beschreibung von Rhythmus. Ein musikalisches Verständnis wird einer sozialräumlichen Rahmung sowie einer auf Optimierung von Bewegungen abzielenden Bestimmungsform des Rhythmischen gegenüber gestellt. Eine Betrachtung von körperlicher und sinnlicher Wahrnehmung sowie eine Beschreibung von rhythmischen Erscheinungen und Anordnungen schließen sich daran an. Wahrnehmung ist zum einen auf Gegenstände und Dinge bezogen, kann aber zum anderen auch als ein Verfahren zur Aneignung von ‚Welt‘ und den vorzufindenden sozialen, kulturellen, räumlichen und technischen Interaktionen verstanden werden. Diese Überlegungen zu Rhythmus bilden die Grundlage, im Folgenden die jeweiligen Bestimmungen von Normalität, Taktung und Störungen im Essener Straßenbahnverkehr vor dem Kriegsausbruch und im Verlauf des Ersten Weltkriegs zu kennzeichnen. Die Erwartungen des Publikums an die kommunale Verkehrsgesellschaft, eine reibungslose, störungsfreie, bequeme und pünktliche Beförderung bereitzustellen, fordern die Leistungsfähigkeit der Großstadt Essen heraus, berühren deren Selbstverständnis als moderne Großstadt. Mobilitätsbezogene Streitfragen erweisen sich als Kernaspekte kommunaler Ordnungspolitik, die gerade im Umgang mit Verkehrsstörungen, mit Diskontinuität und Dissonanz, zutage treten. Störungen brechen vorhandene, als bekannt angenommene Muster auf, verschieben bestehende Taktungen. Sie ent-normalisieren, setzen jedoch gleichsam Anfangspunkte für neue rhythmische Erscheinungen. Der Straßenbahnverkehr in Essen um 1914 enthält genau diese Beziehungen, auf welche sich die von Henri Lefebvre und Catherine Régulier vorgeschlagene Idee der Rhythmusanalyse³ anwenden lässt. Sie unterscheiden eine zyklische von einer linearen Form der Wiederholung.

 Henri Lefebvre und Catherine Régulier.Versuch der Rhythmanalyse der Mittelmeerstädte [Essai de rythmanalyse des villes méditerranéennes. Peuples Méditerranéens 37 (1986): 5 – 16], Übersetzung Justin Winkler. Kassel 2001, 1– 11, hier 3, URL: http://www.iacsa.eu/jw/lefebvre_1986_ rhythmanalyse_mittelmeerstaedte.pdf (02.07. 2018).

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Rhythmen im Verkehrsraum. Straßenbahn, Rhythmus, Körper und Bewegung Kommunikationsbeziehungen kennzeichnen Verkehrsräume. Verschiedene Rhythmen durchziehen das großstädtische Leben. An die sich darin entfaltenden Bewegungen sind jeweils bestimmte akustische Markierungen geknüpft. Der Straßenbahnverkehr ist eine solche Textur, eine Notation mit Kontrapunkten, Phrasierungen, Synkopen, Crescendi und Decrescendi, Polyphonien und Rhythmen. Die Klänge der Tramwagen stellen eine Tonspur in der akustischen Erscheinung zeitgenössischer städtischer Umwelt dar.⁴ Der Berliner Stadtbaudirektor Georg Pinkenburg schreibt 1904, dass das Städtische geradezu durch Rhythmen und Taktungen gekennzeichnet ist. Er fügt hinzu: „Ein großes, gewaltiges Treiben auf den Straßen ohne einen gewissen Grad von Lärm ist außerdem nicht gut denkbar. Eine Stadt, in der sich alles lautlos vollzöge, würde uns tot und ausgestorben vorkommen.“⁵ Pinkenburgs Ausführungen beziehen sich auf eine Vielfalt von rhythmischen Bewegungen. Diese sind sowohl zeitlich aneinandergereiht als auch übereinander gelagert. Straßenbahnen bewegen Körper entsprechend einer bestimmten Taktung in einer dafür vorgesehenen Zeit durch einen städtischen Raum. Dadurch entstehen rhythmische Konstellationen, die wiederum auf die sinnliche und körperliche Erfahrung einwirken. Die Sinnesorgane für das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten werden gleichsam auf Empfang bzw. Aufnahme gestellt und somit auf die rhythmischen Bewegungen in den räumlichen und zeitlichen Umgebungen eingestimmt.⁶ Die umfassende Regulierung der Verkehrsverhältnisse – und zwar in einem städtischen Raum und innerhalb eines Geflechts miteinander kommunizierender Verkehrsverläufe – legt das Fundament für die Normierung städtischer Geräuschkulissen. Dies ist für Pinkenburg eine wichtige Komponente der Gestaltung

 Raymond Murray Schafer. The Music of the Environment. Cultures 1:1 (1973): 15 – 52.  Georg Pinkenburg. Der Lärm in den Städten und seine Verminderung. In Handbuch der Hygiene, hg. von Theodor Weyl. 3. Ergänzungsband. Jena:Verlag von Gustav Fischer, 1904, 5 – 25, hier 6, URL: http://www.archive.org/stream/suphandbuchderhy03weyluoft/suphandbuchderhy03we yluoft_djvu.txt (02.07. 2018). Der Bauingenieur Georg Pinkenburg (1848/49 – 27.10.1906) war Vorstand der Stadtbaudirektion VI und Leiter des städtischen Brückenbau-Bureaus in Berlin, zwischen 1889 und 1900 Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieurvereine e.V., URL: http://www.kmkbuecholdt.de/historisches/personen/architekten_ph.htm (02.07. 2018).  Vgl. Paul Rodaway. Sensuous Geographies. Body, Sense, and Place. London: Routledge, 1994.

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von Stadt, denn damit wird dem Wunsch, „den vielfach wüsten Straßenlärm auf ein erträgliches Maß herabzumindern“⁷ Rechnung getragen. Geordnete Beziehungen zwischen Verkehrsträger,Verkehrsmittel und Verkehrsinfrastrukturen sind das Resultat einer vereinheitlichenden Planung, zumindest der Idee und Vorstellung nach. Dabei bezeichnen die Verkehrsverhältnisse verschiedene Schichtungen des städtischen Raums.⁸ Straßenverkehr ist eine instabile Anordnung, die die Bruchstelle⁹ des Geplanten und Normalisierten offenlegt.¹⁰ An ihr lassen sich die Rhythmen und Taktungen des städtischen Raums kenntlich machen. Technische Infrastrukturen bezeichnen den urbanen Raum, so das Kernargument dieses Aufsatzes. Jedoch bestimmen die sozialen Interaktionen die Verhältnisse darin. Die zeitliche Taktung ist eine notwendige Bedingung für eine zu Rhythmus emergierende Bewegung.¹¹ Bewegung ist eine Form dieses Zusammentreffens und Austauschens. Körper und Fahrzeuge bewegen sich in räumlichen und zeitlichen Ordnungen. Die Wechselseitigkeit zwischen Verkehrsfluss und Verkehrsstau bilden dabei Rhythmusphänomene. Diese interagieren, kreuzen, überlagern, blockieren sich innerhalb eines städtischen Verkehrsraums. In Essen handeln die Verkehrsplaner und die Verkehrskommissionen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus, wie die einzelnen Transportmittel den flächenmäßig begrenzten Straßenraum benutzen – gleichzeitig, nebeneinander und in welcher zeitlichen Häufigkeit – und wie dieser mit den Passantinnen und Passanten zu teilen bzw. für die Fahrgäste anhand von Fahrzeiten anzueignen ist. Noch hat sich bei selbst ernannten Experten des Transport- und Nahverkehrs die Ansicht nicht

 Pinkenburg, Lärm, 6.  Vgl. Jan Gympel. Tempo! Berliner Verkehrsgeschichte. Berlin: Elsengold Verlag, 2015; Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, hg. von Christoph Neubert, Gabriele Schabacher. Bielefeld: transcript, 2013; Ueli Haefeli. Verkehrspolitik und urbane Mobilität. Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950 – 1990. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2008; Dieter Schott. Die Vernetzung der Stadt. Kommunale Energiepolitik, öffentlicher Nahverkehr und die ‚Produktion‘ der modernen Stadt. Darmstadt – Mannheim – Mainz 1880 – 1918. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999.  Vgl. David Gugerli. Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz (1880 – 1914). Zürich: Chronos Verlag, 1996, URL: https://www.academia.edu/4495097/David_Gugerli_Redeströme._Zur_Elektrifi zierung_der_Schweiz_1880 -1914_Chronos (02.07. 2018); Alexander C.T. Geppert, Uffa Jensen und Jörn Weinhold. Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840 – 1930. In Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Alexander C.T. Geppert, Uffa Jensen und Jörn Weinhold. Bielefeld: transcript, 2005, 15 – 49.  Jürgen Link. Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1999.  Jean-Claude Schmitt. Eine Geschichte der Rhythmen: warum und wie? In Rhythmus – Balance – Metrum. Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten, hg. von Christian Grüny, Matteo Nanni. Bielefeld: transcript, 2015, 15 – 30.

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durchgesetzt, dass eine Auftrennung in „zwei prinzipiell unterschiedliche Netze“, also „Straßen und die Schienen“¹² eine anwendbare Maßnahme ist, um die raumzeitliche Verdichtung zu beherrschen. Die zeitlichen Abfolgen von Wiederholungen formen Taktungen. Sie stellen Bausteine von (Verkehrs‐)Rhythmen dar. Diese Verkehrsbewegungen enthalten Kommunikationsverhältnisse. In diesen sozialen und technischen Prozessen sind Wahrnehmung, Erfahrung, Aneignung und Handlung jeweils als Schichtungen zu begreifen. Es werden Verbindungen zwischen verschiedenen Punkten innerhalb des städtischen Raums geknüpft. Daran verdeutlichen sich Interaktionen zwischen am Verkehr teilnehmenden Personen, diese Bewegungen ermöglichenden Geräten, Fahrzeugen sowie Linienführungen. Auf diese Weise wird urbaner Raum gefestigt, bezeichnet, markiert und – letztlich – gemacht. Straßenbahnverkehr ist eine Verkettung raumzeitlicher Kreuzungspunkte. Um solche rhythmischen Verhältnisse näher zu untersuchen, bieten sich verschiedene Zugänge an: ein musikwissenschaftlicher, ein performativer, ein auf Abstimmung und Optimierung ausgerichteter arbeitswissenschaftlicher Zugang, sowie eine sinnesphysiologische und eine phänomenologische, auf die Erscheinungen und Repräsentationen bezogene, Betrachtungsweise. Im musikwissenschaftlichen Blick bezieht sich Rhythmus, so Martin Pfleiderer, „auf die kleinere zeitliche Dimension der Gruppierung von Klängen zu Klanggestalten …, Form dagegen auf Zusammenhänge und Gestaltungsmerkmale innerhalb größerer zeitlicher Dimensionen.“¹³ Die Notation ist der textliche Raum, in den sich Rhythmisierungen einschreiben. Die Aufführung ist die Anordnung, die gleichsam Raum für sinnliche und körperliche Erfahrungen schafft, und zwar mit den Abfolgen und Taktungen von Klängen. Muster der Taktung strukturieren die Rhythmuswahrnehmung. Klangfarbe, Lautstärke, Verdichtung der Textur sowie parallele Klangstrukturen sind in der Lesart Pfleiderers auf den Konsum von Musik zu beziehen. Ähnliches lässt sich durchaus in der Geräuschkulisse des öffentlichen Raums ausmachen. Für Gabriele Klein entsteht der Rhythmus des Städtischen als Wechselwirkung zwischen den „rhythmischen Strukturen eines objektivierten Sozialraumes“ und den Rhythmen eines Handlungsraums. Dieser wird durch die „Performanz des Körpers“ und der darin sich vollziehenden einschreibenden „Praxis der Bewegung“¹⁴ bezeichnet. Die Bewegungslinien und -formen in räumlichen Anord-

 Pietro Hammel. Unsere Zukunft. Die Stadt. Frankfurt/Main: suhrkamp, 1972, 127.  Martin Pfleiderer. Rhythmus. Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik. Bielefeld: transcript, 2006, 155.  Gabriele Klein. Dis/Kontinuitäten. Körperrhythmen, Tanz und der Sound der postindustriellen Stadt. In Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, hg. von Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten. Bielefeld: transcript, 2005, 67– 82, hier 68.

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nungen sowie die Rhythmen sozialer Gewohnheiten und Praktiken stellen Verdichtungen her.¹⁵ Sie entwickeln, so Klein in Anlehnung an Georg Simmel, auf diese Weise die „ordnungsstiftende Funktion einer kollektiven Homogenisierung der Zeitwahrnehmung“ mittels der Gleichrichtung von Bewegungen. Diese körperlichen Einstimmungsprozeduren erzeugen Brüche und Überlagerungen, Differenzen und Diskontinuitäten in und zu den räumlichen Gliederungen zeitlicher Abläufe. Diesen Störungen, den Unterbrechungen, gilt Kleins Interesse, weil sie „das Uneigentliche, das Gebrochene“, das Unfertige, die Reißstellen, „zum Strukturmerkmal des Städtischen“¹⁶ machen. „Nicht der Raum“, schreibt Georg Simmel, „sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung.“¹⁷ Dass sich Raum „für unsere praktische Ausnutzung in Stücke zerlegt“, nennt Simmel eine weitere Qualität der Subjekt-Raum-Beziehung. Diese Teilstücke gelten den Wahrnehmenden, also denjenigen, die sich Raum aneignen, als Einheiten und sind „als Ursache wie als Wirkung hiervon“¹⁸ von sozialen, technischen, kulturellen und medialen Grenzen eingerahmt. Die im Raum sich befindenden Inhalte werden fixiert und durch Praktiken der Begrenzung zu sozialen Relationen.¹⁹ Der Straßenbahnverkehr drückt diese Verhältnisse in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts exemplarisch aus. Verdichtung und Bewegung sind dessen zentrale Modi. Die Rhythmen des Sozialen enthalten die sinnlichen Relationen zwischen Mensch und Mensch ebenso wie die Wahrnehmung von Bewegungen mit dem „bloßen Gesichtssinne.“²⁰ Simmels Normierung bezieht sich auf das Sichtbare, nicht auf das Hörbare, Tastbare, das Riechbare oder Schmeckbare. Auch auf diese Sinne und ihre jeweiligen sozialen Rahmungen lassen sich die Konstellationen von Rhythmus und (Atmo‐)Sphären²¹ beziehen.

 Vgl. dazu folgende Aufsätze im von Ralf Konersmann und Dirk Westerkamp herausgegebenen Themenheft ‚Rhythmus und Moderne‘ der Zeitschrift für Kulturphilosophie: Michael Neumann. „Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte“: Rhythmus und Übertragung um 1900. Zeitschrift für Kulturphilosophie 7:1 (2013): 15 – 28; Daniel Morat. Der Rhythmus der Großstadt um 1900. Zeitschrift für Kulturphilosophie 7:1 (2013): 29 – 38.  Klein, Dis/Kontinuitäten, 69.  Georg Simmel. Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft. In Ders. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/Main: suhrkamp, 1992, 687– 790, hier 688.  Simmel, Raum, 694.  Simmel, Raum, 698.  Simmel, Raum, 727.  Dazu ausführlicher Andreas Rauh. Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen. Bielefeld: transcript, 2014; Atmosphäre(n) II. Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff, hg. von Rainer Goetz, Stefan Graupner. München: kopaed, 2012.

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Der Architekt und Kunsttheoretiker August Endell²² schlägt eine andere Betrachtungsweise für eine stadträumliche Analyse von Rhythmus und Taktung vor. Sein Ansatz verknüpft die Dimension des Handelns mit derjenigen der sinnlichen Erfahrung. Er vernimmt die vielfältigen „Stimmen der Automobile, ihr Sausen beim Herannahen, der Schrei der Huppen (sic!), und dann, allmählich hörbar werdend, der Rhythmus der Zylinderschläge, bald rauschend, bald grob stoßend, bald fein in klarem Takte, metallisch klingend.“ Die Räder der Automobile pfeifen Sirenentöne, wenn deren „Speichen die Luft schlagen“, überschlägt sich Endell. Für ihn klinge es wundervoll, wenn „der satte, dunkle Ton einer Trambahn in voller Fahrt, rhythmisch gegliedert durch das schwere Stampfen des Wagens“²³ zwischen den Häuserzeilen brause. Die Fahrzeuge schlagen hart auf die Verbindungsstücke der Schienen, die Räder klirren, die elektrischen Ströme zischen an den Oberleitungen, wenn die Energie über Drahtleitungen zum Motor des Zugwagens fließt. Die Straße ist für Endell ein architektonischer Raum, den die gehenden Menschen neu teilen, beleben, ausweiten. Sie füllen die an sich „tote Straße mit der Musik rhythmisch wechselnden Raumlebens.“²⁴ Rhythmen werden in diesen räumlichen Anordnungen erkennbar. Das betrifft zunächst Menschen, die als soziale Akteure auftreten. Sie sind Agierende in diesem Stadtraum. „Da die Menschen ungleich die gleichartige Straße begehen“, schreibt Endell, nämlich „anders und andere am Morgen, die ins Geschäft eilen, anders die Frauen, die einkaufen, anders am Vormittag, anders am Abend, so scheiden die Straßen sich in stille, in laute, in hastig begangene, in schlendernd schauend beschrittene.“²⁵ Endells Beobachtung bezieht sich auch auf die Straße als Medium, das die Bewegungen, Rhythmen und Abläufe aufnimmt, festhält und wieder aufführt. Straßen bekommen, erläutert der Architekt, „ihr Stundenleben, sie bekommen gute Seiten und schlechte.“ Es gibt Benutzungen an Feiertagen, an Wochenenden und in den Anordnungen des Alltags. Endell unterscheidet diese Umgangsweisen anhand „Dichte, Hast und Art des Getümmels, das heute grau und eilig und anderen Tages bunt und behaglich erscheint.“²⁶ Die Straße ist für ihn eine Oberfläche, welche von unterschiedlichen Bewegungen und Handlungen immer wieder beschrieben wird. Solche Benutzungsweisen prägen lokale Zusammenhänge

 Zur Person August Endell siehe URL: http://www.august-endell.de/ (02.07. 2018).  August Endell. Die Schönheit der großen Stadt. Stuttgart: Strecker & Schröder, 1908, 31– 32: Die Stadt der Geräusche, hier 31, URL: http://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/Autoren/Endell/En dell1908.htm (02.07. 2018).  Endell, Schönheit, 31.  Endell, Schönheit, 65 – 86: Die Straße als lebendiges Wesen, hier 71.  Endell, Schönheit, 71.

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an Boulevards, Kreuzungen, Straßenecken oder Sackgassen.²⁷ Diese wiederkehrenden Aufführungen speichern sich in die räumlichen Szenerien ein, bleiben in den Wahrnehmungen der Passantinnen und Passanten haften, setzen sich – buchstäblich und im übertragenen Sinne – im Pflaster oder im Asphalt fest.²⁸ Neben den Flanierenden, die die Bewegungen im urbanen Raum beobachten und sinnlich erfassen, sind es die Passagiere der Straßenbahn, welche die Stadt beund erfahren. Verkehrsfluss, Unterbrechung, Verdichtung und Stauung sind Bewegungen, die die Fahrbahn und die Straßenoberfläche als sozialen, technischen und urbanen Raum erzeugen. Darin sind die widerstreitenden Vorstellungen, Herrschaftspraktiken und alltäglichen Aneignungsformen als Konfliktlagen konserviert.²⁹ Effizienzverhältnisse von Rhythmen bilden den Ausgangspunkt der Überlegungen des zeitgenössischen Leipziger Nationalökonomen Karl Bücher.³⁰ Bücher bezieht die manuellen und technisierten Anordnungen von Arbeit auf die körperlichen Bewegungen sowie auf die im Produktionsprozess von den Arbeitenden eingesetzten physiologischen und psychologischen Anstrengungen.³¹ Güter und Produkte sind die Ergebnisse sowohl handwerklicher als auch maschineller Erzeugung. Die Synchronisierung von Arbeits- und Lebenszeit vollzieht sich „in Form einer Disziplinierung der Körper durch ihre Rhythmisierung.“ Das ist deshalb erforderlich, weil die Körper der Arbeitenden und Angestellten „sich sowohl synchron zu den industrialisierten Zeitabfolgen, als auch zu den räumlichen Gefügen und Strukturen zu bewegen und zu formieren“ hatten.³² Durch die Einstimmung auf Rhythmus erzeugen Individuen und Kollektive Erfahrungswissen und vermitteln dieses weiter. Das ist eine Form des Lernens mittels körperlicher Bewegungen und Präsenz. Nach Büchers Lesart markieren die Melodieführung und die Betonungen eines Gesanges den Takt der industriellen Arbeit. Der Ton-

 Jason Corburn. Street Science. Community Knowledge and Environmental Health Justice. Cambridge/Mass.: The MIT Press, 2005, 47– 77: Street Science. Characterizing Local Knowledge.  Vgl. die abgeschlossene, aber noch nicht veröffentlichte Dissertation von David Sittler. Die Geschichte der metropolitanen Straße als Massenmedium, Chicago 1870 – 1930. Erfurt 2015. Die Arbeit entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs ‚Mediale Historiographien – media of history – history of media‘ der Universitäten Erfurt/Jena/Weimar bei Prof. Dr. Alf Lüdtke (Erfurt) und Prof. Dr. Erhard Schüttpelz (Siegen), URL: http://www.davidsittler.de/promotion.html (02.07. 2018).  Henri Lefebvre. Die Revolution der Städte. München: List, 1972.  Zur Person Karl Bücher siehe Walter Braeuer. Bücher, Karl. In Neue Deutsche Biographie 2 (1955), 718 – 719, URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118516884.html (02.07. 2018).  [Inge Baxmann, Sebastian Göschel, Melanie Gruß, Vera Lauf]. Einleitung. In Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, hg. von Inge Baxmann, Sebastian Göschel, Melanie Gruß, Vera Lauf. München: Wilhelm Fink, 2009, 7– 11, hier 9.  Baxmann, Göschel, Gruß, Lauf, Einleitung, 9.

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Rhythmus entsteht, „wenn die Töne in Stärke und Höhe oder Dauer sich differenzieren“³³ und korrespondiert mit dem Arbeits-Rhythmus. Der Rhythmus der Arbeit übt durch „das ihm innewohnende musikalische Element“ zugleich „eine incitative (= anreizende) Wirkung aus“ und unterstützt „das Festhalten eines gleichen Zeitmaßes der Bewegung.“ Insbesondere die Tonalität und Musikalität, welche diese Bewegung begleiten, erscheinen Bücher in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Dieser Vorgang „unterstellt die Arbeit selbst der Kontrolle aller derjenigen, die ihren Schall vernehmen können“³⁴, verbindet die Arbeitenden, schließt diese mit ihrer Leistungsfähigkeit und Kraft zusammen. Der Arbeitsgesang ist laut Bücher deshalb ein Mittel der Synchronisierung von Bewegungen. Das steigert im günstigsten Fall die Wirksamkeit der zuvor eingesetzten körperlichen Energie. Das Zusammenwirken verschiedener Bewegungsabläufe verlangt und fördert gleichzeitig die Einstimmung unterschiedlicher Körper auf jeweils einen einzigen Rhythmus. Rhythmus leistet demnach eine Optimierung von Bewegungen. Der Eindruck eines Gruppen-Körpers entsteht, vergleichbar mit der getakteten körperlichen Präzision von Show-Girls und Varieté-Tänzerinnen.³⁵ Im Zuge der fortschreitenden Technisierung der Arbeitswelt hätten Maschinen „an Punkten rhythmische Bewegungen ermöglicht, wo ein älteres Arbeitsverfahren sie nie kannte.“ Demzufolge ist der arbeitende Mensch „nicht mehr Herr seiner Bewegungen …, sondern das Werkzeug ist Herr über ihn geworden, es diktiert ihm das Maß seiner Bewegungen: Das Tempo und die Dauer seiner Arbeit ist seinem Willen entzogen; er ist an den toten und doch so lebendigen Mechanismus gefesselt.“³⁶ Bei den raschen Bewegungen von Fallhämmern, Pressen und Transportbändern „sind nur noch wirre, ohrenbetäubende Geräusche zu vernehmen.“ In diese lässt sich „wohl ein Rhythmus hineinhören“, so Bücher, jedoch erscheinen diese verdichteten akustischen Informationen „für unsere Wahrnehmung nicht mehr rhythmisch“ und wecken „darum auch nur Unlustgefühle.“³⁷ Was für den Rhythmus der Arbeit, nach Büchers Ansicht, Geltung beanspruchen kann, lässt sich durchaus auf die Verkehrsbewegungen im öffentlichen Raum übertragen. Dieser soziale Raum enthält Rhythmen, die Menschen und Transportmittel erzeugen, die sich entlang von Fahrstrecken ordnen, an Zu- und Ausstiegen in be-

 Karl Bücher. Arbeit und Rhythmus. 4. neubearbeitete Auflage. Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 1909, 24.  Bücher, Arbeit, 25.  Fritz Giese. Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl. München: Delphin Verlag, 1925.  Bücher, Arbeit, 439.  Bücher, Arbeit, 438.

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stimmten zeitlichen Abfolgen verdichten sowie in einem vielfältig genutzten Straßenraum auftreten. Die Beförderung von Personen und Gütern ist dabei ein Produkt technischer Rhythmen und zeitlicher Taktungen. Elektrische Straßenbahnen scheppern durch denselben Straßenraum, über Schienen und Gleisbettungen, denen Regen, Schnee, Kälte, Hitze und Trockenheit sowie die Benutzungen der anderen am Verkehr Teilnehmenden sichtlich zugesetzt haben.³⁸ Den öffentlichen Raum als Erzeugnis körperlicher, zeitlicher und technischer Rhythmen zu betrachten, knüpft an ein kompositorisches Verständnis von Umweltbeziehungen an. Für den Soziologen und Anthropologen Helmuth Plessner³⁹ bedeutet „jede Rhythmisierung, ebenso wie Bildkomposition, … bereits thematische Sinngebung des realistisch dargestellten Sujets.“⁴⁰ Diese Aussage bezieht sich bei Plessner allerdings auf Musikstücke, Sonaten, Opern und singspielerische Aufführungen und nicht auf Straßenbahnen in einer von Industrie maßgeblich geprägten Großstadt wie Essen. Der Anthropologe versteht unter „akustischem Stoff“ eine „im Hören des schallenden Tones gegebene“ Vielfältigkeit. Sie bezieht sich auf die Gliederung sowie die Färbung des Tones, die durch die Art seiner Erzeugung geprägt ist. Der „akustische Stoff“, so Plessner, ist gedehnt, „indem er hallt, gleichgültig, ob der Ton kurz oder lang erklingt.“ Gerade dieses Hallen erzeugt eine „nicht in kurze und lange Strecken einteilbare …, nicht meßbare“ Ordnung.⁴¹ Sie besitzt eine Dimension sinnlicher Erfahrung und eine raumzeitliche Bestimmtheit. Das Verstärken des Tons vollzieht sich „als Vergrößerung seines Volumens“, stellt Plessner heraus: „Der Schall schwillt im Hallen dahin.“⁴² Dies gilt auch für Tramwagen, die engbebaute Straßenzüge durchfahren, Anstiege und Abfahrten überwinden, andere Schienenstränge überqueren, Warnsignale von sich geben, bremsen, halten und wieder anfahren. Im Dahinfahren von Straßenbahnwagen über Gleislagen und -bette drückt sich das aus, was Plessner als Wesensmerkmal des akustischen Stoffes kennzeichnet: die räumliche Dehnung und das Volumen eines Klangereignisses, welches einen Abschnitt des alltäglichen Handlungs- und Erfahrungsraums bestimmt. Er unterscheidet einen Lagewert von einem Schwellenwert des Tons: „Ortlos, aber in

 Vgl. Wolff. Gleise in Straßen mit geräuschlosem Pflaster. Der Antirüpel. Recht auf Stille. Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben 2 (1910): 14.  Zur Person Helmuth Plessner (1892– 1985) siehe URL: http://www.heike-delitz.de/phila/Pless ner.html (02.07. 2018).  Helmuth Plessner. Ästhesiologie des Gehörs. In Ders. Gesammelte Schriften. Band 3: Anthropologie der Sinne. Frankfurt/Main: suhrkamp, 1980, 221– 248, hier 224.  Plessner, Ästhesiologie, 229.  Plessner, Ästhesiologie, 232.

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Lagen, bilden die Töne eine, wie wir zum Unterschied von räumlichen Eigenschaften sagen wollen, räumige Ordnung.“ Diese „in der Voluminosität des Schalls wurzelnde Räumigkeit der Tonwelt“⁴³ erlaubt es, so Plessner, die Verdichtungen des Schalls auf Stimmlagen zu beziehen. Schall füllt als Qualität eine Dauerordnung, ganz gleich wie lange dieser empirisch bestimmbar ist oder gefühlt andauern mag.⁴⁴ Weil sich aber das Gehör den Schalleinwirkungen nicht entziehen kann⁴⁵, stellt die allgegenwärtige Präsenz, die Distanzlosigkeit und Zeithaftigkeit⁴⁶ ebenfalls ein Kennzeichen des Rhythmus dar. Der Psychologe Ludwig Klages rückt Anfang der 1920er Jahre die einzelnen Erscheinungsformen und Bestandteile rhythmischer Einheiten in den Mittelpunkt. Er spaltet die Phänomene zunächst in räumliche und zeitliche Einheiten auf, um sie dann in ihren Interaktionsweisen zusammenzudenken. Rhythmus kann nach Klages als die „regelmäßige Gliederung einer zeitlichen Erscheinung“ oder, mit dem Fokus auf die einzelnen Elemente, als „die regelmäßige Wiederholung zeitlicher Erscheinungselemente“⁴⁷ aufgefasst werden. Klages sieht im zeitlichen Rhythmus „das Erkennungszeichen der Wiederholung.“ Akustische Ereignisse besitzen Rhythmus und Takt. Er unterscheidet die natürlichen Bewegungen von Tieren und Menschen von den getakteten Betriebsroutinen der Maschinen. Sie erzeugen Einheitlichkeit in der immer gleichen Wiederholung. Klages markiert die technische Dimension zeitlicher Einteilungen: „Dampfmaschinen, Schmiedehämmer, Pendeluhren gehen im Takt, aber nicht im Rhythmus.“⁴⁸ Maschinen wiederholen stets die gleichen rationalisierten Abläufe entsprechend einer auf Regelmäßigkeit fußenden Bewegungslogik: „Der Rhythmus kann in

 Plessner, Ästhesiologie, 232.  Plessner, Ästhesiologie, 229.  Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf. Anregungen. In Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, hg. von Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf. München: Wilhelm Fink, 2009, 11– 32, hier 17.  Dazu ausführlicher Veit Erlmann. Reason and Resonance. A History of Modern Aurality. New York: Zone Books, 2010, 271– 306: Rhythm and Clues. Time and the Acoustic Unconscious, ca. 1900.  Ludwig Klages. Vom Wesen des Rhythmus. 2. Auflage. Zürich und Leipzig: Gropengiesser, 1944, 11. Klages hat diesen Text ursprünglich 1922 für einen Tagungsvortrag verfasst. Der Aufsatz ist unter dem gleichen Titel im Jahr darauf in einem Tagungsband erschienen mit dem Titel: Künstlerische Körperschulung, hg. von Ludwig Pallat und Franz Hilker. Breslau: Ferdinand Hirt, 1923, 94– 137.  Ludwig Klages. Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. 2., wesentlich erweiterte Auflage. Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1921, 134– 145: Das Formniveau, hier 135.

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vollkommenster Gestalt erscheinen bei gänzlicher Abwesenheit des Taktes, der Takt dagegen kann nicht erscheinen ohne Mitwirkung eines Rhythmus.“⁴⁹ Den Takt begreift Klages als eine Erscheinung einer Regel. Je einfacher diese ist, umso deutlicher und vollkommener erscheint der Takt. Sobald allerdings ein Zug an einer Haltestelle verweilt, und zwar länger als erwartet, empfindet Klages, dass „der Spannungszustand lebhafter Ungeduld“ auftritt. Zeitverluste sind die Reibungspunkte, an denen die erwarteten Verkehrs- und Beförderungsbewegungen zutage treten. Auch wenn „zufällig währenddessen fortwährend die regelmäßigen Dampfkolbenstöße der Maschine einer nahen Fabrik ertönen“⁵⁰, so ersetzen diese anderen Arten von Takt nicht die in der Fahrbewegung erzeugte Synchronisation des Körpers. Rhythmuserscheinungen normieren demnach räumliche und zeitliche Erfahrungen. Kreuzt sich der Rhythmus der Mobilität mit demjenigen der Fabrik, so entsteht eine dauerhafte Quelle der Unruhe. Die unterschiedlichen Taktungen reiben sich. Die Unruhe ist ohne Ort, aber doch im Raum. Das bedeutet in Klages’ Lesart, dass Raum und Zeit miteinander „untrennbar verbundene Pole“ sind. Diese Beziehung gewinnt an Bedeutung, wenn soziale, technische, mediale, kulturelle und stadträumliche Wirklichkeit als Phänomen und Erscheinung untersucht werden soll, und zwar „derart, daß im Hörbilde der räumliche Pol vom zeitlichen Pol, im Sehbilde umgekehrt dieser von jenem abhängt.“⁵¹ Die sinnliche Wahrnehmung macht diese Aushandlungen von Bewegungen körperlich erfahrbar. Die den Raum ordnenden Muster werden erfassbar, sind zu erspüren. Die Zeitlichkeit einer bestimmten Erscheinung oder eines akustischen Ereignisses besitzt eine rhythmische Gliederung. Es kennzeichnet gleichermaßen die rhythmische Ordnung „ihrer Räumlichkeit wie ebenso umgekehrt.“⁵² An dieser Stelle wird Klages’ Bestreben offensichtlich, die vielfältigen Erscheinungen des Großstadtlebens in ein Gerüst der Harmonien und Gleichmäßigkeiten zu zwängen.⁵³ Individuelle Mobilität und öffentliche Beförderung von Personen mittels Straßenbahnen beziehen sich auf die rhythmischen Muster zeitlicher und räum Klages, Vom Wesen des Rhythmus, 23.  Klages, Vom Wesen des Rhythmus, 48.  Klages, Vom Wesen des Rhythmus, 67– 68.  Klages, Vom Wesen des Rhythmus, 62.  Julia Wagner. „Summe der Schnappschüsse“ und „Urtümliche Bindekräfte“. Ludwig Klages und Alexander Rodtschenko. Zeitschrift für Kulturphilosophie 7:1 (2013): 77– 86, hier 82. Ludwig Klages zeigt sich mit diesen Ausführungen als durchaus anschlussfähig an die völkisch-lebensreformerischen Ansichten, die sich im Umfeld der neuen Inter-Disziplin der Arbeitswissenschaften, insbesondere des 1925 von Karl Arnhold gegründeten Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung (DINTA), herausbildeten. Zum Verhältnis von Körper, Bewegung, Rationalisierung und Selbst-Optimierung vgl. Fritz Giese, Girlkultur.

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licher Ordnung. Sie verdichten Bewegungen zu wiederkehrenden Verhaltens-, Benutzungs-, Kommunikations- und Fahrweisen. Über diese Interaktionen werden Rhythmen im Stadtraum sichtbar, hörbar und spürbar. Es ist also gerade die Störung, die Unterbrechung, die die zeitlichen und räumlichen Abfolgen von Anund Abfahrten mitsamt den darin eingewobenen Taktungen kenntlich macht.

Pendlerströme in der Großstadt. Die Essener Verkehrskommission als Planungsinstanz In Essen sind um 1914 die Straßenbahnen das Transportmittel, welches diese Verkehrs- und Bewegungsverläufe ordnet und eintaktet. Die Beförderung von Arbeitenden und Angestellten in die Fabriken und Büros erzeugt eine tageszeitliche Rhythmisierung des städtischen Raums. Dadurch leistet der Fahrbetrieb eine zeitliche und räumliche Verdichtung.⁵⁴ Die Benutzung des Straßenraums zu regulieren, das heißt, planbar und vorhersehbar zu machen, ist eine der Aufgaben der städtischen Verkehrskommission. Dabei sind die zeitliche Häufung, das Aufkommen und die Verteilung von Verkehrsbewegungen, kommunalpolitisch bedeutsame Mobilitätsfragen. Es geht dabei um die Einteilung des Straßenraums und um die damit verbundenen Benutzungsrechte. Diese berühren ebenfalls die Gussstahlfabrik der Firma Krupp. Auf und zu deren Betriebsgelände hatten sich eigene Rhythmen der Bewegung ausgebildet. Das berührt den Pendelverkehr der Arbeitenden zu den Schichtwechseln, den Transportverkehr auf dem Firmengelände und die Koordination der Anschlüsse an das städtische bzw. staatliche Schienennetz. An der „provisorischen Gleiskreuzung der Anschlussbahn zur neuen Krupp’schen Bäckerei“ entgleist die Straßenbahn damals regelmäßig. Diese Weichenkreuzung sei eine „sehr komplizierte, provisorische Anlage“⁵⁵, so teilt der Straßenbahn-Manager Stremmer dem Essener Oberbürgermeister Zweigert im Oktober 1905 den Inhalt einer Besprechung mit dem (Tief‐)Bauamtsleiter Wiebe mit. Vom Werksgelände führen ein Schmalspur- und ein Normalspurgleis auf das öffentliche Schienennetz. An diesem Gleisübergang kreuzen sich unterschiedliche Spurbreiten und an dieser Schnittstelle treten permanent Störungen auf. Das Großunternehmen erklärt sich bereit, dieses Zugeständnis hatte Strem-

 Erich Giese. Das großstädtische Verkehrswesen. In Polizei und Verkehr, hg. von Erich Giese und Heinrich Paetsch. Berlin: Gersbach & Sohn, 1926, 11– 159, hier 12.  StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 58, Essener Strassenbahnen, Betriebsverwaltung, Herr Stremmer an Herrn Oberbürgermeister, Betr.: Besprechung mit Stadtbaurat Wiebe bezüglich „feuerspeiende Wagen“ und „Entgleisungen“, Essen, 7.10.1905, Bl. 89 – 90 (RS), Bl. 90.

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mer in Gesprächen mit der Krupp-Geschäftsführung erzielt, „durch sorgfältigstes Nacharbeiten und ständige Bewachung dieser Kreuzung“ zu versuchen, „die Betriebsstörungen nach Möglichkeit … bis zum Einbau der entgültigen (sic!) Anlage einzuschränken.“⁵⁶ Die Umbaumaßnahmen an der Schienenkreuzung der Essener Verkehrsgesellschaft lösen in der Folgezeit langandauernde Verkehrsstauungen aus. Mit dem Begriff „Verkehrsnot“ bezeichnet die städtische Verkehrskommission im August 1917 die Mobilitätsverhältnisse in der Stadt Essen.⁵⁷ Die vorgestellte Notlage des Essener Straßenbahnverkehrs verweist auf die vermeintliche Tatenlosigkeit der Verkehrs-Aktiengesellschaft in Friedenszeiten, auf hinausgeschobene Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen an den Gleisanlagen und Schienenbetten und auf das imaginierte Scheitern jeglicher Form von Planung und Taktung des Berufspendelverkehrs. Andrang und Distanz sorgen tagtäglich für Verzögerungen. Die dauerhafte Einführung des Drei-Schichten-Systems verlangt eine zeitliche Ausdehnung enger Taktzeiten in den späten Abend- und frühen Morgenstunden. Um diese Herausforderung meistern zu können, stellt die Stadt Essen 1917 beim Reichskriegsamt in Berlin einen Antrag, mit dem „eine schleunige Wiederherstellung und Wiederinbetriebsetzung der etwa 75 z. Zt. in Reparatur befindlichen Wagen der Strassenbahn“⁵⁸ erreicht und eine bessere Zuteilung von Kohlen und Ersatzmaterialien erzielt werden sollen. Die Verkehrskommission wehrt sich dagegen, die Inhaber von Zeitkarten „zwischen 18.20 und 19.30 Uhr“ von der Benutzung der Straßenbahnen auszuschließen und diejenigen, die „in kriegswichtigen Betrieben tätig sind“, zu bevorzugen.⁵⁹ Eher komme die zeitliche Staffelung des Arbeitsbeginns und des Schichtendes in Betracht. Da jedoch „augenblicklich etwa 9000 Arbeiter der Krupp’schen Werke in 72 Gemeinden“ des Industriebezirks wohnten, hält die Verkehrskommission diesen Vorschlag für nicht umsetzbar. Schließlich seien die Pendler auf die Anschlüsse an die Staatsbahn in Richtung Mülheim, Oberhausen, Bottrop, Gladbeck, Gelsenkirchen,Wattenscheid und Bochum angewiesen. Die Reichsbahn habe sich

 StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 58, Bl. 90 (RS).  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Stadt Essen, Verkehrskommission, Vorsitzender Dr. Schmidt, Sitzung der Verkehrskommission vom 15. 8.1917, Verkehr auf der Essener Straßenbahn, Essen, August 1917, Bl. 72– 74. [Anwesend: Beigeordneter Dr. Schmidt. Mitglieder der Verkehrskommission, Dr. Bothe, Hubrich (SEG), Köhne, Krawehl (Verkehrsverein), Leimgardt, Markmann, Dr. Niemeyer und Pegels sowie die Herren Stadtverordneten Fritzen, Hirtsiefer, Kloft, Nauheim und Wandel. Außerdem: Landrat Dr. Bauer, Beigeordneter Baasel und Beigeordneter Küppers, Protokollführer Welz (Verwaltungssekretär)].  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 73.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 73.

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erst nach langen und zähen Verhandlungen auf diesen Bedarf eingestellt. Ebenfalls stehe es außer Frage, die Mobilität der Arbeitenden nach Fahrwegen und Städten zu ordnen, weil es sich bei den Gruppen „um ganz verschiedene Arbeiterarten handele.“⁶⁰ Die Essener Verkehrskommission diskutiert weiter, ob den Großbetrieben die Einführung einer durchgehenden Arbeitszeit vorgeschlagen werden könne. Dann führen nämlich die Arbeitenden und Angestellten nicht mehr jeden Mitag zum Essen nach Hause. Dadurch könnten wiederum zwei Spitzenzeiten der tageszeitlichen Beförderung wegfallen. Allerdings steht diese Idee den bis dahin gewohnten, alltäglichen und anerkannten Praktiken der Straßenbahnbenutzung entgegen. Eine andere Möglichkeit, den Verkehrsfluss zu erhöhen und die Taktzeiten einzuhalten, bestehe darin, „möglichst viele entbehrliche Haltestellen“ wegfallen zu lassen oder bestimmte Haltepunkte zusammenzulegen.⁶¹ Das betrifft auch zentrale Orte der Innenstadt, wie beispielsweise die Zu- und Ausstiege vor dem Rathaus und dem Theater am Burgplatz beim Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Mit der Streichung von Haltepunkten erhöht sich die durchschnittliche Geschwindigkeit der Straßenbahnwagen, allerdings verlängerten sich dadurch die Laufwege für die zu Fuß Gehenden, um bestimmte Zustiege und Anschlüsse zu erreichen. Diese Maßnahmen ändern die Bewegungsweisen des Publikums im städtischen Raum.

Das unzufriedene Publikum. Straßenbahnbewegungen und kommunale Leistungsfähigkeit Die Straßenbahnwagen seien „beinahe regelmäßig überfüllt“, schreibt ein aufgebrachter Essener Bürger namens Saum im Oktober 1906 an die Stadtverwaltung der wachsenden Industriestadt. Diese Kernaussage der Beschwerde gegenüber der Essener Verkehrs-Aktiengesellschaft steht exemplarisch für die öffentliche Aushandlung von Verkehrsangelegenheiten in Großstädten. Nach Ansicht des Kunden kommen dabei verschiedene Missstände zusammen, die vom öffentlichen Nahverkehrsbetrieb zu verantworten sind. Saum hält die geringe Anzahl der Tramwagen für ein Manko. Ferner sind es die „zu grossen Pausen, in welchen die Wagen verkehren.“ Das führe drittens zu einer zeitlichen „Unregelmäßigkeit des Betriebes“. Das liege an den Stockungen und den Verdichtungen der Verkehrs-

 StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 73.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 73 (RS).

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bewegungen. Einen vierten Punkt sieht der Beschwerdeführende in der „mangelhaften Beschaffenheit des rollenden Materials“⁶², also der unzureichenden Ausstattung und technischen Leistungsfähigkeit der Straßenbahnwagen. Das Publikum dränge zudem umso stärker in die Wagen, je größer der zeitliche Abstand sei. Verkehrten die Triebwagen „regelmäßig alle 2 oder 3 Minuten“, dann würde das Publikum nach Saums Einschätzung „bei einem plötzlichen Andrang einer grossen Anzahl von Personen Geduld haben und zu den überfüllten Wagen nicht in dem Masse zu drängen, wie dies jetzt geschieht.“⁶³ Der Bürger fordert von der Straßenbahnverwaltung, auf den einzelnen Linien einen häufigeren Verkehr der Wagen einzurichten. Das bedeutet jedoch, die Gefahr von Stauungen zu erhöhen und keine Verbesserungen bei der durchschnittlichen Fahrgeschwindigkeit mehr zu erreichen. An Saums Ausführungen zeigt sich, dass der städtische Straßenbahnverkehr eine Ansammlung von Optimierungskonflikten ist. Ein „moderner Betrieb in einer so verkehrsreichen Stadt wie Essen“⁶⁴ ist für den Kunden nur möglich, wenn die Stadtverwaltung diese Verbesserungen bei der Verkehrsgesellschaft anmahnt. Der Bürgerverein Rüttenscheid bringt im November 1906 ähnlichen Unmut zum Ausdruck. Gegenüber Oberbürgermeister Wilhelm Holle, Adressat des Schreibens, verdeutlicht die Bürgerinitiative, dass die Bummelei der Straßenbahn dazu führe, dass die Fahrgäste in Richtung Rüttenscheid ihre Anschlüsse verpassten. Holle steht in seiner Funktion als Vorsteher der Ortspolizeibehörde und in seiner Rolle als Vorsitzender des Straßenbahnaufsichtsrats in einer mehrfachen Verantwortung. Das Gedränge an den Haltestellen sei ebenso unerträglich wie die „chronische Überfüllung der Wagen zu den Hauptfahrzeiten.“⁶⁵ Zudem, so heißt es in dem Beschwerdeschreiben der Bürgerinitiative, fahre die Straßenbahn Wegstrecken, die nach Meinung dieser Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils Rüttenscheid unnötig erscheinen. Schließlich bedeuten Umwege Zeitverlust. Ganz im Sinne Georg Simmels zerteilen die empörten Rüttenscheider Bürgerinnen und Bürger, Geschäftsleute, Pendler und Händler den städtischen Raum. Es sind Abschnitte einer überflüssigen, einer möglichen und einer erfor-

 StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 58, [Hauptamt] Schreiben des Essener Bürgers Saum an Stadtverwaltung Essen, Betr.: Ueberfüllung der Strassenbahnwagen und polizeiliches Einschreiten dagegen, Essen, 26.10.1906, Bl. 180 – 183 (RS), Bl. 180.  StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 58, Bl. 181.  StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 58, [Hauptamt] Betr.: Ueberfüllung der Strassenbahnwagen, Bl. 183 (RS).  StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 58, [Hauptamt] Bürgerverein zu Rüttenscheid, Herr Schmiedehaus, an Oberbürgermeister der Stadt Essen (Wilhelm Holle), Betr.: Beschwerden über die Essener Straßenbahn, Essen, 22.11.1906, Bl. 193 – 195.

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derlichen Befahrung. Dieser Verhandlungsvorschlag markiert Routen, die die Straßenbahn durch Essen nehmen soll, wo die Wagen halten mögen, in welchem zeitlichen Abstand sie aufeinander folgen sollen. Das beinhaltet zudem einen Ausschluss bestimmter Teile der Stadt und der angrenzenden Gemeinden. Dadurch werden bestimmte Anwohnende von den Rhythmen und den darauf abgestimmten, getakteten Anschlüssen abgehängt. Dieser Optimierungskonflikt verstärkt sich bereits während des ersten Kriegsjahres. Im Juni 1915 teilt das Essener Verkehrsunternehmen der Verkehrskommission mit, dass es in der Lage sei die Herausforderungen des Personennahverkehrs unter den Bedingungen des Kriegs zu meistern. Der Betrieb der Straßenbahnen, welcher „zu Anfang des Krieges große Einschränkungen erfahren hatte“, sei „inzwischen bis zu 90 – 95 % wieder aufgenommen worden.“⁶⁶ Weiterhin gibt es jedoch Störungen im Betriebsablauf und dadurch bedingte Unterbrechungen. Die Verkehrsgesellschaft hat zudem einen erhöhten Bedarf an Wagenführern, weil die bisherigen Fahrer zum Teil in den Krieg eingezogen worden sind oder sich ähnlich wie andere potenzielle Kandidaten um eine Arbeit in der Kriegsindustrie bemühen. Die Abmilderung betriebsbedingter Einschränkungen erreicht die Verkehrs-Aktiengesellschaft durch Konzentration ihres Fahrangebots auf Kernstrecken sowie eine zeitliche Ausdünnung auf Nebenlinien bzw. die Stilllegung ab bestimmten Knotenpunkten. Diese zeitliche und räumliche Begrenzung rührt auch daher, dass die Militärverwaltung die Fahrzeuge, Triebwagen und Anhänger beschlagnahmt hat. Das städtische Tiefbauamt, so wird ebenfalls moniert, schiebe die Neupflasterung von Straßendecken genauso auf die Zeit nach Beendigung des Kriegs hinaus wie die Straßenbahngesellschaft die Instandhaltung der Gleisanlagen verschleppe.⁶⁷ Die Essener Verkehrskommission diskutiert im Juni 1915 eine Auflistung des Straßenbahnbetriebes, wie sich die zeitlichen Taktungen der einzelnen Fahrstrecken und Linien – vor August 1914 und nach der Mobilmachung – verändert und verschoben hatten.⁶⁸ Die Linien 1, 2, 3, 9 und 11 verkehren als Hauptstrecken nach wie vor im Abstand von zehn bzw. zwölf Minuten. Sie takten die Pendlerströme im Stadtgebiet Essens. Die Linien 4, 16 und 17 fahren im doppelten Zeittakt alle 24 Minuten. Sie besitzen noch den Status von Nebenlinien. Die Strecken 6 und 7 waren durch eine Taktverkürzung aufgewertet worden, weil sie die Beförderungen der Passagiere der inzwischen eingestellten Linien 12 und 15 übernehmen.  StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 59, Beschluss der Sitzung der Verkehrskommission vom 25. 5.1915, Betr.: Betriebseinschränkungen der Eisenbahn, Essen, 11.6.1915, Bl. 244 (VS).  StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 59, Bl. 244 (RS).  StA Essen, Rep. 102 XXI Nr. 59, Taktzeiten Essener Straßenbahnen, Anlage zur Sitzung der Verkehrskommission, 25.5.1915, Bl. 245.

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Abbildung: StA Essen, Rep. 145, Nr. 1015, Linienplan der Essener Straßenbahnen (ca. 1910)

Die Linien 13 und 14 sind komplett und ersatzlos weggefallen. Zwischen der Abzweigung Essen-Katernberg und Margarethenhöhe – über Hauptbahnhof – ersetzt die Nummer 10 die Linie 8. Stilllegung, Ersetzung, Umleitung von Linien sowie die Stärkung von Hauptstrecken sind Maßnahmen der damaligen Essener Verkehrsgesellschaft, um die raumzeitliche Stabilität des Straßenbahnverkehrs trotz veränderter technischer und infrastruktureller Bedingungen abzusichern. Im Gegensatz zur städtischen Verkehrskommission und der von der Stadt Essen konzessionierten Betreiberfirma des Nahverkehrs versteht sich der kommunale Verkehrsverein als Interessenvertretung der Fahrgäste, aber auch der lokalen Großbetriebe, die die kommunalen Verkehrseinrichtungen mit der zeitlichen Organisation des Pendlerverkehrs – möglichst ohne eigene finanzielle Beteiligung – beauftragen und ihnen die konkreten Umsetzungen überlassen. Der Essener Verkehrsverein liegt während der Kriegszeit mit der Geschäftsführung des Straßenbahnunternehmens regelmäßig über Kreuz. Der Verein bemängelt die Fahrleistung in den Stadtvierteln, die zeitliche Taktung der Strecken, die Überfüllung der Tramwagen sowie deren Sitzkomfort. Dieser Dissens ist der lokalen Presse stets eine Nachricht wert. Die Vorwürfe hält Straßenbahndirektor

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Otto Hubrich für „ganz ungerechtfertigt“⁶⁹ und verwahrt sich gegen die öffentliche Diskreditierung seines Unternehmens. „Speziell nach Ausbruch des Krieges“ habe die in Essen ansässige Königliche Eisenbahn-Direktion als technische Aufsichtsbehörde „eingehend durch einen Beamten unsere Fahrpläne und Diensteinteilungen prüfen“⁷⁰ lassen, schreibt Hubrich an den Vorsitzenden des Städtischen Verkehrsvereins, Bergassessor Otto Krawehl⁷¹, seines Zeichens Vorsitzender des Grubenvorstands der Gewerkschaft Victor und ein ausgezeichnet vernetzter Bergbaumanager. Hätten sich gravierende Mängel „in unserer Organisation oder Unzulänglichkeit der Einrichtungen gezeigt“, so wäre das dem Eisenbahnfachmann der staatlichen Aufsichtsbehörde in seinem Gutachten aufgefallen.⁷² Die Königliche Eisenbahndirektion sieht sich ebenfalls genötigt, ob der wiederholten öffentlichen Beschwerden des Essener Verkehrsvereins sich im Oktober 1916 gegenüber dem Düsseldorfer Regierungspräsidenten zu äußern. Die Straßenbahn sei „stets bestrebt gewesen …, ihre Einrichtungen dem wachsenden Verkehr an (zu)passen.“⁷³ Deshalb könnten „in ausschließlich industriellen Gegenden die Straßenbahnen in der Zeit der Mittagspausen, des Schichtwechsels und dgl. niemals den Verkehr in wirklich vollkommener Weise bewältigen.“⁷⁴ Zu Stoßzeiten sei die Straßenbahn schlichtweg nicht in der Lage, die aus den Fabriken und Büros strömenden Menschen zeitnah mit Fahrgelegenheiten zu bedienen. Trotz der hohen Taktung von Zeit- und Fahreinheiten im städtischen Raum beförderten die Wagen zu wenige Personen. Da sich die Tramwagen den Straßenraum mit anderen Fahrzeugen teilen müssten, führe das häufig – insbesondere bei Unfällen oder technisch bedingten Fahrzeugschäden – zu Verkehrsstauungen. „Infolge der durch den Krieg hervorgerufenen Betriebseinschränkungen ist es auch der Stra-

 StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Süddeutsche Eisenbahngesellschaft Essen, Generaldirektor (Otto) Hubrich an Verkehrsverein Essen, Generaldirektor Bergassessor (Otto Ernst Gustav) Krawehl, Betr.: Kritik des Verkehrsvereines Essens am Betrieb der Elektrischen Straßenbahnen, Essen, 21. 8. 1916, Bl. 35 – 36, Bl. 35.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 36.  Zur Person Otto Krawehls siehe URL: http://www.archive.nrw.de/LAV_NRW/jsp/bestand.jsp? archivNr=421&tektId=28 (02.07. 2018).  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Generaldirektor Hubrich an Verkehrsverein Essen, Krawehl, 21. 8. 1916, Bl. 36.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Königliche Eisenbahndirektion, Essen, an Regierungs-Präsident, Düsseldorf, Betr.: Veröffentlichungen des Verkehrsvereines Essen über den Betrieb der dortigen Straßenbahnen, Essen, 6.10.1916, Bl. 37.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 37.

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ßenbahn nicht möglich, den Verkehr wie in normalen Zeiten zu bewältigen“⁷⁵, bittet der Generaldirektor der Essener Straßenbahnen die Städtische Verkehrskommission um Verständnis. Oberbürgermeister und Stadtverwaltung verlangen jedoch vom Verkehrsbetrieb schließlich, zu „verkehrsreichen Tageszeiten eine zeitweise Überfüllung der Wagen“ zuzulassen, „um möglichst viel Fahrgäste mitnehmen zu können.“⁷⁶ Gegen diesen „Notbehelf“ würden „alle einsichtigen Fahrgäste“, besonders die „ständigen Benutzer der Straßenbahn … nichts einzuwenden haben“, weil es „wohl jedermanns Wunsch“ sei, „möglichst schnell befördert zu werden und nicht zulange an den Haltestellen zu warten.“⁷⁷ Im Geschäftsjahr 1905/06 erstreckt sich das Schienennetz der Essener Straßenbahn auf 56,14 Kilometer. 199 Tramwagen befahren die Gleise. Zehn Jahre später bedienen die Linien ein Netz von 83,45 Kilometer Ausdehnung. Die Zahl der Straßenbahnwagen verdoppelt sich in dieser Zeit auf 405 Wagen. Von etwa 23 Millionen (23.019.643) beförderter Fahrgäste 1905 wächst die Zahl auf knapp unter 60 Millionen Personen (59.0545.92) zehn Jahre später um mehr als das Zweieinhalbfache an.⁷⁸ Der befahrene Stadtraum dehnt sich, die Tramwagen befördern zwar mehr Personen, sind aber noch von derselben Bauart wie vor dem Kriegsausbruch und deshalb nicht zwangsläufig geräumiger. Die Verdichtung im Straßenverkehr und die wachsende Zahl von Beschäftigten in der industriellen Produktion verändern die zeitlichen und räumlichen Rhythmen. Und obwohl die Zahlen ein positives Bild zeichnen, konturiert sich eine abweichende raumzeitliche Wahrnehmung der Taktungen und Rhythmisierungen der Beförderungsbewegungen in Essen. Fahreinschränkungen zu befürchten und zu kritisieren, markiert die Sorge um die Leistungsfähigkeit kommunaler Institutionen wie der Straßenbahn und um damit verbundene bürgerliche Selbstverortungen in Krisenzeiten. Im März 1917 merkt der Verkehrsvereinsvorsitzende Krawehl an, „dass die Strassenbahn der Stadt Essen ihren Betrieb weiter einschränken wird.“⁷⁹ Der Geschäftsführer eines großen Bergbaubetriebes bittet den Regierungspräsidenten diese Verschlechterungen im Fahrbetrieb nicht

 StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Süddeutsche Eisenbahngesellschaft Essen, [Generaldirektor Hubrich], [an Beigeordneten Schütz als Vorsitzenden der Verkehrskommission Essen], Betr.: Überfüllung der Straßenbahnwagen, Essen, o. D. [November 1916], Bl. 40.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 40.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 40.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Süddeutsche Eisenbahngesellschaft Essen, Straßenbahnverkehr in Essen, 1905 – 1915, o. O [Essen]. o. D.[1916], Bl. 68.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60,Verkehrsverein für den Stadt- und Landkreis Essen, (Otto) Krawehl, an Herrn königlichen Regierungspräsidenten, Düsseldorf, Betr.: Betriebseinschränkungen der Strassenbahn der Stadt Essen, Essen, 5. 3.1917, Bl. 38.

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genehmigen zu wollen. Die Stadtviertel, in denen die Arbeitspendelnden wohnten, seien „erheblich weit vom Zentrum der Stadt, nämlich der Krupp’schen Gusstahlwerke (sic!) und der Altstadt, nach aussen“⁸⁰ weggerückt. Aufgrund dieser gegebenen stadträumlichen Bedingungen sei der Straßenbahnverkehr in Essen von besonderer Wichtigkeit „und dies umsomehr, als die Gusstahlwerke (sic!) ihre Arbeiter und Beamtenzahl“ mehr als verdoppelt hätten. Die Arbeiter und Angestellten, die in den Werken beschäftigt seien, legten große Entfernungen zurück und wenn die „Beförderung derselben bereits in Friedenszeit zu wünschen übrig liess“, dann treffe das „bei den jetzigen Umständen“⁸¹ noch eindrücklicher zu. Zeitverlust war eine Taktung des proletarischen Alltags in Essen. Die Arbeiter seien nach „durchweg 11– 12 stündiger Schicht müde“ und strebten „infolge der mangelhaften Ernährung hungrig nach Hause.“ Dafür werde ihnen aber nicht ausreichend Gelegenheit geboten. Er fügt hinzu: „Dieser Umstand dient unseres Erachtens dazu, die hiesige Bevölkerung noch mehr zu beunruhigen und unzufriedener zu machen, wie sie ohnehin schon ist.“⁸² Die Ent-Taktung der öffentlichen Mobilität wird in Krawehls dramatisierender Darstellung zu einem Gradmesser der Legitimitätsansprüche kommunaler und staatlicher Institutionen. Der Vertreter des Verkehrsvereins bezieht sich auf eine Eingabe aus dem Vormonat sowie auf den Jahresbericht der kommunalen Verkehrskommissionen und betont, „dass die große Notlage des jetzigen Straßenbahnverkehrs für die hiesige arbeitende Bevölkerung in der Vergangenheit begründet ist.“⁸³ In den Friedensjahren habe der Essener Straßenbahnbetrieb „Fehler und Versäumnisse“ begangen, die sich nun während des Kriegs nicht revidieren ließen. In den „schwerarbeitenden Kreisen“ herrsche, dramatisiert Krawehl, eine große „Erbitterung gegen die Verkehrsverhältnisse.“⁸⁴ Da den Arbeitenden „die Zeit ohnehin ungemein kostbar“ sei, würden verbesserte Taktzeiten sowie ein zeitlich und räumlich ausgedehnter, störungsfreier öffentlicher Nahverkehr zur Befriedigung der Arbeiterklasse beitragen. Die raumzeitliche Stabilität von Verkehrsrhythmen dient dazu, so suggeriert die Perspektive des Essener Verkehrsvereins, das vorhandene revolutionäre Potenzial sozialer Unzufriedenheit zu besänftigen. Krawehls Angstprojektion sozialer Unordnung ist an eine dauerhaft unterbrochene, unkalkulierbare Bewegungsfähigkeit im städtischen Raum gekoppelt. Das findet Nachhall bei der Düsseldorfer Regierung. Drei Monate später, im Juni 1917, antwortet das dortige Regierungspräsidium dem     

StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 38. StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 38. StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 38. StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 38. StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 38 (RS).

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Unternehmer und Verkehrslobbyisten. Weitere Beschränkungen des öffentlichen Nahverkehrs in Essen würden weder vom Straßenbahnunternehmen selbst „noch von den Aufsichtsbehörden ins Auge gefasst.“⁸⁵ Die Essener Verkehrs-Aktiengesellschaft beabsichtige sogar, neue Anhängerwagen für die elektrischen Schienenfahrzeuge anzuschaffen. Zwar bemühten sich die Königliche Eisenbahndirektion, die Militärbehörden und das private Verkehrsunternehmen „den Betrieb so gut auszugestalten, wie dies unter den gegenwärtigen … ungünstigen Verhältnissen möglich ist.“ Allerdings sei keine der genannten Institutionen dazu augenblicklich in der Lage, bedauert das Düsseldorfer Regierungspräsidium gegenüber Otto Krawehl, wobei es, und das ist in der Rückantwort unterstrichen, „dahin gestellt bleiben kann, ob es überhaupt auch in Friedenszeiten technisch und wirtschaftlich möglich ist, Straßenbahnen „so einzurichten, dass sie dem im hiesigen Industriebezirke sich auf ganz kurze Zeit zusammendrängenden Massenverkehr stets ohne Schwierigkeiten gewachsen sind.“⁸⁶ Das Düsseldorfer Regierungspräsidium lehnt Taktverlängerungen für einzelne Strecken während der Hauptverkehrszeit genauso wie die zeitliche Beschränkung der Beförderung für einzelne Bevölkerungsgruppen mit der Begründung ab, dass „dadurch noch weitere Kreise der Bevölkerung geschädigt und unzufrieden gemacht würden.“ Die Mobilitätsbedingungen für in Schichten Arbeitende verbesserten sich durch solche Maßnahmen „in den Zeiten des Massenandranges“⁸⁷ keinesfalls. Deshalb könne diese soziale Gruppe auch nicht entsprechend zufriedengestellt werden, denn eine solche Bevorzugung ginge nur auf Kosten anderer Teile der Bevölkerung. Krawehl spielt geschickt auf die instabilen gesellschaftlichen Stimmungslagen bestimmter sozialer Gruppen an.

Verkehrsflüsse und Verkehrsstockungen im Stadtraum. Auf dem Weg zur Rhythmusanalyse Für die Arbeitenden ist der Zeitverlust eine sinnlich und körperlich erfahrbare Fehlfunktion öffentlicher Ordnung. Sie tritt als eine dauerhafte Störung zeitlicher und räumlicher Abfolgen auf. Rhythmusverschiebungen wirken auf die Wahrnehmung von Körper, Raum und Mobilität ein. Diese Unterbrechungen legen

 StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Regierung Düsseldorf, Regierungs-Präsident, (i. V.) Oberregierungsrat Hoffmann, an Verkehrsverein für den Stadt- und Landkreis Essen, Herr Krawehl, Betr.: Erwiderung der Aufsichtsbehörde auf die Eingabe vom 5. 3.1917, Düsseldorf, 5.6.1917, Bl. 39.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 39.  StA Essen, Rep. 120, Nr. 60, Bl. 39.

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Zugänge für neue Bezeichnungen raumzeitlicher Einheiten und die Umdeutung sozialer Bewegungsverhältnisse. Die Revolution auf die Straße zu bringen, bedeutet somit auch, die bestehenden Rhythmisierungen des öffentlichen Straßenbahnverkehrs aufzubrechen. Ein veränderter Rhythmus verweist auf den Anspruch einer gesellschaftlichen Neubestimmung – zumindest im lokalen Raum einer Industriestadt wie Essen. Verkehrsinfrastrukturen und Personenbeförderung sind Einrichtungen des öffentlichen Raums, die Rhythmen der Mobilität etablieren. Über diese sozialen und technischen Ordnungen festigen sich Gewohnheiten, bekräftigt sich raumzeitliche Normalität. Diese Rhythmisierungen und Taktungen von städtischem Raum markieren körperliche, sinnliche soziale und technische Konstellationen eines Modernisierungsnarrativs. Es sind auch immer die Verhältnisse zwischen sozialen Klassen, die die Institutionalisierung von Abhängigkeiten verdichten – und zwar sozial, technisch, räumlich und zeitlich. Rhythmen beruhen auf Wiederholungen von Bewegungen und Differenzen. Henri Lefebvre und Catherine Régulier unterscheiden eine zyklische von einer linearen Form der Wiederholung. Die Position des Betrachtenden hat für die Beschreibung und Analyse des Rhythmus entscheidende Bedeutung. „Die Äußerlichkeit, das Außenstehen, ist nötig“, schreiben Lefebvre und Régulier. Um Rhythmus zugleich körperlich und physiologisch zu begreifen, müsse man allerdings auch „von ihm erfasst sein, muss man sich ‚innerlich‘ der Zeit, die er rhythmisiert, hingeben oder sich dieser überlassen.“⁸⁸ Die Wiederholungen, Wiederaufnahmen, Rückbezüge und das Wiederbeginnen verhalten sich zur Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Umgebung. Jedoch kann Rhythmus „nur langsam oder schnell im Verhältnis zu anderen Rhythmen“⁸⁹ sein, mit denen er in einer größeren oder kleineren Zeit- und Raumeinheit verbunden ist. Zyklische Rhythmen verweisen auf die Möglichkeit des Wiederbeginnens. Das Lineare dagegen definiert sich durch die Abfolge und die Reproduktion desselben ganz oder nahezu identischen Phänomens in mehr oder weniger kurzen Intervallen. Eine zeitliche Reihung von Hammerschlägen ist ein solches Beispiel. Es ist eine repetitive Serie, in die stärkere und schwächere Schläge, und auch die Pausen, in regelmäßiger Folge eingehen.⁹⁰ Régulier und Lefebvre betonen die Bedeutung der Allianzbeziehungen und -verweigerungen. Diese haben ihren Platz in den Handlungen und Praktiken, „entfalten sich im Innern dieser sozialen Zeit, zu deren Produktion (oder Reproduktion) sie beitragen, indem sie ihr einen

 Lefebvre und Régulier, Rythmanalyse, 2.  Lefebvre und Régulier, Rythmanalyse, 3.  Lefebvre und Régulier, Rythmanalyse, 3 – 4.

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Rhythmus aufprägen.“⁹¹ Deshalb ist „jeder soziale, kollektive Rhythmus von den Formen der Allianzen bestimmt …, die sich die Menschengruppen geben.“⁹² Sie stellen zwar die Klassenbeziehungen und Machtverhältnisse heraus, aber die Auswirkungen technischer (Verkehrs‐)Infrastrukturen auf die Rhythmisierung der Lebenswelt. In dieses Spiel der Raumkonstruktion gehören auch Rhythmen der Umwelt. Diese bringen Zeitlichkeit, bringen körperliche Erfahrung, sinnliche Wahrnehmung, technologische Potenziale sowie die daran geknüpfte Dysfunktione zum Ausdruck. Die Benutzung der öffentlichen Nahverkehrsmittel enthält zeitliche Rhythmen, die sich über Distanzen erstrecken und die den städtischen Raum verdichten. Die Fahrgäste nehmen als Handelnde, als Beförderte und Konsumierende an diesen zeitlichen und räumlichen Kompressionen teil. Die Tramwagen, die Gleisanlagen, die Linienführung und die zeitliche Taktung der Fahrzeuge sind weitere Komponenten. Aus der Vielschichtigkeit dieser sozialen, technischen, räumlichen und zeitlichen Interaktionen entstehen Dissonanzen. Beschwerden von Kundinnen und Kunden markieren diese Störungen gegenüber den Geschäftsführungen kommunaler Verkehrsbetriebe oder den Verkehrskommissionen der Stadtverwaltungen. Wenn sich räumliche Ordnung in und durch Bewegungen bildet und Rhythmen deren Beschaffenheit in der Gegenwart bezeichnen, dann drängen sich Vorgänge der Ausschließung und Störung in das Blickfeld. Daran lassen sich die Anstrengungen und Praktiken der sozialen Produktion von Raum aufzeigen. Der Straßenbahnverkehr ist ein Bestandteil dieser Konstellationen. Das Wiederkehrende ist dabei als ein Verfahren der Normierung zu lesen, eine Prozedur, um Zeitlichkeit in Taktungen zu standardisieren. Verkehrsbewegungen durchdringen den städtischen Raum, dehnen und erweitern die darin enthaltenen Verknüpfungen. Fahrpläne enthalten Taktzeiten, konfigurieren Abfolgen der Bewegung der Straßenbahnwagen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Taktung ist das Metronom der Normalität. Es ist die Regulierungsinstanz der räumlichen und zeitlichen Ungleichheiten – nicht der sozialen, kulturellen und ökonomischen. Die Mobilitätsansprüche im öffentlichen Raum haben sich im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Erwartungshaltungen verdichtet. Die Konsumentinnen und Konsumenten stellen sich auf die Taktungen des Nahverkehrs ein, üben, trainieren und erlernen die dadurch gesetzten Rhythmen. Die bürgerlichen und proletarischen Fahrgäste erwarten von den städtischen Verkehrsbetrieben, dass diese auch unter den Bedingungen des Kriegs die Bewegungsfähigkeit im

 Lefebvre und Régulier, Rythmanalyse, 6.  Lefebvre und Régulier, Rythmanalyse, 6.

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städtischen Raum gewährleisten können. Diesbezügliche Einschränkungen und Ent-Taktungen erscheinen als Normverstöße gegen die im Fahrplan festgeschriebenen Taktungen und die damit verbundene, gewohnte, als gewöhnlich konstruierte Ordnung des städtischen Raums. Karl Bücher betrachtet die Beziehungsverhältnisse von Arbeit und Rhythmus vor dem Hintergrund der sich immer stärker abzeichnenden Ausdifferenzierung von Fabrikarbeit. Bei ihm bezieht sich die Optimierung von Prozeduren auf Materialien, Apparate und gefertigte Waren. Die körperlichen und physiologischen Beziehungen zwischen Arbeitenden und den entweder durch Motoren oder durch Strom betriebenen Werkzeugen werden durch Büchers Überlegungen beschreibbar. Das gilt auch für Arbeitszeit und Schichtwechsel, denn beides sind Taktungen zeitlicher Einheiten. Die Verkehrsbewegungen der Straßenbahnen erzeugen städtischen Raum als rhythmisches Produkt der Zeit. Bewegungen sind im phänomenologischen Verständnis von Ludwig Klages stark von dessen musikalischem Wissen gerahmt. Durch Taktungen richten sich die Körper der Individuen auf die Bearbeitung des Raums aus, besetzen die Sphäre des Öffentlichen, zementieren die darin enthaltenen Herrschaftsstrukturen oder fordern diese heraus. Für August Endell und Helmuth Plessner sind Rhythmen Teilaspekte der sinnlichen Bearbeitung von Umwelt, Mobilität und Raumgestalt. Sie betonen die physiologische Konstruktion räumlicher und zeitlicher Ganzheiten. Daran lassen sich kompositorische Vorstellungen über die Notation urbaner Rauminhalte anschließen, die anhand von Bewegungsverläufen und Begrenzungen aufgeschrieben werden können. Straßenbahnen erzeugen soziale Rhythmen. Sie bezeichnen auf diese Weise eine Schichtung innerhalb des öffentlichen Raums. Dort interagieren Gruppen und streiten über die temporär gültigen Ausrichtungen von Mobilitätsverhältnissen. Das schließt die ungleiche Verteilung von Zugangs- und Benutzungsmöglichkeiten ein. Sämtliche theoretischen Annäherungen an Bewegungsformen und die verschiedenen Wesensarten von Rhythmen blenden Mobilität im öffentlichen Raum und deren technische Bedingungen aus. Fahrpläne schreiben Taktungen in die Konstellationen des städtischen Raums ein. Die zeitliche Abfolge von Straßenbahnen, die die verschiedenen Stadtviertel miteinander verbinden, sich an Knotenpunkten zu bestimmten Tageszeiten verdichten und in den Abendstunden entzerren, sind Elemente dieser sozialen Rhythmen. Mit dem Übergang von den Pferdebahnen zu elektrifizierten Tramwagen beschleunigt sich die Zurücklegung von Entfernungen in der Stadt. Damit lagern sich die technisch-artifiziellen Rhythmen des Transportierens von Fahrgästen und Gütern in der Stadt als (Ver‐)Handlungs- und Erfahrungsraum an. Gerade dadurch setzt sich ein technischer Rhythmus im Bewegungsgeflecht der Stadt durch, der im Rahmen einer historischen von Lefebvre und Régulier inspirierten Rhythmusanalyse unbedingt hinzu gedacht werden muss. Insbesondere die Bearbei-

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tung von Störungen erlangt hinsichtlich der Normierungspraktiken von Verkehr und Mobilität – und zwar im Vergleich der letzten Friedensjahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, der Zeit während des Krieges und der Übergänge in die Nachkriegszeit – zentrale Bedeutung.Verkehrsbewegungen im öffentlichen Raum sind polyrhythmische Anordnungen, die Zeitlichkeit und Räumlichkeit immer wieder neu bestimmen. Es sind gerade diese Unterbrechungen, Blockierungen und Stauungen, die die Instabilität der Bewegungen betonen. Die technischen Rhythmen der Mobilität markieren die sozialen Raumverhältnisse als Macht- und Herrschaftsbeziehungen. Der Begriff ‚Verkehrsnot‘ bezeichnet demnach eine defizitäre Vorstellung davon, wie die Taktungen von Beförderungsmitteln und Beförderten beschaffen sind, und wie die sich dadurch etablierenden sozialen Bewegungsräume auf die Verhältnisse des städtischen Raums einwirken. Genau diese im Rhythmus enthaltenen sozialen und technischen Kommunikationsbeziehungen bestimmen maßgeblich Urbanität, gliedern Stadt als Raum. Diese Interaktions- und Kommunikationsverhältnisse erzeugen und verstetigen Praktiken der Raumaneignung. Die Rhythmusanalyse kann diese Schichtungen von Bewegungen freilegen, wenn sie die Vorstellungen, Handlungsweisen und Zuordnungen von sich im Raum bewegenden Menschen zu fahrenden Maschinen und Geräten sowie den jeweiligen Mobilitätszeiten und -taktungen zu ihrem Gegenstand macht und in den Mittelpunkt einer historischen Betrachtung rückt.

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Einen Moment bitte. Moderation als Technik im 20. Jahrhundert English abstract: One Moment! Moderation as Technology in the 20th Century. Female agents connect media technology. They intervene decisively in the production process of stable landlines, of television images, audio channels, programmed computers, announced and chaired broadcasts. Women bypassed insufficient technical infrastructures, devices and studio environments, helped improving systems of producing media, and in this capacity moderated major shifts in the ways audiences watch, listen, browse and consume mediated images of the ‘world’ on the outside of receiver and the screen. As a historiographic figure, female intervention was pioneering more flexible CVs– of individuals, of machines and of infrastructures – and shaped the courses of history. Objectively, for there to be change, a social group, a class or caste, must intervene by imprinting a rhythm on an era, be it through force or in an insinuating manner. In the course of a crisis, in a critical situation, a group must designate itself as an innovator or producer of meaning. And its acts must inscribe themselves on reality. Henri Lefebvre: Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life, 14.

Der folgende Artikel stellt exemplarisch Frauenarbeitsplätze im 20. Jahrhundert vor. Die Auswahl orientiert sich an den Stationen einer Karriere der historiographischen Figur der Moderatorin. Es geht zunächst um Moderatorinnen im übertragenen Sinn: um Frauenfiguren, die in neue soziotechnische Verhältnisse einführen und im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend zu einer reflexiven Figur verdichtet wurden. Anschließend wird der Fokus auf die historiographische Ebene beibehalten, wenn die Moderatorin im Wortsinn behandelt wird. An ihr und durch sie wird es in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts möglich und nötig, Moderationen als raumzeitliche Modellierungen zu diskutieren. Aufgezeigt wird dies anhand des Lebenslaufs und einer Arbeitsprobe aus dem Jahr 1979 der Fernseh- und Radiomoderatorin Marianne Koch.¹ Die hier versammelten Figuren – Telefonistin, Cutterin, Fernsehansagerin und -moderatorin – haben gemeinsam, dass sie vermitteln. Sie agieren dabei in Zwischenräumen und zeitlichen Lücken. Sie vermitteln zwischen Mensch und

 Ich danke Alban Frei und Hannes Mangold (Zürich) für die Anregung, das Thema zu bearbeiten, Verena Mund (Frankfurt a.M.) für konzeptionellen Support, Martin Stollery (London) für materielle Inputs sowie Heiner Stahl (Erfurt/Siegen) für Hinweise zum Konzept und Text. https://doi.org/10.1515/9783110466591-008

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Technik, indem sie Taktungen ermöglichen und Rhythmen erzeugen. Ihnen wird die Zeit, der Raum und auch die Freiheit zugestanden, an ihren Arbeitsplätzen Interventionen auszuführen. Veränderung und Anpassung gehören zwar explizit ins Pflichtenheft der genannten historiographischen Figuren, die Innovation wird in ihrem historiographischen Profil aber gerade ausgeschlossen. Moderationsdiskurse handeln davon, dass die Erfindung immer schon geschehen ist, wenn die Moderatorinnen ihr zum Durchbruch verhelfen. Mit Henri Lefebvre ist die Krise der Moment, in dem Akteurinnen sich selbst als Innovatorinnen definieren müssen, wenn sie Veränderungen herbeiführen wollen. Innovation ist ein sozialer Akt der Einschreibung.² Ich verstehe Lefebvres analytisches Instrumentarium daher als Angebot, Vermittlungen und Prozessinnovationen historisch zu untersuchen, ohne sie als „fortschrittlich“ oder „optimiert“ ausweisen zu müssen. Nachverfolgt werden vielmehr multiple Anfänge kreativer Kritik.³ Lefebvres Rhythmusanalyse wird im Folgenden an einem relativ schmalen aber hinsichtlich der Technologien Telefon und Computer durchaus einschlägigen Quellenkorpus zur Anwendung gebracht. „Die Telefonistin“ und „die Programmiererin“ sind Figuren, denen in technik- und medienhistorischen Arbeiten immer wieder Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die vorliegende analytische Skizze erweitert dieses Korpus um Material aus dem Fernsehbereich und hat zum Ziel, weiterführende Recherchefragen zu eröffnen. Der Beitrag knüpft zugleich an aktuelle geschichts-, literatur-, und medienwissenschaftliche Untersuchungen zu Figuren an. Als „Personal“ bestimmter Epochen stehen sie spezifisch für ihre jeweilige Zeit, weil sie wichtige Funktionen in der Wissensproduktion einnehmen.⁴

 Henri Lefebvre. Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life. London, New York: Continuum, 2004 (urspr. Paris: Éditions Syllepse, 1992), 14.  Die (konstruktive) Kritik an großen sozialen Ideen ist es, die für den Historiker Daniel T. Rodgers im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein neues Zeitalter begründet. Siehe Daniel T. Rodgers. Age of Fracture. Cambridge, Mass., London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2011.  Siehe die Beiträge in den Sammelbänden Das Personal der Postmoderne. Inventur einer Epoche, hg. von Alban Frei und Hannes Mangold. Bielefeld: transcript, 2015, sowie Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung, hg. von Lilith Jappe, Olav Krämer und Fabian Lampart. Berlin: De Gruyter, 2012. Vgl. auch Florian Hoof. Engel der Effizienz. Eine Mediengeschichte der Unternehmensberatung. Konstanz: konstanz university press, 2015. Methodisch grundlegend ist der technikhistorische Ansatz, Innovationen nicht als Ausfluss der schöpferischen Kraft Einzelner, sondern als das Ergebnis von Aushandlungsprozessen zu verstehen. Für technikhistorische Arbeiten, die die Figur des großen Erfinders kritisieren, siehe z. B.: David Gugerli. Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz (1880 – 1914). Zürich: Chronos Verlag, 1996. Hans Dieter Hellige. Die Geschichte des Internet als Lernprozeß. In Informatik und Gesellschaft.

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1 Urszenen der Informationsgesellschaft, mit weiblicher Begleitung Der Hollywood Film Grand Hotel aus dem Jahr 1932 führt die Zuschauer an den Schauplatz seiner Handlung, indem er Frauen in der Telefonzentrale des Hotels zeigt. Sie stöpseln Kabel um und drücken Knöpfe. Die Kamera filmt die kurze Eröffnungsszene aus der Vogelperspektive und sie fängt dabei die routinierten, präzisen und schnellen Bewegungen ein, die die Frauen mit ihren Armen, Händen und Fingern ausführen.⁵ Das Sprechen dieser Telefonistinnen ist ein kollektives Murmeln, keiner einzelnen Frau zuweisbar, auch keinem einzelnen Telefonat. Nur wenige Wörter und kurze Sätze sind verständlich: „Grand Hotel“, „here we go“, „I can connect you“. Die Mehrstimmigkeit schafft die Kontrastfolie für die nächste Szene, in der die Stimme eines telefonierenden Hotelangestellten und, wie sich herausstellt, werdenden Vaters, kräftig vernehmbar ist. Er wurde von seinen Kolleginnen erfolgreich vermittelt und spricht nun mit jemandem, der, wie er hofft, Neuigkeiten aus dem Kreißsaal hat: „Hello, hello? Hello! Is that the clinic? … How’s my wife, is she in pain, isn’t the child coming soon?“ Geduld, nein, Geduld sei seine Sache nicht.⁶ Der Medienwissenschaftler Sebastian Gießmann hat darauf hingewiesen, dass der Auftritt der Telefonistinnen in Grand Hotel ein Anachronismus war. Die Handvermittlung war in automatischen elektromechanischen Systemen bereits abgeschafft, als der frühe Tonfilm die Möglichkeit ergriff, die schnatternden Frauen zu inszenieren.⁷ Im Filmhotel halfen sie dem werdenden Vater, die Geburt seines Kindes durchzustehen. Grand Hotel führte seinem Publikum zugleich vor, wie die Telefonistinnen dem Telefon geholfen hatten, fernmündlich in die Welt zu

Verflechtungen und Perspektiven, hg. von Hans-Jörg Kreowski. Münster: Lit Verlag, 2008, 121– 170. Jennifer S. Light. When Computers Were Women. Technology and Culture 40 (1999): 455 – 483. Der Titel spielt an auf: Paul E. Ceruzzi. When Computers Were Human. IEEE Annals of the History of Computing 13 (1991): 237– 244. Gaining Access, Crossing Boundaries: Women in Engineering in a Comparative Perspective = History and Technology 14:1 (1997), hg. von Annie Canel und Karin Zachmann. Nach der Abfassung des vorliegenden Beitrags ist erschienen: Marie Hicks. Programmed Inequality. How Britain Discarded Women Technologists and Lost Its Edge in Computing. Cambridge: The MIT Press, 2017.  Edmund Goulding. Grand Hotel 1932. 113 Minuten.  Ebd., Eröffnungsszene.  Sebastian Gießmann. Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2014, 200.

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treten. Takt war gefragt, dann konnte die neue Technik Anschluss finden an die großen Rhythmen und Momente des Lebens. Dziga Vertovs nur wenige Jahre zuvor produzierter Film Der Mann mit der Kamera war noch konsequent Stummfilm gewesen. Der Film sollte über Sprachbarrieren hinweg verständlich sein, und so fehlte ihm nicht einfach nur der Ton. Ihm fehlten, für einen Stummfilm ungewöhnlich, auch die Zwischentitel. Der Mann mit der Kamera zeigte einen Tag im Leben der Bewohnerinnen und Bewohner russischer Großstädte und testete erfolgreich aus, wie viel Dynamik und vor allem, wie viele Schnitte pro Minute eine Kinoleinwand fassen konnte.⁸ Im Vergleich zu den damals üblichen durchschnittlichen 11,2 Sekunden waren einzelne Einstellungen in Der Mann mit der Kamera äußerst kurz. Im Schnitt waren sie 2,3 Sekunden lang. Nach einer Stunde Film, in einem großen Finale, mutete der Film seinem Publikum zu, einen flackernden Strom von Bildern als Film aufzunehmen.⁹ Siegfried Kracauer schrieb nach dem Kinobesuch 1929 in der Frankfurter Zeitung: „Nichts weniger als das Leben ist es, was Der Mann mit der Kamera zeigen will.“ Er präzisierte: „Das kollektive Leben einer Stadt. … Straßenbahnen und Fuhrwerke kündigen den Tag an. Es ist eine einzige mächtige Bewegung, die erfasst, was fragmentiert ist und alle Elemente verbindet – die Pleuelstangen, das Straßenvolk, die Geburtswehen – es verbindet sie so, dass sie alle im Rhythmus des Ganzen aufgehen. … Das ist das Leben, das Der Mann mit der Kamera aufnimmt. Doch er filmt auch sich selbst, weil ohne das Subjekt, das Leben kein Objekt für uns wäre, und Objekt und Subjekt gehören zusammen.“¹⁰ Zuständig für das Cutten und die Montage der aufgenommenen Bilder war Elizaveta Svilova, geboren im Jahr 1900 in Moskau. Sie war die Ehefrau des sich selbst filmenden Dziga Vertov. Hergestellt also wurde die Kracauer so faszinierende „Verbindung der einzelnen Elemente“, die im „Rhythmus des Ganzen“ aufgingen, von Vertovs Partnerin.¹¹

 Dziga Vertov. Čelovek s kinoapparatom 1929. 68 Minuten.  Roger Ebert. Man with the camera invents new style. Chicago Sun Times, 4.12. 2009.  Zit. nach Margarete Vöhringer. Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion. Göttingen: Wallstein Verlag, 2007, 156 – 160, hier 156.  Zu Svilova siehe Christopher Penfold. Elizaveta Svilova and Soviet Documentary Film, University of Southampton, Faculty of Humanities, PhD Thesis, 2013, URL: http://eprints.soton.ac.uk/ 367302/ (02.07. 2018). Das von Penfold untersuchte Material legt nahe, dass Svilovas Beiträge zum gemeinsamen Werk des Ehepaars auch deshalb weniger Beachtung fanden, weil Vertov sich von seiner „Filmpartnerin“ distanzierte, um sie zu schützen. Schon in den 1920er Jahren wurde Vertov das Arbeiten erschwert, weil er konventionelle sowjetische Dokumentationen und Filme als unrealistisch kritisierte. Svilova hingegen arbeitete bis zu ihrem Tod im Jahr 1975 daran,Vertovs Werk

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Bekannt ist Der Mann mit der Kamera nicht zuletzt deswegen, weil er den Prozess seiner Produktion bis hin zur Rezeption im Kinosaal thematisierte. Sowohl das Filmmachen als auch der Kinobesuch reihten sich im Film in die Abläufe der modernen Stadt ein. Die wissenschaftliche Rezeption fokussierte punkto Produktion jedoch weitgehend auf die Aufnahmetechnik Kamera und auf den Regisseur Vertov. Wer Svilovas Mitarbeit am Mann mit der Kamera dennoch würdigen will, der bezeichnet sie nicht als Cutterin, sondern als Editor, vielleicht sogar als „Director-Editor“. Elizaveta Svilova wird in Arbeiten über den Mann mit der Kamera gewöhnlich am Rande erwähnt. Gleichfalls marginalisiert wird das Cutten als kreatives Verfahren: Autorinnen und Autoren, die Svilova würdigen, verweisen darauf, dass Vertovs Vorstellungen ohne Svilovas „technische“ Kompetenz nie Realität geworden wären.¹² Die Arbeit am Schneidetisch war wie das Filmen vor Ort eine räumliche Tätigkeit. Es war, in noch höherem Maße als das Filmen, Arbeit mit Zeiten. Das haben Vertov und Svilova in Schrift und Bild plastisch gemacht. Ihre sogenannten Montagen machten es möglich, den Rhythmus bildlicher Abfolgen sowie narrativer Höhe- und Wendepunkte herauszustellen. Vertov, der an „der visuellen Gestalt der Welt“ und der mit „filmischen Mitteln gewonnenen Wahrheit“ interessiert war, sprach von der Erstellung einer visuellen Gleichung.¹³ Vertov war der Mann mit der Kamera, er bediente ein Instrument, das in einem strengen zeitlichen Takt Einzelbilder registrierte und auf das chemische Medium Film bannte. Vertov war zugleich der Regisseur, sein Name stand für den Film als Produkt. Und dieser lief, wiederum streng getaktet, über Projektoren und Leinwände. Multiple Identitäten und multiple, aber starre technische Taktungen eröffneten für Svilova Zeiten und Räume. Sie gestaltete die Ordnung des Dargestellten aus, indem sie der mechanischen Technizität der frühen Kinoproduktion einen Takt gab, der den Rhythmen des Alltagslebens gerecht wurde. So wie die Telefonistinnen dem Telefonnetz das Reden erst beibrachten, so brachte die Cutterin die Bilder zum Laufen. Sie gab einzelnen Einstellungen die passende Länge und fand eine sinnige Reihenfolge. Wie die Telefonistin stellte sie Anschlüsse sicher.¹⁴

in Erinnerung zu halten. Der Mann mit der Kamera wurde in Kiew montiert; sowjetische Autoritäten verurteilten den Film als propagandistisch. Ebd., 17, 20 und 23.  Penfold, Elizaveta Svilova, 38 – 39.  Die Inspirationsquellen für Vertovs „Kinowahrheit“ waren unter anderem arbeitswissenschaftliche Experimentalanordnungen, siehe Vöhringer, Avantgarde und Psychotechnik.  „Dziga Vertov“ ist ein Pseudonym. Dziga steht lautmalerisch für das Geräusch einer surrenden mechanischen Kamera, Vertov wird auf „vertet“ = kurbeln zurückgeführt. Siehe Regine Prange. Der Mann mit der Kamera. Zur Kritik am dokumentarischen Realismus in Jean-Luc Godards

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Svilova repräsentierte die Endbearbeitung des Films oder in Vertovs Worten, den Abschluss einer Reihe von Bearbeitungsschritten, in dem aus filmischem Material ein Film-Objekt wurde. Kleine Filmstücke wurden solange hin- und hergeschoben, bis sie eine rhythmische Ordnung aufwiesen, „such that all links of meaning coincide with visual linkage. As the final result of these mixings, shifts, cancellations, we obtain a visual equation, a visual formula, as it were.“¹⁵ Konziser konnte man die Arbeit am Schneidetisch kaum beschreiben. Editing galt auch dann noch als schlagendes „Herz des Films“, als das Schneiden und Zusammensetzen des Films durch den Einsatz signaltechnischer und später elektronischer Hilfstechniken sowohl an handwerklicher, raumzeitlicher, als auch an kollaborativer Plastizität verlor.¹⁶ Die Filmwissenschaftler Roy Perkins und Martin Stollery erhielten auf Nachfrage viele Antworten, warum Frauen in der britischen Filmproduktion gute oder schlechte Editorinnen waren. Bis in die 1960er Jahre war der Einwand verbreitet, Frauen wären nicht dafür geeignet, schwere Filmrollen herumzutragen. Meist adressierten Qualitätseinschätzungen aber eher divergierende Schulen, Stilrichtungen und Techniken – die nicht geschlechtsspezifisch waren. Letztlich ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Editing überhaupt ein Frauenberuf war oder nicht. Frauen waren hier ebenso wie anderswo nicht gleichberechtigt repräsentiert. „This is not to say that women have ever been adequately represented in this field, but historically they have had slightly more of a presence in editing than in cinematography or direction.“¹⁷ Frauen, die gerne Regie geführt hätten, wurden Editorinnen, weil der Schneidetisch der Platz der Frau in der Filmproduktion war. Warum? Weil Kollaboration so wichtig war? Weil sie es aus dem Haushalt gewöhnt waren, mit so

Kurzfilm Caméra-oeil. In Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft und die neuen Grenzen des Sozialen, hg. von Georg Peter und Reuss-Markus Krausse.Wiesbaden: Springer VS, 2012, 301– 313. Pranges Beobachtung, erst Jean-Luc Godard „kurble“ 1967 langsam an seiner schwerfälligen Kamera, um statische Bilder zu entwerfen, während Vertov recht eigentlich das „Kino-Auge“ rasant gefeiert habe (307), mag die (virtuelle) Beziehung Godard–Vertov einfangen. Das Gegensatzpaar schnelle versus langsame Bewegung ist in Bezug auf die Kooperation Vertov–Svilova jedoch nicht differenziert genug.  Zitiert nach Penfold, Elizaveta Svilova, 39.  Roy Perkins und Martin Stollery. British Film Editors. The Heart of the Movie. Basingstoke 2004. Der Untertitel ist einem Zitat entnommen: „Most of the Directors I’ve worked with needed someone to talk to who is deep inside the heart of the movie.“ (Mick Audsley, Film Editor). Ebd. Für historische Veränderungen in der Film- und Fernsehproduktion siehe Daniela Zetti. Das Programm der elektronischen Vielfalt. Fernsehen als Gemeinplatz in der BRD, 1950 – 1980. Zürich: Chronos Verlag, 2014.  Perkins und Stollery, British Film Editors, 178 – 180.

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schlecht gelaunten Zeitgenossen wie Ehemännern und Kindern umzugehen, argwöhnte Anne Coates, Editorin von Lawrence of Arabia. Anfangs standen Frauen die Türen weit offen: Während des Zweiten Weltkriegs waren kaum Männer verfügbar. Im Nachkrieg aber hat es immer viele männliche Regisseure gegeben, die explizit nicht mit Frauen arbeiten wollten. Die weiblich dominierten „cutting rooms“ der Kriegsjahre verschwanden wieder.¹⁸ Svilova lässt sich dennoch einer großen Gruppe von Frauen zuordnen. Gerade weil das Cutten als weiblich dominierte Beschäftigung ebenso verschwand, wie die Telefonvermittlung, geht es in einem Muster auf. Der Blick zurück auf Urszenen platzierte sie da, wo die Technik „nicht“ oder vielleicht „noch nicht“ selbstverständlich ineinander griff. Sie saß wie die Telefonistin dort, wo die Ränder von Systemen und Maschinen offenlagen. Die Frauen ebenso wie die Noch-Nicht-Technik wurden in Narrativen über technische Entwicklungen zu Platzhaltern. Sie standen für Prozesse und Orte, die divers, zum Teil widersprüchlich und nicht anders als durch Figuren darstellbar waren: durch Frauen, die schnitten und klebten, drückten, zogen und schalteten, sowohl im wörtlichen, als auch im übertragenen Sinn. Erst nachdem ein Ereignis der Erfindung identifiziert war und nachdem die jeweilige technische Erfindung den Ruf des gerade nicht mehr ganz Neuen, vielleicht gar des gesellschaftlich Wünschbaren erworben hatte, war ein Blick zurück möglich, der aus einfachem Personal Avantgarde machen konnte. Das heißt: Das historiographische Moment ist von Geschichten weiblich-technischer „Starthilfe“ nicht zu trennen. Als HistoriographInnen konnten FilmemacherInnen ebenso fungieren wie WissenschaftlerInnen – oder die Pionierinnen selbst. Das heißt auch: Diese Frauen hatten im Blick zurück immer mehrere Funktionen inne. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Hedy Lamarr. Die Tochter österreichisch-jüdischer Eltern war bereits ein Hollywoodstar, als sie in den 1940er Jahren eine Entwicklung patentieren ließ: eine Funkfernsteuerung für Tornados der US Navy. Das sogenannte automatische „frequency hopping“ machte sie störsicher. Erst ein halbes Jahrhundert später wurde dieses angewendet, als es in der Mobiltelefonie telekommunikative Bedeutung erlangte. Es brauchte den ganz langen Blick zurück, dann konnte Hedy Lamarr Erfinderin und Schauspielerin in Personalunion werden. Die Frauen, die Grand Hotel zeigte, ordneten als Telefonistinnen Kabel, als Filmfiguren zogen sie an Erzählsträngen. Das Repertoire von Svilova ist noch vielfältiger: Sie war Cutterin, Editorin, „Director-Editor“, Archivarin, Autorin und nicht zu vergessen: Ehefrau. Je nachdem, welche Rolle und Funktion betont wird,

 Ebd.

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Abb. 1: Die Ausnahme von der Regel, oder die ikonische Hedy Lamarr legt die Hände in den Schoss. „Hedy Lamarr war nicht nur eine Schauspielikone im Goldenen Zeitalter von Hollywood – sie war auch Mathematikerin und Erfinderin des Frequenzwechsels, einer Technologie, die grundlegend für Bluetooth und WiFi ist.“ Das Bild zirkuliert im Internet, inklusive Bildunterschrift, mit und ohne Rechtschreibfehlern. (9buz, URL: http://9buz.com/media/hedy-lemarr-ma thematican-inventor-2013-11-11 [02. 07. 2018]. Siehe auch Technische Universität Graz. Austria Forum. Lamarr, Hedy, URL: austria-forum.org/af/AEIOU/Lamarr,_Hedy [02. 07. 2018])

können andere Handlungsräume und Praktiken evoziert werden. Sie sind Begleiterinnen durch Abläufe, die technisch gesehen häufig genug instabil sind. Mit anderen Worten, sie repräsentieren Programme. Wie für das Telefon und den Film gibt es auch für das Fernsehen Berichte von einer Urszene, die maßgeblich weiblich geprägt war: die Präsentation des ersten Programms im deutschen Fernsehen der Nachkriegszeit. Eigentlich für das Schauspielensemble des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) engagiert, mo-

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derierte Irene Koss Weihnachten 1952 die „Geburtsstunde“ des deutschen Fernsehens an und führte die Zuschauerinnen und Zuschauer ins Fernsehen ein.¹⁹ Koss erinnerte sich später, dass eine ihrer größten Leistungen darin bestanden hatte, nicht in Ohnmacht zu fallen. Zwar waren die Lücken und wahrscheinlich auch die Divergenzen im Programm so groß, dass man vorsichtshalber ein alles verbindendes Gesicht präsentierte. In die wenig wirtlichen Installationen der damaligen Fernsehproduktion war Koss aber so streng eingebunden, dass ihr nur blieb, sich zu kratzen, wobei sie selbstverständlich Haltung bewahrte.²⁰ Fernsehansagerinnen gehen nicht leicht verloren, möchte man meinen, schließlich ist es ihr Beruf, präsent zu sein. Doch so wie der Beruf der Telefonistin mit der automatischen Durchwahl verschwand, so verschwanden in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch die Fernsehansagerinnen, als man dem Publikum zutraute, seinen Weg durch die inhaltlichen Brüche des Programms ohne weibliche Führung zu finden.²¹ Die bis hierhin angeführten Beispiele zeigen, dass es zusammen mit den Frauen keine einfachen historischen Wahrheiten zu entdecken gibt, wenn man die Grenzen jener zeitlichen Momente und physischen Räume beschreiben will, die von Frauen besetzt wurden. Festhalten lässt sich aber, dass die Telefonistin, die Cutterin und die Ansagerin zusammen mit ihren HistoriographInnen technische Logiken und Machbarkeitsphantasien mindestens unterliefen, vielleicht sogar hintertrieben. Sie übten, wenn man so will, Prozesskritik. Diese umfasste sowohl operative Verfahren als auch historische Verläufe und transportierte offenbar kreative Momente.

2 Schalten und Walten Nun haben Autorinnen und Autoren des späten 20. Jahrhunderts bereits daran gearbeitet, die historische Rolle der Frau in vergangenen High-Tech Kontexten zu enttrivialisieren. Jennifer S. Light widerlegte in ihrem 1999 publizierten Essay mit

 Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv. Koss, Irene, URL: www.munzinger.de/search/portrait/Irene+Koss/0/15197.html (02.07. 2018).  Spiegel Online. Einestages. Hier kommt das erste deutsche Fernsehen, URL: www.spiegel.de/ einestages/60-jahre-deutsches-fernsehen-sendestart-im-flakbunker-a-947846.html#featuredEntry (02.07. 2018).  Das Publikum wird seither unterstützt durch Trailer, die Sendungen vorankündigen. Zum Kinotrailer als marginalem Produkt, das konstitutiv ist für das Funktionieren von Systemen und Prozessen siehe Vinzenz Hediger. Verführung zum Film. Der amerikanische Kinotrailer seit 1912. Marburg: Schüren Verlag, 2001.

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dem Titel When Computers Were Women eine lange gängige Darstellung. Sie zeigte, dass mit der Umschreibung „Kabel umstöpseln“ die Leistung jener Frauen nicht erschöpfend gewürdigt ist, die dem ersten elektronischen Rechner in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs dabei halfen, eben jenes Rechnen auch zu erlernen. Der Begriff Computers meinte am Electronic Numerical Integrator and Computer (kurz ENIAC) nicht die Maschine, er meinte Rechnerinnen. Die realexistierenden Rechnerinnen aber wurden später zum Zweck der Anwerbung heimkehrender Soldaten mittels Retusche aus den Abbildungen entfernt. Zurück blieb der Rechner.²² Die Frauen am ENIAC waren zuerst Mathematikerinnen, Programmiererinnen und Projektleiterinnen, und dann gesichts-, namen- und auch noch professionslos, vielleicht sogar arbeitslos geworden, als der Job automatisiert war.Wie die Cutterin schien die Zunft der rechnenden Computerspezialistinnen also ein Schicksal zu ereilen: das Zurücktreten in den Hintergrund. Die Rechercheleistung der Historikerin konnte sie davon erlösen, wenigstens für jene Momente, in denen die ehemaligen Rechnerinnen von ihrer Zeit am ENIAC berichteten. Wie die Telefonistin aber war die Rechnerin obsolet geworden, als die Maschine Aufgaben übernahm, die zuvor Menschen ausgeführt hatten. Die Aufgaben der Programmiererin wurden zudem, ähnlich wie im Fall der Ansagerin, sukzessive von anderen übernommen: im Fall der Ansagerin vom Publikum und vom Trailer, im Fall der Programmiererin von männlichen Kollegen und bald auch von automatisierten Prozessen, im Falle des Telefons von elektrischen Schaltungen. Die mediale und historiographische Frau am Computer zeichnet aus, dass sie nachhaltig nicht unterzukriegen war im Katalog der normalen Berufsbezeichnungen und -laufbahnen. Sie sprengte früh die Schubladen. Die Rechnerinnen wurden, wie ihre männlichen Computerkollegen auch, zu Prototypinnen und -typen nachmoderner Arbeitsleben. Rechnerinnen waren flexibel und sich selbst „programmierend“, sie lebten historischen Prozessen ebenso sehr nach, wie sie sie gestalteten. Sie waren als Moderatorinnen Pionierinnen gesellschaftlicher Prozesse.²³ Hinzu kam früh eine gehörige Portion Nostalgie. Denn der „Programmierer war, seit es Computer gibt, eine Figur, deren Rolle sich nie verbindlich fassen ließ, deren Wissen stets prekär blieb, weil es laufend re-konfiguriert werden mußte“, so

 Dass der ENIAC der erste elektronische Rechner war, ist nicht unumstritten. Zum ENIAC und zur Beziehung zwischen Mathematik, Forschung und Computern siehe die Arbeiten von Liesbeth De Mol, z. B. Dies. und Giuseppe Primiero. Facing Computing as Technique: Towards a History and Philosophy of Computing. Philosophy and Technology 27 (2014): 321– 326.  Nathan L. Ensmenger. The Computer Boys Take Over. Computers, Programmers, and the Politics of Technical Expertise. Cambridge, Mass., London: The MIT Press, 2010.

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der Technikhistoriker David Gugerli.²⁴ Der Programmierer war am Rechner gar nicht so sehr der Nachfolger der „Rechnerin“ oder der Programmiererin. Er war eine produktive Fiktion, die den Computer erklären und entwickeln helfen oder manchmal auch das „bessere“ Programmieren oder die modularen Grundprinzipien der industriellen Moderne erretten sollte. Das Profil seines Berufes, seiner Qualifikationen, Laufbahn und Kompetenzen hingegen ging schnell verloren in Standardisierungsmaßnahmen und Effizienzkrisen der Computerbranche. „Die Gestalt des Programmierers litt unter Konturlosigkeit, drohte sich im vielfältigen Aufgabenspektrum des Computerpersonals zu verlaufen und hatte mit der denkbar größten Zerfallsrate ihrer selbst zu rechnen“.²⁵ Der Versuch, die Arbeit von Frauen zu enttrivialisieren, indem ihre „wahren“ Fähigkeiten enthüllt werden, war und ist voraussetzungsreich. Anachronismen sind das eine: Vergleiche hinkten schnell. Metaphern waren durch technische Entwicklungen überholt oder, mehr noch, sie überspielten Entwicklungen und Differenzen. Das andere ist: Aufwertungen weiblicher Kompetenzen liefen immer Gefahr, sich ungewollt gegen die Frauen zu richten. Davon zeugt etwa die naturalisierende Aussage eines Psychologen aus dem Jahr 1962, den die Technikhistorikerin Heike Weber 2009 in einem Aufsatz mit dem Titel Stecken, Drehen, Drücken. Interfaces von Alltagstechniken und ihre Bediengesten zitiert. „Die Frau kann ihre Hand mit feinerer und sicherer Sensibilität steuern als der derber und gröber empfindende Mann, weshalb sie von Natur aus geschickt ist zum Nähen, Sticken, Häkeln und anderen derartigen Frauenbeschäftigungen, wahrscheinlich auch im Durchschnitt leichter das Maschinenschreiben, das Klavierspielen und anderes erlernt, bei dem es auf Fingerfertigkeit und Fingerspitzengefühl ankommt.“²⁶ In dieser konservativen Reihung und frei erfundener Tradition wird noch jede Tätigkeit Platz finden, die irgendwie mit Hand-Arbeit zu tun hat. Betonen HistorikerInnen die intellektuellen Fähigkeiten der Frauen und die Innovativität des Arbeitsumfeldes, so besteht die Tendenz, das zeigt das Beispiel der Computerbranche, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Der Versuch, ex post die Ehre der ersten „Rechnerinnen“ zu retten, geht einher mit der Triviali-

 David Gugerli. Der Programmierer. In Das Personal der Postmoderne. Inventur einer Epoche, hg. von Alban Frei und Hannes Mangold. Bielefeld 2015, 17– 32, hier 18.  Ebd.  Franz Kiener. Hand, Gebärde und Charakter. Ein Beitrag zur Ausdruckskunde der Hand und ihrer Gebärden. München und Basel 1962, 86. Zit. nach Heike Weber. Stecken, Drehen, Drücken. Interfaces von Alltagstechniken und ihre Bediengesten. Technikgeschichte 76 (2009): 233 – 254.

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sierung des „Kabelstöpselns“ – also jener Tätigkeit, mit der das Einsatzgebiet der Telefonistin noch umschrieben werden durfte.²⁷ Schließlich sind Aufwertungen weiblicher Kompetenzen auch deswegen problematisch, weil durch sie allzu leicht das aus dem Blick gerät, was den Kern der oben besprochenen Übertragungen ausmacht: dass nämlich das von Fall zu Fall passgenaue Aufeinanderabstimmen verschiedenster Taktungen und Rhythmen gerade auch randständige Prozesse integrieren kann. Moderation, im übertragenen, aber auch im wörtlichen Sinn, ist ein Prozess, mit dem die soziotechnische Modellierung raumzeitlicher Prozesse explizit gemacht werden kann. Ob die Grenzen von Handlungsräumen weit oder eng gezogen werden, wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Thema von Moderationsdiskursen.

3 Vom Rechnen nochmals zurück zum Schalten (zum Fernsehen um 1980) Bleibt der Historiographie das Bild der Avantgardistin am Rande inklusive seiner Generalisierbarkeiten erhalten? – wenn man der Figur der Moderatorin nochmals in jenem Bereich nachgeht, der ebenfalls mit Unterhaltung, Information und Kommunikation zu tun hat, in dem aber Hintergrund und Rampenlicht schärfer konturiert werden konnten als im Rechenzentrum: dem Fernsehen. Hier waren die Differenzen zwischen „handgemacht“ und „technisch“ nicht einfach aufzumachen. Medien fallen generell schwer aus dem Rahmen und gerade im Fall der Moderation blieb Handgemachtes und Technisiertes von Anfang an und fortgesetzt austauschbar. Schaltung, Schnitt und Moderation sind im Fernsehen funktional äquivalent.²⁸ Hier wurden zu Beginn der 1970er Jahre Moderatorinnen im Wortsinn installiert. Marianne Koch, geboren 1931 in München, gehörte zum Moderationsteam von III nach 9, einer der ersten deutschen Talkshows. Koch verfügte in der Sendung über wesentlich mehr Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit als eine  „Nicht die Starttaste, sondern der Stecker und die Geste des Einsteckens symbolisierten in den 1930er bis 1950er Jahren … den Anschluss der privaten Haushalte an die elektrische Moderne… Erst in der Nachkriegszeit löste die Drucktaste den Stecker als Sinnbild für eine Jedermann stets zu Diensten stehende Technik ab.“ Weber, Stecken, 240. Ein Sammelband über Frauen der Computergeschichte behandelt diese durchgängig als Elite, die der Mathematikerin Ada Lovelace nachfolgt: Ada Lovelace. Die Pionierin der Computertechnik und ihre Nachfolgerinnen, hg. von Sibylle Krämer, Paderborn: Wilhelm Fink, 2015.  Zetti, Das Programm.

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Fernsehansagerin. Das Konzept der 1974 gestarteten Sendung sah anfangs sogar flexible Sendezeiten vor. Nachfolgende Sendungen fingen erst dann an, wenn die Gesprächsteilnehmer sich auf ein Ende geeinigt hatten.²⁹ Unter dem Vorzeichen der Flexibilität lässt sich auch Marianne Kochs Lebenslauf lesen. Sie war bereits eine erfolgreiche Schauspielerin in Film und Fernsehen mit internationalen Auftritten gewesen, als sie eine andere, klassische Karrierelaufbahn einschlug. 1971 nahm sie ihr Medizinstudium, das sie zunächst zugunsten der Filmkarriere zurückgestellt hatte, wieder auf und wurde Dr. Marianne Koch. Sie spielte jedoch weiterhin im TV und lotete dort unkonventionelle Profile aus: Anfang der 1970er Jahre spielte sie „Die Journalistin“ und wurde Moderatorin in einer Talkshow, also demjenigen Format, das um 1970 erfunden wurde, um die gesellschaftlich relevante Moderationsfähigkeit des ganzen Mediums auszustellen. In einem Interview für einen 2014 erschienenen Ratgeber zum Thema Lebensführung berichtete sie von den Einschnitten in ihrem Berufsleben. Frau Koch, Sie haben sich in Ihrem Leben immer wieder neu entdeckt und entfaltet. Was haben Sie daraus gelernt, was haben Sie dabei gefühlt? Marianne Koch: Es stimmt. Ich habe, zumindest in meinem beruflichen Leben, mehrmals einen Neuanfang gewagt. Die erste Wende kam, als ich mitten im Medizinstudium steckte und aus heiterem Himmel das Angebot bekam, in einem Film mitzuwirken. Auf diesen Film folgten andere, und schließlich war die Karriere mit dem Studium nicht mehr zu vereinbaren. Ich beschloss, das Studium zu unterbrechen, zwei, drei Jahre dachte ich. Es wurden dann zwanzig. Zwanzig Jahre, in denen das Unbehagen an einem Leben in der Öffentlichkeit trotz aller Erfolge ständig zunahm. Irgendwann klaffte die Schere zwischen der Person, die ich zu sein schien und der, die ich tatsächlich war, soweit auseinander, dass ich von heute auf morgen Schluss machte mit dem Film und an die Uni zurückging, zu dem, was ich immer als meinen eigentlichen Beruf erachtet hatte. Das war mein Glück. Die späteren Kurswechsel dagegen … waren leichte Entscheidungen. Schließlich hatte ich gelernt, dass man belohnt wird, wenn man Mut beweist und ehrlich mit sich und den eigenen Bedürfnissen umgeht.³⁰

Öffentlichkeit versus Wirken im Stillen, beruflicher Erfolg versus Berufung, zufällige Entwicklung versus bewusste Entscheidung – Marianne Koch als Moderatorin im Wortsinn hilft auch abseits des Bildschirms, kritische Modi zusammenzufassen, die die Besprechung weiblicher, technischer Berufe – und

 III nach 9, heute 3 nach 9, ist inzwischen die dienstälteste Talkshow des deutschen Fernsehens. Erstausstrahlung der Koproduktion von Norddeutschem Rundfunk, Radio Bremen und Sender Freies Berlin war im November 1974. fernsehserien.de, URL: www.fernsehserien.de/3-nach9 (02.07. 2018).  Beate Winkler. Es ist etwas in mir, das nach Veränderung ruft. Der Sehnsucht folgen. München: Kösel-Verlag, 2014, 78.

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zunehmend von Berufen allgemein – bis heute prägen. Ihr Arbeiten umschließt nicht zuletzt die Arbeit an der eigenen, weiblichen Karriere.³¹

Abb. 2: Unterhaltung im Fernsehen, oder die moderierende Marianne Koch 1979 im Interview mit Vicco von Bülow alias Loriot. Der runde Tisch war das Zentrum einer Sendung, die als Fernsehprogramm im Kleinen konzipiert war. Sie vereinte unter anderem: vorbereitete Einspieler und Gesprächskultur, technisches Gerät und journalistisches Hintergrundwissen, Interviewpartner und Publikum sowie nicht zuletzt ein ganzes Ensemble möglicher und unmöglicher Figuren. (Youtube: Loriot zu Gast bei III nach 9 mit Marianne Koch, URL: www.youtube.com/ watch?v=9DRtXCE3UjM (02. 07. 2018), hier Minute 14:08)

Als Marianne Koch 1979 Vicco von Bülow alias Loriot als Gast in III nach 9 begrüßte, signalisierten die Macher von Beginn an, dass sie heute Abend etwas wagen wollten. Die Sendung startete mit einem montierten Einstieg – in eine Badewanne. Man zeigte Loriots Sketch Herren im Bad. Zu den bekannten Herren

 Das sind Hochwertkategorien seit den 1980er Jahren. Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke. Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004. Für die Diskussion des historischen Umbruchs im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts unter der Überschrift „Die Anfänge der Gegenwart“: Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, hg. von Morten Reitmayer und Thomas Schlemmer. München: Oldenbourg Verlag, 2014.

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Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner stieg an diesem Abend, „Ach! Ist das schön“, eine nackte Frau in die Wanne.³² Marianne Koch konfrontierte Vicco von Bülow mit der Frage, warum die „Typen“ in seinen Sketchen allgemein etwas „freudlos“ und „asexuell“ gestaltet seien. Von Bülow parierte: „Wahrscheinlich wollte ich zu mir selbst einen wirkungsvollen Gegensatz schaffen.“ Koch konnte mit dieser Eloquenz mithalten, aber im schnellen Wechsel der Sätze flog auf, dass sie von Bülow persönlich zu gut kannte, um beim formalen und distanzierten „Sie“ zu bleiben. Koch: „Wer sagt mir, dass diese Männlein oder Personen nicht auch Dir…, Ihnen, Euch gleichen?“ Von Bülow wollte dazu „zwei Bemerkungen“ machen. Aus seiner „nächsten Umgebung, auch von seiner Frau“ sei der Hinweis gekommen, er fange langsam aber sicher an, seinen Figuren zu ähneln. Außerdem wollte er offenlegen und er war dabei durchaus um den Eindruck besorgt, den diese Intimität machte: Von Bülow und Koch kannten sich schon sehr lange und sehr gut.³³ Von Bülow wand sich noch kurz etwas in Sachen Duzen oder Siezen und es war Marianne Koch, die das Heft der Moderatorin an diesem Punkt in die Hand nahm und beschloss, man werde sich fortan Duzen. Vicco von Bülow war erst beruhigt, als Koch noch erläuterte, dass es im Fernsehen normal sei, dass Leute sich siezten, die sich ansonsten duzten. Gerade unter Politikern sei dies Usus.³⁴ Die Eröffnung des Gesprächs hatte damit knapp fünf Minuten in Anspruch genommen und sie hatte den gleichermaßen distinguierten wie beherzten Vicco von Bülow durchaus an einen gewissen Rand seiner Belastbarkeit geführt. Es folgte ein Gespräch über Satire, Politik und Fernsehen, in dem von Bülow kein Blatt vor den Mund nahm und Koch widersprach und insistierte. Koch beherrschte die Instrumentarien der Gesprächsführung, also die Moderationstechnik. Sie war vorbereitet auf ein lockeres Gespräch über aktuelle, sehr ernsthafte Probleme des Fernsehmachens und sie war als Journalistin und Fernsehmitarbeiterin ebenso engagiert wie Loriot als Künstler mit politischer Meinung.³⁵

 Ebd.  Ebd.  Ebd.  Ebd. Aktueller Anlass für von Bülows Auftritt war ein Vortrag, den dieser vor der Evangelischen Akademie Tutzing in Tutzing gehalten hatte. Er nahm darin Stellung zu einer kritischen Debatte über öffentlich-rechtlichen Journalismus, die der CDU-Medienpolitiker Christian Schwarz-Schilling Ende 1976 angestoßen hatte, ebenfalls durch einen Vortrag in Tutzing. Zu Schwarz-Schilling siehe Christian Herzog. Vom öffentlich-rechtlichen Oligopol zum dualen Rundfunksystem: Die Einführung des Privatfernsehens aus akteurszentrierter Perspektive. In Neue Vielfalt. Medienpluralität und -konkurrenz in historischer Perspektive, hg. von Thomas Birkner, Maria Löblich, Alina Laura Tiews und Hans-Ulrich Wagner. Köln: Herbert von Halem Verlag, 2016, 114– 140.

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Begonnen hatte Kochs Moderation, und das ist entscheidend, nicht mit dem Beginn des Gesprächs. Koch war keine Fernsehansagerin, deren Job mit der Begrüßung begann und sich in der Wahrung der Contenance ob der künstlerischtechnischen Untiefen der Fernsehproduktion fortsetzte. Als von Bülow kritisierte, im Fernsehen sei ihm zu vieles „Show“, gerade weil Beziehungen zwischen Männern und Frauen oder Männern und Männern zu formalisiert dargestellt würden, pflichtete ihm Koch zwar bei, bedeutete ihm aber auch, dass mit dem Fahrplan der Sendung fortzufahren war. Mit seiner Kritik schloss von Bülow an die Provokation der montierten Eingangsszene an, sie war aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Sinn der Moderation. Die Moderatorin ließ das Programm der Sendung anfahren und entschied, wann erstmals ein Knopf zu drücken oder ein Stecker zu ziehen war. Koch ließ von Bülow kurz in der Leitung warten, um ihn dann in die Konversation zurückzuholen. Erst der Moment der „Krise“, in der für kurze Zeit die professionelle Distanz einem öffentlich inszenierten privaten Gespräch zu weichen drohte, und die anschließende Beilegung der Krise markieren den Beginn der aktiven Moderation Kochs. Mehr noch, liest man Kochs aktuelle Zusammenfassung ihres Lebenslaufs und das Gespräch parallel, lassen sich inhaltliche und strukturelle Ähnlichkeiten entdecken. Themen waren auch hier das Leben in der Öffentlichkeit und das Wirken im Stillen, der berufliche Erfolg und Motive, die sich eher als Berufung fassen ließen sowie zufällige Entwicklung und Wendungen, die auf bewusste Entscheidungen zurückzuführen waren. Es gab Einschnitte und Verknüpfungen, Intervalle und Rhythmen. Kochs Selbstaussage aus dem Jahr 2014 und das Interview mit Vicco von Bülow kreisen um ähnliche Problematiken. Betrachtet man den Moment, in dem Kochs Moderation einsetzte in einem eng gesteckten zeitlichen und örtlichen Radius, so kann man zusammenfassen: Das Gespräch Bülow – Koch war längst politisch, als Koch von Bülow dazu anhielt, ernsthaft zu werden und sein Credo als politischer Künstler auszubreiten. Betrachtet man denselben Moment in einem weiter gesteckten Radius (man könnte von „sozial“ und „epochal“ sprechen), so zeigt sich hier, wie die historiographische Figur, die Marianne Koch 2014 von sich selbst zeichnet, aufgeht in einer Gegenwart, die um 1980 beginnt. Beide Perspektiven eröffnen sich im Blick zurück. Im Fernsehen als Arrangement von Technik und Programm wurden nicht nur verschiedene Taktungen verschiedener Medien rhythmisiert und kombiniert. Sie wurden bisweilen zum Problem und sie wurden nicht selten problematisiert. Man kann es also für pure Unterhaltung nehmen, wenn eine der teuersten Techniken – die Gesellschaften sich leisten, um sich zu vergegenwärtigen, dass Übertragungen und Übersetzungen wichtig sind – uns immer wieder vorführt, dass die Moderne eben keinen Bauplan entworfen hat, der bei sachgemäßer

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Anwendung zur Erlösung führt. Man könnte diese Unterhaltung aber auch ernst nehmen und wäre dann wahrscheinlich nicht so weit entfernt von dem, was sich Frauen und Männer, im Fernsehen und in Büchern, überlegt hatten, als sie sich mit der Diversität von Übertragungen, Vermittlungen, Taktungen und Rhythmen beschäftigten.³⁶

4 Zusammenfassung und Ausblick Die Telefonistinnen stellten Anschlüsse zwischen Apparaten her, die Cutterinnen klebten Bilder aneinander, die Ansagerinnen erklärten das Fernsehen, die Programmiererinnen brachten dem Computer das Rechnen bei. Sie drückten und zogen, sie schalteten und walteten immer dort, wo die Maschine oder das System noch nicht perfekt und noch nicht autonom war, und da, wo die Maschine nicht von Anfang an zu stark und zu mächtig war. Offensichtlich meldeten sie sich zum Einsatz, ganz Klischee, wo es um Kommunikation und Information ging. Je weiter das 20. Jahrhundert fortschritt, desto öfter hatten sie dann zukünftigen Schlüsseltechnologien auf die Sprünge geholfen. Sie traten als Moderatorinnen historischer Prozesse auf und wurden zu Pionierinnen flexibilisierter Lebensläufe. Als historiographische Figuren konnten sie nun helfen, den Gang der Geschichte zu gestalten und zu erklären. Sie erklären, warum und wie neue Medien in die Welt kommen. Erst nach ihren Auftritten entstehen Telefonnetze, Kinofilme, Fernsehprogramme und Computer. Das heißt: Die Telefonistinnen, die Cutterinnen, die Ansagerinnen und die Programmiererinnen schließen als Figuren Lücken in historischen Adaptionen. Anschließend werden sie auf das Schalten und Verbinden verpflichtet. Sie stellen historische Verbindungen her, indem sie technisch-operativ Verbindungen herstellen. Abschließend möchte ich einige Aspekte akzentuieren und Fragen formulieren, die mir ausgehend von diesem Profil für weitere Forschungen besonders wichtig erscheinen. Von wem wurde in die Lesart investiert, dass es sich bei den genannten Frauenfiguren um Moderatorinnen handelte? Von wem und wie wurde die Moderatorin privilegiert zu Ungunsten anderer Interpretationen, die „am Rande“ mitgeführt, bei Bedarf aber betont werden konnten?

 Zum Fernsehen als fortwährendem Experiment: Judith Keilbach und Markus Stauff. Fernsehen als fortwährendes Experiment. Über die permanente Erneuerung eines alten Mediums. In Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, hg. von Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber und Georg Christoph Tholen. Bielefeld: transcript, 2011, 155 – 182.

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Die Figuren waren das Produkt von Aushandlungsprozessen, die in vielen verschiedenen und medial stark erweiterten Arenen geführt wurden. Wie interagierten sie miteinander und wie stimulierten sie sich wechselseitig? Wie verdichteten sich die Aushandlungen in Figuren als konkreten Orten? Wie verhielten sich technische Rahmungen und historiographische Figurierungen zueinander? Ähnlich wie „große Männer“ verdecken auch ihre „kleinen Schwestern“ komplexe und kontingente historische Prozesse. Wie verhielten sich Moderations- und Automationsdiskurse zueinander? Bezogen Darstellungen über Automation, die immer wieder versicherten, Menschen dank neuester Technik den richtigen und besten Platz zuzuweisen, Glaubwürdigkeit aus den hier besprochenen Rekonfigurationen? Warum ist die stöpselnde, schaltende, schneidende Moderatorin im Untersuchungszeitraum immer wieder verschwunden? Durch was wurden Frauen ersetzt, wenn zum Beispiel im Fernsehen disparate Sendeteile zu einen waren? Durch Männer, Maschinen, oder waren es Medien? Haben nicht vielmehr Frauen Verbindungen gekappt und Anschlüsse verödet? Welche Möglichkeiten standen ihnen dafür zur Verfügung? Wieso und wie ist die Moderatorin als historiographische Figur wieder verschwunden? Das laute Nachdenken über Figuren, Rollen und Personen ist gebunden an Motive und Materialen: Welche Konsequenzen hat es, wenn wir das Kabel metaphorisch und / oder konkret verstehen? Es ist auch gebunden an die Frage, was wir unter Prozessen verstehen: Was wird moderiert, zum Beispiel das Fernsehen als Technik, das Publikum, oder gar die Gesellschaft und die Geschichte? Wie wird auf Geschichte in Zeit und Raum zurückgegriffen? Welche andere Zeit, welche andere Epoche erschließen Moderatorinnen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts? Wie wurden die Telefonistinnen, die Programmiererinnen und andere Figuren als retrospektiv re-konfiguriert, in welchen Taktiken und Praktiken, Zeitregimes wurden sie platziert?

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Retroaktion und Intensität Zur Zeitlichkeit der Jazzimprovisation English abstract: Retroactivity and Intensity. On the Temporality of Jazz Improvisation. The paper aims at a reconstruction of the temporality of jazz improvisation, understood as making explicit a central dimension of what it means for something to be successful artistic articulation in a temporal sense: negotiating the elements of the work in and through the process of establishing them while at the same time negotiating the criteria for their evaluation. The first part of the paper discusses the systematic background of this idea: A critique of essentialist distinctions between the arts as proposed by Lessing. The second part develops the basic idea of the improvisatory process in jazz as being governed by the principles of retroactivity and intensity. The third and final part extends this idea with regard to the musical interpretation of musical works: Though it is not a subgenre of improvisation, musical interpretation of a musical work is governed by the same temporal logic as musical improvisation.

I Vorbemerkung: Raum und Zeit als ästhetische Grundbegriffe Bei Raum und Zeit handelt es sich um Grundbegriffe der Ästhetik und Kunstphilosophie. Darbietungen musikalischer Werke sind üblicherweise von einer bestimmten Dauer, exemplifizieren spezifische ästhetische Formungen von Zeit und erklingen immer in bestimmten Räumen. Werke der Architektur gestalten, indem sie Räume gliedern und teilen, nicht allein zugleich ihr Außen, sondern prägen auch die Zeitlichkeit der sich in ihnen vollziehenden Bewegungen. Das Lesen eines Romans braucht nicht allein seine Zeit, sondern im Medium der Sprache werden in vielen Romanen zugleich räumliche Verhältnisse und zeitliche Verlaufsformen evoziert. Man muss gleichwohl in all diesen Fällen zwischen den räumlichen und zeitlichen Verhältnissen unterscheiden,¹ in denen entsprechende

 Mit Arthur C. Danto ist in diesem Sinne festzuhalten, dass aus der Tatsache, dass alles an einem Kunstwerk bedeutsam sein kann, nicht folgt, dass alles an ihm bedeutsam ist. Vgl. Arthur C. Danto. Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, v. a. Kapitel 5. https://doi.org/10.1515/9783110466591-009

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Werke oder Ereignisse aufgeführt, aufgestellt und gelesen werden, und einer Zeitlichkeit und Räumlichkeit, die die Werke oder Ereignisse im Sinne ihrer Eigenzeitlichkeit und Eigenräumlichkeit etablieren.² Die Dauer der Darbietung eines musikalischen Werks oder die Dauer des Lesens eines Romans erschöpft nicht allein den zeitlichen Sinn dieser Werke oder Ereignisse niemals, sondern geht sogar an ihm vorbei; eine Beschreibung architektonischer Räume in außerästhetischen Begriffen verfehlt die Eigenlogik ihrer konstituierten Räumlichkeit. Offen bleibt dabei nicht allein die Frage, was der spezifisch ästhetische Sinn einer entsprechenden Eigenzeitlichkeit und Eigenräumlichkeit ist, sondern auch, wie sich Zeit und Raum in unterschiedlichen Künsten artikulieren. In der Geschichte der Ästhetik hat Gotthold Ephraim Lessing³ den bis heute⁴ wirkmächtigen Vorschlag unterbreitet, dass sich Künste in Raumkünste und Zeitkünste in dem Sinne einteilen lassen, dass in den Materialien und Medien unterschiedlicher Künste verschiedene Möglichkeitsräume dessen konstituiert sind, was sie auszudrücken in der Lage sind. Auch wenn es zweifelsohne überzeugend ist, dass der Raum, in dem ich einen Roman lese, nur in seltenen Fällen – etwa dann, wenn der Akt des Lesens Teil einer Performance wird – etwas mit der Herausarbeitung des ästhetischen Sinns dieses Romans zu tun hat und es für viele architektonische Werke in ihrem ästhetischen Sinn nicht von Belang ist, in welcher Reihenfolge ich ihre Räume durchschreite; auch wenn nicht alles beim Nachvollzug eines Werks oder Ereignisses für dieses selbst von Relevanz ist, so ist es dennoch nicht so, dass sich Künste anhand trennscharfer Kriterien voneinander unterscheiden lassen, wie Lessing es gerne hätte: Gemälde als paradigmatische Werke der Raumkunst leiten oftmals auch die zeitliche Choreographie ihrer Betrachtung an wie die Darbietungen musikalischer Werke als paradigmatische Werke der Zeitkunst eben nicht bloß in bestimmten Räumen erklingen, sondern ästhetische Formen entwickeln, die wir in den meisten Fällen auch anhand von räumlichen Prädikaten beschreiben müssen.⁵ Insgesamt müssen die mit Zeit und Raum verbundenen Prädikate als solche verstanden werden, die nicht bloß auf in einem manifesten Sinne zeitliche und räumliche Verläufe und Verhältnisse Anwendung finden –

 Vgl. als Rekonstruktionsvorschlag einer wesentlich innermusikalischen Räumlichkeit auch Gunnar Hindrichs. Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik. Berlin: Suhrkamp, 2013, Kapitel 4.  Gotthold E. Lessing. Laokoon. Stuttgart: Reclam, 1987.  Exemplarisch etwa Peter Kivy. Philosophies of Art. An Essay in Differences. Cambridge: Cambridge University Press, 1997 und als jüngste und subtile Variante Dominic McIver Lopes. Beyond Art. Oxford: Oxford University Press, 2014.  Vgl. als systematische Rekonstruktion der vielfältigen Austauschprozesse zwischen den Künsten auch Daniel M. Feige. Computerspiele. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, 2015, Kapitel 3.

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ohne dass dadurch entsprechende Verwendungsweisen dieser Begriffe weniger zutreffend wären oder gar „bloß“ metaphorisch.⁶ Insgesamt bleiben Klassifikationen wie diejenige Lessings nicht allein deshalb unzureichend, weil sie in offener oder verkappter Weise präskriptiv sind – sie sagen nicht allein, dass die Musik eine Zeitkunst ist, sondern sie behaupten, dass der vornehmliche Fokus auf zeitliche Aspekte eine notwendige Bedingung dafür ist, dass Musik überhaupt gelingen kann. Sie bleiben auch und vor allem deshalb unzureichend, weil sie sich allein abstrakt und summarisch auf Aspekte von Werken und Ereignissen beziehen und nicht länger in den Blick nehmen können, wie diese Werke und Ereignisse Zeit und Raum in jeweils eigener Weise allererst konstituieren. Sich auf ein künstlerisches Werk oder Ereignis einzulassen heißt demgegenüber immer, es nicht als bloßen Fall zu behandeln, sondern es hinsichtlich der Art und Weise nachzuvollziehen, wie es seine Elemente – Klänge, Flächen, Farben, Melodien, Kamerawinkel, Figurenzeichnungen, Worte, Bewegungen usf. – jeweils aus sich selbst heraus etabliert. Denn die Elemente von künstlerischen Werken und Ereignissen sind holistisch derart konstituiert, dass jedes Element nur dasjenige ist, was es im Lichte aller anderen Elemente ist.⁷ Wer meint, ein Voicing – also das jeweils bestimmte Setzen von Tönen einer Harmonie – in einer Improvisation von Brad Mehldau mit einem Voicing in einer Improvisation von Bill Evans derart identifizieren zu können, dass beide hier letztlich musikalisch dasselbe getan hätten, irrt, weil er den ästhetischen Sinn eines solchen Voicings eben atomistisch verzeichnet. Eine Baustein-Theorie des Kunstwerks ist eben auch dann irreführend, wenn Kunstwerke zweifelsohne aus verschiedenen Elementen bestehen. Ein angemessenes Verständnis ästhetischer Grundbegriffe und damit auch der Begriffe Raum und Zeit beginnt erst damit, dass man sie als in ihrem Sinn immer auch als unbestimmte Grundbegriffe versteht, die im Lichte jedes gelungenen Werkes oder Ereignisses eine jeweils spezifische Wendung nehmen. Anders gesagt: Wer meint, schon vor – in einem temporalen wie einem logischen Sinne – den Werken und Ereignissen der Kunst zu wissen, was Zeitlichkeit und Räumlichkeit hier heißt, wird ihnen niemals gerecht werden können, sondern sie als bloß besonderen Fall eines abstrakten, weil von ihnen gänzlich unabhängigen Allgemeinen behandeln. Gelingende Kunstwerke zeigen sich als solche nicht allein derart, dass sie uns in der Erfahrung zu Ereignissen werden – sie sind auch

 Das lässt sich etwa mit Goodmans symboltheoretischer Explikation der Sinnproduktion von Kunstwerken geltend machen; vgl. Nelson Goodman. Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, v. a. Kapitel 2.  Vgl. in diesem Sinne auch Georg W. Bertram. Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, 2014, Kapitel 3.

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Ereignisse im Medium unserer ästhetischen Grundbegriffe, die jeweils eine neue und andere Wendung nehmen. Diese Überlegungen verunmöglichen allerdings keineswegs, von einer Zeitlichkeit als wesentlichem Aspekt der Musik zu sprechen; sie verunmöglichen allein, dass man das in abstrakter Weise derart tun kann, dass sakrosankte Allgemeinbegriffe etabliert werden, unter die Werke und Ereignisse dann bloß noch fallen würden. Im Folgenden geht es mir um eine begriffliche Rekonstruktion der Zeitlichkeit einer besonderen Art von Musik, nämlich des Jazz. Ich werde eine entsprechende Zeitlichkeit anhand des Begriffs der Retroaktion bestimmen, von dem ich glaube, dass er die offene Logik der Improvisation zeittheoretisch fassbar macht. Im Gang der Überlegungen werde ich zudem anhand des Begriffs der Intensität auch kurz auf Aspekte der manifesten rhythmischen Gestaltung dieser Musik eingehen. In Form einer Coda werde ich mit einigen Bemerkungen zur Frage schließen, inwieweit eine solche Zeitlichkeit nicht allein die Zeitlichkeit des Jazz ist, sondern auch einen wesentlichen Aspekt musikalischer Zeitlichkeit der Interpretation von Werken in der Tradition europäischer Kunstmusik explizit macht.

II Retroaktion als Bestimmung der Zeitlichkeit der Jazzimprovisation Dass ich mich im Rahmen der vorliegenden Überlegungen nahezu ausschließlich auf den Aspekt der Improvisation des Jazz konzentrieren werde, sollte nicht im Sinne der These, dass Improvisation entweder eine notwendige oder eine hinreichende Bedingung für Jazz wäre, missverstanden werden. Eine hinreichende Bedingung kann Improvisation offensichtlich deshalb nicht sein, weil auch in anderer Musik als der Jazzmusik improvisiert wird oder wurde. Man muss dabei gar nicht über den europäischen Tellerrand hinausschauen – hier gibt es bereits auf den ersten Blick etwa in der indischen oder afrikanischen Musik vielfältige Formen musikalischer Improvisation –,⁸ um musikalische Praktiken ausfindig zu machen, in denen Improvisation ein integraler Bestandteil ist: Ist die Improvisation seit der Genese des Werkparadigmas zu Beethovens Zeiten mit Blick auf Musik in der Tradition europäischer Kunstmusik zwar marginalisiert worden,⁹ so

 Vgl. zu unterschiedlichen Formen der Improvisation auch Derek Bailey. Improvisation. Its Nature and Practice in Music. Ashbourne: Moorland, 1980.  Vgl. als philosophische Rekonstruktion dieser Genese Lydia Goehr. The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music. New York: Clarendon Press, 1992.

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war sie ehedem gleichwohl ein wesentliches Merkmal dieser Musik; heute taucht sie in Teilen der Neuen Musik, im Rahmen derer der Werkbegriff wenn nicht verabschiedet so doch neu und anders konturiert wird, wieder auf ¹⁰ und lebt ungeniert in Teilen der geistlichen Musik fort; die Begleitung der Gemeinde auf der Orgel ist durchaus dem Spielen von Jazzstandards verwandt. Aber auch eine notwendige Bedingung kann Improvisation nicht für den Jazz sein: Es gibt ausnotierte Big-Band Musik und mitunter auch Musik für kleinere Formationen, die wir auch dann problemlos als Jazzmusik identifizieren würden, wenn hier nur in sehr homöopathischen Dosen oder sogar überhaupt nicht improvisiert wird. Insgesamt ist das ganze Projekt, Jazz anhand jeweils notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen definieren zu wollen, nicht allein wenig aussichtsreich, sondern nicht einmal ein wünschenswertes Unterfangen, da es nicht zuletzt die geschichtliche Bewegtheit dieser Musik nur noch in systematisch verzerrter Weise artikulieren kann:¹¹ Jazz meint eine bestimmte, in ihren jeweils wesentlichen Momenten offene Tradition musikalischer Praxis. Was die Grundbegriffe zur Erläuterung dieser Tradition angeht, so kann man mit Garry Hagberg – freilich selbst noch im definitionstheoretischen Register – entsprechend festhalten: Jazz „displays a number of definitionally significant features, but not in such a categorically clear way that any one emerges as necessary and sufficient“.¹² Und von diesen „definitionally significant features“ dürfte vielleicht die Improvisation das Merkmal sein, das am Herausstechendsten ist und das auch die meisten Laien nennen würden, wenn man sie fragte, was für sie wohl ein besonders charakteristisches Merkmal der Jazzmusik wäre. Es scheint mir, dass ein Begriff besonders gut geeignet ist, um die ästhetische Zeitlichkeit des Jazz theoretisch in den Griff zu bekommen: Der Begriff der Retroaktion.¹³ Dass dieser Begriff in weiten Teilen im Kontext einer Beschreibung des geschichtsphilosophischen Erbes der hegelschen Philosophie steht und insgesamt einen zentralen Aspekt dessen, was man mit Hegel die Bewegung des Be-

 Vgl. dazu auch Sabine Feißt. Der Begriff der „Improvisation“ in der Neuen Musik. Sinzig: Schewe, 1997.  Auch jüngere definitionstheoretische Vorschläge, die sich als Alternative zu einer herkömmlichen Definition verstehen wie etwa Berys Gauts Clustertheorie der Kunst überwinden meines Erachtens die Probleme der herkömmlichen Definition nicht, da sie auf diese dialektisch immer noch bezogen sind.Vgl. Berys Gaut. „Art“ as a Cluster Concept. In Theories of Art Today, hg. von Noël Carroll. Madison/Wisconsin: The University of Wisconsin Press, 2000, 25 – 44.  Garry L. Hagberg. On Representing Jazz – An Art Form in Need of Understanding. Philosophy and Literature 1 (2002): 188 – 198, hier 193.  Vgl. ausführlicher zum Folgenden auch Daniel M. Feige. Philosophie des Jazz. Berlin: Suhrkamp, 2014, v. a. Kapitel 3.

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griffs nennen könnte, meint,¹⁴ sollte kein Hinderungsgrund sein: Der Pianist Bill Evans sprach davon,¹⁵ dass der Jazz anders als das Spielen von Werken keine Blaupausen kenne, sondern eine retrospektive Kunst sei. Diese These lässt sich zunächst am besten negativ verdeutlichen: Auch dann, wenn in Improvisationen Fragmente von etwas früher Gespieltem auftauchen und selbst in dem kontrafaktischen Fall, dass eine Improvisation allein aus Fragmenten zusammengesetzt wäre, die sich alle bereits im früheren Spielen des Improvisierenden finden, ist es nicht so, dass ihr ästhetischer Sinn und damit ihre Einheit vor ihrem Vollzug schon bestimmt wäre. Die Einheit und der ästhetische Sinn stehen vielmehr im Rahmen einer Improvisation in jedem Moment auf dem Spiel. Denn es macht einen Unterschied, ob es einer Improvisation gelingt oder nicht gelingt, dass ihre Elemente – etwa eine Phrase, eine rhythmische Figur, aber auch ein bestimmter Sound usf. – zu einer ästhetischen Einheit zusammengehen. Der Begriff der ästhetischen Einheit ist hier nicht mit abgestandenen Begriffen wie dem der Harmonie u. ä. zu verwechseln; eher meint er so etwas wie immanente Stimmigkeit, die durchaus zerrissen, fragmentiert usf. sein kann:¹⁶ Selbst noch die Improvisationen des späten Coltrane, deren musikalische Bewegungen kaum im Verdacht stehen, in einem manifesten Sinne Harmonie zu exemplifizieren, zeitigen eine entsprechende Einheit. Der Begriff der retroaktiven Zeitlichkeit klärt gegenüber dem Gedanken, dass eine Improvisation einfach eine Zusammensetzung von bereits vorgängig verfügbarem Material – also der bloßen Rekombination oder Addition vorgängig gegebener Elemente – oder das Abklappern eines vorgängig festgelegten Weges – also einer sozusagen vorgängigen teleologischen Festlegung der Improvisation – wäre, was es heißt, dass in und durch den Vollzug der Improvisation eine autonome Form ästhetischen Gelingens etabliert wird. Eine retroaktive Zeitlichkeit meint eine Zeitlichkeit, im Rahmen derer der ästhetische Sinn durch ein zeitlich früheres Element erst durch ein zeitlich späteres Element herausgearbeitet wird.¹⁷ Das heißt, dass der Anfang einer Improvisation, obzwar

 Explizit etwa bei solch unterschiedlichen Autoren wie Terry Pinkard und Slavoj Žižek. Vgl. Terry Pinkard. Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason. Cambridge: Cambridge University Press, 1996, 269 ff. Slavoj Žižek. Weniger als Nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus. Berlin: Suhrkamp, 2014, v. a. Teil II.  Referiert etwa von Ted Gioia. Vgl. Ted Gioia. Jazz: The Aesthetic of Imperfection. The Hudson Review 4 (1987): 585 – 600, hier 593.  Ich folge hier u. a. Überlegungen Adornos, die er unter dem Schlagwort des Formgesetzes der Kunst vorgestellt hat.Vgl. Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, etwa 205 ff.  Hegel hat eine solche Zeitlichkeit bekanntermaßen etwa für die geschichtliche Entwicklung behauptet: Dass eine historisch spätere Lebensform die Widersprüche der historisch früheren Lebensform überwindet, heißt eben nicht, dass die historisch spätere bereits in der historisch

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keineswegs beliebig oder leer, den Improvisierenden nicht darauf festlegt, was er daraufhin tut. Vielmehr legt das, was er daraufhin getan haben wird, fest, was der Sinn des Anfangs war – bzw. auch, ob dieser überhaupt einen Sinn hatte und somit ein Anfang war, da Improvisationen natürlich auch scheitern können. Noch einmal anders gesagt: Ein „Zug“ im Rahmen einer Improvisation ist nichts, was einen Möglichkeitsraum für folgende Züge eröffnen würde. Vielmehr arbeiten der Zug, der daraufhin folgt, und alle weiteren folgenden Züge allererst heraus, was der ästhetische Sinn dieses Zugs war – und damit, dass er überhaupt ein Zug im Rahmen der Interpretation war. Wenn ich nach einer bestimmten melodischen Idee so oder so weiter gemacht habe, dann wird sie sich in einem anderen Licht gezeigt haben, als wenn ich anders weitergemacht hätte. Sind die Elemente eines jeden Kunstwerks und eines jeden ästhetischen Gegenstands holistisch konstituiert, so sind sie im Jazz in einem retroaktiven zeitlichen Sinne holistisch konstituiert. Selbst das Spielen von sogenannten Standards – d.i. so etwas wie der Kanon des Jazz, der sich aus Chansons, Broadway Songs usf. zusammensetzt und dabei immer in Bewegung ist – ist von einer entsprechenden temporalen Logik bestimmt, insofern beim Spielen eines Standards anders als beim Spielen eines Werks nichts sakrosankt ist. Das Spielen von Standards weist damit in bestimmter Weise eine größere Nähe zu den vitalen Improvisationen des Free Jazz auf als zu dem, was man herkömmlicherweise unter dem Interpretieren eines Werks verstanden hat. Etabliert jede gelungene Jazzimprovisation aus sich heraus ihre Elemente in einer retroaktiv-holistischen Weise, so kann es offensichtlich auch keine Kriterien geben, die eine vorgängige Beurteilung einer Improvisation ermöglichen würden. Kategorien wie Schönheit oder vergleichbare Begriffe leisten hier aufgrund ihres unbestimmten Sinns nicht das, was sie an dieser Stelle leisten müssten und selbst noch die Kategorie der Einheit ist eben keine, deren Sinn schon vor ihrer Applikation auf die entsprechende Improvisation feststehen würde.¹⁸ Anders gesagt: Es

früheren angelegt gewesen wäre. Denn erst aus der Perspektive einer Erzählung im Rückblick können sich überhaupt die Widersprüche der historisch früheren Lebensform in ihrer Bestimmtheit artikulieren. Insgesamt ist eine derartige retroaktionslogische Geschichtsphilosophie dem Gedanken verpflichtet, dass Objekte und Ereignisse der menschlichen Welt und sogar die Welt selbst eher als Prozess denn als stabiler Zustand zu deuten sind. Das, was wir sind, ist in einem offenen Sinne Produkt und Prozess unserer kollektiven Aushandlungen genau dieser Frage und gerade keine bloße Oberflächenvariation des Immergleichen. Vgl. Georg W. F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 324 ff.  Unter Applikation ist hier natürlich nicht länger das Fallen unter einen abstrakten Allgemeinbegriff zu verstehen; der Begriff ist hier vielmehr in dem Sinne zu verstehen, in dem Gadamer ihm ausgehend von Aristoteles Kontur verliehen hat. Vgl. Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck, 1990, 312 ff.

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ist etwas daran ausgesprochen lächerlich, das, was John Coltrane getan hat, anhand dessen zu messen, was es heißt, dass eine Improvisation von Charlie Parker gelungen ist. Wenn ich hier von Gelingen spreche, so ist dieser Begriff letztlich als ein Formbegriff des Ästhetischen zu verstehen – er meint keine Entscheidungen darüber, was es inhaltlich heißt, dass eine Improvisation gelungen ist; das man etwa solche oder solche Voicings für Akkorde benutzen sollte und überhaupt Akkordbegleitungen spielen sollte, dass man etwa so oder so seine Melodien aufbauen sollte. Wer solche inhaltlichen Kriterien von einer ästhetischen Theorie erwartet, erwartet nicht allein etwas, was sie weder leisten kann noch sollte, sondern erwartet etwas, was dem Ästhetischen überhaupt nicht gerecht wird. Kurz gesagt: Man muss eine Improvisation an dem messen, was sie selbst tut; sich auf sie einzulassen heißt auch, nachzuvollziehen, was es heißen könnte, dass sie gemessen an ihren eigenen Maßstäben scheitert oder gelingt. Und diese Redeweise von Maßstäben meint eben nicht etwas, das über den Zusammenhang der Ereignisse einer Improvisation hinausgehen würde. Eine veritable Analogie hierzu findet sich in der philosophischen Handlungstheorie: Im Rahmen unserer Handlungen führen wir nicht – wie das Humesche Bild suggeriert – vorgängig fertig gegebene Intentionen gegen den Widerstand der Welt aus, sondern im Vollzug unserer Handlungen klärt sich erst der Sinn unserer Intention. Von einer retroaktiven Zeitlichkeit der Jazzimprovisation zu sprechen heißt dabei offensichtlich nicht, zu sagen, dass Jazzimprovisationen voraussetzungslos wären. Diese These wäre schlichtweg falsch. Es heißt aber, dass gelingende Improvisationen all das, was sie als innermusikalische Voraussetzungen haben, im Rahmen der Improvisation zu etwas je Eigenem und Neuem machen. Daraus erklärt sich auch meine eingangs artikulierte Kritik am Gedanken, Improvisationen seien aus gegebenen Elementen zusammengesetzt: Selbst wenn man im Spiel eines Musikers Phrasen identifizieren kann, die auch andere Musiker benutzen, so spielt diese nicht allein jeder fortgeschrittene Musiker in jeweils eigener Weise, sondern der Sinn einer solchen Phrase muss vom innermusikalischen Kontext her erläutert werden. An dem bislang gezeichneten Bild der Jazzimprovisation im Sinne eines retroaktiv geprägten Holismus ist gleichwohl noch unzureichend, dass es suggeriert, eine Jazzimprovisation sei dann, wenn sie an ein Ende kommt, auch in ihrem Sinn erschöpft. Das ist nicht der Fall: Eine entsprechende retroaktive Logik gilt auch für das Verhältnis unterschiedlicher Improvisationen zueinander.¹⁹ Ist eine Improvisation an ein Ende gekommen, so steht sie nicht wie ein ästhetisches

 Vgl. im Folgenden auch Gadamers Analyse der Wirkungsgeschichte, die sich selbst auf den Spuren von Hegels geschichtsphilosophischen Überlegungen bewegt: Gadamer, Wahrheit, 305 ff.

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Analogon einer fensterlosen Monade einfach in der Welt, deren Bewohner dann mehr oder weniger angemessen ihren ästhetischen Sinn nachzuvollziehen versuchen, sondern ihr Sinn als Ganzes bleibt im Lichte späterer Improvisationen in Bewegung: Im Lichte von Kamsai Washingtons Spiel klingt auch die Musik von Pharoah Sanders anders, die späten Einspielungen von Wayne Shorter mit seinem Quartett werfen auch ein neues Licht auf sein früheres Schaffen. So erweist sich, dass nicht allein der Sinn jedes Zugs im Rahmen einer Improvisation von ihren zukünftigen Zügen abhängig ist, sondern dass auch der Sinn einer Improvisation insgesamt im Lichte späteren musikalischen – aber durchaus auch außermusikalischen –²⁰ Schaffens zur Disposition steht. Nicht allein zeigt sich damit, dass jede Jazzimprovisation immer in einer Tradition des vorangehenden Spielens steht, an die sie noch im Moment des Zurückweisens dialektisch anknüpft.²¹ Es zeigt sich auch, dass Jazz entsprechend als eine Musik zu begreifen ist, deren musikalische Ereignisse in besonders markantem Sinne unbestimmte Ereignisse sind. Dieser Gedanke lässt sich noch für die manifeste rhythmische Gestaltung des Jazz ausweisen. Als rhythmische Besonderheit des Jazz gilt gemeinhin der Swing-Rhythmus und in der Tat hat das Zugleich von Angespanntheit und Entspanntheit wohl kein Analogon in anderen Arten von Musik, wenn auch es ihnen natürlich in verschiedenen Weisen verwandt sein kann. Adorno hat dieses Moment des Jazz in Begriffen der Synkope zu erläutern versucht;²² nicht allein zeigt dieser Versuch, dass er offensichtlich an dem vorbei gehört hat, worum es in dieser Musik geht, sondern ebenso offensichtlich ist, dass der Swing-Rhythmus auch dann kein definierendes Merkmal der rhythmischen Gestaltung dieser Musik ist, wenn er einmal exklusiv für sie war oder eventuell, wenn er gut gespielt ist, zumindest eine hinreichende Bedingung für Jazz sein könnte. Spätestens seit den 1960er Jahren inkorporiert der Jazz aber lateinamerikanische Rhythmen, spätestens seit Beginn der 1970er Jahre die Rhythmen des Rock; seine Ursprünge im Gospel sind auch bei vielen heutigen Musikern noch hörbar. Am Swing-Rhythmus lässt sich gleichwohl besonders markant verdeutlichen, was insgesamt für den Jazz rhythmisch charakteristisch ist: Dass der Rhythmus ein aktiv gestaltbares Element wird, das mit einer Intensivierung jedes Augenblicks zusammenfällt, wenn es denn mit Improvisation – anders als etwa in vielen Arten swingender Big-Band-Musik – ver-

 Vgl. zum allgemeinen Anspruch dieser These Daniel M. Feige. Philosophie des Jazz. Berlin: Suhrkamp, 2014, Kapitel 5.  Vgl. Feige, Philosophie, Kapitel 4.  Vgl. exemplarisch Theodor W. Adorno. Abschied vom Jazz. In ders. Musikalische Schriften, Bd. 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, 795 – 799. Theodor W. Adorno: Über Jazz. In ders. Musikalische Schriften, Bd. 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, 74– 108.

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bunden ist. Swing meint im Gegensatz zu geläufigen Beschreibungen gerade nicht das Spiel von Noten zwischen geraden Achteln und punktierten Achteln im Sinne des Spielens der ersten und dritten Triole einer Achteltriole, denn Shuffle ist kein Swing. Vielmehr spielen unterschiedliche Musiker die entsprechenden Noten an jeweils leicht anderer Stelle; wer einmal Herbie Hancocks Spiel und Chick Coreas Spiel im Kontrast angehört hat, weiß, worum es hier geht: Swing als rhythmischer Aspekt des Jazz ist ein dynamisches und jeweils unterschiedlich artikuliertes Moment. Und zu swingen heißt auch nicht einfach, dass man den zweiten und vierten Taktschlag als schwere Taktzeiten erfährt – vielmehr wird das Register des Hörens in Taktzeiten hier gänzlich überschritten. Swing steht im Dienst einer intensivierten Zeitlichkeit, die gerade aufgrund eines Ineinanders von Anspannung und Entspannung energetisch ist. Hier zeigt sich der Jazz als Form einer Musik, die zumindest dann, wenn sie swingt oder allgemeiner groovt, mit der Animation unseres Körpers verbunden ist; er wird hier zu einem musikalischen Analogon des Tanzes auch dann, wenn sich niemand im Publikum bewegt und die Musiker beim Spielen eher ruhig bleiben. Aber in anderer Weise gilt eine entsprechende Animation unseres Körpers und unserer Bewegungen auch für freiere rhythmische Spielarten des Jazz als solchen, die mit Swingrhythmen operieren; im Free Jazz wird hier etwas besonders markant artikuliert, was auch für sonstigen Jazz charakteristisch ist: Die rhythmische Gestaltung dieser Musik ist immer auch Ausdruck des Personalstils der Spielenden; wenn man einmal Günter „Baby“ Sommers Schlagzeugspiel im Kontrast etwa zum Schlagzeugspiel von Rashied Ali hört, wird man feststellen, dass beide auf ihre jeweils eigene Weise eine immanente ästhetische Notwendigkeit in ihrem Spiel auch in rhythmischer Hinsicht selbst dann erzeugen, wenn es nicht immer swingt und nicht immer herkömmlichen Metren folgt. Jazzperformances angemessen zu beschreiben heißt deshalb oft auch, sie in bestimmten Formen von Bewegungen und Gesten fassbar werden zu lassen –²³ Gesten, die nicht allein die Bewegungen unserer Körper meinen, sondern zugleich Ausdruck umfassenderer Einstellungen sind, wenn etwa Miles Davis’ Spiel trotz seines Etablierens einer innerästhetischen Einheit dennoch etwas Beiläufiges derart hat, dass es diese Beiläufigkeit auch exemplifiziert.

 Vgl. dazu mit Blick auf Musik insgesamt auch Christian Grüny. Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik. Weilerswist: Velbrück, 2014, Kapitel 3.

Retroaktion und Intensität

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III Coda: Jazzimprovisation und das Interpretieren von Werken Der Gedanke, dass es in der Jazzimprovisation in jedem Moment derart um etwas geht, dass immer ihr Gelingen oder Scheitern auf dem Spiel steht, so dass ihre ästhetische Zeitlichkeit als retroaktive und nicht als prospektive oder gar teleologische Zeitlichkeit zu verstehen ist, scheint in anderer Weise nun aber auch für das Spielen von Werken in der Tradition europäischer Kunstmusik zu gelten. Denn Werke weisen nicht allein ein inniges Verhältnis zu ihren Schöpfern und zu den Partituren, mit denen sie gleichwohl nicht identisch sind, auf, sondern auch zu ihren Interpretationen.²⁴ Kurz gesagt: Kein Werk ohne Komponisten – und seien diese anonym oder ein Kollektiv –, ohne Partitur – ob in Standardnotation, graphischer Notation oder einer anderen – und Arten der Darbietung. Mit einigen Bemerkungen zum Verhältnis von Jazzimprovisation und dem Interpretieren von Werken möchte ich schließen. Die These lautet wie folgt: Eine entsprechende retroaktive Zeitlichkeit bestimmt auch das, was es heißt, dass etwas eine gelungene Interpretation eines Werks ist. Gelingen meint hier wie jedes ästhetische Gelingen und damit auch das Gelingen einer Improvisation das Etablieren einer immanenten ästhetischen Notwendigkeit, die sich als stimmige Konstellation von Elementen erläutern lässt. Ein solches Gelingen ist im Kontrast zu Formen des Gelingens außerhalb der Kunst gerade keines, das vorgängige Regeln kennen würde; gemessen an dem, was es heißt, dass etwas außerhalb der Kunst gelingt, zeitigt es eine Form des Gegen-Gelingens.²⁵ Das Interpretieren von Werken ist aber nicht einfach ein Sonderfall – etwa aus einem ideologiekritischen Reflex gegen den Werkbegriff heraus – von Improvisation.²⁶ Als problematisch erweist sich nicht der Unterschied zwischen musikalischen Ereignissen, die improvisiert sind, und solchen Ereignissen, die Interpretationen eines Werks sind. Als problematisch erweist sich nur ein bestimmtes Verständnis dieses Unterschieds und zwar ein Verständnis, das besagen würde, dass anders als in der Improvisation die Interpretation in ihrem Sinn schon vorgängig durch das Werk bestimmt sei. Demgegenüber ist in der Jazzimprovisation der Form nach etwas explizit, was im Interpretieren von

 Vgl. dazu und im Folgenden ausführlicher Feige, Philosophie, Kapitel 3.  Vgl. in diesem Sinne insgesamt Christoph Menke. Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.  Vgl. gleichwohl als Gegenthese Carol S. Gould und Kenneth Keaton. The Essential Role of Improvisation in Musical Performances. The Journal of Aesthetics and Art Criticism 2 (2000): 143 – 148.

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Werken der Form nach implizit ist: Die zeitliche Logik, die das Verhältnis der einzelnen Elemente einer Improvisation bestimmt, bestimmt auch das Verhältnis aufeinander folgender Interpretationen eines Werks. Anders gesagt: Was es heißt, ein Werk angemessen zu interpretieren, ist keine Frage einer vertikalen Beziehung der Interpretation auf eine bloß gegebene Partitur, sondern vielmehr eine Frage einer horizontalen Beziehung verschiedener Interpretationen zueinander. Natürlich kann man beim Spielen von Werken ganz handfeste Fehler machen, indem man sich verspielt – Fehler, die man bei Jazzimprovisationen nicht in derselben Weise machen kann.²⁷ Aber daraus folgt eben noch nicht, dass eine Partitur einige Aspekte der Interpretation eines Werks eindeutig festlegen würde – etwa Tonhöherelation –, wohingegen sie andere in eher unbestimmter Weise dem Interpreten überlassen würde – etwa Tempo und Phrasierung. Eine solche Beschreibung ist auch dann schief, wenn Partituren etwas festlegen; an ihr ist schief, was eingangs mit Blick auf ästhetische Gegenstände insgesamt eingeklagt worden ist: Auch eine gelingende Interpretation eines Werks konstituiert im Moment ihres Vollzugs – wie sehr dieser auch durch vorangehendes Üben der Partitur anders als bei einer Jazzimprovisation, bei der die Vorbereitung üblicherweise nicht das Einstudieren bestimmter Linien über bestimmte Akkordprogressionen eines Standards meint, vorbereitet sein mag – eine eigenständige und irreduzible Form ästhetischen Gelingens. Denn die Elemente einer gelungenen Interpretation lassen sich nicht so auseinanderdividieren, dass man einerseits sagen könnte, einige seien Teil dessen, was es heißt, die Angaben der Partitur zu erfüllen, andere seien die Entscheidung des Interpreten. Wenn man sie so auseinanderdividieren kann, ist die Interpretation wohl schlichtweg misslungen. Vielmehr holt jede gelungene Interpretation vor dem Hintergrund einer Geschichte vorangehender Interpretationen etwas Neues aus dem Werk heraus. Wie mit jedem Zug im Rahmen einer gelingenden Improvisation etwas genuin Neues und mit Blick auf die Einheit der Improvisation zugleich Eigenes geleistet wird, so wird im Rahmen jeder gelungenen Interpretation eines Werks zugleich der Sinn dieses Werks neu- und weiterbestimmt. Komponisten schaffen in gewisser Weise unbestimmt bestimmte Gegenstände: Der Sinn eines Werks ist nicht selbst schon in der Partitur angelegt. Sind Werke somit auf einen geschichtlichen Prozess, im Rahmen dessen verschiedene Interpretationen derselben aufeinander affirmativ oder negativ antworten, angewiesen, so kann man auch sagen, dass jede gelungene Interpretation neu ausgehandelt haben wird, was das Werk gewesen ist.

 Vgl. zur Frage des Fehlers im Jazz auch Alessandro Bertinetto. Jazz als gelungene Performance. Ästhetische Normativität und Improvisation. Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1 (2014): 105 – 140.

Retroaktion und Intensität

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Diese Überlegungen erschöpfen sicherlich nicht, was zur ästhetischen Zeitlichkeit des Jazz im Kontrast zur Zeitlichkeit bzw. zu unterschiedlichen Zeitformen von Musik in der Tradition europäischer Kunstmusik gesagt werden könnte. Und sie stellen selbstredend auch keine erschöpfende Rekonstruktion schon der Zeitlichkeit der Jazzmusik dar. Sie beanspruchen aber durchaus ein Moment dessen herauszuarbeiten, was es heißt, dass ästhetisch überhaupt etwas gelingt, innerhalb wie außerhalb der Kunst: Dass sich uns in der Erfahrung etwas als stimmig und notwendig zeigt, welches dennoch keiner Bestimmung dessen, was außerästhetisch Stimmigkeit und Notwendigkeit meint, gehorcht. Und im Jazz zeigt sich dieses gegenwendige Moment als konstitutives Moment des Ästhetischen und als eines, das sich nicht allein in unserer Zeit entfaltet und seine eigenen Zeitformen etabliert, sondern das sich in einer Weise in unserer Zeit etabliert, so dass zugleich immer auf dem Spiel steht, ob es sich tatsächlich etabliert.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. Adorno, Theodor W. Über Jazz. In ders. Musikalische Schriften, Bd. 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, 74 – 108. Adorno, Theodor W. Abschied vom Jazz. In ders. Musikalische Schriften, Bd. 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, 795 – 799. Bailey, Derek. Improvisation. Its Nature and Practice in Music. Ashbourne: Moorland, 1980. Bertinetto, Alessandro. Jazz als gelungene Performance. Ästhetische Normativität und Improvisation. Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1 (2014): 105 – 140. Bertram, Georg W. Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, 2014. Danto, Arthur C. Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991. Feige, Daniel M. Philosophie des Jazz. Berlin: Suhrkamp, 2014. Feige, Daniel M. Computerspiele. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, 2015. Feißt, Sabine. Der Begriff der „Improvisation“ in der Neuen Musik. Sinzig: Schewe, 1997. Gadamer, Hans-Georg. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck, 1990. Gaut, Berys. „Art“ as a Cluster Concept. In Theories of Art Today, hg. von Noël Carroll. Madison/Wisconsin: The University of Wisconsin Press, 2000, 25 – 44. Gioia, Ted. Jazz: The Aesthetic of Imperfection. The Hudson Review 4 (1987): 585 – 600. Goehr, Lydia. The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music. New York: Clarendon Press, 1992. Goodman, Nelson. Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997. Gould, Carol S., Kenneth Keaton. The Essential Role of Improvisation in Musical Performances. The Journal of Aesthetics and Art Criticism 2 (2000): 143 – 148.

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Daniel Martin Feige

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Oliver Schwerdt

Vom glatten und gekerbten Raum im Zeitgenössischen Schlagzeug-Spiel Zu Aspekten der Dynamisierung und Fragmentierung des Rhythmus bei Günter ‚Baby‘ Sommer English abstract: Smooth Space – Striated Space in Contemporary Percussion Play. Aspects of Dynamisation and Fragmentation of Rhythm in Günter ‘Baby’ Sommer. If music is conceptualized in a performative way by understanding bar and rhythm through an animate body’s touching an inanimate object, then the spatial can be investigated as the corporeal. ‘Music and space’ attain reality by means of the drummer vehemently touching objects. We see here a specific musical form constituting and representing a specific idea of homogeneous spatiality. This homogeneity of a spatiality created by drumming may be differentiated into, firstly, a symbolic space of audible rhythmic contacts following a linearmetric principle, secondly a relative consistency of the instrumental space of percussion and cymbals according to diameter and number, and thirdly the steadily performed vertical movement of the classical drummer in the traditional jazz. The drummer visibly and audibly striates space as well as landscape leaving physical tracks in cymbals and drumheads as well as – in a historical perspective – visibly on the ground. Striating appears to be a practice of civilisation in a linearmetric, hence rational manner. During the 20th century, this practice of spacing has been dynamicised thus transforming the striated space into a smooth space in life practices as well as music practices. Moving in his motorcar without leaving immediate marks on the road, the drummer may cultivate smooth types of music. By fixing his position on the spot, he is able to dynamicise his beats in modes of contraction, concentration, relaxation, looseness. Thus, the sitting Günter ‘Baby’ Sommer can increase the number of his beats to a degree which never may be kept up with by human pacing but which corresponds to his top speed driving experience. Furthermore, his species of Contemporary Percussion Play is characterised by a heavy increase of cymbals in relation to drums. As the former homogeneity of steps and beats is suspended and the decay time of his enlarged instrument rises, the drummer becomes elevated and, in the symbolic space, does not touch the ground for up to 88 seconds. Striating is transformed to denting by the entry of gongs and tam-tam, the score thus passing to the smooth. https://doi.org/10.1515/9783110466591-010

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Oliver Schwerdt

Sommer creates a smooth space of his own by bowing the cymbal with the stick of a contrabass. The former linear-metric structure of pulsing shifts to a continuous though dynamic sound. He introduces ever lighter types of brushes up to his most radical device: a flock of feathers lifted by his hands and sinking down vertically on his instruments without leaving any marks. This smooth space is characterised by heterogeneity related to the spatial positioning and the differences between the objects while performing with them.

I Unter dem Takt verstehe ich eine Berührung zwischen einem belebten Leib und einem unbelebten Ding. Ist diese Berührung wie beim Musizieren hörbar und ereignet sie sich mehrmals, handelt es sich um die Konstituierung eines der drei konventionellerweise für klassische Musik als primär geltenden Parameter: nämlich des Rhythmus. Nun gibt es nicht nur einen Rhythmus, sondern verschiedene Rhythmen, nicht nur eine aus mehreren Takten bestehende Taktung, sondern verschiedene Taktungen. Durch die performativistische Konzeptualisierung von Musik ist das Räumliche als Körperliches untersuchbar. ‚Musik und Raum‘ realisiert sich als hörbare körperliche Aktivität. Die Musiker, welche diesen Rhythmus besonders prägnant realisieren, können Schlagzeuger genannt werden. Ihre körperliche Aktivität ist das Schlagen von Zeug, die vehemente Berührung der Dinge. Nun haben wir Menschen in Europa, um mich an diesen großen Diskurs anzuschmiegen, mit der Ausprägung einer rationalen Kultur ein Schlagzeug-Spiel realisiert, welches durch den Einsatz eines bestimmten Reduktionismus als Taktung von Zeit verstanden wurde. Demgegenüber habe ich durch meinen Fokus auf die musikalischen Praktiken herausgestellt, dass dieses Schlagzeug-Spiel als bestimmte musikalische Form der Konstitution und Repräsentation einer bestimmten Vorstellung des Räumlichen, dessen Homogenität, erkennbar ist.¹ Der Begriff der Homogenität ist zugegebenermaßen sehr weitgreifend, führt uns aber doch zum ‚gekerbten‘ Raum. Inwiefern habe ich diese Homogenität der von einem Schlagzeuger musikalisch realisierten Räumlichkeit zu differenzieren vorgeschlagen? – Erstens, in Bezug auf die hörbare Gestaltung, den musikalischen Symbol-Raum als das

 Oliver Schwerdt. Zur Konstitution, Repräsentation und Transformation des Räumlichen in der Musik. Eine Untersuchung des von Günter Sommer musikalisch realisierten Symbol-, Instrumentalund Handlungs-Raums. 5 Bde. Leipzig: EUPHORIUM, 2013.

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System der hörbaren hier primär als rhythmisch artikulierten Berührungen, folgen die konventionellerweise schlagend realisierten Rhythmen in dieser rationalisierten europäischen Kultur einem linear-metrischen Prinzip (– ein wesentliches Kennzeichen eines solchen Begriffs von Homogenität ist deren hierarchische Struktur; jedem zentral-perspektivisch konstruierten Bild vom Raum eignet ebenso eine solche Hierarchie). Zweitens, in Bezug auf die Kategorie des Instrumental-Raumes, der Beschaffenheit dessen, was berührt wird, der dinglichen Qualität des Raumes, lässt sich noch an der biografischen Grenze von Günter Sommer zu Günter ‚Baby Sommer‘, an der von einem Sachsen realisierten Zäsur vom traditionellen zum Free Jazz eine Homogenität ausmachen, welche ich als relative Gleichheit sowohl der Durchmesser von Trommeln und Becken als auch der Anzahl der Bestandteile dieser beiden Gruppen nachweisen konnte. Dabei führt uns die spezifische Differenz der klanglichen Qualität von Fellen und Metallen, Trommeln und Becken auf die dritte, handlungs-räumliche Kategorie der Konstitution einer Homogenität des Räumlichen. Die mikro-aktions-räumliche Homogenität des Räumlichen haben wir schon genannt: die Gerichtetheit der leiblichen Aktion des klassischen Schlagzeugers, des Schlagzeugers im traditionellen Jazz ist immer gleich: vertikal. Entsprechend der rationalen Taktung schlägt er mit seinem Arm sein Zeug linear-metrisch: er kerbt den Raum. Er kerbt in der Bewegung seines Leibes (– wie ein Holzfäller, der dann zum Erwärmen einer wohnlichen Hütte mit der Axt das Holz scheitet –) sichtbar den Raum, er kerbt durch die Bewegung seines Leibes in der Berührung mit seinem Zeug hörbar den Raum. Und tatsächlich: ich habe physische Spuren eines solchen SchlagzeugSpiels als Kerben in Becken und Fellen gesehen. Nun kerbt der Schlagzeuger, das ist in der Musikgeschichte unserer europäischen Kultur ermittelbar, nicht nur den mikro-physischen Raum seines Zeugs, sondern auch den makro-physischen Raum: die Landschaft. Er konstituiert kerbend den Raum, zivilisiert ihn, kerbt ihn. Die Kerbung ist eine zivilisatorische Praktik. Wie schon betont, wird das Kerben nach dem Prinzip der Taktungen linear-metrisch ausgeprägt, d. h. ein Gleichmaß, eine Berechenbarkeit, also eine Rationalisierung realisiert. Der Schlagzeuger schlägt nicht nur sein Zeug, sondern die Landschaft, indem er zur gleichen Zeit mit seinen Armen das Zeug schlägt und mit seinen Schritten das Land kerbt. Der Schlagzeuger diente einst als hörbarer Garant der landesherrlichen Kontrolle (– die hörbaren Kerben repräsentierten und konstituierten die landesherrliche Kontrolle). Auch diese auf dem Weg über die Erde realisierten Kerben ereigneten sich als linear-metrische Spur sichtbar.

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II Nun habe ich interessiert beobachten können, wie im 20. Jahrhundert endlich auch im Schlagzeug-Spiel des Jazz diese von mir so konzeptualisierte Raumpraktik aufgehoben und die vormalige linear-metrische Struktur vielfältig dynamisiert (und fragmentiert), der musikalisch gekerbte Raum in einen glatten überführt wurde. Das – nicht nur im einfachen historischen, sondern im emphatischen Sinn: Zeitgenössisches Schlagzeug-Spiel konstituiert und repräsentiert unsere Zeitgenössischen Vorstellungen des Räumlichen: die musikalischen sind wie die lebensweltlichen Praktiken dynamisiert. Seit der Steigerung unserer lebensweltlichen Geschwindigkeiten wird das Land immer weniger gekerbt; die Kerben der Schritte im Boden sind aufgehoben, der Asphalt bleibt glatt, wenn die Fahrzeuge auf ihm gleiten. Nachdem der Schlagzeuger aufgehört hat, gleichzeitig mit dem Schlagen seines Zeugs durch sein Schreiten die Landschaft zu kerben (– auch der Schlagzeuger fährt ein Automobil, und zwar, wie ich gezeigt habe, Sommer ausgesprochen viel –), konnte er eine Musik kultivieren, die glatt ist. Als ‚fließend‘ bezeichnete der Jazzpublizist Joachim Ernst Behrendt die in den 1960er Jahren von einem Elvin Jones noch in den USA realisierte Qualität des Rhythmus. Die regelmäßige Taktung des sogenannten ‚time‘-Spiels wird, wie es bei Sommer dann heißt, in ‚Puls‘-Spiel überführt, die linear-metrische Struktur dynamisiert, die hierarchische Struktur des Rhythmus im Free Jazz aufgehoben. Durch die fixe Positionierung des Schlagzeugers kann er mit den alten Instrumenten der Trommeln und Becken dynamisierte Schlag-Folgen – Kontraktion, Verdichtung, Relaxation, Losigkeit – produzieren. Nur durch den Verzicht auf die Kerbung des makro-physischen Raums können wir auch lebensweltlich den glatten Raum erzeugen. (Eine diesbezügliche Anmerkung zur Gestalt des Automobils selbst: zwar verzichten schon die Räder auf die Form von Kerbendem, aber massenhaft hat erst Citroën das die glatte Geschwindigkeit noch rollend zwar produzierende Runde horizontal ausgestreckt!). Sowohl genetisch als auch systematisch folgt der im Sitzen etwa Sommer möglichen Verdichtung der Schlag-Folgen, deren Geschwindigkeit nicht mehr mit einem Menschenleib möglichen Schritten mitvollzogen werden kann, sondern tatsächlich der – wie ich für Sommer zeigen konnte: Höchstgeschwindigkeit seiner automobil geprägten lebensweltlichen Erfahrung entspricht² (– ich hatte

 Nimmt man als Geschwindigkeit für einen von einer musizierenden Kapelle ebenso schreitend realisierten Marsch 80 Schritt in der Minute an (– nach meinem weiter oben als dualistisch geschilderten Prinzip wären 160 abwechselnd auf Trommeln und Becken zu realisierende Schläge

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den Schlag-Zeuger Sommer deshalb als musikalischen Fahr-Zeuger bezeichnet), eine andere, für das von Sommer realisierte Zeitgenössische Schlagzeug-Spiel in hohem Maße charakteristische Gestaltung: durch den Einsatz einer stark erhöhten Anzahl von Becken gegenüber Trommeln (statt 4:4 bzw. 4:5 beträgt das Verhältnis der Becken zu Trommeln 22:6) hebt er diese vom konventionellen Schlagzeuger als Schreit-Zeuger realisierte Homogenität, bei der die hebenden und senkenden Schritte musik-instrumental durch äquivalente Schläge auf Trommeln und Becken konstituiert und repräsentiert werden, auf: der SchlagZeuger wird mit Sommer zum Schweb-Zeuger – die Bruttoausschwingdauer des von ihm erweiterten Instrumentes beträgt ein Vielfaches (>16) derjenigen einer konventionellen Schlagzeug-Kombination³; im Symbol-Raum berührt er bis zu 88 Sekunden nicht den Boden. Darüber hinaus transformiert er durch den Einsatz von Gongs und Tamtam die schlagend realisierte Gestalt des Kerbens in eine des Dellens. Mit der Delle schwingt die Kerbe ins Glatte hinüber. In Bezug auf Sommers Spiel konnte ich eine Vielzahl von Gestalten dokumentieren und systematisch beschreiben, welche jenseits des Schlages, jenseits einer kerbenden (oder gar jenseits einer dellenden) Taktung realisiert sind und dass der Schlagzeuger dabei seine konventionellerweise vertikal zur zu schlagenden Oberfläche ausgerichtete Bewegung ablöst durch horizontal ausgerichtete Bewegungen. Sind diese bereits in der Jazz-Tradition des Besen-Spiels angelegt, gewinnen sie erst im Free Jazz stilistische Prägnanz. Diesbezüglich möchte ich etwa folgende von Sommer realisierte erweiterte Schlagzeug-Spielweisen als radikale Aspekte seines musikalisch realisierten glatten Raums erkannt wissen: Sommer schlägt nicht mehr ein Becken, so dass Taktungen hörbar werden, sondern nimmt den erweiterten Schlägel eines Kon-

damit verbunden –), kämen wir bei einer Schrittlänge von einem Meter damit auf die Angabe von 4,8 km/h. Günter Sommer erreicht seinen extremen Pol der Verdichtung von Schlag-Folgen nicht mit Trommeln und Becken, sondern durch die Erweiterung seines Schlagzeugs um einen SchrapStab. Damit realisiert er 60 Schläge in einer Sekunde (vgl. Schwerdt, Zur Konstitution, Bd. 4, 303 – 304), was(, bei Beibehaltung der dem dualistischen Prinzip entsprechenden Rechnung,) einer Geschwindigkeit von 108 km/h entspricht. Nun könnte man sowohl von einer nachhaltigen Prägung des zentralen ost-deutschen Schlagzeug spielenden Akteurs der ersten Generation des Free Jazz durch die ihm im Osten Deutschlands gegenwärtigen Höchstgeschwindigkeiten der dort üblichen Fahrzeuge als auch von der Reisegeschwindigkeit der von ihm nach der Wende zum Transport seines Instrumentariums zu den Veranstaltungsorten genutzten Kleinbusses reden.  Beträgt der errechnete Wert des Quotienten aus der Summe der Ausschwingdauern der Becken und der Summe der Ausschwingdauern der Trommeln für die von Günter Sommer während meiner Forschungsprojektdauer verwendeten konventionellen Schlagzeug-Kombinationen im Durchschnitt 1,9, so steigert er diesen mit dem Einsatz seines zweifach extensiv und intensiv erweiterten Schlagzeugs auf 24,5, also um mehr als das 12-fache!

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trabass-Bogens, um es zu streichen: tatsächlich vollzieht er damit die eine hörbare Aktivierung realisierende Bewegung horizontal zum Objekt, der Handlungs-Raum verhält sich glatt gegenüber dem Instrumental-Raum. Es entsteht statt eines linear-metrischen strukturierten ein kontinuierlicher – durchaus dynamischer – Klang. Der Schlag-Zeuger ist, wie ich erklärt habe, zum Streich-Zeuger geworden. Er produziert die enttaktete Musik eines hörbar glatten Raumes. Zur wohl radikalsten und für Sommer charakteristischsten Spielweise, welche dieser so genannte Schlagzeuger zur Produktion des glatten Raumes realisiert: über weitere erweiterte Schlägel, von den Jazz-Besen über Stroh-Besen zu FederBesen, gelangt Sommer (an einem bestimmten, dramaturgisch exponierten Punkt eines Konzertes) zur Verwendung einer Feder-Schar: er greift mit seinen Händen in einen Beutel, die hoch gehobenen Federn lässt er auf seine aus Trommeln und Becken bestehende Schlagzeug-Kombination schweben: vertikale Berührungen, schwebende Schlägel – Schwebel –, welche nicht mehr nur keine mit den konventionellerweise gekerbten Taktungen einhergehende Spuren hinterlassen, sondern jede hörbare Markierung überhaupt suspendieren. Symbol-räumlich hat Sommer einen glatten Raum, der nicht gekerbt ist, realisiert. Hatte ich im Zusammenhang mit dem gekerbten Raum dessen Homogenität behauptet, erkläre ich dementsprechend die Heterogenität bei den beiden zuletzt genannten Spielweisen zur Produktion des glatten Raumes: für die erste soll zunächst der Hinweis auf die aufführungs-räumliche Heterogenität reichen: statt nur an einer Stelle die Dinge hörbar zu aktivieren, macht dies Sommer an einer Vielzahl – so stellt er auch dieses zu streichende Becken entfernt von der fix positionierten, konventionellen Schlagzeug-Kombination auf; für die zweite siedele ich die Heterogenität in der Kategorie des Instrumental-Raumes, und da des Gewichtes an: im Vergleich zu den 47 g eines Holz-Stockes kann ich 0,025 g für eine Feder angeben (– nicht zuletzt wird bei dieser Spielweise auch die die Homogenität des Raumes produzierende Gerichtetheit der Schwerkraft performativ aufgehoben). post scriptum ‒ ein letzter Takt: Der Schlagzeuger Günter Sommer fährt unter’m Sitz seines Kleinbusses von Konzert zu Konzert⁴ ‒ dort immer auf ihn wartend und bei Gelegenheit zur Hand: eine Axt!

 Diese Beobachtung gelang mir während der Forschungsprojektdauer ‒ genau gesagt: am 16. Januar 2011 ‒, mit Günter Sommer auf der Rückreise von einem Konzert in Brüssel nach Dresden unterwegs.

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Literaturverzeichnis Schwerdt, Oliver. Zur Konstitution, Repräsentation und Transformation des Räumlichen in der Musik. Eine Untersuchung des von Günter Sommer musikalisch realisierten Symbol-, Instrumental- und Handlungs-Raums. 5 Bde. Leipzig: EUPHORIUM, 2013.

Lucia Kessler-Kakoulidis

Rhythmus ‚in Takt‘ Die Bedeutung des Rhythmus in der musikpädagogischen Konzeption von Émile Jaques-Dalcroze English abstract: The Meaning of Rhythm in Émile Jaques-Dalcroze’s Conception of Music Pedagogy. The article deals with the concept of rhythm, particularly with the aspect of determining rhythm in the method of music education developed by the music pedagogue and composer Émile Jaques-Dalcroze. A general introduction to the definition of ‘rhythm’ is followed by the detailed explanation of Jaques-Dalcroze’s method, which is called ‘la rhythmique’ at the beginning and ‘rhythmics’ or ‘rhythmic and musical education’ later on. The central question is how Dalcroze used rhythm to develop his student’s musicality and how he implemented it in the development of their musical and artistic skills. With regard to the foundation of Dalcroze’s Academy for Music and Rhythm (‘Hellerau’) in Dresden, the article discusses the relevance and the influence of the rhythmic principle and of his method on other art forms. His cooperation with artists from architecture, theater and dance is demonstrated by the example ‘Hellerau’. The article concludes with a reflection on the principle of polarity, which is used in rhythmics derived from Jaques-Dalcroze in several therapeutical settings. – der Rhythmus ist ein irrationales Prinzip, das seine Quelle im elementarsten Lebensgefühl hat. Dalcroze (1921, 202)

Rhythmus ‚in Takt‘! Was steht genau hinter dieser Aussage? Befindet sich ein Rhythmus immer ‚im Takt‘ oder kann er auch ‚aus dem Takt‘ kommen? Mit dieser provokativen Fragestellung beginnt der Buchbeitrag über das Thema Rhythmus im Kontext von Jaques-Dalcrozes musikpädagogischer Konzeption. Zunächst geht es um die Determination des Phänomens Rhythmus und dessen weitreichende Einflussnahme auf unser Leben. Des Weiteren werden der Rhythmus und seine Bedeutung in der Methode des Komponisten und Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze mit Fokus auf dessen Wertigkeit für seine musikpädagogische Konzeption genauer durchleuchtet. Konkret befasst sich der Beitrag mit dem Stellenwert, den der Rhythmus bei Jaques-Dalcroze in seiner musikalischen Lehrmethode, in der er den Menschen als Einheit von Psyche, Geist und Körper sieht, einnimmt. Auf welche Weise konzipierte er seine Methode, die auf das Rhythmische ausgerichtet war, und wie setzte er diese Erfahrungen in die https://doi.org/10.1515/9783110466591-011

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Lucia Kessler-Kakoulidis

Praxis um? Ferner geht es um den Stellenwert des Rhythmus und dessen Anwendung in der Zeit der ‚Hellerauschen Epoche‘ bei Dalcroze¹ in den Bereichen Architektur, Bühnenbild, und Beleuchtung. Der Schluss befasst sich mit dem ‚Rhythmischen Prinzip‘, das in der Dalcroze’schen Methode Anwendung fand und innovatorisch wesentliche Impulse für die Pädagogik und die Therapie setzte.

Rhythmus als Phänomen des Lebens Ohne Rhythmus kein Leben! Nach Lutz Hochreutener ist „Rhythmus […] die Grundlage jeglicher Existenz“ (2009, 80) und wird als „zentrales Entwicklungsprinzip des Lebendigen“ (Gindl 2002, 34) bezeichnet. Diese Feststellung betrifft alle Entwicklungsprozesse und schließt ebenso die Entstehung des Universums ein. Entsprechend definiert es Moritz: „Rhythmus ist ein wunderbar vieldeutiges Wort mit schillernder Bedeutung. Abgeleitet von griechischen Sprachwurzeln für Fließen/Ziehen ist Rhythmus heutzutage ein Zentralbegriff für das Wesen des Kosmos und des Lebens“ (2013, 337 ff.). Rhythmische Abläufe vollziehen sich in zeitlichen Abständen und bestimmen unser gesamtes Leben (vgl. Koch & Bergmann 2017, 372). Wie ein Motiv ziehen sie sich über alle Lebensbereiche des Menschen hin. Sie sind sowohl in seiner Außenwie in seiner Innenwelt präsent und damit sine qua non Bestandteil jeglicher Äußerung des Seins. Als entscheidender Faktor in der Entwicklung konsolidiert der Rhythmus die Erneuerung jeglicher Lebensvorgänge im Sinne einer autopoietischen² Organisation, „die sich dauernd selbst erneuern und dabei eigene

 Häufig wird Jaques-Dalcroze in der einschlägigen Literatur nur mit dem letzten Nachnamen – also als Dalcroze – angeführt. Zur Vereinfachung der Schreibweise wird ebenso in diesem Text auf diese verkürzte Form zurückgegriffen.  Autopoiese, vom griechischen Wort αυτός-avtos und ποιείν-poiein, schaffen, tun, herstellen (siehe ausführlich Spyridon G. Soulis. Poiein. Der kulturschöpferische Weg des Menschen mit schwerster geistiger Behinderung. Inclusive Education For All (IFEA). Aachen: Wissenschaftsverlag, 1996, 109 f.: bedeutet den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems. Humberto R. Maturana & Francisco J. Varela. Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Frankfurt a.M.: Fischer, 2009, 50 f. definieren: „dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen […]“ (vgl. Soulis, Poiein, 88; Lucia Kessler-Kakoulidis. Rhythmik und Autismus. Der integrative Ansatz Amélie Hoellerings in Theorie und Praxis. Gießen: Psychosozial, 2016, 46, 70. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist die Interpretation Soulis’, der das „altgriechische Wort poiein (ποιείν)“ mit dem Begriff ‚Kultur‘ verbindet, d. h. er definiert „Kultur als einen Prozess von ‚poiein‘. Soulis, Poiein, 110.

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Strukturen ausprägen“ (Speck 1991, 162, in Soulis 1996, 88 f.; vgl. Frohne-Hagemann 2001, 22; Steffen-Wittek 2001, 95; Hoffnung 2010, 243). In Bezug auf die Rhythmik beschreibt es Frohne-Hagemann entsprechend: „Was die Rhythmik erreichen kann, ist kein genormtes Verhaltensmuster, sondern der Prozess des Wachsens im Sinne einer Selbstorganisation“ (2001, 21). Rhythmus wird in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen vom Menschen über auditive, taktile und visuelle Sinneseindrücke perzeptibel. Er „kann motional und emotional, bewegt und bewegend erlebt werden“ (Krepcik 2012, 25). Die Erfahrung des Rhythmus per se ist ein sinnlich-körperliches Ereignis, das sich über die Eigenempfindung und den Bezug zur Umwelt, also über Innen- und Außenwahrnehmung unbewusst oder bewusst vollzieht. Grundlage dieser Wahrnehmung ist demnach unsere Körperlichkeit, in dem Sinne wie sie MerleauPonty in seiner Theorie des Körperschemas definiert (Merleau-Ponty 1966, 242). Jedes Rhythmuserlebnis steht im weitesten Sinn in Bezug zur Umwelt, wie dies z. B. bei Schlaf- und Wachrhythmen versus Nacht- und Tagwechsel der Fall ist. Die Diversität, in der rhythmische Abläufe existieren, zeigt uns, wie umfassend Rhythmen das menschliche Leben prägen. Alle rhythmischen Vorgänge vollziehen sich in Polaritäten. Auf dieses Thema geht der Buchbeitrag später explizit ein. Bestimmungen von Rhythmus reichen bis in die Antike zurück. Den Begriff des Rhythmus verwandten die Griechen schon im 7. Jahrhundert v. Chr. Zunächst bezog er sich auf den Bereich der Lyrik, der Musik und der Architektur. Aristoxenos, einer der ersten Rhythmustheoretiker überhaupt, schreibt im 4. Jahrhundert v. Chr. den Rhythmus dem Musischen, der Bewegung und der Prosa zu. Besonders Platon³, Aristoteles und sein Schüler Aristoxenos⁴ zählen zu den griechischen Philosophen, die sich außer Heraklit explizit um eine Erklärung des Phänomens Rhythmus bemüht haben (vgl. Busch & Fischinger 2010, 288 f.; Salaverría 2010, 122 f.; Kessler-Kakoulidis 2011, 35; 2016, 43 ff.). In der Antike stand

 Von Platon stammt der Ausspruch: „τη δη της κινήσεως τάξει ρυθμός όνομα είη“ (ti di tis kiníseos táxi rythmós ónoma eí): „Rhythmus heißt die Ordnung der Bewegung.“ Bei Leonhardmair findet sich: „Platon bezeichnet den Rhythmus als ‚Maß der Bewegung‘“. Teresa Leonhardmair. Bewegung in der Musik. Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen. Bielefeld: transcript, 2014, 154, vgl. Lucia Kessler-Κακουλίδη. Θεραπευτική Ρυθμική. Εφαρμογές στην εκπαίδευση παιδιών με και δίχως αναπηρία. Αθήνα: Εκδόσεις Fagotto, 2011. Lucia Kessler-Kakoulidis. Therapeutische Rhythmik. Anwendungen bei Kindern mit und ohne Behinderungen. Athen: Fagotto, 2011, 35; Kessler-Kakoulidis, Rhythmik, 43 f.; Heidi Salaverría. Falscher Rhythmus. Gesellschaft aus dem Takt? Musiktherapeutische Umschau 31:2 (2010): 117– 128, 123.  Die Theorie von Aristoxenos beruht auf der Auffassung, dass Rhythmus von allein, also unabhängig von jeglicher Darstellung existiert und sich innerhalb einer abstrakten Dauer vollzieht. Dalcroze bezog sich immer wieder auf den griechischen Philosophen und Musiktheoretiker Aristoxenos.

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der Begriff des Rhythmus vor allem in Verbindung mit Vers, Melodie und Bewegung. Konkret wurden damals Verse durch deren Betonungen rhythmisch gesprochen, gegangen und musikalisch begleitet. Dem Rhythmus und der Melodie wurden zudem bei deren Anwendung in Musiké und Gymnastik eine erzieherische und ethische Funktion zugeordnet. Auf der Suche nach der heutigen Erklärung des Terminus Rhythmus stoßen wir auf unterschiedliche Begriffsbestimmungen. Der Philosoph, Psychologe und Graphologe Ludwig Klages (1872– 1956), der sich vorrangig mit dem Rhythmusbegriff beschäftigte, beschrieb ihn auf der Grundlage des griechischen Wortes ρέει-reei (fließen, strömen sich in eine Richtung bewegend)⁵. Im Fokus seiner Definition stand der Rhythmus als „eine Urerscheinung, als Gesetzmäßigkeit des Lebens“ (Klages, 1944 in Neudorfer 2012, 113). Als erkennbare Merkmale, die den Rhythmus kennzeichnen, artikulierte er „Stetigkeit, Gliederung, Erneuerung und Wiederkehr“ (ebd.). Diese Kennzeichen sind bis heute ausschlaggebend für jegliche Begriffsbestimmungen (vgl. Röthig 1967, 48; Spitzer 2006, 213; Koch 2012, 7; Neudorfer 2012, 113 ff.; Moritz 2013, 337 f.; Leonhardmair 2014, 143). Allgemein bezeichnet man Rhythmus als einen gleichmäßig gegliederten Bewegungsablauf in einem begrenzten Zeitraum, wobei die Teile eines Ganzen in ihrer Analogie und Symmetrie in Harmonie zueinander stehen (vgl. Moritz 2013, 338; Leonhardmair 2014, 86 ff.). Bezeichnend bei diesem Vorgang ist die Tatsache, dass sich dieser Ablauf – wie z. B. beim Atem – in einem begrenzten Zeitraum immer wieder per se selbst erneuert und in sich nie absolut gleich darbietet (vgl. Keil 2010, 215). Ein weiteres Beispiel dafür wäre die Darstellung des Herzschlages. Bei der Aufzeichnung durch einen Kardiographen ist zu erkennen, dass zwar die Herztöne, in einer Aufwärtskurve dargestellt, in regelmäßigen Abständen er-

 Von Heraklit (um 520 v.Chr. – um 460 v.Chr.) stammt der berühmte Ausspruch: „τα πάντα ρέει (ta pánta réei)“: alles fließt. Der griechische Philosoph befasste sich mit dem natürlichen Prozess des Werdens und sich Wandelns und auch mit dem Verhältnis von Polaritäten, die den Rhythmus ebenfalls kennzeichnen; vgl. Gertrud K. Loos. Spiel-Räume der Magersucht. Musiktherapie und Körperwahrnehmung mit frühgestörten Patienten. Stuttgart, Jena, New York: Gustav Fischer. Kassel, Basel, London, Prag: Bärenreiter, 1994, 102; Leonhardmair, Bewegung, 47. Bei Sacks finden wir: „‚Reim‘ und ‚Rhythmus‘ kommen aus dem Griechischen und haben die gemeinsame Bedeutung von Maß, Bewegung und Fließen. Ein strukturierter Fluss, eine Melodie oder Prosodie, ist erforderlich, um uns vorwärtszutragen, und das ist etwas, was Sprache und Musik verbindet und vielleicht auch ihren gemeinsamen Ursprüngen zugrunde liegt“. Oliver Sacks. Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2013, 293. Dazu meint Weber: „In seiner ursprünglichen griechischen Wortbedeutung meint Rhythmus Fluss und Begrenzung zugleich. Rhythmus ist also ein dynamisches Geschehen, das in einem Beziehungszusammenhang mit Raum, Kraft, Zeit und Fluss steht.“ Claudia M. Weber. Tanz- und Musiktherapie zur Behandlung autistischer Störungen. Göttingen: Verlag für angewandte Psychologie, 1999, 29.

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scheinen, die ‚Zwischenräume‘ jedoch nicht immer kongruent sind. Das ist das Besondere am Rhythmus, und das ausgesprochen Interessante aber auch Unspektakuläre an diesem Vorgang.⁶ Rhythmisches Geschehen zeichnet sich demnach durch seine Stetigkeit aus und dadurch, dass es sich als lebendiger Vorgang immer wieder neu präsentiert. Rhythmische Abläufe bestimmen ohne Zweifel unser gesamtes Leben und vollziehen sich in naturgebundener Periodizität. Mond- und Sonnenzyklus, die Bewegung der Planeten, die Jahreszeiten, unser Lebenszyklus und der aller Lebewesen, körperliche Funktionen beim Menschen, alles unterliegt einem rhythmischen Geschehen, das sich in Zeit und Raum vollzieht und in regelmäßigen Abständen wiederholt. Im Bereich der Künste sind der Einfluss des Rhythmus auf die verschiedensten Kunstwerke und seine Relevanz für den Menschen offensichtlich. Dies betrifft in keinster Weise nur die Musik, sondern zeigt sich u. a. im Tanz, in der Malerei und Bildhauerei, in der Lyrik, in Film⁷ und Theater und in der Architektur (vgl. Salaverría 2010, 119; Kessler-Kakoulidis 2016, 49 ff.).

 Oft wird bei moderner Musik der Beat, bzw. der Rhythmus technisch, d. h. elektronisch hergestellt. Ein Rhythmus jedoch, der sich exakt nach mathematischen Vorgängen ohne den Einbezug eines Spielers vollzieht, kann beim Hörer Herzrhythmusstörungen verursachen. Ursache dafür ist die Tatsache, dass jeder Schlagzeuger beim Spielen des Rhythmus seinen eigenen Atemund Bewegungsrhythmus in den gespielten Rhythmus mit einbringt. Die Unterschiede zwischen technischem und gespieltem Rhythmus sind oft akustisch nicht unmittelbar wahrnehmbar, werden jedoch über den Körper erfahren. Das lebendige und flexible Spielen des Rhythmus vom Schlagzeuger wird vom Zuhörer als angenehm und natürlich erlebt, denn es entspricht seinen körperlich-rhythmischen Vorgängen. Ein technisch gespielter Rhythmus jedoch kann den Hörer aus der Fassung, bzw. aus seinem Rhythmus, bringen, weil ihm dabei ein ‚unnatürlicher‘ Rhythmus aufgezwungen wird, der seiner Atem- und Herzfunktion zuwiderläuft. Nur in Verbindung mit Bewegung, wie z. B. beim Tanzen, indem dem technischen Rhythmus ein Bewegungsrhythmus dazugestellt wird, wird er erträglich.  Einer der bedeutendsten Filmregisseure unserer Zeit, Andréj Tarkowskij (1932– 1986) äußert sich über den Rhythmus im filmischen Werk folgendermaßen: „Der Rhythmus ist nicht etwa eine metrische Abfolge von Filmteilen. Der Rhythmus konstituiert sich vielmehr aus dem Zeitdruck innerhalb der Einstellungen. Meiner tiefen Überzeugung nach stellt gerade der Rhythmus das entscheidende formbildende Element des Kinos dar“; Andréj Tarkowskij. Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Berlin, Frankfurt a.M.: Ullstein, 1984, 138. „Das Gefühl für den Rhythmus ist dasselbe wie – sagen wir das Gespür für das richtige Wort in der Literatur. Ein ungenaues Wort in der Literatur zerstört den Wahrheitscharakter eines Werkes ebenso wie ein unpräziser Rhythmus im Film“. Tarkowskij. Ohne Zweifel sind Filme von Kourosawa, Tarkowskij, Angelopoulos, Bergmann, Antonioni – um nur einige zu nennen – durch ihre Art der Zeitempfindung, die sich über das Rhythmusgefühl in der Montage des Films äußert, jederzeit unverwechselbar erkennbar. Dies trifft jedoch nicht nur auf die Montage des Films zu, sondern bezieht sich desgleichen darauf, wie mit dem Medium Licht, wie mit Weite und Nähe der

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Jeder Mensch untersteht seinen verschiedensten Rhythmen, die sich durch den biologischen Rhythmus, den sozialen Rhythmus in seiner Entwicklung und die psychologischen Rhythmen – des Bedürfnisses nach Kontaktbereitschaft und des Wunsches nach Rückzug, des Bedürfnisses nach Verschmelzung und Trennung, Konzentration und Entspannung, Aktivität und Passivität – äußern (vgl. Frohne-Hagemann 2001, 19; Koch & Rautner 2017). Besondere Bedeutung hat der Rhythmus in Bezug auf die Kommunikation (vgl. Jost 2009; Koch & Bergmann 2017, 372 f.). Hoffmann bezeichnet ihn als „ein wichtiges Orientierungsmittel in der Kommunikation miteinander und in der zeitlichen Synchronisation der Beteiligten“ (2010, 199). Aufgrund der fundamentalen Wirkung, die der Rhythmus auf den Menschen hat, wird er deshalb in musiktherapeutischen Settings gezielt als Mittel und ‚VerMittler‘ eingesetzt (vgl. Loos 1994, 103 ff.; Frohne-Hagemann & Pleß-Adamczyk 2005, 63, 136; Lutz Hochreutener 2009, 32, 124 f., 134). Im Fokus stehen dabei die vorgeburtliche Erfahrung des Rhythmus und deren signifikante Bedeutung. Die Wertigkeit, die man dem Rhythmus in der pränatalen Phase für die Entwicklung des Föten zuschreibt, steht mittlerweile außer Zweifel und orientiert sich an entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, die von René Spitz ausgingen (vgl. Loos 1994, 104). Bekanntlich ist der Fötus in der intrauterinen Zeit über die taktile (Haut) und akustische Perzeption rhythmischen Vorgängen ausgesetzt. Diese rhythmischen Gegebenheiten werden u. a. durch den Herzschlag, den Blutkreislauf und die Gangbewegungen der Mutter vermittelt und verschaffen dem Embryo erste essentielle Rhythmuserfahrungen. Wie wichtig die Präsenz dieser Rhythmen für seine weitere psychosomatische Entwicklung ist, zeigen Untersuchungen, die in Perinatalzentren für Frühchen in Amerika durchgeführt worden sind (vgl. Schwartz & Ritchie 1999, 14). Nöcker-Ribaupierre et al. erklären die Bedeutung des Rhythmus auf den Fötus folgendermaßen: Ihrer Ansicht nach verschafft in der Zeit im Uterus „vor allem der Rhythmus […] Kontinuität und Sicherheit durch verlässliche Wiederkehr, und bildet auf diese Weise die Basis für das, was Erik H. Erikson Urvertrauen nennt (1974)“ (2006, 145). Konkret: Das, was für den Fötus perzeptibel und kontinuierlich immer wieder erlebbar wird, wie z. B. der Herzschlag der Mutter, vermittelt ihm durch die hochgradige Wiederholungsfrequenz ein Gefühl der Stabilität und des Gehaltenwerdens, denn eine stabile Konstante ist hör- und fühlbar, erscheint und vergeht, zeigt sich immer wieder aufs Neue und vollzieht sich bis zur Geburt auf millionenfache Weise (vgl. Loos 1994, 105 f.;

Kameraeinstellung, mit Tempo und Effekten wie Zeitverzögerung (Dehnung oder Raffung) oder mit Mitteln der Dynamik wie Pause und Passivität – Intensität rhythmisch umgegangen wird.

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Schwartz & Ritchie 1999, 14; Kowal-Summek 2006, 133 ff.; Kapteina 2009, 92; Lutz Hochreutener 2009, 54, 80 f.; Kessler-Kakoulidis 2011, 36 f.; 2016, 52 ff.). Rhythmische Vorgänge setzen sich in unserem gesamten Lebensmuster fort. Für den Menschen bestehen rhythmische Abläufe im Wechselspiel von Geburt und Tod – Loos (1994, 109) bezeichnet sie „als zur rhythmischen Weltordnung“ gehörend – und in der Fortpflanzung von Generation zu Generation. So schließt sich ein Kreis und wiederholt sich im rhythmischen Balanceakt von Werden und Vergehen. Könnte die pränatale Erfahrung, in der der Rhythmus auf einer coenästhetischen Ebene als zuverlässiges Kontinuum rezeptiv so intensiv erfahren wurde, als Erklärung dafür dienen, dass in manchen Religionen und Weltanschauungen die Vorstellung einer Wiedergeburt entstanden ist, d. h. dass an eine rhythmische Wiederholung des eigenen Lebens – quasi als Prägung, in Form einer autopoietischen Organisation –, in welchem Zustand auch immer, geglaubt wird?

Émile Jaques-Dalcroze – „la rhythmique“ Mir scheint, es gelte vor allem unsere Kinder zu lehren sich ihrer eigenen Persönlichkeit bewusst zu werden, […] ihren ureigenen Lebensrhythmus von jeder Fessel zu befreien. Dalcroze (1921, Vorwort, XII)

Rhythmus und Rhythmik, beide Worte haben ihre Wurzeln im gleichen griechischen Wortstamm. Wer sich mit dem Begriff Rhythmus beschäftigt, stößt über kurz oder lang unweigerlich auf den Namen Dalcroze. Émile Jaques-Dalcroze (1865 – 1950), eine der profilierten Persönlichkeiten in der musikpädagogischen Landschaft, entwickelte um die Jahrhundertwende in der Schweiz und in Deutschland seine musikpädagogische Konzeption, die er zunächst als ‚gymnastique rhythmique‘ (Rhythmische Gymnastik), und danach ‚la rythmique‘ bezeichnete.⁸ Im späteren Verlauf – um 1916/17 (vgl. Zwiener 2002, 83) – wurde

 Der russische Fürst und Schriftsteller Sergej M.Wolkonsky (1860 – 1927), der Dalcroze in der Zeit in Dresden regelmäßig besuchte, betitelte Dalcroze auch als „Pestalozzi der Musik“. Sergej M. Wolkonsky. Die Wende in meinem Leben. In Hellerau leuchtete. Zeitzeugenberichte und Erinnerungen, hg. von Ehrhardt Heinold und Günther Großer. Husum: Verlag der Kunst Dresden Ingwert Paulsen jr., 2007, 211; vgl. Marie Adama van Scheltema. Charakterbild des Meisters. In Hellerau leuchtete. Zeitzeugenberichte und Erinnerungen, hg. von Ehrhardt Heinold und Günther Großer, Husum: Verlag der Kunst Dresden Ingwert Paulsen jr., 2007, 128. Zwiener bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Dalcroze „als Pädagoge […] in der Tradition von Pestalozzi und Rousseau steht […]“. Daniel Zwiener. Als Bewegung sichtbare Musik. Zur Entwicklung und Ästhetik der Methode

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Abb. 1: Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau beim Unterrichten

daraus kurz und bündig Rhythmik und später Rhythmisch-musikalische Erziehung. Vom Wort Rhythmik zum Begriff Rhythmus ist kein weiter Weg. Deshalb wird fälschlicherweise oft angenommen, dass es sich bei der Rhythmik um eine musikalische Lernmethode handelt, bei der ausschließlich der musikalische Rhythmus im Fokus steht. Besonders in Ländern, in denen die Rhythmik weitgehend unbekannt ist – wie etwa in Griechenland – wird der Begriff entweder mit der Vorstellung von ‚musikalische-Rhythmen-spielen‘ oder mit Rhythmischer Sportgymnastik verbunden. Dies ist verständlich, jedoch ein Irrtum! Der musikalische Rhythmus steht bei Dalcroze nicht im Vordergrund, sondern ist nur eine, wenn auch primäre, Konstante in der Musik und wird, wie andere Faktoren auch – z. B. Melodie, Dynamik, Modulation, Agogik, Harmonik –, im Rhythmikunterricht erarbeitet.⁹ Dalcroze stellte fest, dass „alle rhythmischen Elemente der Musik […] ursprünglich den Rhythmen des menschlichen Leibes entlehnt [sind]“ (1921, 170).¹⁰

Jaques-Dalcroze in Deutschland als musikpädagogische Konzeption. Essen: Die Blaue Eule, 2008, 47.  Der Musikwissenschaftler, Musiker und Intendant Bekker (1882– 1937) führt dazu an: „…dass es nicht ganz richtig ist, hier nur von einer Schule der rhythmischen Gymnastik zu sprechen, oder gar Jaques-Dalcrozes Unterrichtsmethode einseitig als auf den Rhythmus bezugnehmend zu bezeichnen. Gewiss ist die Weckung und Stärkung des rhythmischen Bewusstseins der Anfang, die Grundlage des Unterrichts. […] Das melodische und das harmonische Bewusstsein sind zum mindesten ebenso wichtig wie das rhythmische, alle drei zusammengefasst ergeben erst die musikalische Kunstform….“. Paul Bekker. Land der tausend Möglichkeiten. In Hellerau leuchtete. Zeitzeugenberichte und Erinnerungen, hg. von Ehrhardt Heinold und Günther Großer, Husum: Verlag der Kunst Dresden Ingwert Paulsen jr., 2007, 224 f.  Jahrzehnte bevor es zur Entwicklung der Atemtherapie kam, bezeichnete Dalcroze die Atmung als Urrhythmus (1921, 49, vgl. 132) und arbeitete bewusst an dessen qualitativer Verbesserung. Aufzeichnungen von 1906 zeigen, dass Dalcroze den Atem gezielt zur Unterstützung des Erfassens und Erlernens von Notenwerten einsetzte und ihm eine eminente Bedeutung beimaß. Er schlug

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Demgemäß entwickelte er eine Methode, bei der sich der musikalische Lernprozess über die körperliche Bewegung vollzieht, wobei sowohl die Wahrnehmung für musikalische Parameter – melodische, harmonische und rhythmische – als auch die Erziehung zur Musikalität insgesamt geschult werden sollten (vgl. Zwiener 2017, 44 ff.). Sein musikpädagogischer Ansatz, der das Phänomen Rhythmus generell – nicht nur den musikalischen Rhythmus! – in den Vordergrund stellte, implizierte gleichzeitig die Entwicklung geistig-emotionaler und körperlicher Fähigkeiten. Dohrn¹¹ bringt es auf den Punkt: „Jaques-Dalcroze hat die Bedeutung des Rhythmus für die persönliche Entwicklung des Menschen entdeckt“ (2007, 185; vgl. Kessler-Kakoulidis 2016, 34 ff.). Im pädagogischen Ansatz der Rhythmik ging es ihm immer um den Menschen in seiner Gesamtheit, d. h. neben der kompetenten Musikausbildung seiner Schülerinnen¹² lag ihm auch deren psychisch-physische Entfaltung der Persönlichkeit am Herzen. Altenmüller und Scholz weisen darauf hin, dass Dalcroze „[…] believed that the way to health was trough a balance of mind, body, and senses“ (2016, 113). Dalcroze selbst schreibt: Der Rhythmus liegt sämtlichen Äußerungen des Lebens, der Wissenschaft, der Kunst zum Grunde. Er ist die Ordnung, der Takt in der Bewegung und zugleich die persönliche Art und Weise, wie man diese Bewegung ausübt. Das Studium des Rhythmus soll uns dahin bringen, uns in allen Lebensäußerungen auf individuelle Weise zu gehaben, d. h. unser Fühlen dem natürlichen Rhythmus gemäß zu offenbaren, der uns eigen ist und der seinerseits von unserer Leibesbeschaffenheit, vom Kreislauf unseres Blutes, von unserm Nervensystem abhängt (1921, 111).

Die Entstehung und Entwicklung der Methode von Dalcroze fällt in den Umbruch der Jahrhundertwende, genauer in die Zeit zwischen 1892 und 1906, als Dalcroze als Professor für Solfége und Musiktheorie an das Konservatorium von Genf berufen wurde. Durch die Bekanntschaft mit dem Schweizer Musiktheoretiker,

seinen Schülern Atemübungen zur Spannung und Entspannung der Atemmuskulatur vor, um den musikalischen Lernprozess zu unterstützen. Zwiener 2008, 72 ff., 77 ff., 133, 282.  Wolf Dohrn (1884– 1914), der Geschäftsführer und einer der Gründungsväter von Hellerau, der mit Dalcroze bekannt wurde, war derjenige, der veranlasste, dass sich Dalcroze in Dresden-Hellerau niederließ. Dalcroze verließ 1910 die Schweiz und legte seine Beschäftigung am Konservatorium in Genf nieder, um in den Jahren 1910 – 1914 in Hellerau zu wirken. Durch die großzügige finanzielle Unterstützung von Dohrn konnten die Lehr- und Bildungsanstalt Dalcroze und das Festspielhaus gebaut werden, in dem die Aufführungen der Rhythmik stattfanden. Unter Einsatz seines gesamten Vermögens und eines unbeirrbaren Glaubens an die Idee der Rhythmischen Erziehung unterstützte er Dalcroze bis zu seinem tragischen Tod 1914 in den Alpen.  Um mir die Schreibweise zu erleichtern, bitte ich alle Leserinnen und Leser bei von mir verwendeten Worten in femininer Form auch die maskuline Form dazu zu denken und umgekehrt.

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Klavierpädagogen und Pianisten Mathis Lussy (1828 – 1910), der sich mit der Analyse des Rhythmus und des Ausdrucks am Instrument beschäftigte, und unter dessen Einfluss „entwickelte Jaques-Dalcroze seinen energetischen Musikbegriff und seine Auffassung von der Bedeutung des Rhythmus für die Musik und ihre Interpretation“ (Zwiener 2008, 43; vgl. Zwiener 2002, 78, 2017, 46; Dalcroze 1921, 12, 34 f.). Schon 1879 veröffentlichte er erste Artikel über seine Erkenntnisse und stellte seine Methode praktisch zum ersten Mal 1905 auf dem Schweizer Musikkongress in Solothurn vor. Ursprung der Entwicklung seines musikpädagogischen Konzepts war die Feststellung von Dalcroze, dass seine Schüler gravierende Schwierigkeiten hatten, gehörte Musik in Notation zu übertragen, sowie vorgelegte Noten in die musikalische Vorstellung umzusetzen. Seiner Meinung nach begründete sich dies mit dem ‚verkopften‘ Musikstudium, das den Schülern keinerlei Möglichkeiten gab, Musik mit Geist und Körper, also ganzheitlich zu erfassen. Dies war für ihn der Anlass, ein musikalisches Lernen über die Körpererfahrung zu entwickeln, wobei das, was ihn „an Musik interessierte […] nicht in erster Linie ihr intellektueller Anspruch oder ihre Kunstfertigkeit [waren], sondern vielmehr ihre subjektive, emotionale und physiologische Wirkung auf den Hörer“ (Zwiener 2008, 43; vgl. Habron 2014, 93). Dalcroze erkannte den Rhythmus als wesentliches Element der Musik, der sich analog im Körperlichen widerspiegelt, und definierte dies entsprechend: „der musikalische Rhythmus [ist] nun seinem Wesen nach nichts Verstandesmäßiges, sondern etwas Körperliches“ (1921, 32). Mittels seiner rhythmischen Übungen fokussierte er eine Steigerung der ästhetischen Wahrnehmung von Musik und die Entwicklung von musikalischem Bewusstsein über die körperliche Bewegung, um so den Lernprozess bei seinen Schülern am Konservatorium effektiver zu unterstützen. Für ihn spielte die Erfahrung des Rhythmus, der nicht nur auf der verstandesmäßigen Ebene sondern ebenso sinnlich-emotional als intermodaler Vorgang abläuft, eine entscheidende Rolle. Ihn beschäftigte der Rhythmus in Bezug zu Gehörbildung und Improvisation, zu Komposition und Gebärde im musikalischen Drama sowie in der bewegten Plastik (daraus gingen die bekannten ‚Exercices de Plastique animée‘ hervor), wobei er dessen Bedeutung in Anwendung und Theorie ausführlich in seinen Anleitungen beschrieb. Rhythmische Formen, die sich in musikalischen Parametern wie Taktwechsel, Metrik und Harmonisierung, Auftakt und Satzbau der Komposition niederschlagen, werden bei ihm als ‚Intermediärobjekt‘ zwischen Musik und Mensch verstanden und dienen zur Interaktion zwischen Umwelt, Mensch und Kunst. Einige Jahre später finden wir ähnliche Vorstellungen bei dem Philosophen und Pädagogen

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John Dewey (1859 – 1952),¹³ der für eine Verbindung der Wahrnehmung von Kunst über die eigene Erfahrung und das bewusste Handeln in Interaktion mit der Umwelt als effektiven Lernprozess plädiert (Dewey 1934, 48 ff.; vgl. Habron 2014, 94). Gleiches findet sich bei den Pädagogen J. J. Rousseau (1712 – 1778) und J. H. Pestalozzi (1746 – 1827), die ein Lernen über sinnliche Wahrnehmung propagieren. Bewusst arbeitete Dalcroze mit seinen Schülern an Themen wie Spannung – Entspannung, dynamische und agogische Nuancierung, Polyrhythmik und Taktwechsel. Dabei stand das rhythmische Polaritätsprinzip immer im Vordergrund und sollte zum Ausdruck gebracht werden. Seine Art der Lehrweise hatte, wie dies viele Künstlerpersönlichkeiten aus eigener Erfahrung in seinen Stunden erlebten und seine Studierenden immer wieder versicherten, eine ausgesprochen stimulierende und wohltuende Wirkung auf die Teilnehmer. Dies lässt sich auch heute noch in vielfacher Weise bei den Rhythmikstunden mit Kindern oder Erwachsenen feststellen (vgl. Feudel 1956, 154; Rhythmikon 1991, 31– 36). Eine der Ursachen liegt wohl in der ganzheitlichen Vorgehensweise seiner Methode, bei der Körper, Geist und Psyche gleichwertig in den Lernprozess einbezogen werden. Ein anderer Aspekt betrifft die soziale und kreative Ebene, denn in Interaktion mit den Gruppenmitgliedern wird Musik kommunikativ-integrativ eingesetzt und Improvisation wird als persönlicher Ausdruck der Musik gezielt angewandt. Dies führt zu einem tieferen Erfassen der Musik und kann Momente von kontemplativer Verfassung und Konzentration hervorrufen, die sich regenerierend auf die Person auswirken. Als Erklärung ein Beispiel aus der Praxis: Eine kontemplative Erfahrung in der Musik kann sich beim Darstellen einer zweistimmigen Komposition einstellen, bei der in einer Takteinheit die eine Stimme eine gerade, die andere eine ungerade Notenanzahl aufweist. In der Rhythmik sollen diese beiden Stimmen nun von zwei Partnerinnen in der Fortbewegung dargestellt werden. D. h. im Zeitraum eines Taktes geht der eine zwei ‚Notenschritte‘, während der andere drei Schritte ausführt und dies fortlaufend. Dabei soll der Kontakt im Spiel mit dem Partner nicht verloren gehen und beide sollen in ihrer Bewegung als Gestalt im

 John Dewey (1859 – 1952), amerikanischer Philosoph und Pädagoge. Zunächst beeinflusst vom Idealismus Hegels, wandte er sich später der empiristischen Philosophie zu. Demokratie versteht er nicht in erster Linie als ein politisches System, sondern definiert damit die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen. In diesem Sinne setzt er sich für ein Lernen ein, bei dem aus der eigenen Erfahrung heraus und in der bewussten Auseinandersetzung mit den Dingen – wie auch mit Kunst – Lernprozesse stattfinden, die zur Entwicklung des ganzen Menschen beitragen. Gleichzeitig ging es ihm um eine Pädagogik, in der die Demokratie nicht allein zum Fortbestand der Gesellschaft beiträgt, sondern zu einer Verbesserung derselben.

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Raum eine Einheit bilden. Auf ein Signal hin wechseln die Rollen. Bei Klavierkompositionen ist diese Anforderung häufig zu finden. Dabei besteht die Aufgabe darin, zwei Notenwerte gegen drei im gleichen Takt gegenübergestellt mit beiden Händen zu spielen, d. h. die rechte Hand spielt in der gleichen Zeit (Taktlänge) z. B. drei Achtel, während die linke Hand zwei Achtel spielen soll. Dies kann für den Pianisten bei der Ausführung nicht wie eine mathematische Formel technisch abgewickelt werden, indem ausgerechnet wird, wo jeder Notenwert ‚sitzen‘ soll, sondern ist nur dann als Ganzes harmonisch anhörbar, wenn in der angegebenen Zeit eines Taktes, 3er und 2er quasi unabhängig voneinander frei angespielt werden.¹⁴

Abb. 2: Frédéric Chopin Nocturne, op. 9 Nr. 1, b-Moll, Takt 4

Wenn dies gelingt, führt es zu einer Erfahrung, in der Zeit und Raum aufgehoben sind, wobei nur der Zeitabstand von einem Takt zum nächsten, also das Metrum, für den Spielenden erfahrbar ist, währenddessen jedoch unterschiedliche Takteinteilungen ‚Raum einnehmen‘ und gleichzeitig unabhängig voneinander gespielt werden. Gleichzeitig löst sich die Zeiterfahrung als lineares Geschehen der Verbindung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem zu Gunsten einer Wahrnehmung des Augenblicks auf. Besonders oft wird diese Fertigkeit natürlich von Schlagzeugern verlangt. Je professioneller die Ausführung

 Wer sich mit den Klavierkompositionen von Frédéric Chopin beschäftigt, wird schon bei der ersten Nocturne, op. 9, Nr. 1 in b-Moll fündig. Im dritten Takt verlangt der Komponist dem Klavierspieler eine Fertigkeit ab, die im Rhythmikunterricht häufig geübt und in der Bewegung ausgeführt wird. (Zum Beispiel werden Zweier gegangen, während darüber Dreier geklopft, gesungen etc. werden, und umgekehrt.) In dieser Nocturne soll konkret im dritten Takt die rechte Hand 11 Achtel in der gleichen Zeit spielen, in der die linke Hand 6 Achtel spielt. Im nächsten Takt sind es dann 22 gegen 12 Achtel (siehe Abb. 2). Diese Form der musikalischen Ausführung unterstützt meiner Meinung nach die ‚Gesanglichkeit‘ der Klavierkompositionen von Chopin. Sie verlangt jedoch vom Spieler die Fähigkeit, beide Hände unabhängig voneinander zu benutzen und das Gefühl für den Takt als Ganzes körperlich spürbar zu haben, um darüber wie im Tanz der Wellen, eine ‚rechte Wellenlänge‘ zu spielen und unabhängig davon eine ‚linke Wellenlänge‘ laufen zu lassen. (Abb. 2: Frédéric Chopin: Nocturnes, op. 9, Nr. 1, Takt 4).

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stattfindet, desto mehr erlebt man den Musiker als ‚in seiner Mitte ruhend‘. Dies kann zu einem Zustand führen, der nach dem Psychologen Csíkszentmihályi ‚Flow-Erlebnis‘¹⁵ genannt wird, und in dem der Musiker in Selbst- und Zeitvergessenheit, konzentriert und der Realität entrückt in Leichtigkeit eine komplizierte Tätigkeit ausführt, die ihn weder unter- noch überfordert. Dieser Zustand wird immer dann erreicht, wenn spielerisch bewusstes und unbewusstes Tun ineinander übergehen und gehandhabt werden können. Resultat davon ist ein „Hochgefühl, bei dem Tun und Bewusstsein miteinander verschmelzen“ (Csíkszentmihályi 2000, in: Lutz Hochreutener 2009, 20, 23, vgl. Kessler-Kakoulidis 2016, 96; Treviño & Bermúdez 2016, 161) und „in dem man mühelos und zugleich konzentriert in einer Aktivität aufgeht“ (Salaverría 2010, 127; vgl. Deutsch et al. 2009, 71 ff.; Maurer-Joss 2011, 57; Leonhardmair 2014, 308). Dünßer formuliert es entsprechend: Er beschreibt eine verdichtete Form der Sammlung und Aufmerksamkeit in der wir in besonderer Weise in Verbindung mit unseren schöpferischen Kräften stehen und unsere Produktivität im „Fluss“ ist: ein Zustand außerordentlicher Wachheit, Anwesenheit und Gegenwärtigkeit („Flow“) (2012, 14).

Durch die Art und Weise, wie Dalcroze den „Rhythmus als erzieherische und gestaltende Kraft, als ordnendes Prinzip und formende Gewalt wieder lebendig zu machen“ (Dohrn 2007, 187) suchte, wurde „der Rhythmus zu dem er erziehen wollte, […] nun selber zum Erzieher“ (Brandenburg 1921, 106, in: Zwiener 2008, 156 f.; vgl. Dalcroze 1921, 5). Für ihn spiegelte sich der Rhythmus in der „Gesamtheit der Fähigkeiten jedes Menschen“ (Dalcroze 1921, 199), war also sine qua non in seiner ganzen Persönlichkeit vorhanden. Ein wesentlicher Aspekt in seiner Auffassung einer Erziehung durch die Rhythmik bestand bei Dalcroze im Bedürfnis, jeden Menschen als eigenständige Persönlichkeit zu respektieren und ihn in seiner Entwicklung in Harmonie mit der Umwelt zu unterstützen. Seine Vor-

 Nach dem Psychologen Mihály Csíkszentmihályi, der den Begriff prägte, zeichnet sich ein Flow Erlebnis durch die Mühelosigkeit aus, in der eine Tätigkeit in Harmonie mit dem Geist und dem Körper ausgeführt wird, die uns anspricht und erfüllt und unsere gesamte Konzentration beansprucht. Flohr & Trevarthen weisen darauf hin, dass sich dieser Aspekt schon 1921 bei Dalcroze findet: „Dalcroze defined rhythm as varieties of flow through time-space (Dalcroze 1921). His idea of „flow“ as a quality of live movement gives the word the same sense as it has for Mihály Csíkszentmihályi in his descriptions of optimal experience […]. John W. Flohr & Colwyn Trevarthen. Music learning in childhood early developments of a musical brain and body. In Neurosciences in Music Pedagogy, hg. vonWilfried Gruhn & Frances Rauscher. New York: Nova Science, 2008, 73.

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stellungen einer elementaren Musikpädagogik, die auf dem rhythmischen Prinzip beruht, sollten schon beim Kind angewandt werden. Dalcroze schreibt dazu: Die Erzieher müssen vielmehr darauf bedacht sein, ihnen die Mittel zu liefern, ihr eigenes Leben zu leben und es gleichzeitig mit demjenigen ihrer Mitmenschen in Einklang zu bringen (1921, Vorwort, XII) […] Es wird zu den allerersten Angelegenheiten der künftigen Erziehung gehören, die natürlichen Rhythmen jedes einzelnen Kindes von allen Einflüssen zu befreien, die ihren ungehinderten Abfluss zu stauen vermögen, und ihm den vollen Besitz seines Temperamentes wiederzugeben (Dalcroze 1921, 122).

Wie wesentlich die eigene Erfassung und Akzeptanz des ‚Eigenrhythmus‘ ist, verdeutlicht die Dalcroze-Schülerin Feudel, indem sie schreibt: „Das Wiederfinden des eigenen Rhythmus führt weit mehr mit sich als etwa nur das eigene Wohlbefinden; es schließt die Hinwendung zur Wirklichkeit, die Bejahung des Lebens in jeder Form ein“ (1965, 27). Ferner betont Dalcroze schon 1919 im Vorwort seines Buches „Rhythmus, Musik und Erziehung“ den Zusammenhang zwischen musikalischer Arhythmie und psychischer Verfassung.¹⁶ Mit dieser Einstellung war er ohne Zweifel seiner Zeit phänomenal weit voraus. Die musikalische Arhythmie offenbarte sich mir als die Folge einer allgemeinen Arhythmie, und ihre Heilung schien mir abzuhängen von einer besonderen in allen Stücken erst noch zu schaffenden Erziehung: von einer Erziehung, die darauf ausgeht, die nervösen Reaktionen zu ordnen, Muskeln und Nerven aufeinander abzustimmen und Körper und Geist in Einklang zu bringen (Dalcroze 1921, Vorwort, XI).

In Bezug auf ein In-Takt-Sein des Menschen bezieht sich Röthig auf die psychohygienische Relevanz des Rhythmus und äußert sich folgendermaßen: „So gesehen ist Rhythmus das Symbol der intakten Verfassung eines Menschen; wobei diese Verfassung […] in der Theorie der Rhythmischen Erziehung als Interferenz aller menschlichen ‚Funktionskräfte‘ verstanden wird“ (in: Feudel 1965, 175). Auch wenn sich die Vorstellungen von Dalcroze heute vielfach als idealistische und romantische Ideen lesen lassen, so sieht man dennoch, dass vieles, was er damals entwarf und propagierte, sich heute in pädagogischen und musikthe-

 Als eines der berühmtesten Beispiele für den Zusammenhang von psychisch-physischer ‚Arhythmie‘ werden immer wieder Siegmund Freud und seine ‚Unmusikalität‘, bzw. Abneigung Musik gegenüber angeführt. Vgl. Bernd Nitzschke. Frühe Formen des Dialogs. Musikalisches Erleben – Psychoanalytische Reflexion. Musiktherapeutische Umschau. 6 Sonderheft (1985) 5; Ludger Kowal-Summek. Spiel und Musik in der musikalischen Früherziehung unter besonderer Berücksichtigung psychoanalytischer Erkenntnisse. Herbolzheim: Centaurus, 2006, 490; Dietmut Niedecken. Musik als ungesättigte Deutung. Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung 64 (2010): 505 – 525, 505; Sacks 2013, 357 f.; Kessler-Kakoulidis, Rhythmik, 64.

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rapeutischen Konzeptionen finden lässt und dort Fuß gefasst hat. Rhythmisch ‚im Takt‘ oder ‚aus dem Takt‘ zu sein hat demnach mit einem rhythmisch ausgeglichenen Agieren zwischen Körper und Geist zu tun. Oder nach Dalcroze: „Unsere Freiheit als denkende und handelnde Menschen hängt von dieser Einheit der Rhythmen des Denkens und des Lebens ab“ (1921, 199).

Rhythmus im Kunstverständnis der Bildungsanstalt Hellerau (1910 – 1914) Die Bedeutung der Gartenstadt Hellerau, die 1909, also wenige Jahre vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs unweit von Dresden von dem Unternehmer Karl Camillo Schmidt gegründet wurde, ist unmittelbar mit dem Namen Émile JaquesDalcroze verbunden. Der Ort Hellerau entwickelte sich im nächsten Jahrzehnt zu einer weltweit bekannten Künstlerkolonie, in der Arbeit, Wohnen und Kunst in Harmonie und Kooperation nebeneinander bestanden und sich befruchteten (vgl. Zwiener 2017, 42 f.).¹⁷ Hellerau, das nach seiner Entstehung eine außergewöhnlich produktive Phase „als kulturgeschichtlicher Ort sowie Wirkungs- und Begegnungsstätte zahlreicher schöpferischer Persönlichkeiten aus ganz Europa“ (Großer & Heinhold 2007, 5), Russland und Amerika durchlief, impliziert den Begriff eines ‚Chronotopos‘,¹⁸ denn hier fanden in enger Verbindung von Zeit und Ort kulturpolitische und avantgardistisch-künstlerische Ereignisse statt, die noch bis in unsere Zeit hineinwirken. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Feststellung von Thomas Nitschke, der Hellerau als „eine Experimentierwerkstatt für ein künftiges, friedlicheres und multikulturelles Europa“ (in: Großer & Heinhold 2007, 6) bezeichnet.¹⁹  Der Verein ‚Bürgerschaft Hellerau‘ bemüht sich seit 2011 um die Aufnahme von Hellerau in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes.  Der Begriff Chronotopos (Zeit-Raum) ist die Zusammensetzung der griechischen Worte Chronos (griech.: χρόνος), das die Worte: Zeit, Jahr, Takt bedeutet, und des Worts Topos (griech.: τόπος), das Ort, Platz, Stelle, Raum impliziert. Dieser Terminus wurde ursprünglich in der mathematischen Naturwissenschaft verwandt und stützte sich auf die Relativitätstheorie von Einstein. Durch den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895 – 1975) wurde der Begriff in Deutschland bekannt, der ihn in Bezug auf raum-zeitliche Strukturen in der Literatur ab Mitte der 1930er Jahre verwandte. In Bezug auf Hellerau vgl. Günther Großer & Ehrhardt Heinold. Zur Einführung. In Hellerau leuchtete. Zeitzeugenberichte und Erinnerungen, hg. von Ehrhardt Heinold und Günther Großer. Husum: Verlag der Kunst Dresden Ingwert Paulsen jr., 2007, 5 – 15, 7.  Der deutsch-britische Schriftsteller Peter de Mendelssohn, der in Hellerau aufwuchs, bezeichnet es auch als „ […] ein kleines Europa. […] Hellerau war mein persönliches, ureigenstes, unverlierbares Europa.“ Peter de Mendelssohn. Mein persönliches, ureigenstes, unverlierbares

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Wolf Dohrn, einer der Initiatoren und Mäzene von Hellerau, der Dalcroze bei einer Vorstellung seiner ‚gymnastique rhythmique‘ kennenlernte, war so vollkommen von dessen Arbeitsweise überzeugt und begeistert, dass er ihn Anfang Oktober 1910 zum Umzug von Genf nach Hellerau bewegte. Für Dalcroze wurde innerhalb eines Jahres ein Festspielhaus mit eingegliederter Bildungsanstalt mit Wohn- und Arbeitsräumen von dem jungen Architekten Heinrich Tessenow (1876 – 1950)²⁰ gebaut. Dort entwickelte er von 1910 bis zum Beginn des ersten Weltkriegs 1914 seine musikpädagogische Konzeption und konsolidierte sie in Praxis und Theorie.²¹ Was verbindet nun den Rhythmusbegriff mit der Bildungsanstalt Dalcrozes und dem Bau des Festspielhauses? Schon bei der Realisierung des Gebäudes, das nach den konkreten Vorlagen von Dalcroze²² und dem Schweizer Bühnenbildner Adolphe Appia (1862– 1928)²³ von Tessenow gebaut Europa. In Hellerau leuchtete. Zeitzeugenberichte und Erinnerungen, hg. von Ehrhardt Heinold und Günther Großer. Husum: Verlag der Kunst Dresden Ingwert Paulsen jr., 2007, 100 – 122, 101.  Heinrich Tessenow (1876 – 1950), deutscher Architekt und Hochschullehrer, wurde vor allem durch den Bau der Bildungsanstalt für Jaques-Dalcroze und Reihenwohnhäuser in der Gartenstadt Hellerau bekannt. Er gilt als Reformer der Wohnungsbauten und maßgeblicher Vertreter der ‚Neuen Sachlichkeit‘.  Im September 1914 ging Dalcroze u. a. aus politischen Gründen wieder in die Schweiz zurück und gründete in Genf sein Jaques-Dalcroze Institut, an dem er die Rhythmik bis zu seinem Tod 1950 lehrte. Über die Gründe des Rückzugs Dalcrozes aus Deutschland berichtet Zwiener ausführlich. Zwiener 2008, 8, 13, 116, 280; vgl. Antje Flügge. Das Festspielhaus Hellerau – Wandel in Nutzung und baulicher Struktur. Dresdner Hefte 15:3 (1997, =51): Gartenstadt Hellerau. Der Alltag einer Utopie. 2. unveränderte Auflage (1999): 47– 53, 50; Kessler-Kakoulidis, Rhythmik.  Dazu schrieb Dalcroze an den Leiter der Gartenstadt: „Vom technischen Gesichtspunkte aus befriedigen mich die Pläne von Tessenows vollkommen. Und damit will ich sagen, dass ich alle Raumverhältnisse darin so verwirklicht finde, wie ich sie wünschte. […] Der Stil seiner Bauten passt in seiner Einfachheit und Harmonie vollkommen zu dem Stil der rhythmischen Körperbewegungen, was für die besondere Art der Raumgestaltung ungemein wichtig ist“. Karl Storck (1921). É. Jaques-Dalcroze. Seine Stellung und Aufgabe in unserer Zeit. In Hellerau leuchtete. Zeitzeugenberichte und Erinnerungen, hg. von Ehrhardt Heinold und Günther Großer. Husum: Verlag der Kunst Dresden Ingwert Paulsen jr., 2007, 241– 251, 246– 247; vgl. Zwiener 2008, 128.  Adolphe Appia, ein Schweizer Architekt, Bühnenbildner und Theoretiker, lernte Dalcroze schon vor der Hellerauschen Zeit in Genf 1906 kennen und nahm an einem seiner Kurse teil. Daraus entwickelte sich eine ausgesprochen fruchtbare Zusammenarbeit beider. Diese Kooperation wird auch als „Sternstunde der Theatergeschichte“ bezeichnet. (Wolfensberger 1989, 75, in: Zwiener 2008, 224). Zwiener definiert es folgendermaßen: „Appia lässt sich vom praktizierenden bewegungsorientierten Musikpädagogen und Musiker, Dalcroze vom theoretisierenden Raumkünstler inspirieren“ (2008, 224). Appia, der selbst Musik studiert hatte, fand in Dalcroze den idealen Partner, um seine bühnenbildnerischen Vorstellungen in die Praxis umzusetzen; vgl. Adolphe Appia. Mein Weg zur Rhythmischen Gymnastik. In Hellerau leuchtete. Zeitzeugenberichte und Erinnerungen, hg. von Ehrhardt Heinold und Günther Großer. Husum: Verlag der Kunst Dresden Ingwert Paulsen jr., 2007, 51– 54; Zwiener 2008, 230.

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Abb. 3: Das Festspielhaus in Hellerau

wurde, wird ersichtlich, dass der Rhythmusbegriff im Zentrum seiner architektonischen Arbeit stand. Die Bildungsanstalt mit Festspielhaus (Abb. 3), die von ihm im streng neoklassizistischen Stil gebaut wurde, liegt auf einer Anhöhe über der Gartenstadt und besticht durch die Reduzierung auf deren klare, geometrische Grundformen Dreieck, Rechteck und Quadrat. Der Bau mit dem mittleren Haupttrakt und seinen symmetrisch angebauten Seitenflügeln verbindet sachliche Nüchternheit mit einer imposanten Vorderansicht. Eine Anleihe an griechische Tempel der Antike ist nicht zu übersehen. Nach den Vorlagen der beiden Künstler Dalcroze und Appia wurde der Festsaal und Bühnenraum im Innern des Hauptgebäudes so gestaltet, dass er den Anforderungen der Vorführungen von Dalcroze Rechnung tragen konnte. Der Festsaal beeindruckt besonders durch seine variable Bühne, die indirekte Beleuchtungsanlage und die Akustik. Der Musikschriftsteller Karl Storck (1873 – 1920) schreibt dazu: „So hatte also Jaques-Dalcroze seinen Architekten gefunden […] und so erstand das Haus (gemeint ist die Bildungsanstalt Hellerau, Anm. d. Verf.) [erstand], wie es Jaques-Dalcroze für seine Kunst des Rhythmus brauchte, wie es ein wesensverwandter Baukünstler aus dem Geiste desselben Rhythmus heraus erschaut hatte“ (2007, 247). Der Bühnenraum (Abb. 4a und 4b) der nach Entwürfen von Appia entstand, zeichnet sich durch die Aufhebung der Abgrenzung von Bühne und Zuschauerraum aus. Hier führte Adolphe Appia innovativ seine Bühnenästhetik konsequent durch, indem er den Saal mit einem versenkbaren Orchestergraben – zwischen Bühne und erster Sitzreihe – und einer flexiblen Bühne versah, die zum ersten Mal Treppen und Quader als Raumordner einsetzte, sowie zur erfolgreicheren

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Abb. 4a: Der Bühnenraum im Festspielhaus nach der Gestaltung von A. Appia für C. W. Glucks Oper „Orpheus“; 4b: Der Bühnenraum im Festspielhaus während einer Rhythmik Vorstellung der Hellerauer Festspiele 1912

Darstellung der Bewegungs- und Gruppenbilder der Schüler beitragen sollte. Die Bühne war durch keinen Vorhang vom Publikum getrennt. Auf Dekoration wurde vollständig verzichtet. An die Stelle eines Bühnenbildes inklusive Requisiten traten flexible Elemente wie Treppen, Podeste, Vorhänge und Pfeiler, die den rhythmischen Charakter der Bewegungen, der Musik und der ‚Lichtchoreographie‘ unterstützen und betonen sollten (vgl. Zwiener 2008, 253 f., 2017, 47 ff.; Flügge 1999, 47 ff.). Die Triade der Künstlergarde wurde durch den georgischen Maler und Bühnenbildner Alexander von Salzmann (1874– 1934)²⁴ vervollständigt, der ein völlig neues Beleuchtungssystem entwickelte. Für die Beleuchtung der Bühne und des Saales installierte er eine Anlage von insgesamt 3000 Lampen²⁵, die verdeckt hinter einer eingezogenen Zwischendecke und hinter Leinwand vor den Wänden installiert wurden und im Saal indirekt Licht spendeten. Sie konnten je nach den Anforderungen der Aufführung in vielschichtigen Nuancen geregelt werden, und das Licht konnte – quasi wie bei Musik von ‚piano bis forte‘, crescendo oder decrescendo – stufenweise eingesetzt werden (vgl. van Scheltema 2007, 137; Bekker 2007, 219 ff.; Zwiener 2008, 114, 126, 251 f., 2017, 48). Die weißen wachs-

 Alexander von Salzmann (1874– 1934), russischer Maler und Bühnenbildner und einer der wichtigsten Mitarbeiter von Dalcroze in der Hellerauschen Zeit. Mit seiner Frau, der Tänzerin und Pianistin Jeanne Allemand schloss er sich 1919 in Paris dem Komponisten, Choreographen und Esoteriker Georges I. Gurdjieff an.  Aus anderen Stellen spricht man von bis zu 10.000 Lampen. Sicher ist, dass die patentierte Anlage 70.000 D-Mark verschlang und damit fast ein Zehntel der gesamten Bausumme; vgl. Lutz Robbers. Filmkämpfer Mies. In Mies van der Rohe im Diskurs. Innovationen – Haltungen – Werke. Aktuelle Positionen, hg. von Kerstin Plüm. Bielefeld: transcript, 2013, 63 – 96. 87.

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getränkten Tücher, mit denen die Saaldecke und alle Wände des Saales im Abstand von einem Meter mit zwei Lagen ausgekleidet waren, dienten außerdem zur besseren Lichtreflexion (vgl. Robbers 2013, 86 ff.; Flügge 1999, 49). Von Salzmann ging es um die Entwicklung eines Lichtes nach „musikalischer Qualität“ und darum, nicht einen belichteten, sondern einen „leuchtenden Raum“ zu schaffen (von Salzmann 2007, 283). Mit seiner Beleuchtung wollte er nach musikalischen Parametern gestalten und über die verschiedensten Lichteffekte die Vorführungen Dalcrozes und den rhythmischen Charakter seiner Arbeit aktiv unterstützen. Musik, Bewegung, Licht und Bühnengestaltung sollten aufeinander abgestimmt künstlerischen und erzieherischen Zielen dienen. Was die Anwendung des rhythmischen Prinzips betrifft, so findet sie sich bei Tessenows Architektur im Grundriss und in der proportionalen Verteilung von geometrischen Formen, sowie im Maßverhältnis und in der Abstimmung von Fläche und Größe, Einteilung und Symmetrie des gesamten Baus. Durch das klare Baugefüge und die Aufteilung in Mittel- und Seitentrakte wird ein Gleichgewicht geschaffen, das den idealen Raum für die Arbeit von Dalcroze darstellte. Adolphe Appia als Bühnenbildner schuf unter dem Eindruck der Arbeit von Dalcroze seine ‚espaces rythmics‘ (rhythmischen Räume) und verwirklichte seine Vorstellungen von einer Bühne, die der ‚gymnastique rythmique‘ von Dalcroze entsprechen sollte, um die durch Bewegung sichtbar gewordene Musik räumlich zu unterstützen (vgl. Zwiener 2008, 225, 232). Und von Salzmann, der Dalcrozes Vorstellung von einer Musik über die Bewegung völlig absorbiert und verstanden hatte, entwickelte ein Beleuchtungssystem, das den rhythmischen Charakter der Vorführungen nach musikalischen Kriterien gezielt unterstrich und fokussierte. Damit wurden Dynamik, Rhythmus, Melodie und Harmonik mittels der Lichteffekte von von Hartmann, der Bühnenkonstruktion von Appia mit den beweglichen, geometrischen Requisiten und des Baus des Festsaals unter Tessenow in idealer Weise mit den Vorstellungen von Dalcroze vereint und dienten in vorbildlicher Weise zu dessen Vorführungen der Rhythmik.²⁶ In den Aufführungen konnte somit präferenziell das erreicht werden, was für alle beteiligten Künstler Priorität

 Über die Auswirkungen dieser Aufführungen gibt es zahlreiche begeisterte Statements von namhaften Persönlichkeiten. Vgl. Richard Beacham. Rückkehr nach Hellerau – Zurück in die Zukunft? In Hellerau Symposion. Fragen zur Geschichte der Rhythmik, hg. von Reinhard Ring. Remscheid, Genf: Bundesverband Rhythmische Erziehung u. a., 1993, 78 – 84, 80. Bei Bienz findet sich folgende Aussage: „Noch fünfzig Jahre später erinnerte sich Le Corbusier an das Gesamtkunstwerk aus Raum, Licht und Musik: im Beitrag für die Brüsseler Weltausstellung 1958, dem Poème électronique.“ Peter Bienz. Le Corbusier und die Musik. Braunschweig,Wiesbaden: Vieweg, 1999, 51. Auf Le Corbusier, der 1910 seinen Bruder besuchte, der bei Dalcroze in Hellerau studierte, hinterließ Hellerau einen bleibenden Eindruck.

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hatte, nämlich bei den Zuschauern und den Teilnehmern über die intermodale Wahrnehmung das Bewusstsein für den Rhythmus zu entwickeln und Rhythmuserleben zu ermöglichen und zu intensivieren.

Das Polaritätsprinzip in der Rhythmik von Dalcroze Eine der wesentlichen Eigenschaften […] des Rhythmus ist seine Kraft, uns die Gegenwart des Lebens fühlen zu lassen. Dalcroze (1921, 203)

Alle rhythmischen Vorgänge unterliegen dem Polaritätsprinzip, d. h. sie präsentieren sich als dichotome, adversative Kräfte, die im dynamischen Spannungsfeld ihrer polaren Beziehung ein Ganzes bilden (vgl. Hegi 2010, 244; Kessler-Kakoulidis 2011, 42 f.; 2016, 55 ff.). Auf diesem Grundsatz beruhen alle rhythmischen Erscheinungsformen unseres Lebens. Dalcroze war sich dieses Tatbestandes sehr wohl bewusst, als er seine musikpädagogische Konzeption dem rhythmischen Prinzip zu Grunde legte. Versinnbildlichung fand die Darstellung des Gleichgewichts polarer Beziehungen und des Rhythmus bei Dalcroze durch das aus der chinesischen Philosophie stammende Symbol von Yin und Yang. Es befindet sich, weit sichtbar, im Giebel der Fassade der Bildungsanstalt Dalcroze (Abb. 5) und wurde sehr wahrscheinlich von von Salzmann entworfen (vgl. de Mendelssohn 2007, 104; von Salzmann 2007, 281; Zwiener 2008, 130 ff.). Wolkonsky beschreibt das Emblem sehr poetisch: „…und wie von der Stirn eines Zyklopen schaut vom Dachfirst in die Ferne das ‚Auge von Hellerau‘: der mystische Kreis, geteilt in zwei sich umschlingende Hälften, weiß und schwarz…“ (2007, 199)²⁷ Bis heute wird dieses Symbol zur Versinnbildlichung einander entgegengesetzt wirkender Kräfte, die aufeinander bezogen sind und eine Gesamtheit bilden, verwandt. Schon zu Beginn der Entwicklung seiner Methode war bei Dalcroze der Polaritätsgedanke nachweislich vorhanden und gehörte „zu den Grundfesten der Methode Jaques-Dalcroze“ (Zwiener 2008, 19). In der praktischen Anwendung der

 In Bezug auf die politische Dimension dieses Symbols bei Dalcroze betont Zwiener: „Das chinesische Symbol unterstrich in Hellerau eine interkulturelle Gesinnung. Yin und Yang sind Zeichen und Ausdruck nicht nur für Rhythmus, für den Ausgleich von Polaritäten, für grundlegende Wesenszüge von Kunst, sondern sie sind auch Ausdruck des Friedenswillens und der Kommunikationsbereitschaft aller Beteiligten – und das drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs […]“. Zwiener 2008, 135. Dies erscheint mir ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt in Bezug auf die Rhythmik von Dalcroze.

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Abb. 5: Das Symbol Yin und Yang im Giebel der Fassade des Festspielhauses

Rhythmik äußerte sich dies konkret, indem er die Gegensätze von Körper – Geist, Individuum – Volksmenge, Kunst – Wissenschaft (vgl. Zwiener 2008, 289) Bewusstes – Unbewusstes gezielt in seiner Arbeitsweise berücksichtigte und mit einbezog. Begriffe wie Denken und Fühlen, Führen und Folgen, Empfangen und Geben, Aktiv und Passiv, Spannung und Entspannung finden sich immer wieder als sich gegenseitig ergänzende Polaritäten in seinen schriftlichen Äußerungen und Anleitungen und stehen von Anfang an für ein innovatorisches Denken (vgl. Dalcroze 1921, 74 f.; 99, 113, 198 f.). Ohne Zweifel war Dalcroze sich vom Beginn der Konsolidierung seiner Methode an klar, dass nur über die Harmonisierung und den Austausch der Polaritäten ‚Leib und Seele‘ (Dalcroze 1921, 68 f.) eine erfolgreiche Pädagogik erfolgen kann, innerhalb deren es möglich ist, Kunst ganzheitlich zu erfassen, zu verstehen und zu erlernen. Diese Form des Lernprozesses sollte über die Ausbildung und Sensibilisierung des Körpers für rhythmische Vorgänge und für den musikalischen Rhythmus erreicht werden. Im Fokus der Sinnesschulung stand bei ihm das, was Zimmer sehr prägnant formuliert: Ziel der Sinnesschulung ist es vor allem, sensibler und einfühlsamer zu werden im Umgang mit sich selbst, mit anderen und der Umwelt, eine Balance zwischen dem Menschen und seiner sozialen und materialen Umwelt herzustellen (2010, 31).

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In seiner Methode ging es Dalcroze um die Wiederherstellung des Ausgleichs zwischen den Polaritäten ‚Innen und Außen‘. Zum einen betraf dies die harmonische Synchronisation von Umwelt und Individuum, zum anderen das Erlernen von Musik über den Körper. Dazu schulte er in seiner musikpädagogischen Erziehung innere Wahrnehmung und Aufnahme der Musik und die gleichzeitige Umsetzung musikalischer Parameter in die Bewegung. Im Fokus dabei stand, den inneren Eindruck der Musik nach außen sichtbar zu machen (vgl. Zwiener 2008, 138 f., 2017, 49). Dieser Vorgang impliziert den Tatbestand, dass jeder Einzelne die Interpretation der Musik als persönlichen Ausdruck praktizieren konnte, d. h., dass damit Improvisation als schöpferischer Akt für jeden Relevanz besaß. Im Wechselspiel von analytischem Denken und Wahrnehmen, Erfassen von Musik und Umsetzen von Musik vollzog sich die Ausbildung seiner Schüler. Flexibilität und rasche Reaktion, flexibles Denken und Handeln, um nicht ‚aus dem Takt‘ zu kommen, zeigen eine weitere polare Dimension in der Arbeitsweise von Dalcroze. Dalcrozes Methode zur Erziehung der musikalischen Fähigkeiten seiner Schüler stand jeglicher esoterischer Lebensphilosophie fern. Er erkannte dennoch die Bedeutung des Rhythmus als eines Elements, das nicht nur den Künsten, sondern auch – wie er selbst schreibt –, „der Gesellschaft zugrunde liegt“ (Dalcroze 1921, 184). Auf den Stellenwert, den die Harmonisierung des Menschen in der Rhythmik Dalcrozes einnimmt, weist Lühr hin: „Immer ging es um die Gesundung eines aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen, um Wiedergewinnung der Harmonie seiner Wesenskräfte“ (2002, 19). Und Frohne-Hagemann betont ebenso: „Rhythmik (oder neutraler: das rhythmische Prinzip) trägt dazu bei, den ganzen Menschen in seiner Beziehung zu seiner Umwelt zu rhythmisieren. Es trägt also zu Wachstum und Selbstorganisation bei“ (2001, 22). Im Fokus der Entwicklung und Konsolidierung der Rhythmik stand für Dalcroze allzeit und primär die effektivere musikalische Ausbildung seiner Schüler. Dies sollte bei dem Versuch, konzeptuelle Klarheit zu schaffen, nicht übersehen werden. Gerade deshalb ist der Einsatz von Rhythmus und der Einbezug von Polaritäten zur erfolgreichen Synchronisation von Kunst – Mensch – Umwelt in seiner Methode als Innovation anzusehen. Um bei den vielfältigen Anforderungen im täglichen Leben nicht ‚aus dem Takt‘ zu kommen, bedarf es des rhythmisch ausgeglichenen Agierens ‚im Takt‘ mit der Umwelt. Dabei spielt auch der musikalische Rhythmus im Wirken von Dalcroze eine Rolle, denn er wird vom Menschen geschaffen, und basiert auf dem ursprünglichen Bedürfnis nach Ordnung und kognitiv-sensorischer Einteilung der Welt. Loos beschreibt es entsprechend: Ein menschliches Bedürfnis ist der Wunsch nach Wiedererkennen, Zurechtfinden, Nachhauskommen – […] an die Hand genommen und geführt zu werden – […] sich dem Mit-

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menschen verständlich zu machen, fühlend zu verstehen und zu kommunizieren, ohne den Nachweis von Wort und Verstand – das alles kann der musikalische Rhythmus (1994, 111).

Den Faktor des Rhythmus als Träger und Vermittler von existenziellen Botschaften hatte Dalcroze schon damals erkannt und implizierte ihn bewusst in seine musikpädagogische Konzeption. Seine Methode ist deshalb nur im Zusammenhang und unter dem Prisma von Polaritätsprinzip und Rhythmus als allgemeinem Phänomen des Lebens vollkommen verständlich und erklärbar.

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Bildquellen Abbildung 1 ist im Internet unter: Emile Jaques-Dalcroze Fotos zu finden. https://www.google. gr/search?q=emile+jaques+dalcroze+photos&biw=1280&bih=669&tbm=isch&tbo= u&source=univ&sa=X&ved=0CCAQsARqFQoTCJiVz5uj58gCFQNyDwodTZENaA#imgrc= BWwU3eCAHOXs1M%3 A (15. 06. 2018). Abbildung 2: Frédéric Chopin: Nocturnes. Frankfurt a.M., Leipzig, London, New York: C. F. Peters, 1976, 3. Abbildung 3 und 5 entstanden 2014 von Dr. Kowal-Summek und wurden mit seiner freundlichen Genehmigung übernommen. Abbildung 4 a und b sind unter Adolphe Appia im Internet zu finden: 4a: http://socks-studio. com/img/blog/appia-03.jpg (15. 06. 2018). 4b: https://www.google.gr/search?q=Adolphe +Appia&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=OpgDdKTIMwuvLM%253A%252CSHKE bARFGQ3QVM%252C_&usg=__-xyuXGjgl3tDTAq8eVDj28q8_gs%3D&sa=X&ved= 0ahUKEwistvyM49XbAhVRaVAKHcDcCGwQ_h0IpgEwFw#imgrc=9luiR0ZrhD6XSM: (15.06.2018).

Holt Meyer

“(kakˮ znat’)” The (Epistemological) Bracket in Tatiana’s Letter and “Rhythmanalysis” Abstract: In this contribution, the technique of bracketing in Aleksandr Pushkin’s verse novel Evgenii Onegin is linked to the Romantic fragment and analyzed making use of Lefebvre’s concept of “rhythmanalysis”, particularly the concepts of “arrhythmia” and “polyrhythmia”. This allows for working through not only purely literary factors such as perspective and voice, but also social and historical aspects. A particular bracket, the one in Tatiana’s letter to Onegin in the third chapter, is in focus, also in an intertextual network involving mainly English literature. This particular passage allows for a plurality of approaches to the place of the parenthetical in rhythm, which is viewed in the broader sense of verse rhythm, but also in the Lefebvrian sense of societal rhythms which are embodied in the text of the letter in verse in its linguistic and cultural complexity. In a general and formal sense, this study is a contribution to the analysis of the relationship between punctuation, scripturality and orality. This can open up the Lefebvrian methodology for more systematic media approaches. At the same time the study underscores the relevance of these approaches for the representation of societal processes, also and especially at the beginning of the 19th century. It was some minutes before she could go on with her letter, and the frequent bursts of grief which still obliged her, at intervals, to withhold her pen, were proofs enough of her feeling how more than probable it was that she was writing for the last time to […]. Jane Austen, Sense and Sensibility

Introduction to a Fragment (Arrhythmia) My way is to begin with the beginning; The regularity of my design Forbids all wandering as the worst of sinning, And therefore I shall open with a line (Although it cost me half an hour in spinning) Narrating somewhat of Don Juan’s father, And also of his mother, if you’d rather.

https://doi.org/10.1515/9783110466591-012

Byron, Don Juan

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In this study, I will be addressing a fragment from the third chapter of Aleksandr Pushkin’s verse novel Evgenii Onegin. It is taken from the famous letter of the young provincial woman Tatiana Larina to the title figure, in which she declares her love to him. Nabokov translates the passage in question (applying the unusual but quite plausible technique of utilizing iambic verse with varying quantities of iambs in each line) as follows.¹ Why did you visit us? In the backwoods of a forgotten village, I would have never known you nor have known bitter torment. The tumult of an inexperienced soul having subdued with time (who knows?), I would have found a friend alter my heart, have been a faithful wife and a virtuous mother.

On page 89 of the St. Petersburg edition of 1833², the first complete edition and only complete one in Pushkin’s lifetime, the passage looks like this: Зачѣмъ вы посѣтили насъ? Въ глуши забытаго селенья, Я никогда не знала бъ васъ, Не знала бъ горькаго мученья. Души неопытной волненья Смиривъ со временемъ (какъ знать?), По сердцу я нашла бы друга, Была бы вѣрная супруга И добродѣтельная мать.

I refer to these passages (as well as a particular passage in them) as fragments. In the Athenäumsfragment 206, Friedrich Schlegel notes that a “fragment, like a small work of art, has to be entirely isolated from the surrounding world and be complete in itself”³. I would argue that this tension is present in many of the brackets of Evgenii Onegin and to a certain degree in the literary

 Alexandr Sergeevich Pushkin. Eugene Onegin. Commentary and Index. Princeton: Princeton University Press, 1990, 61.  Available online at: https://vk.com/doc232569569_437078220?hash=992dcb730b5cbb 4ecd&dl=a5823887d81a85e303 (29.06. 2018).  Friedrich Schlegel. Athenaeum Fragments. In Philosophical Fragments, Peter Firchow (trans.). Minneapolis: University of Minnesota Press, 1991, 78.

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bracket in general, since it represents a break and is marked by the parentheses to be a unit in itself. In the case of a work in verse like Onegin, one can view a “fragment”, an incomplete piece of a sometimes more, sometimes less visible whole, in its relationship to rhythm. Rhythm would in this view be an additional indicator of the relationship of the part to the whole. One possibility is that the rhythm of the part can be expanded to get a glimpse of the whole. Another is that the rhythm of the fragment remains irreducible to a coherent partial rhythm and ‘non-expandable’ to a conceivable whole ensemble of rhythms, and thus appears to be a manifestation of ‘arrhythmia’. It would appear that the most radical form of the Romantic fragment would tend towards the latter case. In this contribution I will be treating the fragmenting work of parentheses in Romantic literature with this thought in mind, and I will be linking it to various concepts of and takes on rhythm. Having said that, I note that the first section of my contribution, which treats a technique of fragmentation (the bracket) in Evgenii Onegin, is an “introduction to a fragment” in several ways. This section is first of all an “introduction to a fragment” in the most trivial sense: I speak of the fragment due to the fact that I cannot present more than a small part of my argument concerning the rhythm of a particular bracket, much less do justice to the general issue of brackets’ rhythm in the work at hand, or in (Romantic) literature in general⁴. The latter topic, the general significance of brackets, is particularly interesting, and the difficulty in doing justice to it here is all the more frustrating considering the context of the material treated here in literary history, also with a view to multifarious (English) intertextualities. In this text I make use of English literature to approach my Russian material, also since strategies of the fragmentary in Russian literature are in important areas drawn from English models. In this section it is mainly Jane Austen

 I have discussed various issues of the parenthetical, particularly in the works of Nabokov: Holt Meyer. The Inside of the Outside of the Untranslatable (Bracketed Puškin) in Nabokov’s Gift. In Les Intraduisibles / Unübersetzbarkeiten. Sprachen, Literaturen, Medien, Kulturen / Langues, Littératures, Medias, Cultures, Jörg Dünne, Martin Jörg Schäfer, Myriam Suchet, Jessica Wilker (eds.). Paris: Éditions des archives contemporaines, 2013, 73 – 89. Holt Meyer. (Klammer)Übertragung und (Theorie)Widerstand im zweiten Kapitel von Nabokovs Gabe als autophilologische Techniken im Rahmen von Freud-Vater-Behandlungen. In Rhetorik der Übertragung, Daniel Müller Nielaba, Yves Schumacher, Christoph Steier (eds.). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013, 121– 138. Holt Meyer. Durch den Regenbogen schweben: Klammer-Setzungen in Nabokovs Dar als autophilologisch sprengende Rahmen. In Den Rahmen sprengen. Anmerkungspraktiken in Literatur, Kunst und Film, Bernhard Metz, Sabine Zubarik (eds.). Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2012, 63 – 89.

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(whom Pushkin most probably did not read), in later sections it is Lord Byron (whom Pushkin most definitely did read). The general background of the argumentation of this article is the connection between fragment and bracket, particularly the literary bracket of Romanticism in connection with the fragment in a particular kind of Romanticism – not as much the dense philosophical German version, but rather the lighter more playful version found in the Byronic variant. From the point of view of syntax, it is practically the definition of the bracket that it is incomplete (and thus fragmentary) in the context of the word material around it (“bracket” is “break” with letters switched around and the letter “c” and “t” added in). Two versions of the fragmentary are in play in this contribution. There is, first of all, the fragmentary nature of the contribution itself: the relationship between constructions in brackets and the rhythm of a text (not that rhythms outside the text are excluded from view) leads to issues which become particularly interesting when dealing with a text in verse such as the one(s) in question here (of Pushkin and to a lesser degree of Byron), and which are only answerable by viewing at the very least the entirety of the nearly 40 brackets of Pushkin’s Evgenii Onegin. The significance of this, in turn, is clear only in the context of the literature in its immediate proximity (both Russian and other, e. g. the English literature of Byron, particularly his Don Juan). When speaking of the fragmentary in Romanticism (once again as concerns the context of the work in question, Evgenii Onegin ⁵), one of the many questions which need to be addressed is that of the fate of verse in its transition to prose, which is of particular significance in the works of Pushkin in the second half of the 1820s, the time when he was finishing the Onegin text. This period is generally viewed as the time of the birth of the “other Pushkin” (Debreczeny), the Pushkin of the prose – of the Tales of Belkin, and later of the (Romantic) novel The Captain’s Daughter. Aside from this issue of Pushkin’s work from a global generic point of view, parentheses play the role of setting up an alternative system of order to that which the rhythm of verse dictates. Indeed, parentheses smuggle pockets of words whose marking transcends the prosodic into the elegant iambic metered language, and these, in turn, disrupt the writing (and perhaps also the intonation) of the otherwise well-formed, indeed pedantically well-formed verses in Onegin’s fourteen-line stanzas. It is on this issue which I

 See the treatment of Pushkin in my book Holt Meyer. Romantische Orientierung. Wandermodelle der romantischen Bewegung (Rußland): Kjuchel’beker – Puškin – Vel’tmann. München: Verlag Otto Sagner, 1995 for a broader elaboration of this question, also as concerns the fragmentary.

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hope to shed at least some light on in this study. I mention the whole extra-textual and inner-textual network around this matter in order to give the reader a sense of the issue’s larger scope. The observations drawn from this seemingly small question can be broadened to include types and meanings of rhythm which go beyond the literary and allow for questions stemming from Henri Lefebvre’s “Rhythmanalysis”⁶. This is the second issue I would like to shed at least some light on in the course of my argumentation here. The passage under analysis⁷ here concerns the writing of a letter, one which according to the fiction of the text was originally in French prose and has been transformed into Russian verse (this ‘Russian version’ being the only text actually existent). As is the case of Marianne’s last letter to Willoughby in Sense and Sensibility ⁸ (it is quoted as the motto of my entire contribution), the letter of a young lady comes from strong emotions which “obliged her, at intervals, to withhold her pen”, and the small section which I highlight in the Pushkin text I am addressing here is an example of another type of ‘withholding’, in this case appearing as a seeming interruption of rhythm. While Marianne is writing her last letter to her questionable lover, Tatiana is writing her first (and only) letter to her potential love object. Establishing a coherent rhythm proves difficult to the letter writer(s), as is shown by many breaks and interruptions. The many self-interruptions and its one bracket break down the text of the letter into a series of fragments. The most significant fault line is the famous one where the letter writer switches from the formal “vy” (in French it would have been “vous”) to the familiar “ty” (in French “tu”, “toi”)⁹, which is indicative of the ‘arrhythmia’ (Lefeb-

 Henri Lefebvre. Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life. London/NY: Continuum, 1992.  I intentionally formulate in this manner, since the bracket may also be treated as a spot in the text where the unconscious breaks through the surface of the letter’s consciousness and becomes the source or nature of the “knowledge” addressed in it. I will not be pursuing this line of argument here, but wanted to at least briefly mention it.  For links between Austen’s novels and Evgenii Onegin see John Bayley. Pushkin. A Comparative Commentary. Cambridge: Cambridge University Press, 1971, 241– 242. Bayley notes that the early 20th century critic Maurice Baring had already noted a connection between the two writers.  In the sparse literature on Tatiana’s letter, this feature is almost always mentioned. The letter is discussed in most detail in the chapter “Tatiana’s letter to Onegin” in Olga Peters Hasty. Pushkin’s Tatiana. Madison: University of Wisconsin Press, 1999, 69 – 116, where the link to Rousseau’s Julie is particularly underscored. See the incisive discussion of the pronoun switch in the brief study by Krystyna Pomorska. Zametki o pis’me Tatjany. In Alexander Puškin Symposium II, Andrej Kodjak, Krystyna Pomorska, Kiril Taranovski (eds.). Columbus, Ohio: Slavica Publishers, 1980, 64. See also Diana L. Burgin. Tatiana Larina’s Letter to Onegin or La plume criminelle. Essays in Poetics 16:2 (1991): 12– 24.

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vre) of the text in its relation to the societal norms of address and propriety which are being broken by it. In his introduction to Lefebvre’s Rhythmanalysis, Stuart Elden notes: “Equally, in the collision of natural biological and social timescales, the rhythms of our bodies and society, the analysis of rhythms provides a privileged insight into the question of everyday life.”¹⁰. One can more specifically think of Lefebvre’s words at the end of his text when he writes of “arrhythmia” as “the implosion-explosion of the town and the country”¹¹, since both Austen and Pushkin deal centrally with the tension between the peaceful countryside and the bustling capital (London, St. Petersburg). There are “frequent bursts” in Tatiana’s text as well, though not, as is case in Marianne’s letter to Willoughby, of “grief”, but rather of affection, fear of scandal and uncertainty, all of which are symptoms of a dissonance (arrhythmia) with the provincial aristocratic milieu caused by the encounter of the author and the addressee of the letter, something which is transferred into Russian verse by a conspicuous fictional author figure. Like Jane Austen’s ‘sister novels’ Pride and Prejudice and Sense and Sensibility, Pushkin’s text, also (in a way closer to Sense and Sensibility, which more pointedly contrasts two types of women) a ‘sister text’, is still squarely within the paradigm of the penchant for the fragmentary after the Enlightenment and well before the onset of “Realism”. In maintaining this I contradict the persistent Soviet attempts to press Pushkin into the “realist” mode which even today leave traces in official Russian philology. Whether Pushkin was a “realist” or not is not as important as the traces of the criminalization of a very particular conception of Romanticism, which official Soviet criticism beginning in the 1930s declared to be politically reactionary, leading it to ignore all the connections to the Romantic tradition which are essential for the proper reading of Pushkin’s text, particularly Onegin. ¹² In late 40s Soviet ‘philological ideology’, with its xenophobic

 Lefebvre, Rhythmanalysis, viii.  Lefebvre, Rhythmanalysis, 100.  A Pushkin scholar from the very beginning of the USSR Sergei Bondi, expresses the Brezhnevite version of “Pushkin’s Path to Realism” (“Put’ Pushkina k realizmu” – thus the title of a famous article written in the 1930s by Viktor Vinogradov, who became the leading Russian philologist in the last years of Stalin’s rule) in 1978, in an article called “The Birth of Realism in Pushkin’s Oeuvre” (Rozhdenie realizma v tvorchestve Pushkina). See Sergej Bondi. Roždenie realizma v tvorčestve Puškina. In O Puškine: Stat’i i issledovanija. Moskva: Chudožestvennaja literatura, 1978, 5 – 168. Viktor Vinogradov. Put’ Puškina k realizmu. In Literaturnoe nasledstvo 16/18, V. I.S. Zil’berštejn (ed.), Moskva: Žurnal’noe-gazetnoe obedinenie, 1934, 49 – 90. The catch phrase of the Stalinist ‘realism dogma’, namely the “‘unmasking’ of the “Romantic ideal” or the “Romantic image of the ‘hero’” (as if there were something criminal in Romanti-

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and chauvinistic ‘national turn’, another area was criminalized – the retracing of intertextual techniques – many of them in connection with texts of Romanticism – which are equally essential for reading Onegin. ¹³ This ‘double attack’ against Pushkin’s texts is something which official Russian Pushkin studies have still not completely recovered from. My contribution aims to do late justice to the parenthesis as one of the techniques which was obscured by the ideologically motivated “de-romanticization” of Pushkin. The text participates in many ‘rhythms’ whose origin is to be found in European Romanticism and its aesthetic and societal contexts, which make it anything but ‘reactionary’, though many of its texts are linked to the aristocracy of the time. Listening to and reproducing the (in Pushkin’s case transcultural and translinguistic) rhythms of the society’s speech forms one of the major pillars of the text’s dynamics in the case of Austen and Pushkin. In this sense, the penchant for the fragmentary in Pushkin’s text can be seen as the text’s ‘having its ear’ to the (arrhythmic) heartbeat of a society and a culture in transition. The culture is in a passage to another phase, both within the society (in the Lefebvrian sense of societal contradictions, e. g. between center and periphery, being problems of ‘own’ rhythms out of sync with ‘alien’ ones) and in the contradiction between the insistence of the own (Russian) and the necessity of the alien (French, English). This will characterize the rest of the Russian nineteenth century (from the 1840s¹⁴ till 1900) and feed the negotiations of the “West” in Russia to this day.

cism), remains in this standard work of the 1970s, but the begin of Pushkin’s “path to realism” is seen not at the beginning of his writing of Onegin in 1823, but rather later: in the period of the exile in Mikhailovskoe (1824– 26), during which it is said that Pushkin ‘encountered the Russian people’ (on this legend and the role of Pushkin’s wet nurse in its narratives see Holt Meyer. Evidenz und Textzeugen der “Ammenmilch” bei Veresaev, Novikov, Gordin und Lotman. Wiener Slawistischer Almanach 69 (2012): 309 – 345. Pushkin’s necessary development towards ‘progressiveness’ and ‘realism’, a dogma of Stalinism, remains in place. A typical formulation is “Pushkin’s verse narrative “The Gypsies”, which was written in 1824, is dedicated to the serious and deep dramatic unmasking of the Romantic image of the ‘hero’” (“Серьезному и глубокому, драматическому разоблачению романтического образа ‘героя’ посвящена у Пушкина поэма ‘Цыганы’, написанная в 1824 году.”, Bondi, Roždenie realizma, 36). This is supposed to be precisely the time of the turn to “realism” in Onegin, and it is also the time in which Tatiana’s letter to Onegin in the third chapter is composed. The end of the ‘southern exile’ and the beginning of the Mikhailovskoe exile in August of 1824 is the time of the writing of the third chapter. It is also the year of Byron’s death.  For details of this process at the epicenter of Soviet Pushkin studies – the Leningrad “Pushkin House” – see P. A. Druzhinin. Ideologiia I filologiia. Leningrad, 1940-e gody. Dokumental‘noe issledovanie. Moscow: Novoe literaturnoe obozrenie, 2012.  See Christopher GoGwilt’s text “True West”, in which he retraces the birth of the “West” in Russian discussions of the 1840s. Christopher GoGwilt. True West: the Changing Idea of the West

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Lefebvre asks “But what is a centre, if not a producer of rhythms in social time?” (99), and both the capital of Russia St. Petersburg as well as the “West” and its centers (e. g. Paris, London), but also other sources of rhythmic impulses on other extra-textual levels, including, for instance the dance as allegory and performance of societal rhythms (also present in Pushkin’s and Austen’s texts, in the former as ‘Western’ import), can be taken into account to apply this Lefebvrian conclusion.

“(who can?)” (and its Rhythms) And if she could not (who can?) silence scandal, At least she left it a more slender handle.

Byron, Don Juan, Canto 1, 67th stanza

A prosodic pattern, a rhythm is appropriated from an English – to be more exact, an English-French (more on that in the next paragraph) – source: the iambs of George Lord Byron’s Don Juan. The Russian poet Aleksandr Pushkin, in beginning his novel in verse Evgenii Onegin, famously writes in a letter of 1823 (i. e. at a time while Byron and he are writing at the same time in their respective places) to his friend and colleague Vjazemskii that it is a “kind of Don Juan” that he is writing.¹⁵ One of the things that happens in the emergence of Pushkin’s own “Don Juan” is the reduction of the number of iambs from five to four. Iambic pentameter is reduced to iambic tetrameter. Another thing which happens is that both the penchant for parenthesis and the style of parenthesis are appropriated from Byron in quite unadulterated fashion. The manner in which this appropriation takes place is the background of the text passage I am analyzing in this study. Before I elaborate on this more closely, I will, as promised, explain the term “English-French”. Pushkin read Byron in French translation. At least at the time he was writing the first chapters of Onegin, and especially when he was just conceiving the beginning and compared his planned work to Don Juan, Pushkin was reading Byron in French. Exactly what that material looked like which Pushkin was dealing with, I will return to a bit later. Suffice it to say that the French translations of Byron which came out in the first third of the 19th century were translations in prose, not in verse. from the 1880s to the 1920s. In Enduring Western Civilization, Silvia Federici (ed.). Westort, Conn.: Praeger, 1995, 37– 62.  Alexandr Sergeevich Pushkin. Polnoe sobranie sochinenii. Moscow-Leningrad: Nauka, 1963 – 1965 (10), 70.

“(kakˮ znat’)”

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In this contribution I will be examining the parentheses of Onegin as a further factor imported from Byron’s text into Pushkin’s and enhancing its rhythm in the broader and narrower sense. I will be looking at a particular parenthesis and claiming, among other things, that it is in dialogue with (more than) one of Byron. I quote the second Byron bracket, the one most germaine to my topic, as the motto of this section of my contribution. The point here is not the establishment of a direct intertextual link, which would be difficult to prove, but rather the use of the two brackets in an assessment of the general link between parenthesis and rhythm, i. e. between bracketing and the endowment of rhythm with meaning on a number of levels, both innertextual and extratextual. The two Byronic parentheses I am discussing are from the first canto of Don Juan, which contains 48 parentheses in 222 stanzas, i. e. a bit less than one in every fourth stanza (the next canto with 217 stanzas containing 44, the third 32 brackets in 128 stanzas, thus roughly the same proportion, showing that the brackets have a rhythmic quality on the level of the canto in the first cantos¹⁶): (Although it cost me half an hour in spinning)

The second one, the one I would claim is close to that in Tatiana’s letter, in the 67th stanza, is: (who can?)

Both parentheses address order, the first the order of the text and particularly the time of the text’s production (claiming to begin at the beginning and to proceed

 I lay out the exact statistics in order to show that there is a systematic quality to the bracketing from a purely quantitative point of view. I continue with the six Cantos after Canto 3 – Canto 4: 16 brackets in 119 stanzas (about one in every nine); Canto 5: 29 brackets in 158 stanzas (about one in every five); Canto 6: 23 brackets in 120 stanzas (a bit more than one in every five); Canto 7: 19 brackets in 120 stanzas (about one in every ten); Canto 8: 28 brackets in 141 stanzas (one in every five); Canto 9: 30 brackets in 85 stanzas (more than one in every three). One of the things which makes this contribution fragmentary is the impossibility of treating the issue of the rhythm of the ensemble of chapters or cantos which the respective individual chapters treated (in this case the third chapter of Onegin) are embedded into. Suffice it to say here that the chapters of Onegin alternate between relative bracket-richness in the even chapters and relative bracket-poverty in the odd ones, making the third chapter into one with few brackets. One might say that this each individual bracket, including the one in Tatiana’s letter, more weight, but this argumentation would have to be made at length.

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chronologically), the second the order of the society (in which the news of scandal is unstoppable once it is put into motion). In the first bracket quoted, the underscoring of the time of the creation of the line which is to begin the chronology of the family and the text and the fact that it is a bracketed line are absolutely central factors for Byron’s text and the orders it is establishing (and at the same time deconstructing). The question in this case is what exactly is meant by “line”. If it is literally a line of verse then it would have to be the first line of the eighth stanza: “In Seville was he born, a pleasant city”, followed by lines which pick up on the city’s pleasantness and jump quickly from the time of the tale to the time of its telling and the subjective opinions of its teller. A few lines later we read “Cadiz perhaps —but that you soon may see”, which jumps again into the present of the telling of the story and grabs something out of the future – some appearance of the city of Cadiz still to come. This, in turn, is one of the many examples of interruptions marked by dashes, the first one in the stanza being double dashes setting off the phrase “he / Who has not seen it will be much to pity, / So says the proverb”. Turning to the ninth stanza, which actually fulfils the promise of “Narrating somewhat of Don Juan’s father” given in the seventh stanza, we find the setting out of the tale of the father again waylaid by dashes: His father’s name was Jose—Don, of course,—

If “line” is taken more broadly and applied to the syntax, then the result is a four line sentence interrupted by a phrase set off with dashes in the first line. I would argue that the break, the afterthought smuggled in too late, in the very first line dealing with the father (after a one stanza interruption), which “([…]cost […] half an hour in spinning)”, explodes the project of linear continuity from the very beginning. His father’s name was Jose—Don, of course,— A true Hidalgo, free from every stain Of Moor or Hebrew blood, he traced his source Through the most Gothic gentlemen of Spain

Still, the narration has remained, as promised, exclusively with the father. This, however, lasts only six lines before derailing in the seventh in the form of a further phrase set off with dashes: A better cavalier ne’er mounted horse, Or, being mounted, e’er got down again,

“(kakˮ znat’)”

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Than Jose, who begot our hero, who Begot—but that ’s to come—Well, to renew:

A second prolepsis smuggled in between the dashes hints at Don Juan’s own progeny. This dashes the hopes for a pure unadulterated chronology and reveals the designation of “wandering” as the “worst of sinning” to be a feint in the text’s extremely complex struggle with spatio-temporality in general and its own position in time and space specifically. The last line quoted is emblematic for this tendency: “Begot—but that ’s to come—Well, to renew”. The rhythm of the stanza – as the factual work of the text with the structure of its prosody – is shot through with breaks, jumps and loose ends. These do not disturb the iambic pentameter, but create an atmosphere of disorder on all levels, including extreme unrest on the level of the writing of the text itself. Precisely this technique is a model for Pushkin’s writing, particularly in Onegin. We thus see – not least in the rhythm of the lines in the 8th and 9th stanzas – the actual result of what is described in the bracket in the 7th stanza, which notes the temporal conditions of the creation of the lines (“cost me half an hour”) – of lines supposedly presenting simple chronology. In reality, there is nothing even closely resembling ‘simple chronology’ in this text. The setting off of the line about the “half an hour” with parentheses thus gives the punctuation marks themselves the role of representing and pointing to the complex order of the text in its actual writing, and also to the complexities of its rhythm (for brackets cannot be read or pronounced as part of the prosodic structure), from its very outset. This brings us to the second bracket mentioned, the one in the lines “And if she could not (who can?) silence scandal, / At least she left it a more slender handle”. This one is much more pertinent for the subject at hand (the bracket in Tatiana’s letter to Onegin) and is at the same time a direct continuation of the discourse initiated by the first bracket discussed, for it too addresses the order of the text in its relation to the order of family and society. It too is a jump from the time of the tale to the time of the telling, and it too gives the punctuation marks themselves the role of representing and pointing to the complex order of the text in its actual writing. The context is again that of the parents, this time of the mother, who is doing her best to minimalize the effect of the scandal which is caused by her own affair with Don Alfonso, he being the husband of Julia, whose romantic connection to Don Juan and its results are the core of the first canto’s narrative. Inez, in nobly praising Alfonso’s choice in marrying Julia, is deflecting suspicion and condemnation from herself, reducing the leverage (i. e. the grip, the “handle”) for those who wish to spread scandal about the affair.

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The order of things (faithful marriage) has been disturbed, and the lines at hand are about the production of text (praise for Julia, who will, ironically, become Juan’s lover) which reduces the damage of this disturbance for the social environment by attempting to “silence” the unavoidable scandal. The parenthesis points to the impossibility of achieving this “silence” in asking “who can?”. This is a rhetorical question which receives the silent automatic answer “no one can”. The run of “scandal” is just as much a fixture of the society as is the order of family and marriage, indeed it can be viewed as the regulatory reverse of a coin whose obverse is propriety. Without oversimplifying and without wanting to get ahead of myself, I note that this very coin is at the core of Tatiana’s letter to Onegin, the text which I am treating here. Declaring Byron to be the zero point of this intertextual dynamic is of course oversimplifying matters, since the Don Juan text not only implements but also repeatedly explicitly underscores an intricate intertextual network which it builds on, beginning with the Don Juan material itself, but also extending to multiple classical and contemporary literary contexts. Despite the simplification, the making of the link Byron-Pushkin into a sort of iamb on the pattern “stressed-unstressed”, which can be viewed as the outset of a rhythm, is helpful: Byron-Pushkin

Textually speaking it is the jump from the unstressed “(who can)” to the stressed “(kakˮ znat’)” (“(how know)”): (who can) – (kakˮ znat’)

Rhythm as the working with devices based on prosodic or quasi-prosodic structures (unstressed-stressed) creates a 0 – 1-scheme or 1– 2-scheme, which in turn echoes the syntactic theme-rheme structure or topic-comment pattern which in turn could be viewed as the basis of intertextuality. Having said all this, I will finish this section by having a brief look at the French version of the text which is the one Pushkin had actually read when he was writing the 3rd chapter of Onegin. Here is a reproduction of the 1830 edition of Amédée Pichot’s translation of the lines “And if she could not (who can?)

“(kakˮ znat’)”

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silence scandal, / At least she left it a more slender handle”, which first appeared in 1820¹⁷, with the translation of “(who can)” highlighted: Par ce moyen, si elle ne put pas, eh! qui le peut? Imposer silence aux médisants, elle laisse moins de prise à leur méchanceté

Although the passage is not translated into verse, the break in the flow of syntax is clear, indeed even more pronounced than Byron’s own iambic “(who can)”, which does not interrupt the flow of verse. The interjection “eh!” not only marks the break clearly, it also raises the question of the voice of the parenthesis, since it is even more a feature of spoken language. The exclamation brings the whole dismay and despair of the speaker at the spread of scandal, or “médisance”, which is actually more “slander” than “scandal”. In my claim that the bracket in Tatiana’s letter, often translated into English as “(who knows)”, is related to the Byronic “(who can)” (without being able to demonstrate actual direct paraphrase or quoting), I would note that the common reference to a scandalous love in contrast to the order of marriage is represented by the break in flow, in the disturbance of the ‘order of language’. The possible change in voice effected by the “eh!” in the French translation is in this sense equivalent to the bracket (it is important to note that many of Byron’s brackets are also translated as such by Pichot, who perhaps in this case was striving for a break even stronger than that effected by this type of punctuation). I will now turn to the language criteria with which one can read Pushkin’s (and Tatiana’s) bracket, one of which is voice.

Tatiana’s Letter and a (Russian) Bracket: Polyrhythmia Polyrhythmia analyzes itself.

Lefebvre, Rhythmanalysis, 16

I already mentioned the bracket “(kakˮ znat’)” / “(who knows)” and touched on its intertextual surroundings, also in connection with problems of rhythm. Now I will go into (somewhat minute) detail to reconstruct the rhythms in it and around it. This study centers on thirteen (in modern orthography twelve) typographical marks with which the 27th line of a letter in Evgenii Onegin ends.  Amédée Pichot. Oeuvres de Lord Byron. 15th ed. vol. 3. Paris: Garnier Frères, 1871, 33.

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1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10– 11 – 12 – 13 ( – к – а – к – ъ – – з – н – а – т – ь – ? – ) ( – k – a – k – ˮ – – z – n – a – t – ’ – ? – )

One can view these signs, among other things, with regard to 1. graphematics (including, indeed above all with reference to punctuation), 2. phonetics, 3. prosody, 4. syntax, 5. narrative, 6. composition, 7. voicing (in the sense of the ‘possession’ of the voice speaking with these words), 8. composition, 9. intertextuality or 10. interculturality (one might ask whether it is necessary to differentiate between these last two criteria). In a complete treatment of the subject at hand, one would need to analyze the location of rhythm in connection with these ten (or perhaps nine) criteria. I will sketch briefly what I mean by each of the criteria and then explain the priorities I will set in the limited space of this article. Graphematics help us see that we are dealing in the Cyrillic Russian original with one blank, three punctuation marks and nine letters. The last letter of each word, the tviordyi znak¹⁸ and the miagkii znak, is reproduced in Latin alphabets with a punctuation mark, since it is not pronounced itself as a letter, but is rather an indicator of the non-palatalization or palatalization, respectively, of the consonant preceding it. Phonetically they are dominated by two open vowels: “a”, each of which has the full quantity and no reduction since each of the two syllables is an individual word. The two “a”, the most open of all Russian vowels, are accompanied by consonants which move progressively forward on the tongue k – z – n – t’. I will not be interpreting the possible meaning of this phonetic quality in this contribution. Of greater importance for this paper is the embedding of these phonetic relations in verse context. Since the signs are in a syllabotonic prosodic context, one can note their meter: they are a single iamb at the end of a tetrametric line with a male ending (i. e. the stressed syllable of the fourth iamb being the last syllable of the line). Taken as a sentence in itself, i. e. syntactically, they ask literally “how to know” (less literally “how does/can one know”) thus asking what one might

 The tviordyi znak (hard sign) used to be at the end of all words whose last phoneme was a non-palatalized consonant. This convention was eliminated in the orthography reform of 1918. Most Soviet Pushkin editions print the works in the new orthography, which is to a certain degree a distortion of the works as a whole. The application of the new orthography completely changes the visual appearance of the writing, which, in turn, could have a serious influence on all reflections on the ‘visual rhythm’ of the text, a topic I am not broaching here.

“(kakˮ znat’)”

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consider the fundamental epistemological question. I will be taking this epistemological aspect of the words as a sentence seriously. Now briefly on the narrative aspects: Taken as a sentence embedded into a fiction, i. e. into a letter written by a fictional young Russian noble woman in an unnamed fictional provincial Russian town, the narrative surrounding the bracket represents the young woman’s asking about whether she might get married in the ‘normal’ manner, the manner which her social group knows and cultivates (as opposed to the love affair which her letter seems to want to provoke). One might also say that she is asking whether she could or could not adapt the rhythm of her life to the life rhythms surrounding her in the unnamed provincial village she inhabits. In this context and coming to the issue of voice, the first supposition is that the bracket is in the same voice as the surrounding narrative material. However, it is also entirely plausible to entertain the possibility that the bracket represents the intervention of a voice either partially or completely different from that of the ‘original’ (French) letter writer Tatiana. It expresses a doubt or even a more fundamental epistemological question as to the possibility of knowing the things discussed around the bracket. In the case of ascribing the voice to Tatiana, it would be more directed to the possibility of knowing one’s own future. The other possibilities will be discussed a bit later in the argumentation. At this stage I wanted mainly to explain what is in general meant by and intended with the category of voice. When I speak of composition, I mean mainly the rhythms of bracket frequency in the whole work and the place of the third chapter in this rhythm (one of the concerns which gets only fragmentary treatment here, although it is essential). As I will be explaining later, the position of Tatiana’s letter in the composition of the third chapter and of the third chapter in the whole work – and also in the emergence of the work in the course of eight years – are worth taking into consideration in connection with the assessment of the exact place in the work we are dealing with. Stepping outside the fiction and into the signification of the entire work in its intertextual network (one which is openly discussed in the work in a manner typical of Byronic Romanticism), one could also ask if the rhythm of the Russian provincial town which the young woman might (but cannot completely) adapt to, has been ruined for that young woman by the ‘West’, i. e. by the ‘literature of the West’, to be more exact by her readings of ‘Western’ (English and French) fictional narratives which bring in not only other models of thinking about the relations between the sexes but also other, mainly French rhythms of language. To put it in yet another and a more global way, one might view the context of these signs in that letter of the young woman Tatiana to be an investigation and

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a performance of cultural rhythms, i. e. of an intercultural configuration. These rhythms seem in and as this letter to come into conflict with each other, to create disharmony which make Tatiana’s life at best difficult, at worst impossible. Among many other factors, the fact that bracketing itself (as quoted from Byron’s Don Juan) is a particularly intercultural type of intertextuality is of great significance. I already put forth the hypothesis that the bracket in Tatiana’s letter is a direct response to a Byronic bracket and at the same time part of the reference to Byronic bracketing in general. As I already mentioned, the bracketed phrase “(who knows)” or “(how [can one] know)” also refers to scandal: The scandal of the occasion for writing the letter (the desired goal of the letter being a union with Onegin, be it affair or marriage) and the possibility of its avoidance (the union with a “friend” from the provincial towns in the area whom she might “find”, which Tatiana’s sister Ol’ga seems to have done). If Tatiana’s letter had become publicly known in her (fictional) immediate social environment, the scandal would have been enormous and thus impossible to silence. The bracket “(how can one know)” broaches the question of the unavoidability of this scandal and places it in an area of doubt and reflection. In a manner which has already been mentioned in connection with some of the criteria listed, by no means only the prosody, but actually all of the categories mentioned can be connected to a certain type of rhythm. For this reason, I would like to claim for this nine-pronged (or ten-pronged) line of inquiry the dignity of the word “rhythmanalysis” in the sense applied by Henri Lefebvre. Of great utility in this connection is Lefebvre’s term “polyrhythmia” (as used in the motto of this section), as a multiplicity of rhythms which, as Lefebvre phrases it, “analyzes itself” (16). It “analyzes itself” in that it, among other things, brings various discourses in contact with each other: bringing together very diverse practices and very different types of knowledge: medicine, history, climatology, cosmology, poetry (the poetic), etc. Not forgetting, of course, sociology and psychology, which occupy the front line and supply the essentials. (p. 16)

Readers of Bakhtin might well sense the similarity of Lefebvre’s “polyrhythmia” and Bakhtin’s “polyphony”. In the case at hand, Lefebvre’s “polyrhythmia” and Bakhtin’s “polyphony”/“chronotope”, are concerned with the “voice” (also in the Bakhtinian sense) to whom the thirteen signs are attributed. I would claim that precisely Lefebvre’s category of self-analyzing “polyrhythmia”, though designed for other objects, competes in a very productive manner with “polyphony” to enhance the purely ‘voice-oriented’ analysis of Bakhtin.

“(kakˮ znat’)”

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In studying these signs in this context, I am particularly concerned with the first and last signs, the opening and closing of parentheses. I am asking in which sense the bracket is ‘out of rhythmic bounds’, for the actual prosodic rhythm has no real place for it. While attempting to ascertain who is asking the fundamental epistemological question “how to know”, i. e. whether the words should and can be assigned to a particular voice, I am looking intensely at the ‘encapsulating’ function of the brackets and suggesting that the ‘exit from rhythm’ performed by the brackets themselves is all but insignificant. The absence rhythm is also a type of rhythm and this a part of the “polyrhythmia” which “analyzes itself”, as Lefebvre says, or one might also say a bit more precisely: with which not the polyrythmia but the rhythm itself conducts a self-analysis – also by stepping outside of itself and thus asking from where (from the inside? the outside?) the text rhythm can be and is being perceived.

(Specificities of) Tatiana’s Letter and its Bracket Her form had all the softness of her sex, Her features all the sweetness of the devil, When he put on the cherub to perplex Eve, and paved (God knows how) the road to evil;

Byron, Don Juan

Evgenii Onegin consists almost exclusively of fourteen line stanzas in iambic tetrameter with a very specific rhyme scheme derived loosely from that of the sonnet (the “Onegin stanza”).¹⁹ The work can be viewed as somewhat pedantic in that way. All questions of rhythm are in any case dependent on this basic parameter of the text. In the third chapter of the verse novel we find the letter of Tatiana Larina to Evgenii Onegin (arguably the two main figures of the conventional plot, joined by the other major figure, the fictional author, as translator) about which to this day there is amazingly no extended thoroughgoing study. The main formal specificity of this letter from the point of view of versology is that it retains the iambic tetrameter of most of the rest of the text, but not the “Onegin stanza”. It thus presents a specific rhythmic sphere in the text, one of longer continuity and divergent grouping of the iambic lines. The material lacks, for instance, the explosive rhyming pair at the end of each of the 14-line units which characterize the rest of the text.  On the Onegin stanza see my article Holt Meyer. ’Byt’ možet, v Lete ne potonet / Strofa, slagaemaja mnoj’ Onegins ’Strophe’ als Lesezeichen. Welt der Slaven 43 (1998): 33 – 60.

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I present the Russian once again, adding in a further line: Зачѣмъ вы посѣтили насъ? Въ глуши забытаго селенья, Я никогда не знала бъ васъ, Не знала бъ горькаго мученья. Души неопытной волненья Смиривъ со временемъ (какъ знать?), По сердцу я нашла бы друга, Была бы вѣрная супруга И добродѣтельная мать. Другой!… Нѣтъ, никому на свѣтѣ

This bracket appears in the 27th line of the letter, i. e. at a point in the letter which would be the next to last line of its second stanza (were is written in Onegin stanzas). However, as it represents a part of the letter text in which it is already clear that the order and language of this part of the text is different from the order and language that precedes it, it is not certain that one can speak of a ‘stanza expectation’. As one sees even without a complete grasp of the context, we are dealing with hypotheticals. Tatiana Larina, who has fallen in love with the urban visitor Evgenii Onegin, tries to imagine what life would have been like if she had never met him and had rather connected up to a nice guy from the immediate provincial area where she lives, becoming a “faithful wife” and “virtuous mother”. Purely semantically speaking, I would claim that the bracket implanted in the lines shows Tatiana’s disbelief in her own hypothetical. The words translated by Nabokov as “who knows?” represent Tatiana’s knowledge (!) – or entertaining the possibility her possessing the knowledge – that her love for Onegin is exactly what she wants and needs, and that becoming a “faithful wife” to a normal – i. e. nice but boring – husband is the last thing which would make her happy. From a formal-semantic point of view, the bracket at hand appears in the sixth line of a section which begins at the 22nd line of the letter in verse, and is followed by a space indicating that these nine lines form a unit.²⁰

 One also finds a quotation at the beginning of the passage in the 1833 edition and in later editions. Spaces before and after the section are to be found in the 10 volume “Small Complete Works” edition (Moscow 1963 – 1965, vol. 5 [1964], 70). Other editions – with a space before and after the section (all to be found electronically here: http://lib.pushkinskijdom.ru/Default.aspx? tabid=10326 [last consulted 29.06. 2018]), sometimes also with additional quotation marks at the beginning of the passage, are St. Petersburg (1887:3), 295; St. Petersburg 1903 – 1905, (1904:4), 90; Moscow/Leningrad 1930, Vol. 4, 91; Paris 1937, 70.

“(kakˮ znat’)”

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Looking more closely, and combining the formal and the semantic observations, we see that the hypothetical marriage and childbirth which Tatiana envisages begins in the fifth line, which numerically is the middle line of the 9 line section, the bracket being the end of a two-line clause ruled the past perfect gerund “smiriv” (translated by Nabokov as “having subdued”). The “subdued” “agitation” gives the prerequisite of the hypothetical settling down into normality: the calming of the “inexperienced soul”. It is literally in the middle of these two lines, at the transition from the first one to the second one, that the bracket “(kakˮ znat’?)” (literally “how [can one] know?”) enters the scene of this writing. It is most logical to apply the brackets to the hypothetical which follows (i. e. “who knows if I will find a ‘friend’ who will be husband to me and father to my children”). But, as I have already argued in previous articles, the core mode of the bracket (in literature) is ambivalence on all levels. This total certainty is not only impossible, but also not even desirable. In this case, the bracket can be seen as directed forwards or backwards, or even toward itself – in the sense of asking “how can one know (anything)?”. The detachment of the bracket from its syntactic environment makes all things possible, and this is precisely what makes the bracket attractive to ‘bracket-loving’ poetics like those of Pushkin (and at the same time which makes totalitarian inspired readings ignore or destroy this very ambivalence). As I already discussed, the avoidance of scandal is a concern of Tatiana in writing her letter which she casts overboard by actually sending it. The mere fact of her letter itself is scandalous, and the feeling which she tries to express in it all the more. It is not a long way from “(who can?)” in the Byron text to “(who knows?)” – or “(how [can one] know?)” in the Pushkin text, for Tatiana’s reflection on whether she will find a “friend” in her provincial environment is also a question of whether she “can” engage in a love relationship within the boundaries of propriety, i. e. without scandal. In both cases, the casing around the words represents a hidden voice which addresses and represents the situation so poignantly sung by John Lennon: “you’ve got to hide your love away”²¹ (coincidentally also an iambic tetrameter). All readings of the Onegin text which earnestly try to view the (French writing) Tatiana as a ‘pure Russian soul’ need to take account of this condition of her being inscribed into the text first, indeed exactly at this particular moment when she tries to ‘authentically’ pour her heart out to her beloved Onegin. In her letter ‘heart beats’ (emotionally, culturally, socially) now polyrhythmically, now ar-

 John Stevens, John Lennon. The Songs of John Lennon: The Beatles Years. London: Berklee Press, 2002, 112.

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rhythmically, but certainly not to the singular rhythm of a Russian balalaika. Its inscriptions into the rhythms of many texts and societal activities are the stuff of the text with all its fault lines, and the voice which ‘cries’ “kakˮ znat’” – “how to know”, “who knows?” – in the bracket speaks out of one of these fault lines. The bracket in question and the “knowledge” it addresses are indices of these inscriptions. In my brief conclusion, I return to ‘rhythmic epistemology’ and thus again to Lefebvre.

The Rhythm of Knowledge and the Knowledge of Rhythm For Lefebvre, the retracing of rhythms is clearly a central method of attaining knowledge, particularly in areas where direct utterances are lacking (the main area being that of “everyday life”). I turn again to some salient comments in Stuart Elden’s introduction to the English translation of Rhythmanalysis: “In general terms, Lefebvre is concerned with taking the concept of rhythm and turning it into ‘a science, a new field of knowledge; the analysis of rhythms; with practical consequences’.”²² Later on, Elden notes: “Lefebvre himself only briefly mentions language’s rhythmic or metrical properties in relation to poetry. But as Meschonnic notes, ‘the relation of rhythms and the methods for defining them clearly expose the epistemological challenge [enjeu] of the human sciences, a theory of meaning, a challenge which is not only poetic but a politics of literary practices’”²³. I already quoted Lefebvre himself in his elaboration of “polyrhythmia” in its “bringing together very diverse practices and very different types of knowledge”, highlighting “psychology” and “sociology”²⁴. The bracket which asks “who knows” or “how [can one] know” breaks and does not break with the rhythm of the text with its epistemological inquiry, which in turn addresses the prediction of the future (narratology), the order of family and society (sociology), as well the psychology of the letter’s author (a double author, since it is both Tatiana and the fictional author as the actual producer of the verses) as types and forms of knowledge. The rhythmic break of the bracket itself represents knowledge, and is thus itself a “rhythmanalysis”, also as an element of “polyrhythmia” which has the quality pointed out by Lefebvre of “analyzing itself”.

 Lefebvre, Rhythmanalysis, viii.  Lefebvre, Rhythmanalysis, xiv.  Lefebvre, Rhythmanalysis, 16.

“(kakˮ znat’)”

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In contrast to Lefebvre’s concerns, we are not reconstructing rhythms of “everyday life” in reading Tatiana’s letter. We are retracing rather a highly elaborated intertextual and/as intercultural configuration which mobilizes the Romantic fragmentary (in its playful Byronic variation) to phrase the order of society and scandal as an order of language(s) in their complex rhythmicity. In closing, I express the hope that this small fragment of the matter at hand has given a hint of the link between (Romantic) bracketing and rhythm which is actually of very broad interest for the reading of texts and cultures of the first third of the 19th century and beyond.

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Autorinnen und Autoren Daniel Martin Feige Daniel Martin Feige ist Juniorprofessor für Philosophie und Ästhetik unter besonderer Berücksichtigung des Designs an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Er studierte zunächst Jazzpiano, dann Philosophie, Germanistik und Psychologie und promovierte mit einer Arbeit zur philosophischen Kunsttheorie in Frankfurt am Main. Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 626 “Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste” an der Freien Universität Berlin. Mit seiner Habilitation an der Freien Universität Berlin erhielt er eine Venia Legendi in Philosophie. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind Philosophische Ästhetik, Philosophie des Designs, Geschichtsphilosophie, Philosophische Anthropologie, Kulturphilosophie und Theorien der Kritik. Monographien: Kunst als Selbstverständigung. Münster: mentis Verlag, 2012. Philosophie des Jazz. Berlin: Suhrkamp/Insel, 2014. Computerspiele. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp/Insel, 2015. Design. Eine philosophische Analyse. Berlin: Suhrkamp/Insel, 2018. Sylvelyn Hähner-Rombach Sylvelyn Hähner-Rombach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, dort verantwortlich für den Bereich Zeitgeschichte der Prävention und Pflegegeschichte. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der Patienten- und Psychiatriegeschichte. In diesem Zusammenhang hat sie die Kinderbeobachtungsstation der Psychiatrischen Universitätsklinik Innsbruck nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht. Außerdem ist sie Redakteurin der Zeitschrift “Medizin, Gesellschaft und Geschichte” und Lehrbeauftragte an der Dualen Hochschule Stuttgart. Hähner-Rombach gab den Tagungsband Geschichte der Prävention. Akteure, Praktiken, Instrumente. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2015 heraus und veröffentlichte 2017 zusammen mit Karen Nolte Patients and Social Practice of Psychiatric Nursing in the 19th and 20th Century. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2017. Diana Hitzke Diana Hitzke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik an der Justus-LiebigUniversität Gießen und als Postdoc am “International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC)” assoziiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Nomadisches Schreiben, Literatur und Migration, neuere Konzepte von Weltliteratur sowie Übersetzung und Mehrsprachigkeit. Sie beschäftigt sich mit der südslavischen, sorbischen und russischen Literatur sowie mit deutsch- und englischsprachigen Texten mit slavischem Kontext. Wichtigste Publikationen: Nomadisches Schreiben nach dem Zerfall Jugoslawiens. David Albahari, Bora Ćosić und Dubravka Ugrešić. Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang, 2014. Slavische Literaturen der Gegenwart als Weltliteratur. Hybride Konstellationen, hg. mit Miriam Finkelstein. Innsbruck: innsbruck university press, 2018.

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Autorinnen und Autoren

Lucia Kessler-Kakoulidis Lucia Kessler-Kakoulidis hat ein Rhythmikstudium am Richard-Strauss-Konservatorium / Fachakademie für Musik (heute Hochschule für Musik und Theater) und am Institut ‚Rhythmikon‘ (Leitung Prof. Amélie Hoellering) in München absolviert. Sie arbeitete in Deutschland als Rhythmiklehrerin an der Montessori-Schule / Kinderzentrum München und ist in Athen musikpädagogisch und -therapeutisch in verschiedenen Fördereinrichtungen für Kinder und Erwachsene mit Autismus-Spektrum-Störungen tätig. Sie war Lehrbeauftragte im Fach Musikpädagogik / Musiktherapie an der Kapodistriako-National Universität in Athen und hält Vorträge in Griechenland und Deutschland. Ihre Publikationen erscheinen in Griechenland und Deutschland. Wichtigste Publikationen: Rhythmik und Autismus. Der integrative Ansatz Amélie Hoellerings in Theorie und Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2016 und Θεραπευτική Ρυθμική. Εφαρμογές στην εκπαίδευση παιδιών με και δίχως αναπηρία (Therapeutische Rhythmik. In der Praxis bei Kindern mit und ohne Behinderung). Athen: Fagotto, 2011. Sie ist Gründungsmitglied des griechischen Vereins für Menschen mit Asperger-Syndrom und Ehrenmitglied der griechischen Vereinigung für diplomierte Musiktherapeuten. Veronika Lang Veronika Lang arbeitete in der Arbeitsgruppe “Chronobiologie” des Instituts für Medizinische Immunologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Dort promovierte sie 2016 mit einer Arbeit über die Rolle der circadianen Uhr von Zellen im murinen, endotoxischen Shock Model. Danach koordinierte sie das internationale PhD-Programm “Medical Neurosciences” der Charité und ist Mitgründerin des Startups yesfox. Lang ist nun seit Herbst 2016 als Consultant bei der ifb group tätig, einer auf Finanzdienstleistungen spezialisierten Unternehmensberatung. Holt Meyer Holt Meyer ist seit 2002 Professor für Slawistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, mit Schwerpunkten in Forschung und Lehre in den russischen, tschechischen und polnischen Literaturen, Medien und Kulturen. Sein Interesse gilt auch allgemeiner Theorie und Historiographie der Theorie sowie der konzeptuellen und institutionellen Geschichte der Philologie. Ein geborener New Yorker, begann er sein Studium in Swarthmore College bei Philadelphia und schloss es an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Promotion ab. Nach größeren Projekten zur slawischen Romantik und zum westslawischen Barock widmet er sich verstärkt der Mitte des 20. Jahrhunderts (Masarykismus, Stalinismus) sowie den Reflexionen früherer Epochen in diesen politischen und kulturellen Formationen. Einschlägige Publikationen sind: Romantische Orientierung. München: Otto Sagner Verlag, 1995. “Byt’ možet, v Lete ne potonet / Strofa, slagaemaja mnoj”. Onegins ‚Strophe‘ als Lesezeichen. Die Welt der Slaven 43 (1998), 33 – 60. “Oneginych est‘ mnogo”. Der zitierende Name als Lesezeichen und performative Wiederholung. Die Welt der Slaven 44 (1999), 335 – 366. Durch den Regenbogen schweben: Klammer-Setzungen in Nabokovs Dar als autophilologisch sprengende Rahmen. In Den Rahmen sprengen. Anmerkungspraktiken in Literatur, Kunst und Film, hg. von Bernhard Metz und Sabine Zubarik. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2012, 63 – 89. The Inside of the Outside of the Untranslatable (Brackated Pushkin) in Nabokov’s Gift. In Les Intraduisibles / Unübersetzbarkeiten. Sprachen, Literaturen, Medien, Kulturen / Langues, Littératures, Médias, Cultures, hg. von Jörg Dünne, Martin Jörg Schäfer, Myriam Suchet, Jessica Wilker. Paris: éditions des archives contemporaines, 2013, 73 – 89.

Autorinnen und Autoren

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Susanne Rau Susanne Rau erhielt 2009 eine Heisenbergprofessur der Deutschen Forschungsgemeinschaft und ist seitdem Professorin für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit an der Universität Erfurt. Nach dem Studium der Geschichtswissenschaft, Romanistik, Philosophie und Allgemeinen Rhetorik sowie Forschungen zur Stadtchronistik und Erinnerungskultur wurde sie 2001 an der Universität Hamburg in Mittlerer und Neuerer Geschichte promoviert. Es folgten Forschungen im Rahmen des SFB 537 “Institutionalität und Geschichtlichkeit”, Lehrtätigkeit und 2008 eine Habilitation an der TU Dresden. Sie ist mit dem Wiener Preis für Stadtgeschichte (2015) und mit einem Gay-Lussac Humboldt-Preis 2017 der französischen Akademie der Wissenschaften (Paris) und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ausgezeichnet worden und nimmt in den Jahren 2018 – 2020 eine Gastprofessur als Distinguished Visiting Professor an der École Normale Supérieure de Lyon wahr. Neuere Publikationen: Räume der Stadt. Eine Geschichte Lyons 1300 – 1800. Frankfurt/Main, New York: campus, 2014. SpaceTime of the Imperial (hg. mit Holt Meyer und Katharina Waldner). Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2016. Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen. 2. aktualis. Aufl. Frankfurt/Main, New York: campus, 2017. Michael Rothmann Michael Rothmann ist seit 2011 Professor für die Geschichte des Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit an der Leibniz Universität Hannover. Er wurde an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt in Mittelalterlicher Geschichte promoviert und hat sich an der Universität Köln mit der Studie Zeichen und Wunder: Hochmittelalterliche Deutungsparadigmen zwischen tradiertem Naturwissen und entstehender Naturwissenschaft. Die Mirabiliensammlung des Gervasius von Tilbury habilitiert. Zu seinen Publikationen zählen: Reichsstadt und Geld, hg. von Michael Rothmann und Helge Wittmann. Petersberg: Michael Imhof Verlag, 2018. Marktkonzepte im mittelalterlichen Europa. In Europäische Messegeschichte. 9.–19. Jahrhundert, hg. von Markus A. Denzel. Köln: Böhlau Verlag, 2018, 181 – 202. Die Frankfurter Messen im Mittelalter. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1998. Sabine Schmolinsky Sabine Schmolinsky hat nach einem Studium der Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaft/ Soziologie und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Deutscher Philologie promoviert und wurde an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften habilitiert. Seit 2009 ist sie Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe Erfurter RaumZeit-Forschung und beschäftigt sich u. a. mit mittelalterlichen Vorstellungen von Zeit und Zukunft, mediävistischer Selbstzeugnisforschung und mittelalterlichen Handschriften und Büchersammlungen. Zu ihren Publikationen zählen: Maria Magdalena oder Katharina als Patrozinien von Dominikanerinnenklöstern – arm oder reich? In Die deutschen Dominikaner und Dominikanerinnen im Mittelalter hg. von Sabine von Heusinger, Elias H. Füllenbach OP, Walter Senner OP, Klaus-Bernward Springer. Berlin, Boston: De Gruyter, 2016, 429 – 442. Dialogue Situations. Considerations on Self-Identification in the Middle Ages. In Forms of Individuality and Literacy in the Medieval and Early Modern Periods, hg. von Franz-Josef Arlinghaus. Turnhout: Brepols, 2015, 303 – 317. The Production of Future. Chronotope and Agency in the Middle Ages. In Historical Social Research/Historische Sozialforschung 38:3 (2013), 93 – 104, Special Issue: Space/Time Practices and the Production of Space and Time, hg. von Sebastian Dorsch & Susanne Rau. Sich schreiben in der Welt des

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Autorinnen und Autoren

Mittelalters. Begriffe und Konturen einer mediävistischen Selbstzeugnisforschung. Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler, 2012. Ekkehard Schönherr Ekkehard Schönherr hat 2014 an der Universität Erfurt in Neuerer Geschichte promoviert. Zu seinen Publikationen zählen: Mapping Spatial Relations, Their Perceptions and Dynamics. The City Today and in the Past (hg. mit Susanne Rau). Cham, Heidelberg, New York u. a.: Springer, 2014; Infrastrukturen des Glücks. Eine Bild-, Raum- und Infrastrukturgeschichte Mallorcas im 19. und 20. Jahrhundert unter Berücksichtigung des Tourismus. Erfurt: 2016. Er arbeitet heute in der Thüringer Landesverwaltung. (Kontakt: [email protected]) Oliver Schwerdt Oliver Schwerdt ist Musik- und Kulturwissenschaftler sowie Musiker, Autor und Verleger (EUPHORIUM). Er hat 2012 an der Universität Leipzig mit einer Dissertation Zur Konstitution, Repräsentation und Transformation des Räumlichen in der Musik. Eine Untersuchung des von Günter Sommer musikalisch realisierten Symbol-, Instrumental- und Handlungs-Raums promoviert. Heiner Stahl Heiner Stahl ist seit 2013 Postdoc an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Siegen. Dort arbeitet er derzeit an einer Habilitationsschrift über die Geräuschkulissen der Städte Essen, Erfurt und Birmingham im Zeitraum von 1910 bis 1960. Er hat am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam gearbeitet und an der dortigen Universität 2008 mit einer Arbeit über Rundfunk in der geteilten Stadt Berlin promoviert. Sie trägt den Titel Jugendradio im Kalten Ätherkrieg. Berlin als eine Klanglandschaft des Pop (1962 – 1973). Berlin: landbeck, 2010. Seit Oktober 2017 ist er in einem Drittmittelprojekt beschäftigt, das von der Staatsministerin für Kultur und Medien gefördert wird. Stahl untersucht die Praktiken der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und die Wissensbestände der politischen Kommunikation im Zeitraum von 1949 bis 1969. Daniela Zetti Daniela Zetti ist Postdoc an der Professur für Technikgeschichte der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Ihre Dissertation über Produktionsverfahren und -programme des bundesdeutschen, öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist unter dem Titel Das Programm der elektronischen Vielfalt. Fernsehen als Gemeinplatz in der BRD, 1950 – 1980. Zürich: Chronos Verlag, 2014 erschienen. 2015/16 war sie Fellow der DFG-Kollegforschergruppe “Media Cultures of Computer Simulation” (MECS) an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie war Gastdozentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.